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German Pages 324 Year 2023
Henrike Serfas Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Lettre
Henrike Serfas (Dr. phil.), geb. 1991, studierte Germanistik und Europäische Kunstgeschichte in Heidelberg und Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Aufklärungsrezeption, Mythenrezeption und Gegenwartsliteratur.
Henrike Serfas
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf Zum kritischen Potential von Christoph Ransmayrs journalistischem und literarischem Werk
Angenommen als Dissertation vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Frau Prof. Dr. Doren Wohlleben Prof. Dr. Volker Mergenthaler
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Inhalt
Einleitung ..........................................................................9 1 Problemhorizont: »Schon die Mythologie ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« ....................................... 14 2 Verfahrensweise und Aufbau ....................................................18 3 Zur Forschungslage............................................................ 22
I Über Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung 1 Dialektik der Aufklärung (1947) .............................................. 33 1.1 Zum Begriff der ›Aufklärung‹ .................................................. 37 1.2 »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« ...................................... 39 1.3 Herrschaftsmechanismen in Naturbeherrschung und Selbsterhaltung ........... 40 2
Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug ............................... 43
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Grenzen und Folgen der Aufklärung im Kolonialismus und der Idee der Freiheit .................................. 47
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Zur Aktualität der Dialektik der Aufklärung .................................. 51
II Über die Reportage 1 Geschichte der Reportage.................................................... 57 1.1 Literarische Tradition: der Reisebericht ........................................ 58
1.2 Journalistische Tradition: der Augenzeugenbericht ............................. 70 1.3 Die journalistische und literarische Reportage ................................. 72 2 Zur Definition der Reportage ................................................. 75 2.1 Fünf Typen der Reportage.......................................................77 2.2 Abgrenzung zum Feature ...................................................... 78
Erster Teil: Christoph Ransmayrs Reportagen der 1970er/80er 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
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Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982) ................................................................... 93 Rebell zu Laibach. Ivan Cankar – der Dichter der Slowenen (1978)................ 97 Dilettanten des Wunders. ›Monte-Verità‹ – Ausstellung in Wien (1979)............ 101 Solidarität mit Suppenkaspar. Kinder als Käufer (1980) ..........................104 Beihilfe zum Glück. Fotografie als Strategie (1980) ..............................109 ›Eure Schalen sind voll Schweiß und Tränen‹. Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (1981)........................................................ 112 TransAtlantik (1982–1986) .................................................... 117 Kakerlaken-Chronik. Invasion im Untergrund (1983) .............................124 Sieh, das Gute liegt so nah. Ablenkung am Rande der Gesellschaft (1985) ........ 131 Leon. Zwischen Ghetto und Gelobten Land (1986)............................... 136
Zusammenfassung: Wider die Kulturindustrie .................................... 141
Zweiter Teil: Aufklärungskritik und die Form der Reportage in Christoph Ransmayrs literarischem Werk 3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang .................. 151 3.1 Nachrichten aus dem Tanezrouft. Fragment eines Fernschreibens ..............165 3.2 Lob des Projekts. Rede vor einer akademischen Delegation in der Oase Bordj Moktar .......................................................169 3.3 Das Terrarium. Hinweise für eine Bauleitung....................................174 3.4 Strahlender Untergang. Lichtschwielen, Blendung und Entwässerung ............178
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Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis ............................... 185 4.1 Die Nordpol-Reportagen .......................................................190 4.2 Die Erfindung der Welt: Fakt und Fiktion ........................................199 4.3 Aufklärungs-, Herrschafts- und Kolonialismuskritik ............................201 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Erzählen als Aufklärungsbedarf in Atlas eines ängstlichen Mannes .......... 211 Fernstes Land – Machthunger .................................................. 217 Reviergesang – Territorialverhalten .............................................221 Strömung – Tyrannei ......................................................... 223 Die Regeln des Paradieses – Unfreiheit ........................................ 226 Im Schatten des Vogelmannes – menschliche Gewalt .......................... 230
Zusammenfassung: »Denn was ist, ist niemals alles«........................... 235 Siglenverzeichnis .................................................................241 Literaturverzeichnis ............................................................. 243 Ausgewählte Primärliteratur zu Christoph Ransmayr ............................... 243 Sekundärliteratur zur Dialektik der Aufklärung ..................................... 244 Sekundärliteratur zur Reportage................................................... 248 Sekundärliteratur zu den journalistischen Arbeiten und zum Erzählwerk Christoph Ransmayrs...............................................................251 Sonstiges ......................................................................... 256 Abbildungsanhang ............................................................... 259 Danksagung .......................................................................321
Einleitung
»Fragmente des Mythos und der Aufklärung« lautet das 14. Kapitel aus Christoph Ransmayrs erstem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984). Das Kapitel führte in der Ransmayr-Forschung1 auf der Grundlage von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung2 mit Rückbezug auf die Kernthese »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«3 zu zahlreichen Explikationen des Mythos-, nicht aber des Aufklärungsbegriffs. Diese Dissertation leistet im Kontext der in den letzten Jahren wieder besonders virulenten Aufklärungsdebatte4 einen Beitrag zur fehlenden Aufklärungsrezeption in Christoph Ransmayrs journalistischem und literarischem Werk. Ziel der Arbeit ist eine Darstellung, wie der österreichische Autor in seinen Reportagen und Romanen mit dem Projekt Aufklärung umgeht und welchen Einfluss dabei die Abhandlung Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente (1947) hat, mit der sich der junge Ransmayr, damals noch Journalist, im Rahmen eines Dissertationsvorhabens auseinandersetzte. Fokussiert werden das Text-Bild-Verhältnis im journalistischen Frühwerk Ransmayrs, wel1
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Vgl. Bartsch, Kurt: »Dialog mit Antike und Mythos. Christoph Ransmayrs Ovid-Roman ›Die letzte Welt‹«. In: Modern Austrian Literature, H. 23, Nr. 3/4, 1990, 127; Cieślak, Renata: Mythos und Geschichte im Romanwerk Christoph Ransmayrs. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2007, 59. Adorno, Theodor W. und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle DdA im Text zitiert. DdA, 16. Vgl. Pečar, Andreas und Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt a.M.: Campus 2015; Schmitt, Arbogast: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht. Heidelberg: Winter 2016; Wiemken, Uwe: Aufklärung, Technik und Offene Gesellschaft. Können wir die Vernunft noch retten? Ein Menschheitsprojekt. Baden-Baden: Tectum 2021.
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ches in den Zeitschriften TransAtlantik und Extrablatt in den späten 1970er und frühen 80er Jahren publiziert wurde sowie die bebilderten Prosawerke Strahlender Untergang (1982)5 , Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984)6 und der Episodenband Atlas eines ängstlichen Mannes (2012)7 , in denen dialektische Aufklärungsbewegungen erneut literarisch verhandelt werden. Vor dem Horizont einer Vermittlungspoetik wird erstmals eine Dialektik von Aufklärungskritik und Aufklärungsbedarf in Form der Reportage in den Texten herausgearbeitet.
Dunkle Aufklärung ›Aufklärung‹ ist eine Lichtmetapher. Der Begriff zielt auf einen Prozess der Klärung. Das Licht der Vernunft tritt den mythischen Mächten der Finsternis entgegen: So wie am Morgen der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertreibt, soll auch der menschliche Verstand ›erhellt‹ werden und die Unkenntnis verschwinden.8 Licht und Schatten lassen sich jedoch nicht voneinander lösen und treten in einen dialektischen Zyklus ein.9 Demgemäß trägt die Erhellung der Aufklärung immer einen Teil dunkler Mythologie in sich und die mythische Finsternis einen Teil aufklärerischen Lichts. Das Aufklärungszeitalter wird von Historikern, Soziologen und Philosophen als Fundament der geistigen und institutionell-strukturellen Verfasstheit der gegenwärtigen europäischen Gesellschaft verstanden.10 Das Programm der Aufklärung verfolgte den Zweck, den Menschen aus all seinen Zwängen mithilfe seines Verstandes zu befreien und ›Klarheit‹ zu schaffen. Immanuel Kant definierte die Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus 5 6
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Ransmayr, Christoph: Strahlender Untergang. Wien: Brandstätter 1982. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle SU im Text zitiert. Ransmayr, Christoph: Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Roman. Wien/München: Brandstätter 1984. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle SEF im Text zitiert. Ransmayr, Christoph: Atlas eines ängstlichen Mannes. Frankfurt a.M.: Fischer 2012. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle AäM im Text zitiert. Geier, Manfred: Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012, 9. Schuster, Peter-Klaus: »Licht und Schatten. Zur Dialektik der Aufklärung in der Kunst«. In: Die Kunst der Aufklärung. Eine Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München und des National Museum of China, herausgegeben von Eva Fichtner und Catherina Nichols. Berlin/Dresden/München: Staatliche Museen zu Berlin 2011, 57–73. Koehn, Elisabeth Johanna: Aufklärung erzählen – Raconter les Lumières. Heidelberg: Winter 2015.
Einleitung
seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«11 . Da das Eigendenken die Unabhängigkeit des Menschen erfordert, war für Kant vor allem die Freiheit eine wichtige Bedingung. Vorausgesetzt werden mussten »die Formierung einer kapitalistischen Marktordnung, der Aufstieg des Bürgertums, die Ausbildung der Naturwissenschaften, die Philosophie des Rationalismus und die rationale Politik der souveränen Staaten«12 . Ziel der Aufklärung als Entfaltung des eigenen Denkens war es, Autoritäten – so besonders religiöse Vorstellungen, Institutionen und Dogmen – kritisch zu hinterfragen. Aufklärung hat die Legitimation politischer Herrschaft, ihren eigenen Anspruch, ihre eigene Vorgehensweise sowie ihre eigene Gültigkeit zu prüfen und religiöse Toleranz, rechtliche Gleichstellung, persönliche Freiheit, freie wirtschaftliche Entfaltung, Meinungs- und Pressefreiheit zu fördern, um damit eine Öffentlichkeit herzustellen, eine politische Selbstbestimmung zu fordern und eine Bedingung für Humanität zu schaffen.13 Die ›Aufklärung‹ hat es bisher jedoch nur zu partiellen Erhellungen gebracht. Den positiven Gründungsmomenten werden spätestens seit Th. W. Adorno und M. Horkheimers Dialektik der Aufklärung von 1944 problematische und bisweilen katastrophale Auswirkungen zugeschrieben. »Das europäische Projekt«14 hat sich als Fehlschlag erwiesen: Es führt nicht zu »einem wahrhaft menschlichen Zustand«, sondern fällt in »eine neue Art von Barbarei«15 . Die herrschende Klasse wurde durch ein anderes Herrschaftssystem von Unterdrückung und Machtmissbrauch ersetzt und der Kapitalismus zum Maß aller sozialen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Bereiche gemacht. Die im amerikanischen Exil verfasste philosophische Abhandlung ist Ausgangspunkt, aber nicht abschließendes Ergebnis einer Kritik von Begriff und Wesen der Aufklärung im 20. Jahrhundert. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wurde Anlass, die ›Aufklärung‹ als exemplarisches Modell einer katastrophalen Entwicklung des Zivilisationsprozesses zu entlarven. Laut Horkheimer und Adorno lässt sich als Ziel aufklärerischen Denkens
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Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, herausgegeben von Jürgen Zehbe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, 55. Reinalter, Helmut: »Aufklärung«. In: Lexikon der Geisteswissenschaft. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, herausgegeben von Helmut Reinalter und Peter J. Brenner. Wien/ Köln/Weimar: Böhlau 2011, 22. Ebd., 25. Vgl. Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. DdA, 11.
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die Befreiung der Menschheit von der Furcht und der Bedrohung der Natur charakterisieren. Aufklärung strebt also die »Entzauberung der Welt«16 , sprich: eine rationale Erklärung von Naturphänomenen an. Im Ziel der Naturbeherrschung liegt der Beginn gewalttätigen Denkens. Ideologien, Gewaltherrschaften und Machtmissbrauch wurden durch den »Siegeszug der instrumentellen Vernunft« möglich, der »den Weg für die Durchsetzung der inhumansten Ziele freigemacht hat«17 . Ihre Diagnose fassen Horkheimer und Adorno in der Kernthese: »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.«18 Das Verhältnis von Mythos und Aufklärung ist dabei nicht dualistisch zu verstehen, sondern vielmehr in sich komplementär. Horkheimer und Adorno sind nämlich der Auffassung, dass die Struktur des aufklärerischen Denkens bereits im mythischen Denken verhaftet ist und es sich beim Mythos bereits um eine frühe Form der Aufklärung handelt. Der Mythos wiederum kann sich nur durch Selbstaufklärung von einer blinden Naturverfallenheit befreien: »Die Natur schließlich verliert in dem Maße ihre zerstörerischen Züge, in dem das Subjekt ihrer gedenkt, sich selbst als Natur begreift und sie damit humanisiert.«19 Die Kritik von Horkheimer und Adorno will die Idee der Aufklärung nicht verwerfen, sondern »einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung blinder Herrschaft löst«20 . Gegenwärtig wird wieder diskutiert: »Verblasst der Glanz der Aufklärung erneut?«21 Aufklärungsrezeption hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur im Literaturbetrieb an Bedeutung gewonnen, sondern auch in den Sozial-, Geistes- und Geschichtswissenschaften. Dies gilt für die Aufklärung als Epoche, als politisches Modell oder als Geisteshaltung. Im Zeitalter von Terror, der Finanzkrise, der Flüchtlingsdebatte, Fake News und der drohenden Klimakatastrophe sowie dem damit einhergehenden Machtmissbrauch und der Verschleie-
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Ebd., 19. Schmid Noerr, Gunzelin: »Zum Begriff der Aufklärung in der ›Dialektik der Aufklärung‹«. In: Zur Kritik der regressiven Vernunft. Beiträge zur »Dialektik der Aufklärung«, herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr und Eva-Maria Ziege. Wiesbaden: Springer 2019, 35. DdA, 16. Hetzel, Andreas: »Dialektik der Aufklärung«. In: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, herausgegeben von Richard Klein, Johann Kreuzer und Stefan Müller-Doohm. Stuttgart: Metzler 2019, 415. DdA, 16. Brandt, Reinhard: »Trotzdem: Aufklärung«. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, H. 813, Februar 2017, 92.
Einleitung
rung von Wahrheit und Wissen wird das Projekt Aufklärung wieder stärker reflektiert und kritisch hinterfragt. Im weltweiten Kampf der Ideen scheint Chinas Plan, im 21. Jahrhundert als größte Wirtschaftsmacht ohne die ›westlichen‹ Werte der Demokratie, der Menschenrechte und individuellen Freiheiten an die Weltspitze zu gelangen, verwirklicht zu werden. In Amerika stellt man einen epochalen Rückschritt fest, der als ›Post-Enlightenment‹ beschrieben wird: Der Stil des Denkens wird immer weniger durch vernünftiges Argumentieren, kritische Auseinandersetzung und offenen Verstandesgebrauch geprägt, sondern verstärkt durch Glaubensgewissheit, Meinung und Orthodoxie. Und auch in Europa selbst drohen Stimmen immer lauter zu werden und Gehör zu finden, die sich gegen die Werte der Aufklärung richten: gegen religiöse Toleranz und politische Liberalität, geistige Offenheit und kulturelle Vielfalt, gegenseitigen Respekt und weltbürgerliche Mentalität.22 Vor allem die literarische Öffentlichkeit setzt sich mit der gegenwärtigen, vermeintlich aufgeklärten ›Neuen Welt‹ auseinander. Viele zeitgenössische Autor:innen binden die Kritik der Dialektik der Aufklärung als »Interpretationsmuster von Aufklärung« in ihren Romanen ein.23 Untersucht wurden unter diesem Aspekt Alissa Walsers Am Anfang war die Nacht Musik (2010), welches vom Unbewussten der Aufklärung erzählt. Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt (2005) thematisiert Forschung und Wissenschaft als Instrumente der Aufklärung. Der Roman Der Schachautomat (2005) von Robert Löhr beschäftigt sich mit der Aufklärung als Transgression.24 Derzeit stehen Voraussagen von Fortschritt und Wachstum Krisenszenarien gegenüber, die ihre Breitenwirkung nicht selten durch die neue, alte Reizfigur des ›Fremden‹ und ›Unbekannten‹ erzielen. Auch bei Christoph Ransmayr werden Fortschrittskritik sowie die Anziehung und Überwindung des Unbekannten fokussiert. Im Kapitel »Fragmente des Mythos und der Aufklärung« aus dem Roman Die Schrecken des Eises und der 22 23
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Geier: Aufklärung: das europäische Projekt, 11. Vgl. Koehn: Aufklärung erzählen – Raconter les Lumières, 211f. Koehn untersucht an dreizehn exemplarischen Romanen der Gegenwart (unter anderem Walsers Am Anfang war die Nacht Musik, Kehlmanns Vermessung der Welt und Löhrs Der Schachautomat) die literarische Inszenierung von Aufklärung und die Prägung der Epoche auf die heutige Gesellschaft. Sie ist überzeugt, fiktionale Literatur partizipiere an der gesellschaftlichen Reflexion über Aufklärung in produktiver Weise. Vgl. ebd.
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Finsternis (1984) dokumentiert der damalige Jungautor die jahrhundertelange Auseinandersetzung und Zerstörung des Mythos. In seinen Reportagen und seinem ersten Band aus der Reihe der ›Spielformen des Erzählens‹, Strahlender Untergang, spielt die Dialektik der Aufklärung schon früher eine bedeutende Rolle. Bis zu seinem letzten Werk Der Fallmeister (2021) inszeniert der Österreicher die Kritik von Horkheimer und Adorno. Das Überthema der Aufklärung stellt sich in seinem Werk als Leitgedanke heraus, welcher bislang in der RansmayrForschung wenig Beachtung fand. Der österreichische Autor begann nach seinem Studium der Ethnologie und Philosophie in Wien ein Dissertationsprojekt über Max Horkheimer. Die Verbindung zwischen der Dialektik der Aufklärung und den frühen Romanen Ransmayrs, besonders der Letzten Welt, wurde schon häufig gezogen, wobei der Schlüsselsatz »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«25 als Basis zur mythologischen Auseinandersetzung mit den Texten führte,26 der Aufklärungsbegriff selbst hingegen nahezu unreflektiert blieb.
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Problemhorizont: »Schon die Mythologie ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«27
Die Ransmayr-Forschung arbeitete in den 1990er Jahren den Bezug der Letzten Welt zur Dialektik der Aufklärung heraus. Im Mittelpunkt der Debatte steht der Dualismus von Mythos und Aufklärung, von Peripherie und Zentrum.28 Die Grundlage bildet die Kernthese der philosophischen Abhandlung: »Schon die Mythologie ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«.29 Der Vergleich entsteht durch Ransmayrs Entwurf zu einem Roman, in dem er
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DdA, 16. Vgl. Bartsch: »Dialog mit Antike und Mythos«, 127; Cieślak: Mythos und Geschichte im Romanwerk Christoph Ransmayrs, 59. DdA, 16. Vgl. Epple, Thomas: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt: Interpretation. München: Oldenbourg 1992; Bachmann, Peter: »Auferstehung des Mythos in der Postmoderne. Philosophische Voraussetzungen zu Christoph Ransmayrs Roman ›Die letzte Welt‹«. In: Diskussion Deutsch. Zeitschrift für Deutschlehrer aller Schulformen in Ausbildung und Praxis, herausgegeben von Heinz Ide, H. 21, 1990, 639–651; Bartsch: »Dialog mit Antike und Mythos«. DdA, 16.
Einleitung
nicht nur seinen späteren Protagonisten der Letzten Welt, sondern auch das ovidische Motto »Keinem bleibt seine Gestalt« vorstellt.30 Während Ovids Metamorphosen »den Leser vom Mythos zur Aufklärung, von der Beschreibung der vier Weltalter im ersten, bis zur großen Rede des Pythagoras im letzten Buch« führen, geht Ransmayr den Weg von der Aufklärung zurück zum Mythos und endet mit der Entstehung des Olymps31 : Er beginnt mit der Aufklärung. Schon sein erster Zeuge heißt Pythagoras und der deutet an: Es gibt keine Götter. Aber am Ende des Weges der Aufklärung, dort, wo endlich Klarheit herrschen soll, steckt Posides [später unbenannt in Cotta, H.S.] wieder tief in den Mythen […].32 Bislang wird in der Ransmayr-Forschung konstatiert, dass seine Romane im Mythos enden und die Protagonisten darin verschwinden.33 Wenn der Mythos für das dunkle Unbekannte steht, das die Aufklärung zu beleuchten und erklären versucht, führen die Romane demnach in eine Dunkelheit, von der der Autor Abstand nimmt: »Ich versuche Lichteinfall selbst dann noch wahrzunehmen, wenn man mich in einen Kasten sperrt.«34 Die Dialektik, die der Kernthese von Horkheimer und Adorno zugrunde liegt, geht mit der bisherigen Vorstellung verloren, Aufklärung und Mythos wären finite Zustände. Mythen tragen bereits einen aufklärerischen Impetus in sich. Der Mythos will erklären, verdeutlichen, eben aufklären, und Aufklärung trägt im Willen zur Naturbeherrschung die Neigung zur Barbarei, weswegen das eine stets mit dem anderen verbunden ist und nicht getrennt verhandelt werden kann. Licht und Schatten als Metapher für Aufklärung und Mythos stehen in einer Korrelation.
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Ransmayr, Christoph: »Entwurf zu einem Roman«. In: Jahresring. Jahrbuch für Kunst und Literatur, Nr. 34, 1987/88, 197. Ebd. Ebd. Vgl. Epple: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt. Fröhlich, Monica: Literarische Strategien der Entsubjektivierung. Das Verschwinden des Subjekts als Provokation des Lesers in Ransmayrs Erzählwerk. Würzburg: Ergon 2001; Wohlleben, Doren: »Carmen perpetuum. Zur Idee der Vollendung in Ovids Metamorphosen und Christoph Ransmayrs Romanen ›Die letzte Welt‹ sowie ›Cox oder Der Lauf der Zeit‹«. In: Mapping Ransmayr. Kartierungsversuche zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Caitriona Leahy und Marcel Illetschko. Göttingen: V&R unipress 2021, 61–75. Kämmerlings, Richard: »›Ich bin eher ein Anhänger der Blutrache‹. Interview mit Christoph Ransmayr«. In: Die Welt, 29.03.2021.
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Die Aufklärung birgt zwei Tendenzen: zum einen die ›negative‹ Aufklärung, welche Herrschaftsmodelle, Traditionen und Wertungen kritisiert; zum anderen die ›positive‹ Aufklärung, welche Gleichheit, Freiheit, Sozialität und Toleranz fordert. Ransmayr zeichnet in seiner Prosa die Tendenzen der ›negativen‹ Aufklärung in Form der Inszenierung von Gewaltherrschaften, Ideologien und Machtmissbräuchen nach, ohne Aufklärungsgegner zu sein: »[…] und ich als Leser oder als Erzähler [bin] immer auf der Seite des Guten, des Wahren, der Aufklärung.«35 Er durchbricht die Dunkelheit, indem er in seinen Texten »Verborgenes […] ans Licht« bringt, indem er die Missstände aufdeckt und seine Darstellung der Wirklichkeit vermittelt (SEF 172). In der Darstellung der ›negativen‹ Aufklärung fordert Ransmayr die Umsetzung einer ›positiven‹ Aufklärung ein. Die Dialektik von Aufklärung und Mythos verdeutlicht, dass, wenn Aufklärung in ihrer Potenzierung von Barbarei in Mythologie schlägt, sich umkehrend lediglich am Mythos die Aufklärung wieder humanisieren lässt. Erst durch die Dekonstruktion aller Machtverhältnisse ist eine Humanisierung der Aufklärung möglich. Ransmayr erwirkt eine solche Möglichkeit der Dekonstruktion im Mythos im Rahmen einer Apokalypse. Dabei ist die Apokalypse keineswegs als Untergangsszenarium zu verstehen, sondern als Neu-Anfang. In diesem Stadium des Übergangs kann das Subjekt die Natur anerkennen beziehungsweise sich selbst als Natur begreifen und sich aus der hierarchischen Fassung befreien, um vom Zwang der Selbsterhaltung ablassen zu können. Aufklärung ist zum einen Ursache der Fehlentwicklungen der Gesellschaft, gleichzeitig wiederum Lösung für die Befreiung aus den mythischen, barbarischen Zuständen. Wer behauptet, das apokalyptische Rad drehe sich immer gleich, hat im Lauf der Zeit wohl nicht viel begriffen. Und das gilt für viele humane Ressourcen. Die Freiheit – zumindest in den Köpfen – ist groß wie niemals zuvor, auch wenn die Mehrheit der Menschen immer noch unter ihren jeweiligen Unterdrückern leidet. Hegel sagt, Geschichte sei Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Und diesem Bewusstsein werden – wenn auch mit Rückschlägen – irgendwann reale Verhältnisse folgen.36
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Christoph Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, 121. Kämmerlings: »›Ich bin eher ein Anhänger der Blutrache‹«.
Einleitung
Christoph Ransmayrs Texte tragen ein kultur- und gesellschaftskritisches Programm, welches Fragen von Existenz, Lebensumständen und Welterfahrung abhandelt und die Fehlentwicklung der Aufklärung fokussiert. Dabei bietet er keine absoluten Antworten, sondern bedient sich eines dialektischen Vermittlungsverfahrens37 im Rahmen der Ausgestaltung von Peripherie und Zentrum, Aufbruch und Ankunft, Erzählen und Verschwinden, Fakt und Fiktion – alles am Beispiel des Einzelnen: Einsicht, Reue…, Bewußtsein ist etwas höchst Individuelles. Aufklärung findet vor allem im einzelnen Kopf statt. Jeder Versuch, diesen Prozeß der Erkenntnis, der Einsicht in das Leiden oder in das mögliche und verlorene Glück der Menschen in ein Programm zu kleiden, das man dann nur organisieren müßte und schon wäre Aufklärung das zwingende Resultat – jeder solche Versuch bleibt eine heillose Hoffnung. Wirklich klar wird der Schrecken ebenso wie die unerfüllte Hoffnung, ihn für immer überwinden, bewältigen zu können, nur am einzelnen. Wenn es überhaupt eine adäquate, der Erzählung entsprechende Haltung geben kann, dann die des Einzelnen. Denn beim Erzählen geht es genau darum – das Unwiederholbare, Unverwechselbare am Einzelfall darzustellen und ihn vielleicht gerade dadurch zum Beispiel zu machen. Denn die Welt besteht doch insgesamt zunächst nicht aus Massen, sondern aus Menschen mit Namen, Gefühlen, Geburtsund Sterbetagen, Lebensläufen. Das ist mein Thema, nur davon kann ich erzählen.38 In der Aufklärung sieht Ransmayr entsprechend der Dialektik der Aufklärung die Fehler und Gefahren des Machtmissbrauchs, zugleich aber auch die Möglichkeit der Reaktivierung einer humanen Rationalität in der Tradition von Kants Kritik der praktischen Vernunft: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«39 Ransmayr ruft Missstände in das gegenwärtige Bewusstsein: 37
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Vgl. Schaunig, Günther. »Panhumanes Schreiben. Gemeinschaftsstiftung und Verewigungsstrategien im Werk von Christoph Ransmayr«. In: Mapping Ransmayr. Kartierungsversuche zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Caitríona Leahy und Marcel Illetschko. Göttingen: V&R unipress 2021, 133. Löffler, Sigird und Christoph Ransmayr: »Das Thema hat mich bedroht«. In: Falter, 22.09.1995; auch in: Wittstock, Uwe (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt a.M.: Fischer 1997, 218. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft. Bd. 5. Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Berlin: Reimer 1908, 30.
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Eine Warnung sollte ja nicht lähmen oder verschrecken, sondern uns bestenfalls helfen, uns die unzähligen Möglichkeiten der Gegenwart, unter ihnen auch die dunkelsten, bewusst zu machen.40 Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Notwendigkeit einer genauen Analyse der Aufklärungsthematik in Christoph Ransmayrs Werk. Untersucht wird unter anderem die Inszenierung von Aufklärung als Projekt, ihre Bedeutung und Stellung im Zusammenhang mit dem Mythos, die fortlaufende Herrschaftskritik sowie ihre Folgen im Missbrauch von Ideologien und eurozentristischen Vorstellungen. Im Fokus stehen ausgewählte Reportagen aus den Magazinen Extrablatt und TransAtlantik der 1970er und 80er Jahre, die ersten beiden Prosawerke Strahlender Untergang (1982) und Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) sowie der Episodenroman Atlas eines ängstlichen Mannes (2012). Das Text-Bild-Verhältnis in den frühen Reportagen und den bebilderten Werken des Brandstätter Verlags, Strahlender Untergang und Schrecken des Eises und der Finsternis, wird im Zusammenhang von Aufklärung und Mythos in Rückbezug auf die Dialektik der Aufklärung und deren These der Kulturindustrie als Massenbetrug eine zentrale Position einnehmen. Hier wird erstmals eine Vermittlungspoetik nachgezeichnet, welche sich bereits in den Reportagen herauskristallisiert und in den Prosawerken verdichtet.
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Verfahrensweise und Aufbau
Widerstand gegen menschliche Willkür, Herrschaft und Allmacht ist ein zentrales Thema in der Poetik und Politik von Christoph Ransmayr. Die philosophischen Theorien und Ansichten von Horkheimer und Adorno der Dialektik der Aufklärung finden sich in den frühen Reportagen bis hin zu den neusten Werken des österreichischen Autors. Als Ausdruck des fehlgeschlagenen Aufklärungsversuchs inszeniert Ransmayr das Herrschaftsmodell überaus kritisch und entlarvt es als Kern der Aufklärungsproblematik. Daher verlangt die Untersuchung der Texte Ransmayrs vor dem Horizont gegenwärtiger Aufklärungsdebatten und Kritik am Eurozentrismus eine genaue kulturphilosophische Auseinandersetzung mit den Thesen Horkheimers und Adornos. Die theoretischen Vorüberlegungen zur Herrschaftskritik sollen einen Ausgangspunkt für die Aufklärungsrezeption in Ransmayrs Werk bieten und die
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Kämmerlings: »›Ich bin eher ein Anhänger der Blutrache‹«.
Einleitung
bedeutende Wechselwirkung von Aufklärung und Mythos verdeutlichen: Wie wird Herrschaft in den Romanen literarisch inszeniert? Welche Relevanz und Funktion hat Herrschaft in der Handlung der Reportagen und Romane, und wie ist sie konnotiert? Diese Arbeit stellt besonders Texte und Werke in den Vordergrund, die bislang in der Ransmayr-Forschung weniger Beachtung fanden. Es wird explizit auf eine Analyse der breit rezipierten Letzten Welt und Morbus Kitahara41 verzichtet. Besonders die Reportagen des Extrablatt- und TransAtlantik-Magazins sowie die bebilderten Brandstätter-Ausgaben Strahlender Untergang und Die Schrecken des Eises und der Finsternis stehen im Fokus, um den in den späteren Fischer-Ausgaben entfernten Bildanteilen wieder Bedeutung zu verleihen und sie in die Diskussion zu integrieren. Um sich dem Thema der Aufklärungskritik bei Christoph Ransmayr anzunähern, wird im ersten Kapitel zunächst der philosophische Kontext der Dialektik der Aufklärung erläutert. Dabei sollen in weiteren Unterpunkten der Begriff ›Aufklärung‹ im Zusammenhang mit der philosophischen Abhandlung geklärt, die Kernthese »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«42 vorgestellt und Herrschaftsmechanismen in Naturbeherrschung und Selbsterhaltung beleuchtet werden. Zusätzlich wird gesondert auf das Dialektik-Kapitel ›Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug‹, die Grenzen und Folgen der Aufklärung im Kolonialismus und der Idee der Freiheit sowie auf die Aktualität der Thesen der philosophischen Abhandlung eingegangen.
Die Reportage In seinen Reportagen beleuchtet Ransmayr von der Gesellschaft an den Rand gedrängte und verborgene Missstände, sogenannte »blinde« oder »tote Winkel«, holt sie aus ihrer Dunkelheit heraus und ›klärt auf‹. Im blinden Winkel schreibt er als Herausgeber im Klappentext: Als ›blinde‹ oder ›tote‹ Winkel bezeichnet die deutsche Sprache den Bereich außerhalb des von den Augen einzusehenden Kreisausschnittes, zu beiden 41
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Vgl. Serfas, Henrike: »Auswahlbibliografie Christoph Ransmayr«. In: Christoph Ransmayr, herausgegeben von Doren Wohlleben (Gasthg.) und Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg. Text + Kritik, Bd. 220. München: edition text + kritik 2018, 80–86. DdA, 16.
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Seiten des Blickfelds. Tote Winkel lösen sich auf, sobald der Schauende sich um seine eigene Achse dreht; bis er wieder stillsteht und neue tote Winkel entstehen. Nur die ständige Bewegung, das ständige Schauen in allen Richtungen verhindert die partielle Blindheit. […] Wie das ›Mittelmaß‹, einst die Idealvorstellung einer Epoche, die sich als ›Aufklärung‹ verstanden wissen wollte, ist auch Mitteleuropa am überdimensionierten Anspruch an die menschliche Integrationsfähigkeit gescheitert. […] Grenzgänger sind die einzigen, die die Utopie von Mitteleuropa über die Zeiten retten.43 Zur Vermittlung der Missstände verwendet Ransmayr als junger Journalist die Form der Reportage in den Magazinen Extrablatt und TransAtlantik. Auch in Strahlender Untergang, Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Atlas eines ängstlichen Mannes findet der Reportagestil in der journalistischen Figur eines Berichterstatters Anwendung. In der Abfolge der Texte ist eine zunehmende Literarisierung44 – von der journalistischen Reportage hin zur reportagehaften Erzählung – deutlich erkennbar und verdichtet sich im Verschwinden 43 44
Ransmayr, Christoph: (Hg.) Im blinden Winkel. Nachrichten aus Mitteleuropa. Wien: Brandstätter 1989, Klappentext. Einen literarischen Charakter von Ransmayrs Reportagen stellen u.a. fest: Mergenthaler, Volker: »Spuren aus dem ›Anschlußjahr 1938‹ – Christoph Ransmayrs und Lois Lammerhubers GEO-Reportage ›Die vergorene Heimat‹«. In: Schwerpunkt/Focus: Christoph Ransmayr. Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 15/2016. Tübingen: Stauffenburg 2016, 103–124; Fliedl, Konstanze: »Unverständlich. Christoph Ransmayrs ›Der Weg nach Surabaya‹«. In: Der Dichter als Kosmopolit. Zum Kosmopolitismus in der neuesten österreichischen Literatur. Beiträge der tschechisch-österreichischen Konferenz České Budějovice, herausgegeben von Patricia Broser und Dana Pfeiferová. Wien: Praesens 2003, 81–97; Kovář, Jaroslav: »Zwischen den ersten Jahren der Ewigkeit und der letzten Welt. Zeit und Raum in Christoph Ransmayrs Prosa«. In: Der Dichter als Kosmopolit. Zum Kosmopolitismus in der neuesten österreichischen Literatur. Beiträge der tschechisch-österreichischen Konferenz České Budějovice, herausgegeben von Patricia Broser und Dana Pfeiferová. Wien: Praesens 2003, 67–79; Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung; Schütz, Erhard: »Journalliteraten. Autoren zwischen Journalismus und Belletristik«. In: Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre, herausgegeben von Andreas Erb. Opladen: Springer Fachmedien 1998, 97–106; Scheitler, Irmgard: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. Tübingen/Basel: Francke 2001; Spitz, Markus Oliver: Erfundene Welten – Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004; Eshel, Amir: »Der Wortlaut der Erinnerung – Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara«. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, herausgegeben von Stephan Braese. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, 227–255; Fetz, Bernhard: Das unmögliche Ganze. Zur literarischen Kritik der Kultur. München: Wilhelm Fink 2009.
Einleitung
der Grenzen von Fakt und Fiktion. Das Themenfeld der Reportage muss medientheoretisch bearbeitet und abgesteckt werden, wobei es die besonderen Bedingungen der Bild-Text-Verhältnisse in der Journalliteratur, gerade auch mit Blick auf die literarische Reportage, zu systematisieren gilt. Der Funktion der – selbst in den Reportagen stark ästhetisierten und immer wieder kulturkritisch reflektierten – Fotografien kommt ein besonderer Stellenwert zu. Daher werden in einem weiteren theoretischen Teil im zweiten Kapitel die Reportage, ihre Geschichte sowie ihre literarische und journalistische Tradition in Form des Reise- und Augenzeugenberichts skizziert. Hinzu kommen die Definition und die Darstellung der fünf Typen der Reportage, insbesondere in Abgrenzung zum Feature. Darauf aufbauend folgen zwei Analyseteile. Der erste Teil setzt sich mit fünf ausgewählten Reportagen des Extrablatt-Magazins der Jahre 1979–1982 und in drei ausgewählten Texten des TransAtlantik-Magazins zwischen den Jahren 1982 und 1986 auseinander. Untersucht wird eine Literarisierung der Texte in Bezug auf das Text-Bild-Verhältnis und die Auseinandersetzung mit der Dialektik der Aufklärung. Ransmayrs Reportagen sind mit Bildern, Fotografien oder Zeichnungen versehen. Der Begriff ›Foto-Texte‹, oder englisch ›phototext‹, wurde vom amerikanischen Schriftsteller und Fotograf Wright Morris in den 1940er Jahren erstmals verwendet und legt die mediale Beschaffenheit eines Bildelements in Text-Bild-Kombinationen auf das Foto fest.45 Die literaturwissenschaftliche Forschung zu den sogenannten Ikono- oder Fototexten ist besonders in den letzten 20 Jahren gewachsen.46 Bei den untersuchten Werken handelt es sich aber explizit um literarische Werke, in denen ein dialogisches Verhältnis zwischen Foto und Text besteht.47 Die Grenzen sind dabei in vielen Fällen fließend: Christoph Ransmayrs fotografisch bebilderte Reportagen lassen sich als Ikonotext werten, da sich sowohl das Foto als auch der
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Trachtenberg, Alan: »Wright Morris’s ›Photo-texts‹«. In: The Yale Journal of Criticism, H. 1, Volume 9 1996, 109. Vgl. Fix, Ulla und Hans Wellmann (Hg.): Bild im Text – Text im Bild. Heidelberg: Winter 2000; Mergenthaler, Volker: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen: Niemeyer 2002; Stöckl, Harmut: Die Sprache im Bild – das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte, Theorien, Analysemethoden. Berlin: De Gruyter 2004; Steinäcker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld: transcript 2007. Steinäcker: Literarische Foto-Texte, 13.
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Text als konstitutiv erweisen und damit jeder Teil als unverzichtbar im Hinblick auf die gesamte Arbeit gilt. Die Reportagen beleuchten kritisch Geschehnisse und bestehende Verhältnisse in Politik, Geschichte und Gesellschaft in und um Österreich. Aufklärungs- und Fortschrittskritik sowie weitere grundlegende Inhalte der Dialektik der Aufklärung, so auch besonders Horkheimers Ideen aus dem Kapitel Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug, sind zentrale Themen der Berichte. In Bezug auf Ransmayrs journalistisches Frühwerk soll die Bedeutung des Bildmaterials in den Reportagen im Zusammenhang mit dem Bild als Medium der Kulturindustrie und der damit aufgestellten These des ›Massenbetrugs‹ und Missbrauchs untersucht und dies als neuer Leitfaden in seine Poetik eingefügt werden. Der zweite Analyseteil untersucht Ransmayrs Aufklärungs- und Herrschaftskritik sowie die Form der Reportage in den Prosawerken Strahlender Untergang, Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Atlas eines ängstlichen Mannes. Es soll vor dem Horizont einer Vermittlungspoetik verdeutlicht werden, inwiefern den Texten eine Dialektik von Aufklärungskritik und Aufklärungsbedarf zugrunde liegt. Die vorliegende Arbeit verlangt eine kulturphilosophische, kulturtheoretische und medienphilologische Herangehensweise und arbeitet dies in Form genauer Textlektüren in Bezug auf die Reportagen der Extrablatt- und TransAtlantik-Magazine, des ersten Prosawerks Strahlender Untergang sowie des Episodenbandes Atlas eines ängstlichen Mannes heraus. Was Ransmayr als Menschen und Autor charakterisiert, ist vor allem ein ganz starker Gerechtigkeitssinn […]. Seine Abscheu vor Dummheit, Mitläufertum, korruptem Verhalten, Brutalität und Barbarei spürt man in seinem ganzen Werk, auch wenn sie sich dem oberflächlichen Blick nicht gleich erschließt. Wer aber genau liest, kann sie im Werk entdecken.48
3
Zur Forschungslage
Die Epoche und Philosophie der Aufklärung stellen einen selbstverständlichen Forschungsgegenstand in der Literaturwissenschaft des 21. Jahrhunderts
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Palla, Rudi: »Ein detailbewusster Geschichtenerzähler«. In: Die Rampe. Porträt Christoph Ransmayr, herausgegeben von Manfred Mittermayer und Renate Langer. Linz: Trauner 2009, 41.
Einleitung
dar.49 Seit der Aufklärungskritik Horkheimers und Adornos wird die Bedeutung und Auswirkung der Aufklärung bis heute immer wieder diskutiert und kritisch reflektiert: Andreas Pecar und Damien Tricoire setzen sich in ihrer Abhandlung von 2015 mit der Frage Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? auseinander. Ihrer Auffassung nach kann die Moderne nicht der Aufklärung entstammen, da die Aufklärung »Rassismus, Sexismus und Kolonialismus erfunden« habe.50 Arbogast Schmitt fragt provokant Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Schmitt nähert sich der Aufklärung von der platonisch-aristotelischen Philosophie her an. Mit ihr enttarnt er die vermeintliche Aufklärung der Neuzeit als ein populistisches Fehlunternehmen, als bloße »Verwissenschaftlichung des Commonsense«51 . Eine Gegenposition vertritt der Harvard-Psychologe Steven Pinker mit seinem Buch Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt.52 Er attackiert rechte und linke Fortschrittsfeinde und spricht sich für den Erfolg des Fortschritts und der Aufklärung aus. Laut seiner eigenen Untersuchungen und Statistiken seien alle Menschen in den vergangenen Jahrzehnten liberaler geworden, Arbeitszeiten hätten sich drastisch verringert, die Zahl der Demokratien sei erheblich gestiegen und der Bildungsgrad stark gewachsen.53 Uwe Wiemken fragt sich in Aufklärung, Technik und Offene Gesellschaft: Können wir die Vernunft noch retten? 54 Er ist überzeugt, dass die Vernunft das einzige geistesgeschichtliche Konzept darstelle, mit dem überhaupt der Versuch unternommen werden könne, eine gewaltfreie globale Gesellschaft zu organisieren. Das Urteil über die Rolle der Aufklärung in der Gegenwart bleibt kontrovers, auch wenn ihre Funktion als dynamisches Element in der modernen Weltgeschichte unstrittig ist.55
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Vgl. Schneider, Martin: Das Weltbild des 17. Jahrhunderts. Philosophisches Denken zwischen Reformation und Aufklärung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004; Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Hanser 2011; Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Israel, Jonathan I. und Martin Muslow (Hg.): Radikalaufklärung. Berlin: Suhrkamp 2014. Pečar und Tricoire: Falsche Freunde. Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Pinker, Steven: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt a.M.: Fischer 2018. Vgl. ebd.: »Teil II: Fortschritt«, 57–440. Wiemken: Aufklärung, Technik und Offene Gesellschaft. Dainat, Holger und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg: Winter 1999.
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Zur Aufklärung als Grundlagenforschung für die Gegenwartsliteratur, insbesondere zu Christoph Ransmayrs Werk, finden sich seit den 2000er Jahren jedoch nur vereinzelte Beobachtungen. Auch in den jüngsten, internationalen Sammelbänden und Konferenzen zu Ransmayr (Die Rampe. Porträt Christoph Ransmayr 2009, Gegenwartsliteratur. Ein Germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt: Christoph Ransmayr 2016, Text+Kritik. Christoph Ransmayr, 2018, Mapping Ransmayr, 2021)56 fand eine Auseinandersetzung mit der Aufklärung, die weit über eine postmoderne Polemik gegen den Vernunft-Mythos-Dualismus hinausgeht, bislang kaum Beachtung. Die Ransmayr-Forschung arbeitete zwar in Bezug auf die Dialektik der Aufklärung eine Dualität zwischen Mythos und Aufklärung, zwischen Peripherie und Zentrum heraus, jedoch wurde lediglich der Mythos berücksichtigt und der Fokus auf die Aufklärung blieb aus.57 Peter Bachmann eröffnet zu Beginn der 1990er Jahre mit seinem Aufsatz Die Auferstehung des Mythos in der Postmoderne einen anhaltenden und sich bis heute wiederholenden Forschungszweig der Verknüpfung von Ransmayrs Die letzte Welt mit der Dialektik der Aufklärung. Der Roman erweise sich als eine literarisch gewordene Umsetzung der philosophischen Abhandlung. Bachmann sieht in der Petrifikation eine »Totalität der Verdinglichung« und rekurriert so auf die Gefahr der Verobjektivierung, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung als Ursache der fehlgeschlagenen Aufklärung konstatieren.58 Die letzte Welt verkünde »eine Welt ohne Hoffnung« und »die ewige Wiederkehr des Immergleichen«59 . Kurt Bartsch bezieht im gleichen Jahr die beiden Kernthesen der Dialektik der Aufklärung »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«60 auf Die letzte Welt und arbeitet einen dualistischen Aufbau von Vernunft und Mythos im Roman heraus. Seiner Meinung nach erin-
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Mittermayer, Manfred und Renate Langer (Hg.): Die Rampe. Porträt Christoph Ransmayr. Linz: Trauner 2009; Lützeler, Paul Michael, Erin Heather McGlothlin und Jennifer M. Kapczynski (Hg.): Schwerpunkt/Focus: Christoph Ransmayr. Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 15/2016; Wohlleben, Doren (Gasthg.), Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg (Hg.): Christoph Ransmayr. Text + Kritik, Bd. 220. München: edition text + kritik 2018. Leahy, Caitriona und Marcel Illetschko (Hg.): Mapping Ransmayr. Kartierungsversuche zum Werk von Christoph Ransmayr. Göttingen: V&R unipress 2021. Epple: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt: Interpretation. Bachmann: »Auferstehung des Mythos in der Postmoderne«, 644. Ebd., 646. DdA, 16.
Einleitung
nere das augusteische Herrschaftssystem und die Gotterhebung des Kaisers daran, dass die »machtassimilierte instrumentelle Vernunft sich selbst zum Mythos macht«61 . Auch Sabine Wilke analysiert die Funktion des Mythos unter Einbeziehung der dialektischen Bewegung von Aufklärung und Mythos und verdeutlicht anhand der Romane Schrecken des Eises und der Finsternis und Die letzte Welt, inwiefern falsch verstandene Aufklärung in Mythologie zurückzuschlagen vermag. Ransmayr demonstriere die potenzielle Gefahr von semiologischen Prozessen sowie ihre Nähe zur politischen Bedeutung und ihre Umkehrung in mythische Strukturen.62 Wilke betont weniger die dualistische Struktur, sondern erkennt in der Dialektik von Aufklärung und Mythos, dass Aufklärung die einzige Aussicht zur Bewältigung des Mythos darstellt: »Aufklärung ist also einerseits völlig korrumpiert von politischen und wirtschaftlichen Interessen, andererseits bedeutet sie die einzige Möglichkeit, um diese Situation zu überwinden.«63 Thomas Epple ist in seiner Interpretation der Letzten Welt überzeugt, dass »Ransmayrs Vernunftkritik, die Darstellung des hierarchischen Verwaltungsapparats, dessen Rationalität in Terror und Unterdrückung der einzelnen Menschen umschlägt«, ihre Wurzeln in der Analyse der instrumentellen Vernunft der Dialektik der Aufklärung hat.64 In der Letzten Welt werde ›Vernunft‹ einseitig rationalistisch verstanden und ließe sich deshalb in eine Dualität zu Mythen, Fantasie und Imagination setzen.65 So bilde das mythisch aufgeladene Tomi den Gegenpol zum vernunftgeprägten Rom. Für Epple wird Aufklärung mit der Verödung der Fantasie gleichgesetzt und Vernunft mit Unterdrückung. Er betont vor allem, dass es keinerlei »vernünftige Instanz« im Text mehr gebe, die eine aufklärerische oder erklärende Funktion hätte: »Ransmayr verabschiedet die Vernunft auch auf dieser Ebene.«66 Für Thomas Anz stehen in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung Sätze, »die sich wie ein Kommentar zu Ransmayrs [Letzten Welt] lesen«67 . 61 62 63 64 65 66 67
Bartsch: »Dialog mit Antike und Mythos«, 127. Wilke, Sabine: Poetische Strukturen der Moderne. Zeitgenössische Literatur zwischen alter und neuer Mythologie. Stuttgart: Metzler 1992, 260. Ebd., 228. Epple: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt, 94. Ebd. 47. Ebd., 49. Anz, Thomas: »Spiel mit der Überlieferung. Aspekte der Postmoderne in Ransmayrs ›Die letzte Welt‹«. In: Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Uwe Wittstock. Frankfurt a.M.: Fischer 1997, 127f.
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Für ihn schlagen die »Verheißungen menschlicher Freiheit von Naturgewalten« in die »Lockungen naturwüchsiger Befreiung von Zivilisationszwängen potentiell in antihumane Selbstdestruktion um«68 . Er resümiert, dass dieser Umschlag im »ästhetischen Spiel mythopoetischer Phantasie« ohne reale Gefahren bliebe und sich »mit lustvollem Grauen risikolos« genießen lasse.69 Monica Fröhlich zielt in Literarische Strategien zur Entsubjektivierung in vielerlei Hinsicht auf die kulturkritische Absicht Ransmayrs und greift dabei auf die Dialektik der Aufklärung zurück. Sie bezieht sich nicht nur auf Die Schrecken des Eises und der Finsternis und die breit rezipierte Letzte Welt, sondern geht auch auf viele Reportagen des Extrablatt-Magazins ein, in denen Ransmayr die »Machtverhältnisse der Wiener Kulturszene entlarvt und öffentlich kritisiert«70 . Die »Kritik an der dialektischen Verflechtung von Aufklärung und Herrschaft« finde sich bereits in seinen Anfängen als Journalist.71 Zudem empfindet sie Ransmayrs erstes literarisches Werk Strahlender Untergang als einen überaus aufklärungskritischen Text, »der die Begrifflichkeit und Metaphorik seiner poetischen Beweisführung aus der Dialektik der Aufklärung entlehnt«72 . Die literarische Umsetzung der Krise des Subjekts und das Verschwinden des Protagonisten in Ransmayrs Prosa steht für Fröhlich im Dienst eines »aufklärungs-, vernunft- und erkenntniskritischen Programms«, welches als umfassende Kulturkritik zu verstehen sei.73 Entgegen der bisher aufgeführten Forschungsmeinungen betont sie, dass bei Ransmayr nicht nur die Aufklärung mithin dialektisch sei, sondern auch die Aufklärungskritik.74 Holger Mosebach untersucht das Motiv des Untergangs, das Phänomen des modernen Endzeitbewusstseins und die Darstellung von Katastrophen und Dystopien in Ransmayrs Werken der 1980er und 90er. In Bezug auf die Dialektik der Aufklärung resümiert Mosebach, dass sich im Fortschritt die Tendenz zur Selbstvernichtung verberge.75 Entgegen der Überzeugung Wilkes trifft für ihn eine Verbindung der Dialektik der Aufklärung und der Schrecken des Eises und der Finsternis nicht zu, da sich Ransmayr weniger am Mythos 68 69 70 71 72 73 74 75
Ebd., 131. Ebd. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 151. Ebd., 152. Ebd., 50. Ebd., 47. Ebd., 52. Mosebach, Holger: Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs. München: Meidenbauer 2003, 35.
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der Entdeckerfahrten, sondern vielmehr am Leid und der Qual, sprich: der Emotionen der Exkursionsteilnehmer orientieren würde.76 Bezüglich der Vernunftkritik in Die letzte Welt schließt er sich den bisherigen Meinungen an. Im Roman fungiere in Rom die Vernunft als Instrument der Autorität und führe im Sinne der Dialektik der Aufklärung vor, dass sie zur »Affirmation der Herrschaft und zur Entfremdung des Subjekts geführt hat«77 . Ransmayr manifestiere die aus der Herrschaft resultierenden Qualen als anthropologische Wahrheit: Das von der Aufklärung entwickelte Instrument zur Erlangung menschlichen Glücks, des Friedens und der Gerechtigkeit ist bei Ransmayr suspendiert. Vernunft ist das Mittel eines repressiven Staates, seine subjektiven Machtinteressen durchzusetzen. Sie dient zur Etablierung der dunklen Seite von Perfektion und Ordnung.78 Thorsten Wilhelmy, der in Legitimitätsstrategien der Mythosrezeption ausführlich das Figurenensemble der Letzten Welt betrachtet, lehnt sich an Mosebachs vernunftkritische Beobachtungen an.79 Markus Oliver Spitz zweifelt an der gängigen These der postmodernen Einordnung von Ransmayrs Werk. Er ordnet den Aufbau und die Erzählweise des Autors der klassischen Moderne zu. Im Rückgriff auf Hermeneutik und Rezeptionstheorie erstellt er »Modelle der Wirklichkeit« und analysiert im Fokus Morbus Kitahara sowie einige von Ransmayrs journalistischen Arbeiten und Prosa vor 1995. Für Spitz dient die Kritik und Thematisierung der Aufklärung als Warnung vor der Selbstüberhebung der menschlichen Vernunft. Im Umkehrschluss bleibe das Werk paradoxerweise »Ausdruck eines aufklärerischen Impetus«80 . Renata Cieślak fragt nach dem Zusammenhang von Mythos und Geschichte in Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Die letzte Welt und Morbus Kitahara. Sie weist nach, dass die Verwendung der Mythosstruktur, in welche historische Ereignisse hineinprojiziert werden, zu neuen Typen des his-
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Ebd., 117. Ebd. 200f. Ebd., 201. Wilhelmy, Thorsten: Legitimitätsstrategien der Mythosrezeption. Thomas Mann, Christa Wolf, John Barth, Christoph Ransmayr, John Banville. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 284f. Spitz: Erfundene Welten – Modelle der Wirklichkeit, 167.
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torischen Romans führe.81 Vor allem in Die Schrecken des Eises und der Finsternis sieht sie die Hauptthese der Dialektik der Aufklärung – bereits der Mythos ist Aufklärung und Aufklärung schlägt in Mythologie zurück – aufgehen und empfindet die Expeditionen als Zuspitzung der Aufklärungskritik: »Es wird gezeigt, wie die Entdeckungen den Machtzwecken untergeordnet werden, wie die Aufklärung in die Barbarei umschlägt.«82 In Bezug auf Die letzte Welt geht sie auf die bisherigen Forschungsbeobachtungen zur Dualität von Rom und Tomi als Sinnbilder der Aufklärung und des Mythos aus unerklärlichen Gründen nicht ein. Herwig Gottwald hingegen reiht sich in der Kontrastierung von Rom und Tomi in Die letzte Welt als Darstellung der Dualität von Aufklärung und Mythos in die bisherige Forschung ein.83 Er erkennt in Cottas Übergang von einer ebenso aufgeklärten, rationalen wie erstarrten, gefühlsarmen Welt der Zivilisation in eine wildere, ursprünglichere Mythische »eine deutliche Zivilisations- und Aufklärungskritik«84 . Daniela Henke sieht ebenfalls in Die letzte Welt in Rom ein totalitäres Regime und den Raum von Herrschafts-, Vernunft- und Aufklärungskritik.85 Der Roman stelle im diktatorischen Herrschaftsmodell von Rom »einen Konnex zwischen Aufklärung und Totalitarismus« her, der auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung verweise, »die genau diese Affinität der Entmythisierung durch die Aufklärung zu einem totalitaristisch motivierten Gestus der Unterdrückung nachweisen«86 . Doren Wohlleben reflektiert im zuletzt erschienenen Sammelband Mapping Ransmayr von 2021 unter anderem aufklärungskritische Bezüge von der Dialektik der Aufklärung zur Letzten Welt und zu Cox oder Der Lauf der Zeit.87 In beiden Werken – das eine entspringt einem aufgeklärten Vernunftraum, das andere spielt in der Zeit der Aufklärung – zeichne sich ein Weg von der Auf-
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Cieślak: Mythos und Geschichte im Romanwerk Christoph Ransmayrs, 9. Ebd., 93. Gottwald, Herwig: »Der Mythos bei Christoph Ransmayr«. In: Die Rampe. Porträt Christoph Ransmayr, herausgegeben von Manfred Mittermayer und Renate Langer. Linz: Trauner 2009, 67. Ebd. Henke, Daniela: Geschichte neu denken. Postmoderne Geschichtsphilosophie und Historiographie im Romanwerk Christoph Ransmayrs. Marburg: Tectum 2016, 56. Ebd., 57. Wohlleben: »Carmen perpetuum«.
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klärung zurück zum Mythos ab, der Ransmayrs Auseinandersetzung mit der Dialektik der Aufklärung erkennen lasse.88 Der Weg von der Aufklärung zum Mythos in Ransmayrs Prosa hat sich – sicherlich wegen der Äußerungen des Autors zur Letzten Welt in Entwurf zu einem Roman – als Forschungsmeinung manifestiert. Der Bezug der Letzen Welt und der Dialektik der Aufklärung speist sich aus den Forschungsansätzen der 1990er Jahre und wiederholt sich seither. Dabei bleibt die Vorstellung einer Dualität von Aufklärung und Mythos in Form von Zentrum und Peripherie erhalten, wobei der dialektische Gehalt verloren geht. Ransmayrs frühe Romane entfalten in ihrer Handlung die Dialektik der Aufklärung. Sie erzählen vom selbst verschuldeten oder gewollten Ende jener menschlichen Geschichte, welche der Mensch bestimmt und beendet. Eben die Technik, mit der er sich aus den Zwängen der Natur und seines Aberglaubens befreien wollte, katapultiert ihn aus der zivilisierten Welt wieder heraus.89 In der Überzeugung, Ransmayrs Romane beginnen mit der Aufklärung und enden im Mythos, wird ein finiter Zustand erzeugt, der das dialektische Verständnis von Aufklärung und Mythos missachtet. Horkheimers und Adornos Kernthese wird getrennt: Der Fokus liegt auf »und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« – die Umkehrung »schon der Mythos ist Aufklärung« verschwindet.90 Neuere Ansätze bewerten das oft verkürzte Verständnis der Apokalypse beziehungsweise der Offenbarung des Johannes neu. Renate Langer erkennt in dem Untergangsszenario »ein notwendiges Durchgangsstadium« zur »Zerstörung des schlechten Bestehenden«91 . Darauf folge das Jüngste Gericht, das die Wiederherstellung des Paradieses der messianischen Zeit einleite: »Bei Ransmayr finden sich sowohl viele Anspielungen auf ein endzeitliches Gericht als auch 88 89
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Ebd., 64. Harzer, Friedmann: »Alchemie der Zeit. Über Ewigkeit und Augenblick in Christoph Ransmayrs Roman ›Cox oder der Lauf der Zeit‹«. In: Christoph Ransmayr, herausgegeben von Doren Wohlleben (Gasthg.) und Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg. Text + Kritik, Bd. 220. München: edition text + kritik 2018, 54. DdA, 16. Langer, Renate: »Probeweise Amen? Religiöse Motive im Werk von Christoph Ransmayr«. In: Bis zum Ende der Welt. Ein Symposium zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Attila Bombitz. Wien: Präsens 2015, 61.
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die Vorstellung, dass nach dem Untergang ein neues Zeitalter anhebt.«92 Doren Wohlleben interpretiert die apokalyptische Dimension der Schlussszene der Letzten Welt als »Neu-Anfang«93 . Im Widerhall von Cottas Namen ist der letzte Mensch zugleich wieder der erste Mensch, »der sich durch Selbstanrufung neu erschafft, das letzte Wort des Romans ist das poetische Urwort: der Name«94 . Diese Arbeit stützt sich auf die Vorstellung der Apokalypse als NeuAnfang zur Notwendigkeit der Dekonstruktion der bestehenden Verhältnisse, um das fehlgeschlagene Projekt der Aufklärung zu überwinden und das Subjekt mit der Natur wieder zu vereinen, es aus der Verstrickung blinder Herrschaft zu lösen und die Aufklärung letzten Endes wieder zu humanisieren. Entgegen der Vorstellung, »Vernunft taugt nicht zur Erkenntnis und Reflexion«95 , wird nicht nur die Aufklärungskritik untersucht, sondern auch der Aufklärungsbedarf von Missständen und Fehlentwicklungen der Gesellschaft als neuer Deutungsansatz einer Vermittlungspoetik in den Fokus gerückt.
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Ebd., 61f. Wohlleben: »Carmen perpetuum«, 68f. Ebd., 68. Epple, Christoph Ransmayr, Die letzte Welt, 48.
I Über Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung
1 Dialektik der Aufklärung (1947)
Die von Max Horkheimer und Th. W. Adorno im amerikanischen Exil gemeinsam zwischen 1940 und 1944 verfasste Dialektik der Aufklärung ist Ausgangspunkt, aber nicht abschließendes Ergebnis einer Kritik von Begriff und Sinn der Aufklärung im 20. Jahrhundert. Sie gehört zu den aufschlussreichen Zeitdiagnosen der Moderne.1 Horkheimer und Adorno verdeutlichen: Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.2 Die Philosophischen Fragmente, welche 1947 in kleiner Auflage publiziert wurden,3 bestehen aus mehreren Exkursen, Essays, Aufzeichnungen und Entwürfen und wollen »Aufklärung über die Aufklärung sein«4 . Horkheimer und Adorno stützen ihre Beobachtungen der Kritischen Theorie auf Thesen, Vorarbeiten und Abhandlungen unter anderem von Karl Marx, Sigmund Freud, Max Weber, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Georg Lukács, Erich Fromm,
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4
Hindrichs, Gunnar (Hg.): Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Klassiker Auslegen, Bd. 63. Berlin/Boston: De Gruyter 2017, 1. DdA, 13. Bereits 1944 wurde eine erste Fassung der Dialektik der Aufklärung fertiggestellt und unter dem Titel Philosophische Fragmente als mimeographierter Band veröffentlicht. Die spätere Version wurde noch einmal überarbeitet und das marxistische und antikapitalistische Vokabular entschärft. Zimmer, Robert: »Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, ›Dialektik der Aufklärung‹«. In: Basis-Bibliothek Philosophie. 100 klassische Werke, herausgegeben von Robert Zimmer. Stuttgart: Reclam 2009, 227.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Leo Löwenthal.5 Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wurde Anlass, die ›Aufklärung‹ als exemplarisches Modell einer katastrophalen Entwicklung des Zivilisationsprozesses zu entlarven: […] [D]er Versuch der historischen Aufklärung, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, [hat] in neue, bisher nicht gekannte Abhängigkeiten geführt […], dass sich das wissenschaftlich-technische Projekt der Naturbeherrschung letztlich gegen den Menschen selbst kehrt, dass schließlich der vermeintliche Rationalisierungsfortschritt, den die abendländische Moderne für sich reklamiert, um den Preis einer zum Äußersten gesteigerten Inhumanität der gesellschaftlichen Verhältnisse erkauft wird. Das Unterfangen der Aufklärung, die Idee der Freiheit in der geschichtlichen Wirklichkeit zu verankern, beförderte letztlich Verhältnisse extremer Unfreiheit.6 Die philosophiehistorischen Exkurse der Dialektik bilden »eine tragende Säule der systematisch angelegten Rationalitätskritik der beiden Frankfurter«7 . Das theoretische Basis- und Eingangskapitel Begriff der Aufklärung verdeutlicht, inwiefern die Zerstörung der bürgerlichen Ordnung durch den Faschismus der Aufklärung – im Sinne des »fortschreitenden Denkens«8 – zuzuschreiben ist. Die erste Abhandlung […] sucht die Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso wie die davon untrennbare von Natur und Naturbeherrschung, dem Verständnis näherzubringen. Die dabei an Aufklärung geübte Kritik soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst. Grob ließe die erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.9
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Vgl. Schmid Noerr, Gunzelin: »Zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund der ›Dialektik der Aufklärung‹«. In: Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive, herausgegeben von Sonja Lavaert und Winfried Schröder. Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 29–52. Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 411. Lavaert, Sonja und Winfried Schröder (Hg.): Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive. Berlin: De Gruyter 2018, 2. DdA, 19. Ebd., 16.
1 Dialektik der Aufklärung (1947)
Horkheimer und Adorno legen das Ziel der Aufklärung – die »Entzauberung der Welt« (rationale Erklärung von Naturphänomenen) – einer zunächst magisch, dann mythisch und dann religiös strukturierten Weltsicht »durch das zunehmend wissenschaftlich orientierte Denken als Reduzierung der Vernunft auf instrumentelles Verfügungswissen« aus und interpretieren es als »Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, als eine Art Krankheit der Vernunft«10 . Dabei soll das befreiende Denken aber nicht »in seiner düsteren, allumfassenden Geschichte ertränkt werden«, sondern wieder seine Offenheit zurückgewinnen, was in Bezug auf die Selbstzerstörung der Aufklärung bedeutet: »[D]ie Freiheit in der Gesellschaft, die das aufklärende Denken verspricht, wird im Eingedenken seiner Regression zu neuer Geltung gebracht.«11 Die zwei Thesen des ersten Kapitels »Schon der Mythos ist Aufklärung« und »Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« werden in zwei darauffolgenden Exkursen an spezifischen Fällen durchgeführt.12 Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung verfolgt die Dialektik von Aufklärung und Mythos in der Odyssee, »einem der frühsten repräsentativen Zeugnisse bürgerlich-abendländischer Zivilisation«13 . Das Kapitel erforscht die ›Entzauberung‹ bis in die Homerischen Epen und zeigt anhand der Figur des Odysseus den Anfangspunkt des über sich selbst und andere bestimmenden Subjekts, welches sich über die Mächte der mythischen Erlasse hinwegsetzt. Diese Befreiung dokumentiert die ersten Tendenzen von Herrschaft und Unterdrückung:14 »Im Mittelpunkt stehen die Begriffe Opfer und Entsagung, an denen Differenz und so gut wie Einheit von mythischer Natur und aufgeklärter Naturbeherrschung sich erweisen.«15 Exkurs II: Juliette oder Aufklärung und Moral beschäftigt sich mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihrem Verfallspunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts samt ihren »unerbittlichen Vollendern«: Kant, Sade und Nietzsche.16 In diesem Kapitel diagnostizieren Horkheimer und Adorno eine Entmachtung der praktischen Vernunft, »die nicht mehr über ein
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Schmid Noerr: »Zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 31. Hindrichs: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, 1. DdA, 16. Ebd. Schmid Noerr: »Zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 31. DdA, 16. Ebd.
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tragfähiges Argument gegen den Mord zu verfügen scheint«17 . Im Abschnitt Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug entlarven die beiden Frankfurter Philosophen Radio, Film und Fernsehen als ideologisierte Massenkultur. Die Öffentlichkeit wird mit massenmedial vermittelten Vergnügungen gespeist, die verschleiern, dass man sich in einem »ausbeuterischen Systemzusammenhang« bewegt.18 Aufklärung steht dabei vor allem im Kalkül der Wirkung und der Technik von Herstellung und Verbreitung; ihrem eigentlichen Gehalt nach erschöpft sich die Ideologie in der Vergötzung des Daseienden und der Macht, von der die Technik kontrolliert wird.19 Der Abschnitt Elemente des Antisemitismus: Grenzen der Aufklärung widmet sich inhaltlich der Rückkehr der aufgeklärten Gesellschaft zur Barbarei, Unterdrückung und Herrschaft und zeichnet »eine philosophische Urgeschichte des Antisemitismus« nach.20 Die an die Kapitel und Exkurse angeschlossenen Aufzeichnungen und Entwürfe untersuchen Aufklärungsdialektik in den verschiedenen Bereichen der Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Moral. Die Dialektik der Aufklärung schildert die Verfallsgeschichte der abendländlichen Rationalität, welche für Horkheimer und Adorno zugleich eine Chronik fortlaufender Herrschaft darstellt. Mit ihrem Buchtitel greifen die beiden Autoren zunächst die historische Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf, die sie eher zu reflektieren als zu überwinden suchen. Dabei knüpfen sie an eine Tradition der Vernunftkritik an, welcher »sie mit der Figur einer Dialektik der Aufklärung zu einem neuen begrifflichen Zentrum verhelfen«21 . Horkheimer und Adorno geben sich angesichts des Fehlschlags der aufklärerischen Ideen von Rationalität und Vernunft in der Geschichte eher hoffnungslos. Ihre Konzeption einer Dialektik der Aufklärung »verweist auf die Beobachtung, dass sich das aufklärerische Projekt einer Befreiung zu rationalem Denken und Handeln im Zivilisationsprozess gegen sich selbst kehrt und in autoritäre Herr-
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Schmid Noerr: »Zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 32. Schicha, Christian: »Kritische Medientheorie. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus«. In: Theorien der Medien, herausgegeben von Stefan Weber. Konstanz: UVK 2010, 106. DdA, 16. Ebd., 17. Ebd., 411.
1 Dialektik der Aufklärung (1947)
schaft und Gewalt umschlägt«22 . Aus dieser Diagnose heraus leiten sie die negative Geschichtsphilosophie ab, dass sich das abendländische Subjekt durch den Prozess der Aufklärung und der damit verbundenen Abspaltung der eigenen Natur »verstümmelt« und so die positive Interpretationsmöglichkeit des Sinns der eigenen Existenz verloren habe:23 »[M]it der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig.«24 Die vermeintliche Überwindung der Natur und die Disziplinierung der menschlichen ›Triebe‹ führen zur Unterwerfung des Subjekts vor den ›objektiven‹ Gegebenheiten der politischen Instanz. Das Subjekt wandelt sich zu einem Objekt der Selbsterhaltung, was zum Verschwinden des Individuums als eines denkenden Subjekts führt.
1.1 Zum Begriff der ›Aufklärung‹ Horkheimer und Adorno betonen bereits im Auftakt ihrer Abhandlung, dass ihr Thema »Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens«25 , also »diskursives Denken, Rationalität und deren Verschränkung mit Herrschaft ist«26 . In der Dialektik der Aufklärung steht ›Aufklärung‹ nicht für den kulturgeschichtlichen Epochenbegriff, sondern ist vielmehr in einem strukturellen Sinn zu verstehen. Horkheimer differenziert in seiner Vorlesung über Die Aufklärung von 1959/60 zwischen der philosophiehistorischen Begriffsdeutung und der viel »entscheidenderen Bedeutung« der Aufklärung als gesamtes philosophisches Denken, »das, im Gegensatz zur Mythologie, seit den Griechen den Kampf darum führt, Klarheit in die eigenen Vorstellungen zu bekommen in dem Sinne, daß die Begriffe und Urteile für jeden einsichtig sein sollen«27 .
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Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4., Aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, 126. Hofmann, Michael: Aufklärung. Tendenzen, Autoren, Texte. Stuttgart: Reclam 1999, 8. DdA, 73. Ebd., 19. Lavaert und Schröder: Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen, 1. Horkheimer, Max: »Die Aufklärung. Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack (Wintersemester 1959/60)«. In: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 13. Frankfurt a.M.: Fischer 1989, 571.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Der historische und der strukturelle Aufklärungsbegriff fallen zwar nicht zusammen, sind aber eng miteinander verwoben.28 Die ursprüngliche Lichtmetaphorik des Aufklärungsbegriffs29 spielt in der theoretischen Grundlage der Dialektik keine maßgebliche Rolle, da die traditionelle Verbindung von Erkenntnis und Licht von Horkheimer und Adorno radikal verkehrt und zerstört wird: Die »vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«30 . In der grellen Helligkeit solcher Strahlen wird nichts sichtbar als Schwärze. Der Weg der Aufklärung, gleichgültig in welcher Variante, führt nicht ins Licht, sondern immer tiefer in die Finsternis hinein. Eine grauenhafte Vision, aber dass diese Diagnose die Wahrheit ist, ist die programmatische These, die sich mit der Behauptung der ›Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit‹ auf nichts Geringeres als die gesamte Menschheitsgeschichte erstreckt.31 Der Begriff der Aufklärung enthält zwei unterschiedliche, aber auch aufeinander bezogene und ausgeglichene Tendenzen: zum einen die ›negative‹ als Kritik an Herrschaftsmodellen, Traditionen und Wertungen und zum anderen die ›positive‹ als Forderung von Gleichheit, Freiheit, Sozialität und Toleranz.32 Ein solcher an der Philosophie des 18. Jahrhunderts abgelesener Aufklärungsbegriff lässt sich analogisch auch auf andere Kontexte anwenden, in denen Betroffene an Wahrnehmungen ihrer Selbstbestimmung durch äußere und innere Instanzen gehindert werden. Solche Instanzen waren in der […] Moderne aus den gesellschaftlich dominanten Funktionen von 28 29
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Schmid Noerr: »Zum Begriff der Aufklärung in der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 27. Wörtlich zielt der Begriff der Aufklärung auf Klarheit in Bezug auf Helligkeit und Licht (engl. ›enlightenment‹ oder franz. ›Les Lumiéres‹). Um klar zu sehen, benötigt es Licht. Die Auszeichnung des Lichts findet sich zuerst bei Platon. »Aus der Gefangenschaft in der Höhle, wo Schatten für die Wahrheit gehalten werden, führt der Weg der Erkenntnis ins Helle, dahin, wo die Sonne, und nicht ein unterirdisch flackerndes Feuer, Licht und Wärme spendet. Auch dieser Aufstieg aus der Höhle ist ein Weg der Aufklärung. Wer ihn unter Mühen auf sich nimmt, wird schließlich gewahr, dass der Schein und Sein, Schein und Wahrheit in der Höhle gewechselt hat« (Sandkaulen, Birgit: »Begriff der Aufklärung«. In: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, herausgegeben von Gunnar Hindrichs. Berlin/Boston: De Gruyter 2017, 5). DdA, 19. Sandkaulen: »Begriff der Aufklärung«, 5. Schmid Noerr: »Zum Begriff der Aufklärung in der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 28.
1 Dialektik der Aufklärung (1947)
Wirtschaft und Technik neue Bedrohungen und Unsicherheiten erwachsen, denen die Menschen mit vielfach illusionären Vorstellungen zu begegnen suchen.33 Aufklärung bleibt dabei »als intersubjektiver Prozess von Erfahrung und Kritik« notwendig, woraus sich folgern lässt, dass sich Aufklärung von Selbstaufklärung nicht sinnvoll trennen lässt.34
1.2 »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«35 Horkheimrs und Adornos erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil lässt sich auf zwei Thesen komprimieren: »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.«36 Die erste These vertritt die Überzeugung der Philosophen, dass Aufklärung als Bestandteil der Naturbeherrschung bereits im Mythos – in der archaischen Weltvorstellung – enthalten ist. Die zweite These drückt aus, dass die reifende Aufklärung die normative, transzendental legitimierte Sinngebung entmachtet und einen Weg für Irrationalismus unter einem rationalen Deckmantel eröffnet.37 Von jeher war die Menschheitsgeschichte in das ›Grauen‹ verstrickt […], von Beginn an sind Fortschritt und Rückschritt, der vermeintliche Gang in die Freiheit und die tatsächliche Befestigung der Herrschaft ununterscheidbar zusammengefallen, deren Ursprung in der Verflechtung von ›Natur und Naturbeherrschung‹ ausgemacht wird […].38 Schuld an den bestehenden Verhältnissen ist ein »gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang«39 . Horkheimer und Adorno verstehen die Aufklärung als »Entzauberung der Welt«40 . Als solche eint sie sich mit der Geschichte der abendländischen Vernunft und erstreckt sich über den Mythos, welcher letzten
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Ebd. Ebd. DdA, 16. Ebd. Schmid Noerr: »Zum Begriff der Aufklärung in der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 27. Sandkaulen: »Begriff der Aufklärung«, 6. DdA, 59. Ebd., 19.
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Endes von einem wissenschaftlichen Weltbild abgelöst wird.41 In diesem Mythos lesen Horkheimer und Adorno bereits die Gestalt der Aufklärung: »Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.«42 In der mythischen Erzählung artikuliere sich ein Wille zur Herrschaft, zur Verankerung der Welt in einer verbindlichen, von Göttern geschaffenen Ordnung. Die Welt des Mythos tritt den Ansprüchen des Individuums als unerbittlich und unabänderlich entgegen.43 Eben darin gleicht ihr die entzauberte Welt der Moderne: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie.«.44 Für Horkheimer und Adorno »ist Aufklärung zunächst die vernunftgemäße Entzauberung der im Mythos erscheinenden, geheimnisvoll unberechenbaren Mächte«45 . Es wird deutlich, dass der zivilisatorische Prozess seit jeher von der Struktur der Aufklärung und Entzauberung bestimmt ist.
1.3 Herrschaftsmechanismen in Naturbeherrschung und Selbsterhaltung Angelehnt an Kants Definition, Aufklärung sei »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«46 , fordern die Philosophen der Aufklärung im 18. Jahrhundert, von ökonomischen Erfolgen und naturwissenschaftlichem Fortschritt in Deutschland, England und Frankreich bestärkt, die Befreiung von kirchlichen und weltlichen Autoritäten: Über die Dekonstruktion religiöser Vorurteile und traditioneller Verbindlichkeiten versuchen sie, den Weg für ein methodisch abgesichertes, an den Verfahren der experimentellen Wissenschaften orientiertes Wissen von der Natur und vom Menschen zu bereiten. Die theoretische und praktische Beherrschung der Natur soll den Menschen aus dem Zwang blinder 41 42 43 44 45 46
Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 412. DdA, 24. Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 412f. DdA, 28. Schmid Noerr: »Zum Begriff der Aufklärung in der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 27. Kant: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, 55.
1 Dialektik der Aufklärung (1947)
Notwendigkeiten befreien und damit zum Souverän der gesamten Welt machen.47 Aber »anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten«, wie die Philosophen der historischen Aufklärung einst voraussagten, versinkt die Menschheit »in eine neue Art von Barbarei«48 . Nationalsozialismus, Stalinismus und Monopolkapitalismus der westlichen Staaten sind Erzeugnisse des »fortschreitenden Denkens«49 : Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.50 Ideologien, Gewaltherrschaften und Machtmissbrauch sind nur deshalb möglich, »weil der Siegeszug der instrumentellen Vernunft den Weg für die Durchsetzung der inhumansten Ziele freigemacht hat«51 . Aufklärung wird von Horkheimer und Adorno von Anfang an mit der Struktur aus Furcht und Herrschaft und deren Initial der Naturbeherrschung verbunden:52 Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt. Rücksichtlos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut. […] Macht und Erkenntnis sind synonym.53 Im Ziel der Naturbeherrschung liegt der Beginn gewalttätigen Denkens und dessen verheerende Abwärtsspirale, denn »jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen.«54
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Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 412. DdA, 11. Ebd., 19. Ebd., 19. Schmid Noerr: »Zum Begriff der Aufklärung in der ›Dialektik der Aufklärung‹«, 35. Sandkaulen: »Begriff der Aufklärung«, 8. DdA, 20. Ebd., 29.
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Die Industrialismus als Produkt der Naturbeherrschung objektiviert den Menschen, »versachlicht die Seelen«55 . Im Fokus der Aufklärung steht der Dualismus von Subjekt und Objekt, welcher wiederum in sich hierarchisch angelegt ist und sich im Motiv der Selberhaltung spiegelt.56 Der Herrschaft über die äußere Natur […] entspricht die Selbst-Beherrschung, die Unterdrückung der Natur also im Subjekt selbst, das dem ›Naturzwang‹ auch im Kern seiner eigenen Existenz ausgeliefert ist und das sich gegen den damit drohenden Verlust seiner selbst durch disziplinarische Maßnahmen immunisieren muss. In diesem Sinne geht es um die ›Wahl zwischen Überleben und Untergang‹, in der sich der ›Zwangscharakter der Selbsterhaltung‹ zuspitzt.57 Umkehrend erscheinen der Schrecken und die Furcht vor der Natur, welche sich zuvor auf ihre Übermacht beziehen, auf einmal als rückwirkende Projektion auf die Natur, als Schrecken und Furcht, »daß das Selbst in jene bloße Natur zurückverwandelt werde, der es sich mit unsäglicher Anstrengung entfremdet hatte, und die ihm eben darum unsägliches Grauen einflößte«58 . Lediglich am Mythos lässt sich Aufklärung wieder humanisieren. Nur so ließe sich laut Horkheimer und Adorno die Aufklärung davor schützen, sich erneut in eine mythische Befangenheit zu verstricken. Umgekehrt kann sich der Mythos wiederum »nur in der Bewegung einer Selbstaufklärung über blinde Naturverfallenheit erheben. Die Natur schließlich verliert in dem Maße ihre zerstörerischen Züge, in dem das Subjekt ihrer gedenkt, sich selbst als Natur begreift und sie damit humanisiert.«59 Die Kritik der beiden Philosophen verwirft also nicht die Idee der Aufklärung: Sie muss sich aus ihrer hierarchischen Fassung befreien. Ziel ist eine Vernunft, »in deren Vollzug das Subjekt vom Zwang der Selbsterhaltung ablassen kann«60 .
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Ebd., 45. Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 414. Sandkaulen: »Begriff der Aufklärung«, 12. DdA, 48. Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 415. Ebd.
2 Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug
Im Kapitel Kulturindustrie prognostizieren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno »eine kulturelle und soziale Regression als Konsequenz einer industriellen Kulturproduktion, die gesellschaftliche Gegensätze und Orientierungslosigkeit durch die Produktion eines totalitär ausgerichteten Amüsements zu verwischen versucht«1 . Diese These spiegelt sich im Untertitel des Kapitels Aufklärung als Massenbetrug. Das Kapitel, welches auf ersten Vorüberlegungen Adornos beruht und später von Horkheimer intensiv überarbeitet wurde,2 lässt sich als »eine einzige große Polemik gegen die moderne Unterhaltungsindustrie« bewerten.3 Die Masse lasse sich durch Medienangebote fingieren, die standardisierte Vergnügungen beherbergen, welche die Rezipienten von ihren tatsächlichen Bedürfnissen ablenken, so für eine Zufriedenheit im kapitalistischen System sorgen und dieses damit aufrechterhalten. Dem Publikum wird vorgetäuscht, dass es in der medial vermittelten Konsumwelt eine Auswahl von Produkten und Angeboten gebe. Dabei solle aber nur die Nachfrage nach dem immer Gleichen geweckt werden, um Profite aus den Medien zu schlagen. Die dazugehörige These von Horkheimer und Adorno lautet: »Kultur schlägt heute alles mit Ähnlichkeit.«4 Diese Ansicht wurde wiederholt als Antwort auf Walter Benjamins Diagnose des Auraverlusts in der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst und Welt verstanden. Während Benjamin noch auf die Medientechnologie zielt, fokussieren sich Horkheimer und Adorno auf Inhalte und ästhetische Strukturen. Unter der Erfahrung des amerikanischen Kapitalismus und unter dem Eindruck des europäischen Faschismus sehen die Sozialforscher die kulturindustrielle Vormacht als 1 2 3 4
Schicha: »Kritische Medientheorie«, 106. Waschkuhn, Arno: Kritische Theorie. Politikbegriffe und Grundprinzipien der Frankfurter Schule. München: Oldenbourg 2000, 28. Dörner, Andreas: Politische Kultur und Medienunterhaltung. Konstanz: UVK 2000, 68. DdA, 141.
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eine »rücksichtslose Einheit«5 und »Reproduktion des Immergleichen«6 , die eine differenzierte Artikulation verhindern.7 Film, Radio, Fernsehen und Magazine reproduzieren die immer gleichen trivialen Inhalte, die sich keineswegs mehr als Kunst, sondern eher als ›Schund‹ verstehen lassen und aus ökonomischen Machtinteressen heraus entwickelt wurden: Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht. Der Wechsel auf die Lust, den Handlung und Aufmachung ausstellen, wird endlos prolongiert: hämisch bedeutet das Versprechen, in dem die Schau eigentlich nur besteht, daß es zur Sache nicht kommt, daß der Gast an der Lektüre der Menükarte sein Genügen finden soll. Der Begierde, die all die glanzvollen Namen und Bilder reizen, wird zuletzt bloß die Anpreisung des grauen Alltags serviert, dem sie entrinnen wollte.8 Das ewige Ausbleiben jeder noch so kurzen Erfüllung des Bedarfs sorgt dafür, dass immer mehr Nachschub verlangt wird: »Das System der Massenkultur reproduziert sich so durch gezielte Versagung selbst.«9 Wo für Kant noch der »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«10 im Zentrum der Aufklärung zur Diskussion stand, herrscht für Adorno und Horkheimer der »Massenbetrug«11 in der Kulturindustrie. Da der Text allgemein diagnostisch verfährt und nicht im Sinne einer spezifischen Kultur- oder Ideologiekritik, stellen die beiden nur die Strukturen vor, in denen sich die angesteuerten Phänomene als kritisierbar erweisen. Die Kulturindustrie als Medienverband lässt sich als Exklusion verstehen, deren Logik doppelt codiert ist: »[W]as sie als Wahrheit draußen auslöscht, kann sie drinnen als Lüge beliebig reproduzieren.«12 Das Auslöschen des Außen führt zum Sieg jener technologischen Vernunft, die sich im Inneren als Ausprägung von Ideologien spiegelt.
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Ebd., 144. Ebd., 156. Vgl. Windrich, Johannes: »Dialektik des Opfers. Das ›Kulturindustrie‹-Kapitel aus der ›Dialektik der Aufklärung‹ als Replik auf Walter Benjamins Essay ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhunderts, DVJs Sonderheft, herausgegeben von Gerhart von Graevenitz und David E. Wellbery. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, 92–114. DdA, 161. Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie. München: Fink 2003, 182. Kant: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, 55. DdA, 141. Ebd., 157.
2 Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug
Die Reklame ist der Träger, der den Zustand technologischer Vernunft fortdauern lässt. Sie ist das »Lebenselixier«13 kulturindustrieller Praxis und ist als Kunst aufklärende Unterhaltung, Eingang der Menschen in ihre Unmündigkeit: »Die anfänglich noch harmlos auftretende Reklame, welche vorgibt, bloß den fortgeschrittenen Ansprüchen und Bedürfnissen einer massenmedial verbundenen Gesellschaft Genüge zu tun, befördert strukturell bereits den Kern der Propaganda als zum gegebenen Zeitpunkt fertig hervortretendes Zeichen der Diktatur.«14 Im Korsett der Kulturindustrie ist der Körper dabei nicht »wieder zurückverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so ertüchtigt wird.«15 Der Körper ist jeglicher Eigendynamik beraubt und folgt stur der Maschinerie der Medien.16 Die Entmündigung der Konsumenten führt zur Entmündigung des Bürgers. Allein die ›hohe Kunst‹ bietet den Rezipienten ein angemessenes Rezeptionsangebot, aus dem die gewünschte kritische Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen resultiert. Die Konsequenz der Kulturindustrie mündet jedoch in einer ›Anti-Aufklärung‹. Die Konsumenten erliegen dieser Manipulation widerstandslos, woraus sich eine Art Zwangscharakter einer entfremdeten Gesellschaft ergibt. In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.17 Damit fungiert die technische Rationalität als Rationalität der Herrschaft: Technische Rationalität durchdringt sämtliche Lebensbereiche und wird zur Logik der gegenwärtigen Herrschaft an sich.18 In ihrer Abhandlung verdeutlichen die beiden Sozialforscher ihr Misstrauen gegenüber den neuen Medien 13 14
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Ebd., 185. Schwering, Gregor: »Medienverband und Ideologie – Kulturindustrie (Horkheimer/ Adorno)«. In: Theorien der Neuen Medien. Kino – Radio – Fernsehen – Computer, herausgegeben von Gebhard Rusch, Helmut Schanze und Gregor Schwering. Paderborn: Wilhelm Fink 2007, 232. DdA, 267. Dazu mehr in Schwering: »Medienverband und Ideologie – Kulturindustrie (Horkheimer/Adorno)«, 227–240. DdA, 142. Leschke: Einführung in die Medientheorie, 179.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
und der damit verbundenen Kulturindustrie, wobei die Frage, wie diese Maschinerie des Betrugs zu stoppen sei, offen bleibt. Für Horkheimer und Adorno steht außer Frage, dass die Neuerungen des Medienumbruchs des 20. Jahrhunderts geradewegs auf die Lohnsklaverei des Kapitalismus oder auf die Tyrannei des Faschismus hinauslaufen wird.
3 Grenzen und Folgen der Aufklärung im Kolonialismus und der Idee der Freiheit
Horkheimers und Adornos Vorwurf, die Aufklärung habe auf eine kritische Selbstreflexion verzichtet, stellt die Methoden ihrer Popularisierung infrage, nicht die Aufklärung selbst. Nichtsdestotrotz führt ihr Prozess der fortschreitenden Entzauberung zur Dehumanisierung: »Fortschritt, Veränderung und Erneuerung kennen trotz der sie beherrschenden negativen Dialektik keine Grenzen.«1 Freiheit, als Produkt und Idee der Aufklärung, unterliegt der gleichen Dialektik: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.«2 Die Aufklärung hat mit der Vorstellung einer auf Vernunft basierenden Freiheit den Menschen als ›Herren‹ über sich selbst gesetzt und damit die Möglichkeit der Knechtschaft legitimiert.3 In der Objektivierung des eigenen Ichs und der damit verbundenen Unterminierung der eigenen Freiheit setzt die Aufklärung selbst ihren Endpunkt: Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war durchdrungen von Optimismus, Hoffnung und Visionen sowie von dem Glauben an die Möglichkeiten des Fortschritts, der Entwicklung und der Modernität. Um Bedeutung zu erlangen, müssen diese Werte jedoch gelebt und handelnd ausgeführt werden.
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Silverman, Hugh J.: »Die Grenzen der Aufklärung und das Ereignis der Grenze. Derrida und Adorno«. In: Derrida und Adorno. Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule, herausgegeben von Eva L. Waniek und Erik M. Vogt. Wien: Turia + Kant 2008, 70. DdA, 19. Günther, Klaus: »Modell 1: Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft I. Dialektik der Aufklärung in der Idee der Freiheit«. In: Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, herausgegeben von Axel Honneth und Christoph Menke. Klassiker Auslegen, Bd. 28. Berlin: Akademie Verlag 2006, 120.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Wenn Freiheit (und mit ihr all die anderen Werte der Aufklärung) zu einer bloßen Ware verdinglicht wird – transportierbar, sendbar und letztlich käuflich –, dann verschwinden genau jene Werte […].4 Freiheit ist weder ein Ding, noch kennt sie Macht oder Mächte. Die Hegemonieansprüche der Europäer und die damit verbundene Rechtfertigung einer Vormachtstellung im Kolonialismus markieren eine solche Grenze der Freiheit: Aufklärung bedeutete nicht länger, Freiheit auszuüben, sondern jenen Menschen, die anders sind als wir, ihre Freiheit aufzuzwingen. Es ging nicht einmal darum, ihnen zu zeigen, wie man frei sein könnte, die ihnen anhand eines Models zu demonstrieren oder einen Raum zu eröffnen, in dem sich Freiheit entfalten könnte. Die Phrase ›ihnen die Freiheit bringen‹ dominiert bis heute die Rhetorik, als würde Freiheit eine Art von Ware darstellen […]. Was dabei verloren geht, ist die Frage der Würde. […] Für Freiheit muss man sich entscheiden. Die Werte der Aufklärung bestehen genau darin, dem Ruf der Vernunft zu folgen und an das menschliche Entscheidungsvermögen zu appellieren.5 Freiheit durch Vernunft zu erlangen, führt zur Beherrschung durch die Vernunft selbst. Herrschaft darf als integrales Element der Aufklärung nicht unreflektiert bestehen bleiben, um nicht als weitere Naturordnung zu gelten, die, anstatt den Menschen von den Naturzwängen zu befreien, einem Zwang anderer Natur unterstellt. Der Fortschritt und die Emanzipation, die die Aufklärung hat bringen sollen, endete gleichermaßen in Sklaverei, Kolonialismus und allen Arten von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der europäische Kolonialismus beginnt 1492 mit der ›Entdeckung‹ Amerikas und der Karibik. 400 Jahre später regierte Europa in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen über fast 85 % der globalen Territorien.6 Begleitet wurde diese Übermacht von brutaler Gewalt, Plünderungen und
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Silverman: »Die Grenzen der Aufklärung und das Ereignis der Grenze. Derrida und Adorno«, 77. Ebd., 72. Dhawan, Nikita: »Die affirmative Sabotage der Aufklärung. Die postkoloniale Zwickmühle«. In: Zeitschrift für Politik, Jahrgang 66, H. 2, 2019, 185.
3 Grenzen und Folgen der Aufklärung im Kolonialismus und der Idee der Freiheit
Genoziden.7 Auch wenn sich die Kolonisationsformen unterscheiden, handelt es sich bei allen um »dauerhafte Herrschaftsbeziehungen, die mit physischer, militärischer, epistemologischer und ideologischer Gewalt durchgesetzt und über spezifische ›Rasse‹- und ›Gender‹-Diskurse legitimiert wurden«8 . Horkheimer und Adorno haben in ihrer Dialektik die emanzipatorischen Ansprüche der Aufklärung angefochten und schlussfolgern, dass sie in Barbarei und Faschismus endet, statt Gleichheit und Freiheit zu bringen.9 Das rationale Ideal der Aufklärung und die sie begleitende Fortschrittsnorm setzten ein singuläres universelles Ziel für die Menschheit, nämlich endlose Verbesserung und Entwicklung. […] Kolonialismus wurde als Weg zur Überwindung der ›Zurückgebliebenheit‹ vorgeschlagen, wobei die Hilfe und Unterstützung der Europäer ein soziales, wirtschaftliches und politisches Resultat garantieren würde. […] Das Universalisierungsprojekt der Aufklärung hat einen uniformen Standard instrumenteller Vernunft eingeführt, welcher europäische Wissens- und Institutionskonzepte privilegiert.10 Die geografische Position Europas als ›Zentrum‹ war maßgebend für das Selbstverständnis der Aufklärungsdenker, die ›peripheren‹ Teile der Welt zu entdecken. Herrschaft und Freiheit sind eng miteinander verwoben und der ursprüngliche Versuch der Aufklärung, die Welt von Herrschaft befreien zu wollen, fällt in eine unheilvolle Dialektik, »da die Aufklärung selbst neue Herrschaftsformen hervorbringt, die noch tückischer sind, weil sie behaupten, durch die Vernunft selbst legitimiert zu sein«11 .
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Vgl. Fanon, Frantz und Jean-Paul Sartre: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015; Gilroy, Paul: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1993; McClintock, Anne: Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. New York/London: Routledge 1995. Dhawan: »Die affirmative Sabotage der Aufklärung«, 185. DdA, 11. Dhawan: »Die affirmative Sabotage der Aufklärung«, 188. Ebd., 192.
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4 Zur Aktualität der Dialektik der Aufklärung
Der Dialektik der Aufklärung wird fortdauernde Aktualität zugeschrieben. So behauptet ein Artikel des New Yorker, die Frankfurter Schule hätte den politischen Aufstieg Donald Trumps vorhergesagt.1 Auch wissenschaftliche Aufsätze untersuchen Horkheimers und Adornos Diagnosen der Kulturindustrie und des Massenbetrugs im gegenwärtigen amerikanischen politischen System.2 Abgesehen davon wird die philosophische Abhandlung über die Aufklärung vielmals kritisiert. Obwohl das Hauptwerk der Frankfurter Schule als »Jahrhundertbuch«3 der Sozialphilosophie, Politik und Soziologie gilt, werden heute viele Thesen und die Sprache der Dialektik als »eigentümlich unzeitgemäß«4 verstanden: Das Buch ist voll von vielsagenden Andeutungen und gelehrten Anspielungen. Wer nicht mit den Gedanken von Karl Marx, Sigmund Freud, Max Weber, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Georg Lukács, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal u.v.a. gut vertraut ist (ganz zu schweigen von den einschlägigen Vor- und Parallelarbeiten Horkheimers
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Ross, Alex: »The Frankfurt School Knew Trump Was Coming«. In: The New Yorker, 05.12.2016. Vgl. Brunkhorst, Hauke: »Der Wahrheitsgehalt der Kulturindustrie – Zur Aktualität der Diagnose Horkheimer und Adornos«. In: Zur Kritik der regressiven Vernunft. Beiträge zur Dialektik der Aufklärung, herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr und Eva-Maria Ziege. Wiesbaden: Springer 2019, 225–242. Vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: »Am Ende der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947). In: Jahrhundertbücher. Große Theorien zwischen Freud und Luhmann, herausgegeben von Walter Erhart und Herbert Jaumann. München: Beck 2000, 184–205. Kellermann, Ralf (Hg.): Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. Stuttgart: Reclam 2015, 90.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
und Adornos), hat kaum eine Chance dem Gang der Überlegungen zu folgen. These folgt auf These, Aperçu auf Aperçu: die Begründung dieser Behauptungen und Einfälle muss sich der Leser weitgehend selbst verschaffen. Die meisten Thesen entziehen sich dem direkten Verständnis. Die Autoren arbeiten mit Zuspitzungen, starken Übertreibungen und jede Menge Sarkasmus. Welche Behauptungsgehalte man ihnen als aufrichtige Überzeugungsinhalte zurechnen kann, das zu beurteilen, bleibt dem Leser überlassen. Nach der Lektüre einer einzigen Seite haben sie sich so viele Interpretations- und Beurteilungsfragen angehäuft, dass der verantwortungsvolle Leser immer unsicherer wird, ob er das Folgende noch verstehen kann, bevor diese Fragen geklärt und wenigstens vorläufig beantwortet sind. Mit anderen Worten: Horkheimer und Adorno haben ein unlesbares Buch geschrieben.5 Horkheimers und Adornos radikale Trennung von affirmativer Massen- und emanzipatorischer Hochkultur erfährt die meiste Kritik: Der Glaube an dieses normative Potential der avancierten Kunst hat sich mittlerweile ebenso zersetzt wie die Überzeugung, dass die Massenkultur eindimensional ein Mittel zur Volksdummhaltung sei. […] Auch in ethischargumentativer Hinsicht ist es problematisch, wenn eine Bildungselite unter Berufung auf ein nur ihr zugängliches Kunstverstehen den Anspruch erhebt, sie allein könne kritisch über die Gesellschaft urteilen, während alle anderen politisch unmündig seien, weil sie im Banne der Kulturindustrie ständen.6 Massenkultur ist nicht so negativ aufzufassen, wie die Dialektik der Aufklärung noch versucht zu warnen. Film, Musik und Printmedien sind fest mit Politik und Wissenschaft verwoben und wichtige Elemente unserer Gesellschaft. Sie prägen Menschen und Milieus fortwährend und intensiv: Die Bedeutung der Medien für die Formierung psychischer und gesellschaftlicher Strukturen ist evident und vielfach wissenschaftlich belegt. Individu-
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Scholz, Oliver R.: »Nachgedanken zu Nachtgedanken: ›Dialektik der Aufklärung‹ im Rückblick«. In: Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive, herausgegeben von Sonja Lavaert und Winfried Schröder. Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 56. Kellermann: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, 91.
4 Zur Aktualität der Dialektik der Aufklärung
en und soziale Gruppen, Organisationen und Milieus brauchen Medien zur Identitätsstiftung, um zu werden (und zu erkennen), wer oder was sie sind.7 Dennoch bleibt die Frage der Dialektik der Aufklärung bestehen, was aus dem Wahrheitspotenzial der Kulturindustrie wird, wenn »die Quantität des organisierten Amusements in die Qualität der organisierten Grausamkeit« umschlägt.8 Gefahren bleiben vor allem in der »bösen Liebe des Volks, zu dem, was man ihm antut […]«, weiterhin verborgen.9
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Ebd., 93. DdA, 160. Ebd., 155.
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II Über die Reportage
Wider die allgemeine Auffassung wird in einer Reportage nicht berichtet, sondern erzählt. Versteht man die Reportage als eine besondere Art der Vermittlung, verkörpert sie ein »uraltes literarisches Genre des Erzählens« – und damit auch eine »Kultur des Zuhörens«, gerade weil zum Erzähler ein Hörer- oder Leserpublikum gehört, »das etwas erleben und das Erlebte verstehen möchte«10 . Im Hinblick auf Christoph Ransmayrs Poetik des Erzählens, die sich bereits in der Abfolge seiner Reportagen erkennen lässt, sollen die Geschichte der Reportage und ihre Merkmale der Kultur des Erzählens erschlossen werden. Ransmayrs Reportagen der späten 1970er und frühen 80er Jahre zeichnen sich durch eine literarisiert erzählerische und erfinderische Beschaffenheit aus – seine Romane wiederum haben »den Ton von recherchierten ›Berichten‹ aus phantastisch erfundenen Welten«11 . Die Form der Reportage begleitet den jungen Journalisten wie den kanonisierten Schriftsteller. Um sich der Bedeutung, Funktion und Form der Reportage bei Ransmayr anzunähern, wird die Geschichte der Reportage skizziert und der Versuch unternommen, eine Definition in Bezug auf Ransmayrs Werk zu formulieren. Dabei soll die literarische und journalistische Tradition der modernen und literarischen Reportage beleuchtet werden. Zusätzlich wird gesondert auf den Reisebericht im 19. Jahrhundert und in der Postmoderne bis heute eingegangen, um historische Bezüge zu den Spielzeiten der Romane Schrecken des Eises und der Finsternis und Atlas eines ängstlichen Mannes herzustellen, die als Basis für die Textanalysen dienen. 10 11
Haller, Michael: Die Reportage. Praktischer Journalismus, Bd. 8. Konstanz: UVK 2008, 17. Just, Renate: »Erfolg macht müde«. In: Zeitmagazin, 16.12.1988, 50.
1 Geschichte der Reportage
Der Begriff der Reportage (lat. reportare: zurückbringen, überbringen) entspringt dem Französischen (frz. reportage: Bericht) und findet sich erst nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Sprachgebrauch der deutschen Journalisten.1 Der Begriff des ›Reporters‹, wahrscheinlich eine Übernahme aus dem Englischen, ist bereits seit dem 18. Jahrhundert in Bezug auf journalistische Berichterstattung aus dem Parlament in England2 gebräuchlich und etabliert sich mit dem Aufkommen der Massenpresse in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Synonym für Berichterstatter.3 Die Wurzeln der Reportage sind wesentlich älter als ihr Begriff und reichen bis weit in die Antike zurück. Literarische Reiseberichte des Chronisten und Volkskundlers des hellenischen Altertums Herodot (490/80 – 430/20 v. Chr.) werden häufig als erste Reportagen aufgeführt.4 Zwischen 450 und 435 v. Chr. berichtet er von seinen Reisen nach Ägypten, Kleinasien und Unteritalien und bedient sich dabei jener Stilmittel und Gestaltungformen, die man heute in der Reportage wiederfindet: »Kontrastreiche, dabei tatsachenbetonte Schilderung exemplarischer Handlungen, Beschreibung exotischer Szenen und Landschaften, Verknüpfung der Erzählstücke und Episoden zu einem handlungslogischen Ablauf, Sinndeutungen des Erzählten […].«5 Herodot, »der erste Re-
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Haller, Michael: »Reportage/Feature«. In: Handbuch Journalismus und Medien, herausgegeben von Siegfried Weischenberg, Hans J. Kleinsteuber und Bernhard Pörksen. Praktischer Journalismus, Bd. 60. Konstanz: UVK 2005, 405. Vgl. Cave, Edward (Hg.): The Gentlemen’s Magazine and Historical Chronicle. London 1731. Haller: Die Reportage, 41f. Wolff, Volker: ABC des Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus. Praktischer Journalismus, Bd. 67. Konstanz: UVK 2006, 174. Haller: »Reportage/Feature«, 406.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
porter der Welt«6 , thematisierte in seinen Schilderungen vor allem das Unbekannte und Fremdartige und machte es gemeinverständlich.7 Informationen zusammenzutragen und zurückzubringen ist seit Herodot das archetypische Grundmuster der Reportage: Der Erzähler war ausgezogen von zuhause, hatte ›jenseits der Grenzen‹ in der Fremde Dinge entdeckt, sie aufgenommen und mitgebracht – und jetzt breitet er sie vor den Augen und Ohren der Daheimgebliebenen aus.8 Nicht nur der Reisebericht, sondern auch der Augenzeugenbericht sind Vorläufer der modernen Reportage. Gajus Cacilius Plinius’ Bericht in Briefform über den Ausbruch des Vesuvs 79 v. Chr. wird als »journalistische Glanzleistung des Altertums« bezeichnet.9 Die beiden literarischen Traditionen der Reiseberichterstattung und des Augenzeugenberichts bilden Ursprung und Zielsetzung der modernen Reportage und sollen im Folgenden nachgezeichnet werden, wobei vor allem jene Aspekte in der Geschichte des Reiseberichts akzentuiert werden, welche für die Entwicklung von Christoph Ransmayrs journalistischem und literarischem Werk von Bedeutung sind und in der späteren Analyse neue Perspektiven zulassen.
1.1 Literarische Tradition: der Reisebericht Der Begriff des ›Reiseberichts‹ führt zu Missverständnissen, da der Erzähler meist nicht von der Reise selbst, sondern vom ›Nahebringen des Fernen‹ erzählt: Die Reportage erzählt nur ausnahmsweise die Geschichte des Unterwegsseins, sie vermittelt fast immer […] die in der Ferne gesammelten Erlebnisse und Erfahrungen […]. Und doch stimmt die Bezeichnung ›Reise‹ in inhaltli-
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Kapuściński, Ryszard: Meine Reisen mit Herdot. Die Andere Bibliothek, Bd. 252. Frankfurt a.M.: Eichborn 2005, 359. Haller: Die Reportage, 19. Ebd. Kisch, Egon Erwin (Hg.): Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung. Berlin: Rudolf Kaemmerer 1923, 299.
1 Geschichte der Reportage
cher und in sinnbildlicher Hinsicht: Der Erzähler legt die Route seines Erzählfadens eigenmächtig fest.10 Wie der Erzähler seine Reportage aufbaut und in welcher Reihenfolge er die Ereignisse schildern möchte, bleibt ihm überlassen und unterliegt keinen vorgeschriebenen Normen. In der offenen Gestaltung liegt der Reiz einer Reiseerzählung: Der Reporter entscheidet, wann er sich wo aufhalten möchte, um Begebenheiten und Eindrücke aufzunehmen. Er organisiert seine Reise und ›inszeniert damit sein Thema‹, das darum nie ganz festgelegt, sondern bis zum letzten Tag für Veränderungen offen ist: Der Reporter kann oft erst an Ort und Stelle die richtigen Entscheidungen treffen. Dies soll auch so sein, weil der Reporter später über die ›Erlebnisse‹ erzählen möchte. Und die Erlebnisse muss er sich erst einmal verschaffen.11
1.1.1
Forschungsüberblick
Die Reisekultur und -literatur ist seit den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum ein intensiv beforschtes Themenfeld, was Peter Brenner mit seinem sehr umfangreichen Forschungsüberblick Der Reisebericht in der deutschen Literatur 1990 darlegte. In diesem Band, wie auch zuvor in seinem Sammelband Der Reisebericht von 1989, ist er der Auffassung, dass »die Zahl von Forschungsbeiträgen inzwischen fast schon bedenkliche Ausmaße angenommen« hat, aber »von einer ›Reiseliteraturforschung‹ im strengen Sinne des Wortes« sich nicht sprechen ließe:12 [W]issenschaftliche Forschung bedeutet mehr und anderes als die Kumulation von Einzelergebnissen. ›Forschung‹ ist vielmehr dadurch definiert, daß sie Diskussionszusammenhänge aufbaut, institutionalisiert und weiterführt. […] Die Erforschung des Reiseberichts ist von diesem Standard wissenschaftlicher Arbeit weit entfernt. Die Quantität der Forschungsbeiträge zum Reisebericht steht in einem frappanten Gegensatz zum Fehlen eines ausgeprägten und in kohärenten Diskussionen erarbeiteten Problembewußtseins. Der aktuelle Stand der Forschung ist vielmehr gerade durch die Disparatheit der Fragestellungen und Methoden sowie durch 10 11 12
Haller: Die Reportage, 20f. Ebd., 29. Brenner, Peter J., Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer, 1990, 3.
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die Heterogenität des untersuchten Materials charakterisiert, so daß der Gegenstand ebenso wie die Untersuchungsergebnisse nach wie vor diffus bleiben.13 Noch heute gilt für den Reisebericht, dass die »Geschichte dieser Gattung in der deutschen Literatur […] ungeschrieben geblieben« ist.14 Zwar waren die Anzahl der Publikationen zur Reiseliteratur in den letzten Jahren zahlreich, eine systematische Übersicht steht aber nach wie vor aus. Die Forschung konzentriert sich weiterhin auf Einzelaspekte wie Intertextualität, Intermedialität, Exzentrizität und die Frage nach der Authentizität.15 Vor allem kristallisiert sich der biografische Zugang als Schwerpunkt der Reiseliteraturforschung der letzten 30 Jahre heraus. Die Texte wurden in Bezug auf bestimmte Gruppen und Modi von Reisenden untersucht: »So schenkte man den zu Fuß Reisenden Aufmerksamkeit, den reisenden Adligen bzw. Eliten sowie dem aufkommenden Bürgertum auf der Grand Tour durch Europa und untersuchte die Reisen und Berichte weiblicher ReiseautorInnen.«16 Brenners These, die Reiseliteratur habe im 20. Jahrhundert einen drastischen Niedergang erlebt und sei durch den aufkommenden Massentourismus und die Entwicklung der medialen Berichterstattung im Zuge der medialen 13 14 15
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Ebd. Brenner, Peter J: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 7. 2011 wurde in Lausanne eine Tagung über Die Literatur und der Reisebericht im 18. Jahrhundert veranstaltet (vgl. Bergengruen, Maximilian, François Rosset und Markus Winkler (Hg.): Jenseits der empirischen Wissenschaften. Literatur und Reisebericht im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Colloquium Helveticum. Schweizer Hefte für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, H. 42. Fribourg 2012); 2015 fand eine Konferenz in Berlin zu den Poetiken des Pazifiks statt. In der zweitätigen Veranstaltung wurden Reiseberichte vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersucht. Die Ergebnisse wurden in dem Sammelband Pazifikismus dokumentiert (vgl. Görbert, Johannes, Mario Kumekawa und Thomas Schwarz (Hg.): Pazifikismus. Poetiken des Stillen Ozeans. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017); ebenfalls 2017 erschien ein umfangreicher Sammelband zur Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne. Der Band liefert eine umfassende Bestandsaufnahme der Entwicklung der Reiseliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts in Bezug auf Reiseformen, Schreibweisen und Reiseziele (vgl. Holdenried, Michaela, Alexander Honold und Stefan Hermes (Hg.): Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne. Berlin: Erich Schmidt 2017). Vlasta, Sandra: Reisen und davon erzählen. Reiseberichte und Reiseliteratur in der Literaturwissenschaft. In: https://www.literaturkritik.de/id/21077, 03.09.2015, aufgerufen am 18.06.2020.
1 Geschichte der Reportage
Globalisierung merklich irrelevant geworden, widerlegt der letzte große Sammelband zur Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne von 2017, herausgegeben von Michaela Holdenried, Alexander Honold und Stefan Hermes. Der Band belegt, dass Brenners Auffassung eine »massive Fehleinschätzung« sei, da vor allem im 20. und 21. Jahrhundert »eine erstaunliche Fülle anspruchsvoller reiseliterarischer Werke entstanden« ist, »die oftmals von kanonischen AutorInnen stammen und in vielen Fällen eine intensive und produktive Rezeption erfahren haben«17 . Während Brenners Arbeiten das faktografische Verständnis von Reiseliteratur fokussieren, arbeiten Holdenried, Honold und Hermes die bedeutsame Wechselbeziehung von faktualer und fiktionaler Reiseliteratur heraus und schließen diese Lücke. Nichtsdestotrotz stellt die Frage nach Literarizität und literarischem Wert von Reiseberichten auch nach der Öffnung des Textbegriffs die Literaturwissenschaft vor viele Herausforderungen: »Fragen der Fiktion vs. der Faktizität und der Authentizität von Reiseberichten sowie der historische Wandel der Gattung haben zudem gattungstheoretische Arbeiten zum Thema scheinbar eher behindert als provoziert.«18 Das Ansehen und die Glaubwürdigkeit, die Autor:innen bei einem Publikum genießen, sind Bedingung dafür, dass die überlieferten Erfahrungen als wahrhaftig angesehen werden: Es geht um die ›Akzeptanz bestimmter Entwürfe von der Fremde‹, die von mehreren Faktoren abhängig ist, wie z.B. von der Art des Interesses an Externbezügen, vom allgemeinen Wissensstand sowie vom Horizont dessen, was jeweils als möglich erachtet wird. […] Der Reisebericht ist […] ein ›kommunikatives Ereignis‹, dessen ›Authentizität‹ sich nicht zuletzt aus seinem gesellschaftlichen Wirkungsfeld ergibt.19 Es lassen sich drei idealtypische Modi benennen, mit denen sich der Anspruch auf Authentizität einlösen lässt: Berichten – Kommentieren – Erzählen.20 Im Modus des ›Berichtens‹ folgt der Reisebericht chronologisch dem Reiseablauf. Der Text organisiert sich nach dem Schema: Anreise, Ankunft, Aufenthalt. In
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20
Holdenried, Honold und Hermes (Hg.): Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, 10. Vlasta, Reisen und davon erzählen. Heinritz, Reinhard: ›Andere fremde Welten‹. Weltreisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert. Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte, Bd. 6. Würzburg: Ergon 1998, 72f. Ebd., 74f.
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diese Form fügen sich Beschreibungen einzelner Momente und Gegebenheiten wie Landschaften, Sitten und Personen: Das Prinzip der Gestaltung ist additiv, was nicht ausschließt, daß sich daraus ein profiliertes Gesamtbild ergibt. Der Zusammenhang einzelner Beschreibungen kann sich aufgrund implizierter oder explizierter Deutungsmuster herstellen. Der Entwurf einer anderen Welt entsteht aus der Nahsicht – durch visuelle Eindrücke oder einzelne Beobachtungen, die sich gegenseitig ergänzen.21 Der zweite Modus des ›Kommentierens‹ schließt die äußeren Ereignisse mit ein. Kein Reisebericht hält sich an die reine Wiedergabe von Fakten. Vielmehr versucht »sich ein Reiseschriftsteller oft durch seine Deutungen, Erläuterungen oder Verallgemeinerungen als Subjekt zur Geltung zu bringen. […] Im Modus des Kommentierens können nicht nur äußere Gegenstände reflektiert werden, sondern auch die Denk- und Wahrnehmungsmuster, denen der jeweilige Entwurf verpflichtet ist.«22 Berichten und Kommentieren sind Modi, in denen Autor:innen ›vertikale‹ Verbindungen zur Wirklichkeit herstellen. Eine stärker ›horizontal‹ ausgerichtete Verknüpfung bringt das ›Erzählen‹ hervor: »Diese Integration wird durch die Darstellung von ›Handlungen‹ geleistet, wobei reale (und z.T. individualisierte) Personen zu Handlungsträgern werden können. Solche Handlungen ragen häufig wie kleine Erzählinseln aus dem chronologischen Ablauf heraus.«23
1.1.2
Historischer Abriss
Der Reisebericht ist so alt wie die Literatur selbst, auch wenn sich das Verständnis von ›Reisebericht‹ sehr unterschiedlich ausgelegen lässt: ob als Bericht über eine tatsächlich stattgefundene Reise (Georg Forsters A Voyage round the World von 1777 oder Reise um die Welt in zwei Bänden von 1778 und 1780); als Bericht über eine entweder erfundene oder vermeintlich unternommene Reise (Lawrence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman von 1759-1767); als Beschreibung, die sich als Reise erkennen lässt oder ließe (Jules Vernes Voyage au centre de la trerre von 1864 oder Reise nach dem Mittelpunkt der
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Ebd., 75. Ebd. Ebd., 76.
1 Geschichte der Reportage
Erde von 1873); oder als Bildungsromane, deren Protagonist:innen eine Reise erleben.24 Die Anfänge des Reiseberichts führen bis ins 7. Jahrhundert zurück. Geistliche hielten ihre Erfahrungen auf Pilgerreisen in lateinischer Sprache fest, während ab dem 14. Jahrhundert auch Adlige ihre Reiseerlebnisse dokumentierten. Interessanterweise ist nicht der Gewinn neuer empirischer Kenntnisse das Ziel der Berichte, da bereits alles zu Wissende in der Antike, und besonders durch die Bibel vermittelt wurde. Der Pilgerbericht solle vielmehr »als Zeugnis individueller Anschauung« die Evidenz der Heilsgeschichte beglaubigen.25 Das späte 15. Jahrhundert gilt als »Blütezeit der spätmittelalterlichen Pilgerberichte«26 und Vorläufer des literarischen Reiseberichts. Mit dem Beginn der Neuzeit und der damit verbundenen Epoche der Expeditionen und Eroberungen nach und in Amerika, Afrika und Westindien stieg die Popularität von Reisetagebüchern in Form von Erlebnisreportagen: […] [D]ie Europäer [führten] über ihre Reisen Tagebuch, schrieben ihre Beobachtungen auf und ergänzten sie mit den durch Befragungen und Analysen gewonnenen Informationen. Doch […] ging es ihnen nicht um Aufklärung, nicht um Erweiterung ihrer Weltanschauung, sondern um den Erwerb von Macht und Besitz.27 Vor allem die europäischen Expeditionsberichte des 16. Jahrhunderts schildern die aufregenden und ereignisreichen Erlebnisse und Taten in Südamerika. Oftmals waren die Berichte an die Königshäuser und Banken adressiert, die die Seefahrten im Vorhinein gegen hohe Zinsen in Erwartung großer Reichtümer vorfinanzierten: So drehten sich ihre Berichte um Gold, um neue Profitchancen – und um Ruhm und Ehre der Konquistadoren: Erstmals wurde die Reportage gleichsam umfunktioniert und zur katholischen Beweihräucherung. Mehr noch, es waren regelrechte Anti-Reportagen, weil sie die Exoten als minderwertig karikierten, sie gar für böse erklärten, um sie auszurauben, auszubeuten und
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27
Vlasta: Reisen und davon erzählen. Brenner: Der Reisebericht, 56. Kostenzer, Caterina: Die literarische Reportage. Über eine hybride Form zwischen Journalismus und Literatur. Angewandte Literaturwissenschaft, Bd. 5. Innsbruck: Studienverlag 2009, 14. Haller: Die Reportage, 21.
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zu vernichten. So diente damals der Reisebericht zur Bestätigung der europäischen Arroganz und zur Rechtfertigung der eigenen Hab- und Machtgier.28 Diese Expeditions- und Reisereportagen, die die europäische Überheblichkeit und Vorurteile gegenüber anderen Ländern und Sitten spiegelten und bekräftigten, führten eine damals ausgeprägte Tradition weiter. Die Reiseerzählung in Deutschland lebte mit dem Rückgang der höfischen Barockdichtung des 17. Jahrhunderts als literarische Gattung in Form des Abenteuerromans (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus von 1668) wieder auf und entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zur dichterischen Erzählung.29 Der Sturm und Drang stilisierte den Reisebericht als »eine vom Zwang zur Authentizität und Wahrhaftigkeit weitgehend befreite Gefühlsschilderung«30 . Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, dem Übergang in die Frühromantik, entwickelte sich der aufklärerische, realitätsbezogene Reisebericht zu einem neuen Typus von Reiseliteratur, der sich vor allem der Darstellung von Empfindungen und Eindrücken widmete und phantastische Elemente mit einfließen ließ.31 Beispiele dafür sind Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen von 1802 oder Moritz August von Thümmels Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, welche zwischen 1791 und 1805 veröffentlicht wurden. Der Zerfall traditioneller naturrechtlicher wie wirtschaftstheoretischer und wissenschaftlicher Denkformen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts den Rahmen für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Zustände abgegeben hatten, führt bei den Reisenden entweder zum kritischen Vergleich der sozialen Realität mit neuen politischen Theorien oder Utopien oder zur Fragmentarisierung der Wirklichkeitswahrnehmung.32
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Ebd. Ein Beispiel für die Ausbeutung und Ausrottung eines Landes und seiner Kultur ist die Legende von El Dorado, dem goldenen Indianerkönig der nördlichen Anden. Auslöser der Expeditions- und Vernichtungswellen auf der Suche nach den riesigen Goldschätzen war der Erkundungsbericht des Spaniers Vasco Núnez de Balboa von 1513, der von Minen voller Gold, weiteren Reichtümern und den vermeintlich barbarischen indianischen Einwohnern berichtet. Haller: »Reportage/Feature«, 406. Haller: Die Reportage, 24. Kostenzer: Die literarische Reportage, 19. Brenner: Der Reisebericht, 194.
1 Geschichte der Reportage
Der Reisebericht erlebt durch die Fokussierung auf das Fiktionale einen Funktionswandel. Die Wiedergabe von Fakten wird zweitrangig. Stattdessen wird sich auf die individuelle und sinnliche Erfahrung konzentriert: Der Reisebericht wird weitgehend der Aufgabe enthoben, faktographische Mitteilung zu sein; er kann die formalen Beschränkungen aufgeben, die ihm diese Gebrauchsfunktion auferlegt hatte. Der Reisebericht wird immer stärker zu einer Gattung, die sich der Subjektivität des Reisenden öffnet und sich deshalb jener literarischen Formen bedienen kann, welche sich in der fiktionalen Literatur herausgebildet hatten. Damit gewinnt der Reisebericht endgültig seinen Platz im Gattungsgefüge der Literatur […].33 Johann Wolfgang von Goethe beginnt in seinem Reisebericht Italienische Reise von 1786 bis 1788 seine Eindrücke, Erlebnisse und Handlungen zu inszenieren. Seine Reiseschilderung ist »gekennzeichnet durch die starke Tendenz einer ›Literarisierung‹ durch Retusche alles Persönlichen, durch Korrektur und Präzisierung faktischer Angaben und durch die Glättung des Textes […]. So entsteht ein geschlossener Gesamttext, der auf eine Herausarbeitung höherer Wahrheit und Symbolik angelegt ist.«34 Literatur wurde Anfang des 19. Jahrhunderts zum Medium des »absoluten Geistes« (Hegel)35 erhoben, »durch den sich die Idee, die Einheit des Menschen mit der Welt, verkünde, freilich als Kunstgebilde und so immer jenseits empirischer Erfahrung«.36 Diese Tendenzen lösten eine Realismus-Debatte aus, deren Kernpunkt das Genre des Reiseberichts war. Johann Gottfried Seume schreibt 1803 im Vorwort an seine Leserschaft in Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802: In Romanen hat man uns nun lange genug alte nicht mehr geläugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend mal wiederholt. Ich tadle dieses nicht; es ist der Anfang: aber immer nur Milchspeise der Kinder. Wir sollten doch endlich auch Männer werden und beginnen die Sachen
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36
Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, 275. Ebd, 294. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse: (1830). In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Hans Christian Lucas, Bd. 20. Hamburg: Meiner 1992, 542f. Haller: Die Reportage, 24.
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ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen, ohne Vorurtheil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht. Oerter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bey den Thatsachen als Belege seyn, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde. Die Geschichte ist am Ende doch ganz allein das Magazin unsers Guten und Schlimmen.37 In diesem Abschnitt insistiert Seume auf seriöse Recherche und Informationsgewinnung des Reporters und wünscht sich nicht nur eine präzise Beobachtung und Arbeitsweise, sondern auch einen Beleg für seine Beobachtungen. Nicht nur Seume, sondern auch sein Zeitgenosse, der Reiseschriftsteller Johann Georg Forster, begann das Genre des Reiseberichts sukzessive qualitativ zu verändern.38 Der Fokus wurde auf eine möglichst detaillierte, authentische und reale Wiedergabe der Geschehnisse gelegt. Seumes Realismus wurde zur literarisch-journalistischen Gattung entfaltet, woraus zahllose Texte entstanden, »die den Reportage-Kriterien genügen und – je nach Art ihrer Dramatisierung – die ganze Bandbreite vom anschaulich geschriebenen Bericht über die Erzählung bis zum Tatsachenroman füllen«39 . Um 1850 etablieren sich journalistisch angelegte Reisereportagen im Feuilleton deutscher Tageszeitungen, welche Ludwig Börne und Heinrich Heine zur Kunstform erhoben.40 Daneben ist Theodor Fontane zu nennen, »der die Rückkehr der Literatur zum Realismus dem Einfluss der Reportage zuschrieb und mit seinen episodalen Erzählungen […] das ›Reportertum‹ feierte«41 . Die auf die Arbeitsweise zielenden Forderungen Seumes sind seither für die Reportage gültig geblieben:42 a) b) c) d) e)
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Dokumentation (Recherche); Authentizität (Augenschein, Primärquellen); Glaubwürdigkeit (Überprüfbarkeit der Sachaussagen); Unmittelbarkeit (sinnliche, konkrete Beobachtung); Redlichkeit (das Thema wichtiger nehmen als sich selbst).
Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig/ Leipzig: Vieweg 1803, V. Haas, Hannes: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999, 229. Haller: Die Reportage, 26. Haas: Empirischer Journalismus, 229. Haller: Die Reportage, 26. Vgl. ebd.
1 Geschichte der Reportage
1.1.2.1 Expeditions- und Forschungsberichte des 19. Jahrhunderts Ein Extrem der nachaufklärerischen Gattungsgeschichte des Reiseberichts ist die wissenschaftliche Reisebeschreibung, die sich als eigenständige Gattungsform im 19. Jahrhundert herausbildet.43 Die Gattung verlagert ihren Rezeptionsraum von einem allgemein interessierten bürgerlichen Publikum hin zu einer wissenschaftlichen Leserschaft und Einzeldisziplinen, aus denen die Expeditionen hervorgegangen sind. Die wichtigste Disziplin bildet dabei die Geografie, »auch wenn Forschungsreisen durchaus von anderen Fachdisziplinen oder häufig genug von politischen Interessenlagen inspiriert werden konnten«44 . Bei den Forschungsreisen standen Vorbereitung, Ausführung und Auswertung der Erlebnisse und Erfahrungen im Zentrum, wobei der Reisebericht nur als Teil des Letzten der drei Schritte zu verstehen ist. Die Expeditionen wurden von vornherein mit präzisen Zielvorstellungen geplant, obwohl »die Forschungsreisen in ihrer Konstitutionsphase in aller Regel anhängig von sehr diffusen und häufig gar nicht klar bewußten Vorgaben«45 waren: Genaues Wissen über den zu erforschenden Raum vermengt sich mit den mythischen Vorstellungen. Nicht nur die frühneuzeitlichen Entdeckungsfahrten waren inspiriert von imaginierten Bildern und phantastischen Geschichten, auch wichtige Reisen im 19. Jahrhundert stützten sich »bei der Vorbereitung auf eine Kombination von wissenschaftlich gesichertem und imaginativem geographischem Wissen«46 . Daraus bestätigt sich, dass die Beziehung zwischen Reiserealität und Reisebeschreibung nicht einseitig ist: »[N]icht nur der Reisebericht wird von den Reisen beeinflußt, sondern umgekehrt wirkt die Literatur – wie überhaupt das ›imaginative Element‹ – auf die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Reisen ein.«47 Deutsche und österreichische Forschungs- und Entdeckungsreisen erstreckten sich fast über die ganze Welt. Im besonderen Forschungsinteresse lagen Afrika, Südamerika, Asien, das amerikanische Inland, Australien und die unzureichend erschlossenen Polarregionen. Die Reisedokumentationen blieben meistens bei der Erarbeitung und Zusammenfassung der wissenschaftlichen Ergebnisse stehen, was zu einer entsprechenden Einengung der Reiseberichte führte.
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Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, 443. Ebd., 445. Ebd., 446. Ebd. Ebd., 446f.
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Reiseberichte im traditionellen Sinne wurden von den Forschern meist als Nebenwerke für ein breiteres Publikum publiziert, die dann wiederum den wissenschaftlichen Ertrag ausklammerten. […] Als literarische Werke kamen sie nicht in den Blick, weil sie keine ästhetischen Ansprüche erhoben.48 Zahlen und Tabellen spielen eine wichtige Rolle in den Reiseberichten. Die Zahl fungiert als Medium der Wirklichkeitserfassung und evoziert den Authentizitätsanspruch der Berichte.49 Die Natur wird mit wissenschaftlichen und mathematischen Methoden erschlossen und »damit dem bekannten Wahrnehmungsmuster des okzidentalen Reisenden unterworfen«50 .
1.1.2.2 Die Reisereportage im postmodernen Zeitalter bis heute Für die Reisereportagen und Reiseliteratur der Postmoderne, in denen fiktive oder faktische Reiseerlebnisse gestaltet werden, lässt sich »eine Dominanz der ästhetischen Überformung des Materials« konstatieren: »Die Reise gerät dadurch häufig aus dem Zentrum an die Peripherie der Texte; sie stellt […] eher den Anlass denn das Ziel der literarischen Reflexion dar.«51 Bewegung bleibt in jeder Art des postmodernen Reisens konstant, wird jedoch auf eine vektorielle Bewegung reduziert, was dazu führt, dass die Wahl vieler Ziele willkürlich getroffen und damit irrelevant wird. In Bezug auf die etlichen Reiseberichte und -literatur erscheint die »paradoxe Verbindung von nahezu unbeschränkter Mobilität und Stillstand« als »irritierendes Merkmal eines globalisierten Nomadentums«52 . Doch unangefochten von solchen Überlegungen zu den Aporien des Reisens in einer vollständig vermessenen Welt wird nach wie vor – und mehr denn je! – Reiseliteratur produziert, und zwar quer durch alle hohen und niederen Sparten und in vielfältiger Genrevariation. […] So gehört denn auch die Auseinandersetzung mit fernen und fremden Räumen, ebenso wie die ganz
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Ebd., 467f. Brenner, Peter J.: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, herausgegeben von Peter J. Brenner. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 34. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, 244. Holdenried, Honold und Hermes (Hg.): Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, 11. Ebd.
1 Geschichte der Reportage
eigene Dramaturgie der Fortbewegung selbst, unverändert zu den maßgeblichen Anregungsquellen literarischer AutorInnen.53 Die postmodernen Reiseberichte und -literatur, die ›Reisen‹ auf so viele unterschiedliche Weisen illustrieren, eint dabei nicht nur ein inter-, sondern vor allem auch ein intrakulturell fokussierter Blick.54 Während die postmodernen Reiseberichte von einer Fülle an »Mobilitätsmustern und Schreibverfahren« geprägt sind, weisen die Neueren einen Konnex von Reisen und Wissen auf.55 Die Suche nach Bemerkenswertem ist seit der Aufklärung mit dem Zweck zur Rationalisierung der Welterfassung ein wesentlicher Impuls der Reiseberichte geblieben. Edward Said verdeutlichte in seinem Werk Orientalism56 die Verbindung von Reisen, Repräsentation, Imperium und Macht und gab damit in den 1980ern einen wichtigen Impuls, Reiseliteratur aus dem Blickwinkel historischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten. Retrospektiv waren die meisten Entdeckungsreisen wirtschaftlich motiviert. Besonders die Imperialisten setzten in den Kolonien ihre eurozentristischen Wert- und Weltvorstellungen durch. Es gab keinerlei Interessen an einem kulturellen Dialog.57 Die fremde Kultur wurde in den Reiseberichten mit den Begriffen ›primitiv‹, ›unzivilisiert‹, ›kannibalistisch‹ und ›gewalttätig‹ beschrieben und deklassiert.58 Said konstatiert die Folgen der westlichen dichotomen Denktraditionen. Homi K. Bhabha greift im Zuge der Cultural Studies in seiner Abhandlung The Location of Culture59 Saids Thesen auf und konzentriert sich auf die Darstellung kultureller Räume als sich angrenzende Instanzen und auf die Prozesse der Identitätsbildung.
53 54 55 56 57
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59
Ebd., 11f. Vgl. Brückner, Leslie, Christopher Meid und Christine Rühling (Hg.): Literarische Deutschlandreisen nach 1989. Berlin/Boston: De Gruyter 2014. Holdenried, Honold, und Hermes, Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne, 12. Said, Edward W: Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul 1979. Vgl. Reif-Hülser, Monika: Fremde Texte als Spiegel des Eigenen. Postkoloniale Literarturen und ihre Auseinandersetzungen mit dem kulturellen Kanon. München/Paderborn: Fink 2006. Vgl. Holdenried, Michaela: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Philologische Studien und Quellen, Bd. 183. Berlin: Erich Schmidt 2004. Bhabha, Homi K: The Location of Culture. London: Routledge 2004.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
1.2 Journalistische Tradition: der Augenzeugenbericht Während die freie Themengestaltung das Reizvolle an der Reiseerzählung ist, handelt der Augenzeugenbericht von einem konkreten Ereignis, welches an eine Situation gebunden ist, die auch ohne Reporter:in stattfinden würde. Katastrophen, Unglücke und Verbrechen waren und sind das Thema des klassischen journalistischen Augenzeugenberichts und haben das Bild des Reporters weithin geprägt: Wie die Rettungsmannschaften arbeiten; wie es jetzt an der Unglücksstätte aussieht; wie es einer betroffenen Familie eines Dorfes jetzt geht und wie sie mit der neuen Situation zurecht kommt; wie und was die Polizei, der Staatsanwalt ermittelt; […] – und so weiter.60 Die Funktion der Augenzeug:innen besteht darin, möglichst präzise und detailliert zu berichten, was man selbst gesehen und erlebt hat, woraus eine Nähe zum Boten resultiert, dessen Aufgabe nicht nur in der Weitergabe der Botschaft von Person zu Person liegt: »Er ist nicht nur Medium, sondern auch Akteur.«61 Der Berichterstatter als Augenzeuge von Veranstaltungen hatte einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung des modernen Journalismus: »Im zivilen Alltag moderner Gesellschaften sind die wichtigsten Veranstaltungen zweifellos diejenigen, die das Zusammenleben der Menschen direkt betreffen«62 . Dazu zählen vor allem die Urteilsverkündungen und Rechtsprechungen der Gerichte und Versammlungen von Volksvertretern. Die Aufgabe der Reporter:innen besteht darin, die Bürger:innen durch Nacherzählung und Informationsvermittlung am Geschehen teilhaben zu lassen. So gesehen ist die rechtsstaatlich organisierte bürgerliche Gesellschaft mit ihrem umfänglichen Institutionsgefüge eine Art permanenter Großveranstaltung und so auch Dauerthema journalistischer Erzählungen.63
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Haller: Die Reportage, 30. Rösinger, Amelie und Gabriela Signori (Hg.): Die Figur des Augenzeugen. Geschichte und Wahrheit im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich. Konstanz/München: UVK 2014, 8. Haller: Die Reportage, 32. Ebd., 32.
1 Geschichte der Reportage
Der Ursprung der Figur des Augenzeugen liegt seit Herodot in der Geschichtsschreibung.64 Noch Jahrhunderte später sollten Aussagen desjenigen, der vor Ort und mit eigenen Augen das Geschehene verfolgt hat, »theoretisch bzw. methodisch über allen anderen Techniken und Medien der histographischen Authentifizierung« stehen.65 Die Figur des Augenzeugen diente vor allem der Gegenwartsgeschichtsschreibung und wird heute meist als Zeitzeuge, kaum mehr als Augenzeuge bezeichnet. Die Tradition des Augenzeugenberichts geht auf die Berichterstattung durch journalistische Beobachter während der Parlamentssitzungen in England gegen Ende des 17. Jahrhunderts zurück, also auf die »Demokratisierung der Gesellschaft durch das Bürgertum«66 . Im Zuge dessen wuchs das Bedürfnis der Bevölkerung nach leicht zugänglichen Informationen, um Meinungen und Anliegen der Volksvertreter nachvollziehen zu können und dementsprechend zu wählen. »[S]o war der Kampf gegen die Vormacht der Feudalen von Anfang an von Bericht erstattenden Reportern geführt worden.«67 Im 18. Jahrhundert führten viele Zeitschriften Parlamentsreportagen ein: Die publizistische Aufgabe wurde im Wesentlichen darin gesehen, die Bürger ›am politischen Geschehen teilhaben‹ zu lassen. Dies insbesondere dann, wenn die unmittelbare Publikumsöffentlichkeit ausgeschlossen wurde: Die mit der Publizität verbundene Öffentlichkeit gestattete die Fiktion einer ›partizipativen Bürgerdemokratie‹. Denn selbst wenn der Bürger keine Zeit und Gelegenheit hat, sich direkt am politischen Geschäft zu beteiligen, so kann er über die Berichterstattung doch indirekt am Geschehen partizipieren.68 Mit dem Augenzeugenbericht ist die journalistische Arbeit des rasenden Reporters Egon Erwin Kisch untrennbar verbunden. Mit dem Einsatz der Massenpresse gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam der Zwang zur Aktualität und Konkurrenz zum ›heißeren Reporterbericht‹ auf.
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Vgl. Luraghi, Nino: »Meta-historiē: Method and genre in the Histories«. In: The Cambridge Companion to Herodotus, herausgegeben von Carolyn Dewald und John Marincola. Cambridge: Cambridge University Press 2006, 76–91. Rösinger und Signori: Die Figur des Augenzeugen, 8. Haller: Die Reportage, 32. Ebd. Ebd., 33.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
1.3 Die journalistische und literarische Reportage So wie die Reisereportage die Funktion erfüllte, repräsentativ für die Leserschaft Distanzen zu überwinden, um Fernes und Fremdes nahe zu bringen, sollte der Augenzeugenbericht Barrieren überschreiten und dem Publikum unzugängliche Informationen zugänglich machen. Beide Reportagetypen lassen die Leser:innen am Geschehen teilhaben. Die moderne Reportage vereinigt die beiden Traditionen und Funktionen des Reise- und Augenzeugenberichts: »Sie vermittelt das Geschehene konkret, sinnlich und unmittelbar. Ihr sprachlicher Ausdruck ist darauf aus, vermittels Lexik und Stil Bedeutungen, auch Tief- und Hintergründiges aufzuzeigen« – ein Anspruch, den sie mit der Literatur teilt.69 Die Differenzierung von literarischer und nichtliterarischer Reportage erweist sich in der Forschung jedoch als problematisch. Es gibt zweierlei Haltungen, die besagen, dass zum einem der künstlerische Mehrwert, der sich in der sprachlichen und strukturellen Gestaltung niederschlägt, als Unterscheidungskriterium dienen kann. Zum anderen ist jede über den simplen Bericht hinausreichende Reportage bereits als literarisches Genre zu verstehen. Die journalistische Reportage existiert nicht, sondern stellt immer eine Hybridform aus Journalismus und Literatur dar. Der Unterschied liegt aber eben nicht in einem ›Mehrwert‹, sondern in dem Wesensmerkmal, dass die literarische Reportage genau das leistet, was der allgemeine ›Report‹ zwar verspricht, aber nicht einlöst: eine gründlich recherchierte, simpel und gemeinverständlich dargestellte, aber immer noch ›gestaltete‹ Dokumentation.70 Verschiedene Zeitungsberichte aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts tragen bereits wesentliche Merkmale der Reportage, begründeten einen neuen Stil und die Gattung der literarischen Reportage und waren wegweisend für viele zeitgenössische Schriftsteller:innen. Darunter hervorzuheben sind vor allem Heinrich Heines Gerichtsreportage Old Bailey von 1828, Georg Weerths Ein Besuch in Tuilerien aus dem gleichen Jahr und später Theodor Fontanes Eine Stunde unter den Webern von 1858. Die gewählten Themenaspekte, die Herangehensweise und sprachliche Materialumsetzung dieser und zahlloser anderer Arbeiten zeigen die Modernität der Reportage, die das Verborgen-Hintergründige erschließt und das
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Ebd., 37. Haas: Empirischer Journalismus, 241.
1 Geschichte der Reportage
Ausgegrenzte wie ein exotisch fernes Land ›bereist‹, um es den Lesern nahe zu bringen – mit präzisen Beobachtungen und Schilderungen, die das Publikum hautnah miterleben lassen.71 Die Texte lockerten nicht nur die starr festgelegten Gattungsgrenzen auf, sondern verkleinerten zudem die Kluft zwischen Literatur und Öffentlichkeit.72 Ihre Merkmale »treffen auf die im Laufe des 20. Jahrhunderts ausgeformte und bis heute gültige Machart der Zeitungsreportage zu«73 . Im deutschsprachigen Raum erreicht die Reisereportage in der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre nicht nur einen quantitativen, sondern vor allem auch qualitativen Höhepunkt. Der österreichische Journalist und Reporter Egon Erwin Kisch, der als Begründer der literarischen Reportage gilt, definiert die Reportage explizit als Kunstwerk, »wodurch er für sie einen Anspruch auf Literarizität und Ästhetik erhebt«74 . Er setzt sich vor allem mit der Funktion der Reporter:innen und der Reportage sowie dem Zielpublikum auseinander. Für ihn machen »der Wille zur Sachlichkeit, ein starkes soziales Gefühl und der Wille, den Unterdrückten zu helfen«75 , gute Reporter:innen aus. Dabei sollen sich Reporter:innen an das ihnen Bekannte halten und sich alltäglichen Themen widmen, wie er in seinem Vorwort zu Der rasende Reporter von 1924 verdeutlicht: Die Orte und Erscheinungen, die er beschreibt, die Versuche, die er anstellt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, und die Quellen, die er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig erreichbar sein, wenn er in einer Welt, die von der Lüge unermeßlich überschwemmt ist, wenn er in eine Welt, die sich vergessen will und darum bloß auf Unwahrheit ausgeht, die Hingabe an sein Objekt hat. Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es, als die Zeit, in der man lebt.76
71 72 73 74 75 76
Haller: Die Reportage, 35. Haas: Empirischer Journalismus, 240. Haller: Die Reportage, 35. Kostenzer: Die literarische Reportage, 68. Patka, Marcus G: Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 1997, 103. Kisch, Egon Erwin: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Der rasende Reporter, Hetzjagd durch die Zeit. Wagnisse in aller Welt. Kriminalistisches Reisebuch, herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Bd. 6. Berlin/Weimar: Aufbau 1993, 638.
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2 Zur Definition der Reportage
Eine wissenschaftliche Diskussion über die Reportage setzte in den 1970er Jahren ein mit Arbeiten über den Reporter Egon Erwin Kisch und brachte erste Fortschritte im Versuch einer Reportagen-Definition: Die Reportage ist eine literarische Form der Aneignung der Wirklichkeit, die künstlerische Teile (Bilder, Episoden, typische Einzelfälle, die subjektive Wertung des Reporters und seine auf den Menschen bezogene Verallgemeinerung) mit wissenschaftlicher Dokumentation sachlichen Zusammenhangs und begrifflich-aufsatzartigen Darstellungen verbindet; sie weist als Bericht strenge Detailtreue, Wahrheitscharakter und gleichzeitig eine Ebene der Berichterstattungskommentars und der ästhetischen Wertung auf; ihre Sprachform schwankt zwischen sachlichem Berichtsstil und künstlerisch gestalteter Sprache.1 Die Monografie Die Reportage von Michael Haller markierte für das Genre in den 1990er einen wichtigen Fortschritt in der journalistischen Forschung.2 Erstmalig trennt Haller die beiden Darstellungsformen der Reportage und des Features funktional streng voneinander, und spricht sich gegen eine genaue Begriffsdefinition der Reportage aus. Die Konstante der Reportage liege in ihrer Vermittlungsfunktion und nicht in ihrer äußeren Form.3 Damalige Definitionsversuche hielten der Praxis nicht stand und würden viele wichtige Aspekte der Reportage außer Acht lassen. Viele der Lexikon-Autoren brechen sich die Finger ab, weil sie unbedingt eine in sich geschlossene, deduktiv abgeleitete Definition aufstellen wollen. Sie 1 2 3
Schlenstedt, Dieter: Schriftsteller der Gegenwart. Egon Erwin Kisch. Leben und Werk. Berlin: Volk und Wissen 1970, 72f. Vgl. Haller: Die Reportage. Ebd., 72f.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
möchten […] ein für allemal sagen, ›was‹ eine Reportage genau ›ist‹ – statt zu sagen, was beim Reportageschreiben mit dem Thema, mit den Ereignissen und Sachverhalten geschieht, wie es Erlebnisse gestaltet und Geschehnisse vermittelt, kurz: wie eine Reportage funktional ›einzuschätzen‹ ist.4 Die Reportage folge einer dramaturgischen Gliederung, verwende »teils beschreibende, teils erzählende, teils schillernde Sprache«, bringe die Empfindungen und Assoziationen des Reporters zum Ausdruck und sei durch die zahlreiche Verwendung von Tropen »durchaus literarisch, niemals aber dichterisch«5 . In der Journalistik des deutschen Sprachraums wird […] mit ›Reportage‹ der als subjektive Erzählung aufbereitete Tatsachenbericht eines Beobachters bezeichnet, der als Augenzeuge am Ort des Geschehen war und das Beobachtete einerseits mit Faktischem (Recherche), andererseits mit persönlichen Eindrücken und Empfindungen (subjektive Wahrnehmung), nicht jedoch mit Meinungsäußerungen durchsetzt.6 Die Aufgabe der Reportage wird in den Fokus gestellt und der freien Darstellungsform kein Korsett einer Begriffsdefinition angelegt: Die hohe Kunst der Reportage besteht darin, das Publikum am Geschehen teilhaben zu lassen, ihm Eindrücke zu vermitteln. Der Journalist ›reportiert‹, im Idealfall ist er ein präziser Beobachter, kein Kritiker, kein Missionar. Im Gegensatz zum Nachrichtenjäger geht es ihm nicht allein um Fakten, sondern auch um Atmosphärisches. Er darf, ja soll ausdrucksgewandt und sprachgewaltig sein, aber in der Beschreibung und nicht in der Bewertung der Zustände und Ereignisse.7 In den zahlreichen Handbüchern zum Journalismus ist man sich einig, dass es für den Aufbau der Reportage keine festgelegten Regeln gibt, sondern nur ein Grundmuster aus Einstieg, Episoden aus Sachinformationen, Zitaten, Beispielen und einen bedeutungsschweren Schluss.8 Die Literaturwissenschaft zählt die Reportage zu den narrativen Texten, denen eine Handlung zugrunde 4 5 6 7 8
Ebd., 79. Haller: »Reportage/Feature«, 405. Ebd., 405. Ruß-Mohl, Stephan: Journalismus. Das Lehr- und Handbuch. Frankfurt a.M.: Frankfurter Allgemeine Buch 2016, 61. Ebd., 62.
2 Zur Definition der Reportage
liegt, in welche mindestens ein/e Akteur:in involviert sein muss. Die Reportage besitzt die vier konstituierenden Dimensionen: Ereignis, Akteur:in, Zeit und Raum. Dabei wird das Verhältnis zwischen Erzähler:in (Akteur:in) und Autor:in (Reporter:in) bewusst offengehalten.9
2.1 Fünf Typen der Reportage Die Kommunikationswissenschaft und die Journalistik sind der Überzeugung, dass man über fast alle Themen eine Reportage schreiben kann, solange ein der Reportage gerechter Zugang gefunden werde und der Reporter einen allgemein interessanten Aspekt entdecke, der dem Thema den gewissen Reiz gebe.10 Als häufigste Themenfelder gelten: Veranstaltungen und Ereignisse, Trendthemen, Milieus, Selbsterfahrungen und Rollenspiel, Personenporträts und politisches Geschehen. Reportagen werden in fünf Typen unterteilt:11 a) b) c) d) e)
Ereignisbezogene Reportage Milieu-Reportage Selbsterfahrungs-Reportage Personen-Reportage/Personenporträt Aufdeckende Reportage
Die ereignisbezogene Reportage leitet sich von der Augenzeugenberichterstattung ab und schildert den Stoff in chronologischer Abfolge der Ereignisse. Der nüchterne Bericht wird dabei um Erlebnisse, Assoziationen und Impressionen erweitert. Die Milieu-Reportage ähnelt in der Form der Reisereportage und illustriert die fremden beziehungsweise befremdlichen Lebensumstände von Menschen und Personen in der von ihnen geschaffenen Umwelt. In der Selbsterfahrungs-Reportage steigen die Reporter:innen ins Geschehen als Akteur:in mit ein, um durch das Rollenspiel die fremden Situationen selbst erleben und nachvollziehen zu können. Dabei kann offen oder verdeckt agiert werden. Verdeckt muss es sein, wenn soziale, politische
9 10 11
Michael Haller: »Reportage/Feature«, 410. Mast, Claudia (Hg.): ABC des Journalismus. Ein Handbuch. Praktischer Journalismus, Bd. 1. Konstanz: UVK 2008, 280. Haller: »Reportage/Feature«, 408.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
oder wirtschaftliche Barrieren nicht überstiegen werden können.12 Die Personen-Reportage »porträtiert eine bemerkenswerte Einzelperson in ihrem spezifischen Handlungszusammenhang«13 . Das Personenporträt wird der Handlungszusammenhang zurückgedrängt und die Person als bemerkenswertes Individuum in den Fokus gestellt. In der Personenreportage werden der Handlungs- und Lebenszusammenhang der Person dargestellt, die als besonders interessant gelten. Die aufdeckende Reportage verwendet investigativ beschaffte Informationen, um (soziale) Missstände aufzuzeigen, Entstehungsgeschichten zu konstruieren, die Situation der Betroffenen zu schildern und die Verantwortlichen zu benennen. Christoph Ransmayrs ReportageThemen aus Extrablatt und TransAtlantik sind breit aufgestellt und streifen alle fünf Reportage-Typen, wobei vor allem Milieuthemen als Reportage-Stoff bevorzugt werden.
2.2 Abgrenzung zum Feature Als Feature werden meist bunte und lebhafte Texte bezeichnet.14 In der Forschung wurde bereits verdeutlicht, dass die Reportage und das Feature funktional unterschiedliche Darstellungsformen sind.15 Der Begriff des Features entstammt dem amerikanischen Sprachraum und wurde bereits im 19. Jahrhundert, analog zur deutschen Metapher ›Gesichtspunkt‹, als Bezeichnung einer Haupteigenschaft verwendet. Im 20. Jahrhundert entwickelt sich das Wort als Synonym für eine »unterhaltsam geschriebene, mit ›human interest‹ ausgestattete ›news story‹. Ihr Rohstoff sind nachrichtliche Informationen, doch wird das Material weder nach dem Muster der Meldung (lead, inverted pyramid), noch nach dem des Berichts, vielmehr in der Art einer erzähllogisch ablaufenden Geschichte ohne ›summary lead‹ aufbereitet.«16 Im deutschen Sprachraum stand das Feature vor allem im Radio-Journalismus nach 1945 für »gebaute, mit Archivmaterial wie auch O-Tönen angereicherte Beiträge«, und
12 13 14 15 16
Mast: ABC des Journalismus, 281. Haller: »Reportage/Feature«, 408. Mast: ABC des Journalismus, 288. Haller: Die Reportage, 86. Haller: »Reportage/Feature«, 408.
2 Zur Definition der Reportage
erst im Print-Journalismus der 1960er Jahre für Texte, die – der Reportage ähnlich – konkrete Szenen und Situationen beschreiben.17 Im Vergleich zur Reportage konzentriert sich das Feature darauf, »abstrakte Sachverhalte ins Konkrete der Alltagserfahrung zu übersetzen – und zwar durch Anschaulichkeit«18 . Während in Reportagen die Einzelschicksale erfasst werden, ohne eine Allgemeingültigkeit behaupten zu wollen, zeigt das Feature anhand eines Beispiels Allgemeingültiges auf.19 Das Feature erlaubt mehr Subjektivität und ist die formal freieste journalistische Darstellungsform – es ist ein journalistisches »mixtum Compositum«20 . Es soll auf der Ebene der Alltagserfahrung Wirkungs- und Ursachenzusammenhänge für die Leserschaft nachvollziehbar machen. Im Gegensatz zur Reportage zählt die Literaturwissenschaft das Feature jedoch nicht zu den narrativen Texten.21 Es ist anspruchsvoller als die Reportage, da der Reporter nicht nur berichtet, sondern das Geschehen zuordnet, interpretiert und verständlich auslegt. Das Feature ist die geeignete Form, um abstrakte und schwierige Themen aufzugreifen. Kennzeichnend dabei ist der Wechsel zwischen Abstraktion und Anschauung, Hinter- und Vordergründigem, Schilderung und Schlussfolgerung.22 Zusammenfassend bedeutet dies für das Anfertigen eines Features: Der Journalist bringt die von ihm recherchierten Informationen ins Blickfeld seiner Leser und beschreibt sie mit dem Material, das zum Erfahrungsschatz des Alltags gehört. Dabei ist es durchaus erlaubt, auch fiktive Szenen oder ganze Szenarien zu verwenden, was bei einer Reportage unzulässig ist. Der Zweck der Szenen besteht beim Feature im Anschaulichmachen, bei Reportagen hingegen in der Vermittlung von Realität. Das Feature individualisiert die geschilderte Szene nicht, sondern typisiert sie, so dass dem Rezipient die Austauschbarkeit klar wird. Eine authentisch schildernde Reportage würde
17 18
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Ebd. Reumann, Kurt: »Journalistische Darstellungsformen«. In: Publizistik. Massenkommunikation. Das Fischer Lexikon, herausgegeben von Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz und Jürgen Wilke. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, 141. Haller: »Reportage/Feature«, 409. Lackner, Herbert: »Feature in der Zeitung«. In: Praktischer Journalismus in Zeitung, Radio und Fernsehen, herausgegeben von Heinz Pürer. Konstanz: UVK 1996, 151. Haller: »Reportage/Feature«, 410. Ruß-Mohl: Journalismus. Das Lehr- und Handbuch, 62.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
im Gegensatz dazu den Eindruck erwecken, dass es sich um einen unverwechselbaren Einzelfall handelt.23 Trotz der Unterschiede zwischen der Reportage und dem Feature sind deren Übergänge fließend und sprachlich kaum voneinander abzugrenzen.24 Ransmayrs Reportagen folgen dem Aufbau und der Funktion der bereits besprochenen literarischen Reportage. Zwar sprechen die fiktiven Elemente der Texte für die Aufmachung eines Features, seine Berichte aber handeln hauptsächlich von Einzelschicksalen und entziehen sich einer allgemeinen Gültigkeit.
23 24
Mast: ABC des Journalismus, 288. Ebd., 289.
Erster Teil: Christoph Ransmayrs Reportagen der 1970er/80er
Ransmayr, 1978 gerade erst 24 Jahre alt und noch Student, publiziert seine ersten Texte als Reporter für den Kulturteil des monatlich erscheinenden österreichischen Magazins für Politik und Kultur Extrablatt 25 , an das er von dem Wiener Cartoonisten und Extrablatt-Art-Director Manfred Deix empfohlen worden war.26 Die Reportagen haben für den jungen Journalisten »eine Befreiung von den abstrakten Kategorien der Universitätsseminare gebracht und ihn dorthin geführt, wo er etwas sehen, erleben, erleiden – und dies jenseits von Analyse und Kommentar darstellen kann«27 . Trotz anfänglicher Fehler – Rebell zu Laibach wurde noch unter dem Namen »Christoph Ransmayer« veröffentlicht, und im Impressum sogar als »Christoph Ranzmayer« aufgeführt, was sich auf eine Verwechslung mit Extrablatt-Redakteur Jürgen H. Ranzmayer zurückführen lassen könnte, der seit der ersten Auflage als Autor des Blatts genannt wird – etabliert sich Ransmayr als festes Mitglied der Extrablatt-Redaktion und ist dort bis 1982 als Kulturredakteur angestellt.28 Mit seiner ersten Buchveröffentlichung Strahlender Untergang von 1982 arbeitet er als freischaffender Schriftsteller, wechselt im gleichen Jahr als freier Mitarbeiter zum deutschen Magazin TransAtlantik29 und schreibt drei weitere Jahre für das Heft. Anfang 1982 hat er sich bereits in den Reportagen Des Kaisers kalte Länder I und 25 26 27 28 29
Pfneudl, Karl Heinz (Hg.): Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur, 1977–1982. Michaelsen, Sven: »Mit dunklen Visionen zum Ruhm«. In: Stern, H. 47, 24.11.1988, 264. Breitenstein, Andreas: »Im Innern meiner Geschichte bin ich unverwundbar. Ein Gespräch mit Christoph Ransmayr«. In: Neue Züricher Zeitung, 29.04.1994. Ab Band 6/1979 bis zum letzten publizierten Magazin, Band 10/1982, wird Ransmayr als festes Redaktionsmitglied im Extrablatt-Impressum aufgeführt. Enzensberger, Hans Magnus und Gaston Salvatore (Hg.): TransAtlantik, 1980–1991.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
II30 sowie in Der letzte Mensch31 mit dem nördlichen Polarmeer und der WeyerPayrecht-Expedition befasst und darauf aufbauend sein erstes Romanprojekt Schrecken des Eises und der Finsternis begonnen, welches 1984 publiziert wird. In den Reportagen finden sich schon da zahlreiche Passagen, die kaum verändert im Roman übernommen worden sind. Neben dem journalistischen Schreiben beschäftigt er sich zunehmend mit literarischen Formen und probiert sich in diesen aus.32 Auf Hans Magnus Enzensbergers Wunsch und noch während seiner Zeit bei TransAtlantik versucht sich Ransmayr daran, den Mythos von König Minos und dessen Minotaurus neu zu beleben und in Prosaform umzudichten.33 Er veröffentlicht im Buch Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In vierhundertsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, von Enzensberger unter seinem Pseudonym 1985 beim Greno Verlag herausgegeben, den kleinen Text Das Labyrinth, welcher eine erste Vorstudie und Übung für sein nächstes Romanprojekt Die letzte Welt darstellte. Die Arbeit an diesem Roman nimmt den jungen Autor sehr in Anspruch, weswegen er seine Tätigkeiten als Reporter einschränkt und nur gelegentlich weiter für die Magazine GEO und Merian schreibt. Seine letzte Reportage Die vergorene Heimat 34 wird 1989 in GEO veröffentlicht und findet ihren Platz, so wie zwölf weitere ausgewählte Reportagen, in Ransmayrs Sammelband Der Weg nach Surabaya.35
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Des Kaisers kalte Länder I (Extrablatt 3/1982), Des Kaisers kalte Länder II (Extrablatt 4/1982). Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983). Neben seinen Romanen hantiert und experimentiert Ransmayr seit 1997 in seinen ›Spielformen des Erzählens‹ mit unterschiedlichen literarischen Formen wie Schauspiel, Dialog, Verhör, Tirade oder Bildergeschichte. Inzwischen sind zwölf der kleinen Bände im Fischer-Verlag erschienen. Michaelsen: »Mit dunklen Visionen zum Ruhm«, 264. Ransmayr, Christoph: »Die vergorene Heimat. Ein Stück Österreich«. In: GEO, Nr. 7, 1989, 12–42. Ransmayr, Christoph: Der Weg nach Surabaya: Reportagen und kleine Prosa. Frankfurt a.M.: Fischer 2014. In dem Sammelband finden sich drei Reportagen aus TransAtlantik: Auszug aus dem Hause Österreich. Unterwegs zur letzten Kaiserin Europas (11/1985), Die Königin von Polen. Eine politische Wallfahrt (11/1982) und Der Blick in die Ferne. Ablenkung am Rande der Gesellschaft (4/1985); drei Reportagen aus Extrablatt: Habach. Ein Andachtsbild aus Oberbayern (1/1982), Chiara. Ein Besuch in Süditalien (11/1979) und Die Neunzigjährigen. Fünf biografische Notizen (11/1980); vier Reportagen aus Merian: Ein Leben auf Hooge. Porträt einer untergehenden Gesellschaft (2.11.1985), Die ersten Jahre der Ewigkeit. Der Totengräber von Hallstadt (2.2.1988), Kaprun. Eine Mauer wird zum Mythos (1.1.1985) und Der Held der Welt. Vermutungen über den letzten Tag von Konstantinopel (Merian 5.5./1985);
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Ransmayrs Extrablatt-Reportagen aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren beleuchten kritisch Geschehnisse und bestehende Verhältnisse in Politik, Geschichte und Gesellschaft in und um Österreich. Leben und Schicksalsschläge des Einzelnen in Grenz- und Notsituationen sind konstantes Thema der Reportagen: »Wenn es überhaupt eine adäquate, der Erzählung entsprechende Haltung geben kann, dann die des Einzelnen.«36 Der Autor rückt das Leben in der Peripherie, von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, in die »Mitte der Welt«37 zurück: Wie seine Romane öfter fast den Ton von recherchierten ›Berichten‹ aus phantastisch erfundenen Welten haben, so haben seine Reportagen eine geduldig-erzählerische, erfinderische Qualität, die sie zu einsamen Juwelen des Genres macht. Meistens befassen sich auch diese Texte mit den ›Peripheren‹, mit abseitigen, wenig wahrgenommenen Provinzen, deren die Großstädter oft so sonderlich dünkende Bewohner er mit großer Einfühlung porträtiert […]. In fast allem, was er publiziert, schreibt er statt über die Lebensformen und Moden der metropolitären ›Zentren‹, an einer Topographie der ›Ränder‹, der übersehenen Bezirke menschlicher Existenz […].38 Ransmayr erzählt in seinen Reportagen von dem Menschen abseits der allübergreifenden, schnellen und hektischen Massenkultur und festigt die Konzentration auf das Individuum und dessen Geschichte. Er veranschaulicht den rücksichtlosen, auf wirtschaftlicher Effizienz basierenden Fortschritt, unter
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eine Reportage aus GEO: Die vergorene Heimat. Ein Stück Österreich (7/1989) und die Reportage Przemyśl. Ein mitteleuropäisches Lehrstück in Im blinden Winkel. Nachrichten aus Mitteleuropa, herausgegeben von Christoph Ransmayr. Wien: Brandstätter 1989. Löffler und Ransmayr: »Das Thema hat mich bedroht«. Palla, Rudolf (Hg.): Die Mitte der Welt. Bilder und Geschichten von Menschen auf dem Land. Wien: Brandstätter 1989. Die Mitte der Welt war der Titel des Sammelbandes über das heutige dörfliche Leben, an dem Ransmayr selbst mitgewirkt hat und der von seinem guten Freund Rudi Palla herausgegeben wurde. Die beiden Autoren trafen sich erstmals 1980 auf einer Ausstellung, an der Palla Ransmayr von seiner Fernsehdokumentation für den ORF über die Payer-Weyprecht-Expedition von 1872–74 erzählte und welche, damals noch als gemeinsames Buch geplant, zum Auslöser und Grundstein von Ransmayrs Erstlingsromans Die Schrecken des Eises und der Finsternis wurde. Palla war Ransmayrs engster Kontakt und Ratgeber in seinem ersten Buchprojekt und berichtet in Die Rampe ausführlich von ihrer gemeinsamen Reise; vgl. Mittermayer und Langer: Porträt Christoph Ransmayr, 41. Just: »Erfolg macht müde«, 50.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
dem der Einzelne samt regionalen Traditionen und Identitäten zu verschwinden droht. Die Wahl der Randregionen hat zudem konzeptionelle Gründe: Menschenleere Räume erlauben es Ransmayr, souverän über sein Material zu verfügen. Anders als in der gesellschaftlichen Mitte, wo sie jeweils in relativierende Kontexte gestellt sind, nehmen die Dinge hier jene existentielle Deutlichkeit und Dringlichkeit an, auf die es ihm als Erzähler ankommt.39 Kommerzieller Konsum und Bedürfnisse erreichen die Ränder der Zentren langsamer und zeichnen sich intensiver ab als in der Masse der Großstädte. Ransmayr führt in seinen kultur- und sozialkritischen Reportagen eine Art Bestandsaufnahme dieser Veränderungen und deren Auswirkungen auf den Einzelnen durch. Seine Kritik bleibt dabei konstruktiv, da »sie das Bild einer vermeintlichen ›Normalität‹ korrigiert, indem sie durch einen Perspektivwechsel den Blick für Gegenmodelle, Gegenwelten und alternative Lebensformen frei macht«40 . Ransmayrs frühere Reportagen im Magazin Extrablatt sind von seinen späteren Texten im TransAtlantik zu unterscheiden, weswegen eine allgemeingültige Definition oder ein genereller Rahmen für seine Reportagen unmöglich ist. Gemein haben dennoch alle die konstante Vermittlungsfunktion,41 auf die der Autor abzielt: Aufklärung und Beleuchtung von Missständen, Kulturkritik und Ablehnung von Hierarchien, Ideologien und Dogmen aller Art. Ransmayr vermittelt die Inhalte seiner Reportagen konkret, sinnlich und unmittelbar. Seine Reportagen vereinen die drei Authentizitäts-Darstellungsmodi Berichten – Kommentieren – Erzählen und zeigen dabei kontinuierliche Übergänge zwischen nicht- und (halb)fiktivem Erzählen auf. Es ist jedoch zu betonen, dass das Erzählen einen diskursiven Bezug zur Realität nicht ausschließt. Die Hybridität zwischen Fakt und Fiktion, zwischen journalistischer Authentizität und autofiktionalem Schreiben charakterisiert Ransmayrs spätes journalistisches und literarisches Werk, da er in seinen Texten über Orte, Reisen und Begegnungen berichtet (ohne mitunter am Geschehen teilgenommen zu haben), die fiktive Züge aufweisen, aber dennoch authentisch sind. Um Authentizität zu wecken, ist jedoch das von einem Reporter erwartete ›Vor-Ort-Sein‹ für sein Textkorpus nicht erforderlich. Die Reportage wurde Ransmayrs Medium der
39 40 41
Breitenstein: »Im Innern meiner Geschichte bin ich unverwundbar«. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 149. Vgl. Haller: Die Reportage, 72f.
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
literarischen Erzählung: »An ihr schärfte sich der Blick für die abseits der zivilisatorischen Hauptstraßen liegenden Dinge und für Menschen, die sich ihr Leben in den verschiedensten letzten Welten einrichteten […]«42 .
Literarisierung der Reportagen In der Abfolge der Reportagen ist deutlich erkennbar, dass sich seine Texte zunehmend literarisieren und sich weg von der journalistischen Reportage bewegen. Ransmayr entwickelt einen eigenen Stil, was sich in seiner »metaphorisch in höchstem Maße aufgeladenen Sprache« und in der Verwischung von Fakt und Fiktion potenziert.43 Besonders eindrücklich zeigt sich dies an Ransmayrs Reportage über die Geschichte der Errichtung der Staumauer von Kaprun, welche 1985 in der Zeitschrift Merian erschien.44 Sigrid Löffler bezeichnet Kaprun »einerseits [als] ein[en] politische[n] Text historischer Aufklärung, andererseits [als] ein poetisches literarisches Kunstwerk«45 . Kaprun ist ein österreichisches Wasserkraftwerk und ein Symbol für den Wiederaufbau Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei oft unerwähnt bleibt, dass es sich dabei um ein von den Nazis initiiertes Projekt handelt. Bereits vor Kriegsbeginn haben Sklaven- und Zwangsarbeiter an der Mauer gebaut und sind dort zu Hunderten umgekommen. Besonders der Anfang der Reportage hat Literaturkritiker:innen und -wissenschaftler:innen auf den Jungautoren Ransmayr aufmerksam werden lassen: Es war ein dünner, panischer Gesang. Wenn das Gebirge leiser wurde, schwächer die Windstöße über den Geröllhalden und Felsabstürzen und eine emporrauchende Nebelwand auch das Getöse der Großbaustelle Limberg zu ei42
43 44 45
Fetz, Bernhard: »Stichwörter zu einer Poetik der Erzählung bei Christoph Ransmayr«. In: Christoph Ransmayr, herausgegeben von Doren Wohlleben (Gasthg.) und Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg. Text + Kritik, Bd. 220. München: edition text + kritik 2018, 65. Fetz: Das unmögliche Ganze, 39. Ransmayr, Christoph: »Kaprun. Eine Mauer wird zum Mythos.« In: Merian. Salzburger Land, Jan. 1985, 28–31 und 114–118. Bürger, Jan, Sigrid Löffler und Doren Wohlleben: »›Geht los. Erzählt‹. Streifzüge durch Christoph Ransmayrs Werk. Eine Podiumsdiskussion zwischen Jan Bürger, Sigrid Löffler und Doren Wohlleben am 6. April 2017 Literaturmuseum der Moderne (Marbach) anlässlich der Eröffnung der ›fluxus‹-Ausstellung zu Christoph Ransmayr«. In: Christoph Ransmayr, herausgegeben von Doren Wohlleben (Gasthg.) und Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel, Claudia Stockinger, Michael Töteberg. Text + Kritik, Bd. 220. München: edition text + kritik 2018, 18.
85
86
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
nem fernen Dröhnen dämpfte, dann hörte man diesen Gesang. Es war das Todesgeschrei der Ratten. Naß, zerzaust, in schwarzen Scharen waren die Ratten aus den Ruinen des Arbeitslagers am Wasserfallboden gekrochen, aus den ins Gestein gesprengten Latrinen, Abfallgruben und Stollen, und hatten sich vor der Flut zu retten versucht. Wochenlang, heißt es, hielten sie einen Felskegel besetzt, eine täglich kleiner werdende Insel, und pfiffen und schrien ihr Entsetzen gegen das schon unerreichbare Ufer, kletterten immer höher, kämpften um jeden Halt ihrer schwindenden Zuflucht, fielen schließlich übereinander her. Langsam und trübe stieg die Flut ihnen nach. Das Gletscherwasser füllte alle Gruben und Hohlräume aus, drängte in jede Falte des Hochtales, hob liegengebliebenes Bauholz, Balken, Gerüstteile auf und schloß sich über allem, was sich nicht heben ließ. Der Spiegel des Limbergstausees, hoch über Kaprun und sechzehnhundert Meter über dem Meer, stieg ruhig, träge, stieg, überspülte schließlich die Zuflucht der Ratten und wusch den Stein leer.46 Die Einstiegspassage schildert aus den Erinnerungen der Kapruner Anwohner:innen den ersten Anstau zu Limberg 1949. Von den einen »hämisch ausgeschmückt«, von anderen als »karge, apokalyptische Parabel« oder als »bloße Karikatur einer Katastrophe« verstanden, eigne sich die Geschichte vor allem »zur Illustration jener verborgenen Angst« – der Angst vor der Flutwelle, welche der Anblick von Staudämmen auslösen kann.47 Ransmayr setzt die Todesangst der ertrinkenden Ratten jedoch nicht mit der Angst der Anwohner vor einem Dammbruch gleich. Die Reportage beleuchtet kritisch die von den Österreichern gern vergessene Geschichte des Stauseebaus, die mehrere hundert Tode von Zwangsarbeitern forderte, und beschreibt, wie das Leben der Ratten unter den Wassermassen versank: »Die Vernichtung der Kreatur ist der Preis für die zivilisatorische Höchstleistung«48 . In diesem Fall steht die Kreatur nicht für die Ratten, sondern für die Gefangenen. Ransmayr berichtet in einem Interview, er habe wochenlang über der Eingangspassage von Kaprun gesessen.49
46 47 48 49
Ransmayr, Christoph: »Kaprun. Oder die Errichtung einer Mauer«. In: Der Weg nach Surabaya. Frankfurt a.M.: Fischer 2014, 75. Ebd., 76. Fetz: Das unmögliche Ganze, 38. Breitenstein, Andreas: »Der Schwund der Welt. Reportagen und kleine Prosa von Christoph Ransmayr«. In: Neue Züricher Zeitung, 26.04.1997.
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Die Eingangsszene konzentriert sich auf akustische Phänomene. Das Todesgeschrei der Ratten war ein »dünner, panischer Gesang«, der sich vollends entfaltet, als das Gebirge »leiser« wurde und eine Nebelwand das »Getöse der Großbaustelle Limberg zu einem fernen Dröhnen dämpfte«50 . Panik, Leid und Aufregung potenzieren sich in einem Moment der Stille. Das Ableben der Ratten zwischen den Gruben, Latrinen und Stollen steht in der Szene allegorisch für das Leben, Schicksal und die Geschichte der Kapruner StauseeArbeiter: »[W]ie ein Vieh lebe so ein Mensch in den Stollen dahin.«51 Ransmayr erschafft in den wenigen Zeilen einen Moment der Einsamkeit, in der das Leid und die Ungerechtigkeit Gehör finden und sich metaphorisch wie das ansteigende Wasser (»stieg ruhig, träge, stieg«) entfalten dürfen.52 Der Wasseranstieg spiegelt sich ebenfalls im Satzbau der Reportage: Die Passage ist nicht nur als Klimax zu verstehen, sondern wird durch diverse Asyndeta verstärkt (»kletterten immer höher, kämpften um jeden Halt ihrer schwindenden Zuflucht, fielen schließlich übereinander her«).53 Die stoische Ruhe der Wassermetaphorik und die Wahrnehmung der Akustik untermalen die Essenz des Themas und stehen beispielhaft für die Literarizität seiner Texte, in welchen jeweils zu Beginn bereits die gewünschte Atmosphäre evoziert wird, die sich im Fortlauf der Geschichte potenziert. Der Aufbau und die Qualität der Reportage markieren die »poetische Energie«, welche den Texten des Österreichers innewohnt.54 In den TransAtlantik-Reportagen schreibt Ransmayr an der Grenze von Fiktion und Realität. Vielleicht entzieht sich der Österreicher auch deswegen dem Medium der Zeitschrift und begeistert sich zunehmend für Prosa, um seinen Geschichten den nötigen Raum zu gewährleisten. Nicht umsonst entschied er sich im Zuge seiner Vorarbeiten zum Dokumentationsband über die Nordpolexpedition von 1873 für einen Roman, wenn er »nach 120 Seiten noch nicht einmal mit der Einleitung fertig war«55 . Dennoch bleiben die Grundzüge der Reportage seinen Romanen wie Schrecken des Eises und der Finsternis und Atlas eines ängstlichen Mannes erhalten. Die
50 51 52 53 54 55
Ransmayr: »Kaprun. Oder die Errichtung einer Mauer«, 75. Ebd., 81. Ebd., 75. Ebd. Fetz: »Stichwörter zu einer Poetik der Erzählung bei Christoph Ransmayr«, 64. Michaelsen: »Mit dunklen Visionen zum Ruhm«, 264.
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88
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
späten Reportagen haben einen bedeutenden Einfluss auf Ransmayrs Schreiben und können als Vorreiter der Gestaltungsart und des Aufbaus seiner literarischen Werke verstanden werden. Die Reportagen sind die »Keimzellen seiner Romane«56 . Im weiteren Verlauf seines journalistischen Schreibens entwickelt er sich vom Kulturredakteur zum Schriftsteller: In den Reportagen aus den ersten vier Jahren seiner journalistischen Tätigkeit offenbart er sich als zynischer, oft plakativer, nachdrücklich kritischer Kommentator der Wiener Kulturpolitik, der im Zuge seiner literarischen Tätigkeit von jenem ›den liebevoll genauen, unerbittlich ruhigen Bericht‹ schätzenden Autor abgelöst worden ist, der sich öffentlichkeitsscheu zeigt und politische Äußerungen meidet.57 Das kulturkritische Programm seiner Reportagen setzt sich in seinem erzählerischen Werk fort.58 Sie verkörpern Ransmayrs Poetik der Überblendung von poetischer Rekonstruktion und historischer Recherche, von Metapher und Dokument sowie von Bild und Erzählung.59
Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung in Ransmayrs Reportagen Aufklärungs- und Fortschrittskritik sowie weitere grundlegende Inhalte und Ideen der Dialektik der Aufklärung, so auch besonders Adornos und Horkheimers Gedanken aus dem Kapitel Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug, sind durchweg zentrale Themen in Ransmayrs Reportagen. Vor allem die »die Kritik an der dialektischen Verflechtung von Aufklärung und Herrschaft«, auch in der Kulturindustrie, greift Ransmayr immer wieder auf.60 In fünf Reportagen des Extrablatt-Magazins zitiert er explizit Thesen der Frankfurter Philosophen und verwendet sie als Grundlage und Erklärung seiner Texte. In Kulturelle Hofreitschule kritisiert Ransmayr die österreichische Kulturpolitik und die darunterfallenden Veranstaltungen anhand der konservativen Wiener Hofreitschule: Die breitgefächerte Diskussion um das Museum in der ›zerrauften, von Cliquengeist gequälten Kulturgemeinde Wien‹ vollzog sich dabei ständig 56 57 58 59 60
Fetz: Das unmögliche Ganze, 38. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 35. Ebd. Fetz: Das unmögliche Ganze, 38. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 152.
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
unter einem Verdacht, den die Philosophen Horkheimer und Adorno bereits 1944 gemeinsam gegen eine Kulturbürokratie ausgesprochen hatten, die noch den letzten schöpferischen Impuls ins Korsett der Klassifikation zwingt: ›Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur‹.61 Der junge Journalist zitiert in Inzüchtiger Applaus Adornos Bemerkung von der Heimat des Dichters im Schreiben: Aber anders als in der Gegenwart, in der der ›kleine Literat‹ konkurrenz- und existenzängstlich seiner Sprache nachläuft, schien im Renaissance-Subventionsmodell jene ›Häuslichkeit‹ noch leichter erreichbar, zu der Adorno in seinen ›Minima Moralia‹ notierte: ›In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein. Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andere schleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sich in seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen er sich niederläßt, wohl fühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab, bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.‹62 In der Reportage Böse Liebe verdeutlicht Ransmayr anhand des Horkheimer/ Adorno-Zitats seine Kritik am gesellschaftlichen Streben nach Perfektion und Unnatürlichkeit: Mängel werden ebensowenig wie fremde toleriert. Sie werden kaschiert. So behalten die Modevorschreiber immer recht. Darin, daß man ihnen glaubt, zeigt sich noch der zynische Aspekt jenes Widerspruchs, den die Frankfurter Philosophen Horkheimer und Adorno als die ›böse Liebe des Volkes zu dem, was man ihm antut‹, beschrieben haben.63 Mit Zitaten des Kulturindustrie-Kapitels enttarnt Ransmayr die Show ›Holiday On Ice‹ als Rotierendes Fossil. Die Veranstaltung sei ein Beispiel dafür, dass das Neue der massenkulturellen Phase den Ausschluss des Neuen bedeute und die gut geölte Maschine der Kulturindustrie auf der Stelle rotiere. ›Holiday On Ice‹ sei nur ein weiterer Stereotyp der Show-Apparatur, die »eine immer gleiche Unterhaltung produziert«64 :
61 62 63 64
Kulturelle Hofreitschule (Extrablatt 5/1979), 52. Inzüchtiger Applaus (Extrablatt 2/1980), 70. Böse Liebe (Extrablatt 2/1980), 67. Rotierendes Fossil (Extrablatt 2/1981), 71.
89
90
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
›Es klirrt nicht die Schellenkappe des Narren, sondern der Schlüsselbund der kapitalistischen Vernunft‹.65
›Die Imitation wird absolut gesetzt‹ – verfluchten die Philosophen Horkheimer und Adorno 1944 aus ihrem amerikanischen Exil die Kulturindustrie – ›das Neue an der massenkulturellen Phase … ist der Ausschluß des Neuen. Die Maschine rotiert auf der Stelle‹.66 Adornos und Kants Ansichten und Reflexionen über Zeit dienen Ransmayr in Von Zeit zu Zeit zur Erklärung digitaler Uhren-Installationen: ›Machen Sie einmal den ganz einfachen Versuch, den Begriff Raum oder den Begriff Zeit zu definieren‹, empfahl am 8. Mai des Jahren 1962 der deutsche Philosophieprofessor Theodor Wiesengrund Adorno seiner mitschreibenden Frankfurter Schülerschaft und fügte als erschwerende Bedingung hinzu: ›…ohne daß Sie bei der Definition selbst bereits Begriffe voraussetzen, die sich ihrerseits schon auf Räumliches oder Zeitliches beziehen…‹ Zur Erleichterung des Publikums nahm der Philosoph das Versuchsergebnis gleich vorweg. Es war denkbar einfach: Trotz unseres selbstverständlichen Umgangs mit den beiden Begriffen ist es unter den angegebenen Bedingungen völlig unmöglich, Raum und Zeit zu beschreiben. Die Ursache dieser seltsamen Unmöglichkeit hatte ein stets zu Gedankenspielen aufgelegter und auch sonst meist heiter gestimmter Königsberger Fachkollege Adornos in einer bereits 1781 unter dem Titel ›Kritik der reinen Vernunft‹ fertiggestellten Schrift ein für allemal beschrieben: Zeit und Raum, hielt Immanuel Kant fest – so der Name des Fachkollegen – gehörten eben zu den grenzenlosen Voraussetzungen von allem, was sich in der Welt und im Bewußtsein fände. Das Wesentliche einer solchen Voraussetzung sei aber nun einmal, daß ihr selber nichts mehr vorausgesetzt sein könne. Keine Erklärung, kein lieber Gott, keine Definition. ›Denn die Zeit selbst‹ – notierte Immanuel Kant, der nebenbei bemerkt seinen vorgeplanten Tagesablauf stets dermaßen genau einhielt, daß sich nach einem Bericht Heinrich Heines die Königsberger ihre Uhren danach hätten stellen können – ›die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist‹.67
65 66 67
Ebd., 68. Ebd., 70. Von Zeit zu Zeit (Extrablatt 1/1982), 46.
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Ransmayrs Reportagen greifen Leitgedanken Horkheimers und Adornos Philosophischer Fragmente der Kulturkritik unterschiedlich auf. Wie auch die beiden Frankfurter Philosophen hegt Ransmayr den Wunsch, über die Gefahren der hierarchisierenden Massenkultur, Sprache und Ideologien aufzuklären. Besonders häufig verwendet der Österreicher die Kontrastierung von Zentrum und Peripherie als Darstellungsmittel seiner Kritik. Zentrum und Peripherie gehören neben Alterität, Orientalistik und Hybridität zu den Begriffen, die postkoloniale Problematik zu erfassen.68 Ablehnung von Eurozentrismus und Kolonialismus sind nicht nur Themen vieler Reportagen Ransmayrs, sondern vor allem auch in seinem Erstlingsroman Schrecken des Eises und der Finsternis. Dabei orientiert sich nicht nur die Romanform an den originalen Reisetagebüchern der Weyprecht-Payer-Expedition von 1872 bis 1874, sondern auch inhaltlich lässt sich die Tradition der damaligen Reise-Abenteuerreportagen ablesen. Wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Überfremdung bilden die Pfeiler seiner Kritik – Stoff, welchen Ransmayr bereits in seinen frühen journalistischen Reportagen aufgreift und in seinen literarischen Werken ausweitet und verdichtet.
68
Nünning, Ansgar: »Postkoloniale Literaturtheorie und -kritik«. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, herausgegeben von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, 586f.
91
1 Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982)
Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur war eine in Wien von 1977 bis 1982 monatlich erscheinende linkspolitische Zeitschrift, die kritisch über österreichische und auch ausländische Themen berichtete. Den Auslandsreportagen, deren Ransmayr auch mehrere verfasst hat, besonders aus Lateinamerika und Nordafrika, wurde der meiste Platz eingeräumt.1 Neben Ransmayr schrieben viele weitere Autor:innen wie Heinrich Böll, Robert Menasse und Elfriede Jelinek für das Magazin. Im Vorwort der ersten Ausgabe des Magazins vom Mai 1977 warnt der Herausgeber Karl Heinz Pfneudl vor den Pannen, Protektionen und Korruptionen, die »in bestimmter Machtstruktur« gedeihen und vor Beschlüssen, die »in wichtigtuerischen Gremien, Ausschüssen, Ratsversammlungen […] fragwürdig im verborgenen ohne Öffentlichkeit« getroffen werden, und versichert, dass Extrablatt den Leser:innen aus den Reihen »der verwalteten Welt, in der wir zu leben haben«, berichten werde: Jenseits mehr verwirrender als aufklärender polemischer Tagesberichterstattung wird Extrablatt in der Tiefe der Recherche von Monat zu Monat nicht zwanghaft Pseudoaktuelles bringen. Statt Verdunkelung von Zusammenhängen im Eindruck vordergründlicher Sensationen soll Extrablatt kritisch Ereignisse und Nichtereignisse melden und kommentieren; im
1
Solo i fessi stanno laggiu. Chiara – Szenen aus Südtirol (Extrablatt 11/1979). Prozessionen durch eine Spielzeugschachtel. Karneval in Venedig (Extrablatt 2/1982). Des Kaisers kalte Länder. Eine historische Reportage in zwei Teilen (Extrablatt 3 und 4/1982). Der Weg in den Himmel. Eine nachösterliche Strapaze (Extrablatt 4/1982).
94
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Meinungsspektrum der Redakteure soll Extrablatt liberal das Gewissen der fortschrittlichen Menschen in diesem Land vertreten.2 Das Blatt verdeutlicht zu Beginn seine Überzeugungen, Ziele und Vorgehensweise, die in den darauffolgenden Ausgaben nicht abweichen sollen. Ransmayr veröffentlicht seine erste Reportage Rebell zu Laibach. Ivan Cankar – der Dichter der Slowenen im fünften Heft im Mai 1978. Darauf folgen 40 weitere Beiträge, die hauptsächlich in der Kultursparte gedruckt werden. Davon werden vier Reportagen im Magazinbereich ›Ausland‹3 , zwei unter dem Abschnitt ›Österreich‹4 und eine im ›Extrabuch‹5 veröffentlicht. Ab dem sechsten Band des Jahres 1979 wird Ransmayr als festes Redaktionsmitglied im Impressum aufgeführt. Er wird leitender Kulturredakteur und nutzt seine Reportagen, um der Wiener Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und zu verdeutlichen, dass ihre Struktur auf Ausgrenzung beruht.6
2 3
4 5 6
Titel
Ausgabe
Sparte
Fotos
Ivan Cankar – Der Dichter der Slowenen. Rebell zu Laibach
H. 5, 1978, 64–67
Kultur
unbekannt
Die Wiener Leopolstadt: Die Insel der Anderen
H. 6, 1978, 16–25
Österreich
Franz Stummer
Umwelttod am Neusiedler See. Sinflutkomplex
H. 3, 1979, 34–36
Österreich
unbekannt
›Museum Moderner Kunst‹. Kulturelle Hofreitschule
H. 5, 1979, 52–57
Kultur
Franz Stummer
Pfneudl: »Vorwort«. In: Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur, H. 1, 1978. Solo i fessi stanno laggiú (Extrablatt, 11/1979), Prozessionen durch eine Spielzeugschachtel (Extrablatt, 2/1982), Des Kaiser kalte Länder I (Extrablatt, 3/1982) und Der Weg in den Himmel (Extrablatt, 4/1982). Die Insel der Anderen (Extrablatt, 6/1978) und Sintflutkomplex (Extrablatt, 3/1979). Indische Erinnerung (Extrablatt, 7/1979). Vgl. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 148f.
1 Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982)
Titel
Ausgabe
Sparte
Fotos
Indische Erinnerung
H. 7, 1979, 87
EXTRAbuch
/
›Monte Verità‹ – Ausstellung in Wien. Dilettanten des Wunders
H. 9, 1979, 68–72
Kultur
unbekannt
Der Heldenberg in Kleinwetzdorf. Puppenküche der Gewalt
H. 9, 1979, 82–85
Kultur
unbekannt
Chiara – Szenen aus Süditalien. ›Solo i fessi stanno laggiù‹*
H. 11, 1979, 50–55
Ausland
Herwig Palme
Der Jazzpianist Peter Ponger. Die Architektur der Pausen
H. 12, 1979, 68f.
Kultur
unbekannt
Kinder als Käufer. Solidarität mit Suppenkaspar
H. 1, 1980, 66–68
Kultur
unbekannt
Ästhetik im Schaufenster. Böse Liebe
H. 2, 1980, 62–67
Kultur
Lilly Birnbaum
Österreichs ›Kleine Literatur‹. Inzüchtiger Applaus
H. 2, 1980, 68–70
Kultur
unbekannt
Kunst von Geisteskranken. Drei Gespräche in Gugging
H. 3, 1980, 78–83
Kultur
Eveyln Tambour
Das Wiener Beisl. Eine Art Wohnzimmer
H. 4, 1980, 64–69
Kultur
Herwig Palme
Das ›Wiener Art Orchester‹. Tango from Obango
H. 4, 1980, 72f.
Kultur
unbekannt
Wiener Festwochen. Was heißt’n hier Kultur?
H. 5, 1980, 68–72
Kultur
unbekannt
Der Dichter Jura Soyfer. ›Zeit ist Blut Genossen!‹
H. 6, 1980, 67–70
Kultur
unbekannt
Slowaken im Marchfeld. Die verschwundene Minderheit
H. 7, 1980, 74–78
Kultur
Dieter Sattmann
Arbeiterkultur. Bilder keiner Ausstellung
H. 7, 1980, 79f.
Kultur
unbekannt
Die ›Weltmaschine‹ des Franz Gsellmann. Mit Müch und Blarg.
H. 8, 1980, 16–25
/
Jörg Huber
95
96
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Titel
Ausgabe
Sparte
Fotos
Festspielsommer. Salzburger Rechenbeispiele
H. 8, 1980, 74–76
Kultur
unbekannt
Fotografie als Strategie. Beihilfe zum Glück
H. 10, 1980, 76f.
Kultur
unbekannt
Ganz hinten ganz oben
H. 11, 1980, 68–70
Kultur
unbekannt
Geburtsjahr 1890. 90 Jahre Einsamkeit *
H. 11, 1980, 74–81
Kultur
Willy Puchner
Ein Nachmittag im Narrenhaus
H. 12, 1980, 76f.
Kultur
Willy Puchner
Bericht eines Fans
H. 1, 1981, 75
Kultur
unbekannt
Ein zutiefst österreichischer Ort
H. 1, 1981, 76f.
Kultur
unbekannt
Massenkultur. Rotierendes Fossil
H. 2, 1981, 68–71
Kultur
unbekannt
Fasching im Salzkammergut. Liberté in Bad Aussee mit Hansjörg Liebscher
H. 3, 1981, 16–23
/
Lilly Birnbaum
Illustrierte Mitteilungen für den Teefreund. ›Eure Schalen sind voll Schweiß und Tränen‹
H. 4, 1981, 84–90
Kultur
Herwig Palme
Vom Gehen ins Eis
H. 5, 1981, 70–72
Kultur
Much
Vereinsmitteilungen. Unterbrochene Schulstunde
H. 6, 1981, 82
Kultur
unbekannt
Versuch über die Entstehung von Geschichten. Landschaftsaussichten mit blauer Mauer und Truthühnern
H. 9, 1981, 56–63
Kultur
Willy Puchner
Nachrichten aus Oberbayern. Heftige Beschwörung eines Andachtsbildes*
H.1, 1982, 16–23
/
Willy Puchner
Von Zeit zu Zeit. Notizbuch einer Reise zu den unterirdischen Stationen neuester Kunst
H. 1, 1982, 44–47
Kultur
Willy Puchner
1 Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982)
Titel
Ausgabe
Sparte
Fotos
Karneval in Venedig. Prozessionen durch eine Spielzeugschachtel
H. 2, 1982, 16–25
Ausland
Anna Blau
Des Kaisers kalte Länder I
H. 3, 1982, 16–25
Ausland
Rudi Palla
Eine nachösterliche Strapaze. Der Weg in den Himmel
H. 4, 1982, 16–25
Ausland
Dieter Sattmann
Des Kaisers kalte Länder II
H. 4, 1982, 60–63
Kultur
Julius Payer
Der Gondelbauer von Venedig
H. 7, 1982, 48–49
Kultur
unbekannt
* auch in Ransmayr, Der Weg nach Surabaya, 1997
Von seiner ersten bis zu seiner letzten Reportage, wie im Vorwort der ersten Magazinausgabe versprochen, berichtet Ransmayr von Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Machtmissbrauch. Statt ›Verdunkelung‹ beleuchtet er vor dem gesellschaftlichen Auge verborgene Missstände und ›klärt auf‹. Mit Zitaten von Horkheimer und Adorno (58f.) kritisiert er die österreichische Kulturindustrie und verweist auf die ungerechte Behandlung von Außenseitern, Ausgebeuteten und vom System Unterdrückten: »Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur.«7
1.1 Rebell zu Laibach. Ivan Cankar – der Dichter der Slowenen (1978) Zur Zeit seiner ersten Veröffentlichung schloss Ransmayr gerade erst sein Studium der Philosophie und Ethnologie an der Universität Wien ab. Thematische Parallelen und Überschneidungen seines Studiums und seiner Reportagen wurden bereits in der Forschung gezogen: Sein Interesse an »den gesellschaftlichen und kulturellen Rändern [könne] mit gutem Grund als ›ethnologisch‹ bezeichnet werden«, denn abgesehen davon, dass es sich bei der Ethno-
7
DdA, 152.
97
98
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
logie um eine »kritische Kulturwissenschaft mit vorsätzlich gesellschaftspolitischer Stellungnahme zugunsten der Benachteiligten, Hilflosen und Unmündigen« handelt, sei Ransmayrs »kulturkritischer Blick an Lévi-Strauss, Foucault und Derrida geschult«8 . Einer seiner Schwerpunkte im Studium – das Verhältnis von gesellschaftlicher Utopie und Religiosität9 – ist auch Gegenstand seiner ersten Reportage Rebell zu Laibach: Ivan Cankar, der »Rebell zu Laibach«, kämpfte gegen Gesellschaftsstrukturen und Missstände in Politik und Kirche der Habsburger Donaumonarchie, an denen er selbst zugrunde ging. Ransmayr zeichnet in der Reportage den literarischen und politischen Lebensweg Cankars vom Schüler zum Schriftsteller nach. Auslöser zur Reportage über den slowenisch-österreichischen Autor war womöglich die von Ransmayr selbst erwähnte Ausstellung im Wiener Theseustempel Das Theater Ivan Cankars vom Dezember 1977. Ransmayr hegt sicherlich auch eine gewisse Sympathie gegenüber dem ›Rebellen‹, denn beide teilen nicht nur ähnliche politische Überzeugungen, sondern auch das müßige und langsame Schreiben. Cankar schrieb über sich selbst und an einen Verleger: Es gibt keinen Menschen, der so langsam und mühsam arbeitet, Wort um Wort, Satz um Satz, wie Perlen an einem Rosenkranz. […] Da ist die verfluchte Gewissenhaftigkeit, so daß ich wegen eines einzigen Satzes eine ganze Stunde um den Tisch renne und schon vorher mein ganzes Honorar verrauche.10 Martin Pollack, Freund und Co-Schriftsteller von Ransmayr, formulierte im Vergleich über dessen Schreibarbeit: 8
9
10
Vgl. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 153f. Foucault und Derrida, die sich mit den kulturanthropologischen Arbeiten von Lévi-Strauss auseinandergesetzt haben, kommen zu dem Schluss, dass die Ethnologie auf eine Bestimmung des Menschen von außen her zielt, und indem sie zu dem zurückkehrt, was die Positivität des Menschen (Leben, Bedürfnis, Arbeit und Sprache) nährt, ließe sich sagen, dass sie den Menschen ›auflöst‹. In der kulturkritischen Lesart der Reportagen Ransmayrs sieht Fröhlich den Ursprung des Motivs des verschwindenden Helden in seiner Prosa: »An der kulturellen Peripherie löst Ransmayr die das Subjekt bedingenden Ordnungen auf, um durch diese Auflösung den Blick frei zu geben auf die Bedingungen unter denen Subjektivität gesellschaftlich konstituiert wird« (ebd. 154). Bockelmann, Eske und Doren Wohlleben: »Christoph Ransmayr«. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG). edition text + kritik/Munzinger-Archiv GmbH, https://w ww.munzinger.de/search/katalog/klg?portalid=51503&id=16000000450, zugegriffen am 11.11.2019. Rebell zu Laibach (Extrablatt 5/1978), 64.
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Er ist seinen Text gegenüber von einer gnadenlosen Genauigkeit und verlangt sich ungeheuer viel Zeit ab. Wenn sich einer von uns auf der Schreibmaschine nur vertippt hatte, rissen wir das Blatt heraus und schrieben die ganze Seite noch einmal.11 Der Reportage sind vier Illustrationen beigefügt. Die erste Seite zeigt ein kleines Porträt Cankars. Der zweiten Seite wurde eine zeitgenössische Karikatur eines Cankar-Freundes angehängt, welche auf vier quadratischen Bildern das gleiche enorm fettleibige Ehepaar skizziert. Die Zeichnungen demonstrieren jeweils eine Phase der verschiedenen Gemütslagen während eines Theaterbesuchs von Cankars Stücken: Freude, Trauer, Langweile und Müdigkeit. Betitelt wird die Karikatur mit: »Es ist das elendigste Publikum, das ich mir denken könnte«12 . Das Ehepaar soll synonym für das gutbetuchte Großbürgertum stehen, welches sich nicht mit den sozialistischen Überzeugungen Cankars anfreunden kann und sie eher als öde empfindet. Die letzten beiden Bilder der Reportage zeigen zum einen eine Fotografie von Cankars »Schöne-Vida«-Aufführung in Laibach, welche die »Verflechtung zwischen Religiosität und politischem Revolutionswillen als Ausdruck der historischen Situation der Slowenen« spiegelt, und zum anderen eine Fotografie von einer Cankar-Ausstellung in der Laibacher Nationalgalerie.13 Cankars Forderung einer Vereinigung der südslawischen Völker zu einem föderalistischen Separatstaat machte ihn vor dem Kaiser zum Rebellen. 1918, kurz nach seinem Tod, entstand als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ein solcher Staat noch als Prototyp, fand 1945 seine endgültige Form als ›Federativna Narodna Republika Joguslavija‹ und hielt bis 1992 an. Dass Cankar am Ende gegen die Monarchie recht behalten hatte, »ließ ihn zur Hauptfigur der neueren slowenischen Literatur und zu einem nationalen Mythos werden«14 . Seine Literatur wurde zu seinen Lebzeiten von der kaiserlichen Zensur verboten und vom Laibacher Bischof verbrannt, vom slowenischen Volk jedoch begeistert gelesen: Seine Erzählungen […] sowie seine Dramen, […] in denen er die katastrophale Situation der slowenischen Bauern und Arbeiter im ausgehenden 19. Jahr-
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Pollack, Martin: »Gnadenlose Genauigkeit«. In: Die Rampe. Porträt Christoph Ransmayr, herausgegeben von Manfred Mittermayer und Renate Langer. Linz: Trauner 2009, 134. Rebell zu Laibach (Extrablatt 5/1978), 65. Ebd., 66f. Ebd., 64.
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hundert darzustellen versuchte, brachten ihm den Ruf des ›ersten sozialistischen Schriftstellers‹ ein.15 In Rebell zu Laibach klingen bereits Themen an, die den jungen Journalisten Ransmayr, aber auch den heutigen Schriftsteller beschäftigen und die von ihm immer wieder literarisch neu verarbeitet und aufgegriffen werden: 1. der Einzelne am Rande der Gesellschaft; 2. Kulturkritik; 3. Ablehnung jedweder Hierarchien, Ideologien und Dogmen. Die Reportage bietet ein Konglomerat von Kritik an Herrschaft, Zentrums- und Peripheriestrukturen und Religion, wofür Ivan Cankars Leben beispielhaft zu stehen scheint. Ransmayr schildert nicht nur ausführlich das Leben, sondern auch den historischen Hintergrund, vor dem sich Cankars Entwicklung als Schriftsteller und Politiker vollzog. Er betont, dass in Slowenien ein deutlicher Zusammenhang zwischen Sprache und Herrschaft bestand: »Wer deutsch sprach herrschte; wer slowenisch sprach, diente […].«16 Die Wahrheit der neuen Zeit war simpel: »Die Armen wurden ärmer, die Reichen reicher.«17 Cankars Kampf gegen die Unterdrückung schloss immer auch den Widerstand gegen die Kirche mit ein, aus deren »ideologischen Umklammerung« er sich zudem zu befreien versuchte.18 Ransmayr zitiert in der Reportage Joseph Roths Aussage in der Kapuzinergruft 19 , welche als »eine Grundwahrheit der Monarchie« gelten kann: »Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie … die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern«20 . Cankar, dem bis zu seinem Lebensende »die Utopie stets vertrauter blieb als deren minimalistische Version im konkreten politischen Erfolg«, sieht die Wahrheit in der Tatsache des Elends und in der Unterdrückung des Volkes, »auf dessen Rücken totalitäre Herrscher ihren Prunk entfalteten«21 . Er kam zu dem ernüchternden Schluss, dass »der schlechten Wirklichkeit nichts als die Hoffnung auf Befreiung und Gerechtigkeit entgegenzusetzen sei« – keine Taten.22
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Ebd. Ebd., 65. Ebd. Ebd., 66. Roth, Joseph. Die Kapuzinergruft. München: dtv 2016. Rebell zu Laibach (Extrablatt 5/1978), 66. Ebd., 67. Ebd.
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Die Kontrastierung von Zentrum und Peripherie dient Ransmayr in seinem Werk als zentrales Mittel der Darstellung seiner Kritik. In dieser Kontrastierung verbindet er Gegenwart und Vergangenheit, detailreiche Faktenrecherche und fiktive Zugaben zu einer neuen, erzählerischen Einheit, die den Leser:innen eine Authentizität und Glaubwürdigkeit vermittelt. Wie in Rebell zu Laibach werden in allen weiteren Reportagen die Ränder – die Peripherien – als Mitte betrachtet. Ransmayrs Konzentration auf die Randgebiete dienen als Reflexion des Zentrums. Was Roth noch für den Geist der Nation fordert,23 beanstandet Ransmayr für die soziale Gemeinschaft: An ihren Rändern zeige sich die »Wahrheit der Geschichte […] stets ein wenig deutlicher und […] grausamer«24 .
1.2 Dilettanten des Wunders. ›Monte-Verità‹ – Ausstellung in Wien (1979) Anlässlich der Ausstellungseröffnung im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts über den Monte Verità im Tessiner Ascona, dem »bedeutendsten Knotenpunkt der europäischen Rand- und Subkultur«, schrieb Ransmayr die Reportage Dilettanten des Wunders.25 Ziel der Ausstellung war es, »zu einer Neusicht über die mitteleuropäische Kulturgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte« zu führen.26 Auf dem ›Wahrheitsberg‹ vollzog sich zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg eine Bewegung von »Lebensreformern, Anarchisten, Psychoanalytikern und Künstlern«, die sich gegen Industrialisierung, Technisierung und Verstädterung ausgesprochen hat.27 Es sollte eine soziale und kulturelle Utopie verwirklicht werden: »Ihr zentrales Anliegen war die freie Entfaltung des durch Vermassung und Elend bedrohten Individuums.«28 Eine grundlegende Auffassung, die Horkheimer und Adorno teilen, da sie ebenfalls einen sozialen Rückgang als Konsequenz einer industriellen und massenmedial vermittelten Kulturproduktion als ausbeuterisches System aufdecken.29 Mitbegründerin des Monte Verità, Ida Hofmann-Oeden23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Roth: Die Kapuzinergruft, 17f. Die Insel der Anderen, (Extrablatt 6/1978), 19. Dilettanten des Wunders (Extrablatt 9/1979), 68. Ebd. Ebd. Ebd., 70. Schicha: »Kritische Medientheorie«, 106.
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koven, beschreibt ihre Vorstellung vom Wahrheitsberg in ihrem Buch Monte Veritá. Wahrheit ohne Dichtung von 1906: Der ›Monte Verità‹ ist keine Naturheilanstalt im gewöhnlichen Sinne, sondern vielmehr eine Schule für höheres Leben, eine Stätte für Entwicklung und Sammlung erweiterter Erkenntnisse und erweiterten Bewusstseins (diese Stätten werden sich mehren), befruchtet vom Sonnenstrahl des Allwillens, der sich in uns offenbart – vielleicht ein Hort für spätere Zeiten, wenn der Kontrast zwischen Idealismus und Materialismus, zwischen Freund und Feind, zwischen gesundem und krankem Leben, zwischen Lüge und Wahrheit oder gut und böse in der Erscheinungswelt zu gross geworden und der Kampf ums Dasein entweder Untergang oder Rettung erheischt. Weit vermag die Phantasie, noch weiter vermag ein heller Blick das Feld dieser Möglichkeiten zu überschauen – der Zukunft bleibt es vorbehalten, deren Geschichte niederzuschreiben.30 Auf einem Pfad zwischen Kapitalismus und Sozialismus forderten sie eine »Renaissance des Menschengeschlechts«31 , welche Reformen der Ernährung, Kleidung, Wohnkultur und eine sexuelle Revolution verlangte: Praktisch ging es dabei nicht um Revolutionen, sondern um den Ausstieg aus der Gesellschaft. Fortschritt wurde dabei identisch mit einer Rückkehr zur Natur. Vor dem Horizont trostloser Industriestädte erschien ein oft mystifiziertes Landleben als Ausweg.32 In der »Kulturstätte der Außenseiter« korrelierten widersprüchliche und ineinander verwobene kulturelle und politische Strömungen. Zum einen stand für das ›Gespenst der Freiheit‹: die Anarchie, welche erst im Abschied jeglicher patriarchalischen Herrschaftsstruktur eine neue Menschheitsgeschichte zulässt. Zum anderen wurden auch Vegetariertum, Körperkultur, Theosophie und Anthroposophie fokussiert. Psychoanalyse, Mythenforschung und schließlich die Künste bildeten weitere Schwerpunkte. Vor allem die Brüchigkeit der utopischen Vorstellung auf dem Monte Verità wird diskutiert: Was vermochte die Kultstätte wirklich zu sein? Vegetarisches Sanatorium
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Hofmann-Oedenkoven, Ida: Monte Verità. Wahrheit ohne Dichtung. Lorch: Karl Rohm 1906, 94. Dilettanten des Wunders (Extrablatt 9/1979), 70. Ebd.
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oder utopisches Experiment – Zukunftsmodell oder touristischer Betrieb?33 Im Laufe des zunehmenden Ansturms von Anhängern, Gelehrten, Flüchtenden und Touristen verstärkte sich auch eine Entwicklung, »die über die Vermarktung der Lebensreform einen Teil der Monteveritaner ebenjener kapitalistischen Gesellschaft wieder nahebrachte, die ursprünglich überwunden werden sollte«34 . Folglich scheiterte der Versuch auf dem Monte Verità, das Modell eines kommunistischen Ideals zu verwirklichen.35 Sieben Bilder, wohl der Ausstellung entnommen, illustrieren die bekanntesten Persönlichkeiten auf dem Monte Verità sowie die Ortschaft selbst: Zu sehen sind unter anderem der Besitzer des Wahrheitsbergs, Eduard Freiherr von der Heydt, mit Großfürst Alexander von Russland, Hermann Hesse als Kurgast, der Weltrekordhalter im Fasten, Arnold Ehret, und die drei Altanarchisten Ernst Frick, Max Nettlau und Raphael Friedberg. In der Reportage, in der Ransmayr einen historischen Abriss des Monte Verità in Ascona skizziert, betont er vor allem die Funktion der entworfenen »Gegenwelt«: Die ›Verrücktheit‹ der Tessinfahrer in Ascona […] spiegelte negativ und seitenverkehrt die ›Normalität‹ des übrigen Europa: Demokratiefeindlichkeit, soziales Elend, bürgerliche Zwangsmoral und Kriegsbereitschaft. Die vergleichsweise liberale Atmosphäre des Tessin hatte schließlich schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allen europäischen Kopfarbeitern als Zufluchtsstätte gedient, deren Köpfe in ihrer Heimat unbequem oder überhaupt zur Fahndung ausgeschrieben waren.36 Wie Ransmayr die Bedeutung der Utopie in der Reportage zu fassen versucht, lässt sich auch in seinem journalistischen wie auch später literarischen Werk wiederfinden: Dem Paradies bleibt immer nur die Zukunft. Die sogenannte Wirklichkeit verhängte bislang noch über alle Versuche, die Utopie in die Geschichte hereinzuholen […]. Diese Versuche waren indes auch stets ein flüchtiger Protest gegen den Glauben an einen unveränderlichen, versteinerten Ablauf der Ge-
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Vgl. Schwab, Andreas: Monte Verità – Sanatorium der Sehnsucht. Zürich: Orell Füssli 2003, 11f. Dilettanten des Wunders (Extrablatt 9/1979), 70. Vgl. hierzu auch Bollmann, Stefan: Monte Verità. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2017. Dilettanten des Wunders (Extrablatt 9/1979), 71.
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schichte, waren im Prozeß gegen Herrschaft und Elend Indizien dafür, daß, was ist, nicht alles ist.37 Es sei eben die Hoffnung auf das Paradies, die das Leben in einer katastrophalen Wirklichkeit erträglicher mache, »denn die Hölle begann schon an der bloßen Möglichkeit des Ideals abzukühlen«38 . Man beachte, dass das Paradies auch jeher »Schauplatz der Vertreibung« war: Der Mythos von Eden wurde nirgendwo deutlicher als in den Gefängnissen, Irrenanstalten und auf den Hinrichtungsplätzen – den letzten Stationen vieler, die vor dem Prinzip Herrschaft zurückgeflüchtet waren zur ›Mutter Erde‹ […].39 Rückkehr zur Natur, Dystopie und Utopie, Mythos, Gegenwelt und Abschied von patriarchalischen Herrschaftsstrukturen sind nicht nur grundlegenden Themen, die in dieser Reportage behandelt werden, sondern sich als zentrale Punkte im Gesamtwerk Ransmayrs herausstellen. Seine Kritik, dass das »was ist, nicht alles ist«, dient dabei als Leitgedanke.40
1.3 Solidarität mit Suppenkaspar. Kinder als Käufer (1980) Ransmayrs Kritik an der Konsum- und Marktwirtschaft zeigt sich besonders deutlich in Solidarität mit Suppenkaspar. Die Reportage richtet sich gegen die kulturellen Massenwaren. Ransmayr fordert ein kritischeres Bewusstsein der Konsumenten und mehr Solidarität gegenüber den Konsumverweigerern. Er bedient sich des Beispiels des Suppenkaspars, der, zwar ohne happy end, aber dennoch als Paradebeispiels des klassischen Verweigerers gelten kann: Daß aus dem pausbäckigen Fettling schließlich ein Konsumverweigerer werden konnte, der bis ins Kindergrab konsequent blieb, ist immer noch ein Rätsel und kein wünschenswertes Ideal. Aber der Ansatz, der war richtig.41 In Solidarität mit Suppenkaspar verurteilt Ransmayr, in einem wahrlich aufgebrachten Ton, die auf Profit gierende Spielwarenindustrie. Kinder sind Kon37 38 39 40 41
Ebd., 68. Ebd. Ebd. Ebd. Solidarität mit Suppenkaspar (Extrablatt, 1/1980), 68.
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sumenten ohne Filter und Eltern sind zu inkonsequent. An dieses verhängnisvolle Patt heften sich die Werbestrategien: Zunächst kaufen sich die Eltern noch mit Sehnsüchten der Kinder los – die mampfen, schlucken, kauen und lutschen brav am gezuckerten Ersatz – und später mit Geld. Spätestens dann aber gelten für Kinder und Eltern dieselben Gesetze: Kaufts, kaufts, kaufts!42 Die Werbung macht keinen Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem, wohingegen dem Kind der Erfahrungshorizont fehlt, um zwischen Werbung und anderen Inhalten unterscheiden zu können. Das Bild der Suggestionsbranche ist unkompliziert: Der Mensch verkommt zum bloßen Käufer, »der, in ›Zielgruppen‹ gepfercht, ständig an seine grandioseste Pflicht erinnert wird: konsumieren«43 . Der Kinder- und Jugendmarkt ist ein intransparenter Bereich geworden, der vom Geschäft der älteren Verbrauchergenerationen nicht mehr trennbar ist. Durch den massigen Konsum bereichert sich der österreichische Spielwareneinzelhandel jährlich um zwei Milliarden Umsatz. All das sei durch die Werbung möglich. Werbespots werden laut Ransmayr immer »infantiler«44 . Die österreichische Industriellenvereinigung versucht den »bösen Verdacht« zu entkräften, dass die freie Marktwirtschaft nicht vorhandene Bedürfnisse erzeugen, »ja sogar ›manipulieren‹!« würde. Dabei laufe in Wahrheit der Konsumerismus Gefahr, »zu einer Ideologie zu werden, die als Instrument zur Zerstörung unserer Wirtschaftsordnung« und als »Zerstörung der parlamentarischen Demokratie überhaupt verwendet werden soll«45 . Eine der großen Empörungen Ransmayrs bezieht sich auf die schamlose Ausschlachtung von Produkten der Fernsehlieblinge wie ›Biene Maja‹, ›Wickie‹ oder ›Pinocchio‹. Die Kinder haben sich als »ungeheuer konsumfähig« in Bezug auf ihre TV-Helden erwiesen, und eine Flucht vor dieser Verkaufsstrategie ist ausgeschlossen: [Es gab] schließlich nicht nur TV-Filme, sondern genauestens ›getimt‹ prangten die bald maßlos vertrauten Figuren dann auf Schultaschen, Postern, Anoraks und Leiberln. Filzstifte gab’s, Zeitschriften, Malbücher, Stunden-
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Ebd., 66. Ebd. Ebd., 67. Ebd.
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pläne, Schokolade und Bonbons – alles unter dem Zeichen derselben Mannschaft aus Tieren, Puppen und Mißgeburten.46 Ransmayr fasst zusammen, dass die Konsequenz »eines total gewordenen Konsums« zur Selbstvernichtung führt: »Sosehr zunächst auch ›gesellschaftlicher Pluralismus‹ an eine ›freie Marktwirtschaft‹ gebunden scheint, so sehr bedroht schließlich ebendiese Marktwirtschaft die Mündigkeit ihrer Mitglieder.«47 Das enorme Warenangebot verlangt eine aufgeklärte Entscheidungsfähigkeit – aber ebendiese Fähigkeit scheint gefährdeter denn je. Und das alles nicht zuletzt »durch immer suggestivere Propaganda und Werbemethoden, die über den tatsächlichen Gebrauch einer Ware so gut wie überhaupt nichts mehr aussagen«48 . Der bedürfnismanipulierenden Wirtschaft setzt Ransmayr als Schlussmetapher den Suppenkaspar gegenüber, dem es möglich war, konsequent jeglichen Konsum auszuschlagen. Die Gesellschaft soll sich ermutigt fühlen, sich solidarisch gegenüber dem Suppenkaspar, dem Konsumverweigerer per se, zu erklären. Die Reportage ist mit drei Bildern auf den jeweils drei Seiten Text versehen. Auf Seite eins ist die Originalfassung des Suppenkaspars aus dem Bilderbuch Der Struwwelpeter abgedruckt. Auf der zweiten Seite unterstützt ein Werbebild für das neumodisch elektronische Kinderspiel »Kampf im All« Ransmayrs Eingangsbild, dass Kinder immer den Drang verspüren, sich zu bekriegen: Vielleicht haben sich einige lebenswichtige Kunden gerade wieder einmal hinter dem Sofa verschanzt und aus Plastikmaschinenpistolen das Feuer auf einen imaginären Gegner eröffnet. Oder auf Tante Erna, die überraschenderweise zu Besuch gekommen ist. Kämpfende Kinder gehören jedenfalls zu den wichtigsten Abnehmern des Spielwarenhandels.49 In der Reklamebeschreibung heißt es, das Spiel sei »spannend, zeitgemäß, zukunftsknisternd« und »eine ganz neue Spiele- und Geschenke-Generation!«50 . Wer nicht hinter der Zeit bleiben oder mit der Angst, etwas zu verpassen, konfrontiert werden will, muss das Spiel unbedingt haben oder verschenken. Auf die Dringlichkeit des Kaufens nicht schon genug im Text hingewiesen, findet sich in der Reklameecke ein Bestellcoupon, mit dem die Ware sofort er46 47 48 49 50
Ebd., 68. Ebd. Ebd. Ebd., 66. Ebd., 67.
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hältlich ist.51 Die Reklame spiegelt Ransmayrs Blick auf die Manipulation der Industrie, die einzig und allein vermitteln möchte: »Kaufts, kaufts, kaufts!«52 Die letzte bildliche Beilage ist eine Zeichnung von ›Biene Maja‹ und ihren beiden Freunden ›Willi‹ und ›Flip‹, die mit einem Sticker versehen ist: »Der große Fernseh-Erfolg«53 . Ransmayr greift in seiner Reportage die wesentlichen Aussagen und Überlegungen des Kapitels Kulturindustrie aus Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung auf. Zwar zitiert er die beiden Philosophen nicht direkt wie in anderen Reportagen, die Zusammenhänge und Parallelen des Themas sind aber deutlich erkennbar. So greift er das Ergebnis ihrer Analyse auf, dass die Entmündigung der Konsumenten zur Entmündigung des Bürgers führe. Diese Entmündigung beherbergt wiederum die Gefahr von Machtmissbrauch und Herrschaftshierarchien. Der Mensch ist der Kulturindustrie ausgeliefert und kann sich ihr nicht entziehen. Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, daß sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen. Wie freilich die Beherrschten die Moral, die ihnen von den Herrschenden kam, stets ernster nahmen als diese selbst, verfallen heute die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des Erfolgs. Sie haben ihre Wünsche. Unbeirrbar bestehen sie auf Ideologie, durch die man sie versklavt. Die böse Liebe des Volks zu dem, was man ihm antut, eilt der Klugheit der Instanzen noch voraus.54
51
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Auch in Ransmayrs GEO-Reportage Die vergorene Heimat zieht Volker Mergenthaler die Verbindungen zwischen Textinhalt, Illustrierung und gezielt positionierter Werbung im Text über das österreichische Mostviertel: »Auf die photographische Praxis aufmerksam gemacht und animiert zum Nachdenken darüber, ob die Reportage über ›gute Bilder‹ verfügt, werden die Leserinnen und Leser durch eine zwischen den letzten beiden Seiten der Reportage platzierte Werbeanzeige der Firma Nikon […]« (Mergenthaler: »Spuren aus dem ›Anschlußjahr 1938‹ – Christoph Ransmayrs und Lois Lammerhubers GEO-Reportage ›Die vergorene Heimat‹«, 121). Solidarität mit Suppenkaspar (Extrablatt, 1/1980), 66. Ebd., 68. DdA, 155. Die »böse Liebe« der Opfer zur Industrie und ihr Streben nach unnatürlicher Perfektion, indoktriniert durch die Medien und Mode, demonstriert Ransmayr in seiner Reportage Böse Liebe. Ästhetik im Schaufenster (Extrablatt 2/1980).
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Ransmayr bestätigt mit zahlreichen Beispielen aus den Bereichen der Konsummöglichkeiten von Kindern, wie Spielzeuge, Schallplatten und Drogen, Adornos und Horkheimers Erkenntnis, mit welchen Mitteln die Gesellschaft von der Unterhaltungsindustrie hinters Licht geführt wird und welche realen verhängnisvollen Konsequenzen dies mit sich zieht. Das Bild des Suppenkaspars greift als Vergleich nicht mehr, wenn man die verschmähte Suppe durch gewünschte Süßigkeiten ersetzen würde. Die Produktindustrie wirbt mit Dingen, die der Konsument vielleicht nicht braucht, aber als attraktiv und wünschenswert empfindet. Der Suppenkaspar trifft die eigentlich gewünschte Aussage nicht ganz. Man versteht den Vergleich, aber der Ansatz ist ein anderer. Ähnliche Kritik gegenüber der österreichischen und vor allem auch Wiener ›Hochkultur‹ liest sich in den Reportagen Was heißt’n hier Kultur, Salzburger Rechenbeispiele, Kulturelle Hofreitschule, Ganz hinten ganz oben und Rotierendes Fossil. In Was heißt’n hier Kultur wirft Ransmayr den Wiener Festwochen eine kulturpolitische Konzeptlosigkeit vor, welche vorgaukelt, die österreichische Hauptstadt sei eines der bedeutendsten Kulturzentren Europas.55 Auch in Salzburger Rechenbeispiele ist der Kritikpunkt eine kulturpolitische Vernachlässigung und Scheinerhaltung falscher Tatsachen, um die sich die Salzburger Festspiele drehen. 17 Jahre später, 1997, eröffnet Ransmayr ironischerweise die Festspiele und wird im Jahr 2000 als ›Dichter zu Gast‹ ernannt.56 Die Kulturelle Hofreitschule dient als Aufmacher und Beispiel der »gequälten Kulturgemeinde Wien«. Ransmayr belegt dies mit Horkheimers und Adornos Zitat: »Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur.«57 Ganz hinten ganz oben ist ein Verriss der Aufführung von Aida in der Wiener Stadthalle: Ransmayr beanstandet die übertriebene Größe und Inszenierung der Aufführung und der damit verbundenen Kritikerszene, die unverständlicherweise voller Lob ist. Mit überzogen ernstem Ton scherzt er über die ›Hochkultur‹, welche eine hochzufriedene Rezensentin vom »Kurier« im Durchschnitt auf »16 Meter hoch und 64 Meter tief« zu schätzen versucht.58 In Rotierendes Fossil ist die ›Holiday-On-Ice‹-Show ein Bespiel dafür, dass das Neue an der massenkulturellen Phase der Ausschluss des Neuen sei und »eine immer gleiche Unterhal-
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Was heißt’n hier Kultur (Extrablatt, 5/1980). Salzburger Rechenbeispiele (Extrablatt, 8/1980). Kulturelle Hofreitschule (Extrablatt, 5/1979), 52. Ganz hinten ganz oben (Extrablatt, 11/1980), 70.
1 Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982)
tung produziert«59 . Ransmayr kritisiert in diesen Beiträgen vor allem das Modell der Großereignisse, das vermeintliche ›Kultur‹ vortäuschen und kleinere Gruppierungen verstoßen und zurückdrängen würde.
1.4 Beihilfe zum Glück. Fotografie als Strategie (1980) In Beihilfe zum Glück schildert Ransmayr den Versuch des Sozialfotografen Gunter Rambow und einer Gruppe von Grafikdesignern der Gesamthochschule Kassel, mit einer Kunstaktion das Medium der Fotografie in ihre ursprüngliche Aufgabe der Aufklärung zurückzuführen. Im Kasseler Schlachthofviertel der Nordstadt hingen fast 50 Bilder in Großformat an der straßenlangen Backsteinmauer eines vor Jahren stillgelegten Henschelwerks. Abgelichtet wurden Armut, Leid und miserable Lebensumstände ansässiger »Einwohner«, darunter Gastarbeiter, Ladenbesitzer, Hausfrauen, Schulklassen, Angestellte, Rentner und Prostituierte. Alle fühlten sich mit einbezogen: Selbst auf dem Heimweg von der Arbeit hielt man das Auto an, als Fußgänger wurde man langsamer, blieb stehen. Betrachtete (›Ich gucke grade, ob wir auch drauf sind‹). Staunte (›Ich dachte, ich seh´ nicht richtig‹). Diskutierte (Ja, das ist das Schicksal der kleinen Leute‹). Unter den ›Ausstellungsbesuchern‹ war dabei kaum einer, der nicht den einen oder anderen Abgebildeten gekannt hätte. Oder wenigstens die Straße, den Häuserblock, aus dem die Menschen auf den Fotos kamen. ›Zum Beispiel das Ehepaar da oben, die Metzger‹, erinnert sich ein Passant, ›die kenn´ ich noch, da war ich so ein kleiner Pimp – nichts wie Schulden, ne.‹60 Die Fotoaktion sollte die soziale und politische Situation und deren Veränderungsbedürftigkeit vor Augen führen und vor allem Öffentlichkeit und Bewusstsein herstellen: »Erst wenn einer über seine Situation ›im Bilde‹ ist, kann er sie auch verändern wollen.«61 Die Wahl des Großformats, welches »ansonsten der Werbung für Waren und Ideologien vorbehalten« war, kam dieses Mal der »Selbstdarstellung eines ganzen Stadtteils« zugute.62 Zu dem erklärten Ziel des »Straßenfotoalbums«
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Rotierendes Fossil (Extrablatt, 2/1981), 71. Beihilfe zum Glück (Extrablatt 10/1980), 76. Ebd., 77. Ebd., 76.
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gehört »die politische Rehabilitierung eines von ›Werbung und Bildjournalismus oft bis zur Unkenntlichkeit verschlissenen Mediums.‹ Des Mediums der Fotografie.«63 Bei der Aktion handelt es sich aber nicht um eine fotografische Überlieferung von Unglück, sondern um eine fotografische »Beihilfe zu einem Glück«64 . Die Fotografie soll als soziale Strategie, als Mittel gesellschaftlicher Veränderung fungieren. Die Reportage enthält mehr O-Töne von Besuchern, Beobachtern oder Anwohnern als die restlichen Texte. Es ist ein sehr gesellschaftsnaher Beitrag, in dem Ransmayr die Leute, die gezeigt werden, auch zu Wort kommen lässt. Ein einzelnes Foto der Backsteinmauer und der daran befestigten Großaufnahmen bebildert die Reportage. In Beihilfe zum Glück illustriert das Bild nicht mehr das Wort, vielmehr das Wort das Bild.65 Susan Sontag ist der Auffassung: durch die Fotografie allein »kann eine moralische Position zwar nicht geschaffen, wohl aber verstärkt und – im frühen Entwicklungsstadium – gefördert werden«66 . Für Roland Barthes sollen journalistische Fotos nicht nur Botschaften übermitteln – »die Pressephotographie ist eine Botschaft«67 . Es geht darum, »menschliche Gruppen zu untersuchen, Beweggründe und Einstellungen zu definieren und zu versuchen, das Verhalten dieser Gruppen mit der Gesamtgesellschaft, der sie angehören, zu verknüpfen«68 . Ransmayr führt aus der Vergangenheit weitere Beispiele an, bei der die Fotografie eine solche Funktion innehatte: ›Die Kamera sei Waffe im Klassenkampf‹, haben schließlich die deutschen Arbeiterfotografen der zwanziger und dreißiger Jahre gefordert. Und die im kalten Krieg als ›kommunistisch‹ verschrieenen Unternehmungen der New Yorker ›Photo League‹ liegen schon vierzig Jahre und mehr zurück. Die Fotografen dieser Liga hatten den Bewohnern der New Yorker Ghettos Kleinbildkameras in die Hände gedrückt und sie zur fotografischen Bestandsaufnahme ihrer katastrophalen Lebensumstände gebracht.69
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Ebd. Ebd. Vgl. Barthes, Roland: »Die Photographie als Botschaft (1961)«. In: Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie, herausgegeben von Peter Geimer. Berlin: Suhrkamp 2015, 87. Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt a.M.: Fischer 2013, 23. Barthes: »Die Photographie als Botschaft (1961)«, 77. Ebd. Beihilfe zum Glück (Extrablatt 10/1980), 77.
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Die Großbilder legten keinerlei Wert auf Ästhetisierung. Sie wurden dort gezeigt, wo sie auch aufgenommen worden waren – und denen gezeigt, für die sie gedacht waren. Als Hilfsversuch, den Wohnwert des Viertels zu steigern und attraktiver zu machen, zog die Kasseler Hochschule nach dem Abschluss der Aktion in die Nordstadt um. Der Versuch hinterließ aber einen bitteren Nachgeschmack der Gentrifizierung, als dadurch die Mieten um bis zu 120 % anstiegen und dies für viele Bewohner die Vertreibung aus ihrem Wohnort bedeutete. Die ursprünglich guten Absichten scheiterten und manchen Ansässigen ging es nun vielmehr darum, »einen Abstieg in die hiesigen Obdachlosensiedlungen zu verhindern«70 . Ransmayr beschäftigt sich, wie im Großteil seiner Reportagen, mit einem Randgebiet, welches außerhalb des vermeintlichen Einzugsbereichs der Öffentlichkeit liegt. Es ist eine tragische Schilderung eines gutgemeinten Versuchs, der ein ungutes Ende findet. Die Fotografie als Medium der Transparenz und Verbildlichung von Missständen dient in dieser Reportage einem anderen Zweck als noch in Solidarität mit Suppenkaspar. Ransmayr unterstützt den Gedanken, dass die Fotografie ihre ursprüngliche Funktion zurückerhalten solle. Was zuvor der Werbung für Produkte und Ideologien vorbehalten war, ließe sich wieder für Dokumentation und Aufklärung einsetzen.71 Vom »Bildjournalismus verschreckt« müsse man dem Medium erst wieder vertrauen lernen, denn wie Bertolt Brecht schon 1931 formulierte: »Der Photographenapparat kann ebenso lügen wie die Setzmaschine«72 . Der Fotografie hängt ein schlechtes Image an, welches Adorno und Horkheimer in ihrer Kritik an der ›Kulturindustrie‹ zu formulieren versuchten: Bilder werden missbraucht, um eine Begierde zu schaffen, deren Bedarf eigentlich nicht vorhanden ist. Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht. […] Der Begierde, die all die glanzvollen Namen und Bilder reizen, wird zuletzt bloß die Anpreisung des grauen Alltags serviert, dem sie entrinnen wollte.73 Das Bild oder die Fotografie amtierten als Medium des Massenbetrugs. Die Dialektik von Betrug und Wahrheit erschwert die Loslösung der Negativkon-
70 71 72 73
Ebd. Ebd., 76. Ebd., 77. DdA, 161.
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notation der Fotografie. Ransmayr schreibt Reportagen, um Missstände aufzudecken und ein Stück Aufklärung zu betreiben. Für ihn kann Fotografie als »Beihilfe zum Glück« gegen den Missbrauch von Werbung und Ideologie dienen.
1.5 ›Eure Schalen sind voll Schweiß und Tränen‹. Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (1981) Ransmayrs Herrschaftskritik entwächst aus dem Hegemonieanspruch Europas. Der Kolonialismus und der Eurozentrismus sind Folgen des fehlgeschlagenen Modells der Aufklärung – ein Thema, das dem jungen Autor bereits im Ethnologiestudium begegnete und ein immer wiederkehrendes Motiv darstellt. So auch in einer seiner ›Auslandsreportagen‹ Illustrierte Mitteilung für den Teefreund: Am Beispiel eines Arbeitstages auf der »Norwood Estate« Teeplantage auf Sri Lanka beschreibt Ransmayr die menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der dortigen Teepflückerinnen. Was mancher als Paradies auf Erden beschreibt, erweist sich für die Einwohner als Hölle auf Erden. Mit einer nur durchschnittlichen Lebenserwartung von 45 Jahren sammeln die Teearbeiter jeden Tag unter der Kontrolle eines Aufsehers den vorgeschriebenen Plansoll von 20 Kilo gepflückter Teeblätter, um im Gegenzug eine Unterkunft halten und umgerechnet knappe zwei Kilo Reis oder ein Kilo billigsten Trockenfisch kaufen zu können: »Für viele hat sich das gelobte Land als Friedhof erwiesen.«74 Die getrockneten Blätter werden zu Niedrigpreisen an den großen Teebörsen von London, Nairobi, Colombo und Kalkutta versteigert. Der Tee repräsentiert jenen »blindwütigen Kolonialismus, der im Geschäftsinteresse Europas in allen seinen Phasen jahrtausendalte Kulturen vernichtete und ihre Träger ausrottete oder in die Steinzeit zurücktrieb: die Mission des europäischen Geistes.«75 Die Reportage ist mit Bildern des Fotografen Herwig Palme illustriert, der mit Ransmayr schon zuvor in Solo i fessi stanno laggiù und Eine Art Wohnzimmer 76 zusammenarbeitete. Die Fotos, so heißt es auf der Titelseite der Reportage, erschienen bereits im Rahmen von Palmes Fotobericht Ceylon – Stille Tropen im Europa-Verlag.77 Die sechs
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Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (Extrablatt 4/1981), 86. Ebd., 87. Solo i fessi stanno laggiù (Extrablatt 11/1979) und Eine Art Wohnzimmer (Extrablatt 4/1980). Palme, Herwig: Ceylon – Stille Tropen. Ein Fotobericht. Wien: Europaverlag 1975.
1 Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982)
Fotografien zeigen die drastischen Lebensumstände und die Feldarbeit der tamilischen Teearbeiter und dokumentieren auf eindringliche und authentische Weise die Zustände vor Ort. Tatsächlich habe sich in kaum einem anderen Bereich die Brutalität des westlichen Rationalismus und Kolonialismus gegenüber dem östlichen Bewusstsein geschäftstüchtiger gezeigt als im Anbau und Export von Tee. Die Kulturen und Traditionen, die die asiatischen Länder mit dem Tee verbinden, wurden von der westlichen Welt vollkommen ignoriert. Ransmayr zitiert in der Reportage den japanischen Gelehrten Kakuzo Okakura78 : »Der Teekult ist die einzige asiatische Zeremonie, die sich allgemeiner Wertschätzung erfreut. Die weiße Rasse hat unsere Religion und unsere Moral verspottet, aber das braune Getränk hat sie ohne zu Zögern angenommen.«79 Es lässt sich nicht nachvollziehen, wie der Reichtum an philosophischem Gedankengut und eine 5000-jährige Kulturgeschichte des Tees im Westen keinerlei Spuren hinterlassen konnten. Ransmayr kommentiert zynisch, dass Europa den Bräuchen mit der gleichen Ignoranz gegenüberstünde, »von der auch die übrigen Begegnungen mit außereuropäischen Kulturen gezeichnet war«80 . Weiter hält er hämisch fest: ›Teefreund‹ darf sich gegenwärtig schließlich jeder nennen, der weiß, daß er seinen Aufguß knapp drei Minuten ziehen lassen muß, wenn er eine ›anregende‹ – und mindestens fünf Minuten, wenn er eine ›beruhigende‹ Wirkung erreichen will. Und der im übrigen sein maschinell abgepacktes Teebeutelchen beim Genuß nicht mitverschluckt.81 Am Beispiel Sri Lankas führt Ransmayr die Ausbeutung der »blutigen Kolonialisierung« aus. Bereits in den ersten Jahren der Plantagenwirtschaft starben auf dem Inselstaat, der vorher keinerlei Tee anbaute, 70.000 Tamilen, die gegen ihren Willen von den Briten zu Hunderttausenden umgesiedelt wurden, um auf den Feldern zu arbeiten. Die unerwünschte und diskriminierte landesfremde Minderheit der tamilischen Teearbeiter wurde im Zuge der Repatriierung wieder zurück nach Südindien deportiert, welches die inzwischen
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Okakura war japanischer Kunstwissenschaftler, der die traditionellen Künste Japans erforschte und weltweite Bekanntheit mit seinem Buch über Tee erlangte: Okakura, Kakuzō: Das Buch vom Tee. Frankfurt a.M.: Insel 1979. Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (Extrablatt 4/1981), 90. Ebd., 87. Ebd., 88.
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in nächster Generation Lebenden bisher noch nie gesehen hatten. Zurück in Indien starb jeder vierte in den ersten fünf Jahren an Hunger, während »an der Teebörse von Colombo die meisten der etwas 600 angebotenen Teesorten nach wie vor zu Niedrigpreisen verschleudert« werden.82 Es ist eben nicht nur der Kolonialismus, sondern die daraus resultierende globale Marktwirtschaft, die als Ursache und Verantwortliche für die noch immer aktuelle Situation der Ausbeutung steht: Der Teepreisverfall ist nicht zuletzt das kalkulierte Ergebnis jener Expansionspolitik multinationaler Teekonzerne wie ›Brooke Bond Liebig‹, der ›Unilever‹-Tochter ›Liptons‹, ›Lyons‹ oder ›Thyphoo‹, die in den letzten Jahren verstärkt in afrikanische Tee-Anbaugebiete in Kenya, Malawi, oder Uganda und auch in lateinamerikanische Plantagen – vor allem in Argentinien – investieren.83 Dem Leid der Ausgebeuteten wird der Wohlstand der Österreicher auf einer großen Werbeanzeige auf der letzten Seite der Reportage entgegensetzt. Eine überwiegend weiße und leere Reklame für Österreichs Stromversorgung Verbundgesellschaft zeigt eine gezeichnete Glühbirne, auf der fettgedruckt »Denke! Danke.« steht.84 Links und rechts davon befindet sich die Ermahnung: Denken Sie einmal darüber nach, wie einfach und selbstverständlich es für Sie ist, jederzeit Strom zu haben. Zu Hause und am Arbeitsplatz. Ganz einfach? Rund um die Uhr sind wir bemüht, Ihnen elektrischen Strom in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen. Wir bauen Kraftwerke und Leitungen, damit Sie ihn auf Knopfdruck einsetzen können. Strom ist unsere sauberste und kostbarste Energie, verwenden Sie ihn daher sinnvoll! Danke, daß Sie daran denken!85 Ransmayrs Kritik von 1981 ist für ihn heute aktuell wie damals: »Europa hat seine Rechnungen aus der Kolonialzeit nie gezahlt.«86 Während in anderen Ländern die Menschen aufgrund der kolonialen Ausbeutung leiden und sterben,
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Ebd., 89. Ebd. Ebd., 90. Ebd. Ransmayr, Christoph: »Europa hat seine Rechnungen aus der Kolonialzeit nie gezahlt«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2018, 12.
1 Extrablatt – Österreichs illustriertes Magazin für Politik und Kultur (1978–1982)
erhält der Österreicher Strom auf »Knopfdruck« und hält dies für eine Selbstverständlichkeit. Die Aufforderung der Reklame – »Denken Sie einmal darüber nach […]« – schlägt den Bogen zu Ransmayrs Aufklärungsbedarf über die destruierenden Zustände in Sri Lanka und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten gegenüber dem Wohlstand Europas in Eure Schalen sind voll Schweiß und Tränen.87 Die Reportage endet mit einem bedeutungsschweren Bild, welches die Situation, aber auch die traurige und wütende Beobachtung zusammenfasst: Der japanische Gelehrte Okakura beschrieb den ›Teeraum‹ – jenes schlichteste und vollendetste Zeichen der östlichen Teekultur – als ›eine Oase in der trostlosen Wüste des Daseins‹. Der Reisende freilich, der gegenwärtig von Nuwara Eliya nach Kandy durch das Bergland fährt, wird in den Elendsquartieren der Plantagen keine Teeräume finden. Was den Menschen dort geblieben ist, ist die Wüste.88 In einer solchen Wüste lässt Ransmayr in seiner ersten literarischen Veröffentlichung Strahlender Untergang – mit dem Ziel der Selbsterkenntnis – das Übel der Welt verschwinden: den Menschen.
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Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (Extrablatt 4/1981), 90. Ebd.
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2 TransAtlantik (1982–1986)
Das deutsche Kulturmagazin TransAtlantik, welches monatlich ab Oktober 1980 erschien, wurde nach den Vorstellungen und dem Konzept einer Publikumszeitschrift von Gaston Salvatore und Hans Magnus Enzensberger gegründet und nach 82 Ausgaben im März 1991 wieder eingestellt.1 Die sehr kleine Redaktion bestand aus nur 4 Personen2 sowie der Herausgeberin Marianne Schmidt und den bereits genannten Ideengebern Enzensberger und Salvatore, die sich eine Zeitschrift ausgedacht haben, »die sich partout dem uniformierten Geschmack verweigert«3 . Der New-Mag-Verlag warb in einem Werbeprospekt über den Magazinneuling: TransAtlantik sei »ohne Vorbild, ohne Ebenbild, ohne Konkurrenz«4 . Das Hauptinteresse des Magazins lag in der »Untersuchung der Wirklichkeit mit literarischen Mitteln«5 . Diese literarischen Mittel sind in erster Linie die Reportage und in zweiter Linie der Essay.6 Laut Enzensberger sei die große Tradition der literarischen Reportage abgerissen und müsse zu ihrer ursprünglichen Form zurückfinden:
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Raddatz, Fritz J: »Die Wahrheit ist immer riskant. ZEIT-Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger über die neue Zeitschrift ›TransAtlantik‹«. In: Die Zeit, 19.09.1980. Redaktion: Karl Markus Michel, Michael Rutschky, Katharina Kaever und Bildredaktion: Bernd Bexte. Wieser, Harald: »Heinrich Heine im Alfa Romeo. Spiegel-Redakteur Harald Wieser über die neue Monatszeitschrift ›TransAtlantik‹«. In: Der Spiegel, Nr. 40, 28.09.1980, 245. Ebd., 247. Wieser zieht bezüglich einer Reportage von Lothar Baier über den Mord an Jean de Broglie in TransAtlantik ebenfalls den direkten Vergleich zu Egon Erwin Kisch. Er sei sich sicher, Baier hätte »den großen Reporter Kisch« zu seinen Freunden gehabt, denn er beweise, dass »die Aufklärung über die herrschenden Zustände ein spannender Kriminalroman sein kann«. Ebd. Raddatz: »Die Wahrheit ist immer riskant«.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Der Journalismus, den die Illustrierte verlangt, wird von der Farbphotographie bestimmt. Das Bild erschlägt den Text. Bei einer großen Illustriertenreportage gibt der Photograph den Ton an. Der Platz des Autors ist unerträglich eingeschränkt. […] Die Tages- und Wochenpresse hat aus Aktualitäts,- oder aus Umfangsgründen, vielleicht auch aus Geldgründen, gar nicht den Platz für große Reportagen. Wer einen komplizierten Sachverhalt erforschen und darstellen will, braucht vielleicht 30 Schreibmaschinenseiten Platz und sechs Wochen Zeit.7 Salvatore und Enzensberger missfielen die »schreiend bunten Fotostrecken auf Hochglanzpapier« und der dazu im Verhältnis zu gering ausfallende Textanteil in Zeitschriften.8 ›Fette Schlagzeilen‹ auf der Titelseite empfanden sie als vulgär, weswegen sie sich dafür entschieden, den redaktionellen Teil in Schwarzweiß zu halten: »Alles Bunte sollte der Reklame überlassen bleiben, die solche Hemmungen nicht kannte.«9 TransAtlantik ist »eine Zeitschrift, in der ein Autor seiner Sache tatsächlich auf den Grund gehen kann«10 . Enzensberger und Salvatore war es überaus wichtig einen neuen Weg des Journalismus einzuschlagen – weg vom damals breit rezipierten »Meinungsjournalismus«11 . Es solle eben verhindert werden, dass den Leser:innen am Ende eines Essays oder einer Reportage eine Meinung oktroyiert wird, die unreflektiert bestehen bleibt. Diese Art von Journalismus führe nämlich zur Unterschätzung der Leser:innen, was Enzensberger vehement ablehnt: Im Fernsehen ist diese Enteignung vom eigenen Urteil am prägnantesten. Man wird immer von irgendwelchen Moderatoren, Kommentatoren und Seelsorgern bei der Hand genommen. Mich erbittert das. Zumindest wir, also die Leute, die diese Zeitschrift machen, haben das satt.12 Er greift Horkheimers und Adornos Kritik an der Kulturindustrie auf, welche in den Medien und deren vorgebender Meinung die Autonomie und Souveränität der Menschen vernichtet. Salvatore und Enzensberger wollten mit dem Feuilleton nicht »um die prominenten Autoren des Tages konkurrieren, 7 8 9 10 11 12
Ebd. Enzensberger, Hans Magnus: Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin. Berlin: Suhrkamp 2011, 128. Ebd., 129. Raddatz: »Die Wahrheit ist immer riskant«. Ebd. Ebd.
2 TransAtlantik (1982–1986)
sondern neue und hungrige Verfasser finden, die als Reporter in Frage kamen«13 . Im Zuge dessen förderte TransAtlantik viele junge Autor:innen wie unter anderem Bodo Kirchhoff, Irene Dische, Martin Mosebach, Angelika Overath und Christoph Ransmayr. Als Reportagenmagazin bot TransAtlantik den Schriftsteller:innen eine Plattform für jene Art von Texten, wie Ransmayr sie selbst schon bei Extrablatt geschrieben hat. In einem Interview mit Mia Eidlhuber und Stefan Gemünder von 2011 erinnert sich der Autor: Diese Monatszeitschrift war damals für Leute, die Reportagen oder für das Feuilleton schrieben, so etwas wie ein Wallfahrtsort. […] Ich habe mich in meinem Leben niemals irgendwo beworben – mit einer Ausnahme: das TransAtlantik. Ich bin damals nach München gepilgert, habe dort den verehrten Berühmtheiten und späteren Freunden Essays und Reportagen vorgelegt und dafür einen ersten Auftrag bekommen.«14 Ransmayr veröffentlichte bei TransAtlantik zwischen den Jahren 1982 und 1986 insgesamt acht Reportagen. Vier davon verfasste er gemeinsam mit Martin Pollack und eine mit Rudi Palla.
Titel
Heft, Jahr, Seite
Illustrationen
Die Königin von Polen. Eine politische Wallfahrt * (und Sanctus)15
H. 8, 1982, 16–24 (H. 8, 1982, 6f.)
Tilmann Michalski (Monika Neubacher)
Kaiserin Zitas Weg in die Kapuzinergruft *
H. 11, 1982, 29–37
/
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Enzensberger: Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin, 128. Eidlhuber, Mia und Stefan Gmünder: »Erzählen im Duett. Wie schreiben zwei Schriftsteller eine Geschichte? Martin Pollack und Christoph Ransmayr erzählen, wie das geht«. In: Der Standard, 23.09.2011. Ransmayr und Pollack schrieben im Heft 8/1982, im gleichen Heft, in dem ihre erste gemeinsame Reportage Die Königin von Polen. Eine politische Wallfahrt abgedruckt wurde, einen weiteren kleinen Beitrag zur Heiligsprechung unter dem Titel Sanctus in der Rubrik Journal des Luxus und der Moden. Ihre Mitarbeit am Journalteil ist lediglich im Impressum der Ausgabe vermerkt, Sanctus (TransAtlantik 8/1982).
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Titel
Heft, Jahr, Seite
Illustrationen
Der Zweckheilige. Ermittlungen gegen das Heldentum mit Martin Pollack
H. 3, 1983, 28–33
/
Kakerlaken-Chronik. Invasion im Untergrund mit Martin Pollack
H. 5, 1983, 20–25
Joachim Bode
Der letzte Mensch mit Rudi Palla **
H. 6, 1983, 65–74
Julius Payer
Nach dem Ebenbild der Welt. Eine Schöpfungsgeschichte mit Martin Pollack **
H. 2, 1985, 73–76
Luigi Serafini
Sieh, das Gute liegt so nah. Ablenkung am Rande der Gesellschaft *
H. 4, 1985, 36–39
Willy Puchner
Leon. Zwischen Ghetto und gelobten Land mit Martin Pollack
H. 1, 1986, 91–93
/
* auch in Ransmayr: Der Weg nach Surabaya, 1997. ** auch in Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt, 1997.
Ransmayr machte Enzensberger auf Martin Pollack aufmerksam. Als Ransmayr 1982 für eine Reportage in TransAtlantik über die Marienverehrung in Tschenstochau recherchierte, wurde ihm zunächst ein Einreisevisum verweigert, weswegen er sich »in Flüchtlingslagern und polnischen Gemeinden in Österreich« umhört, wo er auf den »Polen-Experten« Martin Pollack trifft.16 Aus ihrer ersten Begegnung entwickelt sich schnell eine enge Freundschaft und eine ebenso intensive wie erfolgreiche Arbeitsgemeinschaft. Während ihrer gemeinsamen Zeit bei TransAtlantik schreiben sie »im Duett« und verfassen vier Reportagen. In der folgenden Analyse soll herausgearbeitet werden, inwiefern sich die Texte literarisieren. Die gemeinsame Schreibarbeit von Pollack und Ransmayr steht dabei im Fokus, da sich aus den individuellen Schreibstilen ein gemeinsamer Stil entwickelte, »der anders war als [Martin Pollacks] oder derjenige Christophs«17 . Ransmayr resümiert:
16 17
Eidlhuber und Gmünder: »Erzählen im Duett«. Pollack: »Gnadenlose Genauigkeit«, 134.
2 TransAtlantik (1982–1986)
Martin Pollack ist bis zum heutigen Tag der einzige Mensch für mich geblieben, mit dem das unter Autoren oft für unmöglich Gehaltene wenigstens im Rahmen einzelner Geschichten oder Reportagen möglich wurde: Gemeinsames Schreiben, gemeinsames Formulieren, das am Ende zu Texten führte, die weder ganz Martins noch ganz meinem Ton und Duktus entsprachen, sondern zum Ausdruck wurden von etwas Seltsamen, Unerhörtem – einer dritten Stimme.18
Literarisierung in TransAtlantik Ransmayrs Texte in TransAtlantik bewegen sich an einer schmalen Grenze zwischen journalistischer Reportage und literarischer Erzählung. Die Freiheit des Autors liegt für ihn darin, die recherchierten und gesammelten Fakten »mit allen sprachlichen Mitteln in Wahrheit verwandeln zu dürfen«19 : Man spricht oft von der journalistischen Recherche für einen Roman, von der Verflechtung der Tatsachen mit erzählerischer Fantasie, man spricht aber wenig vom Romanhaften im Journalismus. Dabei sind die erzähltechnischen Zugänge nicht so unterschiedlich. Für mich war Schreiben immer unteilbar, gleichgültig, ob das Resultat eine Reportage, eine Erzählung oder ein Roman sein sollte. Es ging immer darum, sich der Welt zuzuwenden, ihren unzähligen Quellen, ihren Menschen.20 Für Ransmayr stellen sich bei der Gestaltung eines Textes die gleichen Fragen für den Schriftsteller wie für den Reporter: »Soll ein allwissender, unsichtbarer Erzähler sprechen? Oder ein Ich mit Namen und Anschrift?«21 Er findet für seine Geschichten die richtige Erzählform, indem er ihren Gestalten, Quellen und Hintergründen die Zeit und den Raum lässt, die sie einfordern und brauchen. Ransmayr gelangt als Schriftsteller und auch als Reporter zur Einsicht: »Es gibt nur Erzählungen, nichts anderes.«22 In seiner Co-Autorschaft mit Martin Pollack beschreibt der Österreicher den gleitenden Übergang von der reinen Faktensammlung zu den Zugaben fik-
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Ransmayr, Christoph: »Die dritte Stimme. Erzählen mit Martin Pollack«. In: Die Rampe. Porträt mit Martin Pollack, herausgegeben von Gerhard Zeilinger. Linz: Trauner 2017, 121. Eidlhuber und Gmünder: »Erzählen im Duett«. Ebd. Ebd. Ebd.
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tiver Elemente, der »Verwandlung von etwas in Sprache«. Die Texte wurden erst aus der Erinnerung an die Wirklichkeit geschrieben und erhielten so eine andere Sphäre von Wahrheit: Die [dritte] Stimme erinnerte sich plötzlich an Landschaften, Klänge und Farben, die wir bis dahin mit keinem Wort bedacht oder auch einfach vergessen hatten, und versetzte uns an Orte zurück, die schon seit Jahren hinter uns lagen, und ließ sie noch einmal gegenwärtig werden. […] Unsere gemeinsamen Reiseberichte führten am Ende aber nicht nur Martin und mich, sondern später auch die Leserschaft ohne großes Aufsehen immer wieder aus der Realität unbezweifelbarer Koordinaten, Namen und Zeiten in eine tief unter allen Sicherheiten und Wahrnehmungsgarantien gelegene Welt. Manche Konturen der Wirklichkeit schienen sogar erst sichtbar zu werden, je tiefer wir in ihre Schichten eindrangen.23 Pollack und Ransmayr sorgten bereits 1983 mit ihrer ersten Reportage Der Zweckheilige24 mit der Demontage einer österreichischen Heldengeschichte für Aufsehen. Der Co-Autor stieß im Zuge von Recherchearbeiten auf die Geschichte des in Polen als Held gefeierten österreichischen Wehrmachtssoldaten Otto Schimek, der aufgrund der Befehlsverweigerung zur Geiselerschießung exekutiert wurde. Pollack erzählte die Geschichte gleich zweimal. Beim ersten Mal dem Mythos noch folgend, wandte er sich beim zweiten Mal aufgrund von Unstimmigkeiten in der Geschichte an Ransmayr, um gemeinsam die Vergangenheit zu rekonstruieren. Es stellte sich zügig heraus, dass der 19-jährige Soldat 1944 hingerichtet wurde, weil er weder Pazifist noch Widerstandskämpfer, sondern Deserteur war. Pollack und Ransmayr entmystifizieren die Heldensaga und zeigen einen »Unschuldigen«, der letzten Endes schlichtweg »am Krieg nicht interessiert« war.25 In ihren Reportagen loten Ransmayr und Pollack gemeinsam die Möglichkeiten der dokumentarischen Literatur aus. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität erweisen sich in ihren TransAtlantik-Reportagen als fließend, was Pollack in Gedanken an seine Zusammenarbeit mit Ransmayr bestätigt: Ransmayr ist ein genauer Beobachter und ein sorgfältiger, penibler Rechercheur. Was er sich vorstellt oder gesehen hat, kann er in eine plastische Spra-
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Ransmayr: »Die dritte Stimme. Erzählen mit Martin Pollack«, 122. Der Zweckheilige. Ermittlungen gegen das Heldentum (TransAtlantik 3/1983), 28–33. Ebd., 33.
2 TransAtlantik (1982–1986)
che fassen. Diese Qualitäten zeichnen seine Reportagen und seine erfundenen Geschichten aus. Wie Ransmayr selber schätze ich den Unterschied zwischen den journalistischen und den fiktionalen Werken eher als gering ein. Typisch für ihn ist, dass er vom Faktischen zum Fiktionalen kommt.26 Auffällig ist nicht nur die Symbiose der Sprache beider Schriftsteller, sondern auch das Zusammenspiel von Bild und Text. Als wesentlicher Punkt im Übergang von Reportage in Erzählung erweist sich das Text-Bild-Verhältnis der Geschichten und seine Bedeutung – gerade auch in Bezug auf den direkten Vergleich der beiden Magazine Extrablatt und TransAtlantik.
Bild-Text-Verhältnis der Reportagen Die Reportagen aus den Magazinen Extrablatt (1978-82) und TransAtlantik (1982-85) sind mit Bildern, Fotografien oder Zeichnungen versehen. Vor allem in TransAtlantik stehen die Bilder mit dem Text in vielfachem und engem Bezug und markieren durch ihre ästhetisierte Intermedialität die Literarisierung der Reportagen.27 Es ist schnell ersichtlich, dass die Bilder der Extrablatt-Reportagen deutlich mehr Raum als in den TransAtlantik-Reportagen einnehmen. Erstere zeichnen sich vor allem durch ihre großangelegten Fotostrecken auf mehreren Doppelseiten aus und verstehen sich deshalb als Bildreportagen, während Letztere als bebilderte Reportagen und enger verknüpfte Schrift-Bild-Kompositionen28 aufzufassen sind. Besonders Ransmayrs große Reportagen in Extrablatt weisen einen deutlich höheren Bildanteil auf als die weniger umfangreichen Reportagen. Im Schnitt sind die Extrablatt-Reportagen mit fünf Illustrationen bebildert, wobei es Schwankungen von zwei bis hin zu 14 oder sogar 19 Bildern gibt. Auffällig ist dabei das unterschiedlich ausfallende BildText-Verhältnis in beiden Magazinen. Enzensbergers Kritik an den zu großen Bildanteilen in zeitgenössischen Zeitschriften spiegelt sich in der Umsetzung
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Martin Pollack: »Gnadenlose Genauigkeit«, 134. Nicht nur in den Reportagen, sondern auch in den Romanen kommen die Fakten vor der Fiktion. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis waren Fotos der Auslöser für den Text: »Aus diesem Schreibauftrag entwickelte er eine elaborierte Erzählung. Die fiktionalen Figuren treten vor einem Faktenhintergrund auf« (ebd.). Fetz: Das unmögliche Ganze, 331. Kaminski, Nicola und Jens Ruchartz: »Leitdifferenzen – Begriffe – Konzepte«. In: Journalliteratur – ein Avertissement, herausgegeben von Nicola Kaminski und Jens Ruchartz. Pfennig-Magazin zur Journalliteratur, H. 1. Hannover: Wehrhahn 2017, 40.
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des TransAtlantik-Layouts: »Schwarzweiß, 90 Seiten, hauptsächlich Text.«29 Anders als bei Extrablatt, wo das Verhältnis 3:1 ausfällt, liegt das Bild-TextVerhältnis bei den TransAtlantik-Reportagen bei 1:6. Auch das inhaltliche Verhältnis von Bild und Text wandelt sich in den beiden Magazinen. Während die Fotos in Extrablatt zwar in Bezug zum Text stehen, aber auch unabhängig vom Text eine Geschichte erzählen, tragen die Illustrationen in TransAtlantik zum Gesamtverständnis und Flow30 der Reportage bei und führen eine kohärente Beziehung. Das Bildmaterial der Reportagen wird im Zusammenhang mit dem Bild als Medium der Kulturindustrie in Bezug auf die in der Dialektik der Aufklärung aufgestellten These des ›Massenbetrugs‹ untersucht. Bei der Analyse werden im ersten Schritt das Layout und das Format betrachtet, und die Frage gestellt, wie Text und Bild zusammengebracht werden. Im zweiten Schritt wird analysiert, wie und mit welchen Mitteln aus Text und Bild ein inhaltliches Ganzes entsteht. Im dritten und letzten Schritt wird anhand der Inhalte von Text und Bild untersucht, inwiefern beide Elemente eine gemeinsame ›Botschaft‹ transportieren.31
2.1 Kakerlaken-Chronik. Invasion im Untergrund (1983) Die Kakerlaken-Chronik ist eine sehr humorvolle, ironisch aufgebaute, aber auch auf wissenschaftlichen Fakten und Expertenmeinungen basierende Reportage über eine reale Bedrohung der Menschheit: die Schabe. Die beiden Autoren Pollack und Ransmayr, die akribisch und mit ironisch-pedantischer Überzeugung vorgehen, haben in ihrer ersten gemeinsamen Reportage neben der »Gefahr der atomaren Nachrüstung, des drohenden ökologischen Zusammenbruches, der Weltwirtschaftskrise, Bevölkerungsexplosion, Kontinentalverschiebung und der drohenden neuen Eiszeit« die »keineswegs minder apokalyptische Supergefahr« der Kakerlaken entlarvt.32 29 30
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Raddatz: »Die Wahrheit ist immer riskant«. Vgl. Kaminski und Ruchartz: »Leitdifferenzen – Begriffe – Konzepte«, 33. Einzelne Elemente und deren Grenzen lösen sich im Textbild auf und verschmelzen zu einem integrativen Fluss – und evozieren einen ›Flow‹. Willems, Gottfried: »Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der Wort-BildBeziehungen. Skizze der methodischen Grundlagen und Perspektiven«. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposium 1988, herausgegeben von Wolfgang Harms. Suttgart: Metzler 1990, 417f. Die Kakerlaken-Chronik. Invasion im Untergrund (TransAtlantik 5/1983), 22.
2 TransAtlantik (1982–1986)
Die Kakerlake steht allegorisch für den Menschen: Der Mensch als Kakerlake, als Insekt, welches alle Lebensbereiche für sich erobert, eine starke Überlebensfähigkeit bewiesen und »von Generation zu Generation an Selbstsicherheit, Widerstandsfähigkeit, und Unverschämtheit« gewonnen hat.33 Die Schabe führt ebenso wenig wie der Mensch einen »Daseinskampf gegen fremde Gattungen und Arten […], sondern dringe lediglich in freie Lebensräume vor, wenn sie dort genügend Wärme und Nahrung« vorfinde.34 Die Kakerlake scheint aber im Unterschied zum Menschen alle Fähigkeiten zu besitzen, jedwede Katastrophe zu überleben: »[Sind] ihre enorme Anpassungsfähigkeit an alle Bedingungen und Auswüchse der Zivilisation nicht geradezu dafür geschaffen, uns zu überleben und schließlich die Weltherrschaft anzutreten?«35 Die sehr hitzige und gespielt paranoide Angst über die drohende Apokalypse der Kakerlaken relativiert sich am Ende der Reportage und schließt mit Charles Darwins These des ›Survival of the Fittest‹: Was heißt schon Weltherrschaft? […] [S]icherlich ist der Zusammenhang zwischen der zivilisatorischen Entwicklung und dem Aufstieg einzelner Arten, wie etwa der Küchenschabe, nicht zu leugnen. Während hochspezialisierte Wesen schon bei der Zerstörung eines scheinbar nebensächlichen Gliedes ihres Lebenszusammenhanges zugrunde gehen können, sind anspruchslosere Arten durchaus imstande, biologische Störungen nicht nur zu verwinden, sondern die neue häßliche Welt sogar zur Grundlage ihrer explodierenden Weiterentwicklung zu machen. Wer sich nicht anpaßt, stirbt aus. Wer hingegen zu allem fähig ist, bleibt übrig. Ihm gehört die Zukunft.36 Die indirekte Gleichsetzung von Mensch und Insekt zeigt besonders im Vergleich zu den direkten Extrablatt-Reportagen seinen literarischen Wert und die Tendenz zur Erzählung mit journalistischer Grundstruktur. Der Form der Reportage verbunden, erkundigen sich die Reporter bei Experten in und um Wien über ihre These: »Schaben als Überwinder und Erben der Zivilisation? Eine Weltherrschaft der Insekten?«37 Idee und Auslöser scheint wohl die aufkommende Schabenplage Anfang der 1980er in Wien gewesen zu sein:
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Ebd., 21. Ebd. Ebd., 25. Ebd. Ebd., 20.
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Natürlich langten [im] Amt regelmäßig Beschwerden über Schabenbefall ein, in der Umgebung eines Restaurants im 21. Gemeindebezirks [Wien], […] wären Gäste wie unbeteiligte Passanten nicht einmal am helllichten Tage vor den ›Viercherln‹ sicher.38 So exponiert sich die Reportage anhand von aufeinanderfolgenden Aussagen von Schaben-Experten zur drohenden Kakerlaken-Apokalypse. Erste Anlaufstelle ist das Naturhistorische Museum in Wien, in dem ein Austausch mit dem Sachverständigen Doktor Kaltenbach stattfindet. Während Kaltenbach die »beklemmenden Zukunftsbilder«39 der beiden Reporter nicht wirklich bestätigen oder gar ernstnehmen will – »Die Phantasie der Science-fictionAutoren in Ehren, aber die nüchterne Wissenschaft wird Ihnen natürlich keine Beweise für Horrorbilder liefern«40 – konstruieren die Berichterstatter erste Zweifel bei der Leserschaft: Die Ruhe des Forschers kam uns allmählich verdächtig vor. Vermochte er die Gefahr tatsächlich nicht zu sehen? Blieb er scheinbar ungerührt, weil er vor dem ohnedies unabwendbaren Untergang bereits in die Ruhe der Resignation geflüchtet war, oder aber, und nun wurde uns seine Freundlichkeit beinahe unheimlich, hatten die geflügelten Armeen in den Kästen ringsum in ihm einen verschwiegenen Verbündeten gefunden?41 Mit dieser Spekulation eröffnet sich eine fiktionale Ebene im Text, die Ransmayr und Pollack nicht konkret aussprechen, aber indirekt andeuten: Die Schaben leben bereits, getarnt als Menschen, unter uns. Weiter zweifeln die beiden Autoren an der Aufrichtigkeit des Leiters des Wiener Gesundheitsamtes Ermar Junker, der nicht nur keinerlei belastendes Material über die Gefährlichkeit der Schaben in seiner Behörde habe, sondern die Schabenplage verharmlose und beinahe schon freundschaftlich von »Viecherln« spreche.42 Ihre anfänglichen Vermutungen gipfeln in der Annahme, dass die Mitarbeiter des Naturhistorischen Museums alle in Wahrheit verkleidete Kakerlaken seien:
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Ebd., 22. Ebd., 20. Ebd. Ebd., 21. Ebd., 22.
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Verbargen die weißen Labormäntel menschliche Schultern oder harte braune Hautflügel? Und der Portier, der unseren Passierschein wieder entgegennahm, warum trug er eine Kappe? Sollte sie zusammengerollte Fühler vor allzu neugierigen Blicken schützen?43 Die anfängliche Befürchtung einer Weltherrschaft der Kakerlaken verstärkt sich im Laufe der Geschichte zu einer Paranoia: Leben die Schaben schon unter uns? Wurden wir bereits infiltriert? Amüsiert verfolgt man die pseudoinvestigative Recherche. Edith Döring habe bereits vor zehn Jahren »eine Eroberung der bundesdeutschen Städte durch Schabenhorden angedeutet«44 . In Polen spreche man in der Warschauer Tageszeitung von einem baldigen Sprung in der Entwicklung der Natur, in dem die schwächere Gattung der Kakerlaken von Widerstandsfähigeren und Stärkeren verdrängt werden würde.45 Zdenek Mlymár, ehemaliger Mitarbeiter der Käfersammlung des Prager Nationalmuseums, bringt eine Wendung gegen Ende der Reportage: »Aber die wirkliche Gefahr geht doch nicht von den Insekten aus, sondern von uns, von der Zivilisation selbst«46 , eine Überzeugung, die sich durch das Werk des österreichischen Schriftstellers zieht. Von der Literaturwissenschaft als Apokalyptiker gebrandmarkt, möchte Ransmayr nur die Bedeutung des Menschen in Relation zur Weltgeschichte stellen: Ich bin nicht vernarrt in Untergangsszenarien, und es ging mir auch nie bloß um die Vorstellung, wie eine Welt ohne Menschen aussieht, nie bloß um jenen seltsamen Frieden, nachdem alles vorbei und ausgestanden ist. Aber die Welt ohne Menschen entspricht einem Zustand, der die längste Zeit auf diesem Planeten geherrscht hat. Ein Blick in die Vergangenheit liefert dabei ganz ähnliche Bilder wie einer in die Zukunft: Keiner mehr da. Menschenleere ist keine Traumwelt, sondern der Normalzustand im Universum und auch erdgeschichtlich eine verhältnismäßig realistische, gelegentlich höllische Perspektive.47 Der Text ist mit 15 schwarz-weißen Illustrationen von Joachim Bode versehen: jeweils zwei auf den ersten drei Seiten und jeweils drei kleine Bilder auf den 43 44 45 46 47
Ebd. Ebd., 21. Ebd. Ebd., 25. Jandl, Paul: »›Der Gnom ist entschlüsselt‹. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Christoph Ransmayr«. In: Neue Züricher Zeitung, 07.08.2000.
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letzten Seiten. Für das Auge sind die Bilder dezent mit dem Text verwoben, ohne den Lesefluss zu stören. Durch ihren schwarz-weißen Auftritt fügen sie sich farblich unauffällig in das Textbild. Das Verhältnis von Bild zu Text liegt bei 1:6. Alle Illustrationen zeigen Brustportraits von monsterähnlichen Wesen im Dreiviertelprofil, bekleidet mit weißem Kragenhemd und unterschiedlich gemusterter Krawatte vor einem flächigen schwarzen Hintergrund, der in sechs Bildern von weißen Einschlüssen unterbrochen wird. Die karikaturistisch angelegten Bilder präsentieren alienartige Mischwesen aus Menschen und Insekten- und Tierarten der Kanalisation. Ironischerweise treten diese Monster getarnt als Stereotypie des klassischen Büroangestellten in einer kafkaesken Weise auf. Gelangweilt, fettleibig und lustlos schauen die Wesen, ähnlich einem Passfoto oder Ausweisbild, passiv, träge und monoton in eine Leere. Die chimärischen Figuren tragen zum Textverständnis bei und unterstreichen zum einen die Komik und Ironie, zum anderen die nur anfängliche passiv intendierte Vermutung der beiden Reporter, dass es sich bei wichtigen Ämtern bereits um invadierte Mitarbeiter handelt. Text und Bilder greifen nicht nur inhaltlich ineinander, sondern werden in der Überschrift zu einem einheitlichen Ganzen geformt. 15 Bilder zeigen eine Illustrierung der im Text thematisierten Kakerlaken-Chronik und verbildlichen die bereits wohl schon unbemerkt stattgefundene Invasion der Insekten in unseren Alltag – die »Invasion im Untergrund«. Das letzte Brustportrait zeigt im Unterschied zu den anderen 14 Illustrationen kein monsterähnliches Fantasiewesen aus Mensch und Getier, sondern eine abstrakte Kritzelei eines Menschenkopfs, wie von einem Kind gemalt. Das letzte Bild setzt sich deutlich von den restlichen Mischwesen ab und schreibt seine eigene Pointe. Inhaltlich bebildert die Kritzelei in Hemd und Krawatte den letzten Abschnitt und Schluss der Reportage, in dem die Autoren von der Heimfahrt ihrer Recherchereise berichten: Die wenigen Ortschaften am Weg lagen halb verdeckt hinter riesigen Werbetafeln und wirkten menschenleer. Von einer sanften Anhöhe, noch sehr weit vor der Stadt, glichen die Satellitensiedlungen unbewohnbaren Klippen; aus dieser Entfernung war der auf Trassen dahinziehende Verkehr ein rastloser Strom mattglänzender Leiber, die in die Schluchten verschwanden. Auf das alles fuhren wir zu.48
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Die Kakerlaken-Chronik. Invasion im Untergrund (TransAtlantik 5/1983), 25.
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»Menschenleer« und »unbewohnbar« endet die Reportage mit dem Untergang der Bevölkerung. Allein der »rastlose Strom mattglänzender Leiber« überlebt. Auf diese apokalyptische Vorstellung »fuhren wir zu«. Das Schlussbild greift noch einmal den Vergleich der Kakerlake mit dem Menschen und den abgebildeten Angestellten als Mischform aus Mensch und Unwesen auf. Monoton, farblos und einheitlich marschieren nicht nur die Schaben, sondern arbeitet auch der Mensch analog Tag für Tag im Büro. Horkheimer und Adorno halten in der Dialektik der Aufklärung fest: »Die Kulturindustrie hat den Menschen als Gattungswesen hämisch verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzten kann: fungibel, ein Exemplar. Er selbst, als Individuum, ist das absolut Ersetzbare, das reine Nichts […].«49 Motor des Betrugs ist die Stereotypie – die ständige, gleichförmige Wiederholung. Die 15 Illustrationen demonstrieren uns diese Stereotypie in der Aufmachung der Alienwesen: gleiche Pose, gleiche Kleidung, gleiche Stimmung. Die Bilder veranschaulichen die Monotonie, vor der Horkheimer und Adorno warnen wollten. Laut Ransmayr und Pollack leben wir rastlos und unauffällig im Strom unserer Zeit, verdeckt von riesigen Werbetafeln. Die letzte Illustration verkörpert die eigentliche Katastrophe – das Bild eines abgestumpften, unmündigen Menschen, der unkritisch und antriebslos sein Leben in der Maschinerie der Obrigkeiten lebt: »Auf das alles fuhren wir zu.« Neben der kulturkritischen Basis lässt sich an der Reportage ein Übergang von rein journalistischer Faktenreihung in eine fiktive Erzählstruktur exemplifizieren. Ransmayr und Pollack erzählen eine Geschichte, der Fakten als Grundlage dienen, die aber in Fiktion hinübergleitet. Ransmayr erinnert sich an den Tag im Naturhistorischen Museum rückblickend: War es ein Traum, eine Phantasie oder bloße Wahrnehmung, als wir uns etwa an einem Wintertag, am Ende einer langen Recherche über die in ferner Zukunft mögliche Weltherrschaft der Insekten (in unserem Fall der Schaben), von einem Entomologen des Naturhistorischen Museums in Wien verabschiedeten? Der Mann trug einen weißen Labormantel und führte uns an endlosen Reihen von Schaukästen voll aufgespießter Käfer vorüber und sprach in einem beinahe singenden, begeisterten Ton über die evolutionäre Unbesiegbarkeit, über die Anpassungsfähigkeit und Vielfalt seiner an weiße Kartons genadelten Schützlinge. Als wir uns in der eisigen Zugluft am Museumsportal bei ihm bedankten und er sich von uns ab und wieder
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der warmen Dämmerung seines Insektenimperiums zuwandte, warfen wir einen letzten Blick zurück in sein Reich so fremd wie eine Lichtjahre entfernte Zivilisation und sahen nun erst, nach so vielen Fragen und Antworten, was sein weißer Mantel verhüllen sollte: unter einem hochgeschlagenen Kragen verborgene Fühler und kupferfarbene Spitzen von Deckflügeln, die unter dem Mantelsaum hervorstachen, groß und unbezweifelbar wie zwei Pflugscharen aus Glas.50 Traumartig verfolgen auch die Leser:innen die verschiedenen Ortswechsel und die Masse an Expertenbesuchen und finden sich am Ende der Reportage haltlos zurückgelassen. Nur noch die Form der Chronik bietet den Rahmen einer Reportage. Das Konglomerat an Expertenmeinungen, O-Tönen und Zeitungsrecherchen liefert die gewünschten Fakten. Wegen des ironischen Untertons und der irrwitzigen Vorstellung einer Weltherrschaft der Insekten bewegt sich der Text am schmalen Grat von Fiktion und Realität. Die Illustrierungen unterstützen den Eindruck einer bebilderten Geschichte zweier Science-fiction-Detektive auf der Suche nach den mysteriösen Machenschaften im Untergrund. Eine Abenteuergeschichte, getarnt als Reportage. Eine ähnliche Metamorphosenerzählung findet sich in Ransmayrs Bildergeschichte Damen & Herren unter Wasser 51 der Reihe ›Spielformen des Erzählens‹ von 2014. Sie erzählt von sieben Verwandlungsgeschichten, von gewissen Damen und Herren, die, nur durch ihre Wasserscheu verbunden, eines Tages als Meerestiere der Tiefsee erwachen.52 Analog zur Kakerlaken-Chronik zeichnet sich Ransmayrs Spielform neben der Ironie und der Zweideutigkeiten durch die Illustration der Figuren und vor allem durch die Metamorphose des Menschen in Tierwesen aus – beide Male in Tierarten des ›Untergrunds‹.In Damen 50 51 52
Ransmayr: »Die dritte Stimme. Erzählen mit Martin Pollack«, 123. Ransmayr, Christoph: Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger. Frankfurt a.M.: Fischer 2014. Doren Wohlleben untersucht den Zusammenhang von Komik und Katastrophe in Ransmayrs Spielformen ›Die Unsichtbare. Tirade an drei Stränden‹ (2001) sowie ›Damen & Herren unter Wasser‹ (2007). Ransmayr verschränke einen frühneuzeitlichen Katastrophenbegriff mit einem (post-)modernen Konzept und tauche seine Figuren in das Medium des Humors. Er bediene sich eines »leichten Erzählton[s], der von Ironie im Sinne einer Verstellung (altgr. ›eirōneía: Verstellung, Vortäuschung) durchdrungen ist und wortwörtlich ins Medium des Humors (lt. ›umor‹: Feuchtigkeit, Nass) eintaucht«. Vgl. Wohlleben, Doren: »Komik und Katastrophe in Christoph Ransmayrs ›Die Unsichtbare. Tirade an drei Stränden‹ (2001) sowie ›Damen & Herren unter Wasser‹ (2007)«. In: Zeitschrift für Germanistik, H. 3, 2019, 573–586, hier 573.
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& Herren werden der Text und seine Protagonisten von Manfred Walkobingers Unterwasserfotografien, welche die sieben beschriebenen unterschiedlichen Meerestiere zeigen, bebildert.
2.2 Sieh, das Gute liegt so nah. Ablenkung am Rande der Gesellschaft (1985) Die Reportage Sieh, das Gute liegt so nah53 entstand gemeinsam mit dem Wiener Fotografen Willy Puchner. Ransmayr und Puchner lernten sich zunächst während gemeinsamer Redaktionssitzungen beim Extrablatt kennen und bei späterer Zusammenarbeit mögen.54 Beide teilen laut Puchner »einen ähnlichen Witz«, »eine ähnliche Weltsicht« und »eine bestimmte Form von zärtlicher Ironie«: Ich hatte seine Sprache sehr gern und ich spürte, dass auch er die Sprache meiner Bilder mochte. Da gab es von Anfang an ein Einverständnis. […] Seine Sprache ist bilderreich, intensiv und heftig. Unsere Beziehung läuft auch über die Intensität der Bilder: Ich bin neugierig auf seine Bilder und er auf meine.55 Eine solche Intensität ist in der Reportage über das Medium Fernsehen als Ablenkung am Rande der Gesellschaft spürbar. In sechs Abschnitten erzählt Ransmayr in Begleitung von Puchner über Einsamkeit und Abgeschiedenheit in der Peripherie und darüber, wie das Fernsehen eine Anschlussmöglichkeit und ein Gefühl des Miterlebens erzeugt, aber nur von den Wenigen kritisch hinterfragt wird. Die Reportage beginnt mit einem Besuch bei dem oberbayrischen Schreiner Josef Werwein, der gemeinsam mit seiner Haushälterin allein im Moor in der Nähe von Habach56 lebt und sich einen Fernseher angeschafft hat, weil er 53
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Sieh, das Gute liegt so nah. Ablenkung am Rande der Gesellschaft (TransAtlantik, 4/1985). Die gleiche Reportage erschien unter dem Titel Der Blick in die Ferne. Ablenkung am Rande der Gesellschaft in Ransmayrs Sammelband Der Weg nach Surabaya. Puchner, Willy: »Er geht dem Schmerz nicht aus dem Weg«. In: Die Rampe. Porträt Christoph Ransmayr, herausgegeben von Manfred Mittermayer und Renate Langer. Linz: Trauner 2009, 31. Ebd. Vgl. Ransmayrs Reportage Nachrichten aus Oberbayern. Heftige Beschwörung eines Andachtsbildes mit Fotos von Willy Puchner über Habach im Extrablatt, 1/1982, 16–23 (auch
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sich einen »Blick in die Weite, bis nach Afrika und Indien« erhoffte, den er leiblich niemals selbst erleben werde.57 Anders als erwartet, erfasste ihn nach nur sechs Monaten über die Nachrichtenwut und »Heimtücke der Menschheit« im Bildschirm eine so große Unruhe, dass er zur Einsicht kam, dass »beim Fernsehen das Innerste des Menschen auf ein Geflimmere und Geflackere konzentriert ist«, und das Gerät abschaffte.58 Eine Haltung, der Ransmayr eine fiktive allgemeine Meinung des sogenannten »Millionenpublikums« entgegensetzte: eine »universale Gesellschaft von Zuschauern«, welche alle gemeinsam, aber doch isoliert in ihren abgedunkelten Wohnzimmern auf den flackernden Bildschirm starren, die Ransmayr im weiterführenden Text als ›Wir‹ bündelt: Reden wir also von denen, die so viele sind und nichts voneinander wissen; von denen, die täglich mit kleinen Reden begrüßt und wieder verabschiedet werden und doch nichts anderes antworten können, als an Knöpfen zu drücken oder zu drehen; von denen schließlich, die grundsätzlich schweigen, schweigen ›müssen‹, weil sonst verflucht nicht zu hören und zu verstehen wäre, was da so schnell und so unaufhaltsam über die Bildschirme zieht. Reden wir also – von uns. […] Wir heißen Fernseher.59 Entgegen Horkheimers und Adornos Kritik, Rundfunk, Film und Fernsehen führten in die Unmündigkeit des Menschen60 , echauffiert sich das ›Wir‹, es hieße, man hätte es sich bequem gemacht, man sei einfallslos, abgestumpft, ja sogar verblödet, weil man sich an den »flüchtigen Bildern« und den »gesiebten Informationen« vergnüge: Was uns auf den Bildschirmen vorgeführt werde, sagt man, sei ein Abklatsch, billige Unterhaltung, Verzerrung, Leben aus zweiter Hand und bestenfalls geeignet, uns vollends zu sprachlosen Untertanen zu machen, willfährig, widerspruchslos und ohne Gedanken.61 Von den Vorwürfen verärgert, fragt das ›Wir‹ die Kritiker zurück, wovon man sich eigentlich abschließen und sich beim Starren und Stillhalten erholen wür-
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in Der Weg nach Surabaya). Die Reportage thematisiert bereits den aufgrund seines anderen Glaubens ausgegrenzten Josef Werwein. Sieh, das Gute liegt so nah (TransAtlantik, 4/1985), 36. Ebd. Ebd. DdA, 161. Sieh, das Gute liegt so nah (TransAtlantik, 4/1985), 36.
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de: »Von einem Leben aus erster Hand vielleicht? Vom Glück?«62 Diese Fragen bilden die Leitfragen des weiteren Textes, werden zunächst aber vom fiktiven ›Wir‹ selbst beantwortet: Nein, man macht uns nicht irre. Denn auch wenn wir getrennt voneinander sind und in unseren Wohnzimmern noch so allein: wir sind und bleiben die Mehrheit, das größte Publikum der Welt. […] Oh, wir wissen genau, wie sehr man sich vor die Kameras und an uns herandrängt – in der Hand mal ein Waschmittel, mal ein politisches Programm, das Gesicht am Schminktisch übertüncht und immer um Eindruck bemüht. Wir lassen sie schnattern und braten im Scheinwerferlicht, lehnen uns zurück und wissen: Wir haben es ja in der Hand. Ein Knopfdruck von uns, und sie verschwinden. Alle. Diese Macht haben wir.63 Manfred Kristen arbeitet knapp dreitausend Meter über dem Meer auf der Zugspitze als Wetterwart in der Wetterstation, welche zwar über einen Fernseher verfügt, aber nur nebenbei für »das Aktuelle, den Sport und natürlich den Wetterbericht« gebraucht wird. Für ihn habe das Fernsehen viel von der früheren Bedeutung verloren und »die Faszination der Himmels- und Wetterschauspiele da draußen sei doch unvergleichbar größer als ein elektronisches Unterhaltungsprogramm«64 . Trotz Natur und so viel Landschaft fragt sich das ›Wir‹, ob diese »leere Kulisse ohne Schauspieler, Handlung und Hintergrundmusik auf Dauer nicht langweilig« werde. Es gäbe doch auch im Fernsehen großartige Bilder, Berichte von Expeditionen ins Eis und Märschen in der Wüste, »bestens erklärt« und »sehr nah«, und vor allem mit Kommentatoren, Helden oder Sportlern. Aber das ›Wir‹ wird nachdenklich und beginnt das Medium zögerlich zu reflektieren. Auf die Frage des Wetterwarts, ob sie denn den »Kasten« anmachen würden, wenn sich ein solches Naturschauspiel vor ihnen abspielen würde, entgegnet das ›Wir‹: Nein, wollen wir schon sagen, natürlich nicht. Aber dann besinnen wir uns. […] So leicht also läßt sich die Frage des Wetterwarts nach Abschalten und Fernsehverzicht nicht beantworten. Wir sind vorsichtig geworden, sagen auf derlei Fragen ›Vielleicht‹ und ›Es kommt drauf an, mal sehen‹ […].65
62 63 64 65
Ebd. Ebd. Ebd., 37. Ebd.
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Die feste Überzeugung von der vermeintlichen Macht des Abschaltens erhält erste Risse. Der Landwirt Alois Blum und seine Familie leben im ländlichen Idyll und haben vieles, wovon mancher Städter gelegentlich träumt. Belustigenderweise brüstet sich der Bauer, dass das Fernsehen »die größte Volksverblödung« sei, um kurz darauf in der Stube zu verschwinden, von woher die Tagesschau bis vor das Haus dröhnt. Ransmayr wendet sich vom Süden dem Norden zu. Für den Bürgermeister der Hallig Hooge66 , Otto Dell-Missier, wurde durch das Fernsehen die Abgeschiedenheit auf der Hallig deutlich gemildert. Aber der Ortsvorsteher habe auch gelernt, in dem Bildschirm eine gewisse Gefahr zu sehen. So passierte es, dass vor lauter ›In-die-Kiste-Glotzen‹ unbemerkt eine Sturmflut heraufziehen konnte – aber auch, dass von den Bildern des großen Lebens und der Werbung die Jugend in die Städte gezogen wird und so schon einige Höfe auf Hallig Hooge aufgegeben werden mussten. Das ›Wir‹ klinkt sich ein und winkt die vorangegangenen Erfahrungsberichte ab: »Lassen wir den Zweiflern ihre Zweifel.«67 Denn bei allem Verständnis gehört ihr Mitgefühl nur »jenen von uns«, also denen, »die noch wissen, was Fernsehen heißt, die voll und ganz zu uns gehören«68 . Es folgen weitere Besuche und Erfahrungen von Randgruppen und Isolierten, für die Fernsehen unterschiedliche Funktionen erfüllt: Sträflinge des Jugendgerichtshofes in Wien, Bewohner Westberliner Altersheime und zwei Ostberlinerinnen. Für die Häftlinge des Jugendgefängnisses bedeutet die dreimal wöchentliche Fernsehstunde die Möglichkeit »einfach alles« zu vergessen.69 Die schlimmste Strafe, die es vor Ort geben kann, wären zwei Wochen Fernsehentzug, denn die Zeit eines Films lässt die Insassen »völlig wegtreten«70 . In dieser Institution bedeutet Fernsehen ein Stück wiedergewonnene Freiheit. Im Seniorenheim spalten sich die Meinungen. Einige Bewohner ertragen die über den Bildschirm flimmernden Weltkriegsszenen nicht und bitten, den Fernseher auszuschalten. Andere wiederum erfreuen sich an den Bildern und Stimmen aus der ›Kiste‹, obwohl echter Besuch doch schöner wäre. Für die beiden Ostberlinerinnen Effi Trau-
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Vgl. Ransmayrs Reportage Ein Leben auf Hooge. Porträt einer untergehenden Gesellschaft über die Hallig Hooge im Nordfriesischen Wattenmeer im Merian, 2/1985, 131–134 (auch in Der Weg nach Surabaya). Sieh, das Gute liegt so nah (TransAtlantik, 4/1985), 38. Ebd. Ebd. Ebd.
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be und ihre Tochter ist der Westsender der einzige Informationsaustausch mit der Welt. Zufrieden über die Berichte vom Nutzen des Fernsehers kehrt das ›Wir‹ in sein Wohnzimmer zurück, um sich ein letztes Mal »aus dem Halbdunkel unserer Sicherheit« an einen Ort zu versetzen, von dem böse gesagt wird, »er wäre die Endstation eines langen Lebens mit dem Fernsehen«: die Psychiatrie.71 Die größte Nervenheilanstalt Europas, das Psychiatrische Krankenhaus der Stadt Wien, beherbergt etwa 1600 Patienten. Stundenlang schauen die Insassen dort täglich auf die Bildschirme. Eine Patientin erzählt von den Grausamkeiten und Wohltaten des Hauses: »Wir sitzen alle in diesem Hause vor dem Fernseher. Aber niemand kann sagen, wer hier wirklich zuschaut. Ohne Fernsehen würde es doch keiner aushalten in der Welt.«72 Ein anderer Patient klagt: »Lehren bekommen wir erteilt im Fernsehen. Jeden Tag eine neue Lehre. Wenn das so weitergeht, dann fragt man sich, wie lange es noch dauern kann, bis wir das Endbewußtsein unserer Zeit erreicht haben.«73 Das ›Wir‹ kommentiert verständnislos, dass die Welt doch schon längst entschlüsselt in Bildschirmgröße vor uns liege – »jederzeit verfügbar, jederzeit löschbar«74 . Vor dem Fernsehen gibt es kein Entkommen mehr. Die Reportage endet im Höhepunkt ›Wir’scher‹ Ignoranz: Und was ist mit denen, fragt man uns, die es dem Schreiner Josef Werwein gleichtun? Ach die, sagen wir, eine verschwindend geringe, heillose Minderheit. Wer, außer Moormenschen und Asketen, verzichtet schon auf die Allgegenwart? Wir bitten um Nachricht. Die Unvernünftigen, sagen wir, sterben doch aus.75 Willy Puchner illustriert die Reportage mit vier Fotografien aus »unseren Wohnzimmern«. Alle Bilder sind schwarz-weiß abgedruckt und stehen zum Text wieder in einem Verhältnis von 1:6. Interessanterweise ist auf den Bildern nur der Akt des Fernsehschauens zu betrachten, einen Fernseher selbst sieht man auf keinem der Fotos. Im ersten Bild meint man Josef Werwein und seine Haushälterin auf Sesseln sitzend und auf den imaginären Fernseher blickend im Wohnzimmer im Stil der 1970er Jahre zu erkennen. Das zweite Foto zeigt
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Ebd., 39. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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eine Gruppe von sieben älteren Damen des Westberliner Altersheims, auch in Lehnstühlen, als Sitzreihe angeordnet, auf den nicht abgebildeten Fernseher starrend. Das dritte Bild lichtet den Rücken eines Gefängniswärters und die Hinterköpfe der fünf Häftlinge des Jugendgefängnisses Wien während der Fernsehstunde ab. Die letzte Fotografie zeigt Familie Dell-Missier auf Hallig Hooge, wieder von vorne, nebeneinander auf die Sofagarnitur gepresst, apathisch in den für den Betrachter fehlenden Bildschirm stierend. Die Fotos erzeugen eine neue Sichtweise, die im Text durch die einseitige Schilderung des ›Wir‹ ausbleibt: Wie viel Macht haben wir gegenüber den Medium Fernsehen wirklich? Das ›Wir‹ beteuert, dass man es selbst in der Hand hätte, die Macht besäße, selbst den Fernseher auszuschalten, wann immer man es wünscht. Aber nicht nur im Text kommen dem ›Wir‹ erste Zweifel auf, auch O-Töne des »Millionenpublikums« unterstreichen, dass das Abschalten so leicht gar nicht ist. Die vier Bilder betonen nicht nur den enorm hohen Stellenwert, den der Bildschirm bereits in unserer Gesellschaft erreicht hat, sondern auch die unreflektierte, abgestumpfte Aufnahme von Informationen. Puchner und Ransmayr bieten den Leser:innen zwei konträre Sichtweisen. Der eine versucht die ignorante Überzeugung der allgemeinen Gesellschaft der Zuschauer und der andere die Realität wiederzugeben: »Keiner entkommt« dem Fernsehen.76 Durch Puchners Fotografien sollte der letzte »Zweifler« wachgerüttelt werden, inwiefern wir doch schon, wie Horkheimer und Adorno warnten, »vollends zu sprachlosen Untertanen«77 geworden sind.
2.3 Leon. Zwischen Ghetto und Gelobten Land (1986) 1986 erscheint in TransAtlantik die gemeinsam mit Martin Pollack verfasste Reportage Leon. Zwischen Ghetto und Gelobten Land78 über die jüdische Familie Lubliner, die in den 1960ern aus Polen ausgebürgert und statt in Australien in Wien landet. Die dreiseitige Reportage ist aus der Perspektive von Szymon Lubliner geschrieben und erzählt von den Zuständen im Kommunismus, von der 1968er-Bewegung und den verheerenden Folgen, jüdisch zu sein. Wegen ihrer jüdischen Abstammung wurden in der Nacht vom dritten auf den vierten Mai 1968 Szymon Lubliner, seine Frau Aniela und ihr Neugeborener 76 77 78
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Leon sowie fünf weitere Emigranten des Landes verwiesen und nahmen den Zug an der polnisch-tschechischen Grenze nach Wien. Anfang der 1960er verstärkte sich in der PVAP, der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der Richtungskampf gegen Menschen jüdischer Herkunft. Es begann eine antisemitische Kampagne und darauffolgend eine ›vollständige Säuberung‹ Polens von den angeblichen Feinden des Sozialismus. Unter dem Druck der Regierung verließen damals circa 20 000 polnische Juden ihre Heimat: ›Der Inhaber dieses Reisedokuments ist berechtigt, die Volksrepublik Polen zu verlassen und nach Israel auszuwandern… Szymon Józef Lubliner […] ist kein polnischer Bürger.‹ Israel! Ich wollte doch weder nach Israel noch sonstwohin. In Polen wollte ich bleiben. Ich war doch Pole. Wie meine Eltern und deren Eltern und Großeltern auch. Aber was blieb mir anderes übrig, als zu gehen? Meine Arbeit hatte ich verloren, und von einer neuen Anstellung konnte natürlich keine Rede sein, aus der Partei war ich ohnedies schon seit Februar ausgeschlossen, und die Kollegen, die Nachbarn, selbst einige von den sogenannten Freunden haben uns gemieden. Alles nur, weil es plötzlich wieder von Bedeutung war, daß wir Juden sind.79 Verzweifelt und verständnislos erinnert sich Lubliner an die damaligen Umstände, dass er selbst ein Ersuchen an den Staatsrat richten musste, um darum zu bitten, aus der polnischen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden: »Wir mußten darum bitten, auf alles verzichten zu dürfen – auf unsere Rechte, unsere Pensionsansprüche, auch die Wohnung, auf die wir neun Jahre lang gewartet haben.«80 Wien sollte anfänglich nur eine Zwischenstation nach Übersee, nach Australien sein, aber die australische Verwaltung machte wegen Leon Schwierigkeiten, und so blieb es 17 Jahre später immer noch Österreich. Heute blickt Lubliner lachend zurück, wenn er an die Vorgehensweisen und Überzeugungen des polnischen Staats denkt und an seine erste Befragung durch die Partei. Ihm wurde vorgeworfen, er sei Zionist, jüdischer Nationalist und Kosmopolit und bekenne sich nicht zur Volksrepublik Polen, weil seine Frau zu ihrem Hochzeitstag zwei Flaschen Sekt kaufte, was als Zelebrieren des militärischen Siegs der israelischen Aggressoren gedeutet wurde: »Aber der Partei war ja wirklich keine Ausrede zu blöd, wenn sie damit Stimmung gegen die letzten Juden des Landes machen konnte.«81 Dabei hegte die Fami79 80 81
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lie Lubliner weder jüdische Traditionen, noch hatten sie irgendeine Ahnung vom Zionismus. Der finale Ausschluss aus der Partei folgte, als sie im Nationaltheater in Warschau an der falschen Stelle im Stück Die Ahnenfeier des polnischen Dichters Adam Mickiewicz applaudierten. 1968 wurden alle weiteren Aufführungen des Nationaldramas verboten, da es zu antirussischen Beifallsbekundungen gekommen war. Das Verbot schürte Proteste, die die 68er-Bewegung in Polen in Gang setzte: »Und so haben die Studenten schließlich nicht nur mehr Theater, sondern mehr Freiheit, mehr Demokratie und weniger Zensur verlangt.«82 Nach Ansicht der Partei wären die Juden an den Unruhen und Aufständen schuld. Lubliner fragt konsterniert: Aber was hatte ihre Unzufriedenheit mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun? […] Einem Genossen in Warschau wurde zum Beispiel vorgeworfen, er hätte seine Kinder in jüdisch-religiösem Sinn erzogen und sie dadurch Polen und dem Sozialismus entfremdet. Nach einer langen Diskussion über seine Verfehlungen meldete sich der Genosse selbst zu Wort und wies darauf hin, er habe gar keine Kinder. Er wurde ausgeschlossen, weil er diesen Umstand während der Verhandlung ›provokant verschwiegen‹ hatte.83 Die Maschinerie der reinen Schikane zeigt sich zuletzt beim Auszug der Lubliners aus ihrer Wohnung, welcher von einem Regierungsbeamten überbewacht wurde, damit nichts von größerem Wert eingepackt werden könnte: Der Sederbecher meines Großvaters und der Messingrahmen eines Familienbildes wurden als ›polnisches Kulturgut‹ eingestuft und beschlagnahmt. Seltsam, nicht? Sederbecher, Thorarollen und Schabbesleuchter galten als polnisches Kulturgut, aber die Leute, die diese Dinge in Verwendung hatten, durften keine Polen sein und mußten gehen.84 Lubliner beteuert heute so wenig wie 1968, ein gläubiger Mensch zu sein, und ist froh, nicht weiter im Kommunismus gelebt haben zu müssen. Neben dem Bericht vom Leben und Ausschluss aus der Partei verläuft parallel ein weiterer Erzählstrang von Szymon und Aniela Lubliners Sohn Leon. Leon Lubliner wird in der Erzählung zum Symbol der Hoffnung und Sinnbild des besseren Lebens. Der Vater fragt sich besorgt, was bloß aus dem Jungen geworden wäre, wenn sie in Polen geblieben wären – ein Junge, der durch 82 83 84
Ebd. Ebd. Ebd., 93.
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und durch rebellische Züge hat, nicht nachgeben kann und sich keiner Vorschrift beugen will.85 Leon hätte sich nicht von einem »kleinen Parteisekretär« wegen zwei Flaschen russischen Champagners niedermachen lassen. Er lehnt sich gegen Ungerechtigkeiten auf und steht zu seinen Überzeugungen: Als im Dezember 1984 die Donau-Au bei Hainburg abgeholzt und dort mit der Errichtung eines Kraftwerkes begonnen werden sollte, hat Leon mit Tausenden anderen Naturschützern die Au besetzt und sich sogar an einen Baum gefesselt. […] Ich bin nach Hainburg gefahren, um ihn zurückzuholen. […] Aber Leon war durch nichts umzustimmen. Er ist in der Au geblieben. […] Leon ist nach zehn Tagen sehr schmutzig aus der Au zurückgekommen. […] Wir waren froh, nicht mehr in Polen zu sein.86 Leon hält es auch im Gegensatz zu seinen Eltern mit dem Judentum anders und macht sich mit der Tradition wieder vertraut: Er lernt hebräisch, schwimmt im Verein für die Hakoah und möchte im kommenden Jahr nach Israel reisen.87 Wehmütig erinnert sich Szymon Lubliner an seine alte Heimat und daran, dass es bereits das zweite Mal war, dass er aus ihr fliehen musste. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er drei Jahre lang von dem Steinmetz Jan Pajdak unter Granitplatten versteckt. Als dessen Sohn das Geschäft übernahm, scheute der sich nicht, auf verwahrlosten jüdischen Friedhöfen die Marmorgrabsteine zu plündern, die hebräischen Inschriften abzuschleifen und neue, polnische Namen hineinzumeißeln. Lubliner hat es nicht geschafft, sich gegen diese Schändung aufzulehnen. Er hat geschwiegen, aber ist sich sicher: »Leon würde sich schlagen. Um jeden Stein.«88 In der Figur Leon spiegelt sich die Gesundung einer unterdrückten Kultur. Während die Flüchtlingsgeneration noch immer mit den Folgen und Ängsten ihrer Verfolgung zu kämpfen hat, lehnt sich die nächste Generation auf. Familie Lubliner steht stellvertretend für alle vom Regime Unterdrückten und Gejagten. Glaubensverfolgungen und -vertreibungen bilden einen Kreislauf, der im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder kehrt. Als Beleg fügen Ransmayr und Pollack vier Bildbeispiele aus der Bibel an die Reportage. Die Bilder stehen auch in dieser Reportage zum Text in einem Verhältnis von 1:6. Die vier Kupferstiche zeigen verschiedene Szenen aus dem
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Alten Testament: 1. die Vertreibung aus dem Paradies; 2. der Zug durch das Rote Meer; 3. die Opferung Isaaks und 4. Jakob, der die Heimat verlässt und nach Ägypten zieht. Der erste Stich steht sinnbildlich für die Vertreibung und Ausweisung einer höheren Gewalt aus dem Geburtsland. Das zweite Bild symbolisiert die Flucht und die damit verbundene Not und Angst. Der dritte Kupferstich demonstriert eine Unterwerfung und absoluten Gehorsam gegenüber einer Herrschaftsposition sowie die damit einhergehende existenzielle Prägung. Das letzte Bild schließt den Kreislauf mit einer erneuten Flucht aus der Heimat. Die Bilder folgen nicht der chronologischen Reihenfolge der Bibel. Der Zug durch das Rote Meer müsste an letzter Stelle stehen, da die korrekte inhaltliche Abfolge Bild 1, 3, 4, 2 wäre. Ransmayr und Pollack folgen keiner Chronologie, sondern verbildlichen die Geschichte der Familie Lubliner anhand der Bibelszenen. Szymon Lubliner wird während des Zweiten Weltkriegs erstmals aus der Heimat vertrieben, flieht in seine Geburtsstadt und kommt bei einem Steinmetz unter, um nach dem Krieg im Kommunismus einer Ideologie unterworfen und letzten Endes ein weiteres Mal aus seinem Heimatland ausgewiesen zu werden. Die Reportage dient als ein weiteres Beispiel für Ransmayrs Ideologiekritik, die ein essenzielles Thema seines literarischen Werks und seiner persönlichen Auffassung darstellt.
Zusammenfassung: Wider die Kulturindustrie
Das allen Reportagen des Extrablatt-Magazins gemeinsame Motiv des Einzelnen in der Peripherie, am Rand der Gesellschaft, wird inhaltlich auf unterschiedliche Weise behandelt und gestaltet. Die Einzelschicksale werden alle erfasst, ohne eine Allgemeingültigkeit behaupten zu wollen.1 In Rebell zu Laibach wird Ivan Cankar als ausgegrenzter Einzelkämpfer zur Symbolfigur einer ganzen Nation. In Dilettanten des Wunders lehnt sich eine Randgruppe von Lebensreformern gegen die herrschende Politik und Technisierung. Solidarität mit Suppenkaspar spricht sich für den Schutz von Kindern vor der Spielzeugwarenindustrie aus. Beihilfe zum Glück porträtiert Armut und Leid der Anwohner des Schlachthofviertels, eines Randbezirks von Kassel. Und Illustrierte Mitteilung für den Teefreund klärt über die unmenschlichen Lebensbedingungen der Arbeiter einer Teeplantage auf Sri Lanka auf. Den thematisch verschiedenen Beiträgen liegt ein kulturkritischer Ton zugrunde, der die Leitgedanken der Dialektik der Aufklärung aufgreift und widerspiegelt. Die Kontrastierung von Zentrum und Peripherie dient dabei als zentrales Mittel zur Darstellung der Kritikpunkte. Das Modell der Gegenwelten hat für Ransmayrs literarisches und journalistisches Schreiben dieselbe Funktion. Er urteilt bei beidem über Hierarchien von Kulturen und Sprachen, über Ideologien und alle Arten von Dogmen und darüber, dass das, »was ist, nicht bleiben kann und daß es eher darauf ankommt, zu begreifen, unter welchen Umständen und nach welchen Gesetzen Veränderungen vor sich gehen«2 . Ransmayr macht in seinen Magazin-Beiträgen auf Zusammenhänge
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Vgl. die Definition der Reportage und die Abgrenzung zum Feature in Haller: »Reportage/Feature«, 409. Ransmayr, Christoph: »›…eine Art Museum lichter Momente‹. Gespräch mit Volker Hage über ›Die letzte Welt‹«. In: Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Uwe Wittstock. Frankfurt a.M.: Fischer 1997, 212.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
und Hintergründe aufmerksam, die nicht von vorneherein erkennbar, »sondern unter [der] Oberfläche angelegt sind und den Leser*innen der Reportage zur Bergung überantwortet werden«3 . Er verlangt von seiner Leserschaft, ihre Umgebung einer ideologiekritischen Prüfung zu unterziehen. Die TransAtlantik-Reportagen erweisen sich als deutlich literarischer als die vorherigen Arbeiten im Extrablatt. So ist es nicht nur die metaphorisch aufgeladene Sprache, die Verwendung von Illustrationen als thematische Orientierung oder allegorischer Wegweiser für Leser:innen, sondern vor allem die erzählerische Atmosphäre, die Ransmayr (gemeinsam mit Martin Pollack) in den Reportagen erzeugt. Es handelt sich um vielschichtige, poetische Texte, die die »vom Autor aufgesuchten Orte und Personen poetisch überform[en]«4 . Die Entwicklung vom Journalisten zum Schriftsteller lässt sich anhand der Texte sehr gut nachvollziehen. Peripherie, Kulturkritik und das Thema des Einzelnen sind fortwährend grundlegende Motive, variieren aber in ihrer Umsetzung. In der Kakerlaken-Chronik decken zwei Reporter die eigentliche apokalyptische Bedrohung des Menschen auf: die Schabe. In Sieh, das Gute liegt so nah verspricht ein Millionenpublikum, dass der Fernseher als Informationsmedium keinerlei Macht über uns verfüge. Und in Leon erzählt ein jüdischer Familienvater von der Flucht aus Polen in den 1960er Jahren. Die ersten beiden Reportagen erheitern mit einem ironischen Tonfall. Die letzte bewegt durch ihre Ernsthaftigkeit. Das deutlich höhere Niveau der TransAtlantik-Reportagen äußert sich vor allem im Zusammenspiel der beigefügten Illustrationen. Text und Bild gehen eine persistente Beziehung ein, welche das Gesamtverständnis der Reportage bedingt: »Zentral für die Poetik Ransmayrs ist die Überblendung von historischem Bild und fotografischer Naturaufnahme, von Metapher und Dokument.«5 Während die Extrablatt-Reportagen dem Aufbau der journalistischen Reportage strenger folgen, lockert sich in TransAtlantik die Vorgabe einer Faktensammlung zu einer kreativeren Form der Wiedergabe der Wahrnehmungen unter Einzug fiktionaler Elemente. Die Reportagen des TransAtlantik-Magazins sind ein an der Wirklichkeit orientierter, auf Fakten basierender, aber vor allem auch literarischer und künstlerischer Ausdruck.
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Mergenthaler: »Spuren aus dem ›Anschlußjahr 1938‹«, 117. Stuhlmann, Andreas: »Heimat, Vergangenheit, Verantwortung: Haslinger, Ransmayr, Menasse. Ein Triptychon«. In: Fünfzig Jahre Staatsvertrag. Schreiben, Identität und das unabhängige Österreich, herausgegeben von Gilbert J. Carr und Caitriona Leahy. München: Iudicium 2008, 123. Fetz: Das unmögliche Ganze, 328.
Zusammenfassung: Wider die Kulturindustrie
Ransmayrs Reportagen bewegen sich in einem unbestimmten Terrain zwischen Journalismus und Literatur.6 Die Konstante der Extrablatt- und TransAtlantik-Reportagen liegt in ihrer Vermittlungsfunktion und nicht in ihrer äußeren Form.7 Ransmayrs journalistische Arbeiten sind eine literarische Umsetzung und Aneignung der Wirklichkeit, welche künstlerische Momente (Illustrationen) mit wissenschaftlicher Recherche (Dokumentation), Fiktion und Fakt verbindet.8 In seinen Romanen gestaltet sich die Symbiose von Fakt und Fiktion zu einem Ausdruck der ›Erfindung der Welt‹: »›Die Erfindung der Wirklichkeit‹ ist zugleich Erfindung und Wirklichkeit. Das ist letztendlich der erzählerische Anspruch Ransmayrs.«9 Die Reportagen lassen sich als Vorstufe seiner werkförmigen, literarischen Prosa bestimmen: Stahlender Untergang (1982), Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Die letzte Welt (1988) und Morbus Kithara (1995) entstehen größtenteils aus Vorarbeiten und Ideen seiner journalistischen Beiträge. Im Sammelband Der Weg nach Surabaya (1997) – einer Zusammenstellung ausgewählter Reportagen – äußert sich erstmals ihr Stellenwert. Atlas eines ängstlichen Mannes (2012) spiegelt retrospektiv in Form der episodischen Erzählung Ransmayrs literarische Reportagen und erzählt in 70 kurzen Texten von Neuem kulturkritisch vom Leben und Schicksal des Einzelnen an den entlegensten Orten der Welt.
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Vgl. Mergenthaler: »Spuren aus dem ›Anschlußjahr 1938‹«, 104. Vgl. Haller: Die Reportage, 72f. Vgl. die Definition der Reportage von Schlenstedt: Schriftsteller der Gegenwart. Egon Erwin Kisch, 72f. Habers, Henk: »Die Erfindung der Wirklichkeit. Eine Einführung in die Romanwelt von Christoph Ransmayr«. In: Hinter den Bergen eine andere Welt. Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Anke Bosse und Leopold Decloedt. Amsterdam: Rodopi, 2004, 293.
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Zweiter Teil: Aufklärungskritik und die Form der Reportage in Christoph Ransmayrs literarischem Werk Aufklärungs- und Herrschaftskritik sind zentrale Themen bei Christoph Ransmayr – von den frühen Reportagen bis zu seinen jüngsten Veröffentlichungen. In seiner Dankesrede zum Würth-Preis im Juni 2018 spricht der Autor zuletzt über die fatalen Folgen der Kolonialzeit und darüber, welche verheerenden Auswirkungen die europäische Herrschaft auf die afrikanische Bevölkerung hatte und immer noch hat.10 In seinen Romanen inszeniert Ransmayr Herrschaftssysteme und -situationen als Ausdruck eines fehlgeschlagenen Aufklärungsversuchs überaus kritisch und entlarvt sie als Kern der Aufklärungsproblematik. Die theoretischen Vorüberlegungen Horkheimers und Adornos zur Herrschaftskritik sollen einen Ausgangspunkt für die Aufklärungsrezeption in Ransmayrs literarischen Werken Strahlender Untergang (1982), Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) und Atlas eines ängstlichen Mannes (2012) bilden und die bedeutende Wechselwirkung von Aufklärung und Mythos verdeutlichen. Es wird den Fragen nachgegangen, wie Herrschaft in den Romanen literarisch inszeniert wird, welche Relevanz und Funktion Herrschaft in der Handlung übernimmt und wie sie konnotiert ist.
Dialektik von Aufklärungskritik und Aufklärungsbedarf Christoph Ransmayr kritisiert in seinen journalistischen und literarischen Texten jedwede Form von Hierarchie, Macht, Ideologie und Unterdrückung. In Strahlender Untergang lässt Ransmayr den ›Herrn der Welt‹, den Inbegriff der instrumentellen Vernunft und Ergebnis der fehlgeschlagenen Aufklärung als ersten Protagonisten seines literarischen Werks in der Wüste verschwinden. Die Schrecken des Eises und der Finsternis dokumentiert die jahrhundertelange 10
Ransmayr: »Europa hat seine Rechnungen aus der Kolonialzeit nie gezahlt«, 12.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Zerstörung des Mythos, die Beherrschung der Natur und die Hegemonieansprüche des vermeintlich aufgeklärten Europäers. Atlas eines ängstlichen Mannes erzählt kulturkritisch in 70 Episoden vom Leben und Schicksal des Einzelnen und den Vergehen der Menschen an der Natur, an sich selbst und an ihrer Umgebung an den entlegensten Orten der Welt. Ransmayr greift in seinen kulturkritischen Beiträgen wiederholt die Leitgedanken der Dialektik der Aufklärung auf. Horkheimer und Adorno entlarven die ›Aufklärung‹ als katastrophale Entwicklung des Zivilisationsprozesses. Sie wollen mit ihrer kritischen Analyse Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen aufdecken, um gesellschaftliche Missstände zu entschleiern.11 Ihre These »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« ist dabei nicht dualistisch zu verstehen, sondern vielmehr in sich komplementär.12 Sie verdeutlicht die Dialektik von Aufklärungskritik und Aufklärungsbedarf. Die Verbindung der Dialektik der Aufklärung zu Ransmayrs Romanen wurde schon häufig gezogen. Nach dem bisherigen Verständnis beginnen Ransmayrs Romane mit der Aufklärung und enden im Mythos,13 wodurch ein finiter Zustand vorausgesetzt wird, der das dialektische Verständnis von Aufklärung und Mythos missachtet. Horkheimers und Adornos Kernthese wird getrennt: Der Fokus liegt auf »und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« – die Umkehrung »schon der Mythos ist Aufklärung« verschwindet.14 Dabei ist die Struktur des aufklärerischen Denkens, welches auf die Entmythologisierung der Natur zielt, bereits im mythischen Denken angelegt. Der Mythos will »berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären«, weswegen die Mythen schon Aufklärung vollziehen.15 In der »Entzauberung der Welt« und den daraus resultierenden Herrschaftsstrukturen fällt die Aufklärung in der potenzierten Barbarei in den Mythos zurück.16 Die Idee der Aufklärung muss »aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft« gelöst werden, um die Entwicklung einer vernünftigen Gesellschaft mündiger
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DdA, 16. Ebd. Siehe Kapitel »Zur Forschungslage«, 12f.; vgl. Epple: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt; Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung; Wohlleben: »Carmen perpetuum«. DdA, 16. Ebd., 24. Ebd., 19.
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Menschen zu ermöglichen.17 Erst durch die Dekonstruktion aller Machtverhältnisse ist eine Humanisierung der Aufklärung realisierbar. In der Aufklärung sieht Ransmayr entsprechend der Dialektik der Aufklärung die Gefahren des Machtmissbrauchs, zugleich aber auch die Gelegenheit der Reaktivierung einer humanen Rationalität in der Tradition von Kants Kritik der praktischen Vernunft, nämlich so zu handeln, dass »die Maxime des Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«18 . Im Erzählen eröffnet sich für Ransmayr die Möglichkeit, die Fehlentwicklungen der Aufklärung zu demonstrieren und durch die Darstellung von Barbarei, Unmenschlichkeit und Grausamkeit einen neuen Versuch der Aufklärung zu wagen sowie zum kritischen Denken anzuregen – Kritik an der Aufklärung als Aufklärungsbedarf: Wenn der Lauf der Geschichte tatsächlich ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sein soll – selbst ein über die Welt und ihre Kulturen so mangelhaft informierter Philosoph wie Georg Friedrich Hegel hat das behauptet –, dann kann zur Förderung dieses Bewußtseins die bloße Erzählung ein mindestens ebenso geeignetes Mittel sein wie Predigt, Mission oder einer dieser flammenden Appelle, die oft überschlagen in ein Gehämmere auf der Klaviatur ideologischer Phrasen. Wenn von einem Rednerpult, von Plakaten und Transparenten herab beispielsweise die Barbarei von Rassismus, autoritärer Herrschaft oder kolonialistischem Übermenschentum verflucht wird, dann kann die aufklärerische Wirkung eines Erzählers durchaus darin bestehen, diese Barbarei, ihre Schrecken wie ihre Dummheit, in ihren konkreten, individuellen Formen zu beschreiben – keine programmatische, sondern genaue, lakonische Darstellung. Denn wer sich die von autoritärer Barbarei verursachten inneren und äußeren Verwüstungen einmal vorzustellen versucht hat, bloß vorzustellen!, etwa als Leser einer möglicherweise sentimentalen Geschichte von Liebe und Krieg, der wird vielleicht eine Spur weniger anfällig sein gegen die Versuchung, irgendeinem Gegröle, ob in Bierzelten, Kristallnächten oder Parteilokalen, zu applaudieren.19 Ransmayr ist in seinen Werken überaus aufklärungskritisch, indem er Herrschaftssysteme, Hegemonien und Machtmissbräuche als Produkte der Aufklärung konstruiert und an ihnen die Fehlentwicklungen einer eigentlich auf 17 18 19
Ebd., 16. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft, 30. Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör, 20.
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Freiheit, Gleichstellung und Humanität basierenden Idee einer mündigen Gesellschaft demonstriert. Dabei ist er keinesfalls ein Aufklärungsgegner: »[I]ch als Leser oder als Erzähler [bin] immer auf der Seite des Guten, des Wahren, der Aufklärung.«20 Die aufklärerische Wirkung von Ransmayrs Texten liegt in der Beschreibung von barbarischen Situationen. Er bietet keine absoluten Antworten, sondern bedient sich eines dialektischen Vermittlungsverfahrens21 im Rahmen der Ausgestaltung von Peripherie und Zentrum, Aufbruch und Ankunft, Erzählen und Verschwinden, Fakt und Fiktion. Diese Vermittlungspoetik bildet die Konstante in seinen journalistischen Arbeiten und literarischen Werken. Die Thematik der Dialektik der Aufklärung findet sich bereits in den Titeln seiner Romane: Strahlender Untergang ließe sich sinnverwandt als ›leuchtender Fehlschlag‹ deuten und sich in Bezug auf das Licht als Symbol der Aufklärung mit dem Fehlschlag der Aufklärung gleichsetzen. In Schrecken des Eises und der Finsternis können sowohl das Eis als Peripherie als auch die Finsternis als Zeichen des Mythos gedeutet werden, welches der aufklärerische Mensch zu überwinden sucht. Auch Atlas eines ängstlichen Mannes verbirgt im Titel zum einen den ›Atlas‹ als Zeugnis aufklärerischer Bestrebungen der Klassifizierung und Kartografierung und zum anderen den ängstlichen Menschen, dessen Unkenntnis und Unbeholfenheit für den Mythos steht. In der Kontrastierung von Zentrum und Peripherie als Sinnbilder der Aufklärung und des Mythischen übt Ransmayr seine Kritik und verdeutlicht die Missstände. Zentrum und Peripherie, Fakt und Fiktion, Aufbruch und Ankunft demonstrieren Grenzen, die der Autor zu überwinden, ja gar vollends verschwinden zu lassen versucht. In seinen Werken erschafft er eine ästhetische »Utopie, in der Mensch, Natur und Kunst zu einer Einheit verschmelzen«22 .
Die Form der Reportage Strahlender Untergang, Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Atlas eines ängstlichen Mannes weisen nicht nur auf unterschiedliche Art und Weise Merkmale der Reportage auf, sondern entstehen auch größtenteils aus Vorarbeiten, Recherchen und Ideen von Ransmayrs journalistischen Arbeiten. Besonders
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Ebd., 121. Vgl. Schaunig, »Panhumanes Schreiben«, 133. Hoffmann, Torsten: »Ransmayr, Christoph«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, herausgegeben von Wilhelm Kühlmann, Bd. 9. Berlin/New York: De Gruyter 2010, 423.
Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
die illustrierten Brandstätter-Ausgaben von Strahlender Untergang und Die Schrecken des Eises und der Finsternis erinnern durch ihre Text-Bild-Beziehungen an die Foto-Reportagen des Extrablatt-Magazins. Die beiden literarischen Werke der frühen 1980er Jahre erscheinen in dem Zeitraum, in welchem Ransmayr noch aktiv als Journalist bei Extrablatt (1978–1982) und TransAtlantik (1982–1986) tätig war und regelmäßig Reportagen produzierte. Seine Texte weisen dabei alle einen Aufklärungsbedarf auf, auf den der Autor bereits in seinen Reportagen abzielt: Beleuchtung von gesellschaftlichen Missständen, autoritärer Gewaltherrschaft, Ungerechtigkeiten und kolonialistischen Hegemonieansprüchen. Die Hybridität zwischen Fakt und Fiktion, zwischen journalistischer Authentizität und autofiktionalem Schreiben, die bereits die Darstellungsweise der TransAtlantik-Reportagen charakterisiert, führt Ransmayr in den Romanen als Erzählmodell weiter. Die journalistische Figur des Berichterstatters tritt in den drei Prosatexten in unterschiedlicher Form auf und berichtet über Orte, Reisen und Begegnungen, die unverkennbar fiktive Züge aufweisen, aber dennoch im Sinne einer journalistischen Voraussetzung wahrhaftig sind. Für Ransmayr besteht »Wirklichkeit immer aus dem Tatsächlichen und dem bloß Möglichen«23 . Während der Autor in seinen Reportagen noch an der Grenze von Fiktion und Realität schreibt, verschwindet diese in den literarischen Texten. Das kulturkritische Programm seiner journalistischen Texte setzt sich zwar in seinem erzählerischen Werk fort, potenziert sich aber in der Überblendung von historischen Fakten und literarischer Rekonstruktion und manifestiert sich in der Symbiose von Bild und Erzählung. Das dialogische Verhältnis zwischen Foto und Text in Strahlender Untergang und Die Schrecken des Eises und der Finsternis erinnert an die frühen Reportagen und markiert die zunehmende Literarisierung seiner Texte, da sich sowohl das Foto als auch der Texte als konstitutiv erweisen und damit jeder Teil als unverzichtbar im Hinblick auf die gesamte Arbeit gilt. Das Text-Bild-Verhältnis der Brandstätter-Ausgaben bewährt sich somit als Leitfaden zum Verständnis der Gesamtaussage, welcher bei den unbebilderten Fischer-Ausgaben entfällt. Der Episodenband Atlas eines ängstlichen Mannes ist zwar nicht illustriert, die einzelnen Erzählungen greifen jedoch die vier konstituierenden Dimensionen der Reportage – Ereignis, Akteur:in, Zeit und Raum – sowie das Grundmuster aus Einstieg, Reihung von Fakten, Zitaten, Beispielen und bedeutungsschwerem Schluss auf und 23
Kämmerlings, »›Ich bin eher ein Anhänger der Blutrache‹«.
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entsprechen so dem Aufbau der frühen journalistischen Reportagen des Autors.24 Retrospektiv spiegeln die 70 Episoden, welche auf Reiseeindrücken und gesammeltem Material des Österreichers der letzten 40 Jahre beruhen, die journalistischen Vorabreiten Ransmayrs und verhandeln das Thema des Einzelnen, welches bereits den Kern seiner Reportagentexte ausmachte, auf literarische Art und Weise neu. Entgegen der Beobachtung »Vernunft taugt nicht zur Erkenntnis und Reflexion«25 , führt Ransmayr im Aufzeigen und in der Vermittlung der Missstände und Fehlentwicklung der Gesellschaft am Beispiel des Einzelnen eine Aufklärung durch, die zur Reflexion der eigenen Haltung und Denkweise anregt.
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Vgl. die Definition der Reportage in Haller: »Reportage/Feature«, 409. Epple: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt, 48.
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Seine erste poetische Arbeit Strahlender Untergang von 1982, in rhythmischer Prosa geplant,1 schreibt der junge Schriftsteller in Wien und im südgriechischen Trachila.2 Die Erstausgabe wurde im Brandstätter Verlag als Text-BildBand mit 29 Fotografien von Willy Puchner3 und insgesamt 15 Textseiten von Christoph Ransmayr in einer Auflage von lediglich 5000 Exemplaren publiziert. In den späteren Ausgaben des Fischer Verlags wird die Erzählung im Flattersatz neu aufgelegt, der Bildanteil entfällt vollständig. In vier heterogenen Kapiteln in der Form eines Telegramms, einer Rede, einer Anleitung und eines Monologs (1. Fragment eines Fernschreibens, 2. Rede vor einer akademischen Delegation in der Oase Bordj Moktar, 3. Hinweise für eine Bauleitung, 4. Lichtschwielen, Blendung und Entwässerung) erzählt Strahlender Untergang von einem Entwässerungsprojekt im Tanezrouft, einer Saharagegend südlich Algeriens, und dem Plan einer »Neuen Wissenschaft«, um den Menschen, den »Herrn der Welt«, in einem großangelegten »Terrarium« unter der glühenden Sonne der Wüste zu dehydrieren, bis nur noch »ein entwässerter Rest« übrigbleibt, »aus dem nun endlich nichts mehr hervorzugehen braucht« (SU
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In der Brandstätter-Ausgabe von 1982 wurde der Text gegen Ransmayrs Wunsch als Fließtext veröffentlicht. Erst später wurde das Textbild den Vorstellungen des Autors angepasst. Der Zusatztitel Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen auf dem Cover war eine weitere Änderung in der Neuauflage. Die folgende Analyse bezieht sich auf die Erstauflage von 1982. Ransmayr schreibt in Trachila nicht nur seinen ersten literarischen Text, der Ort wird auch zentraler Handlungsraum seines späteren und breitrezipierten Romans Die letzte Welt. Puchner und Ransmayr erarbeiten bereits mehrfach in Extrablatt gemeinsame Reportagen – Texte von Ransmayr und Fotos von Puchner (H. 11, 1980, 74–81; H. 9, 1981, 56–63; H. 1, 1982, 16–23; H. 1, 1982, 44–47).
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24). Ziel ist es, »dem Herrn der Welt die Bedingungen seiner eigenen Auflösung« zu schaffen (ebd.). Die Fokussierung des Einzelnen ist nicht nur leitendes Motiv in Ransmayrs journalistischem Schreiben, sondern vor allem auch in seinen literarischen Werken. In seinen kultur- und sozialkritischen Reportagen verdeutlicht er anhand von Schicksalsschlägen und Lebenssituationen Einzelner Missstände, Ungerechtigkeiten und Nöte von Randgruppen unserer Gesellschaft. In Strahlender Untergang lässt er den Einzelnen, den »Herrn der Welt«, den Inbegriff und die Verkörperung der instrumentellen Vernunft und Ergebnis der fehlgeschlagenen Aufklärung als ersten Protagonisten seines literarischen Werks dort verschwinden, wo »das Schicksal und Leben des [E]inzelnen […] nirgendwo kostbarer« erscheint »als im leeren Raum« – in der Wüste.4 Die Wüste als unbebautes, beinahe vegetationsloses, mit Sand bedecktes und trockenes Gebiet ist ein Ort mit irregulären und erstaunlichen Strukturen. Die ›terra incognita‹ erweist sich als Konglomerat von typisierten Vorstellungen, »die sich zum einen auf wenige Schlagwörter wie Sand, Dünen, Beduinen, Hitze und Durst reduzieren lassen, zum anderen aber ein äußerst dichtes Bedeutungsgeflecht nach sich ziehen, das aus einer Vielzahl an Überschneidungen mit anderen Themenbereichen herrührt«5 . Die Einsamkeit, die Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden, das mythologische Potenzial und die Verwüstung, gekoppelt an apokalyptische Visionen, bilden solche Themenkomplexe, welche im Raum der Wüste verhandelt werden. Das Ödland gestaltet sich dabei als Gegenbild zur Zivilisation und ihrem Verhältnis zur Stadt.6 Beim literarischen Topos Wüste handelt es sich um einen Topos, der sich, gerade aufgrund der ihm eingeschriebenen Polyvalenz, für viele Schriftsteller zur Entfaltung ihrer poetologisch-ästhetischen Programme besonders eignet und an dem daher die jeweiligen Programme außerordentlich gut nachvollzogen werden können.7 Ransmayr dient die Wüste als Kontrastbild zu der vom Menschen übervölkerten Welt. In ihr sollen die Individuen (allen voran die Europäer) verschwinden.
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Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör, 103. Lindemann, Uwe: Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg: Winter 2000, 13. Ebd., 14. Ebd., 256.
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Es geht dabei um keine apokalyptische Zukunftsvision8 , sondern um eine künstlich geschaffene Möglichkeit zur Auflösung einer fehlentwickelten Spezies – eine Möglichkeit des Neu-Anfangs. Die vermeintliche Apokalypse ist als Stadium des Übergangs zu verstehen, nicht als Untergangsszenarium. Das Subjekt – das Ich – begreift sich im Prozess der Entwässerung selbst als Natur beziehungsweise erkennt seine eigene Natur an und befreit sich so vom Zwang der Selbsterhaltung. In der Dekonstruktion der hierarchischen Verhältnisse durch die Rückkehr zur Natur lässt sich die fehlgeleitete Aufklärung humanisieren. In Strahlender Untergang findet Ransmayr einen ironischen und vor allem überaus logischen Ausweg, die Fehler der Menschheit, die mit der Zeit der Aufklärung ihre Legitimation gefunden haben, zu beheben. Das Leben, welches seinen Anfang im Wasser nahm, soll in der trockensten Gegend der Welt alles Wasser wieder verlieren. Die Sonne ist dabei das leitende Medium: Im Licht dieser Sonne erscheint gegenwärtig allerdings klarer, ja bizarrer als je zuvor, daß spätestens seit dem Auftauchen des Menschen und seiner Zivilisation, alle Erscheinungen und Formen des Lebens, dessen Entstehung dieser Stern bedingte und förderte, wieder auf jene Finsternis zutreiben, aus der sie gekommen sind. Immer rasendere Folgen von politischen und 8
Ransmayr dementiert in seinem Erzählband Geständnisse eines Touristen, eine Apokalypse herbeizusehnen: »Die Wüste?, menschenleere Landschaften?, gar die Apokalypse als mein Thema? Ach was, ich bin nicht vernarrt in Untergangsszenerien. Es ging mir nie bloß um die Vorstellung, wie die Welt ohne Menschen aussehen könnte, auch nie bloß um jenen seltsamen, menschenleeren Frieden, in dem alles vorbei und ausgestanden ist. Aber eine Welt ohne Menschen entspricht durchaus jenem Zustand, der die längste Zeit auf diesem Planeten geherrscht hat und der, in astronomischen Maßstäben gemessen, auch alles, was noch kommt, wieder bestimmen wird. Ein Blick in die ferne Vergangenheit liefert dabei ganz ähnliche Bilder wie einer in die Zukunft: keiner mehr da. Menschenleere ist keine Alptraumwelt, sondern der Normalzustand im Universum und selbst erdgeschichtlich, nur gelegentlich höllische Perspektive. Wenn sich ein Erzähler entschließt, dem zivilisations- und kulturgeschichtlichen Aspekt seiner Weltbeschreibung einen, sagen wir, naturgeschichtlichen Aspekt zur Seite zu stellen, erfährt er eine plötzliche Geschwindigkeitsveränderung. Die Entwicklung im historischen Raum erscheint plötzlich rasend, fliegend!, gemessen am Tempo etwa geologischer oder gar astronomischer Prozesse. Erzählen kann gelegentlich auch zum Versuch werden, die Geschwindigkeiten in ihrer ungeheuerlichen Differenz aufeinander zu beziehen. Das bedeutet ja nicht, historische Maßstäbe mit dem Verweis auf eine mathematische, physikalische oder metaphysische Unendlichkeit für bedeutungslos zu erklären, ganz im Gegenteil: Das Schicksal und Leben des einzelnen erscheint nirgendwo kostbarer als im leeren Raum«, Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör, 103.
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ökologischen Katastrophen machen deutlich, daß sich der Mensch selbst zur größten und verhängnisvollsten Katastrophe eines sonnenumkreisenden und sonnenabhängigen Planeten entwickelt hat. Was also liegt näher, als im Geist eines naturfreundlichen Zynismus diesen Menschen, die zum Individuum pervertierten Katastrophe, im Licht der Sonne zu beschreiben? Der Mensch und seine Landschaft schutzlos dem Stern ausgesetzt: Geblendet, verdurstend. Der Genesis der Sonne selbst, ihrer Formung aus Nebeln, ihrer Verdichtung, ›Verbrennung‹, Explosion und schließlich ihrem Verlöschen und Erkalten, wären also die einzelnen Stadien des Durstes, der Trockenheit, Dürre und schließlich der Blendung gegenüberzustellen. (SU, Klappentext)
Dialektik der Aufklärung: Herrschaft und Ideologie Horkheimer und Adorno deuten Rationalität als ›instrumentelle Vernunft‹. Ein Vernunftmensch ist, wer »imstande ist zu erkennen, was ihm nützt« und »die Fähigkeit der Klassifizierung, des Schließens, der Induktion und Deduktion« besitzt.9 Die ›instrumentelle‹ als eine ›subjektive Vernunft‹ ist von der ›objektiven Vernunft‹ zu trennen: Die ›objektive Vernunft‹ – die Überzeugung, das Weltganze sei von einer umfassenden ›Vernunft‹ gesteuert, an der der Einzelne durch seine je eigene Vernünftigkeit teilhaben könne, […] wird in der Dominanz der ›instrumentellen‹ Vernunft endgültig aufgegeben. […] Die Aufklärung selbst hat die Idee einer ›objektiven Vernunft‹ aufgelöst.10 Horkheimer und Adorno setzen in ihrem Urteil der »Selbstzerstörung der Aufklärung« die ›instrumentelle Vernunft‹ und ›Aufklärung‹ gleich.11 Die auf Vernunft gründende Aufklärung, die mit dem Ziel der Befreiung des Menschen angetreten war, wandelt sich aufgrund von Aporien, die der Vernunft inhärent sind, in Unfreiheit.12
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Horkheimer, Max: »Zum Begriff der Vernunft«. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Vorträge und Aufzeichnungen 1949–1973, herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 7. Frankfurt a.M.: Fischer 1985, 22. Herrmann, Leonhard: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart. Stuttgart: Metzler 2017, 19. DdA, 11. Herrmann: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart, 20.
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Die aus der Herrschaft und Unfreiheit resultierende Objektivierung wendet sich zum Schluss gegen das Subjekt selbst, weswegen die Dialektik der Aufklärung zum Verschwinden des Individuums als denkendes Subjekt führt. Strahlender Untergang endet mit dem Verschwinden des Subjekts, des »Ich« (SU 12). Kurz vor Einsetzen des Todes erkennt der Proband sein Selbst: »›Ich‹ bin es, ›ich‹, der da untergeht« (ebd.). Erst mit der Auflösung der Identität findet die Identitätsfindung bei ihm statt, findet er zur Natur zurück und erkennt sich selbst. Der, der bisher alles verwechselt hat – »[d]ie ›Kultur‹ mit Zivilisation, die blinde Entwicklung seiner Technik mit ›Fortschritt‹, Ideologie mit ›Bewußtsein‹, Herrschaft schließlich mit ›Ordnung‹« (SU 13) –, warf die Maxime der Aufklärung durcheinander. Ransmayr bedient sich in seinem Erstlingswerk nicht nur der Argumentation, sondern auch des Vokabulars und der Metaphorik der Dialektik der Aufklärung. Bereits Horkheimer und Adorno sprechen davon, dass Aufklärung seit jeher das Ziel verfolge, den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als »Herren der Welt« einzusetzen.13 Ransmayr verurteilt in Strahlender Untergang das eurozentristische Denken und Wissenschaftssystem des »Weißen«, des Europäers: »Er räkelte sich, dehnte sich aus auf dem Rücken ihm fremder Kulturen […] und alles geriet ihm zur Herrschaft« (SU 19). Den maßlosen Anspruch der Wissenschaft fasst Ransmayr im Motto »Das Meßbare zu messen, und das Unmeßbare meßbar zu machen« (SU 12) und rekurriert auf das Galileo Galilei zugeschriebene Zitat ›Man muss messen, was messbar ist, und messbar machen, was noch nicht messbar ist‹. Dies gilt im Allgemeinen zwar als treffende Charakterisierung der Vorgehensweise des Begründers der neuzeitlichen Naturwissenschaften, ist aber in keiner seiner Schriften so belegt.14 Nichtsdestotrotz ist die Wissenschaft aus dem Selbstverständnis der Aufklärung entwachsen und zu einem Instrument der Herrschaft verkommen.15 Das Licht als Wesen und Sinnbild der Erleuchtung und Aufklärung erweist sich in Form der Sonne als dominierendes Motiv in Strahlender Untergang. Sie ist nicht nur Gegenstand von Puchners Fotos
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DdA, 20. Kleinert, Andreas: »Der messende Luchs: Zwei verbreitete Fehler in der Galilei-Literatur«. In: Naturwissenschaften, Technik und Medizin 17, Nr. 2, 2009, 200. Fröhlich, Monica: »Europa-Diskurse im Werk Christoph Ransmayrs«. In: Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart, herausgegeben von Wulf Segebrecht, Claude D. Conter, Oliver Jahraus und Ulrich Simon. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003, 431.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
und Coverbild (Abb. 1), sondern auch inhaltlich elementarer Bestandteil zur erfolgreichen Durchführung der Entwässerung des Menschen.
Abb. 1
Bereits vor Beginn der Erzählung beschreibt ein Zitat aus Thomas Pynchons Die Enden der Parabel16 die Sonne als »gigantisches Feuerofen-Brüllen«, in welchem die Menschen geboren werden, leben und sterben – als Wiege allen Lebens und ordnender Kreislauf:
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Pynchon, Thomas: Die Enden der Parabel. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. Ransmayr zitiert aus diesem Roman von 1973. Die Sonne ist Anfang allen Lebens auf der Erde: »Am Anfang, geehrte Herren – […] – am Anfang war die Sonne« (SU 17). Beide Werke lassen sich als Parabel für das Leben lesen. Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal orientiert sich Ransmayr an Pynchons Werk. Strahlender Untergang und Die Enden der Parabel sind beide in vier Kapitel unterteilt mit unterschiedlichen, an die jeweilige Situation angepassten Erzählstimmen. Ähnlich wie in Ransmayrs Text verschwindet in Pynchons Roman ebenfalls am Ende der Protagonist, indem sich die Figur auflöst und von seinem Umfeld nicht mehr wahrgenommen werden kann. Pynchons Roman wurde von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz übersetzt. 1982 veröffentlichte Jelinek in Extrablatt einen Aufsatz zu Pynchons Werk und der Idee der ›Entropie‹ (Extrablatt, H. 2/1982). Die Vermutung liegt nahe, dass sich Jelinek und Ransmayr darüber ausgetauscht haben.
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Seit Millionen von Jahren umgibt uns das Brüllen der Sonne, ein gigantisches Feuerofen-Brüllen über einhundertfünfzig Millionen Kilometer, das so vollkommen gleichförmig ist, daß Generationen von Menschen in ihm geboren werden, leben, sterben konnten, ohne es jemals zu bemerken. (SU 6) Das Licht als Leitbild der Aufklärung dient in Strahlender Untergang zur Demonstration des ideologisch verblendeten »Herrn der Welt«, des vom Streben nach Wissen und Macht Uneinsichtigen, der im Zuge seiner Verfehlungen der Fähigkeit des klaren Blicks, des vernünftigen Urteils beraubt wurde.17 Der Blick des Probanden in die Sonne […] kehrt den Blick um, richtet ihn nach innen, wodurch die kolonisierende Perspektive des Herrschaftsblicks außer Kraft gesetzt ist: Der ›Herr der Welt‹ erblindet.18 Im Verschwinden, in der Auflösung des Probanden »ist die Trennung von erkennendem, herrschendem Subjekt und beherrschten Objekt aufgehoben«19 . Die Dialektik der Aufklärung ist dabei keineswegs an ihr Ende gekommen,20 sondern befreit sich von allen Machtverhältnissen und löst sich aus ihren Herrschaftsmechanismen. Im Prozess des Verschwindens im Sinne eines Zueinanderfindens von Mensch und Natur besteht die Möglichkeit des Neu-Anfangs für das Subjekt und eine Erneuerung des Aufklärungsprojekts.
Text-Bild-Verhältnis Der Band Strahlender Untergang ist eine Synthese von Fotografie und Text. Die Sonne als Grundlage allen Lebens und Leitmotiv der Bilder dient der metaphorischen Umsetzung von Ransmayrs Vorstellung vom Ende der Menschheit durch Dehydrierung. Willy Puchners Fotografien zur Sonne übersetzt der Autor in sein Medium des Textes. Die Bilder bewähren sich als Wegweiser bei der Entdeckung des Wesentlichen. Entgegen der Forschungsmeinung, die Fotos
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Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 76. Fetz: »Stichwörter zu einer Poetik der Erzählung bei Christoph Ransmayr«, 68. Fetz, Bernhard: »Der ›Herr der Welt‹ tritt ab. Zu ›Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder die Entdeckung des Wesentlichen‹«. In: Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Uwe Wittstock. Frankfurt a.M.: Fischer 1997, 33. Ebd., 35.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
»illustrieren den Text nicht«21 , verdeutlicht eine genaue Textanalyse die TextBild-Beziehung in Strahlender Untergang und deren Korrelation. Besonders im Layout wird bereits eine Verflechtung der Fotos mit der Erzählung vorgenommen. So thematisiert nicht nur vorangehend der Klappentext den Kreislauf der Sonne: Die verschiedenen Stadien des Sonnenstandes sind ebenso wie die »Sonnenbahn« insgesamt seit je auch philosophische und religiöse Metaphern gewesen, die alle denkbaren Vorstellungen des Lebens als harmonische Kreisläufe illustrierten. Tagesanbruch und Aufgang der Sonne etwa, blieben immer an das Bild der Geburt, den Anfangspunkt natürlicher Prozesse, gebunden und der Untergang des Sterns, das Bild des Verlöschens und Versinkens, an die Vorstellung des Sterbens, des Todes. Wesentlich aber haftete dieser so genannten »Sonnenbahn«, die immer nur die Bahn ihres Beobachters beschrieb, der Gedanke einer kosmischen, versöhnlichen Harmonie an. Der Aufgang der Sonne, ihr Aufstieg, die strahlende Passage des Zenits, schließlich ihr Sinken und Untergang: Das Bild des Lebens. Auch die Anordnung von Text und Bild greift den harmonischen Kreislauf der Sonne auf. An die vier Kapitel angepasst folgt die Sonne in den Fotografien ihrem Lauf, obwohl es hierbei um den Stand der Sonne geht und nicht um die passende Tageszeit. Die Verbindung von Bild und Text erinnert an Ransmayrs Reportagen, in denen die beiden Medien in einem engen Bezug zueinander stehen und die zunehmende Literarisierung seiner Texte markieren. In Strahlender Untergang verdichtet sich diese kohärente Beziehung und unterstreicht das dialogische Verhältnis zwischen Foto und Text. Anhand der tabellarischen Visualisierung des Buchaufbaus zeigt sich, dass vor allem am Anfang und am Ende das Text-Bild-Verhältnis ausgeglichen ist und im Mittelteil, im ›Zenit‹, der Bildanteil dominiert. Als Leitfaden führt die Sonne gleichermaßen durch Bild und Text und erweist sich als maßgebliches Element einer erfolgreichen ›Projekt‹-Durchführung. Der Untergang der Sonne, ihr Verschwinden, verknüpft sich mit der ›Entwässerung des Herrn der Welt‹, seinem Verschwinden.
21
Fetz: »Der ›Herr der Welt‹ tritt ab«, 28.
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Strahlender Untergang: Aufbau
Seite
Ransmayr /Puchner
Bild
Inhalt
Cover Abb. 1
Puchner
Sonnenuntergang durch Fenster einer in Natur freistehender Betonmauer
Seite 5 Abb. 2
Puchner
Sonnenuntergang (ohne Sonne) auf »nahezu geometrischer Ebene«
Seite 6
Ransmayr
1 Nachricht aus dem Taneszrouft
Seite 7
Ransmayr
1 Nachricht aus dem Taneszrouft
Seite 8 Abb. 3
Puchner
Sonnenuntergang über Landzunge vor großem Gewässer
Seite 9 Abb. 4
Puchner
Close-up der Lichtbahn auf dem Wasser
Seite 10
Ransmayr
Layout
ab hier Textund Bildanteil ausgeglichen
2 Lob des Projektes
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Seite
Ransmayr /Puchner
Bild
Inhalt
Seite 11 Abb. 5
Puchner
Sonnenuntergang hinter einem Strommast und oberhalb einer Baumlinie
Seite 12
Ransmayr
2 Lob des Projektes
Seite 13
Ransmayr
2 Lob des Projektes
Seite 14 Abb. 6
Puchner
Sonnenuntergang über der Wolkengrenze
Seite 15 Abb. 7
Puchner
Sonnenuntergang auf der Höhe der Wolkengrenze
Seite 16 Abb. 8
Puchner
Sonnenuntergang hinter kahlem Hügel mit alleinstehendem Baum
Seite 17
Ransmayr
2 Lob des Projektes
Seite 18
Ransmayr
2 Lob des Projektes
Seite 19
Ransmayr
2 Lob des Projektes
Layout
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Seite
Ransmayr /Puchner
Bild
Seite 20 Abb. 9
Puchner
Lichtbahn auf leicht welligem Wasser mit Seegras
Seite 21 Abb. 10
Puchner
Sonnenlicht durch Wasserfall und dessen Aufprall am Boden
Seite 22 Abb. 11
Puchner
Sonnenlicht auf welliger Wasseroberfläche
Seite 23 Abb. 12
Puchner
Lichtspiel auf einem Wasserstrom
Seite 24
Ransmayr
Seite 25 Abb. 13
Puchner
Blattloser Baumschatten auf hell verputzter Außenwand
Seite 26 Abb. 14
Puchner
Gebäudeschatten auf einer großen Hallenwand mit vorangestelltem Maschendrahtzaun
Inhalt
Layout ab hier Bilddominanz
2 Lob des Projektes
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Seite
Ransmayr /Puchner
Bild
Seite 27 Abb. 15
Puchner
Holzgitter und dessen Schatten auf weiß verputzter Backsteinwand
Seite 28 Abb. 16
Puchner
Schatten und Licht auf einer Lamellenwand
Seite 29
Ransmayr
Seite 30 Abb. 17
Puchner
Kleines Lichtdreieck mit hochstehender Sonne in der Ecke eines im Schatten liegenden antiken Hofes
Seite 31 Abb. 18
Puchner
Sonne im Zenit oberhalb des Dachgiebels eines Hauses mit geschlossenem Holzladen
Seite 32 Abb. 19
Puchner
Gebrochener Lichtstrahl auf Wasseroberfläche neben Anlegepfeiler
Inhalt
3 Das Terrarium
Layout
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Seite
Ransmayr /Puchner
Bild
Seite 33 Abb. 20
Puchner
Lichtreflexion des Sonnenballs auf dem Wasser eines Hafenbeckens
Seite 34 Abb. 21
Puchner
Vereinzelte dünne Sonnenstrahlen durch Schilf an gefrorenem Seerand
Seite 35
Ransmayr
Seite 36 Abb. 22
Puchner
Schwache Sonne hinter dichter Wolkenwand
Seite 37 Abb. 23
Puchner
Schwache Sonne hinter dichter Wolken- und Nebelwand
Seite 38 Abb. 24
Puchner
Strahlensonne oberhalb der Wolkengrenze und Bergspitzen
Seite 39 Abb. 25
Puchner
Sonnenlicht hinter großen Wolken mit Lichtreflexion auf Gewässer mit Stadtsilhouette
Inhalt
3 Das Terrarium
Layout
163
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Seite
Ransmayr /Puchner
Seite 40
Ransmayr
Seite 41 Abb. 26
Puchner
Seite 42
Ransmayr
Seite 43 Abb. 27
Puchner
Seite 44
Ransmayr
Seite 45 Abb. 28
Puchner
Seite 46
Ransmayr
Bild
Inhalt
Layout
4 Strahlender Untergang
ab hier Textund Bildanteil ausgeglichen
Strahlensonne durch Sprossenfenster eines dunklen Raums 4 Strahlender Untergang Sonnenlicht und Lichtstreuung auf regenverdrecktem Schaufenster mit Blick auf eine Straßenecke 4 Strahlender Untergang Niedriger Sonnenstand hinter Landzunge und Lichtreflexion auf Gewässer mit frontal gestelltem Warnschild »Lebensgefahr« 4 Strahlender Untergang
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Seite
Ransmayr /Puchner
Bild
Seite 47 Abb. 29
Puchner
Sonnenuntergang hinter gesplitterten Eisschollen mit Hund und Steeg am Meer
Seite 48
Puchner
Kein Bild
Inhalt
Layout
Gedanken über die Sonne
3.1 Nachrichten aus dem Tanezrouft. Fragment eines Fernschreibens Dem ersten Kapitel von Strahlender Untergang ist eine Fotografie von Puchner vorangestellt (Abb. 2). Sie zeigt die erste rot-gelb leuchtende Helligkeit einer aufgehenden Sonne hinter einer fast perfekt gradlinig verlaufenden und im Schatten liegenden Steppe unter einem schwarzen Nachthimmel (SU 5): »eine nahezu geometrische Ebene« (SU 7).
Abb. 2
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Der Tanezrouft (dt. ›Wüste‹) ist ein ebenes Gebiet der Sahara, welches sich entlang der Grenze von Mali und Algerien erstreckt. Dieses Gebiet ist, geologisch betrachtet, einst starker Wassererosionen ausgesetzt gewesen; heute jedoch stellt neben der Hitze die Bodenerosion durch Wind aufgrund der nahezu völlig fehlenden Vegetation das Hauptproblem für einen jeglichen Organismus dar.22 Die Erzählung beginnt westlich des Ahaggar. Das Anfangskapitel führt in das Geschehen in Form einer journalistischen Meldung – eines Telegramms – ein. Im Konjunktiv verfasst, weil von einem Augenzeugen, einem Lastwagenfahrer, aus zweiter Hand beobachtet und berichtet, informiert ein Reporter von den Geschehnissen vor Ort aus der Wüste: Innerhalb einer Woche habe sich bei Adrar, so berichtete ein Lastwagenfahrer weiter, eine Kolonne wüstentauglicher Bau- und Transportfahrzeuge von größtem Fassungsvermögen formiert: Achtundvierzig ›caterpillars‹ und sicherlich das Doppelte an ›caminos‹. Eingehüllt in eine kilometerlange, ungeheure Wolke aus Sand und Staub, habe sich diese Kolonne schließlich in Richtung Bordj Moktar in Bewegung gesetzt, habe den Wendekreis des Krebses passiert und sei nach zwölf Tagen, im Gebiet der alten Karawanenstraße nach Taoudenni und sozusagen im glosenden Zentrum des Tanezrouft, der ›Wüste der Wüsten‹, zum planmäßigen Stillstand gekommen. (SU 6) Der Aufbau des Erzähleingangs greift die Form einer klassischen Meldung auf. Im ersten Satz wird das Wichtigste, der harte Kern der Information, wiedergegeben und die relevanten Fragen ›Wer‹ und ›Was‹ beantwortet. Im Weiteren vernachlässigt Ransmayr den strengen Aufbau einer Nachricht. Zwar informiert der zweite Satz über mehrere Einzelheiten des Geschehens und der Situation vor Ort – dass die Gegend nur in »größter Not«, »des dringenden Warenbedarfs« oder »aber des Irrsinns« durchquert worden sei (SU 6). Jedoch wird der Nachricht episodisch als »bemerkenswertes Beispiel« eingeschoben, dass »man hier die teils verwesten, teils mumifizierten Überreste von zweitausend Mann und eintausendachthundert Kamelen gefunden« habe – ein »Schlussbild einer großartigen Karawane, die sich vergeblich um den Transport von Salzplatten von Taoudenni nach den Märkten des Nordens bemüht hatte« (SU 6–7), dem ein wertender, vor allem ironischer Kommentar 22
Spitz: Erfundene Welten – Modelle der Wirklichkeit, 132f.
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
des Reporters folgt: »Aber groß sei Allah.« (SU 7) Journalistische Nachrichten grenzen Meinungen grundsätzlich aus: Die eigene Ansicht hat in der Nachricht nichts zu suchen, Journalisten sollen sich stattdessen um Objektivität bemühen. Eines der obersten Gebote der seriösen Berichterstattung ist es, Nachricht und Meinung voneinander zu trennen.23 Wertende Einschübe häufen sich im Fortlauf des Textes. So kommentiert der Reporter kritisch die »mit dem Lineal gezogene Grenze zwischen der algerischen und der Sahara von Mali« und spielt damit auf die ungerechte Grenzziehung und Aufteilung der afrikanischen Länder durch die europäischen Imperialisten während der Kolonialzeit an (ebd.). Inhaltlich wird weiterhin aus der Sicht des Lastwagenfahrers vom Aufbau des »Projektes« berichtet. 2300 Arbeiter haben vor Ort eine Fläche von etwa 70 Quadratkilometer »in eine nahezu geometrische Fläche verwandelt« (ebd.), die später als »Terrarium« bezeichnet wird (SU 35). Mit »Abtragungen, Aufschüttungen, Geröllentfernungen, auch Sprengungen« musste sich die Wüstenlandschaft dem Willen des Menschen beugen und wurde ihrer Natürlichkeit beraubt (SU 7). Die Besitzansprüche und die Vereinnahmung der leeren Wüstenfläche greifen das kolonialistische und eurozentristische Verhalten der Europäer erneut auf und unterstreichen Ransmayrs Kritik gegenüber einem solchen Vorgehen. Eine knapp vier Meter hohe Aluminiumwand »ohne den geringsten Durchlaß« sorgt dafür, die Natur vollends auszuschließen und sich ironischerweise vor einer Desertifikation, »der restlichen Ausdehnung des Tanezrouft«, zu schützen (ebd.). Nach dem Abzug und Rücktransport der Arbeiterschaft wurde ein »vierzigjähriger Mann, weiß, Europäer vermutlich« mit einem Helikopter in das »menschenleere Areal« ausgesetzt und zurückgelassen (ebd.). Die Leere der Wüste zielt metaphorisch auf die Auslöschung des Menschen und unterstreicht die Ironie, die unbewohnbare Wüste für einen kurzen Zeitraum besiedeln zu wollen und ein Terrarium als Todesmaschine zu nutzen, obwohl der Mensch ungeschützt in der Wüste gleichermaßen auf natürlichem Wege umkommen würde. Nach der Ankunft des Mannes, welche »unter wissenschaftlicher Aufsicht erfolgt sei«, wurde der Bereich von niemandem mehr betreten. Über das weitere Geschehen, die Bedeutung der Vorgänge und ihre Folgen wurde der Lastwagenfahrer »außer der Ermunterung der Arbeiterschaft immer wieder vorgebrachten Mahnung, ›jeder Handgriff diene dem Projekt und der Zukunft‹«, 23
Ruß-Mohl: Journalismus. Das Lehr- und Handbuch, 56.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
im Unwissen gelassen (SU 7). Das »Projekt« als höheres Ziel ist ein weiteres Beispiel dafür, wie der Mensch einen vermeintlich unbewohnbaren Raum einnimmt, seinen Vorstellungen anpasst und die Natur zu bezwingen versucht, um seinen Willen ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Das Thema der Zerstörung von und des Eindringens in menschenleere Territorien durchzieht Ransmayrs Folgeromane im Meer, Gebirge und in der Polarlandschaft. Dem ersten Kapitel folgen zwei Fotografien von Puchner. Beide liegen einander gegenüber auf einer Doppelseite und zeigen zum einen eine bereits sehr tiefstehende Sonne kurz vorm Untergang hinter einer Landzunge auf dem Meer, sich mit gebrochener Lichtbahn auf dem Wasser spiegelnd (Abb. 3). Das Bild ist sehr dunkel gehalten. Der Nachthimmel und dessen Finsternis nehmen den größten Raum des Bildes ein. Zum anderen befindet sich auf der Seite daneben eine Großaufnahme des vermeintlich gleichen Fotos (Abb. 4). Lediglich die Lichtbahn der Sonne reflektiert auf der leicht gewellten Wasseroberfläche.
Abb. 3 und Abb. 4
Der Lichtstrahl wirkt wie ein schmaler Weg gen Horizont. Bezogen auf das Ende des ersten Kapitels wirken die Bilder bedrohlich und friedlich zugleich. Die rote Sonne evoziert Gefahr. Der gleichmäßige Lichtstrahl auf dem Wasser weckt jedoch ein Gefühl der Geborgenheit und Zuversicht. Auch der Proband spricht kurz vor seinem Ende von seiner Angst und seinem Schmerz in der unerträglichen Hitze und dem »Brandrot« (SU 44), zugleich jedoch auch von »dem erlösenden Weg« dahin (SU 46). Die Bilder begleiten die Geschehnisse der Erzählung und rahmen sie ein. Die Interaktion und Wirkung von Bericht, Text und Fotografie des ersten Kapitels erinnern noch sehr an die gemeinsa-
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
men Reportagen mit Puchner und »markieren den Übergang von der Reportage zur Erzählung«24 .
3.2 Lob des Projekts. Rede vor einer akademischen Delegation in der Oase Bordj Moktar Das erste Kapitel von Strahlender Untergang ist als Fernschreiben tituliert. Das zweite ist eine Rede, und zwar eine Rede vor einer akademischen Delegation in der Oase Bordj Moktar,25 die die skeptischen Zuhörer – alle männlich (»Geehrte Herren!« (SU 10)) – vom Zweck, von der Wichtigkeit und der Bedeutung des Projekts einer »Neuen Wissenschaft«26 überzeugen soll. Der Vortragende möchte die akademische Delegation der ›alten‹ Wissenschaft, welche in ihrer »unübersehbare[n] Ansammlung von Gegenständen der Beobachtung, der Definition, der Nachahmung, Beherrschung und Manipulation« versagt hat, für die Erkenntnisse einer Neuen Lehre umstimmen: »eine Wissenschaft, die sich wieder dem Wesentlichen zugewandt hat – […] dem Verschwinden« (SU 10). Er gibt den ablehnenden »Herren« zu verstehen, dass ihre Vorgehensweise keine Zukunft habe. Diese liegt in der leblosen Wüste und selbst die »bizarrsten Existenzen der Kohlenwasserstoffwelt, die sich jetzt noch ebenso blind wie ungestüm um Beständigkeit und Nachkommen bemühen«, werden verschwinden (ebd.) – das Ende allen Lebens ist unumgänglich. Unterbrochen wird der Text durch eine Fotografie von einer tiefstehenden Sonne hinter einem Strommast und oberhalb einer Baumlinie (Abb. 5). Der Mast durchtrennt zentral das Bild. Es wird nur der Mittelteil der Hochspannungsleitung gezeigt. Weder Fuß noch Spitze sind zu sehen. Das Natur-
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Fetz: Das unmögliche Ganze, 331. Bernhard Fetz arbeitet die auffällige Verwandtschaft mit Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie heraus. In beiden Texten wird ironisierend im akademischen Redestil vom »eigentlich Ungeheuerlichem« erzählt (vgl. Fetz: »Der ›Herr der Welt‹ tritt ab«, 37f.). Holger Mosebach ist überzeugt, dass die vom Redner verfochtene »Neue Wissenschaft« eine zynische Antwort auf Giambattista Vicos Neue Wissenschaft (1725/30) und Francis Bacons Novum Organon (1620) ist. In beiden Werken wird eine neue Art der wissenschaftlichen Betrachtung gefordert, die vollends mit dem bisher überlieferten bricht und »die Macht und die Herrschaft des Menschengeschlechts […] über die Gesamtheit der Natur zu erneuern und zu erweitern« sucht (vgl. Mosebach, Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs, 60f.).
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
bild wird vom Metallkörper durchgekreuzt. Dominant und übergroß füllt er die Mitte des Bildes aus. Der Mast ließe sich an dieser Stelle als Störung der Natur durch den Eingriff des Menschen lesen. Die Neue Wissenschaft legt die Terrarien »frei von Wasser und Bewuchs« an und fordert den »planmäßigen Untergang«, um den »unkontrollierten Verlust von Identität«, den die alte Wissenschaft verursacht hat, rückgängig zu machen (SU 12f.). Maßlose Leitsätze wie »Das Meßbare zu messen, und das Unmeßbare meßbar zu machen« haben wegen ihres vermeintlichen Fortschritts, ihrer Erhöhung der Lebensdauer und des Reichtums weniger Herrschaften »zur Verwandlung des Wissens in ein Gewirr fruchtloser Daten geführt« (SU 12). Das Projekt »bringt alles zurück, was im Verlauf der beschämenden Entwicklung eines von der Herrschaft über die ›natürliche‹ Welt blind faszinierten Denkens schon verloren schien«: das Subjekt, das denkende Ich (ebd.). Die einzige Möglichkeit, die Praxen der alten Wissenschaft zu nivellieren, liegt im Verschwinden des Menschen. Einen solchen Menschen, der in der Wüste entwässert werden soll, nennt der Vortragende den »Herrn der Welt« (SU 13). Dem Äußeren der Zuhörer gleichend ist er »weiß oder schwach pigmentiert« und habe alles in der Welt verwechselt: »›Kultur‹ mit Zivilisation, die blinde Entwicklung seiner Technik mit ›Fortschritt‹, Ideologie mit ›Bewußtsein‹, Herrschaft schließlich mit ›Ordnung‹« (ebd.). Dem Textabschnitt folgen drei Fotografien, welche in ihrer Abfolge den Untergang prophezeien.
Abb. 5
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Auf einer Doppelseite sind zwei Sonnenuntergänge oberhalb und auf gleicher Höhe der Wolkengrenze zu sehen (Abb. 6, 7). Das dritte Bild zeigt einen Sonnenuntergang hinter einem kahlen Hügel, auf dem ein einzelner Baum steht (Abb. 8). Die Fotos repräsentieren die Idylle und Schönheit der Natur – ein Urbild, frei vom Menschen.
Abb. 6, Abb. 7 und Abb. 8
Im Text zählt der Redner den Wissenschaftlern die Erkenntnisse und Errungenschaften ihrer Zunft auf und lässt die Evolutionsgeschichte Revue passieren. Er verdeutlicht, welches Wunder die Entstehung von Leben ist und wie viele ideale Begebenheiten ihre Entwicklung begünstigten. Und dennoch erlernte das erste »Vieh« den aufrechten Gang nur, um »in allen und jeden Zusammenhang […] gewaltsam und ohne Bedenken« hineinzutreten (SU 18). Seit Anbeginn der Zeit liegt die zwingende Form der Behauptung von Existenz im »Töten und Fressen«, aber das Vieh fing an diese »Wahrnehmung existentiellen Interesses« auf seine Artgenossen anzuwenden (ebd.). Besonders »der Helle, der Schwachpigmentierte«, der Europäer trägt am meisten »Vieh« in sich (SU 19): Er machte mit allem, was seine Absichten, seine Ausbreitung zu behindern schien oder tatsächlich behinderte, kurzerhand Schluß und bot redselig seine Rechtfertigung an. Er räkelte sich, dehnte sich aus auf dem Rücken ihm fremder Kulturen und erklärte das Fremde zum Rohstoff und Baumaterial der eigenen Zivilisation. Er bediente sich der zweckmäßigsten Formen des Denkens, errichtete so Industrien und gelegentlich Weltreiche, und alles geriet ihm zur Herrschaft. Und jetzt, endlich!, sind seine Gesetze und Richtlinien in einem Ausmaß global, daß er zumindest sein Äußeres auf jedem Längen- und Breitengrad wiederzuerkennen vermag: […] Wo er nicht selbst herrscht, herrscht man in seinem Sinn. Nennen wir ihn also, diesmal der Wahrheit halber, den Herrn der Welt (ebd.).
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Seine Kritik äußert er vor allem in der Sinnlosigkeit der Arbeit und Lebensphilosophie des Herrn der Welt: »Er kennt wohl den Verbrauch, den Umsatz und den Verschleiß, aber was verlorengeht, wird ständig ersetzt. Er will, obwohl er Verwüstung betreibt, sich in die Zukunft verlängern! Und das ist ein Widerspruch.« (Ebd.) Dem Abschnitt sind vier Fotografien auf je zwei Doppelseiten angehängt. Alle Bilder zeigen auf unterschiedliche Art und Weise das Zusammenspiel von Sonnenlicht und Wasser. Der Sonnenball ist nicht zu sehen.
Abb. 9 und Abb. 10
Abb. 11 und Abb. 12
Auf dem ersten Foto bricht eine Lichtbahn auf leicht welligem Wasser mit etwas Schilf am unteren Bildrand (Abb. 9). Im zweiten Foto fällt Sonnenlicht durch einen auf dem Boden aufprallenden und aufschäumenden Wasserfall (Abb. 10). Im dritten Bild reflektiert breitgefächertes Sonnenlicht auf einer welligen Wasseroberfläche und auf dem letzten Foto glänzt das Licht auf eine expressive Weise auf einem Wasserstrom (Abb. 11, 12). Wasser und Sonne gehö-
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
ren zu den drei wichtigsten Elementen der Evolutionsgeschichte. Das Wasser symbolisiert den Schoß, aus dem das Leben erwacht ist, welches ohne Fotosynthese durch Sonnenlicht nicht lebensfähig gewesen wäre. Diesen Prozess greift Ransmayr als Formel in seinem Text auf: »6 CO2 + 6 H2 O + Sonnenenergie = C6 H12 O6 + 6 O2 « (SU 17). Das Wasser versinnbildlicht die Wiege lebensfähiger Organismen, weswegen es nur allzu logisch ist, dem Menschen, der zu 70 % aus Wasser besteht, dieses zu entziehen, um ihn in seine Ursprungsform zurückzuversetzen. Der erste Satz der darauffolgenden Textseite präsentiert den Umkehrschluss der Fehlentwicklung des »weißen« Menschen und die Lösung, die Ordnung wiederherzustellen: »Die Neue Wissenschaft erst löst diesen Widerspruch, indem sie dem Herrn der Welt die Bedingungen seiner eigenen Auflösung schafft.« (SU 24) Denn: Was liegt näher, als eine Existenz, die ihren Anfang unter der Sonne nahm, auch unter der Sonne wieder verschwinden zu lassen? Was liegt näher, als ein wäßriges Wesen, das sich den Blick auf das Wesentliche mit Gerümpel verstellt, unter Entzug aller Ablenkung zu entwässern, damit es wenigstens im raschen Verlauf seines Untergangs zum erstenmal ›Ich‹ sagen kann? Ich, und dann nichts mehr. (ebd.) Am Ende bleibt nichts übrig, außer einem entwässerten Rest, »aus dem nun endlich nichts mehr hervorzugehen braucht.« (Ebd.) Das Kapitel endet mit der passenden Bilderreihe von leblosen Objekten, scheinbar vom Menschen zurückgelassenen Relikten: Ein blattloser, ›toter‹ Baumschatten auf einer verputzten Hauswand (Abb. 13); ein Gebäudeschatten auf einer großen, nackten Hallenwand mit vorangestelltem Maschendrahtzaun (Abb. 14); einem Holzgitter und dessen Schatten auf einer weiß verputzten Backsteinwand (Abb. 15); Schatten in den Rillen einer glatten, weißen Lamellenwand (Abb. 16). Das zweite Kapitel ist das wichtigste Kapitel der Erzählung. Hier werden nicht nur die wesentlichen Kritikpunkte der arroganten Haltung der Europäer und ihres maßlosen Fehlverhaltens deutlich, sondern auch Ransmayrs Überleitung vom journalistischen Rahmen eines Fernschreibens zur literarischen Fassung einer fiktiven Rede. Die Ironie, die besonders durch die Übernahme des akademischen Redestils des Vortragenden ersichtlich ist, erinnert an die zahlreichen ironischen und dadurch vor allem komischen und intelligenten Reportagen Ransmayrs.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Abb. 13 und Abb. 14
Abb. 15 und Abb. 16
3.3 Das Terrarium. Hinweise für eine Bauleitung Der Rede folgt eine Bauanleitung für das »Terrarium«. Sachlich, konkret und ausführlich beschreibt die Anleitung den Aufbau und die Bedingungen für eine erfolgreiche Durchführung des Projekts. Das Terrarium ist ein künstlich angelegter und umzäunter Bereich, der bestimmte Witterungen, Temperaturen und Beschaffenheit imitieren soll, um die idealen Voraussetzungen einer »Entwässerung« zu gewährleisten: »Sand ist herbeizuschaffen«, der »zur vollkommenen Ebene zu ordnen ist« und eine Weite von »über siebzig Quadratkilometern« aufweisen soll (SU 29). Das verwendete Land »ist von jeder planlos ›natürlich‹ verlaufenden Folge von Niederungen und Erhebungen, Einbrüchen und Rissen zu befreien« (ebd.). Jedwede Art eines natürlichen Zustands muss eliminiert werden, sodass der Proband »allein den geschaffenen Bedingungen der Wissenschaft« ausgesetzt werden kann (ebd.). Die optimalen Voraussetzungen für einen reibungslosen Versuchsablauf wurden von der »Neuen Wis-
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
senschaft« genau kalkuliert, wodurch ein vollkommen künstlicher Raum mitten in der natürlichen Weite geschaffen wird. Der Protagonist soll unter keinen Umständen das Gefühl bekommen, »einer gewordenen Wildnis aus Sedimenten, Sandverwehungen und Geröll ausgesetzt« worden zu sein (ebd.). An die Textseite schließen sich fünf Fotografien an, die das Thema der Begrenzung aus der Bauanleitung aufnehmen und behandeln. Auf der ersten Doppelseite sieht man einen im Schatten liegenden, rechteckigen Innenhof eines Palazzos (Abb. 17). Das Bild wurde von der Mitte des Hofes geschossen und lichtet die Brechung der Sonnenstrahlen im Dachwinkel des Gebäudes ab. Die gegenüberliegende Buchseite zeigt eine Hauswand mit geschlossenem Holzladen mit der Sonne im Zenit oberhalb des Dachgiebels (Abb. 18). Das Foto wurde schräg Richtung Sonne von unten aufgenommen. Beide Bilder evozieren ein Gefühl der Abgrenzung, Abgeschiedenheit und Enge.
Abb. 17 und Abb. 18
Auf der nächsten Doppelseite ist jeweils Sonnenlicht gespiegelt auf einer Wasseroberfläche in einem Hafenbereich zu sehen, erkennbar an Stützpfeiler und Betonbucht (Abb. 19, 20). Diese Fotos zeigen die Eigenmächtigkeit des Menschen, natürlich wildernde Ufer zu begrenzen und zum persönlichen Nutzen umzugestalten.
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Abb. 19 und Abb. 20
Abb. 21
In der letzten Aufnahme drängen sich vereinzelt dünne Lichtstrahlen durch Schilfhalme an einem gefrorenen See mit Tierspuren im Eis und unterstreichen das Schilf als natürliche Wasserbegrenzung (Abb. 21). Die Tierabdrücke fördern den Eindruck einer menschenunberührten Natur. Anlehnend an die Bilder greift der erste Satz der nächsten Textseite auf, inwiefern »die größtmögliche Steilheit des Einfallwinkels der Sonnenbestrahlung« besonders »projektdienlich« ist (SU 35). Auch hier, wie in den Kapiteln davor, rekurriert Text auf Bild und Bild auf Text. Die Sonne dient nicht nur als wesentliches Element des Projekts, sondern steht auch metaphorisch für das einzige natürliche Objekt, auf welches der Mensch bisher keinen Einfluss nehmen konnte. Der Stern entzieht sich der Macht der Wissenschaft, weswegen
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
wenigstens versucht werde, den Ozonschleier zu verdünnen, um die Intensität der Lichteinstrahlung zu erhöhen (ebd.). Vor allem sei aber auf die völlige Leere der Ebene zu achten: »Die Leblosigkeit, die Reinheit der geschaffenen Landschaft ist unabdingbare Voraussetzung.« (Ebd.) Paradoxerweise ist nicht die unberührte Natur rein, sondern die Vorstellung eines künstlich angelegten Raumes der »Neuen Wissenschaft«. Im letzten Punkt der Anleitung wird der Umgang mit der Arbeiterschaft vorgegeben. Ausbeuterisch, wie die Europäer gewohnt sind, mit fremden Kulturen und Bevölkerungen umzugehen, sollen die Arbeiter »nach jeweils landesüblichen Maßstäben« entlohnt werden (ebd.). Zudem ist darauf zu achten, sie nicht »über die von ih[nen] erwarteten Tätigkeiten und Handgriffe« hinaus zu unterrichten. Jegliche Weitergabe an Informationen ist zu unterlassen, um Diskussionen zu vermeiden und Verzögerungen zu verhindern. Die Helfer fungieren als reine Nutzobjekte, die lediglich zur Erbauung des Projektes benötigt werden und im Anschluss unverzüglich abzuziehen sind: »Zurück bleibe nichts als das leere Bild der Zukunft.« (Ebd.) Es folgen vier Fotografien, die die Macht und Kraft der Sonne demonstrieren.
Abb. 22 und Abb. 23
Auf der ersten Doppelseite kämpft sich die Sonne durch dicht verhängte Wolkenwände und ist trotz der Wolkenmasse deutlich zu sehen (Abb. 22, 23).
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Abb. 24 und Abb. 25
Auf der nächsten Doppelseite präsentiert sich im linken Bild die Sonne als strahlende Krone oberhalb vereinzelter Wolkenbändern und Bergketten (Abb. 24). Auf dem rechten Foto erstrahlt die Lichtkugel hinter dicken Wolken über dem Wasser und einer angrenzenden Stadtsilhouette im Hintergrund (Abb. 25).
3.4 Strahlender Untergang. Lichtschwielen, Blendung und Entwässerung Das vierte und letzte Kapitel von Strahlender Untergang erzählt aus der Sicht des Probanden in der Ich-Perspektive von seiner Entwässerung im Terrarium. Zu Beginn berichtet das Ich davon, wie einfach es war, sein Leben, seine Arbeit und seine Liebe zurückzulassen und sich dem Projekt anzuschließen. In einer monotonen, resignierten, fast schon emotionslosen Art und Weise spricht es von der Eintönigkeit seines Daseins: »Es war eng in der Heimat: klein und dunkel die Räume«, »bedeutungslos […] die Arbeit« und »Anna und alle – es ist beinah vergessen« (SU 40). Seine Firma, welche »sich mit Waren ohne jeden Gebrauchswert abgab und es so zu weitreichenden Geschäftsbeziehungen brachte«, greift aus einer anderen Sicht erneut die Kritik des Redners der »Neuen Wissenschaft« gegenüber der Sinn- und Nutzlosigkeit der Produkte und Güter vieler Unternehmen aus dem zweiten Kapitel auf. Aber weit weg von seiner Heimat ist in der Wüste auf einmal alles viel weiter und auch so viel stiller und nicht mehr so schwer. Er erinnert sich an »Das Fest« vor seiner Abreise, kein Abschiedsfest von Freunden und Familie, sondern ein Rummel mit Marktbuden, Girlanden und Lampions auf dem Platz vor dem Forschungsgebäude – unterschiedliche Attraktionen wie Solarien oder Varietézelte, die
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
in erster Linie neue Freiwillige, neue Proband werben sollten (ebd.). Eine Fotografie der leuchtenden Sonne, die aus einem schwarzen Zimmer durch ein Sprossenfenster hindurch aufgenommen wurde, unterbricht den Erzählfluss mitten im Satz (Abb. 26).
Abb. 26
Sie unterstreicht zum einen die kleinen und dunklen Räume der Heimat und verstärkt zum anderen die einsame und stille Stimmung der Wüstenlandschaft. Der Proband empfindet die Verfechter und Anhänger der »Neuen Wissenschaft« als Idioten, bestenfalls Fanatiker, die auf ihre Untergangsszenarien versessen sind: »Aber man folgt ihnen massenhaft. Nicht weil man sie versteht oder ihnen glaubt, sondern weil man ihnen ›folgen‹ will.« (SU 42) An dieser Stelle wird besonders Ransmayrs Ideologiekritik und sein Unverständnis für unreflektierte Folgsamkeit deutlich. Die Anhänger symbolisieren Horkheimers und Adornos Vorstellung des unmündigen Menschen. Der Proband beobachtet, wie sich die Städte allmählich lichten und eine ganze Zahl an Freiwilligen ›verschwunden‹ sein müssen. Immer wieder streut das Ich neue Erinnerungsstränge ein. Von Satz zu Satz wird ersichtlicher, dass es sich bereits vor Ort im Terrarium befindet, umherwandert, und dabei seine Gedanken schweifen lässt: Das Fest liegt zurück und der Rummel muss bereits geräumt und leer sein »wie diese Ebene, mit deren Durchwanderung, ziellos, irgendwohin,
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der Tag erwartungsgemäß vergeht« (ebd.). Der Proband befindet sich in Bewegung und geht das Terrarium ab: Dreimal taucht eine glänzende Metallwand auf und fließt über in den flimmernden See einer Luftspiegelung, die dicht über dem Boden das Blau des Himmels unruhig zusammenfaßt und vor jeder Annäherung ins Verschwinden zurückweicht. Keine Wand mehr. Kein See. Der Himmel ist weiß. (ebd) Wie in Trance beobachtet er die Vorgänge seines Körpers während der »Entwässerung«. Seine Haut wirft Blasen und hat bereits einen kräftigen Sonnenbrand, und »alles Wasser will jetzt nach draußen, aber bevor noch die Schweißperlen […] Form annehmen können, Perlenform, verdampfen sie auch schon wieder« (ebd.). Vage Erinnerungen an einen Sommerurlaub, bei dem Gäste von Golfspielern und deren fehlgeschlagenen Bällen gestört werden, tauchen auf. Er ist bereits soweit dehydriert, dass es zu ersten Erinnerungslücken kommt, da er nicht mehr sagen kann, ob er in diesem Rückblick Urlaubsgast oder Ballspieler war. Die unerträgliche Hitze reißt ihn aus seinen Gedanken. Auch die Leserschaft wird durch ein Foto aus dem Textfluss gerissen. Das Bild zeigt ein verschmutztes Schaufenster mit getrockneten Spuren des letzten Regens, die vor allem durch das Sonnenlicht dahinter sichtbar werden (Abb. 27). Die Fotografie greift bildlich die Perlenform der Wassertropfen auf, die aus dem Körper des Probanden heraustreten.
Abb. 27
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Der Proband beschreibt die Einzelheiten der Stadien der Entwässerung, wie es ihm von den Wissenschaftlern erklärt worden ist. Immer wieder vom Schmerz aus den Gedanken gerissen, versucht er sich an jedes Detail der Prozedur zu erinnern. Im Zuge dessen wird ihm klar, dass er den Sinn des Projekts überhaupt nicht versteht. Er fragt sich: Wieso jetzt diese Terrarien aufbauen, wenn es noch circa »vier, fünf Milliarden Jahre vielleicht« dauern kann bis zur Supernova, »bis zur völligen Schwärze, zur unwiderruflichen Finsternis und es endlich kühler wird« (SU 44)? Es habe geheißen, er brauche »zehn Liter Wasser täglich, wenn er schon unbedingt die Zukunft […] unverdampft erleben wollte« (ebd). Ironischerweise folgt ein Foto von einem großen See mit einer rötlichen Abendsonne, einem zentral platzierten Warnschild »Lebensgefahr« und dem Zeichen für ›Nicht Schwimmen‹ (Abb. 28).
Abb. 28
Alles, was dem Probanden gerade helfen würde, das rettende Wasser, bedeutet ausgerechnet Lebensgefahr. Bis zu diesem Punkt wurde das Personalpronomen ›Ich‹ nicht verwendet. Somit erscheint es deutlich wirkungsvoller, als im Moment der Selbsterkenntnis eine ganze Flut von »Ich bin« einsetzt: Jetzt ›bin ich‹ die hypertone Dehydration, ich bin der Anstieg des Hämatokrits, ich bin die Verkleinerung des Volumens aller Zellen, […] ich bin die rasend gesteigerte Herzfrequenz, die Weitstellung aller Gefäße […]. Ich bin der
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Zusammenbruch der Thermoregulation, ich bin der allesumfassende Verlust. Ich konzentriere mich in allem und werde weniger (SU 46). In den Momenten der Entgrenzung und seiner Entsubjektivierung erkennt er voller Euphorie alle Irrtümer der Menschheit. »Wir« hätten uns nicht vor der Sonne schützen dürfen, sondern hätten uns häuten sollen (ebd.). Er sieht seine Mitverantwortung an den herrschenden Gegebenheiten, ist Teil der Maschinerie: »Ich war auch der Häftling, das Schwein und der Schlachter.« (Ebd.) ›Der Herr der Welt‹ steht stellvertretend für alle: das Ich wird zum Wir. Im bisherigen Egozentrismus liegt der Fehler des Einzelnen. Das Ich überwindet seinen Zustand und versteht die Bedeutung und Kraft der Taten in der Summe jedes Einzelnen. Erst in dieser Erkenntnis ist es frei. Im letzten noch spürbaren Moment seiner Entwässerung, als eine gewisse Menge an Wasser beziehungsweise Schweiß den Körper verlässt, spürt der Proband die Verdunstungskälte: »Es ist kalt.« (Ebd.) Er phantasiert von einer Schlachterschürze – »eine rissige Schürze aus Packeis« –, auf der sich »ein Zug Schlittenhunde kläffend über die Risse hinweg[setzt]« (ebd.). Ein Trugbild, welches sich vor ihm zu einer ganzen »Eisprozession« ausweitet (ebd.). Die Erzählung endet mit der letzten Fotografie von Puchner: ein Hund, der auf gesplitterten Eisschollen am Meeresrand vor untergehender Sonne wandert (Abb. 29).
Abb. 29
3 Entlassung des »Herrn der Welt« in Strahlender Untergang
Auf die Reportagen zurückblickend thematisiert Ransmayr ein Jahr vor der Veröffentlichung von Strahlender Untergang in Illustrierte Mitteilung für den Teefreund27 die europäische Ausbeutung und Vereinnahmung der asiatischen Teekultur. Eine kulturelle Oase, welche wegen der Hegemonieansprüche der westlichen Welt zur Wüste verkommt. Ebensolch eine Wüste, in der Ransmayr versucht, den Fehler der Welt zu revidieren: den Menschen. Der ›Vernunftmensch‹, der ›Herr der Welt‹, der Einzelne ist das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Aufklärung. Dieser Fehlschlag ist nichts Anderes als der ›Untergang‹ einer missglückten Wissenschaft, Vorstellung und Ideologie. Ransmayr korrigiert in der Auflösung, im Verschwinden des ›Herrn der Welt‹ den fehlgeleiteten Menschen mit all seinen Vergehen und Gräueltaten. Strahlender Untergang ist ein ironischer, aber auch nachdrücklicher Versuch der Wiedergutmachung. Die Entwässerung ist eine Sanktion für alle Verbrechen der Menschheit, verübt an der eigenen Gattung und der Natur, und wiederum eine Möglichkeit, den Menschen mit der Natur zu vereinen und so die Machtverhältnisse von Herrschern und Beherrschten zu dekonstruieren und einen positiven Begriff der Aufklärung vorzubereiten.28 Wie zuvor in den Reportagen erweist sich dabei das Bildmaterial als essenzieller Bestandteil des Textverständnisses. Puchner versucht, »das zu fotografieren, was sich mit Worten nicht beschreiben und mit Bildern nicht ausdrücken läßt« (SU 48). Den Fotografen und den Schriftsteller verbindet eine ähnliche Weltsicht, der gleiche Humor und der Hang zur Ironie.29 Ihre Reportagen sind das Ergebnis intensiver Zusammenarbeit und gemeinsamer Neugier. Diese Arbeitsgemeinschaft wird auch in Strahlender Untergang sichtbar. Puchners Fotografien erhöhen die Ästhetik und Atmosphäre von Ransmayrs Erzählung und vertiefen ihre Wirksamkeit. Wort und Bild stehen in einem engen Dialog und ergänzen sich gegenseitig. Mit der Neuauflage des Fischer Verlags und dem Schwund der Fotografien verliert der Text seine maßgebliche Komponente: das dialogische Verhältnis bricht. Die Bedeutung der Sonne als zentrale Verbindung von Bild und Text wird verkannt. Die von den Fotografien ausgehende Divergenz von Vitalität und Destruktion verfällt. Die gemeinsame Botschaft der Bedrohung durch den Menschen sowie der Eintracht der Natur können nicht mehr transportiert werden. Die Fischer-Ausgabe widerruft die Poetik des Text-Bild-Bands und mindert die Aussagekraft der Erzählung. 27 28 29
Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (Extrablatt 4/1981). DdA, 16. Puchner: »Er geht dem Schmerz nicht aus dem Weg«, 31.
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4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
In Die Schrecken des Eises und der Finsternis von 1984 modelliert Christoph Ransmayr einen Erzählraum, in dem die Grenze zwischen Fakt und Fiktion schwindet. Die Abfolge seiner journalistischen Arbeiten veranschaulicht bereits den sukzessiven Übergang von Berichterstattung zu Erzählung, von Fakt zu Fiktion. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis potenziert sich dieser Wandel, und die Grenze zwischen Realität und Konstruktion erweist sich als permeable Membran: ›Nur‹ im Kopf, sagen Sie?, ›nur‹ in der Vorstellungskraft des Erzählers und seiner Zuhörer? Ja, natürlich. Wo denn sonst? Erst dort wird die Welt schließlich vollständig, nur im Erzählraum liegen Mögliches, zumindest Plausibles – und Notwendiges, Tatsächliches, kurz: ›alles, was der Fall ist‹ – bloß durch hauchdünne, oszillierende Membrane getrennt nebeneinander.1 Diese Durchlässigkeit zeigt sich in den beiden dem Roman vorausgehenden Reportagen Ransmayrs, die bereits im März und April 1982 (Des Kaisers kalte Länder I+II) und Juni 1983 (Der letzte Mensch) in den Magazinen Extrablatt und TransAtlantik publiziert worden sind.2 Christian Brandstätter, der zwei Jahre zuvor schon Strahlender Untergang verlegt hatte, bot Ransmayr an, die Reportagen über die Weyprecht-Payer-Expedition zu einem Buch auszuweiten. Ein vom Verlag in Erwägung gezogener weiterer Bildband wurde nicht realisiert.3
1 2 3
Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör, 14. Des Kaisers kalte Länder I (Extrablatt 3/1982), Des Kaisers kalte Länder II (Extrablatt 4/1982) und Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983). Im Verlag wurde diskutiert, ob Die Schrecken des Eises und der Finsternis, ähnlich wie zuvor Strahlender Untergang, als Bildband mit großformatigen Fotografien von Rudi Palla aufzubauen sei, was jedoch verworfen wurde. Letzten Endes illustrieren nur noch
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Dafür wurden aber den Reportagen Grundzüge und ausgiebig Material für den größeren Erzähltext entnommen.4 Während der erste Teil von Des Kaisers kalte Länder – »eine historische Reportage« –, in der die Fotografien von Rudi Palla im Fokus stehen, noch als Bildreportage gewertet werden kann, erscheint der zweite Teil als Textreportage, in welcher der Text mit nur sechs kleinen Bildbeiträgen vorrangig ist. Die Illustrationen entstammen der Quelle Die österreichische-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874.5 In Des Kaisers kalte Länder II tritt Rudi Palla schon nicht mehr als Fotograf, sondern als Dokumentarist auf. In Der letzte Mensch werden Ransmayr und Palla als gleichwertige Autoren genannt. Die Schrecken des Eises und der Finsternis transzendiert den Übergang der Reportagen zur Erzählung und manifestiert, wie Ransmayr selbst erwähnt, ein »Hinüberwechseln aus der Wirklichkeit in die Wahrscheinlichkeit« (SEF 56). Es ist der Versuch, die Form und den Aufbau des Romans mit historischen Dokumenten zu verbinden und die verschiedenen geschichtlichen Elemente in einem neuen literarischen Konstrukt aufzulösen. Die Figur eines allgegenwärtigen, stets kritisch kommentierenden Erzählers schildert von zwei simultan ablaufenden Abenteuern, welche mehr als hundert Jahre auseinanderliegen: zum einen von der historischen k.u.k.-Nordpolexpedition von 1872 bis 1874, die auf der Suche nach einer Nordwestpassage über das Polarmeer einen Archipel entdeckt und zu Ehren ihres Herrschers »Kaiser-Franz-Joseph-Land« getauft hatte, und zum anderen von der fiktiven Reise eines Nachkommens der Expeditionsmannschaft, Joseph Mazzini, der sich auf den Spuren seines Vorfahren nach Spitzbergen und in die nördliche Eislandschaft begibt und dort verschwindet. Die Darstellung der historischen Entdeckungsfahrt geschieht auf der Basis historischer, im Archiv gelagerter Quellen des Expeditionsberichts vom Kommandanten zu Lande Julius Payer von 1876.6 Mazzinis fiktive Reise verfolgt der Erzähler wiederum anhand von dessen Tagebucheinträgen. Der Roman erweist sich damit als doppelte Rekonstruktion der Fahrt ins nördliche Polarmeer.
4 5
6
acht Fotos das zwölfte Kapitel des Romans (vgl. Mosebach: Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs, 81). Ebd. Payer, Julius: Die österreichische-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, nebst einer Skizze der zweiten Nordpol Expedition 1869–1870 und der Polar-Expedition von 1871. Wien: A. Hölder 1876. Ebd.
4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Bild-Text-Verhältnis Als Vermittler der beiden Handlungsebenen der historischen Entdeckungsfahrt und Mazzinis Reise dient nicht nur der Ich-Erzähler, sondern auch das Bildmaterial, welches den Roman illustriert. Acht Fotografien von Rudi Palla sind dem zwölften Kapitel des Romans, Terra nuova, beigelegt. In diesem Abschnitt stoßen die Seefahrer der historischen Expedition auf das langersehnte Land, welches sie zu entdecken erhofften und »Kaiser-Franz-Joseph-Land« tauften. Die Fotos porträtieren auf der einen Seite die unzähmbare Schneeund Eislandschaft der Leere und Einsamkeit, und erfassen auf der anderen Seite in ihrem unveränderten Erscheinungsbild die zeitlich auseinanderliegenden Handlungsebenen als simultan ablaufend. Die Bilder dokumentieren eine polare Landschaft, in der der Mensch zwar Spuren hinterlassen, die sich aber optisch von 1872 bis 1981 nicht verändert hat.
Abb. 1 und Abb. 2
Abb. 3 und Abb. 4
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Aufklärung zwischen Kritik und Bedarf
Abb. 5 und Abb. 6
Abb. 7 und Abb. 8
Die Fotografien des Romans greifen auf der bildlichen Ebene die Reportagen wieder auf. Die erste und letzte Abbildung von Rudi Palla (Abb. 1 und 8) finden sich ebenfalls in der Reportage Des Kaisers kalte Länder I als großformatige Fotos wieder. In der Fischer-Ausgabe ab 1987 verschwinden die Bildbeiträge von Palla, womit der Reportagen-Einfluss nur noch latent erkennbar ist. Fast dreißig Jahre später findet die österreichisch-ungarischen Expedition 2012 erneut Eingang in Ransmayrs Prosaband Atlas eines ängstlichen Mannes. In der Episode Zweiter Geburtstag heißt es: Ich war zur Polfahrt an Bord der Kapitan Dranitsyn eingeladen worden, weil ich fast zwanzig Jahre zuvor einen Roman über die Entdeckung des FranzJoseph-Landes geschrieben hatte – allerdings ohne je in der Arktis gewesen zu sein. Ich hatte damals weder die vielen Farben des Packeises noch das Wehen und Flackern des Nordlichts oder auch nur den kreisenden Schein der Mitternachtssonne gesehen, sondern mich meiner Erzählung genähert,
4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
indem ich Polarreisende und heimgekehrte Bewohner arktischer Stationen befragt, ihre Tagebücher und Berichte gelesen, Gemälde und Fotos betrachtet oder Tiefenlotungen mit den Blauschattierungen auf meinen Eismeerkarten verglichen hatte. (AäM 273) Die Nordpol-Expedition erweist sich als Bindeglied der unterschiedlichen Textsorten: Reportage, Roman und Episodenband.
Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung in Die Schrecken des Eises und der Finsternis Die Schrecken des Eises und der Finsternis führt das aufklärungskritische Programm des Strahlenden Untergangs fort und verdichtet es.7 »Fragmente des Mythos und der Aufklärung« lautet das 14. Kapitel von Christoph Ransmayrs Erstlingsroman. In diesem Kapitel dokumentiert der Autor erstmals in einem Roman die jahrhundertelange Auseinandersetzung und Zerstörung des Mythos durch den vermeintlich aufgeklärten Menschen. Aus der ›fehlgeschlagenen‹ Aufklärung und den daraus resultierenden Herrschaftsstrukturen entwickelten sich die Hegemonieansprüche der Europäer und die damit verbundene Rechtfertigung einer Vormachtstellung.8 Ransmayr versucht mit den Begriffen von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ die Missstände ebendieser Folgen der Aufklärung in Schrecken des Eises und der Finsternis zu erfassen. Das ›Zentrum‹ als dominante Imperialmacht beruht auf Ausbeutungsmechanismen und verweist damit auf die Unterentwicklung der ›Peripherie‹/peripheren Kolonien. Im Diskurs der postkolonialen Literaturtheorie drücken die Begriffe »die asymmetrische Relation zwischen der Hegemonie der metropolitanen Kolonialmacht und deren marginalisierten Kolonien« aus.9 Als Ausdruck des fehlgeschlagenen Aufklärungsversuchs resümiert Kommandant Weyprecht im Roman über die Chronik der Polarfahrten: Die arktische Forschung sei doch zu einem sinnlosen Opferspiel verkommen und erschöpfe sich gegenwärtig in der rücksichtslosen Jagd nach neuen Breitenrekorden im Interesse der nationalen Eitelkeiten. Aber nun sei es an
7 8 9
Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 56. Vgl. DdA, 16. Birk, Hanne: »Zentrum und Peripherie«. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, herausgegeben von Ansgar Nünning. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2013, 822.
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der Zeit, mit solchen Traditionen zu brechen und andere, der Natur und den Menschen gerechtere Wege der Wissenschaft zu betreten. […] Solange der nationalistische Ehrgeiz einer bloßen Entdeckungsreise und die qualvolle Eroberung von Eiswüsten die Hauptmotive der Forschung blieben, sei kein Platz für die Erkenntnis. (SEF 241) Die Zerstörung von Kulturen, Ländern und Sitten sind das Ergebnis und die ›falschen‹ Erkenntnisse des europäischen Kolonialismus, welche Ransmayr in seinem Text kritisch zu beleuchten versucht.
4.1 Die Nordpol-Reportagen Bereits einige Zeit vor dem Erscheinen der Schrecken des Eises und der Finsternis erzählt Ransmayr in zwei Prätexten gemeinsam mit dem Fotografen Rudi Palla in Des Kaisers kalte Länder in zwei Teilen und in Der letzte Mensch von der österreichisch-ungarischen Nordpol-Expedition der Admiral Tegetthoff von 1872. Palla erinnert sich: Im Juli 1981 war ich zum ersten Mal in Norwegen und in Spitzbergen, im Jahr darauf dann im Winter noch einmal. Christoph Ransmayr zeigte sich schon damals sehr interessiert an diesem Thema. Im Sommer 1982, nach meiner zweiten Reise, besuchte er mich in meinem Haus in Griechenland. Wie saßen tagelang auf einem Felsen am Meeresufer. Ich erzählte ihm über meine zwei Reisen in den Norden und über die Expedition von Payer und Weyprecht. Zunächst planten wir ein gemeinsames Buch, das im Verlag Christian Brandstätter unter dem Titel ›Ein arktisches Abenteuer‹ erscheinen sollte. Nach einer gewissen Zeit fragte er mich, ob ich einverstanden sei, von diesem Projekt zurückzutreten, weil er es in romanhafter Form ausarbeiten wolle.10 Die beiden Reportagen enthalten die Anlage für den Roman: ein Verfolger auf den Spuren der Expedition von 1872, der ebenfalls wie Mazzini das Franz-Joseph-Land leider nie zu Gesicht bekommen wird; Mannschaftsmitglieder und Forscher des 1981 in Richtung Nordpol in See gestochenen Forschungsschiff »Lance«, welche der Besatzung der fiktiven »Cradle« als Vorlage dienen; der in Spitzbergen lebende Aussteiger Harald Soleim, der als Figurvorlage für Jostein
10
Rudi Palla, »Ein detailbewusster Geschichtenerzähler«, 41.
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Aker gilt, mehrere Schlittenhunde, weiteres Nebenpersonal und nicht zuletzt die historische Dokumentation der Weyprecht-Payer-Expedition. Wie der Roman selbst problematisieren bereits die Reportagen die Spannung zwischen Fakt und Fiktion. Die beiden Texte stehen zwar in der Tradition des Reiseberichts und der Augenzeugenschaft, distanzieren sich aber von deren Bedingung der persönlichen Erfahrung. Stattdessen agiert ein unpersönlicher »Verfolger« in Des Kaisers kalte Länder, und in Der letzte Mensch wird der/die Leser:in versichert, dass der Erzähler selbst nie vor Ort des Geschehens war und sich lediglich auf Material aus zweiter Hand stützt. Gerade in Bezug auf die Gestaltung, Form und Inhalt der Magazintexte ist deren Untersuchung für Ransmayrs Grenzgang zwischen Dokumentation und Fiktion sowie Reportage und Erzählung in Schrecken des Eises und der Finsternis unabdingbar. Die Texte äußern bereits Kritik und Meinungen zur Kolonialpolitik, zur historischen Entdeckungsreise und vor allem zur Berichterstattung. Sie erweisen sich als überaus bedeutsam und sind mehr als nur Übungsraum für die literarische Endfassung.11
4.1.1 Des Kaisers kalte Länder I und II Des Kaisers kalte Länder – eine historische Reportage in zwei Teilen ist Ransmayrs erste literarische Auseinandersetzung mit dem Eis. Der erste Teil Kreuzfahrten auf der Route der k. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition weist auf der Titelseite der Reportage Christoph Ransmayr als Autor und Rudi Palla als Fotograf aus. Des Kaisers kalte Länder I wird im Vergleich zum zweiten Teil von großformatigen Fotografien dominiert. Vier Fotos vom Eis nehmen fast vollständig den Raum von vier Doppelseiten ein und drängen den Textanteil auf einen schmalen Rand zurück. Die Reportage beginnt mit Julius Payers ausführlicher Aufzählung der Entbehrungen, die einem auf der Reise zum Pol bevorstehen – ein Zitat, welches ebenfalls der darauffolgenden Reportage Der letzte Mensch vorangestellt wird: Ein mühevoller Weg ist die Reise in die innere Polarwelt. Alle geistigen und körperlichen Kräfte muß der Wanderer, der ihn betritt, aufbieten, um dem Geheimnisse, in das er dringen will, eine dürftige Kunde abzuringen. Mit unsäglicher Geduld muß er sich wappnen gegen Täuschung und Mißgeschick,
11
Gottschling, Markus: Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur. Subjekt und Raum bei Edgar Allan Poe und Christoph Ransmayr. Bielefeld: transcript 2018, 289f.
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sein Ziel selbst noch verfolgen, wenn er ein Spiel des Zufalls geworden ist. Nicht die Befriedigung des Ehrgeizes darf dieses Ziel sein, sondern die Erweiterung unserer Kenntnisse. Jahre verbringt er in der furchtbarsten Verbannung, fern von seinen Freunden, von allem Lebensgenuß, umringt von Gefahren und der Last der Einsamkeit. Darum kann ihn nur das Ideal seines Zieles tragen: sonst irrt er, geistigem Zwiespalt verfallen, durch innere und äußere Leere (Julius Payer, 1874).12 Die einführenden Worte nehmen die Geschichte, die Emotionen und den Verlauf der Expedition vorweg. Auf den kommenden Seiten der Reportage erzählt Ransmayr vom Dreimastschoner Admiral Tegetthoff und dessen Besatzung der österreichisch-ungarischen Monarchie auf der Mission einer kaiserlich-königlichen Nordpolexpedition im Jahr 1872. Im zweiten Teil werden die Geschichte und Ereignisse der Polfahrt zu Ende erzählt und von sechs Originalzeichnungen von Julius Payer illustriert. Im Vergleich zu Des Kaisers kalte Länder I steht der Text im Vordergrund und das Bildmaterial ist sehr dezent und zurückhaltend mit dem Schriftbild verwoben. Unter der Führung »des ebenso kriegstüchtigen wie wissenschaftstreuen Schifflieutenanten« Carl Weyprecht und »des künstlerischen, ins Abenteuer und sich selbst verliebten k. k. Oberlieutenanten« Julius Payer ist das Expeditionsziel die Durchquerung des nördlichen Eismeeres auf der noch unentdeckten Nordost-Route: der Weg nach Asien.13 Neben der Schilderung der Ereignisse auf der Admiral Tegetthoff reist ein »Verfolger« ein Jahrhundert später der Expedition nach und wandelt auf ihren Spuren. Die beiden zeitlich versetzten Berichte nehmen das Erzählprinzip des Romans vorweg. Im Unterschied zum späteren Erzählwerk bleibt der »Verfolger« jedoch eine passive Figur, von der zwar berichtet, aber dessen eigene Perspektive stumm bleibt. Zwischen Erzähler und Leserschaft besteht in der Reportage noch eine Distanz, die das Erzähler-Ich in Schrecken des Eises und Finsternis überwindet und Einblicke in die Figur Mazzini gewährt.14 Während sich die Reportage der Innensicht des Verfolgers verschließt, Thor Sigerud, Expeditionsleiter der ›Lance‹, klopft am 26. August 1981 um 9 Uhr 30 an die Kabinentür des Verfolgers. Das ist unüblich. Ohne die Tür zu öffnen, verkündet Sigerud die Neuigkeit: Der Verfolger werde ›sein‹ Franz 12 13 14
Des Kaisers kalte Länder I (Extrablatt 3/1982), 18. Des Kaisers kalte Länder II (Extrablatt 4/1982), 60. Gottschling: Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur, 290.
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Joseph Land leider nicht zu Gesicht bekommen. Man käme nicht mehr voran. Das Eis läge zu dicht. Man nehme Kurs West auf König Karls Land15 öffnet sie sich im Roman und wird literarisch gestaltet: Josef Mazzini ist über seiner Lektüre eingeschlafen und fährt hoch und schlägt um sich, als Fyrand an die Kabinentür klopft. Ohne eine Antwort abzuwarten, reißt Fyrand die Tür auf und wiederholt noch auf der Schwelle die Entscheidung Jansens und des Kapitäns: ›Wir kehren um. Wir kommen nicht durch. Du wirst dein Franz-Joseph-Land nicht zu Gesicht bekommen. Scheiße. Hast du gehört? Wir kehren um!‹ (SEF 169). Die dem ersten Teil der Reportage beigelegten Illustrationen – vier Fotografien von Rudi Palla und zwei Zeichnungen von Julius Payer – suggerieren eine aktive Möglichkeit der Nachempfindung, zeigen aber zudem den Stillstand der Polarlandschaft und die Simultaneität vergangener und gegenwärtiger Zeit: Kein Zweifel, der fremdartige Himmel, dessen Bild man hier konservierte, mußte der gleiche sein, unter dem vor mehr als einem Jahrhundert die Mannschaft der ›Admiral Tegetthoff‹ verzweifelt war.16 Die Bilder evozieren eine Nähe zum Geschehen, welche die Distanz zum Personal kompensiert. Gerade in Bezug auf Komposition und Kompilation hat die Reportage in zwei Teilen einen großen Einfluss auf den Roman. Besonders der zweite Teil, der sich in seiner Aufmachung vom ersteren stark differenziert, ähnelt dem Aufbau der Weyprecht-Payer-Expeditions-Erzählebene im Roman.
4.1.2 Der letzte Mensch Seine zweite Nordpolreportage mit Rudi Palla, Der letzte Mensch. Zu Besuch auf 78° 36‹ nördlicher Breite, veröffentlicht Ransmayr ein Jahr später im Magazin TransAtlantik. Die Aufmachung des Textes erinnert stark an das vorherige Layout von Des Kaisers kalte Länder II und ist mit fünf Abbildungen aus Julius Payers Die österreichische-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874 illustriert, die jeweils Szenen der Expedition im Eis zeigen. Die Bilder nehmen ein Drittel einer einzelnen Textseite ein und tragen am unteren Bild-
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Des Kaisers kalte Länder II (Extrablatt 4/1982), 63. Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983), 71.
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rand den Titel: »Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874 – nebst…einer Skizze der 2. Deutschen Nordpolexpedition 1869–1879 und…der Polar-Expedition von 1871 von Julius Payer mit 146 Illustrationen und 3 Karten…Wien – 1876 Alfred Hölder – kk Hof- und Universitätshändler. Seiner Apostolischen…Majestät dem Kaiser und Könige Franz Joseph I in tieffster Ehrfurcht gewidmet«17 . Wie bereits in der vorherigen Reportage stellt Ransmayr dem Text erneut das gleiche Zitat Payers voran: »Ein mühevoller Weg ist die Reise in die innere Polarwelt. […] Darum kann ihn nur das Ideal seines Zieles tragen: sonst irrt er, geistigem Zwiespalt verfallen, durch innere und äußere Leere (Julius Payer, neben Carl Weyprecht Führer der k.u.k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition von 1872/73/74)«18 . Anders als in den beiden Textteilen zuvor ist die Reportage als Vortrag aufgebaut und spiegelt in Form und Inhalt die Ironie und den Humor, welche sich in den TransAtlantik-Reportagen bei Ransmayr etabliert haben. Ähnlich wie in Lob des Projekts. Rede vor einer akademischen Delegation aus Strahlender Untergang führt ein »Berichterstatter« oder eine Art Fremdenführer sein »geehrtes Publikum« durch einen vermeintlichen Fernsehabend und das Programm des ORF vom 15.10.1982.19 Er erzählt von der Entstehung und Verlauf der Fernsehreportage über den am »Ende der Welt« außerhalb von Spitzbergen lebenden Aussiedler Harald Soleim. Unterteilt in zwei Reisen folgen die Leser:innen, oder gar Zuschauer:innen einem Fernsehteam (einem Kamera- und einem Tonmann) ins Eis. Die erste Reise widmet sich den Spuren der historischen österreichischungarischen Nordpolexpedition. Die zweite Reise ergibt sich, nachdem die Redaktion das Filmmaterial der ersten Aufnahmen gesichtet, auf das »Story«Potenzial des »letzten Menschen« von Spitzbergen, Harald Soleim, aufmerksam geworden war und daraus einen größeren Beitrag machen wollte:20 Im Zentrum des österreichischen Rundfunks hatte man sich nach der Rückkehr der beiden Beauftragten über das mitgebrachte ›Material‹ befriedigt gezeigt und mehr noch: Man interessierte sich rasch für die Nachricht von einem Einsiedler, der da, wo war es doch gleich?, leben sollte. Tatsächlich? Und wirklich ganz allein? Ein Jäger? Ehemaliger Biologe? Hm. Zweifellos: Hier lag Sendewürdigkeit vor. Ein Aussteiger. Am Nordpol! Man bedenke. Der Mann mußte auf den Bildschirm. Die Story schrie ja geradezu danach. Nein, nichts 17 18 19 20
Ebd., 67–72. Des Kaisers kalte Länder I (Extrablatt 3/1982), 18. Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983), 68 und 65. Ebd., 72.
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Großes natürlich, ein Zwanzigminutenbeitrag, oder was dachten Sie? Was Lockeres für zwischendurch also. Ein Folgeauftrag.21 Die Zuschauer:innen sollen vor allem eins verstehen: Die »wüst illustrierten Reportagen«, die Berichte und Dokumentarfilme, welche der Öffentlichkeit vorgestellt werden, sind nichts anderes als reine »Illusion«, denn, daß die Welt durch die hastige Entwicklung unserer Fortbewegungsmittel ›kleiner‹ sei und etwa die Reise entlang des Äquators oder zu den Erdpolen nunmehr eine bloße Frage der Finanzierung und Koordination von Abflugzeiten [ist], […] ist ein Irrtum! Eine Idiotie! Unsere Fluglinien, geehrtes Publikum, haben uns schließlich nur die Reisezeiten in einem geradezu absurden Ausmaß verkürzt, nicht aber die Entfernungen, die nach wie vor ungeheuerlich sind. Bedenken Sie, daß die Luftlinie eben nur eine ›Luftlinie‹ und kein verbindender Weg ist und: daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind.22 In leicht abgeänderter Form stellt Ransmayr diese Passage unter dem Titel »Vor allem« als Prolog den Schrecken des Eises und der Finsternis voran. Sie lässt sich als einziges direktes Zitat aus Mazzinis Tagebuch verstehen, welches seine Frustration und Unmut über die von den Medien vorgetäuschten Möglichkeiten einer Nachreise in die entlegensten Orte der Welt zum Ausdruck bringt (SEF 7). Die Kritik an der allgemein fingierten Berichterstattung ist der tragende Gedanke der Reportage. Während der Erzähler als Moderator sein Publikum immer wieder direkt anspricht und ins Geschehen einbindet, evoziert er das ständige Gefühl einer auktorialen Instanz, die weder der Ordnung des Raumes noch der Zeit untersteht und die Fähigkeit besitzt, in den Handlungen, Vorgängen und Sequenzen ohne Barrieren umherzuspringen. Ironisch, humoristisch und überaus kritisch berichtet er »zunächst von einer Sendung [über den auf Spitzbergen lebenden Aussteiger Harald Soleim] des österreichischen Monopolunternehmens ORF […], die am 15. Oktober des Jahres 1982 im Allerweltsrahmen eines sogenannten Magazins ausgestrahlt wurde«23 . Er beschreibt unbeeindruckt die arktischen Szenen auf dem Bildschirm und fasst abwertend das restliche, in seinen Augen gar schon lächerliche Abendprogramm des Senders
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Ebd., 71f. Ebd., 65. Ebd.
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als einen »durchschnittlichen Sendetag, das heillose Universum der Television« zusammen.24 Vom TV-Programm wendet er sich den »Annalen der Eismeerschifffahrt des vorigen Jahrhunderts«25 und den zwei Polarreisen des Jahres 1981 zu. Er präsentiert seinem Publikum einen nach seinen Vorstellungen wahren Helden: Harald Soleim, einen arktischen Jäger, dessen Lebensumstände und »Kulisse« er zu skizzieren versucht.26 Seit sechs Jahren lebt der gebürtige Norweger ganz allein »am Ende der Welt«27 . Kennengerlernt hat der Moderator Soleim durch Erzählungen vom in Longyearbyen lebenden Robin Buzza. Als »Nur-Ton« deklariert legt der Erzähler seinem Publikum eine Aufzeichnung von Buzzas Rede vor. Im saloppen Dialekt berichtet Buzza vom »letzte[n] wirkliche[n] Jäger«, beschreibt und beurteilt ihn: Der da drüben is’n echter Individualist, der letzte wirkliche Jäger hier, wenn Ihr versteht, was ich meine. Aber verrückt ist der nicht; also der bestimmt nicht. Lebt da auf seinem Kap, nicht gerade in aller Ruhe, aber immerhin, hat keinen Funk, aber einen Haufen Bücher, und kommt einmal im Jahr für’n paar Tage hier rüber. […] Wirklich, hat Format, der Mann.28 Eigentlich war das Team gekommen, um die mehr als hundert Jahre alte Spur der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition zu Lande und im Eis zu verfolgen und »dem gebührenpflichtigen Publikum zu präsentieren«: Die Spuren einer Expedition, die im August des Jahres 1873 in der ungeheuren Verlassenheit jenseits des 79. Grades nördlicher Breite einen unter Gletschern völlig begrabenen Archipel aus Urgestein entdeckt und die Trostlosigkeit Kaiser-Franz-Joseph-Land getauft hatte; eine ›patriotische Großtat‹, wie eine Kommentatorenstimme aus dem Off dem Fernsehpublikum noch im Jahre 1982 weismachen sollte. Einmal mehr würde sich damit die Realität einer Expedition in ein abenteuerliches Vexierbild verwandeln. Denn die k.u.k. Polarexpedition, geehrtes Publikum, war die tragikomische Organisation schmerzhaftester Strapazen – insofern durchaus österreichisch, aber keineswegs patriotisch.29
24 25 26 27 28 29
Ebd., 66. Ebd. Ebd., 67. Ebd., 66. Ebd., 67. Ebd., 69.
4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Von der »Lächerlichkeit« der Versuche, eine Nordwest-Passage im Eismeer zu entdecken, wendet sich der Erzähler wieder der Geschichte des ORF-Teams zu, welches auf seiner Reise noch weitere Charaktere trifft, die ihre Heimat in der Schneewüste gefunden haben.30 Die Wahrnehmung der Reportage als Sendung mit interaktivem Moderator und Publikum verdichtet sich im Aufruf zur Werbeunterbrechung: »Wenden wir uns ab und für etwa die Dauer einer Werbeeinschaltung nach Wien.«31 Erneuter Szenenwechsel: Das Publikum wird zurück ins Zentrum des österreichischen Rundfunks geführt. Die Redaktion ist überaus begeistert vom Bild- und Filmmaterial der ersten Nordpolreise. Es entsteht ein Folgeauftrag und damit ein erneuter Aufbruch ins Eis, um eben die ›Story‹ vom »letzten Menschen« Harald Soleim zu drehen. Ein Jahr später, 1982, finden sich der Kamera- und Tonmann in Spitzbergen wieder und besuchen den Einsiedler für ein paar Tage, um sein Leben für die geplante Sendung in Szene zu setzen: Widerspruchslos kroch Soleim, ein weißes Tarnsegel auf einem Schlitten vor sich her schiebend, übers Eis, um dem Fernsehpublikum eine Robbenjagd anzudeuten […]. Dann wiederum raste Soleim mit dem Hundeschlitten aus Bambusrohr eine vorher genau vereinbarte Strecke auf und ab und spielte so den oft monatelangen Weg, der ihn von Falle zu Falle führt; […] aber was immer er auch tat, es war ein ernstes Spiel, das er auf Bitten des Kameramannes zweimal, dreimal und öfter wiederholte, ohne ungeduldig zu werden. Er spielte.32 Die Inszenierung schließt mit dem abrupten Aufbruch des Teams, nachdem sie wegen schlechter Wetterverhältnisse zu einem längeren Aufenthalt in der Hütte Soleims gezwungen waren. Die Reportage endet mit dem Geständnis des vermeintlich authentischen Berichterstatters, der eröffnet, Soleim nie selbst gesehen zu haben und auch nie Polarreisender gewesen zu sein: Was nun meine Person betrifft, bleibt zu erwähnen, daß ich Harald Soleim nie gesehen habe. Gestützt auf die Berichte eines Kameramannes und eines Tonmeisters, auf das genaue Studium von Land- und Wetterkarten, von Filmen, Büchern, Gesprächsprotokollen, Korrespondenzen und schließlich auf ermüdende Gespräche mit Polarreisenden, habe ich versucht, Ihnen alle mir
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Ebd. Ebd., 71. Ebd., 74.
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zur Verfügung stehenden Hinweise auf eine arktische Existenz vorzulegen. Aber verfügen wir nun nicht weiter darüber. Enthalten wir uns jeden verständnisvollen Kopfnickens, wenn im Fortgang unserer Abenteuer der Name der letzten Menschen noch einmal fallen wird. Begnügen wir uns damit, von ihnen gehört zu haben, und sprechen wir künftig behutsamer von unseren Reisen. Ich danke Ihnen.33 Die Pol-Reportagen werden von der Ransmayr-Forschung als »Fingerübungen« und als »eine Art Sammelbecken des Nebenpersonals und der Orte« in Vorbereitung auf Die Schrecken des Eises und der Finsternis begriffen.34 Dabei übt der Autor in diesem Text Kritik an der Form der Reportage, der medialen Berichterstattung und ihren Methoden der Inszenierung und Illusion, welche er anhand der Überlappung von Fakt und Fiktion auf einer literarisierten Ebene im Roman zu transzendieren und auszuloten versucht: Dem Unterhaltungsbedürfnis ist ohnedies alles gleich, […] es ist wohl immer dieselbe verschämte Ausbruchsbereitschaft, die uns nach Dienstschluß von Dschungelmärschen, Karawanen oder flirrenden Treibeisfeldern träumen läßt. Wohin wir selbst nicht kommen, schicken wir unsere Stellvertreter – Berichterstatter, die uns dann erzählen, wie’s war. Aber ›so‹ war es meistens nicht. Und ob man uns vom Untergang Pompeijs oder einem gegenwärtigen Krieg im Reisfeld berichtet – Abenteuer bleibt Abenteuer. Uns bewegt ja doch nichts mehr. Uns klärt man auch nicht auf. Uns bewegt man nicht, uns unterhält man … (SEF 18) In der Reportage manifestiert Ransmayr seine Kritik in Form einer Fernsehsendung und unter Verwendung fernsehdramaturgischer Mittel der Werbeunterbrechung, Szenenwechsel und Zwischensequenzen, einem Moderator und einem Publikum. Er perfomiert das Format, welches er entlarven möchte. Der Berichterstatter, welcher für wahrheitsbezogene Informationswiedergabe stehen sollte, gesteht seinem Publikum, selbst nur ein Produkt der Inszenierung gewesen zu sein und seine Authentizität nur vorgetäuscht zu haben: »Berichterstatter, die uns dann erzählen, wie’s war. Aber ›so‹ war es meistens nicht.« (SEF 18) Die Zuhörerschaft durchlebt am Ende der Reportage einen Verlust des Vertrauens in den Wahrheits- und Aufklärungsgehalt der Medien, vor welchem der Erzähler der Reportage bereits auf der ersten Seite
33 34
Ebd. Gottschling: Verloren Gehen in den Polargebieten der Literatur, 289 und 294.
4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
gewarnt hatte, und Ransmayr wiederholt in Die Schrecken des Eises und der Finsternis: »Uns klärt man auch nicht auf. Uns bewegt man nicht, uns unterhält man.« (Ebd.) Wieder einmal fallen die Zuschauer:innen auf die Absichten des falschen ›Entertainments‹ der Medien herein – ein Thema, welches Ransmayr in seinen Reportagen, angelehnt an Horkheimers und Adornos Kritik an der Täuschungsgewalt der Medien, nicht nur einmal verhandelt.35
4.2 Die Erfindung der Welt: Fakt und Fiktion Ransmayrs erster Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis lotet das Spannungsverhältnis von faktischer Geschichtsschreibung und fiktionaler Narration aus.36 Er konstruiert drei Ebenen, welche korrelieren und diffundieren. Auf der einen Ebene generiert er seinen Leser:innen anhand von Fotografien, Passagen der Originaltagebucheinträge der Expedition, Tabellen, Exkursen, Namenslisten und Zeitangaben einen Realitäts- und Authentizitätsanspruch der Entdeckungsfahrt 1872–74, der sich auf die zweite fiktive und nachzeitliche Handlungsebene des jungen Italiener Josef Mazzini von 1981 zu übertragen scheint. Die beiden Erzählstränge werden von einem anonymen Ich geschildert, welches die Vermischung von Fakt und Fiktion auf einer dritten Ebene befördert. Die Reise als bindendes Moment steht im Fokus aller drei Ebenen: die historische Expedition ins Eis, Mazzini als Nachreisender auf den Spuren seines Urgroßonkels und der Ich-Erzähler, der beide Reisen als Chronist nachzeichnet. Die Struktur des Romans trägt die Merkmale der vorherigen Reisereportagen, welche Ransmayr transformiert, indem seine Erzählung immer wieder von verschiedenen Textsorten des reiseliterarischen Bestands unterbrochen wird.37 So stößt man im Wechsel auf Zitate aus den Reisetagebüchern einzelner Mannschaftsmitglieder, Auszüge aus einem Reisehandbuch und Bordbuch (»Hinweise für Touristen«, SEF 60f.), eine »Anwesenheitsliste« 35
36
37
Vgl. Solidarität mit Suppenkaspar (Extrablatt, 1/1980), Sieh, das Gute liegt so nah. Ablenkung am Rande der Gesellschaft (TransAtlantik, 4/1985) und Ein Leben auf Hallig Hooge. Porträt einer untergehenden Gesellschaft (Merian, 2.11.1985). Peter, Nina: »›Möglichkeiten einer Geschichte‹. Erzählte Kontingenz in Christoph Ransmayrs ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹«. In: Studia austriaca, Nr. XXI, 2013, 95. Arany, Mihály: »Christoph Ransmayrs ›Schrecken des Eises und der Finsternis‹ im Kontext des historischen Reiseromans«. In: Bis zum Ende der Welt. Ein Symposium zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Attila Bombitz. Wien: Praesens 2015, 89.
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der Expeditionsteilnehmer sowie Lebensläufe der Kommandanten Weyprecht und Payer (SEF 22f.). Drei Exkurse ordnen die Expedition auf unterschiedliche Weise ein: Der erste Exkurs zeichnet einen historischen Abriss der letzten Jahrhunderte über die Entdeckungsversuche der Nordostpassage nach: den »weiße[n] Weg nach Indien«, die »Rekonstruktion eines Traumes« (SEF 42). Der zweite Exkurs zeigt eine »Chronik des Scheiterns«, eine tabellarische Auflistung der »Passagensucher« von 1553 bis 1873 und eine ergänzende Eintragung der erfolgreichen Wegsucher, der »Sieger« nach 1873 (SEF 81f.). Der dritte und letzte Exkurs dialogisiert »Fragmente des Mythos und der Aufklärung«, chronologische Auffassungen und Zitate zur Unerreichbarkeit des Nordpols von der Bibel, über Philosophen und Entdecker bis hin zu einer geografischen Definition um 1980 (SEF 172f.).38 Elf beigefügte Abbildungen von Julius Payer aus Die österreichische-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874 von 1876 unterstreichen die Tradition des bebilderten Reiseberichts. Im Vergleich zu späteren Fischer-Ausgabe enthält die Erstausgabe des Brandstätter-Verlags noch acht weitere Farbfotografien von Rudi Palla. Die historisch orientierte Montage aus Dokumenten und fiktiven Erzählelementen verformt die Faktizität in Literarizität.39 Ransmayr gestaltet eine doppelte Rekonstruktion der ursprünglichen Entdeckungsreise durch Mazzinis Nachfahrt, welche gleichzeitig durch die Erzählerinstanz kommentiert und reflektiert wird und sich damit wiederholt. Dadurch wird der Ich-Erzähler zu einem kommentierenden, interpretierenden und selektierenden Chronisten, welcher die Materialien aus verschiedenen Zeitebenen konstruktiv zusammenfügt und darüber hinaus mit eigenen Überlegungen – und Phantasie – die Lücken der Überlieferung erzählend schließt.40 Die Lücken der Überlieferung, die Unvollständigkeit der Tagebücher der Mannschaftsmitglieder der Admiral Tegetthoff und Josef Mazzinis füllt das
38 39 40
Ebd., 90. Ebd. Eick, Anna-Lena: »Narratives Mapping – Grenzen und Möglichkeiten der literarischen Bearbeitung historischer Stoffe. Christoph Ransmayrs ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹ als Auflösung der großen Geschichte in Möglichkeitsformen einzelner Geschichten«. In: Mapping Ransmayr. Kartierungsversuche zum Werk von Christoh Ransmayr, herausgegeben von Caitriona Leahy und Marcel Illetschko. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 173.
4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Erzähler-Ich mit eigenen Vorstellungen und Vermutungen über die Geschehnisse, die es selbst für plausibel hält und somit Erfundenes in Reales wandelt: »Allmählich beginne ich mich einzurichten in der Fülle und Banalität meines Materials, deute mir die Fakten über das Verschwinden Josef Mazzinis, meine Fakten über das Eis, immer anders und neu und rücke mich in den Versionen zurecht wie ein Möbelstück.« (SEF 250) Angelehnt an die Reportage Der letzte Mensch gesteht der Erzähler, dass sein Erzählen ein subjektives Konstrukt ist, welches er sich aus seinen vorhandenen Materialien und seiner Vorstellung schafft: »Mein Bericht ist immer auch ein Gerichthalten über das Vergangene, ein Abwägen, ein Gewichten, ein Vermuten und Spielen mit den Möglichkeiten der Wirklichkeit.« (SEF 209) Die Spannung zwischen authentischer Berichterstattung und unzuverlässigem Erzähler baut Ransmayr in seiner Reportage auf und erweitert sie in seinem Roman. Mazzini erfindet Geschichten, denkt sich Handlungsabläufe und Ereignisse aus und prüft am Ende, »ob es in der fernen oder jüngsten Vergangenheit jemals ›wirkliche‹ Vorläufer oder Entsprechungen für die Gestalten seiner Phantasie gegeben habe« (SEF 17). Es ist ein »Spiel mit der Wirklichkeit« (ebd.). Dieses Spiel sei aber nicht ersichtlich, da niemand eine solche Phantasie zu schätzen wisse und jeder davon überzeugt sei: »hier läge ein reiner Tatsachenbericht vor«, was aber keinerlei Bedeutung hat, da es Mazzini genüge im privaten »die Erfindung der Wirklichkeit geschafft zu haben« (ebd.). Die Außenwelt nimmt aus der peripheren Perspektive einen Bericht wahr und verkennt den wirklichen Gehalt der fiktiven Erzählung als erfundene Rekonstruktion: »Die Grenze zwischen Tatsache und Erfindung verlief dabei stets unsichtbar.« (SEF 18) Die Korrelation von Fakt und Fiktion unterstreicht Ransmayrs Poetik vom unteilbaren Erzählen. In einem Interview mit Sigrid Löffler antwortet der Schriftsteller auf die Frage, ob es für ihn einen Unterschied gebe zwischen dem journalistischen und dem literarischen Schreiben, sprich: zwischen Fakt und Fiktion: »Nein, da gibt es für mich keinen Unterschied. Das Erzählen ist untrennbar und unteilbar«.41
4.3 Aufklärungs-, Herrschafts- und Kolonialismuskritik In Die Schrecken des Eises und der Finsternis verdichtet Ransmayr seine bereits in den Reportagen Des Kaisers kalte Länder und Der letzte Mensch gezeigte ableh41
Ransmayr: »›…eine Art Museum lichter Momente‹«, 217.
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nende Haltung gegenüber den kolonialistischen Absichten, welche hinter dem vermeintlichen Aufklärungsstreben der Forschungs- und Entdeckungsreisen des 19. Jahrhunderts stehen. Die Stimme der Kritik äußert sich in der Figur des Erzählers, des Chronisten: »Vom Autor zum Bindeglied und Vermittler bestimmt, arrangiert er die vielstimmigen Ebenen der Erzählung und kommentiert sie.«42 In der »Chronik des Scheiterns« sind vom 15. bis zum 19. Jahrhundert die vergeblichen Versuche europäischer Entdeckungsreisender, die weißen Flecken der Welt zu beseitigen, gelistet. Die Tabelle verdeutlicht unter dem Deckmantel einer nach Aufklärung strebender Gesellschaft eine unbeherrschte Gier nach Macht, Reichtum und Ruhm. Kritisiert werden dabei vor allem die Hierarchisierung und Herrschaftsstruktur solcher Expeditionen. Ansehen gebührt ausschließlich Expeditionsschiffen, welche im königlichen Auftrag segeln. Ein einfacher Seemann, Walfänger oder Tranjäger, der Entdeckungen noch lange vor den Kosmographen machte, »hat keinen Anspruch auf Ruhm. Aber den ›Expeditionen‹, und seien sie noch so erfolglos, ein Denkmal« (SEF 81). Den »Vertretern der Akademien«, so auch in Strahlender Untergang, gilt die Kritik (ebd.). Der Roman greift als Spiegel der europäischen Hybris in Form der Entdeckungsreisen als maßlose Aneignung fremder Länder die Thesen der Dialektik der Aufklärung und die Fehler der Aufklärung auf: »Im Zeichen des Henkers vollzog sich die Entwicklung der Kultur«43 . Die Kulturkritik und Empörung über die Sinnlosigkeit solcher Expeditionen äußern sich in ironischen Kommentaren des Erzählers: Aber wer würde zu behaupten wagen, daß alle Qualen und Leidenswege der Passagensucher sinnlos gewesen seien? Höllenfahrten für wertlose Routen? Immerhin hatten sie, wenn schon nicht dem Reichtum und Handel, so doch der Wissenschaft gedient, der Zerstörung der Mythen vom offenen Polarmeer, der Mythen vom Paradies im Eis. (SEF 84) Die Ironie dient wie bereits in Ransmayrs Reportagen als Mittel der Erkenntnis für die/den Leser:in. In der Überspitzung der kritischen Kommentare, oft als Frage formuliert, ist die Leserschaft gezwungen, zu antworten und der ›Wahrheit‹ schrittweise im Laufe der Handlung näher zu kommen: Die Entdeckungsfahrten, die Strapazen und Entbehrungen sind menschenunwürdig und absurd. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen einer solchen ›Wahrheit‹ konstruiert Ransmayr in der Gegenüberstellung der beiden Kommandanten 42 43
Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 56. DdA, 245.
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Weyprecht und Payer. Für Wepyrecht stehen die Forschung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Expedition über Ruhm und Anerkennung: Nächtelang sitzt er allein in einem Beobachtungszelt, das er auf dem Eis hat errichten lassen, führt seine meteorologischen, astronomischen und ozeanographischen Journale, mißt die Schwankungen der Erdmagnetismus, zeichnet lange Zahlenkolonnen auf, berechnet den wirren Kurs ihrer Drift, lotet Meerestiefen, beschreibt, kalkuliert, stellt Zusammenhänge her. (SEF 94) Den Wunsch »das Meßbare zu messen und das Unmeßbare meßbar zu machen« äußert er auch noch lange nach seiner Rückkehr aus dem Eis (SEF 244).44 Zudem stellt er als Expeditionskommandant zu Wasser und Eis das Wohlergehen seiner Mannschaft vor die Ergebnisse einer ruhmvollen Entdeckungsreise und kämpft für eine heilvolle Rückkehr seiner Männer, während für Payer »die Anerkennung unserer Mitbürger« im Fokus steht, wofür er auch regelmäßig das Leben einiger Crewmitglieder riskiert (SEF 177). Im Expeditionskommandant zu Lande und Kartograf des Kaisers verbirgt sich ein Machthunger, der nur durch Erfolge, Rekorde und Ansehen zu stillen ist. Die Strapazen der Reise führen jedoch einzig und allein zu dem Ergebnis, dass sich die Mannschaftsmitglieder für eine Absurdität opfern, für eine Herrschaft und Aristokratie, welche »die Existenz eines Landes plaudernd in Zweifel zieht, das [Payer] unter Qualen vermessen hat« (SEF 245). Herrschaft und Hierarchie äußern sich vor allem auch in der Mannschaftsordnung. So entspricht diese nicht nur der ethnischen Zusammensetzung eines Vielvölkerstaates, welche an der Namensliste und Abbildung der Expeditionsmitglieder abzulesen ist – Österreich, Deutschland, Böhmen, Mähren, Ungarn, Italien und das heutige Kroatien und Südtirol –, sondern spiegelt sich ebenfalls im Rang der Länder. An der Führungsspitze befinden sich die deutschsprachigen Kommandanten Weyprecht und Payer, gefolgt von der mittleren Position der Männer aus Böhmen, Mähren, Steiermark und Südtirol sowie dem ungarischen Expeditionsarztes, während die Matrosen aus slawisch-italienisch besiedelten Gebieten von Triest, Rijeka und Istrien als Letztes gelistet werden.45 Interessanterweise kommen nur die Stimmen
44 45
In Strahlender Untergang verwendet Ransmayr bereits das Zitat von Galileo Galilei, um den maßlosen Anspruch der Wissenschaft zu verdeutlichen (vgl. SU 12). Müller-Funk, Wolfgang: »Ästhetische Hybridität. Fakt und Fiktion in Christoph Ransmayrs ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹«. In: Bis zum Ende der Welt. Ein Sympo-
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der oberen und mittleren Führungsebenen zu Wort, während den Matrosen als rangniedrigen Arbeitern kein Sprechraum geboten wird, was jedoch der Erzähler bereits in der »Chronik des Scheiterns« bemängelt: Einfache Seeleute haben »keinen Anspruch auf Ruhm« und somit wohl auch keinen Anspruch darauf, gehört zu werden (SEF 81). Die Klassengesellschaft, die im Wesentlichen dichotom aufgebaut ist, sprich: aus Herrschenden und Beherrschten besteht, äußert sich in der dualistischen Raum- und Handlungsaufteilung von Zentrum und Peripherie. Die beiden Begriffe, die vor allem die postkoloniale Problematik zu fassen versuchen, demonstrieren in Die Schrecken des Eises und der Finsternis die Mechanismen der Ausbeutung und Vereinnahmung einer dominanten Imperialmacht gegenüber einer unerforschten Peripherie. Die Donaumonarchie verkörpert das Zentrum, das Abgesandte in die peripheren Weiten des Eises schickt, um die letzten blinden Flecken der Landkarte der Alten Welt zu tilgen. Zwei weitere Antonyme, die das Ungleichgewicht der Herrschaftsstrukturen und die Dialektik von Aufklärungsbedarf und Aufklärungskritik unterstreichen, sind das Licht und die Finsternis. Während die polare Dunkelheit Qualen und Leid in einer scheinbar endlosen Trostlosigkeit verspricht, wird dem wiederkehrenden Sonnenlicht eine heilende Wirkung zugeschrieben: »Die Kranken werden zu Kräften kommen, die Eismauern werden einstürzen und als schmelzende Ruinen in der Dünung davontreiben, und der Wind wird gut sein – wenn nur erst die Sonne wieder über den Horizont steigt …« (SEF 122). Nach der langen Periode der lähmenden Finsternis kündigt die aufgehende Sonne wieder Handlungsmöglichkeiten der Befreiung an: Da, einen Augenblick, wallte eine Lichtwelle ankündigend durch den weiten Raum, und die Sonne stieg, von einer Purpurhülle umgeben, empor auf die eisige Bühne. Niemand sprach; wer hätte Worte dem Gefühl der Erlösung geliehen, das auf jedem Antlitz leuchtete, und sich kunstlos unbewußt offenbarte in des einfachen Mannes leisem Ausruf: »Benedetto giorno!« Nur mit ihrer halben Scheibe und zögernd hatte sich die Sonne erhoben über den düsteren Saum des Eises, als wäre diese Welt unwerth ihres Lichtes… Düster, traumhaft ragten die verfallenen Kolosse des Eises gleich zahllosen Sphinxen in das strahlende Lichtmeer hinein; spaltenumringt starrten die Klip-
sium zum Werk von Christoph Ransmayr, herausgegeben von Attila Bombitz. Wien: Praesens 2015, 74.
4 Die Erfindung der Wirklichkeit in Die Schrecken des Eises und der Finsternis
pen und Wälle und lange Schatten warfen sie über die diamantsprühende Schneebahn. (SEF 129f.) Unterbrochen wird das Zitat von Rudi Pallas Foto von größeren Eisbrocken an der Küste im Sonnenlicht. Es collagiert die Unveränderlichkeit des Moments und der Natur, die für die historische wie für die gegenwärtige Handlungsebene beständig sind. Das Licht steht metaphorisch in den Schrecken des Eises und der Finsternis für die Wahrheit und das Streben der Aufklärung nach Wissen. Payers Aufzeichnungen geben das konträre Verhältnis von Licht als Raum der Erleuchtung und Klarheit und Finsternis als Raum der mythischen Ungewissheit wieder: Wie jede Entwicklung nur allmählig fortschreitend zu größeren Zielen reift, so hat sich auch die schwache kosmogenische Dämmerung nur langsam ausgebreitet, von der homerischen Erdscheibe aus über das Land der Hyperboräer; erst nach Jahrtausenden überwand der Wissensdrang die Schrecken des Nordpols, mit welchen die Araber schon Sibirien erfüllt dachten. Rings um das sonnige Morgenland lag die Welt Jahrtausende unter Wahnbegriffen und Fabeln begraben, welche nur die ethische Erhebung der ältesten Dichterphilosophen der naiven Trivialität alles Unreifen entriß. (SEF 42) Neben Payer bezeugt der »Dritte Exkurs« – »Fragmente des Mythos und der Aufklärung« –, dass bereits in der Bibel im Buch Hiob das Ende der Dunkelheit mit der Durchforschung »bis zum äußersten Winkel das Gestein des Dunkels und der Finsternis« hervorgerufen werden kann (SEF 172). Den Mythos, der mit der Dunkelheit gleichzusetzen ist, zerstört man, indem »Verborgenes […] ans Licht« gebracht wird (SEF 172). Das Kapitel des Alten Testaments46 verdeutlicht, dass »die Ambivalenz des Lichts (sowie die Doppeldeutigkeit der Lichtmetaphorik) nicht erst im Zuge der Aufklärungskritik entdeckt worden ist, sondern aufklärerisches Denken seit jeher begleitet hat«47 . Der mythische Raum der peripheren Pollandschaft birgt die Dunkelheit, welche nicht in der Lage ist, das Licht der Aufklärung zu absorbieren und sich dem Menschen zu unterwerfen: Das Land ist so grell, als weigerte es sich, auch nur einen einzigen Lichtstrahl aufzunehmen, als müßte das Bild der Sonne Strahl für Strahl zurückwerfen 46 47
Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Stuttgart: KBW 2017, 605f. Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung, 78.
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in einen ohnedies gleißenden Himmel. Daß Licht so schmerzen kann. (SEF 213) Licht kann aber im Übermaß zur Erblindung führen. Dieses Bild lässt sich als Metapher und Grundaussage von Ransmayrs Kritik werten. Die Menschheit, so besonders die Europäer, sind bereits so weit vom Licht ihrer vermeintlichen Aufklärung geblendet, dass sie alle dunklen, mythischen Orte der Welt missachten, vereinnahmen und zerstören: »Und den Mythos zerstört man nicht ohne Opfer.« (SEF 84) Diese Opfer demonstrieren die breite Anzahl der aufklärerischen Fehlschläge des Kolonialismus, der kulturellen Ausbeutung und der Menschenrechtsverletzungen, begründet im eurozentristischen Denken.
Schrecken des Eises und der Finsternis (8 Farbfotografien und 11 Abbildungen):
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129 Abb. 1
Rudi Palla (auch in Des Kaisers kalte Länder I)
Eisbrocken an Küste
»Kamst du bist zu den Speichern des Schnees, und sahst du die Kammern des Hagels?« (Hiob 38, 22)
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132 Abb. 2
Rudi Palla
Holzmarkierung in Schneelandschaft
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133 Abb. 3
Rudi Palla
Eisbrocken auf Wasser treibend
»Taten sich dir die Pforten der Totenwelt auf, schautest du die Tore der Finsternis? Hattest du acht auf die weiten Flächen der Erde?« (Hiob 38, 17–18)
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136 Abb. 4
Rudi Palla
Holzgerüst im Schnee
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137 Abb. 5
Rudi Palla
Gestückelte Eisflächen im Wasser
»Bist du zu des Meeres Quellen vorgedrungen und in des Ozeans Tiefe einhergewandelt?« (Hiob 38, 16)
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140 Abb. 6
Rudi Palla
Halb versunkener Holzschlitten im Schnee
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141 Abb. 7
Rudi Palla
Eiswüste
»Dort ist die Heimat des Saphirs und des Goldstaubes. Aber kein Raubvogel kennt den Weg dorthin und kein Löwe schreitet auf ihm« (Hiob 28, 6–8)
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144 Abb. 8
Rudi Palla (auch in Des Kaisers kalte Länder I)
Eisküste
»Die Weisheit aber – wo findet man sie, und wo ist die Stätte der Einsicht? Das Urmeer spricht: ›In mir ist sie nicht‹ und der Ozean sagt: ›Ich bin leer.‹« (Hiob 28, 12 und 14)
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Unbekannt
Tegetthoff im Hafen von Bremerhaven
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Mitglieder der österreichischungarischen Nordpolexpedition
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Karl Weyprecht
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Julius Payer
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Halbe Seite
»Vergessen wir nicht, daß eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und: daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind« (SEF, Vor allem, 7)
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Julius Payer: Abbildung dem Werk Die österreichischeungarische NordpolExpedition in den Jahren 1872–1874, Wien 1876 entnommen. (auch in Des Kaisers kalte Länder I)
Vereiste Tegetthoff mit fünf Besatzungsmitgliedern
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Julius Payer
Sonne über der Tegetthoff
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Julius Payer
Besatzung beim Versuch, die Tegetthoff vor Eispressungen zu schützen
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Julius Payer (auch in Der letzte Mensch)
Zwei Mitglieder, die an der Norpolküste die Sonne preisen
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Julius Payer (auch in Des Kaisers kalte Länder II)
Besatzung im Aufbruch und Vorbereitung für die Flucht über Land
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Julius Payer
Kräftezehrende Bemühungen, die Fracht via Schlichten über das Eis zu schieben
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Julius Payer
Zeltaufbau und Vorbereitungen einer Übernachtung im Eis
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5 Erzählen als Aufklärungsbedarf in Atlas eines ängstlichen Mannes
In Atlas eines ängstlichen Mannes1 greift Christoph Ransmayr auf gesammeltes Material seiner Reisen der letzten 40 Jahre zurück.2 In 70 Episoden erzählt ein angeblich autobiografisches Ich von seinen Eindrücken und Erlebnissen, von Personen und Schicksalen aus den entlegensten Orten auf der ganzen Welt. Ransmayr bezeugt im Vorwort, dass im Atlas »ausschließlich von Orten die Rede [ist], an denen ich gelebt, die ich bereist oder durchwandert habe, und ausschließlich von Menschen, denen ich dabei begegnet bin« (AäM 5). Diese Authentizitätsbekundung verwirft bereits der erste Satz des Bandes: »Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt« (ebd.). Die Dichotomie von biografisch belegter Glaubwürdigkeit und fiktivem, erzählerischen Konstrukt zieht sich durch alle Erzählungen des Atlas.3 Das »Spiel mit der Wirklichkeit« erinnert an die Figuren des ›Berichterstatters‹ in Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Der letzte Mensch (SEF 17). In der Reportage gesteht der Berichterstatter, welcher ursprünglich wahrheitsbezogene Informationswiedergabe verspricht, seinem Lese- und Zuschauerpublikum, nur ein Produkt der Inszenierung gewesen zu sein und alle getäuscht zu haben.4 Im Roman baut Ransmayr die Spannung zwischen wahrer Berichterstattung und unzuverlässigem Erzähler in der Figur des Mazzini weiter aus, der auf einen reinen 1
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Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass zwischen der Veröffentlichung von Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) und Atlas eines ängstlichen Mannes (2012) knapp dreißig Jahre liegen. Die frühste zeitlich nachzuverfolgende Episode Luftangriff ist von 1980 (AäM 82–88). Ransmayr hält sich in der Episode an einem Julitag während der Regierungszeit von General García Meza in Bolivien auf. Die Geschichte lässt sich durch die zeitliche Begrenzung der einjährigen Herrschaft des Diktators auf 1980 datieren. Herrmann: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart, 290. Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983), 74.
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»Tatsachenbericht« verzichtet und »die Erfindung der Wirklichkeit« bevorzugt (ebd.). Ransmayr kritisiert den mutmaßlichen Wahrheitsanspruch, den Medienberichterstattung behaupten zu haben: »Berichterstatter, die uns dann erzählen, wie’s war. Aber ›so‹ war es meistens nicht« (SEF 18). Für den Autor besteht »Wirklichkeit immer aus dem Tatsächlichen und dem bloß Möglichen« und nicht aus reinen Fakten.5 Hervorgehoben wird dies durch den Verweis, eine der Geschichten sei nicht vom Autor selbst, sondern von seiner Frau erlebt: »Ein einziges Mal kommt hier ein Ort zur Sprache, an dem ich niemals war, der mir aber durch die Beschreibungen meiner Frau vertraut geworden ist.« (AäM 5) Um welche Episode es sich dabei handelt, lässt Ransmayr bewusst offen, denn es »soll daran erinnern, daß wir vieles, was wir von ›unserer‹ Welt zu wissen glauben, nur aus Erzählungen kennen und: daß (fast) jede Episode dieses Buches auch von einem anderen Menschen, der sich ins Freie, in die Weite oder auch nur in die engste Nachbarschaft und dort in die Nähe des Fremden gewagt hat, erzählt worden sein könnte. (ebd.)
Die Form der Reportage Die Geschichten erinnern an Ransmayrs Reportagen der 1980er Jahre, die besonders durch eine große Nähe zwischen Fakt und Fiktion markiert sind. Nicht nur der Atlas eines ängstlichen Mannes, sondern auch der Reiseroman der Gegenwartsliteratur weist die Divergenz auf, dass im fiktionalen Text ein Authentizitätsanspruch erhoben wird, der in der faktualen Darstellung hingegen in Zweifel gezogen wird, was einen bewussten Widerspruch provoziert.6 So beginnen alle Episoden des Prosabands mit einem authentizitätsverheißenden »Ich sah«. Für den Autor ist diese Einleitung »vor allem eine Bürgschaft«: ›Ich sah‹ wurde aber erst viel später zum Schlüssel für die Erzählweise. Da verbürgt sich ein Mensch, ich, für das Gesehene und Gehörte, nicht irgendeine auktoriale Person. Wer aber seine eigene Erfahrung als – wenn nicht ausschließliche, so doch wichtigste – Quelle benützt und, was er gesehen oder gehört hat, in Sprache verwandelt, der macht seine Erfahrung zur Geschich-
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Kämmerlings: »›Ich bin eher ein Anhänger der Blutrache‹«. Herrmann: Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart, 289.
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te. Etwas zur Sprache zu bringen, entspricht immer einer dramatischen Verwandlung, Wirklichkeit wird so zur Vision.7 In den Texten werden Fakten und Quellenaussagen nicht, wie in Ransmayrs Reportagen üblich, als direkte Zitate, sondern konsequent vom Erzähler-Ich, welches der Figur eines Berichterstatters ähnelt, im Konjunktiv wiedergegeben und brechen so die Glaubwürdigkeit des Erzählten. Dennoch greifen die Episoden die vier konstituierenden Dimensionen der Reportage (Ereignis, Akteur:in, Zeit und Raum) sowie das Grundmuster aus Einstieg, Einschlüsse von Fakten, Zitaten, Beispielen und einem bedeutungsschweren Schluss auf und erinnern demzufolge an den Aufbau der frühen journalistischen Texte des Autors, der seine Reisen »anfangs ja als Berichterstatter, Reiseleiter oder als Chauffeur« finanziert hat, »durch Autoüberstellungen beispielsweise nach Syrien und Saudiarabien«, wo er an »manchen Zielorten länger geblieben« ist.8 Die Episode des Prosabands Trost der Betrübten (AäM 349f.) findet sich thematisch bereits in der 1980 in der im Extrablatt-Magazin veröffentlichten Reportage Ein Nachmittag im Narrenhaus wieder:9 Am Steinhof – dem psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien und Europas größter Irrenanstalt – ist heute kein Nachmittag wie jeder andere. Oben, auf der Kuppe der Baumgartner Höhe, wo der Jugendstilarchitekt Otto Wagner der hier unter Verschluß gehaltenen Hoffnungslosigkeit Tausender Menschen eine prachtvolle Kirche aufgesetzt hat, steht heute das blaue Zelt des ›Zirkus Royal‹, Raubtierkäfige und die Wohnwagen der Artisten. Und im Saal des Theatergebäudes, in das wir nun endlich eingelassen werden – die zweite Attraktion dieses Nachmittags: Lichtbilder von den Sandwichsinseln im Stillen Ozean – ein Bericht aus Hawaii. […] Als ob er sich in den eigenen Körper hineinbiegen wollte, bleibt ein Mann zwischen den Stuhlreihen immer wieder stehen, kniet nieder und pflückt namenlose, unsichtbare Dinge vom Parkett. Sind es Gräser? Eine schmale junge Frau bittet einen Besucher, sich an seinen Schultern festhalten zu dürfen, und springt dann – sich selbst in einem bodenlangen Spiegel des Saals beobachtend –
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Mayer, Norbert: »›Wir sind Teil dieses ungeheuren Theaters!‹ Interview mit Christoph Ransmayr«. In: Die Presse, 23.10.2012. Ebd. Ein Nachmittag im Narrenhaus (Extrablatt (12/1980), 76f.
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wieder und wieder in die Höhe: ›Ich bin jung, jung! Schaut, wie meine Haare fliegen!‹10 Beide Texte spielen im Psychiatrischen Krankenhaus Am Steinhof in Wien und handeln von einer Zirkusvorstellung und einem Lichtbildvortrag über Hawaii für die Patient:innen. Ransmayr greift im Atlas auf seine über dreißig Jahre alte Reportage zurück: Erst als es am Ende aller Bildfolgen wieder hell wurde im Saal wurde es auch still. Einigen, die beharrlich auf ein weiteres Bild warten und warten und warten wollten, wurde von Besuchern – oder waren es doch Bettnachbarn? – bedeutet, daß die Reise für heute zu Ende war. Ein Mann, der von einem Pfleger aus dem Saal geführt wurde, wollte immer wieder stehen bleiben, niederknien und unsichtbare Dinge, Gräser, Seeanemonen, vom Parkett pflücken. Im Foyer bat eine junge Frau darum, sich an meinen Schultern festhalten zu dürfen: sie wolle so hoch wie möglich springen. Und vor einem bodenlangen Garderobenspiegel sprach sie dann, bis sie außer Atem geriet, wieder und wieder hoch und rief dazu: Ich bin jung! Ich bin jung!, seht nur, wie meine Haare fliegen. (AäM 354f.) Im Unterschied zu den Magazinen wandeln sich im Atlas die Texte durch eine metaphorisch aufgeladene Sprache, durch die Durchlässigkeit von Fakt und Fiktion und durch das bewusst offen gehaltene Verhältnis von Erzähler und Autor von einem journalistischen Tatsachenbericht zu einer literarischen Erzählung. Das Spannungsverhältnis von Fakt und Fiktion unterstreicht Ransmayr, als er in einem Interview auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichten antwortete: »Sie sind wahr im Sinne von wahrhaftig.«11 Bei Ransmayr verschwimmen die Grenzen von Bericht und Erzählung, von journalistischem und literarischem Text, von Fakt und Fiktion, mehr noch: Sie müssen unsichtbar gemacht werden. Der Autor sagt selbst: »Das Erzählen ist untrennbar und unteilbar.«12
Dialektik der Aufklärung: Unterdrückung und Machtaussübung Im Atlas bearbeitet Ransmayr Themen, die ihn bereits als Journalist und jungen Schriftsteller beschäftigen: der Mensch und seine Verbrechen an der Na-
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Ebd. Mayer: »›Wir sind Teil dieses ungeheuren Theaters!‹«. Löffler und Ransmayr: »Das Thema hat mich bedroht«.
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tur sowie Gesellschafts-, Kolonial- und Herrschaftskritik in Form von Enteignung und Gewalt. Die Kolonialismuskritik äußert sich vor allem in Bezugnahmen auf historische Entdeckungsfahrten und die damit verbundene Usurpation und Landnamensgebung: Die Yacht lag nun in Mooringketten zwischen zwei Korallenriffen und in Sichtweite eines geborstenen Frachters, der vor Jahren gegen diese Korallen gelaufen war und seither als ein Möwen umschwärmtes, unter den Wellschlägen manchmal metallisch ächzendes Seezeichen aus dem seichten Seewasser ragte: eine Erinnerung auch daran, daß diese Untiefen ihren Namen spanischen Galeonen verdankten, die hier, schwer mit Silber und anderem Raubgut aus einer ›Neuen Welt‹ befrachtet, gescheitert waren. (AäM 125) Die Ohnmacht des Menschen gegenüber der Natur, die er so verzweifelt zu beherrschen versucht, findet immer wieder Eingang in die Episoden. Nahezu jede Erzählung enthält eine kurze Passage oder beiläufige Bemerkungen, inwiefern sich die Natur gegen den Menschen und seine Zerstörungswut zu behaupten weiß. Während einer »whale watcher«-Tour begegnet das Erzähler-Ich In der Tiefe einer Walkuh und wird mit der Kraft der Natur konfrontiert: Die Riesin sah mich an, nein: streifte mich mit ihrem Blick und änderte dann ihren Kurs um einen Hauch, gerade so viel, daß wir einander nicht berührten. Aber obwohl sie mit mir dieser Andeutung einer Seitwärtsbewegung auswich und damit mein Dasein immerhin wahrnahm und anerkannte, glaubte ich in ihrem Blick eine so abgrundtiefe Gleichgültigkeit zu sehen – vergleichbar der eines Berges über dem, der ihn besteigt, der des Himmels gegenüber dem, der ihn durchfliegt –, daß mich ein Gefühl überkam, als müßte ich mich unter diesen Augen ohne den geringsten Rest auflösen, müßte unter diesen Augen verschwinden, so, als hätte ich nie gelebt. Vielleicht was diese Riesin in Schwarz tatsächlich aus ihrer Tiefe zu einem Atlantikschwimmer emporgeschwebt, um ihm eine Ahnung davon zu vermitteln, wie reich, wie vielfältig, unverändert und selbstverständlich die Welt ohne ihn war. (AäM 128) Ziel der Aufklärung ist die Selbstbestimmung des Menschen. Die Befreiung aus der Unmündigkeit bedeutet dabei immer auch die Befreiung der Menschheit von der Furcht vor der Bedrohung der Natur: Naturphänomene werden durch wissenschaftliche Methoden und rationale Erklärungen entmytholo-
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gisiert.13 Der vermeintliche Weg in die Freiheit ist mit der Herrschaft eng verknüpft, »deren Ursprung in der Verflechtung von ›Natur und Naturbeherrschung‹ ausgemacht wird […]«14 . Horkheimer und Adorno verstehen die Aufklärung als »Entzauberung der Welt«15 . Diese Geisteshaltung ermächtigt den Menschen zu jahrhundertlangen Verbrechen an der Natur und bewegt Ransmayr zur Reflexion und Vermittlung des menschlichen Fehlverhaltens: Manchmal habe er das Gefühl, die Wildnis oder ihre Dämonen forderten Tier- und sogar Menschenopfer als Sühne dafür, daß Vogelchöre und Affenhorden in den Busch zurückgedrängt, Wald gerodet und Haustiere, Schweine, Rinderherden auf die eroberten Lichtungen getrieben worden seien. Dabei genüge hier schon ein kurzes Nachlassen der Wachsamkeit, und unbestelltes Land fiel wieder an die Wildnis zurück und versanken Weiden, Wege, Ställe und Häuser in stetig anrollenden, wuchernden, blühenden Wogen immergrünen Dickichts. (AäM 131) Die unreflektierte und fehlentwickelte Auslegung der Aufklärung nährt laut Horkheimer und Adorno den Boden für Ideologien, Diktaturen und jedwede Art von Herrschaftsformen der Unterdrückung, Machtausübung und Gewalttaten.16 Gegen das diktatorische »Liquidieren. An die Wand stellen. Auslöschen. Vernichten« (AäM 242) lässt Ransmayr immer wieder die Stimme der Hoffnung der Revolutionäre in den Episoden erklingen, welche »die Entmachtung des Oligarchen«, »Versammlungsfreiheit«, »Redefreiheit« und »Gedankenfreiheit« fordern und sich aktiv gegen Herrschaftssysteme wehren (AäM 390f.). Die Grundgedanken der Aufklärungskritik sowie Horkheimers und Adornos Formel »Schon der Mythos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück« verbergen sich bereits im Titel des Atlas eines ängstlichen Mannes. Der ›Atlas‹, als Sammlung von Landkarten, ist ein Zeugnis wissenschaftlicher Forschung und des Kartografierens und Klassifizierens der Welt, ein Mittel, die Erde zu entmythologisieren und somit ein Produkt aufklärerischen Strebens nach der Vermessung der Welt. Währenddessen steht der ›ängstliche Mann‹ als fühlendes, emotionales Subjekt und als angsterfülltes Wesen für die Unsicherheit und Hilflosigkeit gegenüber der Natur
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Schmid Noerr: »Zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund der ›Dialektik der Aufklärung«, 31. Sandkaulen: »Begriff der Aufklärung«, 6. DdA, 59. Ebd., 17.
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und symbolisiert den Mythos. Die Korrelation des Titels und der aufklärungskritischen Formel der Frankfurter Philosophen unterstreicht Ransmayrs Vermittlungsauftrag der fehlgeleiteten Aufklärung innerhalb der Episoden. Ransmayrs Gedankenspiel einer menschenleeren Welt – ein Bild, welches er als Naturzustand ansieht und nicht als apokalyptisches Weltuntergangsszenario17 – spiegelt sich im Cover des Prosabands. Die »Blauschattierung« zeigen die »Tiefenlotungen« von »Eismeerkarten« ohne sichtbares Land (AäM 273). Eine reine Wasserlandschaft erstreckt sich über den Einband, der zwar menschleer, aber von Menschenhand kartografiert wurde und ironisch, jedoch kritisch das Ziel der Entdeckerfahrten und die Handlung von Die Schrecken des Eises und der Finsternis reflektiert: Mit der Taufe des Franz-Joseph-Landes war der letzte weiße Fleck von der Landkarte der Alten Welt getilgt. Die Globen und die Atlanten, bereichert um eine mehr als sechzehntausend Quadratkilometer große menschenleere Wildnis spiegelten nun endlich ein vollständiges Bild dieser Erde. (AäM 275) Der Mensch war in der Lage jeden Ort, sei er noch so klein und versteckt, im Zuge der Jahrhunderte zu entdecken, zu erobern und zu kartografieren. Mit dem Ziel, alles »Meßbare zu messen und das Unmeßbare meßbar zu machen« (SEF 244 und SU 12), gibt es für den Menschen in seiner Willkür keine Grenzen. Machthunger, Territorialverhalten, Tyrannei, Versklavung und Gewalt sind Ergebnisse der jahrhundertlangen Fehlleitung einer gescheiterten Aufklärung. Die folgenden ausgewählten fünf Episoden aus dem Atlas eines ängstlichen Mannes verdeutlichen jeweils eines der fünf Resultate der Aufklärung und spiegeln Ransmayrs erzählerische Form des Widerstands.
5.1 Fernstes Land – Machthunger Die erste Geschichte Fernstes Land erinnert in ihrem Aufbau stärker als die restlichen Episoden an Ransmayrs journalistische Reportagen der 1980er Jahre. Eindrücke des Erzählers und eingeschobene Hintergrundinformationen wechseln sich mit Aussagen eines Passagiers in indirekter Rede ab. Es entsteht ein harmonischer Austausch von Einstieg, Abschnitten aus Sachinformationen, indirekten Zitaten eines Zeugen und einem gehaltvollen und zum Nachdenken anregenden Schluss, welcher die Grundzüge der Reportage 17
Vgl. Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör, 103.
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vermittelt. Das Verhältnis zwischen Erzähler und Autor wird zwar im Vorwort als vermeintlich autobiografisch festgelegt, jedoch mit dem Verweis auf eine einzige Ausnahme (Erzähler ≠ Autor) bewusst offengehalten. Das Erzähler-Ich befindet sich im März eines unbekannten Jahres auf einem Schiff im pazifischen Ozean Richtung Osterinsel und trifft an Bord auf einen dürren Einheimischen der Rapa Nui, dessen Aussagen Einblick in die Mythen und die Geschichte des Kannibalismus seines Volkes bieten (AäM 11). Wie alle Episoden des Bandes beginnt die Geschichte mit »Ich sah« und beschreibt in den ersten Sätzen den »menschenleeren«, »baum- und strauchlosen« Zustand der Insel, auf der es weder Süßwasser noch Gras, Moos oder Blütenpflanzen gibt (ebd.). Meterhohe Wellen als Ausläufer eines entfernten Sturms lassen die Kräfte des Pazifiks erahnen, welcher die Namen ›Friedlicher‹ oder ›Stiller Ozean‹ nur der vergeblichen Hoffnung seiner ersten Befahrung durch europäische Schiffe verdankt (AäM 12). Wie in Die Schrecken des Eises und der Finsternis wird über Nebensätze und Einschübe des Erzähler-Ichs Kritik an den historischen Entdeckungsfahrten der Europäer geäußert. So ist es nicht nur der Pazifik und alle anderen Meere, die man »ohne Not besser nicht« überqueren sollte, sondern auch die fast schon irrelevanten »am Ende doch vergessene[n], spanische[n] Kapitäne«, nach denen die vulkanische Felsformation Salas y Gómez benannt wurde (ebd.). Informationen über die Geschichte der Insel und der Rapa Nui erfährt der Erzähler scheinbar zufällig von einem »erschreckend dünnen Mann«, der sich neben ihm »an der Reling festhielt« (ebd.): Die Rapa Nui, […], jenes rätselhafte Volk, das um den Preis des eigenen Untergangs die Osterinsel mit nahezu tausend Steinstatuen geschmückt hatte, seien schon Jahrhunderte vor diesen vermeintlichen Entdeckern mit Binsenflößen über eine Distanz von fast vierhundert Kilometern immer wieder hierher gesegelt und gerudert und hatten diesem Ort einen schöneren, viel schöneren Namen gegeben: ›Manu Motu Motiro Hiva‹. Das sei manchmal auch mit ›Vogelinsel auf dem Weg in die Unendlichkeit‹ übersetzt worden. Denn aus welchen Tiefen der polynesischen Inselwelt die Rapa Nui ursprünglich auch immer gekommen waren, sagte der dünne Mann, am Ende hatte sich in ihren Überlieferungen wohl jede Erinnerung an den Ort des Ursprungs und an alles Festland verloren und der Überzeugung Platz gemacht, daß es außer ihnen keine Menschen auf dieser Welt gab und in einem unendlichen Ozean unter einem unendlichen Himmel kein Land neben ihrer eigenen Insel. (AäM 12f.)
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Der Mann erzählt von dem Mythos eines auf der Osterinsel beheimateten Gottes – ein Allmächtiger, den die Rapa Nui ›Make-Make‹ nannten: »Denn wenn es in dieser Unendlichkeit tatsächlich noch ein zweites Land gab, dann mußte dort, sichtbar oder unsichtbar, der wohnen, dem das Dasein der fernen Heimat und von Himmel und Erden und allem, was im Wasser oder an der Luft lebte, zu verdanken war.« (AäM 14) Die Beziehung und Kommunikation zwischen Erzähler und dem dünnen Mann, die der eines Berichterstatters und dessen Zeugen gleichen könnte, wird für die/den Leser:in offengehalten: Ich hatte Mühe, den dünnen Mann zu verstehen. Nicht allein wegen des Tosens von Wasser und Wind oder weil jene seltsame Mischung aus Englisch und Spanisch, die er sprach, immer auch Worte aus einer oder mehreren Sprachen enthielt, die ich noch nie gehört hatte, sondern vor allem, weil auch jetzt und wie schon bei unseren Begegnungen in den vergangenen Tagen, stets in der Schwebe blieb, ob er mit mir oder bloß mit sich selber sprach – über die Reling hinweg aufs Meer. (AäM 13) Der Eindruck verstärkt sich in der Anonymität des Mannes, der nahezu aus dem Nichts erscheint, erzählt, aber in allem sehr passiv wirkt und im Verlauf der Handlung äußerlich nicht näher beschrieben wird. Die Zurückhaltung des Erzählers gegenüber dem Mann spiegelt sich in dessen fragiler Körperstatur: dünn, zerbrechlich und abgezehrt erscheint seine Gestalt (AäM 14). Sein abgemagerter Zustand ist Ergebnis einer Essstörung, welche er »nach dem Tod seiner Mutter, ohne es zu wollen und zunächst auch ohne sich dessen bewußt zu sein, […] wohl als Erbe übernommen« hat (AäM 17). Während seine Mutter unter Bulimie litt, verweigerte der dünne Mann sein Essen, da ihm beim Anblick ihrer Ess-Brech-Sucht alle Lust daran für immer verloren ging (ebd.). Er empfindet die Nahrungsaufnahme als quälende Verpflichtung und fühlt sich trotz seines ausgehungerten Zustands schwer und massig wie ein Moai, die kolossale Steinfigur der Osterinsel, »für deren Herstellung und Transport die Rapa Nui über die Jahrhunderte alle ihre Kräfte erschöpft und ihre Palmenwälder, ihre Fischgründe, ihre Gärten und Felder und schließlich sogar den Frieden zwischen den Clans der Insel geopfert hatten« (AäM 15). Eigentlich waren die Skulpturen als »Monumente eines Ahnenkults« gedacht, welche mit dem Blick ins Inland die Gegenwart und Ewigkeit miteinander verbinden sollten (ebd.). Stattdessen sind sie zu »Macht- und Statussymbolen verkommen« und haben »schließlich das Leben auf der Insel aufzufressen begonnen« (ebd.).
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Der Hunger!, war der dünne Mann überzeugt, der Hunger sei vielleicht die verborgene und wahre Bestimmung dieses Volkes, seines Volkes, gewesen. Denn als alles, was zu fällen war, gefällt, alles was zu fischen und zu jagen war, gefischt und erjagt, die Palmenhaine verschwunden und nicht einmal genug Holz geblieben war, um noch Fischerboote zu bauen, waren die Clans, die das Inselreich bis dahin unter sich geteilt und bestellt hatten, übereinander hergefallen, hatten die unter unsäglichen Mühen errichteten Moais der jeweiligen Nachbarn gestürzt, enthauptet und sich am Ende nicht nur gegenseitig umgebracht, sondern auch gefressen. (AäM 16) Der Einmarsch von Kolonialherren, die das entvölkerte Land für Schaf- und Rinderherden nutzten, die letzten Bewohner versklavten und deren Land enteigneten, »war nur die Vollendung des Unheils, das im Herzen der Insel und nicht irgendwo in der Ferne begonnen hatte« (ebd.). Das bewusste Hungern der Mutter war der verzweifelte Versuch, sich von den Untaten und der Schuld ihres Volkes zu lösen: »Denn wer nicht nach Brot hungerte, hatte auch keinen Hunger nach Feldern, Weidegründen, Macht, wollte niemanden beherrschen, niemanden töten, niemanden fressen« (AäM 17). Auch der dünne Mann reist in die Heimat des Gottes »in Zeiten der Not, in Zeiten des Hungers«, um für Erlösung vom allesfressenden Appetit zu bitten (AäM 18). Die Geschichte endet mit den Rußseeschwalben, die an den wilden Felsenriffen der Osterinsel brüten und auf die der Mann beim Anfahren der Insel hinweist: Das ganze Jahr, ja die Zeit selbst sei von diesen Vögeln sozusagen in Gang gesetzt worden. […] War es nicht bemerkenswert, was für ein Leben es auf diesen vulkanischen Klippen gab, und bemerkenswert, welche wunderbaren Namen dieses Leben führte – Weihnachtssturmtaucher, Maskentölpel, Meerläufer, Feenseeschwalben … Sie alle brüteten hier. (AäM 18f.) Obwohl der Mensch so vieles durch sein Wirken und Eingreifen zerstört, hat es dennoch den Anschein, dass sich die Natur mit seinem Verschwinden stets regeneriert. In der Episode greift Ransmayr sein immer wiederkehrendes Thema der aus dem Gleichgewicht geratenen Beziehung von Mensch und Natur auf. Der Blick ins Landesinnere der Moais steht symbolisch für den Blick ins eigene Ich und die Besinnung auf ein geregeltes Maß (AäM 17). Die Geschichte der Osterinsel zeigt beispielhaft, wie der Mensch versucht, sich einen von der Natur beherrschten (von Gott bewohnten) und mythischen Ort zu eigen zu machen und daran scheitert. Sein Machthunger destruiert die Balance von Individuum und Natur. Der Hunger des dünnen Mannes steht nicht nur für die Schuld-
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gefühle gegenüber einem kulturellen Krieg auf der pazifischen Insel, sondern auch für die unstillbare Gier des Menschen. Ein Thema, das Ransmayr, oft auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung bezogen, in seinen journalistischen Arbeiten bereits thematisiert und reflektiert hat.18
5.2 Reviergesang – Territorialverhalten In Reviergang wandert das Erzähler-Ich an einem Oktobertag auf einem Abschnitt der ›Wanli Chang Cheng‹, der Chinesischen Mauer, und begegnet auf einer menschenleeren Strecke einer »Gestalt«, einem »weißhaarigen Europäer«, dem Waliser und Ornithologen Mr. Fox (AäM 22). Wie bereits in der Erzählung zuvor trifft der ›Berichterstatter‹ auf eine ›Quelle‹. Die Begegnung beider Männer bildet die Basis der Geschichte. Dass der Erzähler mit dem Auftakt »Ich sah« als vermeintlicher Augenzeuge betrachtet werden kann, steht im Widerspruch zu den Schilderungen der Erlebnisse seines Gegenübers in der indirekten Rede (AäM 20). Im Konjunktiv gibt der Erzähler die Aussagen des Briten wieder, indem er wiederholt in den Nebensätzen die Inquit-Formel »sagte Mr. Fox« einfügt (AäM 22). Mr. Fox, der mit seiner Frau in Shanghai lebt, hat sich vorgenommen, ein Album der Stimmen sämtlicher Singvogelarten, die an der Chinesischen Mauer leben, aufzunehmen (AäM 23). Genaugenommen war das alles ja eine Idee seiner Frau gewesen. Er hatte sie, das war vor fast dreißig Jahren, in die Provinz Ningxia begleitet. Die Mauer verlief dort immer wieder durch ziemlich trostlose Gebiete, Industriezonen, Raffinerien und entlang dampfender Mülldeponien. Aber ausgerechnet in Ningxia hatte ein Vogel, ›Turdus mandarinus‹, die Chinesische Amsel, so betörend schön gesungen, daß sie beide wie verzaubert gewesen waren […]. (AäM 24) Erneut ist es die Natur, die sich trotz des Eingriffs und der Anmaßung gegen den Menschen durchsetzt und der damit verbundenen »trostlosen« Hässlichkeit etwas Schönes in Form von Gesang und Lauten zurückgibt (ebd.), ein weiterer Raum natürlicher Schönheit, den der Mensch sich zu eigen machen will. Mr. Fox erinnert sich an seinen Vater, »der oft mit der Stirnlampe unter den 18
Vgl. Illustrierte Mitteilung für den Teefreund (Extrablatt 4/1981) und Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983).
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Bäumen Swanseas gesessen und fieberhaft versucht hatte, rasende Melodien auf Notenpapier mitzuschreiben, wenn eine Nachtigall oder eine Amsel in die Dunkelheit zu singen begann« (ebd.). Die Lieder der Singvögel waren in erster Linie Reviergesänge, die durch ihre Lautstärke, Vielfalt und Virtuosität einen Rivalen nicht nur auf Abstand, sondern auch in die Flucht schlagen können mussten (AäM 24f.). Mr. Fox und seine Frau sehen im Reviergesang eine ambivalente Lösung zur Abgrenzung von Feinden: Gemeinsam hatten sie sich vorgestellt, diese unvorstellbar lange Mauer durch einen einzigen, aus lückenlos aneinandergereihten Reviergesängen bestehenden Chor zu ersetzen: einen Wall aus Liedern, zart und glasrein die einen, verspielt, trällernd die anderen, alle aber Sequenzen einer unüberhörbaren, unüberwindlichen Melodie, die jeden Eindringling oder Angreifer entweder so überwältigen mußte, daß er bang das Weite suchte – oder so betörte, daß er seine Gier, seinen Haß oder seine Kampflust vergaß und zu nichts anderem mehr fähig war, als hingerissen zu lauschen. (AäM 26) Die Natur zieht auf friedliche und sanftmütige Weise Grenzen, die der Mensch nur mit Waffen, Mauern, Hass und Machthunger zu verteidigen weiß. Dabei überdauern die Gesänge der Vögel »selbst die stärksten Mauern und vermeintlich unbezwingbare Wehrtürme«, welche sich vor dem Lauf der Zeit nicht schützen konnten (ebd.). Vielleicht konnte das Reich eines unmusikalischen Menschen wie Mao Tsetung schon allein deswegen keinen Bestand haben, weil es das erste und einzige aller bisherigen chinesischen Reiche war, in dem Singvögel nicht bloß aus blöder Freßgier wie in manchen Ländern Europas, sondern ausnahmslos alle Vögel als Getreidefresser und Ernteschädlinge in sämtlichen Provinzen dieser sogenannten Volksrepublik zu Millionen und Abermillionen getötet worden waren. Es habe hierzulande einen Frühling gegeben, in dem der Himmel über Peking tatsächlich ›vogelfrei‹ gewesen war. (ebd.) Die Passage zeigt die Brutalität des Menschen gegenüber der Natur und verdeutlicht, wie weit er in seiner Zerstörung zu gehen bereit ist. In dem Moment der Reflexion über die Verbrechen und Gräueltaten, in einem Moment der beschämenden Stille erklingt eine Rotkehldrossel: ›Herbstgesang‹, wie Fox sagte: leiser und weniger raumfordernd, aber kunstvoller, lustvoller als die Gesänge des Frühjahrs […]. Es war ja, ein bißchen zu-
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mindest, wie bei den Menschen, wie bei ihm selber: Ein Herbstvogel mußte niemandem mehr groß imponieren. Der sang, wenn er denn sang, mehr für sich als für oder gegen irgend jemand anderen. (AäM 27) Wie zuvor die Erzählung Fernstes Land spiegelt auch diese Episode die Übermacht der Natur und verdeutlicht die untergeordnete Position des Menschen, der auf seiner selbst auferlegten aufklärerischen Mission alle natürlichen Phänomene beherrschen zu wollen, scheitert.19 Ransmayr thematisiert die Arroganz und Unfähigkeit des Menschen, friedliche Wege des gemeinsamen Miteinanders zu finden, und den tief verinnerlichten Drang nach Abgrenzung und territorialem Denken. Auffällig ist, dass in dieser Erzählung der Europäer, der bislang im Fokus der Kritik stand, die Idee der milden Grenzziehung aufbringt und stattdessen der jahrhundertlange Machtwahn der Chinesen kritisiert wird.
5.3 Strömung – Tyrannei Die 28. Erzählung des Atlas eines ängstlichen Mannes handelt von den Roten Khmer, der maoistisch-nationalistischen Guerillabewegung unter der Führung des Diktators Pol Pot zwischen 1975 und 1979, die am Massenmord für fast zwei Millionen in Kambodscha lebender Menschen verantwortlich ist. Das Terrorregime hatte den Traum, die Größe der alten Khmer-Reiche des zwölften Jahrhunderts auf den Schultern bäuerlicher Arbeit wiederaufzubauen: Die Bewohner der Städte waren unter Pol Pot zu Hunderttausenden aufs Land, in die Wälder und an die Küste getrieben worden: Bauern, Arbeiter, Fischer sollten sie werden, der Dschungel zu Ackerland, die Wildnis zu einem Garten. Eine Brille! […], selbst wer bloß eine Brille getragen hatte, wurde verdächtigt, kein revolutionär neuer Mensch, sondern ein irregeleiteter Städter oder widerspenstiger Kopfarbeiter zu sein, und wurde erschlagen. Wer ertappt wurde, daß er eine Fremdsprache verstand, […] wurde erschlagen. Phnom Penh wurde für Jahre zu einer Geisterstadt, deren menschenleere Straßen, überwucherte Häuser, überwucherte Plätze und Parks an die Wildnis zurückfielen, an Ratten, Rudel verwilderter Hunde, Affenhorden. (AäM 173) 19
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In dieser Episode schildert das Erzähler-Ich überwiegend seine eigenen Erlebnisse und Eindrücke vor Ort und tritt dominanter auf als in den vorherigen beiden Texten. Die eigenen Beobachtungen und das Handeln des Erzählers äußern sich in den wiederkehrenden Satzanfängen und der betonenden Ich-Fokussierung: zweimal »Ich sah«, »Ich saß« und zweimal »Ich hatte« (AäM 168, 174). In einem November hat der Erzähler auf einem Hausboot drei Tage lang den größten See Kambodschas als Passagier von Ho Doeun befahren und verbringt mit ihm einen weiteren Abend in Phnom Penh. Gemeinsam feiern sie in dieser Nacht das ›Wasserfest‹. An diesem Tag wird nicht nur der Anbruch einer neuen Jahreszeit, sondern auch die Umkehr eines Flusses gefeiert, der am Ende der Regenzeit seine Fließrichtung ändert. Vor dem Königspalast in Phnom Penh fließt in den Mekong der einmündende Fluss Tonle Sap. Nach der Regenzeit drängt der Hochwasserschwall des Mekong den schwächeren Fluss zurück und zwingt ihn, seine Fließrichtung umzukehren und in einen riesigen See zu münden. Der See, der zu dieser Zeit fast um ein siebenfaches an Volumen zunimmt, »liegt so wie ein pulsierendes Wasserherz inmitten Kambodschas« (AäM 171). Der Monsun hatte die Pegelstände der Seen und Ströme Kambodschas um zehn, zwölf Meter steigen lassen, hatte Dörfer in Inseln, die Pfahlbauten der Reisbauern in Archen verwandelt, Straßen in unterspülte Dämme und Teakholzforste in versunkene Wälder, in deren Kronen Algenfahnen wehten. Mehr als ein Drittel des Landes war in diesen Monaten nach den Gesetzen einer mit Regengongs und Gebeten beschworenen und mit der Ganggenauigkeit einer Sonnenuhr steigenden und fallenden Flut versunken, ohne deren Schlamm auf den Weiden kein Gras für die Wasserbüffelund Zebuherden und auf den von Lehmdämmen gefaßten Feldern kein Reis wachsen würde, ja Ackerbau und mit ihm Zivilisation, Kunst und alle Spielformen des Lebens bloße Träume geblieben wären im Land der Khmer. Aber am Ende der Regenzeit tauchte das Land wieder aus der Flut, als würde eine zyklisch wiederkehrende, tektonische Kraft Schiffsrouten in Straßen und Wege aus einem von morastigen Ufern gerahmten Wolkenspiegel dem Himmel entgegenstemmen. (AäM 170) Ransmayr erzählt in einem Interview, er habe erst später verstanden, dass eben nicht wie in der Erzählung Strömung die Umkehr des Tonle Sap gefeiert wurde:
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Ich war mehrfach in Kambodscha und habe beim ersten Mal, das war kurz nach der Terrorherrschaft der Roten Khmer, nicht begriffen, dass nicht die Umkehr der Fließrichtung des Tonle Sap als Wunder gefeiert wurde – obwohl es erstaunlich genug ist, wenn ein Fluss seinen Lauf ändert und beginnt, wieder seinen Quellen entgegenzufließen: Was ich später, beim erst nächsten Besuch, verstanden habe, ist, dass erst die zweite, nochmalige Umkehr gefeiert wird – wenn der als Gott verehrte König dem irregeleiteten Strom am Ende des Monsuns befiehlt, sich den Gesetzen der Natur zu fügen, von seinem Weg zurück von den Quellen abzulassen und wieder dem Meer entgegenzufließen. Gefeiert wird, dass ein Strom zur Vernunft kommt, nicht, dass er verrückt wird.20 Ho Doeun erzählt dem Reisendem auf der Bootsfahrt von seinen 13 Familienmitgliedern, die unter der Schreckensherrschaft von Pol Pot zu Tode kamen. Sein Vater wurde angeschossen in einer Schlammgrube lebendig begraben, seine Brüder mit Bambusprügeln erschlagen, und seine Mutter verhungerte im Foltergefängnis Tuol Sleng, »einem sumpfigen Ort unweit von Phnom Penh, der in der Chronik der Grausamkeit schließlich als ›Killing Fields‹ geführt werden sollte« (AäM 174). Auch der Erzähler hatte auf seiner Reise die »blutbespritzten Wände der Zellen und Verhörräume« des Gefängnisses gesehen und die Gräueltaten des Regimes verfolgt (ebd.). Die Vorstellung an das bevorstehende Wasserfest war für Ho der einzige Anlass, in ihrer gemeinsamen Zeit zu lächeln: Unter dem großen Feuerwerk dieses Festes würde er eine mit Lotos und Lichtern beladenen Nachbildung seines Bootes in die Wellen des Tonle Sap setzen. Und sein Schiff würde mit Abertausenden anderen, Flammen tragenden Flößen, Schiffchen aus Bananenblättern, Bambus und Seide, davontanzen und so die Strömungsumkehr des Flusses des Khmer in einer Lichterprozession in die Dunkelheit schreiben (ebd.). Das »pulsierende Wasserherz« ist ein jährlich wiederkehrendes Naturphänomen und symbolisiert die Erneuerung. Sie steht für den Wandel, den die Menschen im Zuge einer wechselnden Herrschaftsform jedweder Art durchleben und überstehen. Der schwächere Fluss Tonle Sap muss sich der Stärke des Mekongs unterwerfen, bildet seinen eigenen See, dessen Herz weiter schlägt. Er
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Kämmerlings: »›Ich bin eher ein Anhänger der Blutrache‹«.
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überlebt und kämpft sich mit dem Ende der Regenzeit in den Mekong zurück. Der Tonle Sap rettet sich »vor einer blind und taub machenden Flut«21 . Auch der Mensch ist gezwungen, sich von der Stärke und Gewalt einer übermächtigen Herrschaft zu befreien. Ransmayr verweist auf die Gefahren eines blind und taub machenden Regimes und seiner Allgegenwärtigkeit. Die Symbolik des Flusses gibt dabei Hoffnung:22 Ein Fluß, der zu seinen Quellen zurückzukehren scheint, am Ende aber doch und wie zur Vernunft gekommen, dem Meer und seiner Auflösung entgegenzieht, hatte in unseren Gesprächen auf dem Tonle-Sap-See oft auch an andere, den Gesetzen der Physik und Logik scheinbar widersprechende Rückwege erinnert – an einen in die Wolken zurückrauschenden Gewitterregen zum Beispiel, an Wege zurück an den Ursprung der Zeit, Wege in die Kindheit.
5.4 Die Regeln des Paradieses – Unfreiheit In Die Regeln des Paradieses setzt sich Ransmayr mit der Geschichte der Meuterei auf der Bounty von 1789 auseinander und enttarnt die Legende vom Aufstand der Vernunft gegen die Tyrannei als Entführung, Versklavung und Gewaltherrschaft. Die Erzählung bildet nicht nur die Mitte des Bandes, sondern ist auch deutlich länger als die anderen Texte, was ihren Stellenwert für das
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Ransmayr, Christoph: »Das Wasserherz«. In: Christoph Ransmayr, herausgegeben von Doren Wohlleben (Gasthg.) und Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel, Claudia Stockinger, Michael Töteberg. Text + Kritik, Bd. 220. München: edition text + kritik 2018, 78. Ransmayrs jüngst erschienener Roman Der Fallmeister von 2021 greift die Strömungsumkehr des Tonle Sap erneut auf, wobei in dem dystopischen Text die Hoffnung auf Wandel erloschen ist und die Tyrannei obsiegt: »Aber was dem Lauf der Zeit zum Opfer gefallen war, kehrte auch am Großen Fall nicht wieder. Selbst Ströme, die ihre Fließrichtung umkehren und sich wieder ihren Quellgebieten zuwenden konnten, waren bloß eine Erinnerung daran, daß, was ihnen möglich war, bestenfalls noch Göttern offenstand, die über den Wechsel von Regen- und Trockenzeit geboten, aber niemals den Menschen. Versuchten Sterbliche den Lauf der Zeit dennoch umzukehren, um zu Asche zerfallene Glorie neu zu entflammen, und verletzten dabei die Gesetze der Zeit, verwandelten sie sich in Mörder. Dann wurden selbst Koseworte zu Flüchen, ja Todesurteilen. Und Wasser zu Blut« (Ransmayr, Christoph: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Frankfurt a.M.: Fischer 2021, 122f.).
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Werk unterstreicht. Die vielen Hintergrundinformationen erinnern an die ausführlichen recherchierten Reportagen und an themenähnliche Grundzüge von Ransmayrs erstem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis. An einem Märztag befindet sich das Erzähler-Ich auf der Insel Pitcairn »auf einer zehntausend Kilometer langen, von der chilenischen Küste über neun bewohnte und unbewohnte Inseln der Südsee bis in den Tuamotu-Archipel und nach Tahiti führenden Schiffsreise« (AäM 216). Auf seiner Inselumwanderung begegnet ihm eine schwarze Ziege, die vor einem abgelegenen Bungalow auf einem verkommenen Tennisplatz festgekettet ist und sich vergeblich zu befreien versucht (AäM 214). Der Erzähler kann niemanden auf dem Anwesen vorfinden. Bei dem Gedanken an einstige Tennisduelle »am schwierigsten zu erreichenden Pl[atz] der Welt« gleitet er ab: Mehr als fünftausend Kilometer waren es von hier bis Neuseeland und fast sechstausend Kilometer bis zur südamerikanischen Küste. Durch die Leere dazwischen rollte allein der Pazifik, dessen Sturmwellen und selbst bei Windstille oft haushohe Dünung auf allen Routen nach Pitcairn von keiner Festlandbarriere gebrochen wurden. Es war die Hochsee, die donnernd gegen die ragenden Klippen und Felswände Pitcairns schlug und jede Anlandung zu einem gewagten – und für Inselbewohner, die nicht tagelang auf ein ruhiges Meer warten konnten, wenn sie von einem Fischzug heimkehrten –, oft lebensgefährlichen Manöver machten. (AäM 215)23 Die Insel lässt sich durch ihre gefährliche Brandung schwer erreichen. Nur wer tagelanges Warten auf ein »gnädiges Meer« in Kauf nimmt, dem ist eine Landung möglich (AäM 216). In der Peripherie des Ozeans beherrscht die Natur das Land und verschließt sich der menschlichen Eroberung. 1767 wurde die Insel von dem Seekadetten Robert Pitcairn entdeckt, nach ihm benannt, aber nicht betreten. Aufgrund von falschen und ungenauen Koordinaten auf drei verschiedenen Seekarten war sie nicht auffindbar und wurde wieder vergessen (AäM 227). Die Meuterer der Bounty waren die ersten Europäer auf Pitcairn und fanden dort fernab jeder Handelsroute ein ideales Versteck. Die Bounty wurde unter dem Kommando von William Bligh von einem Kohlefrachter zu einem Transportschiff umgerüstet, um Brotfruchtbaumschößlinge von Tahiti zu den Antillen zu bringen und die hungerleidenden 23
Die Gefahren des Pazifiks und seine enorme Kraft und Undurchdringlichkeit thematisiert Ransmayr bereits in der ersten Geschichte des Bandes über die Osterinsel in Fernstes Land (AäM 11–19).
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Sklaven der englischen Zuckerrohrplantagen in der Karibik möglichst billig zu ernähren. Nach einem ausgearteten Streit zwischen dem Kommandanten und dessen Zweiten Offizier Fletcher Christian kam es zur Meuterei, und Bligh wurde samt einigen Besatzungsmitgliedern auf Beibooten ausgesetzt und zurückgelassen. Während Bligh seine Mannschaft sicher zu einer holländischen Kolonie manövrieren konnte, flohen Christian und acht weitere Meuterer mit der Bounty nach Pitcairn. Um auf der menschenleeren, unbekannten Insel nicht ohne Frauen und Knechte zu sein, entführte die restliche Bounty-Crew zwölf Tahitianerinnen und sechs Männer aus Tahiti, Tubuai und Raiatea (AäM 223f.). Vor Ort beanspruchte die Mannschaft neun der Frauen als ihr Eigentum und teilte die Insel unter sich auf. Die polynesischen Knechte sannen auf Rache und erschlugen fünf Meuterer, bekriegten sich im Anschluss aber selbst und kamen dabei alle um. Die Frauen, die auf der Insel nicht ihre Freiheit, sondern auch ihre Familien und ihre Namen verloren hatten (»aus ›Mauatua‹ war Isabel geworden, aus ›Teatuahitea‹ Sarah, aus ›Toofaiti‹ Nancy, aus ›Vahineatua‹ Prudence und Jenny aus ›Teehuteatuaonoa‹«, AäM 229), planten ihre Flucht mit einem Floß, scheiterten und wurden mit Gewalt von den letzten Engländern zurückgezerrt. Mit der Zeit sollte nur einer von der Mannschaft überleben und friedlich auf der Insel sterben. Der letzte Meuterer wurde nämlich zufällig von einem englischen Kriegsschiff entdeckt und trotz seiner Verfehlungen als »Mörder« und »Frauenräuber« auf Bitten einer Schar flehender Frauen und Kinder verschont und nicht verurteilt (AäM 230). Der Erzähler flicht die Geschichte und die Auswirkungen der historischen Meuterei in die Gegenwart der Inselbewohner ein: Achtundvierzig Menschen lebten zur Zeit unserer Ankunft an einem sommerlich heiteren Märztag noch auf Pitcairn […]. Young, McCoy, Brown, Christian … Unter denen, die sich vor dem Bootsschuppen an der Mole oder später vor den verstreuten Holzhäusern oder auf dem kleinen, schattigen Dorfplatz vorstellten, trugen viele immer noch die Familiennamen der Meuterer und sagten manchmal stolz dazu, in welcher Generationsfolge sie von einem ›Able-bodied Seaman‹, einem Vollmastmatrosen des Meutererschiffs, einem ›Midshipman‹, Seekadetten, oder auch dem ›Master’s Mate‹ und ›Acting Lieutenant‹, jenem als Zweiten Offizier an Bord der Bounty auf Pitcairn kommandierenden Fletcher Christian abstammten […]. (AäM 217) Der Figur des Berichterstatters folgend schildert der Erzähler nicht nur seine persönlichen Eindrücke vor Ort, sondern lässt auch eine Einheimische zu Wort kommen. Mrs. Christian, eine der vielen Nachkommen des Zweiten Offiziers
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in Adamstown, kann sich nicht erklären, »warum Menschen denn um die halbe Welt reisten, Abertausende Meilen durch den Pazifik, um den letzten Hafen der Bounty zu sehen, sich für die wahre Geschichte der Meuterei aber ebensowenig interessierten wie für das wirkliche Leben auf einer Insel, die nicht am Ende der Welt lag, sondern das Ende der Welt ›war‹« (AäM 218). Mythos und Realität prallen bei der Vorstellung des verklärenden Südseetraums, der paradiesischen Strände und des endlos blauen Himmels aufeinander. Die Touristen bekommen durch etliche Medien und Filmhelden wie Clark Gable, Marlon Brando oder Mel Gibson von Pitcairn das falsche Bild eines Paradieses vermittelt. Mit ihrer Reise wollen sie »die Wirklichkeit mit ihren Folien vergleichen« (AäM 219). Wie Ransmayr bereits in seiner Reportage Der letzte Mensch und im Prolog »Vor allem« in Die Schrecken des Eises und der Finsternis warnen möchte, sind die »wüst illustrierten Reportagen«, die Berichte und Dokumentarfilme, welche der Öffentlichkeit vorgestellt werden, nichts anderes als reine »Illusion«, fingierte Informationsweitergabe und alles andere als faktenbasierende Realität.24 Vielmehr hat die sich in den Jahren immer weiter idealisierende Geschichte der Bounty die ›wahren‹ Begebenheiten der Entführung und Kolonialisierung verschleiert. Dies ist kein Einzelfall. Revolutionen, Meutereien und Aufstände werden häufig zu Legenden verklärt: Sie erzählen ihre Geschichte so, wie sie heute gesellschaftlich ›wirklich‹ ist. Sie stilisieren ihre schleichenden, evolutionären Wirkungen zum glücklich endenden Drama, zum gewaltvollen Akt unmittelbar wirksamer gesellschaftlicher Befreiung. Deswegen überstrahlt ihr historischer Glanz bis heute ihr Elend. Sie halten sie auf diese Weise gesellschaftlich anschlussfähig.25 Ransmayr setzt in seiner Erzählung den Fokus auf die entführten polynesischen Frauen und Männer und ihre Versuche sich den Kidnappern entgegenzustellen und sich gegen die Tyrannei zu wehren – ohne Erfolg. Die gegenwärtigen Inselbewohner sprechen eine Mischung aus Englisch und Tahitianisch, weil unter ihren Vorfahren eben nicht nur die englischen Rebellen der Bounty, sondern vor allem auch die der »Frauen und Männer aus Tahiti und Tubuai,
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Der letzte Mensch (TransAtlantik 6/1983), 65 und SEF 7. Pohlmann, Markus: »Die Meuterei auf der Bounty. Über Revolutionen und einige der Mythen, die sich um sie ranken«. In: Über Arbeit, Interessen und andere Dinge. Phänomene, Strukturen und Akteure im modernen Kapitalismus, herausgegeben von Ingrid Artus und Rainer Trinczek. München: Hampp 2004, 95.
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die von den Meuterern hierher entführt worden oder später von Mangareva, Raiatea und anderen Inseln gekommen waren« (AäM 219). Mrs. Christian fasst die Geschichte um die Bounty mit der Moral zusammen: »Aber auf dieser Welt sei auf Dauer nichts zu verbergen, […] kein Schiff, keine Schandtat, keine Insel« (AäM 221). Die Erzählung endet mit der Ziege auf dem Tennisplatz und schlägt so einen Bogen zum Beginn. Das Tier muss sich losgerissen und ins Dickicht geschlagen haben, denn: Hangaufwärts, schon sehr fern, sah ich winkende Zweige. Wenn diese Bewegung den Fluchtweg der Ziege anzeigte, konnte es nicht lange dauern, bis sich ihr Zerrstrick in irgendeinem Geäst, an irgendeiner Wurzel verfing und sie neuerlich fesselte. Aber dort oben würde niemand vorüberkommen und sie zu Tode erschrecken, wie ich es getan hatte. Vielleicht aber auch niemand, um sie loszubinden, heimzuholen, zu retten. (AäM 231) Die angekettete Ziege symbolisiert die tahitianischen Frauen, die ihrer Gefangenschaft entfliehen wollen, aber auch ohne jegliche Hilfe der gefährlichen Brandung und den steilen Hängen und damit dem sicheren Tod ausgeliefert wären. Die Gewalt und die Ungerechtigkeit, die an den Verschleppten verübt wurden, ist der verlorengegangene Teil einer Geschichte, welche im Laufe der Zeit und der medialen Überlieferung zur Sensationswürdigkeit und zu einem Mythos verklärt wurde.
5.5 Im Schatten des Vogelmannes – menschliche Gewalt Die Episode Im Schatten des Vogelmannes handelt wie bereits die Eröffnungserzählung Fernstes Land von den Rapa Nui und vertieft die Geschichte, die Rituale und das Schicksal der Bewohner der Osterinsel. Auf einer stundenlangen Wanderung über Lavahänge und Hochfelsen stößt das Erzähler-Ich auf ein verlassenes Gehöft am Nordkap der Insel. In einem verfallenen Krater steht ein kleines Wohnhaus samt Ställen. Das Ich findet mehrere Kadaver von Bullen und Pferden und ein Dutzend verdurstende Rinder vor, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Der Erzähler muss resigniert erkennen, dass er in dem vertrockneten Gelände den Tieren nicht helfen, sondern nur die Behörde in Hanga Roa, dem einzig noch bewohnten Ort der Insel, informieren kann. Er kam überhaupt nur dorthin, weil die Ursprungslegenden erzählten, dass am nahegelegenen Strand Anakena der mythische König und Gründervater des Volkes der Rapa Nui, Hotu Matua, in einem über die Brandung fliegenden Katamaran
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strandete, um die erste menschliche Siedlung zu errichten (AäM 401). Vulkane hatten das Land aus dem Meer erhoben, der König jedoch belebte es: Zur Fracht seines Katamarans, hieß es, hätten Honigpalmschößlinge gehört, Papiermaulbeer- und Brotfruchtbäume, Yams, Süßkartoffeln und der geheiligte Toromirobaum. Zum Strand von Anakena, hieß es, führten die Wurzeln aller Stammbäume jener zehn oder zwölf Clans, die in ihrer Verehrung der Ahnen über Jahrhunderte an die tausend ›Moais‹ geschaffen hatten – jene langnasigen, kolossalen Steinskulpturen, die mit dem Rücken zum Meer auf gemauerten Zeremonialplattformen stehend, mit ihren Obsidianaugen niemals in die Weite, niemals gegen den Wasserhorizont, sondern stets nur ins Innere der Insel blickten. Und mit ihren Schultern aus Basalt oder Tuffstein hielten sie das Meer davon ab, über dem Land zusammenzuschlagen (ebd.). Der stoische Ausdruck der Skulpturen soll den Neuankömmlingen im Totenreich verdeutlichen, dass »gegen den Lauf der Zeit, der die Welt der Lebenden mit jener der Ahnen verband, jede Auflehnung vergeblich war« (ebd.). Als er sich entschließt, das Gatter der Tiere verschlossen zu halten, entdeckt er auf der Mauerkrone das Relief einer hockenden Figur mit männlichem Unterkörper und dem Kopf eines Fregattvogels – »eine Darstellung jenes ›Vogelmannes‹, der die Geschichte der Osterinsel über Jahrhunderte beherrscht hatte« (AäM 404). Der Erzähler erkennt, ähnlich einem Berichterstatter, der bezüglich einer Reportage Nachforschungen anstellt, die Symbolik sofort, da er sich während seiner Anreise bei »abendlichen Lesestunden in der Bordbibliothek« mit den Sagen, Mythen und der Geschichte der Rapa Nui beschäftigt hatte (ebd.). Entgegen seines Faktenwissens und der vermeintlichen Struktur einer Reportage hängt er der Wiedergabe seiner angelesenen Informationen »wie es hieß« oder »hieß es« an und stellt die tatsachenbasierende Realitätsebene bewusst in Frage (AäM 405). Vor Ort geht das Erzähler-Ich seinen Recherchen weiter nach und besucht historische Kultstätten der Rapa Nui. Es besichtigt die Reste des alten Zeremonialdorfes, welches direkt an einer 200 Meter tiefen, senkrechten Küste liegt und »in dem die Führer der Clans nach einem oft tödlichen Wettkampf eine der Ihren zum ›Vogelmann‹, zum Herrn über die Menschen, erhoben hatten« (AäM 406). Zur alljährlichen Brutzeit der von den Rapa Nui heilig erachteten Rußseeschwalbe versammelten sich die besten Schwimmer und Kletterer der Clans, mussten die Steilwand ins Meer hinabklettern, durch eine Meerenge zu einer kleineren vorgelagerten Felseninsel schwimmen, ein Rußseeschwalbenei erbeuten und es heil zurück ins Dorf bringen. Dort musste es dem Clanführer übergeben werden, und der Gewin-
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ner des Wettkampfs »wurde durch diese Übergabe, die in tagelangen orgiastischen, es hieß: auch kannibalischen Ritualen gefeiert wurde, zum Vogelmann und herrschte bis zur nächsten Brutzeit über die Insel« (AäM 407). Die Geschichte des ›Vogelmannes‹ endet mit der Enteignung der Insel durch koloniale Besatzer: [A]m Ende bewahrten die Seekarten sogenannter Entdecker und Eroberer vor allem die Erinnerung an jenen Ostersonntag des Jahres 1722, an dem ein holländischer Kauffahrer, als erster in einer langen Reihe von spanischen, englischen, französischen und schließlich chilenischen Besatzern, von seinem Landungsboot an den Strand gewatet war, um den Namen der Westindischen Handelskompanie mit Kreuz und Fahne an das Land des Vogelmannes zu nageln. Das erloschene Neonkreuz ragte wie eine Erinnerung an diese Enteignung in den grauen Himmel. (AäM 406) Jenes »Kreuz aus Neonröhren« ist das Erste, was der Erzähler an der Küste der Insel des Südpazifiks erblickt und was die Erzählung mit »Ich sah« einleitet (AäM 400). Die tiefgreifende Bedeutung des Kreuzes und deren schwerwiegende Kritik am kolonialen Verhalten Spaniens, Englands, Frankreichs und Chiles wird somit erst wenige Seiten später ersichtlich und wirkt nachdrücklich. Eine einheimische Taxifahrerin, die den Erzähler zu den wichtigsten Orten der Insel während seines Aufenthalts bringt, sieht nicht in den Besatzern das Ende ihres Ahnenkults, sondern im ›Vogelmann‹ selbst, dessen Steinmänner das Ende der Hochkultur der Rapa Nui »herbeigekrächzt hätte« (AäM 408). Die Fahrerin […] kannte die Geschichte der Rapa Nui nicht nur aus dem Lesebuch ihrer Tochter, sondern auch aus einem Hollywoodfilm, den sie in Santiago wohl ein dutzendmal gesehen hatte. Natürlich konnte an über die Filme verschiedener Meinung sein, aber die wahrscheinlichste von den vielen Geschichten über die Rapa Nui blieb doch jene, daß im Verlauf dieser idiotischen Ritualkämpfe um die Macht, bei denen Frauen nicht einmal als Zuseherinnen geduldet waren, auch die Moais nach und nach zu Herrschaftsund Machtsymbolen verkamen, die, wie eben alle Symbole in Männerwelten, groß, möglichst groß, immer größer werden mußten, immer noch größer! (ebd.) Auch in dieser Reportage äußert sich Ransmayr kritisch gegenüber der medialen Wissensvermittlung und der Wirkungskraft auf das Publikum. Die Kritik der Macht- und Herrschaftsbesessenheit des Patriacharts steht jedoch im Fokus der Episode. Die Moais fungieren wie bereits in Fernstes Land, als Symbol
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der Macht, welche »zu bloßen Meilensteinen des Verschwindens« verkümmert sind (AäM 409). Nachdem diese Vogelmenschen sich gegenseitig mit immer größeren Steinmonstern übertrumpfen konnten, hatte die Fahrerin gesagt, habe man eben begonnen, die Monster des Nachbarclans zu stürzen und ihnen die Köpfe abzuschlagen, erschlug irgendwann auch den Nachbarn, ja fraß ihn in manchen Fällen sogar, bis man selber erschlagen und gefressen wurde. Und der Rest des Volkes, der am Ende auch zum Töten zu schwach war, wurde, nachdem die Schiffe einer plötzlich aus dem Ozean aufgetauchten, übermächtigen Welt von Rapa Nui Anker geworfen hatten, von Sklavenhändlern verschleppt, von bis dahin unbekannten Krankheiten befallen und vom Ungeziefer, das mit den Eroberern und Entdeckern an Land kroch, seines Saatgut beraubt oder auf der einen Insel in Lagern gefangengesetzt, weil europäische Schafzüchter das freie Land für ihre Herden brauchten (AäM 409f.). Ausgerechnet der chilenische Diktator General Augusto Pinochet hat sich bemüht, die Insel wiederaufzubauen, baute Straßen und eine Flugbahn und sorgte dafür, dass erstmals ein Rapa Nui zum Gouverneur gewählt wurde (AäM 410). Am Ende der Erzählung befindet sich das Ich noch immer auf dem Gehöft unter dem Neonkreuz, um seine Wanderung zum Strand von Anakena fortzusetzen: »Das Vieh hatte aufgehört zu brüllen. Wie in das Schicksal des Verdurstens ergeben, trotteten Kühe und Pferde wieder über das wasserlose Land« (ebd.). Auf seinem Weg zur Bucht bemerkt der Erzähler einen zerstörten, von Gras und Guaven überwucherten, »vom salzigen Wind, von Flechten und den Wolkenbrüchen von Jahrhunderten entstellten Moai« (AäM 411). Zufrieden stellt er fest, dass hier »die Wildnis gnädig über alle Beweise menschlicher Gewalt und Zerstörungswut« hinweggekrochen war (ebd.). Dem »Beispiel enttäuschter Götter« folgend blickt dieser Moai nicht wie alle anderen ins Landesinnere, sondern auf den Pazifik, als hätte er »sich von den Menschen und ihrer Insel ab- […] und den Sternbildern des Himmels zugewandt […].« (Ebd.)
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Zusammenfassung: »Denn was ist, ist niemals alles«1
Christoph Ransmayr schreibt mit 25 Jahren bereits in einer seiner ersten Reportagen des Extrablatts-Magazins, Dilettanten des Wunders von 1979, dass dem Paradies immer nur die Zukunft bleibe.2 Versuche, das Paradies in die Geschichte hereinzuholen, scheiterten, waren aber »indes auch stets ein flüchtiger Protest gegen den Glauben an einen unveränderlichen, versteinerten Ablauf der Geschichte, waren im Prozeß gegen Herrschaft und Elend Indizien dafür, daß, was ist, nicht alles ist«3 . Die Idee der Aufklärung, welche Toleranz, politische Liberalität, geistige Offenheit, kulturelle Vielfalt, gegenseitigen Respekt und weltbürgerliche Mentalität forderte, sollte einen solchen paradiesischen Zustand herbeiführen. Die Vision der Aufklärungsidee führte jedoch nicht zu dem erhofften »wahrhaft menschlichen Zustand«, sondern verfiel in »eine neue Art der Barbarei«4 . Die herrschende Klasse wurde durch ein anderes System von Unterdrückung und Machtmissbrauch ersetzt und der Kapitalismus zum Maß aller politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Bereiche. Aufklärung ist zum einen Ursache der Fehlentwicklungen der Gesellschaft, gleichzeitig wiederum Lösung für die Befreiung aus den mythischen, barbarischen Zuständen. Dies wird erreicht, indem die Missstände aufgezeigt, vermittelt und reflektiert werden. Horkheimer und Adorno verdeutlichen in der Dialektik der Aufklärung, dass, wenn Aufklärung in ihrer Potenzierung von Barbarei durch die Ausübung von Herrschaft in Mythologie schlägt, sich umkehrend lediglich am Mythos die
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Ransmayr, Christoph: Arznei gegen die Sterblichkeit. Drei Geschichten zum Dank. Frankfurt a.M.: Fischer 2019, 9. Dilettanten des Wunders (Extrablatt 9/1979), 68. Ebd. DdA, 11.
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Aufklärung wieder humanisieren lässt. Die Idee der Aufklärung soll trotz ihres Fehlschlags nicht verworfen werden. Die Dialektik der Aufklärung will einen positiven Begriff der Aufklärung vorbereiten, »der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst«5 . Ziel ist die Dekonstruktion aller Machtverhältnisse, um das Subjekt »vom Zwang der Selbsterhaltung« zu lösen und eine Rehumanisierung zu ermöglichen.6 Vernunft stellt das einzige geistesgeschichtliche Konzept dar, mit dem überhaupt der Versuch unternommen werden kann, eine gewaltfreie globale Gesellschaft zu organisieren.7 Konkrete Möglichkeiten oder Strategien, wie dieses Verfahren eingeleitet werden kann, stellen Horkheimer und Adorno nicht in Aussicht. Eine bessere Gesellschaft wird allenfalls als Utopie angedeutet. Ransmayr sieht im Erzählen als Vermittlungsform die Möglichkeit, die Fehlentwicklungen der Aufklärung zu demonstrieren und durch die Darstellung von Barbarei, Unmenschlichkeit und Grausamkeit einen neuen Versuch der Aufklärung zu wagen sowie zum kritischen Denken anzuregen. Die Kritik, dass das »was ist, nicht alles ist« drückt eine Hoffnung auf einen möglichen Austritt aus den barbarischen Zuständen aus, in welche die menschliche Gesellschaft verfallen ist – Hoffnung auf etwas künftig Besseres. Aufklärung kann dabei kein Zustand sein, sondern ein Prozess: Es ist kein Sein, sondern ein Werden. Das Motto der Letzten Welt lautet: »Keinem bleibt seine Gestalt« (LW 14). In Ransmayrs letzter Spielform des Erzählens, Arznei gegen die Sterblichkeit, heißt es ganz zu Anfang: »Denn was ist, ist niemals alles.«8 Der Leitspruch ist nicht als Fazit, sondern als Möglichkeit eines Neu-Anfangs zu verstehen. Die Dialektik der Aufklärung, welche sich durch Herrschaftsausübung und Entmythologisierung in Form der Verobjektivierung zum Schluss gegen das Subjekt selbst kehrt, führt zum Verschwinden des Individuums. Erst in der Abkehr jedweder Herrschaftsstrukturen, wenn das Subjekt die Natur anerkennt, beziehungsweise sich selbst als Natur begreift, lässt sich die Aufklärung humanisieren. Ransmayr lässt seine Protagonisten in Strahlender Untergang, Die Schrecken des Eises, Die letzte Welt, Morbus Kitahara und Der fliegende Berg als Ergebnis eines fehlgeschlagenen Aufklärungsprojekt verschwinden:
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Ebd., 16. Hetzel: »Dialektik der Aufklärung«, 415. Vgl. Wiemken, Aufklärung, Technik und Offene Gesellschaft. Ransmayr: Arznei gegen die Sterblichkeit, 9.
Zusammenfassung: »Denn was ist, ist niemals alles«
Die Figuren in den Erzählungen sind in aller Regel Reisende und Suchende und verweisen in ihren reduzierten, schemenhaften, bis zum Verschwinden führenden Ausformungen auf die Möglichkeiten von Selbstfindung und Menschwerdung. Wenn auch in unterschiedlichen Nuancierungen der Einsamkeit und Vergänglichkeit preisgeben, werden sie immer wieder an Schwellen der Hoffnung herangeführt.9 Nicht in der Epoche oder Geisteshaltung, sondern in der Aufklärung als Form der Enthüllung, Berichterstattung und Offenbarung sieht Ransmayr seine Verpflichtung der Vermittlung von gesellschaftlichen Missständen. So lässt er in Strahlender Untergang den »Herrn der Welt« als Symbol für den vermeintlich aufgeklärten Europäer in der Wüste bis auf einen entwässerten Rest, »aus dem nun endlich nichts mehr hervorzugehen braucht«, von der Sonne verdampfen (SU 24). In dieser Auslöschung leistet Ransmayr einen ironischen Versuch der Wiedergutmachung von allen verübten Verbrechen der Menschheit. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis verhandelt Ransmayr die »Entzauberung der Welt«10 und die Kritik an der Entmythologisierung der Natur anhand der historischen Entdeckerfahrt der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition 1872–1874. Atlas eines ängstlichen Mannes demonstriert in 70 Episoden die Machtbesessenheit, Willkür und Herrschaftsmechanismen der Menschen als Ausdruck und Ergebnis einer jahrhundertlangen fehlentwickelten Aufklärung. Wie bereits in den Reportagen dient die Kontrastierung von Zentrum und Peripherie in den literarischen Texten als zentrales Mittel zur Darstellung seiner Kritik. Die Fotografien in Strahlender Untergang und Die Schrecken des Eises und der Finsternis lassen sich als weiterer kritischer Metakommentar auffassen. Das kulturkritische Programm seiner journalistischen Texte setzt sich in den beiden erzählerischen Werken fort, potenziert sich in der Überblendung von historischen Fakten und literarischer Rekonstruktion und manifestiert sich in der Symbiose von Bild und Erzählung. Das dialogische Verhältnis zwischen Foto und Text in den beiden Romanen erinnert an die frühen Reportagen und markiert die zunehmende Literarisierung seiner Texte, da sich sowohl das Foto als auch der Text als konstitutiv erweisen und damit jeder Teil als unverzichtbar im Hinblick auf den gesamten Roman gilt: Das Text-Bild-Verhältnis bewährt sich somit als Leitfaden zum Verständnis der Gesamtaussage.
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Schaunig, »Panhumanes Schreiben«, 119. DdA, 21.
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Ransmayr beleuchtet Ungerechtigkeiten jedweder Art und urteilt, dass das, »was ist, nicht bleiben kann«11 . Es kommt darauf an unter welchen Umständen und nach welchen Gesetzen Veränderungen vor sich gehen. Die Reportage als journalistische Darstellungsform soll in erster Linie »das Publikum am Geschehen teilhaben« lassen, Wissen, Fakten und »Eindrücke vermitteln«12 : aufklären. Der Vermittlungsauftrag, der bereits die Funktion der Extrablatt- und TransAtlantik-Reportagen charakterisiert, setzt sich in Ransmayrs Prosawerk fort. Die sich im TransAtlantik-Magazin abzeichnende Symbiose aus Fakt und Fiktion verdichtet sich in seinen Romanen und äußert sich in der ›Erfindung der Wirklichkeit‹, welche »Erfindung und Wirklichkeit« zugleich ist.13 Das ist nicht nur der erzählerische Anspruch Ransmayrs, sondern auch Mittel zur Darstellung einer Wahrheit, deren Wirklichkeit nur mit Hilfe von Fiktion und Fantasie zu beschreiben ist: Man muss sehr viel Phantasie haben, um zu verstehen, was wirklich geschieht. Die nackten Tatsachen sagen fast gar nichts mehr. Bei Ransmayr geht diese Imaginationskraft mit einer großen Gestaltungkraft einher. Auch als er Reportagen schrieb, war er nie nur ein beschreibender Autor. Und wenn er Romane schreibt, ist er nie nur ein fiktionaler Autor. Für ihn charakteristisch ist die Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion, zwischen sprachkünstlerischem Anspruch und dem Anspruch, einer äußeren und inneren Wirklichkeit gerecht zu werden.14 Ransmayr verwandelt Gegebenheiten in Sprache und erzielt mit der Beschreibung von barbarischen Situationen am Beispiel des Einzelnen eine aufklärerische Wirkung, welche zum kritischen Denken über Ideologien, Herrschaftsstrukturen und Machtmissbrauch anregen soll. In der Literatur sieht er die Möglichkeit einer freien Selbstbestimmung und einer Loslösung aus den barbarischen Zuständen einer fehlgeleiteten Aufklärung und entwickelt mit der Form der Reportage als junger Schriftsteller der 1980er Jahre eine Vermittlungspoetik, welche sich in seinem Romanwerk verdichtet.
11 12 13 14
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Zusammenfassung: »Denn was ist, ist niemals alles«
Während Horkheimer und Adorno sich angesichts des Fehlschlags der aufklärerischen Ideen von Rationalität und Vernunft in der Geschichte hoffnungslos geben, sieht Ransmayr im Prozess »gegen Herrschaft und Elend« Indizien einer Möglichkeit der Veränderung und Verbesserung: »[W]as ist, ist niemals alles.«15 In der Überzeugung Ransmayrs, Romane beginnen in einem aufgeklärten Zentrum und enden in der mythischen Peripherie16 – »der Mythos ist zur erzählten Realität geworden«17 – wird ein finiter Zustand erzeugt, der das dialektische Verständnis von Mythos und Aufklärung missachtet. Ransmayr entzieht sich der Vorstellung eines »unveränderlichen, versteinerten Ablauf der Geschichte«18 . Gemäß der Dialektik von Aufklärung und Mythos ist ein Zustand der Stagnation ausgeschlossen. Es gibt Hoffnung den mythischen Ort der Dunkelheit, die Barbarei, in welche die Menschheit gefallen ist, mithilfe des aufklärerischen Lichts zu verlassen, denn der Mythos trägt bereits den Keim der Aufklärung in sich: »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.«19
15 16 17 18 19
Ransmayr, Arznei gegen die Sterblichkeit, 9. Vgl. Epple: Christoph Ransmayr, Die letzte Welt; Fröhlich: Literarische Strategien der Entsubjektivierung; Wohlleben: »Carmen perpetuum«. Godel, Rainer: Mythos und Erinnerung. Christoph Ransmayr: ›Die letzte Welt‹. In: Germanica, H. 45, 2009, 91. Dilettanten des Wunders (Extrablatt 9/1979), 68. DdA, 16.
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Danksagung
An dieser Stelle möchte ich allen beteiligten Personen, Freunden und Familie meinen großen Dank aussprechen, die mich bei der Anfertigung meiner Dissertation unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Doren Wohlleben für die ausgezeichnete fachliche wie persönliche Betreuung und unermüdliche Unterstützung bei der Umsetzung der gesamten Arbeit. Auch möchte ich Prof. Dr. Volker Mergenthaler meinen Dank aussprechen, der mich auf meinem Weg mit Anregungen, produktiven Gesprächen und lieben Worten begleitet hat. Des Weiteren muss ich zudem Lena Reinhardt und Elisa Risi meinen Dank äußern, die meine Arbeit durch ihren Rat, ihre Bemühungen und Gedanken beeinflusst und bewegt haben. Für die finanzielle Unterstützung drücke ich meinen Eltern sowie der MArburg University Research Academy meinen herzlichen Dank aus. Meinem Mann, Florian, danke ich für seine Geduld, Ermutigungen und bedingungsloses Vertrauen während des gesamten Studiums und der Arbeit an dieser Dissertation.
Literaturwissenschaft Julika Griem
Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2
Klaus Benesch
Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2
Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Elias Kreuzmair, Magdalena Pflock, Eckhard Schumacher (Hg.)
Feeds, Tweets & Timelines – Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien September 2022, 264 S., kart., 27 SW-Abbildungen, 13 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-6385-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6385-7
Renate Lachmann
Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 13. Jahrgang, 2022, Heft 1 August 2022, 192 S., kart., 1 Farbabbildung 12,80 € (DE), 978-3-8376-5900-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5900-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de