Sprache und Raum: Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Bestimmtheit von Sätzen 9783110831757, 9783110025446


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German Pages 343 [348] Year 1969

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Erster Teil Der Raum in der metaphysischen Reflexion auf Wahrheit und Bestimmtheit des Denkens aus ihm selbst
Erster Abschnitt: Raum und formaler Begriff
1. Ansatz beim Raum als Begriff
2. Rationalistische Versuche der Aufhebung äußerer Anschauung im Begriff
3. Subordination äußerer Anschauung unter innere in Kants transzendentaler Ästhetik
4. Kants zwischen Anschauung und formalem Begriff vermittelnder Begriff der Anschauungsform
5. Das Problem des Verhältnisses äußerer Anschauung zu einer in axiomatischen Sätzen bestimmbaren formalen Struktur
6. Der räumliche Gegenstand oder der Raum als Gegenständ lichkeit der Unwahrheit einer rein formalbegrifflichen Gegenstandsbestimmung
7. Anmerkung zum Verhältnis zwischen Raum und Zeit bei Hegel
8. Abgrenzung gegen Husserls Theorie der Kinästhesen
Zweiter Abschnitt: Raum und logische Form
1. Raum als Phänomenalität eines Auseinander gegenüber einer Einheit im formalen Begriff
2. Die Schlußfigur als Mitte zwischen synthetischer Einheit im Urteil und Explikation im Kontext
3. Reduktion der Sprache auf das kategorische Moment von Sätzen als Bedingung eines Übergangs von reinen Formanalysen zur Kategorie
4. Abgrenzung gegen Poincarés Koordination von Raumvorstellung und Schluß verfahren
5. Zur Problematik der Kantisdien Vorstellung eines leeren Raumes als eines gegebenen Feldes formaler Operationen mit objektiver Gültigkeit
6. Der Paralogismus im Schluß auf etwas im Raume außer uns
7. Grundsätzliche Unvereinbarkeit einer formalen aristotelischen Logik mit den Absichten der Kantisdien Kategorienlehre aus der Divergenz der zugrunde liegenden Raumvorstellungen
8. Zum Problem der Feststellung von Bewegung im Urteil
Dritter Abschnitt: Raum und die transzendentalen Kategorien
1. Begriff einer in formalen Operationen nicht zu bestimmenden Natur
2. Räumlichkeit der Natur im sprachlichen Verhalten
3. Begriff der Situation
4. Begriff einer geistvollen Anschauung
5. Kants Begriff reiner Anschauung als Resultat einer Reduktion anschaulicher Bedeutung auf eindeutig zeichenhafte Elemente
6. Hegels Begriff der Anschauung
7. Anschaulichkeit geometrischer Figuren als Resultat einer Reduktion bedeutender Anschauung auf ihre Bedeutung für Subjektidentität
8. Die Grenzen der Möglichkeit einer Absicht von der dem an schauenden Subjekt bedeuteten Änderung der Subjektidentität
9. Die Vollständigkeit der Kategorientafel als Entsprechung zur begrenzten Möglichkeit der Negation sprachlicher Anschauung
Vierter Abschnitt: Grenzen des kritischen Naturbegriffs
1. Der Begriff des Daseins als Grenzbegriff einer transzenden talen Deduktion. Die in ihm notwendige Aufnahme des Begriffs einer von der subjektiven Einbildungskraft verschiedenen Kraft
2. Das transzendental-idealistische Problem einer den Raum erfüllenden Materie
3. Die Individuation im Subjektbegriff gegenüber dem Begriff des transzendentalen Subjekts
4. Annahme einer intensiven Größe zur Abdeckung einer von der transzendentalen Einbildungskraft verschiedenen Kraft im Begriff des Subjekts
5. Die innere Grenze in Kants antiskeptischer Position
6. Grenzbestimmung als Grenzüberschreitung
7. Die Grenzüberschreitung zu einem sich individuierenden Begriff subjektiver Synthesis als Bedingung eines Begriffs sinnvoller Sätze
8. Aufhebung der im Kantischen Ansatz beschlossenen irrationalen Versiegelung der Natur
Fünfter Abschnitt: Systematische Ortsbestimmung der theoretischen kritischen Philosophie
1. Das dogmatische Bestimmtsein des sich als reines Bewußtsein verstehenden Bewußtseins durch Grundsätze entsprechend seiner Abdeckung des Satzcharakters der Sätze
2. Noumenalisierung eines Sätze begleitenden Selbstbewußtseins in der Abdeckung des Satzcharakters der Sätze
3. Moralischer und psychologischer Begriff der Person
4. Kritik des reinen Verstandesgebrauchs als Kritik der Vorstellung eines vor nur einem Subjekt isolierbaren Gegenstandes
5. Das unüberholbar Antidogmatische bei Kant gegenüber aller Reflexion auf ein unmittelbar rezeptives Verhalten zu Sätzen
6. Verdeckte Sprachlichkeit in Kants Raumbegriff gegenüber der Trennung zwischen Raumbegriff und Begriff wahrer Sätze in späteren Theorien
Zweiter Teil Sich nachmetaphysisch verstehende Positionen
Erster Abschnitt: Ontologische Auslegungen
1. Die Position des sich als identisch setzenden Verstandes als Basis in der Ontologie Heideggers
2. Die Frage nach dem Sein als von Bedingungen der Bestimmbarkeit des Seienden und damit von der Möglichkeit einer bestimmten Antwort abstrahierende reine Frageform
3. Die Frage nach dem Sinn von Sein in ihrem Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des Subjekts als Identität
4. Das Insistieren auf dem Daß der Fragestellung als Abweisung ihrer Begrenzung und Aufhebung in einer „bestimmten“ Antwort: Radikales Fragen als radikales Quantifizieren
5. Auslegung des Todes als Instanz unbestimmter Gewißheit und der Aufhebung aller „uneigentlichen“ Bestimmtheit in lebensdienlicher Berechnung
6. Unsagbarkeit des „eigensten“ Daß und der daraus resultierende Vorrang der Rezeptivität in der Sprachauffassung
7. Objektivistische Sprachauffassung und Vorstellung einer sprachlichen Einteilung des Seins „als es selbst“ gegenüber der Bestimmbarkeit dienenden Sprachregelungen
8. Ontologische Entsubjektivierung der Welt über das zur ein zelwissenschaftlichen Bestimmbarkeit erforderliche Maß hinaus
Zweiter Abschnitt: Positivistische Setzungen
1. Metaphysik der Maßsetzung
2. Forderung oder Tatsache des Gesetzten
3. Die philosophische Unzulänglichkeit nur hypothetischer Sätze und die transzendentale Reflexion auf Ichbewußtsein als innere Basis
4. Kants problematische Voraussetzung einer Bindung der Sprache an einen inneren Zweck
5. Kritik des Maßbegriffs und Freiheitsbewußtsein
6. Das Unmittelbar-Positivistische im Vorwurf der Hypostasierung
7. Vorstellung und Antinomie des einen Raumes
8. Die „Wahrheitsantinomie“ und die Konstruktion künstlicher Sprachen. Zur Semantik des Größenbegriffs bei Kant
9. Das Problem des Zusammenschlusses von Erfahrungsreihen zu einer einheitlichen Wissenschaft
10. Sprachliche Invarianten als Stabilisationskerne der Erfahrung
11. Stabilität und „Wahrheitswert“ von Sätzen
12. Das Problem einer Finitisierung von „Unendlichem“ als Problem einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Graden nur gesetzter Bestimmtheit
13. Zur Wertung des Einfachen
14. Der Wert des einfachen Ausdrucks für die Konstruktion intersubjektiver Übereinstimmung
15. Die Vertretung eines Begriffs der Wahrheit durch den Begriff unmittelbarer „Evidenz“. Kritischer Verstand und Positivität im Skeptizismus
Schlußbetrachtung zum zweiten Teil: Positivismus und Fundamentalontologie als sich in ihrer jeweiligen Sprache haltende Positionen
Schlußbetrachtung zum ersten und zweiten Teil: Der Raum sprachlichen Verhaltens als der Raum, in dem etwas sinnlich erscheint
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Sprache und Raum: Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Bestimmtheit von Sätzen
 9783110831757, 9783110025446

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Josef Simon · Sprache und Raum

Josef Simon

Sprache und Raum Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen "Wahrheit und Bestimmtheit von Sätzen

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969

A r c h i v - N r . 35 74 681

© 1968 by W a l t e r d e G r u y t e r βί C o . , v o r m a l s G . J . G ö s c h e n ' s d i e V e r l a g s h a n d l u n g — J .

Guttcntag,

V e r l a g s b u c h h a n d l u n g — G e o r g R e i m e r — K a r l J . T r ü b n e r — Veil & C o m p . , Berlin 30 A l l e Rechte des N a c h d r u c k s , d e r p h o t o m e d i a n i sehen W i e d e r g a b e , der O b e r s e t z u n g , d e r H e r s t e l l u n g v o n M i k r o f i l m e n u n d P h o t o k o p i e n , auch a u s z u g s w e i s e , v o r b e h a l t e n . P r i n t e d in G e r m a n y . S a t z u n d D r u c k : T h o r m a n n & G o e t s d i , Berlin 44

Vorwort In verschiedenen philosophischen Richtungen ist die Sprache in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Allerdings wird dabei unter „Sprache" sehr Verschiedenes verstanden. Heidegger nennt sie „das Haus des Seins" oder den „Bezirk", in dem das „Sein", verstanden als Offenbarkeit des Seienden in seiner Wahrheit, sich zu dem jeweiligen Seienden „bezirkt", als das es im Weltzusammenhang begegnet1. — Der analytischen Philosophie gilt dagegen „die" Sprache als Quelle von Scheinproblemen, mit denen der menschliche Verstand sich unnötig schikaniere. Es wird gegenüber der „Alltagssprache" eine auf Widerspruchsfreiheit und semantische und syntaktische Bestimmtheit hin konstruierte Wissenschaftssprache gefordert. In dieser Situation wird eine Erörterung des Verhältnisses zwischen Wahrheit und (formallogischen Ansprüchen genügender) Bestimmtheit von Sprachlichem kaum als leere Fragestellung erscheinen. Es handelt sich um die Frage nach der Wahrheit des Weltbildes, das Wirklichkeit in einem widerspruchsfreien System eindeutiger Begriffszusammenhänge dargestellt denkt, d. h. des vorherrschenden Weltbildes der Technik und der sie vorbereitenden exakten Naturwissenschaft. Andererseits geht es um die Frage nach der rationalen Bestimmtheit entgegengesetzter existenzphilosophischer Entwürfe, die diese technische Orientierung, die die moderne Welt bis in die Lebenserhaltung hinein bestimmt, als nur vordergründige Vergessenheit eines „Eigensten" zu hinterfassen versuchen. Daß Sätze zugleich wahr und Sätze einer auf Widerspruchsfreiheit hin durchkonstruierten Wissenschaftssprache sein sollen, erscheint dem „gesunden Menschenverstand" nicht als Problem. Die letzte philosophisch reflektierte positive Antwort auf die Frage nach einer Vereinbarkeit dieser beiden Seiten, gekleidet in die Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, gab, im Anschluß an die erregenden Zweifel Humes, aber Kant. Nach Kant trifft ein Urteil zugleich mit seiner Bestimmtheit aus einem formallogischen Zusammenhang mit ausgemachter Gewißheit auch auf die äußere Realität zu, wenn der Verknüpfung von Be1

Vgl. Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 286.

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Vorwort

griffen zum Urteil ein Verhältnis in räumlicher Anschauung zugrunde gelegt werden kann. Um ein räumliches Verhältnis muß es sich nadi Kant handeln, weil nach ihm der Raum Form der Anschauung von etwas „als außer uns"1 ist. Das in dieser Form Angeschaute ist seiner Anschauung und damit der ersten Erkenntnisquelle nach sowohl von bloß inneren Einbildungen als auch von bloßen Begriffskonstruktionen versdhieden. — Daß dennoch bei Kant die Zeit, als Form der Ansdiauungen »überhaupt", und nicht der Raum im Vordergrund steht und als „Schema" zwischen den Begriffen des Verstandes und empirischen Anschauungen vermitteln soll, bezeichnet die Problematik der Kantischen Begriffe des Gegebenen und des Äußeren in ihrem Verhältnis zueinander. Die „Kritik der reinen Vernunft" vollzieht in der Absicht der Darstellung einer positiven Lösung der Frage, wie synthetische Urteile a priori in objektiver Gültigkeit möglich seien, eine „Verzeitlichung" des Raumes, wenn sie die Form des „als außer uns" Angeschauten in diesem zentralen Punkt auf die formale Bedingung von Anschauung „überhaupt" reduziert, so daß das Moment des Äußeren in der Anschauung darin nicht mehr zur Geltung kommt. Der vielfach geäußerte Einwand einer „Verräumlichung" der Zeit „unter dem Bilde einer Linie" erhält eine zusätzliche Dimension, wenn die Frage nach dem Begriff des Raumes einbezogen wird, der bei dieser „Verräumlichung" im Spiel ist. Daß die räumliche Anschauung bei Kant systematisch unter eine zeitliche im Begriff der Anschauung „überhaupt" und damit die Form des äußerlich Angeschauten schließlich unter die reine Dimension der Anschauungsbewegung selbst subsumierbar ist, so daß ihre spezifische Differenz außer acht bleibt, wenn es um das Verhältnis zwischen den Kategorien und der Anschauung geht, ist bezeichnend für den Kantischen Begriff sowohl des Raumes wie der Zeit. Die Frage einer „Verräumlichung" der Zeit wird zugleich zum Problem der „Verzeitlichung" des Raumes und führt zu einer Kritik des systematischen Kontextes dieser Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander. Alles kommt zunächst bei Kant darauf an, daß der Raum, in dem etwas sinnlich gegeben ist, zugleich und in derselben Unmittelbarkeit wie die sinnlichen Erscheinungen eine axiomatisch-begrifflich festlegbare Struktur von Beziehungen darstellt. Dann ist in den Sätzen einer Wissenschaft, in der diese Struktur Gegenstand ist, immer auch etwas über die äußere Realität gesagt. Der Raum als Form der Anschauung von etwas „als * Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 22 Β 37. — Soweit nicht anders angegeben, wird Kant im folgenden nadi den Seitenzahlen der Originalausgaben zitiert, wie sie audi in den Ausgaben der Philosophisdien Bibliothek des Meiner-Verlages am Rand angegeben sind, die „Kritik der reinen Vernunft" nadi der ersten (A) umd der zweiten (B) Auflage.

Vorwort

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außer uns" führt dann über einen bloßen, von gesetzten Axiomen her konstruierten Begriffszusammenhang hinaus. In dem Maße aber, in dem diese Verbindung im Begriff des Raumes problematisch erscheint, muß auch der Begriff einer Vereinbarkeit von formaler Bestimmtheit und Wahrheit wieder problematisch erscheinen. Ein besseres Argument für diese Vereinbarkeit als das Kantische Raumargument ist nämlich bisher nicht vorgebracht worden. Merkwürdigerweise verliert sidi der geforderte Charakter des Raumes sdion in Kants eigener Argumentation: Wenn in ihr der Raum eindeutig als Form der Anschauung von etwas „als außer uns" bestimmt wird, schließt sidi das Subjekt durdi diese Argumentation aus dem Räume, in dem es sinnlidi anschaut, aus und von der Sinnlichkeit des Erscheinenden ab. „Außer" erhält die Bedeutung von „exklusiv", von strenger Transzendenz, während das sinnlich ansdiauende Subjekt doch auch in dem Raum zusammen mit den Gegenständen der Anschauung ist. Die Eindeutigkeit von „außer" in der Argumentation streift von dessen Bedeutung genau das Sinnlidi-Räumliche ab, dessentwegen es eigentlich in die Argumentation aufgenommen war. Es soll gezeigt werden, daß das Verhältnis des Subjekts zum Raum aber eindeutig trennend gemeint sein muß, wenn der Raum begrifflich-axiomatisdie Struktur sein soll. Kant mußte die Sinnlichkeit, die er mit formaler Bestimmtheit zusammenbringen wollte, um die transzendente Wahrheit eines formalen Systems denken zu können, fallen lassen, um überhaupt zu formaler Bestimmtheit zu gelangen. Man kann nun nicht umgekehrt die erscheinende Sinnlichkeit in ihrer Unbestimmtheit mit Wahrheit gleichsetzen. Wahrheit ist ein Attribut zu Sätzen über etwas. Im Anschluß an die Kritik an Kant kann nur gesagt werden, daß ein Beweis der Vereinbarkeit eines Begriffs der Wahrheit mit Sätzen aus einem widerspruchsfrei durchkonstruierbaren System nicht gelungen ist. Man wird solche Systeme, die Bestimmtheit garantieren, weiterhin ohne einen Begriff davon, inwiefern sie wahr sein können, konstruieren müssen. Das Problem der Wahrheit kann damit aber nicht abgetan sein. Wenn man ein System wahr nennt, wenn es gestattet, möglidist viele „Tatsachen" unter es zu subsumieren, kehrt man nur zu einer zwar traditionsreichen Deutung zurück, vergißt aber die Einwände gegen diese Interpretation der Wahrheit von Sätzen, derentwegen Kant auf sein Raumargument gekommen war. Die Verfangenheit in reinen Begriffszusammenhängen, aus der Kant einen Ausweg suchte, besteht ja gerade darin, daß der Begriff "der Wahrheit durch den Begriff der Tatsache definiert werden soll, während man umgekehrt genau das, was "in einem wahren Satz ausgesagt wird, als Tatsache definiert. Auch wenn man wissenschaftliche Sätze als bloße Hypothesen

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Vorwort

bestimmt, setzt man den Begriff der Tatsache so voraus, wie er sich in diesem Definitionszirkel ergibt. Hypothesen sind nur vorläufige Sätze, weil sie nicht in dem Verhältnis zu Tatsachen stehen, wie es von wahren Sätzen gemäß der Definition des Begriffs der Tatsache gefordert ist. Ohne den Begriff eines wahren Satzes ist audi der Begriff der Hypothese philosophisch fragwürdig. In der Gegenüberstellung von Hypothesen und Tatsachen sind Tatsachen als das Wahre, Sätze als das demgegenüber Unangemessene hingestellt. Sozusagen nur als ein die Forschung weitertreibendes Postulat an Sätze hat Wahrheit in dieser Vorstellung etwas mit Sätzen zu tun. Sie sollen sich an die „wahren" Sachverhalte angleichen. Wie solch eine adaequatio denn gedacht werden könne, war aber das Kantische Problem. Man ist der philosophischen Frage schon entschlüpft, wenn man die Frage nach dem Wahrheitsbegriff in der Form der Frage stellt, ob es wahre Sätze denn „tatsächlich" gebe. Man unterstellt dann bereits den Begriff der Tatsache als das Unproblematische gegenüber dem Begriff der Wahrheit. Dieser Ausbruch aus dem Definitionszirkel zwischen Wahrheit und Tatsache ist aber ein Akt, mit dem die bei der Konstruktion formallogischer Systeme einzuhaltende Methode schon verlassen ist. Dieser Akt ist nicht einmal, wie bei Kant durch den Raumbegriff, durch die Vorstellung eines zwischen Begriffswelt und Außenwelt vermittelnden Dritten in seiner Gewaltmäßigkeit verdeckt. Man kann es sich auch gar nicht leisten, darauf zu verzichten, der Realität mit dem Instrumentarium eines intersubjektive Bestimmtheit gewährenden Systems gegenüberzutreten. Da die auf dieser Basis ermöglichten technischen Erfolge für sich selbst sprechen, muß es anscheinend einer sich hier noch kritisch meldenden Philosophie den Atem verschlagen. Aber mit der Zuversicht und dem Sprung in die Praxis hat man sich ja gerade von der Methode, die man „anwendet", entfernt, und zwar, indem man sie „anwendet". Was hier vorgeht, bleibt von der formallogischen Methode her ganz unbegreiflich. Denn ihr zufolge definieren sich die Begriffe „Tatsache" und „Wahrheit" nur gegenseitig. Um das Phänomen einer „angewandten Wissenschaft" begreifen zu können, bedarf es deshalb eines anderen Ansatzes. Gewiß ist ein wahrer Satz ein Satz über eine Tatsache. Aber daraus folgt nicht, Tatsachen könnten Kriterien für die Wahrheit von Sätzen sein. Wir kennen Tatsachen nur aus einer subjektiven Sicht. Verschiedene Sichten lassen sich nur im Vergleich der Sätze, in denen sie sich ausdrücken, gegeneinander bestimmen. Indem man Sätze miteinander vergleicht, unterstellt main, die Sätze seien bei der Verschiedenheit der Sichten doch Sätze über dasselbe, sie hätten dasselbe „Thema". Da ich nur wissen kann, ob eiin anderer dasselbe sieht wie ich, wenn ich mir sagen lasse, was er sielnt,

Vorwort

IX

muß die Unterstellung, er spredie über dasselbe wie ich und er sehe „es" entweder anders oder genauso wie ich, aller Kontrolle und allem Vergleich vorhergehen. Der „Gegenstand" ist als die Stelle, an der verschiedene Sichten aufeinandertreffen, bei allem sprachlichen Verhalten zwischen versdiiedenen Subjekten vorausgesetzt. Er ist vorausgesetzt als Bedingung der Möglichkeit, Sätze überhaupt vergleichen zu können. Er entspringt dem Vorgang, in dem ich mir von einem anderen etwas sagen lasse, so daß durch die Mitteilung seines Eindrucks ihein Eindruck sich erst einschränkt und ich midi als besonderes Subjekt gegenüber einem Objekt erfahre. Eine Rede, in der ich mir etwas sagen lasse, nenne idi wahr. Wahrheit steht hier am Anfang einer gleichzeitigen Auseinandersetzung zwischen dem Hörenden, dem Sprechenden und einem Gegenstand. Der sich mit dieser Auseinandersetzung aufspreizende Raum individuiert die beiden Subjekte sprachlichen Verhaltens angesichts des Gegenstandes. Er ist principium individuationis der Subjekte und zugleich der Raum, in dem etwas sinnlich erscheint. Damit ist das Verhältnis von „Sprache und Raum" als Thema angedeutet. Eine Verbindung zwischen Raum und Wahrheit tritt in diesem Ansatz an die Stelle der zwischen Raum und Bestimmtheit. Denn eine Struktur von eindeutigen Bestimmtheiten ist dieser Raum schon nicht, weil die Dinge als Gegenstände verschiedener Perspektiven in ihm sind und Sätze über diese Dinge gerade diese Verschiedenheit ausdrücken. Solange und soweit ein Subjekt nicht durch eine wissenschaftliche oder sonstige Institutionalisierung von Betrachtungstedmiken und Fragestellungen „festgestellt" und dadurch mit anderen austauschbar geworden ist, ist ein Satz von einem Subjekt an ein anderes, von ihm selbst als Verhalten zum Gegenstand verschiedenes Subjekt gerichtet. Ein Subjekt versteht sich nicht unmittelbar als „das" Subjekt „des" Gegenstandes, sondern nur innerhalb einer solchen Institutionalisierung. Mit ihr setzt sich das Subjekt in seinem Selbstbewußtsein aus dem Raum als dem principium individuationis auch der Subjekte hinaus und versteht sich als gleichgültiges Partizipieren an einer unräumlichen, allem Räumlichen gegenübergesetzten Subjektivität. Allein in diesem Akt der Abstraktion des Subjekts von seiner Individualität stellt sich intersubjektiv gesicherte Bestimmtheitsmöglichkeit für es her. Innerhalb der Institutionalisierung konstituiert sich „der" Gegenstand gegenüber den austauschbaren Subjekten der Institution. Von hier aus könnte sich der Sinn von „Gegenstand" erhellen, wie er verstanden wird, wenn man sagt, Bestimmtheitsstrukturen bezögen sich auf etwas und seien wahr. Sie „erreichen" den Gegenstand genau so weit, als er überhaupt als „der" Gegenstand einer geregelten Technik der Betrach-

χ

Vorwort

tung und des Umgangs bestimmt ist und die Subjekte sich selbst ds Verhalten gemäß dieser dann „sachgerechten" Technik disziplinieren. Die Kritik dieser Position ist nichts anderes als der Nachvollzig ihrer Aufrichtung, die identisch ist mit der Entsubjektivierung der Wet. Die Gegenposition ist nichts anderes als die innerhalb der Position übergangene sprachlich-räumliche Situation, von der die Position schon in der Absprache über die „Grundsätze" der Institutionalisierung aisgegangen war und von der sie sich gerade durch diese Absprache eitfernt. Die Kritik ist Kritik dieser Entfernung um der Bestimmtluit willen. Sie kann selbst nicht, statt ihrer, Unbestimmtheit intendieren uid in eine Schwärmerei von vortechnischen Zuständen verfallen, sondffn nur das Wesen der Intention von Bestimmtheit in ihren maßgeblichen geschichtlichen Epochen kritisch nachziehen und die in dieser der mensdilichen Gesellschaft lebensnotwendigen Veranstaltung liegende Unwalrheit bestimmen. Letztlich besteht sie darin, daß Menschen handeln müssen, ohne sich der „einen" Wahrheit auch nur hinsichtlich der Bestimmung des sinnlich Erscheinenden in Grundsätzen versichern zu können. Um so dringlicher ist eine Erkenntnis vom Wesen dieses Tons und von der Gefahr seiner Verabsolutierung. Dieser kritische Nachvollzug soll in drei Stufen geschehen: 1. Auf der Stufe des formalen Begriffs, auf der sich das Subjekt in einem Akt der Abstraktion von seiner Sinnlichkeit und Räumlichkeit rein als Icbntität der Subjektivität dem Raum in der Vorstellung einer universalen Bestimmtheitsmöglichkeit von allem unmittelbar gegenübersetzt, 2. auf der Stufe der logischen Formen Urteil und Schluß, auf der das Bewußtsein auf sich als das Vermögen reflektiert, mittels dieser logischen Formen Wirklichkeit bestimmen zu können, und 3. auf der Stufe der Kantischen Kategorien, auf der das Bewußtsein sich nur von Bestimmtheitsmöglichkeiten an Angeschautem her als dieses Vermögen zu begreifen versucht. In der Reihenfolge dieser Stufen holt das Bewußtsein in der Anstrengung, Wahrheit und Bestimmtheit des Denkens aus sich selbst als aus einer vorausgesetzten Identität der Subjektivität verstehen zu können, jeweils weiter aus. Im Urteil dirimiert sich bereits der zunächst als allumfassender „conceptus" vorausgesetzte Begriif in verschiedene Begriffe, die es zusammenzubringen gilt. Ein Schluß besteht schon aus mehreren Sätzen. Die Kategorie geht über diese rein formalen Diremptionen hinaus und versteht sich nur mehr als Bestimmung extensiver Anschauungen zufolge dieses Instrumentariums. Gleichwohl liegt im Begriff der Anschauungsform bei Kant noch immer eine Reduktion des Angeschauten auf seine Möglichkeit, von einer Einheit der Subjektivität her im Urteil bestimmt werden zu können. Subjektivität bleibt als solche dem Raum gegenübergesetzt. Der Schritt von ihrer Voraussetzung zum

Vorwort

XI

wirklichen Subjekt wird nidit vollzogen, und damit bleibt audi das Wesen einer Bestimmtheit ermöglichenden Subjektivität in ihrem Verhältnis zum wirklichen Subjekt unbestimmt. Im zweiten Teil geht es vordergründig um modernere Positionen. Sie werden dargestellt als Entwürfe, in denen von den beiden Seiten Wahrheit und Bestimmtheit jeweils eine Seite abgedeckt und in ihrer Bedeutung abgeschwächt wird, als verstehe sie sich von selbst. Heidegger fragt nadi dem Sein des Seienden als nach seiner es zur Erscheinung bringenden Wahrheit, die seiner Bestimmtheit in „bloß" lebensdienlicher Berechnung entgegensteht. Andererseits sieht die analytische Philosophie ihre Aufgabe in der Frage nach eindeutiger Bestimmtheit von Sätzen im Zusammenhang des Kalküls; die Wahrheit von Sätzen soll sich dagegen in besonderen Verifikationsverfahren entscheiden, und man gelangt hier in dieser Beziehung nicht viel weiter als in realistischen Abbildtheorien naivster Art. Der ständige Rückbezug auf Kant auch in diesem Teil ist weniger der Rückbezug auf die mit dem Kantischen Raumargument ausgedrückte historische Position, die ja selbst der Kritik unterzogen wird, als auf das Problembewußtsein, das zu dieser Position Anlaß war, und das in der Unterbelichtung jeweils einer Seite des Verhältnisses von Wahrheit und Bestimmtheit mit untergeht. Insofern ist durchweg an diese Positionen ein Maßstab herangetragen, der ihnen selbst konstitutionell fremd ist und sie mitunter in einem ungewohnten Licht erscheinen läßt. Um eine reine Darstellung dieser Positionen und auch um nur immanente Kritik geht es also nicht. Auch die Auswahl und Anordnung des Behandelten dient weniger einer Charakterisierung gegenwärtiger philosophischer Standpunkte als der Darstellung des philosophischen Problems, das in diesem Vorwort, natürlich nur sehr skizzenhaft, genannt werden sollte.

Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort Einleitung

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Erster Teil Der Raum in der metaphysischen Reflexion auf Wahrheit und Bestimmtheit des Denkens aus ihm selbst Erster Abschnitt: Raum und formaler Begriff 1. Ansatz beim Raum als Begriff 2. Rationalistische Versuche der Aufhebung äußerer Anschauung im Begriff 3. Subordination äußerer Anschauung unter innere in Kants transzendentaler Ästhetik 4. Kants zwischen Anschauung und formalem Begriff vermitv telnder Begriff der Anschauungsform 5. Das Problem des Verhältnisses äußerer Anschauung zu einer in axiomatischen Sätzen bestimmbaren formalen Struktur . . 6. Der räumliche Gegenstand oder der Raum als Gegenständlichkeit der Unwahrheit einer rein formalbegrifflichen Gegenstandsbestimmung 7. Anmerkung zum Verhältnis zwischen Raum und Zeit bei Hegel 8. Abgrenzung gegen Husserls Theorie der Kinästhesen Zweiter Abschnitt:

Raum und logische Form

1. Raum als Phänomenalität eines Auseinander gegenüber einer Einheit im formalen Begriff

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50 53 55 59 59

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2. Die Schlußfigur als Mitte zwischen synthetischer Einheit im Urteil und Explikation im Kontext 63 3. Reduktion der Spradie auf das kategorische Moment von Sätzen als Bedingung eines Obergangs von reinen Formanalysen zur Kategorie 68 4. Abgrenzung gegen Poincares Koordination von Raumvorstellung und Sdilußverfahren 72 5. Zur Problematik der Kantischen Vorstellung eines leeren Raumes als eines gegebenen Feldes formaler Operationen mit objektiver Gültigkeit 81 6. Der Paralogismus im Schluß auf etwas im Räume außer uns 85 7. Grundsätzliche Unvereinbarkeit einer formalen aristotelischen Logik mit den Absichten der Kantischen Kategorienlehre aus der Divergenz der zugrunde liegenden Raumvorstellungen 88 8. Zum Problem der Feststellung von Bewegung im Urteil 106 Dritter Abschnitt: Raum und die transzendentalen Kategorien . . . . 112 1. Begriff einer in formalen Operationen nicht zu bestimmenden Natur 2. Räumlichkeit der Natur im sprachlichen Verhalten 3. Begriff der Situation 4. Begriff einer geistvollen Anschauung 5. Kants Begriff reiner Anschauung als Resultat einer Reduktion anschaulicher Bedeutung auf eindeutig zeichenhafte Elemente 6. Hegels Begriff der Anschauung 7. Anschaulichkeit geometrischer Figuren als Resultat einer Reduktion bedeutender Anschauung auf ihre Bedeutung für Subjektidentität 8. Die Grenzen der Möglichkeit einer Absicht von der dem anschauenden Subjekt bedeuteten Änderung der Subjektidentität 9. Die Vollständigkeit der Kategorientafel als Entsprechung zur begrenzten Möglichkeit der Negation spradilicher Anschauung

112 115 119 121

123 126

128

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Seite Vierter Abschnitt: Grenzen des kritischen Naturbegriffs 1. Der Begriff des Daseins als Grenzbegriff einer transzendentalen Deduktion. Die in ihm notwendige Aufnahme des Begriffs einer von der subjektiven Einbildungskraft verschiedenen Kraft 2. Das transzendental-idealistische Problem einer den Raum erfüllenden Materie 3. Die Individuation im Subjektbegriff gegenüber dem Begriff des transzendentalen Subjekts 4. Annahme einer intensiven Größe zur Abdeckung einer von der transzendentalen Einbildungskraft verschiedenen Kraft im Begriff des Subjekts 5. Die innere Grenze in Kants antiskeptischer Position 6. Grenzbestimmung als Grenzüberschreitung 7. Die Grenzübersdireitung zu einem sich individuierenden Begriff subjektiver Synthesis als Bedingung eines Begriffs sinnvoller Sätze 8. Aufhebung der im Kantischen Ansatz beschlossenen irrationalen Versiegelung der Natur

1:8

138 140 141

144 148 155

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Fünfter Abschnitt: Systematische Ortsbestimmung der theoretischen kritischen Philosophie 164 1. Das dogmatische Bestimmtsein des sich als reines Bewußtsein verstehenden Bewußtseins durch Grundsätze entsprechend seiner Abdeckung des Satzcharakters der Sätze 2. Noumenalisierung eines Sätze begleitenden Selbstbewußtseins in der Abdeckung des Satzcharakters der Sätze 3. Moralischer und psychologischer Begriff der Person 4. Kritik des reinen Verstandesgebrauchs als Kritik der Vorstellung eines vor nur einem Subjekt isolierbaren Gegenstandes 5. Das unüberholbar Antidogmatische bei Kant gegenüber aller Reflexion auf ein unmittelbar rezeptives Verhalten zu Sätzen 6. Verdeckte Sprachlichkeit in Kants Raumbegriff gegenüber der Trennung zwischen Raumbegriff und Begriff wahrer Sätze in späteren Theorien

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184 188

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Zweiter Teil Sich nachmetaphysisch verstehende Positionen Erster Abschnitt: Ontologische Auslegungen 1. Die Position des sidi als identisch setzenden Verstandes als Basis in der Ontotogie Heideggers 2. Die Frage nach dem Sein als von Bedingungen der Bestimmbarkeit des Seienden und damit von der Möglichkeit einer bestimmten Antwort abstrahierende reine Frageform 3. Die Frage nach dem Sinn von Sein in ihrem Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des Subjekts als Identität 4. Das Insistieren auf dem Daß der Fragestellung als Abweisung ihrer Begrenzung und Aufhebung in einer „bestimmten" Antwort: Radikales Fragen als radikales Quantifizieren 5. Auslegung des Todes als Instanz unbestimmter Gewißheit und der Aufhebung aller „uneigentlichen" Bestimmtheit in lebensdienlicher Berechnung 6. Unsagbarkeit des „eigensten" Daß und der daraus resultierende Vorrang der Rezeptivität in der Sprachauffassung . . 7. Objektivistische Sprachauffassung und Vorstellung einer sprachlichen Einteilung des Seins „als es selbst" gegenüber der Bestimmbarkeit dienenden Sprachregelungen 8. Ontologische Entsubjektivierung der Welt über das zur einzelwissenschaftlichen Bestimmbarkeit erforderliche Maß hinaus Zweiter Abschnitt: Positivistische Setzungen 1. Metaphysik der Maßsetzung 2. Forderung oder Tatsache des Gesetzten 3. Die philosophische Unzulänglichkeit nur hypothetischer Sätze und die transzendentale Reflexion auf Ichbewußtsein als innere Basis 4. Kants problematische Voraussetzung einer Bindung der Sprache an einen inneren Zweck 5. Kritik des Maßbegriffs und Freiheitsbewußtsein

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XVI

Inhal tsverzeidinis

Seite 6. Das Unmittelbar-Positivistische im Vorwurf der Hypostasierung 7. Vorstellung und Antinomie des einen Raumes 8. Die „Wahrheitsantinomie" und die Konstruktion künstlicher Sprachen. Zur Semantik des Größenbegriffs bei Kant 9. Das Problem des Zusammenschlusses von Erfahrungsreihen zu einer einheitlichen Wissenschaft 10. Sprachliche Invarianten als Stabilisationskerne der Erfahrung 11. Stabilität und „Wahrheitswert" von Sätzen 12. Das Problem einer Finitisierung von „Unendlichem" als Problem einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Graden nur gesetzter Bestimmtheit 13. Zur Wertung des Einfachen 14. Der Wert des einfachen Ausdrucks für die Konstruktion intersubjektiver Ubereinstimmung 15. Die Vertretung eines Begriffs der Wahrheit durch den Begriff unmittelbarer „Evidenz". Kritischer Verstand und Positivität im Skeptizismus

244 248 232 262 268 269

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Schlußbetrachtung zum zweiten Teil: Positivismus und Fundamentalontologie als sich in ihrer jeweiligen Sprache haltende Positionen 303 Schlußbetrachtung zum ersten und zweiten Teil: Der Raum sprachlichen Verhaltens als der Raum, in dem etwas sinnlich erscheint . . . . 312

Einleitung I.

Das Thema „Sprache und Raum" stellt zusammen, was der geläufigen Wissenschaftseinteilung zufolge verschiedenen Disziplinen zugehört. „Sprachphilosophie" gilt als „Gebiet" der Philosophie, in dem, anschließend an Ergebnisse der Sprachwissenschaft, die Sprachen und ihre Entwicklung „nach den sie bestimmenden seelischen, geistigen und geschichtlichen Kräften" durchforscht werden1. — Die Philosophie des Raumes dagegen wird in der Regel zu den Bemühungen um die philosophisdien Grundlagen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften gerechnet3. Weder zu der einen noch zu der anderen dieser beiden „Disziplinen" kann diese Untersuchung beitragen. Sie nimmt solche Einteilung, in der das Bestehen einer universalen Philosophie positiv vorausgesetzt wird, die sich aber in Wirklichkeit an die einzelwissenschaftliche Arbeitsteilung anlehnt, nicht als etwas im voraus Entschiedenes hin. In den Einzelwissenschaften bestimmt sidi der Gegenstand von der jeweiligen Methode her. In den exakten Naturwissenschaften ist z.B. nach Planck „alles, was man messen kann", Gegenstand®. „Raum" (und „Zeit") ist dementsprechend Maßbegriif oder Maßform4. Wissen ergibt sich innerhalb des disziplinierten Arbeitens, in dem sich das Subjekt messend verhält, und ist an dieses durchgehaltene Sich-Verhalten, von dem es die Identität hat, in der seine Gegenstände bestimmt sind, gebunden. Als gebundenes Wissen ist es Subjekten anderen Sich-Verhaltens nicht mitteilbar. Es beruht auf „Erfahrung", die wesentlich innerhalb 1

Wörterbuch der philosophisdien Begriffe, hrg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 574 f. 2 Vgl. Friedrich Kaulbadi, Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant, Köln 1960, S. 7; Kaulbadi selbst versudit dagegen, wie der Titel zeigt, »die ursprüngliche Weite der Fragestellung zurückzugewinnen". — Eine umfassende Spezialuntersuchung zum philosophisdien Raumproblem, die vor dem „mathematischen" den »gelebten Raum" behandelt, liegt jetzt mit der Arbeit von Elisabeth Ströker vor: E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965. — Vgl. audi Ο. F. Bollnow, Mensdi und Raum, Stuttgart 1963. 3 Ernst Cassirer, Zur modernen Physik, Oxford 1957, S. 10. * Ebd. S. 11.

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solcher Identität gewonnen wird. Sie darf darüberhinaus nicht verallgemeinert werden, wenn sie, wie sie hier hergestellt ist, nicht ent-stellt werden und als in dieser Bestimmtheit wertvolle (d. h. a priori handlungsbezogene) „Erfahrung" nicht zerrinnen soll. Nicht weil „nur wenige Philosophen . . . heute an der naturwissenschaftlichen Arbeit" teilnehmen und „der Naturforscher" „nur ausnahmsweise" „eigene Denkarbeit philosophischen Fragen" widmet*, sondern weil die Philosophie nicht aus (dieser oder jener) Arbeit Bestimmtes, also Eingeschränktes, Abstraktes für die Wirklichkeit nehmen und sich selbst nidit als solch ein Tun* begreifen kann, kann sie nicht in die Sphäre naturwissenschaftlicher Arbeit und der in ihr disziplinierten Denkweise eindringen. Die „Verwendung" hier gebildeter und hier bestimmter Begriffszusammenhänge wäre unzulässige Übertragung des nur in der Reduktion dieses Tuns Bestimmten und damit eine Verabsolutierung, die Naturwissenschaftler mit Recht beargwöhnen. Eine Sprache, die ihrer Reduktion in Arbeitsdisziplinen vorausliegt und über diese Sphären hinaus vernommen wird, ist „Gegenstand" der Philosophie. Es kann also nicht um eine von außen herkommende Einlassung in Gebiete zu tun sein, die sich, wie Mach betont, nur durch fortgesetzte Arbeit auf ihrem Felde und dem entsprechenden Sich-Verhalten des Subjekts, nicht aber durch „bloße Lektüre" 7 „begreifen" lassen. Auch eine Verbindung von Sprache und Raum unter dem Gesichtspunkt einer die Naturwissenschaft und die sprachlichen „Geisteswissenschaften" umfassenden Theorie der hier und dort geltenden Formen im Sinne von Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen" ist nicht beabsichtigt. Sprache und Raum gleichermaßen als Formen zu betrachten, bedeutete eine Vorentscheidung. Solch ein umfassender Begriff der Form bildet sich erst im Postulat einer Betrachtungsweise, die Raum und Sprache umfaßt, indem sie räumliches Auseinander einem sprachlichen Begriff eindeutig zuordnet und darin methodisch eint. Das Problem des Raumes dagegen stellt sich als Problem schon dieses Begriffs des Begriffs, insoweit Räumliches sich gegen solche Zuordnung unter 5

Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1917, S. 4. • Im l . B a n d des Werkes „Sprache und Bewußtsein" (Frankfurt a. M. 1964) entwickelt Bruno Liebrucks in Abgrenzung gegen Theorien, die den Menschen auch in seiner Sprachlichkeit vom Gesichtspunkt des praktischen Tuns in Arbeit und Handlung her zu begreifen versuchen, eine Theorie der Sprachlichkeit des menschlichem Bewußtseins, derzufolge das praktische Verhalten als eingeschränktes M o m e n t der Sprachlichkeit zu begreifen ist. Der Vf. verdankt diesen Gedankengängen über den Umfang der bisher erschienenen Bände (1.—3.) hinaus wesentliche philosophische Einsichten und Hinweise für die Konzeption der vorliegenden Untersuchungen. 7 Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. 5.

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dem Postulat eines Vorgehens aufspreizt und nicht ein Postulat das Problem beseitigt8. — Insofern ist das Problem des Raumes zugleich Problematik einer Sprache, vorgestellt als Vermögen der Begriffe in solcher, das Problem des Raumes beseitigenden Funktion. Historisch-systematisch bedeutet der Ansatz bei dem Problem von Sprache und Raum als einem Problem die Aufnahme der Frage an den kritischen Standpunkt Kants, was mit einem begriffslosen Auseinanderliegen eines mannigfaltigen Materials in der Anschauung gemeint sein kann und was das denn sein soll, worauf das Denken und also erst recht sein sprachlicher Ausdruck nur als „Mittel" „abzweckt"·. Wie kommt die Philosophie im Meinen eines Nicht-Formalbegrifflichen, von dessen Voraussetzung nach Kants Kritik die objektive Gültigkeit der Begriffe abhängt, darüber hinaus, es wegen eines philosophischen Begriffs der Erkenntnis nur als etwas Gemeintes zu behaupten? Daß dies „Material" „an sich" unbestimmt und dennoch als in den Formen der Anschauung als bestimmt gegeben sei, diesen Charakter hat es ausschließlich in der Behauptung, die im Zusammenhang der Selbstbehauptung der Metaphysik als Transzendentalphilosophie erhoben wird. Es soll nicht „an sich", sondern nur als Gegebenes, für anderes Form haben. Diese Position fordert schon ein identisches Prinzip oder ein sich in einer Bestimmtheit durchhaltendes subjektives Sich-Verhalten gegenüber diesem Material, das es dann auch, gemäß derselben Position, ohne Widerstand zulassen muß. Solch eine Verteilung von Spontaneität und Rezeptivität im Zusammenhang der Selbstbehauptung der Metaphysik kennt Wirklichkeit nur als das, was sich in einem bestimmten subjektiven Sich-Verhalten, das sich nicht zu ihr, sondern eben nur ihr gegenüber zu sich selbst verhält, verstehen läßt. In der sprachlichen Darstellung dagegen muß das Subjekt sich nicht nur identisch verhalten, sondern sich, als das, woran es sich als dies beständige—Verhalten ausrichtet, anderen Subjekten (d. h. — im Unterschied zu anderen Dingen — anderen auf sich zurückbezogenen Verhaltensformen) mitteilen. Dabei verliert die Wirklichkeit notwendig an eindeutiger Bestimmtheit, die sie gegenüber der Identität geschlossenen Sich-Verhaltens erhält. Anderes Verhalten verhält sich zu demselben anders. Aber nur in solcher sprachlichen Darstellung gelingt der Nachweis, es mit Wirklichkeit zu tun zu haben. Nur über diese Darstellung seiner selbst kann das Subjekt als Subjekt von „außen" und damit auch für sich selbst anerkannt werden. Es kommt nur so über das Behaupten seiner selbst als wirklichkeitsbezogen hinaus. „Wirklichkeit" ist dann nicht nur Kategorie (Modalität der Aussage). 8

Vgl. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 25. • Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 19 Β 33.

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„Raum" ist dann nicht das Medium, in dem sich einem bestimmtn sich durchhaltenden Verhalten Gegenstände als eindeutig bestimmt darstellen. Er „gewährt" dann unmittelbar keinen solchen Gegenstand uid ist weder als formaler Begriff noch als Maß-Form begriffen, durch de sich eine „eindeutige Beziehung und Zuordnung herstellen" ließi". Raum ist dann das, worin Gegenstände insofern selbst erscheinen, ils die Disziplin eines auf sich bezogenen Sich-Verhaltens zugleich auf tie Äußerung zu anderen, sich anders verhaltenden Subjekten hin offen uid andere Bestimmtheit der Gegenstände darin „eingeräumt" ist. Phibsophisch statt wissenschaftsmethodologisch ist Raum relevant, insofern sich Menschen in ihm immer nur zugleich zu einstimmig bestimmen Gegenständen und zueinander als nicht „intersubjektiv" abgesprochenm, sondern verschiedenen Verhaltensweisen verhalten. Das Problem der Zeit ist damit nicht verdrängt. Vielmehr konmt die Problematik einer Vorordnung der Zeit vor den Raum zur Sprache, wie sie in gewissem Sinne Kant vornimmt, entschieden aber Heidegger in „Sein und Zeit". In einer solchen Vorordnung kann nur die Ordnung des formalen Begriffs zur Geltung kommen, indem das Auseinander im Raum nur in dem Moment seiner Bewältigung durch bestimmtes Sichverhalten ihm gegenüber betrachtet wird, das, als unbeirrtes Vorgehen, von verschiedenen Dimensionen möglichen Bestimmtseins nur die eine dieses sukzessiven Vorgehens selbst abstrahiert. Die Eindimensionalität der Zeit erscheint in dieser Vorordnung als Ausrichtung der Wirklichkeit nach dem Prinzip der Identität, das auch und gerade dann zur Geltung kommt, wenn die Begegnung mit ihr in dem Begriff, „Dasein" oder „In-der-Welt-Sein" zu sein, festgehalten ist. Der Begriff des Sinnlichen ist sinnlicher Begriff im Gegensatz zur Subsumption des Sinnlichen unter den als Identität festgehaltenen, an es herangetragenen äußerlichen Begriff, auch wenn dieser der Begriff des Sinnlichen „als solchen" im formalbegrifflichen Gegensatz zum Verstandesbegriff sein sollte. Das ist der Begriff, in dem das Sinnliche erscheint, in dem (nicht: unter dem) es selbst sinnlich ist und dem subjektiven Begriff aus dem identischen Sich-Verhalten ihm gegenüber entgegenwirkt. Raum ist dann die Allgemeinheit dieses Auseinander gegen die formalbegriffliche Allgemeinheit". „Es ist vielerlei über die Natur des Raums von je vorgebracht worden."" „Fertig" ist die Philosophie mit dem Raum, so daß sie ihn 10 11

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Cassirer, Zur modernen Physik, S. 93. N a d i W. y. Humboldt ist der Raum ein „sinnlicher, und doch von aller qualitativen Verschiedenheit abstrahirender Begriff". Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, hrsg. v. A. Leitzmann, Berlin 1903 ff., Bd. VI, 1., S. 166. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1830, hrg. v. F. Ni'colin u. O. Pöggeler, Hamburg 1959, § 254.

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als „Gegenstand" einer „Naturphilosophie" betrachten könnte, die nicht mehr Metaphysik sein soll, bis heute nicht. Zwar ist „Raum" insofern ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Begriff, als er ein Gefüge darstellt, in dem sich ordnet, was hier „Gegenstand" ist. Entsprechend definiert Leibniz den Raum als die „ O r d n u n g . . i n der der Geist sidi das Operieren mit Beziehungen vorstellt"11. Kant kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, daß von objektiver Erkenntnis erst gesprochen werden kann, wenn der operativen Bewegung, die wir als Vollzug des Denkens „in uns" anschauen, etwas „im Raum außer mir"M entspricht. Damit spricht Kant zuerst aus, daß der mathematisch-naturwissenschaftliche Raumbegriff das Problem des Äußeren ausläßt und philosophisch deshalb, so gut er dort seine Funktion erfüllt, nicht genügt. — Daß diese Bedingung erfüllt ist, ergibt sich für ihn durch einen Sdiluß, der durch Bestimmung zufolge des kategorialen Verhältnisses von Substanz und Akzidenz zustandekommt, also wieder durch eine rein logische Operation: In mir nehme ich einen dauernden Wechsel wahr. Einen Wechsel kann ich mir aber nicht denken, ohne zugleich ein von dem Wechsel verschiedenes „Beharrliches"1* zu denken. Wie die Zeit nun Form der Anschauung des Wechsels in mir ist, so ist der Raum davon unterschiedene Form der Anschauung des dem Wechsel zugrundeliegend gedachten Beharrlichen außer mir. — Der Kantische Gedanke drückt aus, daß ich mich in der Raumanschauung nicht nur auf die Ordnung beziehe, die ich durch mein Operieren zustande bringe, sondern auf etwas davon Verschiedenes, das mir in der Raumanschauung gegeben sein muß. Nur so kann der Verstand sich nur als „Mittel" darauf beziehen" und an ihm zu einem Ende kommen. Philosophisch ist der Raum nicht eine Form, in der ich mich auf Gegebenes, es ordnend, beziehe — in der die Mathematik anwendenden Naturwissenschaft bleibt ja ebenfalls die empiristische Forderung, daß mir etwas gegeben sein muß, ausschlaggebend — sondern in der mir etwas gegeben ist, auf das ich mich als Verstand beziehe. Das ist der ganze Unterschied. Es kann philosophisch gar nicht darum gehen, wie beschaffen ein Ordnungsgefüge sein muß, damit ich es mit Erfolg auf etwas anwenden kann, erst recht nicht, in welchen Formen sich mir unter der Voraussetzung logischer Axiome wie der Widerspruchsfreiheit mögliche Ordnungsgefüge überhaupt darstellen. Andererseits bleibt der Philosophie das Problem des Raumes als der Form, in der mir etwas gegeben ist und 13

5. Brief an Clarke: „ . . . un certain ordre oü l'esprit confoit l'application des rapports". Leibniz, Die philosophischen Sdiriften, ed. Gerhardt, Bd. VII, S. 401. u Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 275. 15 Β XXXIX. " A 19 Β 33.

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in der ich es überhaupt mit Gegenständen zu tun habe, die mir i s außer mir, d. h. als auch außerhalb des Bezugs auf mich selbst bestimme Gegenstände erscheinen. Das philosophische Raumproblem ist das cbr so verstandenen Äußerlichkeit. Ein entsprechendes Problembewußtsein hat es in der Philosophie nicht immer gegeben. Audi Kant betrachtet es zufolge der Selbstverständlichkeit des erwähnten Schlusses vom Wechsel auf ein zugruncbliegendes Beharrliches als ganz selbstverständlich, daß mir Gegenstände im Raum als außer mir gegeben sind. Raum und Zeit sind für ihn voneinander unterschiedene Anschauungsformen a priori, die also audi a priori ein Äußeres der Anschauungsform nach vom nur Inneren unterscheiden. Daß mir Äußeres erscheint, ist schon innerhalb der Anschauung entschieden. Das Äußere als solches liegt der Philosophie problemJos voraus, so sehr es in der Erkenntnistheorie audi um den Begriff eines Bezuges zu ihm zu tun war. Erst Hegel sah hier das Problem. Wenn Kant das Äußere ersdiließt, reflektiert er nicht darauf, daß es dann in der Form des Schlusses, also wieder durdi einen gedanklichen Akt, vermittelt ist. Ist es das aber, so ist es dem Geist gegenüber nicht etwas Äußerliches, auf das er sich nur „als Mittel" beziehen könnte, sondern sein „Außersidisein", auf das er im Schließen als auf seine eigene Form bezogen ist. Das ist das Auseinander der Prämissen als Sätze wesentlich verschiedener Herkunft, von Sätzen also, die Synthesis unter verschiedenen Gesichtspunkten sind und dem Schließen als Auseinander gegeben sein müssen. Es sind sprachliche Sätze. Der Raum ist nach Hegel nicht die Form eines Verhältnisses des Geistes zur Natur, nichts in diesem Sinne Subjektives der Natur gegenüber, sondern Natur, insofern sie überhaupt als Außersidisein (des Geistes) und nur erst als abstraktes, reines Außersidisein (als Öffnung eines abstrakt identischen Sich-Verhaltens) bestimmt ist. Er ist „die erste oder unmittelbare Bestimmung der Natur" in der noch nicht näher bestimmten und deshalb abstrakten „Allgemeinheit ihres Außersickseins"". Der philosophische Begriff des Raumes, wie er durch Leibniz und Kant vorbereitet worden ist, stellt sich erst bei Hegel in aller Schärfe und Untersdiiedenheit von Theorien möglicher Ordnungsgefüge heraus. Diese Allgemeinheit ist nicht leer. Es ist ja die des Raumes als der geöffneten Form, in der sich Konkretes, im Unterschied zur abstrakten Bestimmung von der Methode her, zeigt. Das Äußere ist weder etwas, das unter einen Begriff, etwa unter den einer „res externa", subsumiert oder in der Form einer begrifflichen Ordnung vom Subjekt „erfaßt" worden wäre, noch etwas, nach dem sich ein solches Erfassen zu richten 17

Hegel, Enzyklopädie von 1830, § 254.

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hätte. In dieser Alternative war noch Kants Denken befangen. Es ist vielmehr Äußerung eines Inneren, das nun nicht mehr als der Äußerung Zugrundeliegendes, als deren Subjekt vorgestellt werden kann, das sich κατά συμβεβεκός äußerte. Ein solcher Rückschluß auf das Subjekt als beharrliche Substanz wird schon bei Kant zurückgewiesen". In diesem Raumbegriff ist die Denkkategorie des Verhältnisses von Substanz und Akzidenz aufgehoben. Diese Kategorie ist in Wirklichkeit eine Vorstellungskategorie. Sie orientiert sich meist an der Vorstellung eines auf einer Unterlage liegenden Gegenstandes. Eine Vorstellungskategorie in diesem Sinne orientiert sidi an einem gegenständlichen Modell. Man könnte auch die Vorstellung eines Herrschaftsverhältnisses entweder der Erkenntnis über den Gegenstand oder des Gegenstandes über die Erkenntnis, die der der adaequatio des Verstandes an die Sache entspricht, heranziehen. Diesen Modellen ist gemeinsam, daß das Denken sich an ihnen als an etwas orientiert, das als Vorgestelltes schon als Äußeres vorgestellt ist. Das Denken dieser Art stellt sich nicht ernsthaft dem Problem des Äußeren, indem es sich an solche äußeren Modelle anlehnt und dieses Problem nicht mit dem seiner eigenen Relevanz zusammendenkt. Wenn dagegen die Reflexionskategorie des Verhältnisses Inneres und Äußeres in die Reflexion einbezogen wird, wird zugleich über den Begriff des Verhältnisses selbst reflektiert. Dieses Verhältnis ist nicht mehr als Verhältnis zwischen als gegeben vorausgesetzten Bestimmtheiten vorzustellen. Es ist das der Gegebenheit überhaupt. Es meint nicht die allgemeinste Bestimmung von Gegebenem als Gegebensein, das dann als solches noch immer dem Subjekt gegenüberläge, sondern die Problematik solchen Gegenüberliegens, in die das Subjekt so gut einbezogen ist wie sein Gegenüber. „Einbezogen" bedeutet hier nicht mehr Subsumtion unter denselben Begriff, sondern Reflexion auf den nicht mehr dinglich vorausgesetzten, sondern als problematisch erfaßten Unterschied zwischen einem Subjekt und einem Gegenüber. Natürlich ist auch eine solche Reflexion die eines Subjektes. Aber sie denkt nicht mehr in der Alternative, entweder habe das Subjekt sich nach dem Gegenüber oder das Gegenüber sich nach ihm auszurichten. Nachdem durch Kant endgültig entschieden ist, daß Erkenntnis unter dieser Alternative überhaupt nur dann als möglich gedacht werden kann, wenn das letztere angenommen wird, bei Kant aber der Begriff des gegebenen Äußeren unbegriffen bleibt, bzw. die „Vorstellung" des Raumes als „unendliche gegebene Größe"1* die Stelle eines solchen Begriffs einnimmt, laßt sich Äußeres, selbst in dieser allgemeinen Bestimmt18

Vgl. die Ausführungen über den Paralogismus der Substantialität, A 348 ff. und Β 406 ff. ' · Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 39.

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heit, nur nodi als Äußerung eines zur Äußerung (und sonst „selbs" nicht) bestimmten Subjekts verstehen. Das Subjekt kann sich weder duich die Sadie noch als Sache bestimmt begreifen. Das kann es schon nach Kant nicht. Es bleibt nur die Möglichkeit zu denken, daß das bestimmende andere das Subjekt zu einer Äußerung als einer Öffnung seiies identischen Sich-Verhaltens „bestimmt", aber doch nur so, daß es sich die Äußerung gleichwohl vorbehalten kann, so daß es in dieser Bestimmung als (freies) Subjekt bestimmt ist. Wenn gesagt wird, das sei sprachliche Äußerung, scheint das wieder eine Orientierung an einem naheliegenden Modell zu sein. Aber das trifft dem Anschein entgegen deshalb nicht zu, weil allein in der Sprache ein Subjekt sich anläßlidi einer Bestimmung sich zu äußern, die von anderem ausgeht, ausdrückt. In der Arbeit ζ. B. steht das Subjekt in Wechselwirkung mit irgendeiner gegebenen Sache, die es sich zurichtet gemäß der von ihm bestimmten Form. Nur nach der Sache als Materie muß es sich riditen. In der gesellschaftlichen Handlung hat es zwar mit anderen Subjekten zu tun, die für es nicht in dem allgemeinen Begriff von Gegebenem aufgehen, die für es aber doch bis zu einem gewissen Grade zu bestimmende Objekte seines Willens sind — wie es für sie. — In der Sprache reicht die Kategorie der Wechselwirkung nicht mehr hin. Beide Möglichkeiten des Sich-Ausrichtens sind hier aufgehoben. Der sprachliche Ausdruck bleibt auf beiden Seiten freigestellt. Der erbetenen Äußerung oder Öffnung auf andere hin kann ich mich jederzeit entziehen. Insoweit die Bestimmung dazu von anderen aus ebenfalls sprachlich bleibt, erfahre ich mich in ihr als frei. Ohne diese Erfahrung hätte ich nicht das Bewußtsein der Freiheit oder des Subjektseins. Ich kann mich zur Antwort entschließen oder nicht, aber nicht, insofern ich mich von mir aus als frei begreife — das wäre ein abstrakter, von der Bedingung ihrer Erfahrung abstrahierender Begriff von Freiheit — , sondern insofern mir diese Freiheit gelassen wird und ich nur bestimmt werde, insofern ich freigelassen bleibe. Ehe der andere nicht mit mir in ein solches negatives Verhältnis tritt, ist er kein sprachliches Gegenüber. Wenn von Sprache und sprachlichem Verhalten gesprochen wird, ist das Subjekt dieses Verhaltens gerade nicht von einem bestimmten Begriff her verstanden und nicht mit anderen Subjekten unter einen positiven Begriff „sprachliches Verhalten" subsumiert, wie es der Fall ist, wenn von der positiven Voraussetzung einer Ich-du-Relation her philosophiert wird". Sprache ist nicht ein rein von einer Form des Verhaltens her bestimmtes Verhalten. Als anümal rationale etwa ist das Subjekt in einer Eigenschaft begriffen, die es nicht ablegen und der es sich nicht entziehen kann. In dieser Bestimmunjg ist

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Vgl. Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a. M., 1964, iS. 17.

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es daher wesentlich, was es immer zugleich audi ist, nämlich Objekt, ebenso in allen anderen Begriffen von ihm, durch die es eindeutig, d. h. zu jeder Zeit „zutreffend" bestimmt sein soll. Gerade die „zutreffende" Begriffsbestimmung verfehlt sein Subjektsein. Es ist fraglos zutreffend, daß „der Mensch" animal, d. h. leiblich ist. Die Einschränkung oder Formung dieser Materialität durdi die für ihn spezifische Differenz der Rationalität geschieht zwar im Verstand und also im Subjekt als Selbstbestimmung. Aber was da bestimmt wird, ist in diesem bestimmenden Verstand Objekt, Resultat der intellektuellen Arbeit oder Formung der im „genus proximum" vorgegebenen noetischen HyleM, nähere Bestimmung von Vorgegebenem im Rahmen der vorgegebenen Möglidikeit des Bestimmtwerdens. — In der Bestimmung als spradilidies Wesen erfüllt sich dagegen der Subjektbegriff in einer Weise, in der er sich zugleich der jederzeit zutreffenden, fixierenden Bestimmung entzieht. Die Bestimmung als spradiliches Wesen bedeutet, daß es beim Subjekt liegt, ob es sich der Bestimmung adäquat verhält oder nicht, und dadurch ist es erst als Subjekt adäquat bestimmt. Sein Sein, das die Definition aussagt, ist in derselben Bestimmung sein Nichtsein und Aufhebung der Definition. Die Bestimmung des Menschen als „sprachliches Wesen" läßt sich nicht als Formung der Hyle „Wesen" oder „Lebewesen", sondern nur gemäß dialektischer Logik begreifen, in der Bestimmtheit immer ebensogut Unbestimmtheit ist und die Möglichkeit, etwas sein zu können oder nicht, durch die nähere Bestimmung nicht aufgehoben wird". Im sprachlichen Verhältnis ist keine Beziehung als gegeben vorausgesetzt. Erst in der Reflexion auf ein solches Verhältnis, wenn es bestanden hatte, sind dessen Relata positive Gegebenheiten. Erst in der Reflexion könnte also die eine oder andere Seite als bestimmend, bzw. bestimmt betrachtet werden. Nur unter der Voraussetzung der allein von der Sprache her zu begreifenden Äußerung eines Subjekts als eines zugleich in sich reflektierten Verhaltens kann der Verstand das sidi im sprachlichen Verhalten herstellende Verhältnis festhalten und zufolge des kategorialen Unterschieds von Bestimmendem und Bestimmten auseinanderhalten. Seine daran ansetzende nähere Bestimmung setzt die allgemeine des Außersichseins, also die von Natur überhaupt, immer schon voraus und kann sich nur auf bereits Gegebenes beziehen. Sie setzt Raum " Vgl. Aristoteles, Metaphysik Ζ 1037 a 4 f. 82 Die Zuordnung des Freiheitsbegriffs zum Begriff des Menschen als „handelndem Wesen' ist nur gerechtfertigt, wenn man die Bestimmung zum Handeln schon im Begriff einer nur sprachlichen „Veranlassung" aufgehoben denkt, d. h. wenn herrschaftsfreie Zustände ideell vorausgesetzt werden. Das Problem eines in der Erfahrung konstituierten Freiheitsbewußtseins wird dadurch idealistisch umgangen. Außerdem entsteht durch diese Zuordnung die Dichotomie zwischen praktischer und theoretischer Philosophie, wie gerade Kants Ansatz zeigt.

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voraus als allgemeine Bestimmung der Natur, die gegenüber einem si Vgl. ebd. S. 349. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 619 Β 647. 40 Hegel, Logik II, S. 350. " Vgl. ebd. S. 351. 39

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Raum und logische Form

Der Obergang zur „Objektivität" in Hegels „Logik" ist nichts als das Einholen der bei Kant als solche stehengebliebenen Voraussetzungen, aber zugleich die Entwicklung der Einsicht, daß „Objektivität" nicht im Urteil, auch nicht in dessen transzendentallogischer Deduktion, erreichbar ist. Das Subjekt der Synthesis muß unter dem Anspruch auf Objektivität den Weg seiner Auseinanderlegung in den Figuren des Schlusses antreten. Auf diesem Weg kann es nur unter der Bedingung der Preisgabe seiner selbst als apriorisches Urteilsvermögen seinen Anspruch einlösen und nicht zu sich reflexiv zurückkehren, als fände es in diesen Figuren eine ihm nur äußerliche Explikation. Das Setzen, als das es sich nun verstehen muß, entspridit der Erfahrung der Räumlichkeit an den Dingen, in der sie ihm als das andere seiner selbst als Subjekts, nämlich als Objekt, ersdieinen. Indem die apriorische Ansidit des Raumes in einer ihn auf einen Begriff bringenden Bestimmtheit als subjektives Tun bestimmt ist, allein indem sidi das Subjekt dem Auseinander gegenüber als Identität behaupten kann, kommt die Objektivität des Auseinander zur Spradie, aber in einer Sprache, die sich in ihrer Objektivität nicht mehr allein an formallogischen Bestimmtheitskriterien messen läßt.

4. Abgrenzung gegen Poincares Koordination von Raumvorstellung und Schlußverfahren Audi Henri Poincaris Diskussion des Raumproblems bringt Raum und Schließen ausdrücklich zusammen. In „La Valeur de la Science" wird zunächst zwischen Naturgesetz (loi) und Prinzip (principe) unterschieden". Das Gesetz bedarf der Bestätigung durch die Erfahrung. Wenn es nicht der Erfahrung entspricht, muß es geändert werden. Es kann aber auch durch Übereinkunft zum Prinzip erhoben werden, indem man annimmt, daß es sicher wahr sei. Es wird zu einer Invarianten, die schon wegen ihres universellen Anspruchs durch die Erfahrung nicht bestätigt, aber audi nicht widerlegt werden kann: Widerstreitet ihr eine Erfahrung, so wird eine weitere auf die Erfahrung einwirkende Kraft (force) gegenüber der im Prinzip formulierten angenommen, insofern es sich für die wissenschaftliche Forschung als bequem erweist, das Prinzip beizubehalten. „Le principe desormais cristallise pour ainsi dire . . . il n'est pas vrai ou faux, il est commode"4®. Für Poinca^ ist der Raum ein solches Prinzip. Seine geometrischen Bestimmungen sind im angegebenen Sinne von wirklichen Bewegungen a

H. Poincari, La Valeur de la Science, Paris 1905, S. 235 ff. ** Ebd. S. 239.

Abgrenzung gegen Poincarl

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abstrahiert als Prinzipien, die von der Wissenschaft den Bewegungsgesetzen zugrunde gelegt sind. Wenn audi tatsächlich manche Bestimmungen daran, wie ζ. B. die Beschränkung auf einen dreidimensionalen euklidischen Raum, die lange zum absolut Vorauszusetzenden gerechnet wurde, sich inzwischen bloß für die gesetzmäßige Bestimmung der Erfahrungen der klassischen Physik als bequem erwiesen haben, bleibt doch der Charakter der Invarianz dessen, was euklidische Räume mit nichteuklidischen, dreidimensionale mit n-dimensionalen gemeinsam haben. Es gälte also den Unterschied zu machen zwischen dem, was der wissenschaftlichen Bequemlichkeit oder Ökonomie halber als invariant gesetzt wird, und dem, was universell als invariant gilt, sozusagen als Kristallisationspunkt für zu Prinzipien kristallisierte Gesetze. Letzteres sind nadi Poincar£ „les relations entre les faits bruts, tandis que les relations entre les ,faits scientifiques' restaient toujours dlpendantes de certaines conventions"44. Der Unterschied zwischen beiden entspräche dem Unterschied zwischen dem Raum als Form der äußeren Anschauung und als formalem Gegenstand in der Mathematik. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob verwissenschaftliche Invarianten ihrerseits gesetzt sind oder nicht. Der wissenschaftlidien „Erfahrung" sind sie als invariant vorgegeben. Versucht man diesen Ansatz, der repräsentativ für modernere Auffassungen ist, auf die Höhe der Kantischen Reflexion zu heben, so bedeutet das, daß aller wissenschaftlichen „Erfahrung" der Begriff des identischen Subjekts schon vorausliegen muß. Vorwissenschaftliche Invarianten bilden den Kern der weiteren wissenschaftlichen Bestimmung von Erfahrung4". Daß sie innerhalb einer Wissenschaft nicht variabel sind, bestimmt deren sidi durchhaltende und sie als Wissenschaft konstituierende Art und Weise zu „erfahren", d. h. Gesetze zu formulieren. Prinzipien der Erfahrung sind dem Begriff der Erfahrung nach auch vorwissenschaftlich erforderlich, insofern der Begriff der Erfahrung an dem des identischen Subjekts hängt und dieser Begriff auch außerhalb der strengen Wissenschaft angesetzt wird. Ausschlaggebend ist nicht die Invarianz von Prinzipien an sich, sondern ihre Invarianz im Hinblick auf die wissenschaftliche Erfahrungsreihe, in bezug auf die von einer Erfahrung gesprochen wird. Wenn man von diesem Sachverhalt ausgehen darf, vollzieht sich alle bestimmte Erfahrung in der Form des Schlusses als des Zusammenschlusses von Prinzip und Tatsache. Bei einem Schluß sind zwei Faktoren bestimmend. Er gilt nur, wenn er sich auf zwei Urteilen aufbaut, von denen nur eines a posteriori, aufgrund der Erfahrung am äußeren Objekt gewonnen sein darf. Die andere Prämisse muß vor dem, was jeweils M 45

Ebd. S. 247. Vgl. Husserls Begriff der Lebenswelt. Dazu S. 290 dieser Arbeit, Anm. 113.

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Raum und logische Form

Erfahrung genannt wird, als deren Bestimmungsgrund festliegen. Sonst wäre die logische Bestimmtheit des Erfahrungsgehaltes nidit gewährleistet. Es ist damit eine apriorische Struktur der Erfahrung beschrieben, in der nidit die Voraussetzung der Einheit an die Einheit einer erfahrenden Person gebunden ist. Der Begriff eines transzendentalen Subjekts der möglidien Synthesis einer Datenreihe erfordert nicht numerisch ein wirklich anschauendes empirisches Subjekt. Gefordert ist nur die vorausgesetzte Geltung eines als Prinzip gesetzten Urteils (welchen Inhaltes es audi sei), das sich mit einem Urteil a posteriori zusammenschließt, auch wenn keine Person diesen Zusammenschluß dadurch vermittelt, daß sie das Prinzip zur Form ihrer Anschauung hat. Der Raum wäre also nidit ein Prinzip irgendwelcher inhaltlicher Art, mit bestimmten apriorischen Eigenschaften, sondern ein (möglicherweise hypostasiertes) Prinzip, das, wie es inhaltlich auch bestimmt sei, sich mit aposteriorischen Urteilen zu einer fa;on de parier zusammenschlösse. Der Raum wäre, als „Form der Sinnlichkeit", ein Schluß, im Gegensatz zum Urteil als Form des Verstandes (Gesetz), das nur innerhalb dieser Figur objektive Gültigkeit erlangte. Der Raum ist also auch hier, wie Kant sagt, „kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen" oder durch Induktion gewonnen ist". Er erlangt aber nur formale Bestimmtheit, wenn das Subjekt angesichts der äußeren Erfahrungen Sätze als Prinzipien festsetzt, die dann, als Axiome über den Raum, alle Erfahrungssätze durchgängig bestimmen. Über den Inhalt solcher obersten Sätze ist aber damit noch nichts gesagt. Über Kant hinaus ist nur gesagt, daß es gesetzte Sätze sind. Ihr gemeinsames „Prinzip" ist das Ansehen des Raumes als . . . , an dem der Begriff des Subjekts als Einheit des Ich-denke und als Vermögen, wissensdiaftlidi zu urteilen, hängt. Diese Einheit ist, anders als es bei den Grundsätzen Kants sein soll, nidit auch Prinzip des Inhalts von Prinzipien. Sätze haben nur dann ein gemeinschaftliches „Prinzip", wenn diese Einheit als solche in der bloßen Voraussetzung eines Inhalts verharrt. Sie nehmen unter diesem keineswegs durchleuchteten Verharren einen bestimmten dogmatischen Inhalt an. Es sind Prinzipien, über denen kein Prinzip mehr steht, und die angesichts der Erfahrung des Auseinander von diesem Auseinander nicht abstrahiert, sondern ihm abstrakt entgegengesetzt worden sind. Mit Kant muß gesagt werden, daß es nur zwei Möglichkeiten für einen apodiktisdi urteilenden Verstand gibt: Entweder richtet er sich nach dem Gegenstand, oder der Gegenstand richtet sich nadi ihm. In bezug auf apriorische Erkenntnis scheidet die erste Möglichkeit aus. — " Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 23 Β 38.

Abgrenzung gegen Poincarl

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Seit Kant selbst seinen philosophischen Denkansatz mit „den ersten Gedanken des Kopernikus" verglichen hat, steht der popularisierende Ausdrude von der „kopernikanischen Wende" für den Subjektivismus der neueren Philosophie überhaupt. Aber Kant hat auch zugleich auf den Unterschied zwischen seinem Ansatz und dem Vorgehen des Kopernikus hingewiesen. Kopernikus „verstuhte", „nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, . . . ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ"47. Es handelt sich hier also um einen Versuch zur Bestimmung eines Phänomens, in dem das erklärende Subjekt sich keineswegs mit jenem Zuschauer identifiziert. Jener Zuschauer bleibt ein hypothetisches Modell. Im ausdrücklichen Gegensatz dazu nimmt Kant sich vor, die genannte „Umänderung der Denkart" „in der Abhandlung selbst" (der „Kritik der reinen Vernunft") „aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen von Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes, nicht hypothetisch, sondern apodiktisch" zu beweisen, wie die Entdeckung von Zentralgesetzen der Bewegung durdi Newton auch innerhalb der Naturwissenschaft dem vorerst nur hypothetischen Versuch des Kopernikus nach Kant „ausgemachte Gewißheit" verschaffte48. Dem Umschlag des Hypothetischen in Apodiktizität liegt der Gedanke zugrunde, die Tatsache, daß die Hypothese die Einheit gegebener Daten unter einem Gesetz ermöglicht, sei ausreichend, sie für die (subjektiven) Bedingungen der Sache selbst anzusehen. Die Möglichkeit der Vereinigung ist der wirkliche Grundbegriff Kants, nicht die Subjektivität. Diese wird von jener her konzipiert, nicht umgekehrt. Die transzendentalen Beschaffenheiten resultieren daraus, daß aus dem geglückten Versuch (er hätte als Versuch ebensogut mißlingen können), das Auseinander unter dem Gesichtspunkt einer einheitlichen Regel zu erklären, auf ausgemachte Gewißheit, diese Formel sei die Form der Sache, geschlossen wird. In diesem formal unmöglichen Schluß von der Möglichkeit auf Realität4* identifiziert sich das Subjekt mit dem von ihm selbst aufgestellten Modell und erwirbt sich selbst, bzw. erleiht sich von dessen identifizierender Funktion Identität. Es versteht sich in diesem Schließen als glückliches Bewußtsein eines von seinem geglückten Herstellen, vom Gelingen seiner Tat her vermögenden Subjekts, das in seinem Selbstverständnis das Stadium des Versuches und der darin liegenden Möglichkeit des Mißlingens (auch des gewagten Begriffs seiner selbst) hinter sich gelassen hat. Das Gebäude der „Kritik der reinen Vernunft" entspricht dem historischen « Β XVI. Hervorhebung v. Vf. » Β XXII Anm. " Β 419: „Die Apperzeption ist etwas Reales, und die Einfachheit derselben liegt sdion in ihrer Möglichkeit."

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Raum und logische Form

Umstand, daß die euklidische Geometrie zur einheitlichen Bestimmung der physikalischen Erfahrung zu Kants Zeit erfolgreich verwendet werden konnte. Die Erfahrung überragte diese Bestimmungsmöglichkeit nicht. Das heißt aber, daß sie dadurch die ausschlaggebende Rolle für die Konstitution des Selbstbewußtseins im Sinne der „Kritik der reinen Vernunft" gespielt hat und erklärt gleichzeitig, daß diese dienende Rolle und damit die Bedingtheit dieses Selbstbewußtseins (einschließlich des Kantischen Freiheitsbegriffs) unterdrückt bleiben konnte. Poincare weist nachdrücklich auf die Rolle des Leibes, und zwar in seiner ausschließlich instrumentalen Auffassung, schon für die „vorwissenschaftliche" Raumkonstitution hin: „Localiser un objet, cela veut dire simplement se repr£senter les mouvements qu'il faudrait faire pour ratteindre" 50 . „Pour un etre c o m p l e m e n t immobile, il n'y aurait ni espace, ni g^ometrie"51. Es würde auf einen Zirkelschluß hinauslaufen, setzten diese Vorstellungen von Bewegungen nun ihrerseits den Raum voraus. Gemeint ist daher die Vorstellung der „sensations musculaires qui accompagnent ces mouvements et qui ne supposent pas la ρΓέexistence de la notion d'espace"". Der schwierige Begriff einer intensiven Größe spielt hier hinein. Vorausgesetzt sind ein noch nicht „räumlidi" genannter Unterschied und die Absicht seiner kontinuierlichen Aufhebung, so daß in jedem Stadium dieses Aufhebens das Moment des Unterschieds und das seiner Aufhebung zugleich sind. Entscheidend ist, daß Poincare nicht sensualistisch von bloßen Empfindungen spricht, auf die das Raumphänomen zurückzuführen wäre, sondern von Vorstellungen von Empfindungen. Es ist zugleich die Fähigkeit vorausgesetzt, vorzustellen, d. h. zwischen einer wirklichen Muskelempfindung und der zu unterscheiden, die nötig wäre, um den Gegenstand zu erreichen. Diese Fähigkeit ist identisch mit der Möglichkeit, etwas als außer sich vorzustellen. Das Subjekt schätzt seine Muskelempfindungen gemäß seinen früheren Erfahrungen ab. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es ein Maß hat für diese Abschätzungen, dessen Größe ja audi noch von etwaigen Werkzeugen zur Erreichung des Zieles und dem zu durchdringenden Medium abhängig wäre, also nicht darauf, ob es ausreichende Erfahrung bereits hinter sich hat, sondern darauf, daß es die Möglichkeit hat, solche Erfahrungen überhaupt zu machen. Vergangene Erfahrung als Maß oder Vergleich impliziert Zeitvorstellung. Das zeitliche Moment macht aber keinerlei Bestimmtheit aus. Maß kann eine Erfahrung nicht sein, insofern sie geschehen ist, sondern nur, insofern sie bestimmt war oder ist. Bestimmt ist eine Erfahrung dadurch, daß Bestimmtheit in ihr sich bewährt 50

Poincari, a. a. O., S. 80. Ebd. S. 82. » Ebd. S. 80. 51

Abgrenzung gegen Poincarl

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hat oder nicht. Es ist Bestimmtheit der Erfahrung vorausgesetzt, die zuläßt, Varianten wie die des Werkzeugs oder Mediums mit zu berücksichtigen, und die so eng zur Erfahrung gehört, daß auf sie hin sich das Subjekt in die Erfahrung wagt, indem es in ihr seine Identität als Subjekt weiß. Auch als Ergebnis der Erfahrung stellt sich keine andere Identität heraus als diese gesetzte, denn auch das Mißlingen hat an ihr seine negative Bestimmtheit, wie das Gelingen seine positive. Sie macht diesen Unterschied als bestimmten und das Subjekt bestimmenden aus. Poincar£ zufolge sind wir in der Lage, unsere Bewegungen zu unterscheiden, „1. parce qu'ils sont volontaires; 2. parce qu'ils sont accompagnls de sensations musculaires"". Willkür impliziert die Möglichkeit, eine Bewegung zu hemmen, audi unausgeführt zu lassen. Sie ist in dieser Negation immer bestimmte Negation. Nur eine schon bestimmte Bewegung kann als diese gehemmt werden. Nur eine Bewegung, die auch unausgeführt bleiben könnte, kann als bestimmte ausgeführt werden. So liegt der Empfindung einer gewollten Bewegung immer die Vorstellung von Identität, d.h. Bestimmtheit zugrunde, nidit aber die von Größe oder Grad der Empfindung in einem nennbaren Sinn. Größe und Grad ergeben sich erst im Vergleich wirklicher Bewegungen, sind also im Verhältnis zur Bestimmtheit a posteriori. Das Zusammenspiel von Muskelempfindungen und Willensregungen entwirft Unterschiede von Muskelempfindungen und damit räumliche Unterschiede als Bestimmtheit von Gegenständen, die durch Bewegungen, denen Muskelempfindungen korrespondieren, erreicht werden sollen. Es ist dabei gleichgültig, ob tatsächlich sich Gegenstände im „Ziel" dieser Bewegungen befinden. Von Bedeutung ist nur der Unterschied von Bewegungen, gemessen an den korrespondierenden Empfindungen®4. Die geschilderte Theorie hat den Vorzug, für alle natürlichen und künstlich erweiterten Sinneswerkzeuge zu gelten und auch das zu durchdringende Medium zu berücksichtigen, da sie die Raumvorstellung auf die Vorstellung einer Anstrengung zurückführt. Ein Grad der Durchdringlichkeit ist für Kant und Fichte ζ. B. gar nicht vorhanden". Für sie ist der Raum Form, in dem Gegenstände den Sinnen „gegeben" sind, nicht aber Medium der Verbergung und Verdeckung oder eines überhaupt mit M M

55

Ebd. S. 83. Hervorhebung v. Vf. Weyls Einwand gegen Poincare, audi das ruhende Auge habe unabhängig von Bewegungen des Augapfels sein Gesichtsfeld, erscheint als nicht stichhaltig. Ein Feld ist dies durdi den Unterschied der Randbezirke vom Zentrum, der aber wieder als Unterschied in der Empfindung der Augenmuskeln gedeutet werden kann. Vgl. Handbuch der Philosophie, München und Berlin 1927, II. Teil, Α., S. 91. „Der erleuchtete, durchsichtige, durchgreifbare und durchdringliche Raum, das reinste Bild meines Wissens . . F i c h t e , Werke, hrg. v. F. Medicus, Darmstadt 1962, Bd. III, S. 325.

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Raum und logisdie Form

Anstrengung verbundenen Zugangs, in dem also audi das Subjekt lebte und „sich selbst" „gegenüber" „Dingen" erführe. Das Moment des Anblicks der Dinge im Raum ist hypostasiert und dadurch des konkreten, begrenzten Inhalts entledigt. Das Subjekt ist (für Kant und Fidite) schon immer bei den Gegenständen, so wie es bei sich als vorausgesetzter und nidit erst zu bewirkender Identität ist. Die Abstraktion eines reinen Sehraumes, den es nidit gibt, da kein Sinn für sich allein wirkt und im Sehen zugleich gewußt ist, daß das Gesehene wieder anderes verdeckt, ermöglicht, den Raum als gleichförmiges und absolut durchdringliches Medium zu nehmen. Sie schien diesen Vorteil zu haben, bis die Krümmung der Lichtstrahlen in abhängiger Größe „entdeckt" wurde, natürlich nicht durch „Nachsehen", sondern weil es bequemer wurde, sie in bestimmten Bereidien der Forschung als gekrümmt statt als gerade anzusetzen. Die Elemente einer entsprechenden Geometrie werden notwendig „unanschaulich", wenn die abstrakten optischen Invarianten des Alltags als Maß und Norm der Anschaulichkeit genommen sind von einem Subjekt, das in dieser Norm die Gewißheit seiner selbst vor aller Erfahrung zu finden glaubt und „tatsächlich", d. h. vom bis jetzt geglückten Produkt seiner Tat her, auch findet. In der gewohnten Umgebung bewährt sidi als „Prinzip", was auf sehr langer praktischer Erfahrung beruht. Subjekte bilden es sich ein als dasjenige, von dem her sie sich als identische Subjekte der Erfahrung verstehen, d. h. sie setzen die als „Prinzipien" genommenen Sätze nicht weiter der Erfahrung aus. Man wird sagen können, daß eine Philosophie, die von einem rein theoretisch konstruierten Selbstbewußtsein ausgeht wie die Kantische, den Raum auch als reine apriorische Form der Anschauung betrachten muß. Räumliche Unterschiede werden dann in keinerlei Zusammenhang mit dem Leib und der Arbeit stehen. Der abstrakte Begriff der „Endlichkeit" eines leiblichen Wesens wird in dieser Philosophie die Leiblichkeit dieses Wesens „vertreten". Entsprechend wird abstrakt zwischen Gegebenem und Nicht-Gegebenem, zwischen Erscheinung und Ding an sich unterschieden. Das Entferntsein von prinzipiell nicht Unerreichbarem, die bestimmbare und durch Arbeit aufhebbare Entfremdung bleibt außer „Betracht" und verschwindet hinter einem grundsätzlichen Unterschied von Möglichem und Unmöglichem. Räumliche Unterschiede sind nur solche innerhalb des Gegebenen. Der Raum wird unvermeidlich als umfassendes Medium des Gegebenen genommen. Der Unterschied der Dinge zum eigenen Leib ist durch nichts von dem zwischen beliebigen Dingen im Raum unterschieden. Der Leib ist Erscheinung wie diese audi und in ein Gefüge geordnet, auf das der Verstand sich, als prinzipielles Vermögen der Synthesis, mühelos bezieht und beschränkt.

Abgrenzung gegen Poincari

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Es kann nidit darum gehen, an die Stelle des kritischen Raumbegriffs Kants einen anderen zu setzen, etwa einen von dem Phänomen leiblicher Bewegung zu den Dingen oder zu der Position ihrer „optimalen Gegebenheit" (Husserl) ausgehenden RaumbegrifT. Solchen Beschreibungen fehlt die Reflexion auf die Möglichkeit der objektiven Gültigkeit der Sätze in dieser Beschreibung. Es kann sich nur darum handeln, nach den Bedingungen zu fragen, unter denen sich das Subjekt als dies mühelose Tun verstehen kann gegenüber der Erfahrung des Gegenteils, der Arbeit, ohne die es bekanntlich nicht existierte und nicht über sidi und die Dinge philosophierte. „Si maintenant nous voyons que deux objets ont consent leur position relative par rapport ä notre corps" — was Bezug auf den Körper heißt, wurde soeben ausgeführt — „nous concluons que la position relative de ces deux objets Tun par rapport 4 l'autre n'a pas chang£; mais nous n'arrivons L· cette conclusion que par un raisonnement indirect"**. Der Raum, die Form der Dinge als außer uns, ist in diesem Schließen konstituiert*7. Aber die Prämissen enthalten die Voraussetzung, daß die Lage in bezug auf den eigenen Leib gleidi geblieben ist. Ein räumliches Verhältnis wird zufolge des Begriffs der Identität beurteilt, und das ist die verschwiegene Schwäche dieser Theorie. Verschiedene Gegenstände werden darunter subsumiert, daß sie in bezug auf meinen Körper ihre Lage nicht verändert haben. Mein Körper ist als tertium comparationis gesetzt und nicht Ding wie andere Dinge. Auch in Poincar£s Erschließung des Raumes liegt ein Paralogismus, hier aber aus Mangel an transzendentallogischer Überlegung. Wenn man den Kantischen mit dem Poincarischen Raumparalogismus vergleicht, wird der Unterschied zwischen dem sich aus der metaphysischen Tradition heraus verstehenden Denken Kants und moderneren Theorien sehr deutlich. Bei Kant geht es um den Begriff des Subjekts von sich selbst, das sich als Urteilsvermögen, also als Verstand, voraussetzt. In diesem Zusammenhang wird bei Kant über den Raum philosophiert. Bei Poinca^ wird umgekehrt von einem Subjekt ausgegangen, das sich als erfahrendes voraussetzt und dem es um eine nachträgliche Theorie seiner Erfahrung geht. Mit der Voraussetzung, erfahren zu können, ist die Identifikation eines Vermögens mit einem Ding im Raum, nämlich dem Leib, bereits geschehen. Der Leib ist angesehen als ein durch dies Vermögen ausgezeichnetes Ding. Er kann in dieser Weise angesehen werden aufgrund der Erfahrung der Selbstbewegung zu den Dingen, auf deren Weg ihm leibliche Anstrengung abverlangt wurde, so daß er in 6

* Poincari, a. a. O., S. 79 f. Hervorhebung Vf. " Vgl. die Bemerkung Berkeley's, der Sehraum sei aus bestimmten tastbaren Beziehungen „erschlossen*. A new Theory of Vision and other Writings, London 1938, S. 37.

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Raum und logische Form

dieser Aktivität zugleich leidendes Objekt war. In der Erfahrung der „äußeren" Dinge erfährt er sich immer zugleich „innerlich" selbst. Die Identität mit sich selbst, die dem urteilenden Verstand nicht eingelöste und nicht erfahrbare, transzendentale Voraussetzung aller Erfahrungsbestimmtheit als „reiner" Begriff ist, ist in der Erfahrung des Leibes immer unmittelbar da. Aber zu dieser Unmittelbarkeit fehlt hier der Begriff. Sie ist nicht für den Erfahrenden als Identität bestimmt, weil unmittelbar die Empfindung des Objekts sich nicht von der im Subjekt unterscheidet. Wo kein Unterschied sich zeigt, kann keine Synthesis statthaben. Es fehlt die Theorie der Erfahrung. „Wissenschaftstheorie" wird von der Voraussetzung unmittelbarer Erfahrung her eine Aufgabe, aber eine Aufgabe, die von dieser Voraussetzung her aporetisch erscheint. Der Raum ist als Medium angesehen, in dem sich der subjektiven Bewegung eine andere Kraft entgegensetzt, die sidi mit der von ihr aufzuwendenden aber völlig deckt. Er ist Medium der Trägheit. Jedenfalls ist er nicht absolut durchdringliches Medium. Das Subjekt erfährt (ihn) „intensiv". Eigentlich kann es von dieser Position her nur „intensiv", aber nicht etwas außer ihm selbst erfahren. Zu einer Theorie der Erfahrung gelangt es nur, wenn es, entgegen seiner Voraussetzung, den Raum ebensogut als etwas ansieht, in dem „Abstände" bestehen, als „Lagen" von aus ihm selbst herausgesetzten Gegenständen der Erfahrung. Wenn es von solchen Lagen der Dinge zu ihm selbst auf „objektive" Verhältnisse der Dinge „untereinander" schließt, um zu einem objektiven Gerüst für eine Theorie der Erfahrung zu gelangen, folgt es nur diesem eigenen Setzen. Sein Schluß ist ein Paralogismus, weil die Prämissen voraussetzen, was erst der Schlußsatz ans Licht bringen sollte, nämlich identifizierbare Abstände. — In der Arbeit kann also nicht die verborgene Voraussetzung für Kants Raumtheorie liegen. Die umgegekehrte Theorie, die von der Arbeit des instrumental verstandenen Leibes und dessen erlittener Erfahrung ausgeht, hat selbst ihre verschwiegene, umgekehrte Voraussetzung thetischer Art. Wenn eine Gerade zwischen zwei Punkten gezogen werden soll, ist zu den Punkten keine Zutat mehr erforderlich. Sie stellen schon in ihrer Zweiheit die durch sie führende Gerade dar. Das Übergehen vom Begriff fester Punkte zu dem der geraden Linie ist mühelos. Wichtig ist nur, daß es feste Punkte sind. Ihr Abstand muß nicht nur gleich sein, sondern im Verhältnis zu einem dritten, nicht auf der Linie liegenden Punkt gleich bleiben. Es muß ein Maßstab schon wegen der Definition von dem, was als gleich gelten soll oder „angesehen" wird, gegeben sein. Ein solcher Maßstab kann nur prinzipieller Natur sein. Er kann wohl der (früheren) Erfahrung entstammen und dann zum Prinzip erhoben worden sein.

Zur Problematik eines leeren Raumes

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Aber von Relevanz ist hier lediglich der Prinzipcharakter. Das Subjekt verläßt sich auf ein an die Erfahrung herangetragenes, subjektives Prinzip. Nur so verläßt es sich und kommt „zur Sache", zu einer Identität, gemäß der von „Objektivität" die Rede sein kann, und somit auch zu sich selbst als einem identischen. So erst gibt es „feste Punkte". Der Schluß Poincar£s kommt zustande, weil den Gegenständen an sich etwas zugesprochen wird, was sie gerade nur in bezug auf unseren Körper haben sollen, indem dieser Anstrengungen machen muß, sie zu erreichen, nämlich Lage. Der Paralogismus besteht darin, daß im Obersatz sdion von „Gegenständen" gesprochen und die Empfindung einer Kraft nach außen projiziert wird. Genau das ist aber die Raumanschauung, die sich erst durch den Sdiluß erklären soll. Die erste Prämisse erweist sich als gesetztes Vernunfbprinzip.

5. Zur Problematik der Kantisdien Vorstellung eines leeren Raumes als eines gegebenen Feldes formaler Operationen mit objektiver Gültigkeit Das Subjekt, das den Unterschied, den es macht, als einen an den Sachen selbst setzt, wird den gegenständlichen Untersdiied auch als reines Auseinander, als leeren Zwischenraum ansehen. Seit Demokrit blieb die Auslegung des Raumes als Leere thematisch. Sie ist allerdings, ζ. B. durch Aristoteles und Leibniz, auch immer wieder bestritten worden. Auch nach Kant kann man sich „denken..daß keine Gegenstände" im Raum „angetroffen werden"5®. Der Raum, in dem die Einbildungskraft ihre Figuren zieht, muß sogar wesentlich leer sein. Der Begriff einer kürzesten, d. h. doch: direkten, ungehinderten Verbindung zweier Punkte wäre in einer reinen Anschauung nicht konstruierbar, wenn nicht, wie die Bezeichnung „reine Anschauung" es ausdrückt, ein leerer Raum angesetzt wäre. Phänomenologisch ist der Begriff des Leeren wohl schwer zu erfassen. Der leere Raum ist nach Kant auch Produkt des Denkens und nicht der Einbildungskraft. Ihm liegt von der Voraussetzung des synthetischen Urteilsvermögens her der logische Gedanke einer Verschiedenheit dem Begriffe nach zugrunde: Das Urteilssubjekt als Substanz muß ohne seine begriffliche Explikation durch das Prädikat, d. h. in sich selbst, d. h. vor dem Urteilen, als bestimmt gedacht sein, und ebenso muß als Voraussetzung allen synthetischen Urteilens das Prädikat als etwas anderes als das Subjekt vorausgesetzt sein, ohne daß auch diese Andersheit M

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 24 Β 38/39. Hervorhebung ν. Vf.

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Raum und logische Form

in einem Urteil expliziert sein könnte. Die Begriffsbestimmung des Prädikats kann zwar nicht ohne Bezug auf ein Subjekt bestehen und nicht Substanz sein, aber sie muß als etwas, das ohne dieses Subjekt bestehen kann, gedacht sein, weil das Urteil sonst nur analytisch wäre. Die Verschiedenheit der Begriffe im Urteil bedarf, da sie als solche sich nicht in begrifflicher Explikation, also im Urteil, erst ergeben kann, des Verweises auf ein nichtbegriffliches Auseinander des in den Begriffen von Subjekt und Prädikat Vorausgesetzten. Da die im Urteil ausgesagte Einheit dieses Auseinander allein vom synthetischen Begriff ausgehen soll, bleibt es gleichgültig, ob die in dieser Voraussetzung auseinandergehaltenen „Stellen" besetzt sind oder nicht. Was sein kann oder nicht, ist, wenn es ist, zufällig. Erst durch die Synthesis im Begriff soll Notwendigkeit gedacht sein. Erst durch den synthetischen Begriff ist an den bezeichneten Stellen objektiv etwas. Daß an einem Ort nicht zwei Dinge zugleich sein können und also ein Ding nur gedacht sein kann, wenn der Raum ohne es als leer gedacht werden kann, ist der Widerschein des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, der dieses Denken bestimmt. Es begreift sich als Akt der Synthesis, die als Synthesis eines Subjekts mit einem Prädikat Notwendigkeit denkt und damit ein Andersseinkönnen „an Stelle" des Gedachten im wörtlichsten Wortsinn ausschließt. Nur eine Einheit ist in diesem Zusammenhang als Einheit einer Mannigfaltigkeit möglich. Die Leistungsfähigkeit von Synthesis ist, soweit sie Notwendigkeit ihrer Urteile mitsetzt, mit dem Bezug auf dasselbe Mannigfaltige in einem Akt erschöpft. Daß nacheinander verschiedene Dinge am selben Ort sein können und Synthesis auf Synthesis folgen kann, widerspricht dem nicht. In der Form der Zeit schauen wir uns nach Kant als Akt der Synthesis selbst an, so daß, wie schon zitiert, in ihr allein alles im Fluß ist und sich nichts konstituiert. Von Kant her ist zu verstehen, was es mit dem Demokratischen Gedanken der Leere auf sich hat. Dort hatte die Lehre von den Atomen und dem Leeren den Charakter einer bildlichen Vorstellung, die durch die angenommene Bewegung der Atome im leeren Raum und deren wechselhafte Zusammenballungen die Veränderung der sichtbaren Dinge, ihr Entstehen und Vergehen, erklären sollte. Diese Vorstellung zielte auf den Gedanken einer (blinden) Notwendigkeit hinter der uns erscheinenden Zufälligkeit", die sich ihrerseits aus dem zufälligen, blinden und deshalb für uns unabänderlichen Zusammentreffen der Atome ergeben sollte". Bei Kant kann Notwendigkeit nicht mehr als blinder Mechanismus hinter der Erscheinung erklärt werden. Sie ist Modalität der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, derzufolge mit objektiver Gültigkeit s

* Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 68 A 66. Ebd. 68 A 43.

M

Zur Problematik eines leeren Raumes

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„ist" gesagt werden kann. Das setzt voraus, daß diesem Urteil „nichts" vorausgeht und das Auseinander, das es verbindet, ein leeres (d. h. leer sein könnendes, höchstens zufällig erfülltes) Auseinander ist, das als reine Form zu den Bedingungen der Möglichkeit von „etwas" gehört. Bei Kant ist der Begriff der Leere kein Bild, sondern auf die Möglichkeit von objektiv gültigen Urteilen bezogener Begriff. In der Kantischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Urteile wird der Begriff der Leere terminiert. Der Begriff des leeren Raumes, mit dem das Leere begrifflich vom Nichts wie vom Sein geschieden wird, ist identisch mit dem des Raumes selbst. (Als Begriff des unerfüllten Auseinander liegt er auch dem der erfüllenden Ausdehnung zugrunde.) Er ist die Fassung des Gedankens, nach dem Nichts nicht nur nichts ist, aus dem auch nichts werden kann und das damit abgetan wäre; in ihm ist vielmehr Nichts nicht als nichts, sondern als reines Auseinander gedacht, dem zum Sein das Moment der Einheit abgeht. Aus dem Leeren kann zwar nichts entstehen, aber an seiner Stelle könnte unter bestimmten Bedingungen etwas sein. Da dies nach Kant, also in dem Zusammenhang, in dem das Leere seinen Begriff findet, subjektive Bedingungen sein müssen, repräsentiert der leere Raum dem Subjekt das Betätigungsfeld seiner Möglichkeit, und zwar als ein Feld, auf dem sich ihm nidits in den Weg stellen und auf dem es seiner Transzendentalität als Inbegriff der Bedingungen aller objektiven Realität durchaus gewiß sein kann. Die Leere ist das adäquate Bild dieses Selbstbewußtseins und tritt, als gesetztes Faktum, an die Stelle gegenständlicher „Weltbilder", wie ζ. B. des Demokritischen. Es kann nicht mehr um die Frage gehen, ob es (wo denn?) einen leeren Raum „gebe". Wenn das Subjekt sich überhaupt als Vermögen, im Hinblick auf Phänomene notwendige synthetische Urteile zu fällen, soll begreifen können, muß der Raum als leer gedadit werden können. Wenn dagegen gefragt wird, was ein Satz außer einer Funktion zur Einheit als gegenläufige Bewegung in seiner Auseinanderlegung in Subjekt und Prädikat denn sei, ist das Auseinander nicht mehr reine Bedingung der Möglichkeit, sondern wirkliches (wirkendes) Auseinander, das der Einheit oder dem Ineinander der Begriffe entgegenwirkt. Die Vorstellung der geraden Linie als der einfachen Verbindung zwischen Punkten, die nach Kant als unverbundene eigentlich gar nichts Räumliches, sondern konsequenterweise „bloß Grenzen"" sind, oder überhaupt einfache Verbindung, durch die sich der Raum als das, was er bei Kant sein muß, konstituiert, wird problematisch. Es wird problematisch, daß das jeweils Auseinanderliegende nidits sein soll als Grenze des in der Synthesis Zustandekommenden. " Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 419.

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Raum und logische Form

Was durch Synthesis zustande kommt, kommt durch Aufhebung des abstrakten Auseinander, also durch Aufhebung des der Synthesis gegenüber anderen zustande. Nichts als Aufhebung dieses anderen als anderen ist ja Synthesis. Sie ist identisch mit dem „Aufhören des Andern"' 1 an dem Etwas, das sich dadurch als in sich Identisches konstituiert. Es schließt dies andere, das Auseinander, als nur seine Grenze und als nicht sein Bestandteil aus sich aus. „Wo eine Linie aufhört, sind Punkte", definiert Euklid". „Nach dieser Verschiedenheit des Etwas von seiner Grenze erscheint die Linie als Linie nur außerhalb ihrer Grenze, des Punktes; die Fläche als Fläche außerhalb der Linie" usw.. Aber ohne die Grenze ist es unbegrenzt und „nicht von seinem Andern unterschieden"; „beide sind so DasselbeDie Grenze ist aber „ihre gemeinscbaflliche Unterschiedenheit". „Der Punkt" ist „nicht nur so Grenze der Linie, daß diese in ihm nur aufhört und sie als Dasein außer ihm ist" usw., „sondern im Punkte fängt die Linie auch an; er ist ihr absoluter Anfang. Audi insofern sie . . . als ins Unendliche verlängert vorgestellt wird, macht der Punkt ihr Element aus." „Diese Grenzen sind Prinzip dessen, das sie begrenzen"". Diese Sätze sind Argumente gegen den leeren Raum, wiederum nicht gegen ihn als objektives Phänomen, sondern gegen die Voraussetzung, unter der er gedacht ist, und gegen das entsprechende Bewußtsein. Kant hatte gefolgert, auseinanderliegende Punkte seien „bloß Grenzen, nicht selbst aber etwas, was den Raum als Teil auszumachen dient", im Unterschied zur Einheit der Apperzeption, die „etwas Reales" genannt wird, insofern die Einheit „derselben . . . schon in ihrer Möglichkeit"" liegt. Der der Synthesis entgegengesetzte Weg führt nach Kant nur zu Einschränkungen, also zu der Sache äußerlich bleibenden Bestimmungen. Wenn aber die Grenzen Prinzip dessen sind, was sie begrenzen, dann ist das Prinzip der Synthesis als Möglichkeit durch dies andere Prinzip eingeschränkt, das nun nicht Möglichkeit, sondern vielmehr das dieser Möglichkeit der Synthesis vorausliegende wirkliche Auseinander sein muß, bei dem sie nur als selbst wirkliche (und eben nicht als transzendentale) ansetzen kann. Sie ist dadurch bedingt. Eine bedingte Möglichkeit ist nicht mehr rein. Sie hat wirkliche Voraussetzungen. (Wie sich in der Entwicklung des hypothetischen zum disjunktiven Schluß zeigt, bestehen diese Voraussetzungen darin, daß Subjekte sie wirklich festsetzen.)

« Hegel, Logik I, S. 114. Euklid, Elemente, I, δροι, γ', γραμμής δέ πέρατα σημεία. Μ Hegel, Logik I, S. 114 f. ω Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 419.

ω

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6. Der Paralogismtts im Schluß auf etwas im Räume außer uns In der ersten Auflage (A) der „Kritik der reinen Vernunft" steht der „innere Sinn" mehr im Vordergrund als das räumliche Auseinander mit seiner besonderen Problematik. So heißt es dort, man könne „äußere Dinge eigentlich nicht wahrnehmen, sondern nur aus" der „inneren Wahrnehmung auf ihr Dasein schließen"; der Bereich des äußeren Sinnes fällt nach dieser Formulierung aus dem des unmittelbar Gegebenen heraus und der Unsicherheit anheim, die einem „Schluß von einer gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache jederzeit" eigen ist. Es bleibt daher „zweifelhaft: ob diese innerlich, oder äußerlich sei". „Dahingegen" wird „der Gegenstand des inneren Sinnes . . . unmittelbar wahrgenommen". „Die Existenz desselben" „leidet" „gar keinen Zweifel"". Die logische Subsumtion des Raumes unter die Zeit wird hier noch einmal vom Standpunkt der Gewißheit des in jeder dieser Formen Gegebenen wiederholt, und ausschlaggebend ist die Unsicherheit, die in der Schlußform steckt. Die zweite Auflage (B) fügt, um den Verdacht des „empirischen Idealismus" abzuwehren, den Abschnitt über die „Widerlegung des Idealismus" hinzu". In der Vorrede weist Kant auf diesen Abschnitt als auf die einzige „eigentliche Vermehrung, aber doch nur in der Beweisart", gegenüber der ersten Ausgabe hin. Er erweitert diese Hinzufügung in der nachträglich geschriebenen Vorrede noch um einige Sätze". Doch die Beweisart ist nicht unwichtig; Kant führt den „Beweis von der Objektivität der äußeren Anschauung", der in Α fehlte, denn dort war von Unsicherheit die Rede, nun gerade mit demselben logischen Mittel, das die Unsicherheit in sich hatte, nämlich mit einem Schluß: „Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus"". „Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und bedürfen, als solche, selbst ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden könne."70 Von einem „Gegenstand des inneren Sinnes" wie in Α ist in Β nicht mehr die Rede. Um die „Objektivität der äußeren Anschauung" dar· · A 368. " Β 274 ff. 98 Β XXXIX, Anm. · · Β 275. 78 Β XXXIX Anm. Dort gesperrt.

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zutun, ist es notwendig, den „Gegenstand" als beharrende Substanz in den Bereich des Äußeren zu verlegen und den inneren Sinn nur noch von den wechselhaften Zuständen dieses Beharrlichen affiziert sein zu lassen. Die Synthesis des Gegenstandes richtet sich direkt auf das Mannigfaltige des äußeren Sinnes, dessen Gegenständlichkeit als Substanz also unmittelbar aus dieser Möglichkeit der Synthesis hervorgeht. Da ich mir aber meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt bin und von solchen wechselhaften Bestimmtheiten meines Daseins auf ein Beharrliches schließen muß, erschließe ich die Einheit des Gegenstandes, zugleich aber auch dann das Vermögen, solche Einheit nicht nur in mir, sondern als äußeren Gegenstand zustande zu bringen. Das Erschließen der Einheit des objektiven Gegenstandes geschieht mit Hilfe der Prämisse, daß ein Wechsel sich nur an Beharrlichem finden könne. Das Erschließen des subjektiven Vermögens geschieht mit Hilfe des transzendentalphilosophischen Grundsatzes, daß Substanz nichts ist, das man als Ding an sich voraussetzen könnte, sondern die Synthesis von Anschauung zufolge dieser Kategorie bedeutet. Das aus dem inneren Sinn erschlossene Beharrliche ist also diesem Sinn gegenüber ein Äußeres, aber deshalb noch nicht Ding an sich, sondern ein in der Funktion der Kategorie „Substanz" vorausgesetztes Äußeres. Dies dem inneren Sinn gegenüber Äußere, aber dem transzendentalen Subjekt gegenüber doch noch „Innere", weil in seinem Grundsatz vermittelte, ist im Raum, soweit der Raum erschlossen ist als das, was er bei Kant sein muß: Auseinander, auf das sich die Synthesis als reine Möglichkeit beziehen kann. Paralogistisch daran aber ist die erste Prämisse, daß Wechsel nicht ohne Beharrliches zu denken sei, denn das, worauf sich die entsprechende Denkkategorie Substanz — Akzidenz erst erstrecken soll, wenn mit ihr objektiv-gültig soll geurteilt werden können, das Äußere der Anschauung, also die reine Anschauungsform Raum, wird in einer rein logischen Weise mit Hilfe dieser Kategorie erst erschlossen. Es handelt sich um die genaue Entsprechung zu dem „Paralogismus der reinen Vernunft", gegen den Kant sich kritisch wendet, weil darin vom „transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjekts" als etwas Seiendes geschlossen wird71. Nur wird statt auf die existierende Einheit des Subjekts hier auf die Einheit des vom Wechsel der Erscheinungen „in mir" verschiedenen Beharrlichen „außer mir" geschlossen. Der Begriff eines solchen Äußeren enthält ebenfalls für sich „nichts Mannigfaltiges". Das Mannigfaltige waren ja die bloßen „Vorstellungen" in mir. Die Kategorie wird zwar nicht im reinen Verstandesgebrauch, sondern auf das im inneren Sinn Gegebene ange-

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A 340 Β 397/98.

Der Paralogismus im Sdiluß auf etwas im Räume

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wendet. Mit ihrer Anwendung wird jedoch dieser Bereich von Gegebenem auf die „Realität" des im äußeren Sinn „Gegebenen" hin überschritten. Äußere Realität ist also nur über einen Sdiluß von einer Wirkung auf eine Ursache (nach A) oder (nach B) von wechselnden Zuständen auf eine beharrliche Substanz „gegeben". Der Sdiluß nach Β ist sicherer als der nach A, weil eine Wirkung noch „aus mehr als einer Ursache entsprungen sein kann"7*, mehrere Akzidenzien oder Zustände aber nur einer Substanz zugedacht werden. Daß ich sie als Wechsel desselben auffasse und nicht nur als ein bloßes Nacheinander oder Auseinander in meinem inneren Zustande, folgt allein aus der Voraussetzung, daß Mannigfaltiges zufolge der Kategorie der Substanz als Einheit zusammengefaßt werden kann und allein von dieser Möglichkeit her für mich da ist. Der so erschlossene Raum, der nach Α „unsicher" und „problematisch" wäre und den wir „bloß auf Glauben'''* anzunehmen hätten, ist nur deshalb nach Β gesichert oder sogar, wie Kant sagt, bewiesen, weil dem Erschlossenen, dem Verfahren nach Β zufolge, Einheit zukommen muß und es deshalb eine offene Stelle innerhalb der Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori mit objektiver Gültigkeit schließt. Es könnte gesagt werden, mehr als die rein gedankliche Möglichkeit apriorischer (und damit auch gesetzmäßiger aposteriorischer) Erkenntnis habe Kant nicht nachweisen wollen, und es gehe bei ihm nur um die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien mit objektiver Gültigkeit. Allein das Problem des Raumes zeigt, daß diese Möglichkeit rein als solche bei Kant gar nicht nachgewiesen werden kann, wenn zu ihrer Konstruktion nicht eben schon die Kategorien, um deren Möglichkeit es gehen soll, im Erschließen eines von mir verschiedenen Äußeren tatsächlich angewendet werden. Raum läßt sich weder im Ausgang von der Empirie (Poincari) noch von der Voraussetzung kategorialer Grundsätze her (Kant) „erschließen", weil im Schließen jeweils nicht oder nur zum Schein über den Ausgangspunkt hinausgegangen werden kann. Gerade eine durch Kants Kritik geschärfte Reflexion muß den „Paralogismus" in solchen Schlüssen entdecken, die auf etwas dem Ausgangspunkt gegenüber „Äußeres" abzielen, selbst wenn die Form des Schlusses im Sinne eines aristotelischen Syllogismus richtig ist. In dieser Einsicht kann sich das formal operierende Denken nicht mehr so verstehen, als sei ihm von seinem Instrumentarium her der äußere Raum in seinem Wesen erschließbar oder gar ein Feld seines logischen Operierens, mit dem es dann schon bei der Wirklichkeit wäre. Es wird eingesehen, daß eindeutige Bestimmtheit der Begriffe dem räumlichen 72

A 368.

" Β XXXIX, Anm.

Raum und logische Form

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•Miteinander gegenüber nur möglich ist, wenn Postulate „angenommen" werden, über deren Wahrheit es keine Entscheidbarkeit für das sie setzende Subjekt geben kann. Sie sind dem a priori entzogen. Der festgesetzte Inhalt solcher unentscheidbaren Sätze geht als Bedingung von Bestimmtheit in alle von ihnen her bestimmbare Erfahrung ein, so daß Erfahrung, wie sie hier begriffen wird, schon in ihrem Begriff als problematisch angesehen werden muß. Erfahrungssätze bleiben dann von den Bedingungen ihrer Bestimmtheit her im Bezug auf ihre Wahrheit problematisch.

7. Grundsätzliche Unvereinbarkeit einer formalen aristotelischen Logik mit den Absichten der Kantischen Kategorienlehre aus der Divergenz der zugrunde liegenden Raumvorstellungen Einen größeren Bogen spannt der Gegensatz zwischen Aristotelischem und Kantischem Denken. Kant war der festen Uberzeugung, die kritisch-philosophische Frage nach der Denkmöglidikeit eines objektiv gültigen Verstandesgebrauchs mit den Mitteln der aristotelischen formalen Logik behandeln zu können. Diese Logik ist für ihn die des Denkens überhaupt. Er stellt sich gar nicht die Frage, inwiefern solch eine Identifizierung auf Erkenntnis beruhen und was Erkenntnis in diesem Zusammenhang dann heißen könnte. Daß die Logik in dieser Gestalt „den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe", läßt sich nach Kant „aus dem Erfolg beurteilen"74, eben daraus, „daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen" und „auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können"". Immerhin spricht aber Kant in diesem Zusammenhang von der „Bearbeitung" von „Erkenntnissen". Zwar behandelt diese Logik „nichts als die formalen Regeln alles Denkens" und abstrahiert „von allen Objekten der Erkenntnis"". Die Frage nach der objektiven Gültigkeit ihrer Operationen braucht sie deshalb nidit zu stellen. Sie kann sie gar nicht stellen. Aber ob und weshalb diese Formen die „Formen alles Denkens" seien, ist eine inhaltliche Frage, bei deren Beantwortung audi die Frage erlaubt sein muß, ob es sich hierbei um eine Erkenntnis handle. Der bloße Erfolg kann gerade nach Kant kein Beweis dafür sein. Kant selbst bedient sich im Schluß auf Äußeres einer syllogistischen Figur. Deren Beweiskraft soll, im Schluß auf die Beharrlichkeit der Seele, trotz der formalen Richtigkeit nicht ausreichen, weil sie vom M Β VII. " Β VIII.

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Wechsel innerer Vorstellungen oder Zustände als dem Bereich innerer Erscheinungen über den Bereich der Erscheinungen hinaus auf die Einheit des Subjekts zurückschließe. Im Schluß auf ein von diesem Inneren verschiedenes Äußere soll diese Figur dagegen Beweiskraft haben. Es kommt bei dieser unterschiedlichen Bewertung also ein Gesichtspunkt hinein, der Aristoteles natürlich ganz fremd geblieben war. Er besteht darin, daß der Schluß vom inneren Sinn auf den äußeren Raum nach Kants Ansatz gar kein Sdiluß auf etwas anderes ist. Erst der Schluß auf „Dinge an sich" würde dem Paralogismus auf eine Beharrlichkeit des Subjekts als eines Seienden entsprechen. Mit dem Sdiluß auf den Raum verläßt man nach Kant den Bereich möglicher Erscheinungen nicht. Man interpretiert sie damit eigentlich erst als vom denkenden Subjekt unterschiedene, gegebene Erscheinungen. Auch äußere Dinge sind, nach A, „bloß Erscheinungen, mithin auch nichts anderes, als eine Art (Hervorhebung vom Vf.) ßleiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind. Also existieren ebensowohl äußere Dinge, als ich Selbst existiere, und zwar beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewußtseins, nur mit dem Unterschiede: daß die Vorstellung meiner Selbst, als des denkenden Subjekts, bloß auf den innern, die Vorstellungen aber, welche ausgedehnte Wesen bezeichnen, auch auf den äußeren Sinn bezogen werden. Ich habe in Absicht auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände ebensowenig nötig zu schließen, als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegenstandes meines inneren Sinnes, (meiner Gedanken), denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) zugleich ein genügsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist."" Der Unterschied zwischen innerem und äußerem Sinn ist demnach ein unmittelbarer Unterschied zwischen zwei Arten von Vorstellungen im Bewußtsein. Der Schluß vom Wechsel in der einen Art auf etwas Beharrliches in der anderen Art, der in Β vollzogen wird, verläßt gar nicht die Unmittelbarkeit. Deshalb ist er kein transzendentaler Paralogismus. So versteht Kant sich selbst. Der Zusatz der transzendentalen Logik, der einen aristotelischen Syllogismus noch als Paralogismus erscheinen läßt, besteht in der Einteilung der Vorstellungen in zwei Arten, die als Arten der Vorstellungen gleich unmittelbar sein sollen. Ein Schluß von der einen auf die andere, ob nun als Schluß auf eine Ursache oder eine beharrliche Substanz, erschließt nicht als reiner Vernunftsgebrauch etwas, was außerhalb der Vorstellungen läge und von dem wir als auf sinnliche Erscheinungen angewiesene Wesen nichts wissen könnten. Aber er bewegt sich doch von ' · ΒIX.

" A 370/71.

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der einen Art zur anderen. Diese Bewegung soll zugleich keine Bewegung sein. Der aristotelische Unterschied der Arten vom Genus wird so benutzt, daß der Schluß über die Art hinaus legitim, der über das sich in zwei Arten einteilende Genus der Vorstellungen überhaupt hinausgehende Schluß aber im transzendentallogisdien Sinn paralogistisch genannt wird. Indem Kant diese aristotelischen Topoi benutzt, unterstellt er den Unterschied zwischen Gattung und Art als objektives Verhältnis. Nur so erscheinen äußere Anschauungen, obwohl wir nach Kant „äußere Dinge eigentlich nicht wahrnehmen, sondern nur aus meiner inneren Wahrnehmung auf ihr Dasein schließen"78, immer noch als Wahrnehmungs- und noch nicht als reine Vernunftsgegenstände. Die Anschauung von etwas als objektives Verhältnis ist der ganzen Kritik vorausgesetzt. Die Einschränkung der aristotelischen Logik als Erkenntnisorganon setzt sie gleichwohl als solches voraus. Daß die Theorie wahrer Urteile, die die Kritik zu sein beabsichtigt, mit Schlüssen operiert, d. h. selbst Urteile als deren Prämissen voraussetzt, wird durch den Topos von Gattungs- und Artunterschieden eingeschränkt. Nur so kann zugleich über den Raum als Form äußerer Gegenstände und als Form, in der Gegenstände mir gegeben sind, gesprochen werden. Die Vorstellung eines Ineinanderenthaltenseins von Begriffen ist Voraussetzung für alle aristotelische Syllogistik. Schließen beruht auf der Vorstellung von mindestens drei Begriffen, die wie Arten in Gattungen in einer bestimmten Reihenfolge ineinander enthalten sind. Der mittlere (terminus medius) ist im oberen enthalten und enthält den unteren. Daß dies ein räumliches Schematisieren von Begriffen ist, auch wenn hier keine räumlichen Verhältnisse gemeint sind, wird meist nicht als hinderlich oder im Gegenteil sogar als willkommene Stütze der vorstellenden Phantasie angesehen. Es widerspricht aber dem Raumbegriff Kants, nach dem Empfindungen im Raum ungeordnetes Material der sie erst ordnenden reinen Struktur des leeren Raumes sein müssen, wenn gedacht werden können soll, daß unsere Begriffe die Wirklichkeit erreichen können und Begriffe von etwas sind. Der Raum selbst kann dann nicht gut auf dem räumlich schematisierten Verhältnis von Gattungs- und Artunterschieden beruhen, zumal die Vorstellung des Ineinanderenthaltenseins nicht eine Ordnungsmöglichkeit im leeren, sondern nur im erfüllten Raum sein kann: Es liegt am besonderen Inhalt meiner Vorstellungen und am semantischen Gehalt empirischer Begriffe, ob und in welcher Ordnung sie als ineinanderliegend vorgestellt werden. Begriffe als solche sind ursprünglich weder rein räumlich noch zeitlich. Den Kantischen Verstandesbegriffen ist es aber wesentlich, daß sie 78

A 368.

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rein zeitlich und nicht räumlich schematisiert werden. Eine transzendentale Zeitbestimmung ist „mit der Kategorie (die die Einheit derselben ausmacht) sofern gleichartig, als sie allgemein ist". Die Zeit „enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung"7* ganz allgemein, ohne nähere Bestimmtheit, einzig zufolge der Regel des Nacheinander. Sie entspricht daher in ihrer Allgemeinheit der Vorstellung eines reinen Materials für die allgemeine, transzendentale Einheit durch den Verstand, durch die erst Bestimmtheit in die Vorstellung gelangen soll. Der Raum enthält schon als reiner „eigene Verhältnisse", ζ. B. die Vorstellung verschiedener Richtungen in ihm, die der absoluten Einheit durch den transzendentalen Begriff nicht entsprechen. Er umfaßt audi nicht „alle" Vorstellungen, sondern nur die äußeren oder die der „Größen (quantorum)" und kann demnach audi nur die Extensionalität von Begriffen in ihrem Verhältnis zueinander verbildlichen. Das heißt, der Raum setzt besondere Begriffe in ihrem Größenverhältnis zueinander oder in ihrem Ineinanderenthaltensein voraus. Er ist so nur „reines Bild" und nidit allgemeines (transzendentales) Schema, nicht einmal das der „Größe ...(quantitatis)" überhaupt". Als „Schema sinnlicher Begriffe" oder „reines Bild" steht der Raum bei Kant zwischen dem sinnlichen Verbildlichen und dem transzendentalen Schema, der Zeit. Er füllt die Lücke zwischen dem reinen und dem empirischen Begriff, indem er empirische Begriffe rein im Verhältnis ihrer Extensionen vorstellt und damit das vorausgesetzte Vernunftsvermögen, logisch zu schließen, schematisiert. Er überbrückt somit die Differenz eines allgemeinen Vermögens zu den besonderen, empirischen oder sprachlichen Begriffen, die nur kraft ihrer besonderen sprachlichen Bedeutung einen „Umfang" haben. Die Lücke entsteht dann aber zwischen der Bestimmung des Raumes als transzendentaler Anschauungsform einerseits und als Schema sinnlicher Begriffe andererseits. Diese Lücke bezeichnet das Problem, daß der Raum, obwohl er wie die Zeit transzendentale Anschauungsform sein und von daher ein reines Mannigfaltiges a priori enthalten soll, doch zugleich schon als reiner die Möglichkeit von „Figuren" in ihm darstellen soll. Die „Figuren im Räume"81 sind das, was an ihm gegen» A 138 Β 177. A 142 Β 182. 81 A l 4 2 Β 181. — Auch bei der Konstruktion mathematischer Begriffe in reiner Anschauung a priori ist »ein einzelnes Objekt* als diese einzelne Figur erforderlich, um daran „Allgemeingültigkeit für alle möglichen Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören", auszudrücken (A 713 Β 741). Dieser Begriff ist als besonderer von den reinen Verstandesbegriffen zu unterscheiden. Die hier in Frage stehende „Allgemeingültigkeit" ist die eines Konstruktionsverfahrens unter der Voraussetzung, daß eine besondere Figur, ζ. B. ein Dreieck, als Zweck der Konstruktion gesetzt ist.

7

80

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über dem allgemeinen oder transzendentalen Schematismus der Zeit auf die besonderen, sinnlichen Begriffe, also auf etwas der reinen Transzendentalität des Subjektes gegenüber Äußeres verweist. Sagt man allgemein, Begriffe seien dadurch im Bewußtsein, daß sie als in- oder untereinander geordnet seiend begriffen werden, so gilt das nur für empirische, also nicht deduzierbare Begriffe. Dieser Bruch im Kantischen Raumbegriff überdeckt, solange er hingenommen wird, die Problematik einer Vereinbarkeit der aristotelischen Logik als Syllogistik mit den Forderungen der transzendentalen Reflexion Kants. Wie ein Syllogismus nur möglich ist, wenn Sätze als Prämissen gelten gelassen werden, so kommt Struktur als Voraussetzung möglicher Figuren nur durch als geltend gesetzte Axiome in „den" Raum, nicht aber durch ein transzendentales Prinzip. Das Kantische Prinzip aller Axiome der Anschauung, alle Anschauungen seien extensive Größen", gibt nur den „Begriff" der extensiven „Größe (quanti)" an die Hand, von dem her der Weg zu besonderen Axiomen, ja sogar zu dem Unterschied zwischen räumlicher und zeitlicher Extension, offenbleibt. Die räumliche Extension, unter deren Bild ja auch eine zeitliche erst faßbar wird, kommt im „Beweis" dieses Prinzips erst dadurch in „alle Anschauungen", daß, entgegen dem Ansatz der „transzendentalen Ästhetik" Kants, nun gesagt wird, „alle" Anschauungen seien räumlich und zeitlich. Das Problem des „Äußeren" wird so umgangen. Extensionalität wird dadurch als transzendentales Prinzip erliehen, und damit ist auch die angeblich transzendentale Begründung der „Evidenz" geometrischer Axiome erliehen. Sie bleibt in Wirklichkeit in der Irrationalität der sie behauptenden empirischen Subjekte verschlossen. Die Aristotelische Physik enthält keine Lehre über „den" Raum, der unmittelbare Evidenzen in apriorische Beziehungen gewährleistete. Sie handelt von „örtern" (τόποι) des Ineinanderenthaltenseins. Die Aristotelische Raumlehre schematisiert quasi die aristotelische Syllogistik. Sie handelt von einem Raum, der Schema eines Gefüges von Begriffen sein kann, die in der Kantischen Terminologie „sinnliche Begriffe" heißen müßten. Das sind nicht deduzierte, sondern aufgelesene, der Sprache entlehnte Begriffe. Entsprechend ist der Raum nicht aus einem Prinzip heraus begriffen, sondern unmittelbar so strukturiert, wie die Logik empirischer Begriffe, also die Syllogistik, es darstellt. Während es Kant um die Denkmöglichkeit synthetischer Urteile a priori zu tun ist und sein Raumbegriff von diesem Problem her gefordert wird, geht Aristoteles von fertigen Urteilen aus und reflektiert auf das syllogistische Gefüge der Begriffe vorgegebener Urteile. Diesem Gegensatz entspricht die Unvereinbarkeit der jeweiligen Raumvorstellungen: „Der" Raum muß nach 81

Vgl. Β 202 f.

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Kant als leer gedacht werden können. Bei Aristoteles ist er Beziehungsgefüge zwischen Seiendem verschiedener Extension. Extensionalität ist dem Raumbegriff bei Aristoteles vorgeordnet. Sie ist zunächst die von etwas. Etwas ist dadurch im Raum, daß es in anderem ist. Die unmittelbare Realität des Verhältnisses empirischer Begriffe, also audi deren Realität als Universalien, ist, wenn auch nicht unbedingt in einem ontologischen Sinn, so doch im Sinne gemeinhin geltender Bedeutungen vorausgesetzt. Nur äußerlicher „Probierstein" der objektiven Realität eines im Urteil ausgesagten Verhältnisses ist nach Kant die „Einstimmung" aller Urteile verschiedener Subjekte über dasselbe „ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander"8*. Von solchem äußeren Anschein, von dem her die Objektivität als wahrscheinlich gelten kann, geht Aristoteles in der „Topik", der ersten und für alle weiteren Systeme grundlegenden Logik" aus. Zwischen Syllogismus und Paralogismus steht hier der „dialektische" Schluß, der formal richtig ist, aber im Unterschied zum apodeiktischen Schluß von nur wahrscheinlich wahren Prämissen auf nur wahrscheinlich wahre Sätze schließt und somit das Formale des Schließens besonders rein enthält. Bemerkenswert ist der Terminus „Topos" für ein rein formales Kriterium der Verwendungsmöglichkeit der Prämissen in Schlüssen, um so mehr, als in der „Physik" die Raumtheorie ebenfalls als Theorie der örter (τόποι) abgehandelt wird. Die Vermutung eines systematischen Zusammenhangs zwischen „Topik" und „Physik" läßt sich durch einige Überlegungen stützen. Wahrscheinlich wahr sind Sätze, die allen oder den meisten oder den Weisen wahr zu sein scheinen8*. Wenn jemand von etwas in diesem Sinne gesagt hat, es sei ein Mensch, dann hat er auch gesagt, es sei ein Sinnenwesen; denn Menschen gelten allgemein als Sinnen wesen88. Von Wahrscheinlichem wird auf Wahrscheinliches geschlossen. Das Wahrscheinliche ist der vernünftigerweise eingenommene „allgemeine" Standpunkt, für den die Umstände sprechen. Der „Ort", den man mit einem Schluß einnimmt, besteht darin, daß man nur noch die formale Struktur dieser gegebenen Aussagen analysiert87, ohne genau zu wissen, wie man 88 84 85

88 87

Β 848/49. Vgl. J. M. Bochenski, Formale Logik, Freiburg/München 1956 S. 58 ff. Aristoteles, Topik, 100 a 30—b 22: ϊνδοξα δέ τά δοκοΰτα πασιν ή τοις πλείστοις ή τοις σοφοΐς . . . , im Unterschied zu den wahren und ersten Sätzen, die nicht erst durch anderes (μή δι' έτέρων), sondern durch sich selbst (δι* αυτών) glaubhaft sind. Ebd. 112 a. Das heißt zusieht, ob man das, was einem Ding zukommt, etwa für ein Akzidenz oder für eine Gattung oder für ein Idion erklärt hat (ebd. 109 a). Es handelt sich bei diesen Überlegungen im Grunde schon um sprachanalytische Ansätze, die hinter den grammatischen Bau zurückfragen und eine „objektive" logische Struktur

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dorthin, d. h. zu der Aussage selbst, gekommen ist, so daß man darauf fußend mittels der Schlußregeln anderes erschließen kann, das wie die Ausgangspunkte ebenfalls nur ein, aber genauso vernünftiger Standpunkt ist. Die „örter" der „Topik" sind formale Gesichtspunkte auf dem schwankenden Boden wahrscheinlicher Aussagen. Der Raum ist nichts sie inhaltlich Bestimmendes, sondern ihr über ihren eigenen Bestimmtheitsgrad nidit hinausführendes logisches Verhältnis untereinander. In der Abstraktion des formalen Operierens mit Relationen88 liegt die Differenz zur Platonischen Ideenlehre. Dort steht das Problem des inhaltlich-ontologischen Zusammenhanges (μέθεξις) zwischen Einzelnem und Allgemeinem im Vordergrund. In der „Topik" ist dies Problem, das die Ist-Aussage als Subsumtion eines Einzelnen unter ein Allgemeines im einzelnen Satz betrifft, dahingestellt. Es wird direkt zu der Frage des Schließens aus gegebenen, bereits akzeptierten Sätzen fortgeschritten8*. Der Sinn des „in" in der Lehre von der Immanenz des Eidos könnte darin liegen, daß es bei Sätzen, wie sie zum Schließen benötigt werden, genügt, daß sie als akzeptiert vorausgesetzt und nur noch einer Strukturanalyse unterzogen sind. Nur auf bestimmte Weisen des Ineinanderenthaltenseins von Begriffen richtet sich der Blick. Das setzt voraus, daß an der Vorstellung des Ineinanderenthaltenseins überhaupt als an etwas Unproblematischem festgehalten wird. Kants „transzendentale Topik""® setzt sich ausdrücklich gegen die „logisdie Topik des Aristoteles" ab. Dem Schließen als solchem muß nach Kant eine Überlegung in bezug auf den „transzendentalen O r t " der Begriffe vorhergehen, der sich danach bestimmt, ob der „reine Verstand" ihre Objekte „denkt, oder die Sinnlichkeit in der Erscheinung" sie gibt. „Ohne diese Überlegung mache ich einen sehr unsicheren Gebrauch von diesen Begriffen"". Es ist anstelle der formalen Analyse, ob etwas von etwas als Gattung, Idion oder Akzidenz ausgesagt ist, nach der Quelle der Erkenntnis gefragt. im Verhältnis der Begriffe ansetzen. Empirische Begriffe werden auf diese allgemeinen Arten von Begriffsverhältnissen hin untersucht. Diese allgemeinen Überlegungen der Topik können dennodi nicht als transzendentale verstanden werden, weil dabei die geltende Semantik sprachlicher Begriffe zugleich im Blick bleiben m u ß . 88 Vgl. die Definition des Raumes durch Leibniz als das, worin das „Operieren mit Beziehungen" vorgestellt ist (S. 5 dieser Arbeit). M Vgl. E. Rolfes, Einleitung der von ihm herausgegebenen Übersetzung der „Topik", Leipzig 1948, S. V. Rolfes verweist an dieser Stelle auch auf einen „leisen Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen einem allgemein verwendbaren Vordersatz und einem O r t im gewöhnlichen, räumlichen Sinne des Wortes" bei Aristoteles, Rhetorik II, 26, 1403 a 18. 80 K a n t , Kritik der reinen Vernunft, A 268 Β 324. · ' A 269 Β 325.

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Kant unterscheidet zwei Quellen, von denen die eine, die Sinnlichkeit, allein als unmittelbare Quelle soll gelten können. Er setzt deren Formen, den Raum und die Zeit, als Gegenstände voraus, die gegeben sind, ob nun (zufälligerweise) etwas gegeben ist oder nicht. Die transzendentale, die Quellen a priori befragende Topik verlangt als Form der Sinnlichkeit den leeren Raum und die leere Zeitfolge. Der Verstand urteilt wahr, wenn seine Begriffe sich darauf beziehen. So wird durch die transzendentale Topik eine sichere Urteilsgrundlage schon vor der Erörterung des rein logischen Ortes von Begriffen gelegt. Die Frage nadi dem (wahrscheinlichen) Urteil der meisten oder der Weisen fällt fort. Jede Theorie der Relation bleibt, wenn eine solche transzendentale Überlegung nicht vorhergeht, unsicher bezüglich der objektiven Relevanz des inhaltlich Gesagten. Das Postulat des leeren Raumes entspricht der Forderung nach Wahrheit und Bestimmtheit des einzelnen Satzes, die Aristotelische Raumauffassung dem Ansatz bei den Verbältnissen der irgendwie als wahr angenommenen Sätze, unter Abstraktion der formalen Struktur von der inhaltlichen Wahrheit und im Zusammenhang der Frage, inwiefern die gegebenen Aussagen ihrer formalen Struktur wegen mit anderen zusammenhängen und dadurch dritte hervorbringen, die ohne Hinweis auf diese Zusammenhänge mit anderen Sätzen, die „allgemein" akzeptiert sind, nicht ohne weiteres akzeptiert würden. Die „Schlußsätze" werden erst so als „wahrscheinlich" oder akzeptabel dargestellt. Der scheinbar rein formale Gesichtspunkt versteht sich teleologisch von dieser „rhetorischen" Wirkung her, deren Bedeutung aber nicht unterschätzt werden kann, wenn die gnoseologische Problematik eines Kriteriums der Wahrheit oberster Sätze und die damit zusammenhängende praktisch-philosophische Problematik des Angewiesenseins auf „angenommene" Sätze zugleich bewußt sind. Für Aristoteles hat es Sinn, etwas als wirklich anzunehmen, insofern es wirkt, also in einem Verhältnis zu anderem steht. So ist es für ihn dasselbe, „daß es . . . den Ort gibt" und „daß er auch eine gewisse Wirkung ausübt"". Räumliche Richtungen unterscheiden sich „nicht nur nach der Lage, sondern auch durch ihre Wirkung"*®, die unterschiedliche Richtungen überhaupt erst unterschiedlich bestimmt. Im Leeren oder in einem homogenen Medium könnte „sich nämlich nicht ein Ding mehr bewegen"*4. Es könnte keine Richtung bevorzugt sein. Das Leere hat 82

9S Μ

ού μόνον δηλοΰσιν δτι έστί τι ό τόπος, άλλ' δτι και Εχει τινά δύναμιν (Physik Δ 208 b 9—11). Ross kommentiert: „δύναμις means more than .significance'. The proper place of a body, according to Aristotle, has an actual influence on it" (Aristotle's Physics, hrg. v. W. D. Ross, Oxford 1936, S. 563.). . . . ού τη θέσει διαφέροντα μόνον άλλα χαΐ τη δυνάμει (208 b 21—22). μή ένδέχεσθαι μηδέ §ν χινεϊσθαι, έάν fj χενόν (214 b 30—31).

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keinerlei Unterschiede in sich". Bewegung setzt Dichteunterschiede im Raum voraus. Unterschiede der Erfüllung, also auch des Leerseins, sind bei Aristoteles die primären räumlichen Unterschiede und zugleich Ursache von Bewegung, so daß Erfüllung und Leere nicht abstrakt getrennt sind. Nur ein Körper, der einen anderen außen herum als Hülle hat, ist im Raum, der das nicht hat, nicht". Der Körper, der sich in einem relativ zu ihm ruhenden Medium so bewegt, daß dies Medium Wirkursache seiner Bewegung ist, ist räumlich bestimmt'7. „In-sein", nach Aristoteles die Hauptbedeutung des Raumes, meint also nicht das Ineinander von Räumen in Räumen nadi dem Sdiachtelprinzip. Dadurch würden unendlich viel Räume gefordert. Jeder Raum müßte in einem anderen sein bis ins Unendliche. Es ist das Verhältnis von Körpern, in dem der eine so in dem anderen ist, daß er von ihm in seiner Bewegung, in seinem Sein als ένέργεια, bestimmt wird. Vom logischen Gesichtspunkt aus wäre der umschließende Körper erste Prämisse. Seine „innere Grenze" zum umschlossenen Körper wäre der Mittelbegriff, den er mit jenem gemeinsam hat. Wie eng Aristoteles tatsächlich Raumtheorie und Logik zusammendenkt, geht aus einer Stelle in „De coelo" hervor, in der Bewegung als Veränderung von etwas her zu einem anderen hin®8 mit dem bekanntesten seiner logischen Beispiele verglichen wird, mit dem Gesundwerden als Veränderung von der Krankheit zur Gesundheit als zum sozusagen „natürlichen Ort"*® des Gesundwerdenden, über den diese Bewegung dann auch nicht mehr hinausgehen kann. Aber audi in der „Physik" werden räumliche Verhältnisse direkt mit logischen verglichen. Teile sind im Ganzen, wie das Weiße „im" Körper ist, weil dessen Oberfläche „im" Körper ist, und das Wissen „in" einem Menschen, weil sein vernünftiger Seelenteil verständig ist100. Dies Insein ist wie im logisdien Schließen in • 5 ού γ α ρ Ι σ τ ι ν οδ μάλλον ή ή τ τ ο ν κινηΰήσεται (214 b 32—33). " Τ Ωι μέν ούν σώματι Ιστι τι έκτος σώιια περιέχον αυτό, τοΰτο εστίν έν τόπο), φ δέ μή, οΰ (212 a 31 f.). " Aristoteles geht mit dieser Bestimmung so weit, daß nach ihm Körper, die sich wohl „in" einem anderen befinden, mit diesem aber zu einer gleichartigen Masse verbunden sind (συνεχές ή τό όμοιομερές, 212 b 5), so d a ß der umschließende f ü r den umschlossenen nicht durchdringlich ist und letzterer somit gewissermaßen nur eine potentielle Bewegungsenergie besitzt, auch nur der Anlage nach an einem O r t (κατά δύναμιν έν τ ό π φ , 212 b 5) sind. N u r der frei bewegliche Körper (τό κινητόν σώμα, 212 b 29), der nicht „gewaltsam festgehalten oder entgegen seiner „natürlichen", durch die auf ihn wirkenden Verhältnisse bestimmten Bewegung bewegt wird, ist an einem O r t und damit aktuell räumlich. Der Kaum ist ebenfalls das Medium, in dem Bewegung abgebremst (διά τί κινηθέν στήσεταί που, 215 a 19—20) und Widerstand geboten wird. Er ist Medium sowohl der positiven wie negativen „Beschleunigung". M Aristoteles, D e coelo, 277 a 14: εκ τίνος εις τι. ββ Vgl. Aristoteles, Physik 212 b 33: έν τ φ ο'ικείφ τόπφ. Ebd. 210 a 25 ff.

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einem Mittelbegriff vermittelt101. „Ort" ist ebenso die Grenze einer Bestimmung wie deren positives bestimmendes „Wesen", unter das das Bestimmte zu subsumieren wäre, so wie die „Bewegung" des Genesens in der Gesundheit ihre Grenze hat, über die sie nicht hinausgehen, sondern als in ihren „natürlichen Ort" nur einmünden kann. Die Endlichkeit jeder Bewegung1** entspricht der Endlichkeit jeder Bestimmung als Bestimmung an etwas. Etwas ist nicht mit seinem Bestimmtsein identisch; alle Bestimmtheit hat in der Art der Bestimmtheit (deren „Ansicht", είδος)1*1 ihre Grenze. Für die Selbständigkeit des Bestimmten (Substantialität) ist dies von Bedeutung. Aristoteles geht von der wirklichen Bewegung von Körpern aus, zu der Kant nicht gelangt; aber deshalb gelangt man von der Aristotelischen Theorie her nicht zur Möglichkeit, Bewegung exakt zu bestimmen, d. h. auch das sich bewegende Substrat in der räumlich-zeitlichen Bestimmtheit der Bewegung restlos aufgehen zu lassen. Der bewegende und der bewegte Körper bleiben unbestimmt und deshalb Moment der Unbestimmtheit auch der Bewegung1*4. 101

101 ,os 104

Vgl. den Kommentar von Ross zu 210 a 29—30: »The examples of whiteness and scientificness are introduced not, at this stage, as examples of a thing's being said to be in another κατά τι μέρος, but of the more general fact that an assertion which can be made strictly about a part may for that reason be made indirectly about the whole.' Bezeichnend ist aber, daß Aristoteles physikalische Verhältnisse wie (olov, 210 a 34. Ross: ,just as') die logisdien, in Anlehnung an logisch-sprachliche Strukturen begreift. Aristoteles, De coelo 277 a 27 ff. Ebd. 277a 18. Wolfgang Wieland trifft diesen Umstand, wenn er die Frage stellt: „Was ist nun eigentlich die aristotelische Physik?" und zu der Antwort kommt: „Sie ist in erster Linie eine Reflexion auf das, was man bei aller Erfahrung der Natur, dazu gehört aber auch: bei allem Reden über natürliche Dinge gewöhnlich schon undiskutiert vorausgesetzt hat, also vor a l l e m . . . die Fülle der Strukturen unserer Sprache. . . . Aristoteles bringt jenes in der Sprache latente Vorverständnis auf Begriffe. Deswegen darf man aber die aristotelische Philosophie nodi lange nidit im nominalistischen Sinn auslegen. Um von Nominalismus sprechen zu können, muß mindestens die Voraussetzung erfüllt sein, daß die Sprache vergegenständlicht ist. Eben dies ist aber bei Aristoteles nicht der Fall. . . . Die Sprache ist nodi nicht als eigenständiger Sachbereich verstanden, der mittels der Bezeichnungsfunktion auf eine sprachfreie und .objektive* Wirklichkeit verweisen würde" (Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, S. 339). Daß aber die Sprache vergegenständlicht wird, bleibt nicht aus, sobald die Frage nach der Wahrheit der einzelnen Sätze innerhalb eines Zusammenhangs sich stellt und die „natürliche Bewußtseinseinstellung", die „mit jedem sprachlichen Ausdruck unmittelbar zugleich eine bestimmte sachliche Struktur meint" (ebd.), verlassen ist. Sie ist sdion im „natürlichen" Hören auf Gesprochenes auch immer verlassen, nämlich indem man sich dabei fragt, ob das Gehörte wahr sein kann. Das Verweisen auf

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Wenn Kant den Raum als formale Anschauung und also als Bestimmtheitsgefüge bestimmt, geht es um die Auslotung dieses Spielraumes, den die Bestimmung von etwas unter einem allgemeinen Begriff übrig läßt. Was der Verstand begrifflich verknüpft, ist noch nicht in strenger Notwendigkeit verknüpft. Unter einer Begriffsbestimmung stehen unbestimmt viele einzelne, und jedes davon ist auch noch für sich selbst genommen etwas anderes, als die eine Begriffsbestimmung aussagt. Es ist nur dann nichts anderes, wenn die Bestimmung etwas bestimmt, insofern es gegeben sein kann, und nicht etwas, das als in dieser oder jener Qualität als gegeben vorausgesetzt ist und mit dieser (zufälligen) Qualität jenseits der Bestimmung bleibt. Unter dies hypothetische Urteil braucht dann nur das kategorische gesetzt zu werden, daß der Raumbegriff, in dem etwas als Gegebenes zugleich bestimmt sein soll, sich dem Begriffe nach mit dem Räume deckt, in dem tatsächlich Gegebenes angeschaut ist, d. h. daß der Raum als Gegenstand formaler Anschauung auch Form der äußeren Anschauung ist. Dann kann geschlossen werden, etwas sei nichts anderes als das, als was es bestimmt ist, d. h. synthetische Urteile a priori mit objektiver Gültigkeit seien möglich, ohne noch die Möglichkeit einer Zufälligkeit einräumen zu müssen. das Moment des Vermeinens einer „objektiven" Struktur entspricht schon einer einseitigen, die W a r t e des Sprechenden einnehmenden Auslegung dessen, was hier vorgeht. Wieland hebt zu Recht hervor, die aristotelische Physik sei „deswegen nicht nominalistisch, weil auch die Sprache selbst nicht nominalistisch ist" (S. 339. D o r t kursiv). Aber sie bietet doch audi dem sprachskeptischen Nominalismus den Ansatz. So kann W. Bröcker Wieland gegenüber auf ein sprach kritisches Moment bei Aristoteles verweisen: Aristoteles sei „weit entfernt davon, das, was die Sprache weiß, zu verwechseln mit dem, was sie meint' (W. Bröcker, Aristoteles, 3. Auflage, Frankf u r t am Main 1964, S. 249 f. D o r t keine Hervorhebung). Dem Umstand, d a ß Aristoteles sich in seiner Physik auf die Sprache zurückbeziehe, ist damit nicht widersprochen; es ist lediglich auf eine allem sprachlichen Verhalten selbst eigene kritische Komponente zusätzlich hingewiesen. Die Frage ist, wie aus dem N o minalismus als der Folge einer im umgekehrten Sinn einseitigen Auslegung der Sprache von einer generalisierten erkenntniskritischen Reflexion auf Sätze her, die als Gegensatz zu der entgegengesetzten „begriffsrealistischen" Einseitigkeit ihr Recht hat, wieder herauszukommen ist und wie das Problem der Sachhaltigkeit der in dieser Reflexion vergegenständlichten Sprache beantwortet werden kann. H i e r gibt Kant eine A n t w o r t . Aber er gibt sie f ü r einige naturwissenschaftliche Grundsätze, nicht f ü r alles „Reden über natürliche Dinge", unter der Vorstellung, es gebe eine evidente Struktur der Anschauung, d. h. einen formalen Gegenstand, auf dem diese Sätze beruhten, so d a ß nicht sie als Sätze der eigentliche Gegenstand der Reflexion zu sein hätten. Die Frage an K a n t muß sein, wie zugleich bei einer entsprechend kritischen Einstellung gegenüber dem bloßen „Meinen" des natürlichen Bewußtseins die Weite der Aristotelischen Reflexion auf das „Reden über natürliche Dinge" unter Menschen — und nicht nur innerhalb einer eineindeutig bestimmten Sprache einer Disziplin — zurückgewonnen werden kann.

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Der Einwand, die Zufälligkeit im kategorischen Urteil könne nicht durdi ein hypothetisches ausgeräumt werden, wenn unter dieses doch wieder ein kategorisches gesetzt werden müsse, kann nur außer acht bleiben, wenn der Inhalt dieses kategorischen Urteils als ein Topos angesehen wird, der vollkommen außer Frage steht und von dem her es nur noch, wie in der Aristotelischen Topik, auf seine Struktur hin unter dem Gesichtspunkt untersucht wird, ob es sich formal unter das hypothetische als Untersatz fügt. Es fließt dann mit unter und verbindet stillschweigend die im hypothetischen Urteil ausgedrückte Notwendigkeit mit objektiver Gültigkeit. Dann wird die Entwicklung des Gedankens auch nicht — wie in Hegels „Logik"1" — über den disjunktiven Sdiluß zur Auflösung des Formallogischen getrieben. Kant nennt diesen Inhalt genau in diesem Sinne „ganz natürlich"1". Es geht „ganz natürlich zu", daß das Subjekt den Raum sowohl als Form der äußeren Anschauung als audi als Gegenstand formaler Anschauung ansieht. Diese Natürlichkeit überspielt bei Kant den Paralogismus und die sonst als unvermeidlich zu begreifende Dialektik. Für Aristoteles sind die dialektischen Schlüsse von den apodeiktischen noch dadurch als unterscheidbar vorgestellt, daß letztere wahre Prämissen haben sollen. Ein dialektischer Sdiluß im Zusammenhang der Begründung der Möglichkeit wahrer Urteile müßte dagegen diese Unterscheidungsmöglichkeit aufheben. Die Frage, was nun die Natürlichkeit ist, die konstitutiv ist für den strengen Kantischen Begriff einer Natur als „Dasein unter Gesetzen", d. h. unter eindeutiger Bestimmtheit, kann weder Frage nach einem Gegenstand noch nach einem Prinzip sein. Der Vorgang selbst ist ja das doppelte Ansehen des Raumes sowohl als Prinzip als auch als Gegenstand, also der seiner gedanklichen Entleerung zu einem Gegenstand, der unabhängig von der sinnlichen Erfüllung in einer formalen Anschauung gegeben ist, und audi der Vorgang, in dem das denkende Subjekt sich den Begriff der Erfüllung des als leer verstandenen Raumes schenkt. Es findet sich kein drittes Wort. Denn das Ansehen des Raumes als Prinzip (der Sinnlichkeit) nimmt ihn ja schon als Gegenstand. Ein Urteil wie das, der Raum sei kein Gegenstand, sondern Prinzip, ist ein Urteil über etwas, nämlich eben über den Raum, der Gegenstand dieses Urteils ist. Genau dieses Urteil nimmt den Raum sowohl als Gegenstand (im Subjekt) wie auch nicht als Gegenstand (in dem Prädikat, er sei „Prinzip"). Es als Urteil ist der fragliche Vorgang. Dessen „Natürlichkeit" besteht darin, daß Menschen urteilen, auch ohne Begriff der objektiven Gültigkeit ihrer Urteile, und jeweils einen Satzgegenstand oder ein Subjekt voraussetzen und diesem ein Prädikat gegenüber105 loe

Vgl. oben S. 70 ff. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 619 Β 647.

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Raum und logisdie Form

setzen, das es näher bestimmt. Das Urteil besteht in der Spannung zwischen Gegenstand und Bestimmung. Daß Menschen urteilen und von daher Urteile als Material gegeben sind, ist Voraussetzung der Syllogistik, wie sie bei Aristoteles vorliegt. „Material" sind Urteile auch im Sinn der nicht aufgehobenen Spannung oder des Spielraums zwischen Gegenstand und Bestimmung. Der Kantische Begriff der Bestimmung beruht auf der gleichen Basis wie die aristotelische Logik, nämlich darauf, daß Menschen urteilen und Urteile vorliegen. Wenn er über diese Basis in der Richtung auf die objektive Gültigkeit, d. i. absolute Notwendigkeit als ein Nichtandersseinkönnen der Bestimmung, hinaus will, fällt er gerade darin hinter sie zurück. Denn sie impliziert die materielle Zufälligkeit ihrer Prämissen, von denen die obere die untere nur teleologisch, im Hinblick auf die conclusio, aber nicht absolut bestimmt. Entsprechend bewegt die oberste Ursache aller Bewegung nach Aristoteles als selbst unbewegter (unbestimmter) Beweger ώς ερώμενον107. Sie ist nicht erster mechanischer, quantitativ, also exakt bestimmbarer Anstoß, sondern oberstes Ziel eines nicht restlos determinierten Strebens. Diese Vorstellung trägt dem gegenseitigen sich Ausschließen von Bewegungsmöglichkeit und eindeutiger Determiniertheit Rechnung, wenngleich die Vorstellung des unbewegten Bewegers andererseits der Vorstellung eines schließlichen Zuendekommens aller Bewegung und damit dem Obergewicht der Bestimmung in der Spannung zwischen Bestimmung und Bestimmtem entspricht. Sie überspringt diese Spannung, indem sie das Moment der „Bestimmung" wiederum vergegenständlicht und dem „Gegenstand" als weiteren Gegenstand gegenübersetzt. Damit stellt sie das Moment der Bestimmung dem Gegenstand als andere Sache, als seine ihn bestimmende Ur-Sache gegenüber. Der Gegenstand ist dann eigentlich nur noch „inhärierender Modus". Kant ist es nicht entgangen, daß solcher „Subreption" eines obersten Gliedes einer Kette von Bewegungszusammenhängen, das selbst nicht mehr bewegt sein soll, keine Notwendigkeit innewohnt. „Was man als schlechthin notwendig zu erkennen vorgibt, davon muß auch die Erkenntnis absolute Notwendigkeit bei sich führen." 108 Es ist nicht einzusehen, inwiefern gerade an einer bestimmten Stelle in dem Fortgang der Reihe angehalten wird, wenn diese Reihe in ihren einzelnen Schritten nicht restlos geregelt ist. Wenn dagegen „die Erkenntnis absolute Notwendigkeit bei sich führen" soll, kann kein Gegenstand vor anderen Gegenständen in seiner Notwendigkeit ausgezeichnet sein. Von dieser Überlegung her ist das Ansehen des Raumes nicht nur als Prinzip der 107 108

Aristoteles, Metaphysik, 1072 b 3. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 612 Β 640.

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Sinnlichkeit, sondern audi als Gegenstand zwar ebenso Subreption, aber nicht spezifische im Hinblick auf einen besonderen Gegenstand als höchstes und erstes Glied eines transzendenten Bestimmungszusammenhangs, sondern transzendentale Subreption im Hinblick auf Gegenständlichkeit und Bestimmtheit der Gegenstände überhaupt. Was in der aristotelischen Philosophie nur für den unbewegten Beweger zutreffen soll und deshalb das Moment der Willkür an sich hat, wird bei Kant auf den Raum bezogen und damit auf alles ausgedehnt, insofern es nur vor dem äußeren Sinn gegeben ist. Diese Ausdehnung ist zugleich eine Einschränkung. Als Ausdehnung bezieht sie sich zunächst auf den Vorgang des Urteilens überhaupt. In jedem Urteil steht auf der einen Seite der Kopula ein Gegenstand, auf der anderen eine Bestimmung. Aber nicht in jedem Urteil ist der Gegenstand mit seiner Bestimmung identisch. Dies ist mit Notwendigkeit nur der Fall, wenn der Gegenstand beurteilt wird, insofern er gegeben sein kann und seine Bestimmtheit von der Form her erhält, in der er gegeben sein und die mithin auch als leere schon bestimmt sein kann. Nur dann bleibt kein Spielraum. — In diesem Sinn ist von Kant kritisch zu Ende geführt, was bei Aristoteles in der Vorstellung des unbewegten Bewegers angestrebt war und woraufhin der Aristotelischen Physik zufolge die Dinge als auf das Telos ihrer Bewegung streben: daß Notwendigkeit und Sein oder Prinzip und Tatsache in ihnen zusammenfallen sollen. Die reflektierende Urteilskraft, die ein Besonderes als in einem Allgemeinen „enthalten" denkt, ohne „durch das Allgemeine das Besondere" bestimmen zu können10*, so daß diesem „in" jenem Bewegungsmöglichkeit bleibt, geht in die bestimmende über, aber, wie der Raumparalogismus zeigt, wiederum nur zum Schein. Der Aristotelische und der Kantische Raumbegriff postulieren sich gegenseitig. Der Aristotelische postuliert den Kantischen in dem Zusammenhang, Bestimmtheit, von der bei Aristoteles nur die Rede ist und die als die vorgegebener Sätze der alltäglichen Rede aufgegriffen wird, selbst zu bestimmen. Dabei fällt der Kantische Versuch hinter die aristotelische Logik, auf der er zu basieren glaubte, zurück. Denn Basis ist sie nur, indem sie eingesehenermaßen vorgegebene Sätze zur Grundlage hat. Dem entspricht ein Raumbegriff als Begriff von Bewegungsverhältnissen, mit dem der in der transzendentalen Logik Kants geforderte Begriff eines leeren Anschauungsraumes ganz unvereinbar ist. Daß geurteilt wird, ist die Basis der formalen Logik. Kant versucht die Einschränkung dieser Basis auf eine Urteilskraft, deren Urteile a priori wahr sind. Diese spezifische Urteilskraft nennt er — im Gegensatz zu einem den Gegenstand der Urteile mit dem Urteil selbst erzeugenden Verstand — unseren auf die Formen der Anschauung be»oe Kant, Kritik der Urteilskraft, 348.

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Raum und logische Form

zogenen Verstand. Unserem Verstand bleibt das Besondere zufällig. Die Subsumtion des Besonderen unter ein Allgemeines ist ihm nicht in der Weise möglich, daß es aus diesem „abgeleitet werden" könnte" 0 ). Das allein könnte Notwendigkeit und objektive Gültigkeit des Urteils bewirken. Es bedarf der „Idee von einem anderen möglichen Verstände als dem menschlidien"111, um diese Möglichkeit zu denken. Das Urteil einer uneingeschränkten Urteilskraft, wie sie die formale Logik ja zuläßt, indem sie den Topos des nur formalen Zusammenfügens von Urteilen bezieht, können wir uns nur in Beziehung auf einen solchen anderen Verstand, der nicht der unsere ist, „als notwendig vorstellen"" 1 . Dieser andere Verstand ist insofern ein anderer als der unsrige, als er intuitiver Verstand ist. „Intuitiv" heißt, wie Kant in der zweiten Auflage der Kritik der Urteilskraft erläutert, daß er „negativ, nämlich bloß als nicht diskursiven" 11 ' zu denken ist. Für die bloß negative Bestimmung kann der positive Ausdruck „intuitiv" stehen, weil „unser" Verstand in der Anwendung der Begriffe auf Anschauung besteht und somit immer eine Anschauung als von ihm unterschiedene Wurzel der Erkenntnis voraussetzt. Darin besteht seine „Eigentümlichkeit" nicht als Verstand, sondern als „unser" Verstand. Ihn als besonderen Verstand in dieser spezifischen Differenz zu denken und einen anderen Verstand zu denken, ist dasselbe. Es werden nun aber teleologische Urteile gefällt. Sie haben in der „Idee eines Naturzwecks", also in der Vorstellung des Enthaltenseins der vielen besonderen Naturerscheinungen in einem Allgemeinen ein konstitutives und nicht, wie Urteile nach Ideen bei Kant sonst, ein nur regulatives Prinzip114. Darin zeigt sich offenkundig die Notwendigkeit, miteinander nicht identische Arten von Verstand anzunehmen. Indem „unser" Verstand über Besonderes urteilt, muß die Bestimmung, die dieses Urteil ist, als durch den „anderen" Verstand geschehen gedacht werden. Indem „unser" Verstand so urteilt, ist sein Gegenstand durch den „anderen" Verstand bestimmt. Gegebensein und Bestimmung des Gegenstandes fallen auseinander und geschehen nicht vor demselben transzendentalen Subjekt. „Wir" können nicht teleologisch denken, sondern nur im Hinblick auf ein mögliches teleologisches Denken teleologisch urteilen. Daß wir nicht teleologisch und daß wir mechanistisch denken können, ist dasselbe in anderer Formulierung. Der „andere" Verstand ist negativ gegen „unseren" bestimmt. Aber „unserer" auch negativ gegen jenen: die Möglichkeit unseres Denkens und Urteilens in dieser spezi110

Ebd. Ebd. 345/46. 111 Ebd. 348. »* Ebd. 347. 114 Ebd. 345. 111

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fischen Art besteht darin, daß „unser" Verstand sich auf Formen der Anschauung und nicht auf einen „teleologischen Raum" als Realraum im Aristotelischen Sinn bezieht. Daß sich „unser" Verstand gegen jenen „anderen" im Begriff seiner selbst absetzt, ist nichts anderes, als daß er den Vorgang vollzieht, den Kant „ganz natürlich" genannt hat. Als „natürliches Setzen" erscheint dieser Vorgang in dialektischer Formulierung. „Natürlicherweise" setzt der Verstand bestimmte in sich und damit für ihn zunächst zufällige Urteile, in denen er sich auf den Raum als formalen Gegenstand bezieht statt auf Angeschautes, als seine Prinzipien fest und den anderen Urteilen voraus. Er macht diese Scheidung, indem er den Raum als diesen formalen Gegenstand, als leer, also wie er nicht gesehen, sondern nur verstanden werden kann, ansetzt. Bestimmendes Urteilen stellt sich dar als negatives Sich-Abheben gegen teleologisches, in einem anderen Verstand bestimmtes Urteilen. Beide Arten des Urteils sind sozusagen unselbständige Extreme des Übergangs vom einen zum anderen, und das eigentliche Urteilen ist dieser Obergang als Auflösen einer Entelechie in mechanistische Vorstellungen. Anders ist keine Notwendigkeit in der Erkenntnis eines Subjekts möglich. Um einen geringeren Preis als diese Einteilung innerhalb der Subjektivkät ist Wahrheit undenkbar für ein Subjekt, das sich denkend allein auf sich selbst gründet. Das bestimmende Urteil ist bestimmend nur anderen gegebenen Urteilen gegenüber und damit erste Prämisse in einem Schluß, dessen zweite reflektierende Urteile sein müssen. Sie müssen von anderswoher, in einem anderen als dem bestimmenden Verstand bestimmt sein, so daß der Schluß nur unter dem Preis der Aufnahme dieser Unbestimmtheit zur Einheit von notwendiger Bestimmtheit und objektiver Gültigkeit gelangt. Kategorien sind nach Kant „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehnung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird"" 5 . Also Urteile als logische Funktionen sind bestimmend. Dann kann der zu bestimmende Gegenstand, nämlich die Anschauung von Gegenständen, auch nur ein Urteil, eine noch nicht notwendige Beurteilung des Gegenstandes sein, die nodi einen Spielraum frei läßt. Es muß eine Aussage über eine räumliche Beziehung sein, da ja eine Anschauung und, im Zusammenhang der Forderung nach Objektivität der Bestimmung, eine äußere Anschauung als bestimmt angesehen werden soll. Als Bestimmtheit im Raum kann es sich nur um die Zuordnung benachbarter Dimensionen handeln. Die reine Form des Urteilens (die reine „Funktion zu Urteilen") mit objektiver Gültigkeit erweist sich als räumliches Zuordnen; nicht als Zuordnen, wie man Dinge in einem Raum „in Ordnung" bringt, auch das " 5 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 128.

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wäre Teleologie, und von Dingen kann hier nicht die Rede sein, aber als ein Vorgehen, das dasselbe ist wie dasjenige, das den Raum dimensional aufbaut: Schreiten von einer Dimension zur anderen, ohne Wissen von einem über die jeweilige Bestimmung hinausreidienden Ziel11*. Das Schema dimensionalen Enthaltenseins (das auch die Vorstellung der Zeit „unter dem Bilde einer Linie", des Zeitpunkts auf dieser Linie einschließt) ist einfach. Sein Kriterium ist Bejahung oder Verneinung. Ein drittes gibt es nicht. Ein Punkt liegt auf einer Linie oder nicht. Eine soldhe (stets aposteriorische) Entscheidung setzt die (stets apriorische) Ansehung seiner als Punkt und damit als zu einer Linie gehörig in einer reinen Einbildungskraft voraus (Inzidenz). Dies Ansehen a l s . . . ist nun schon Synthesis, aber erst „Synthesis überhaupt" 117 , die noch „roh und verworren sein kann"" 8 . Ein P u n k t etwa ist ja nicht eindeutig dadurch bestimmt, d a ß er seinem Wesen nach auf einer Linie liegt. Das gibt erst die Möglichkeit seiner Bestimmung. Diese „Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstände zukommt" und wodurch er uns erst „Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft" 11 *. Was der Verstand als Vermögen zu urteilen dazutut, ist, d a ß er Einheit in die Anschauung bringt, so daß, um beim Beispiel zu bleiben, der Punkt nicht nur als solcher und damit als auf einer Linie liegend angeschaut wird, sondern daß gesagt werden kann, an welcher bestimmten Stelle er liegt und mit einer Stelle einer bestimmten Linie identisch ist. Der Weg geht also zu dem besonderen Faktum zurück, von dem sich die reine Einbildungskraft in seiner „Ansehung" als räumliches Verhältnis überhaupt gelöst hatte, und setzt diese besondere Bestimmung eines „einzelnen Objektes" 110 von seiner Ansehung als räumliches Verhältnis her unter den allgemeinen geometrischen Lehrsatz, so daß aus diesen beiden Prämissen ein Schluß gezogen werden kann. Dieses Können ist der Verstand. Der Mittelbegriff, in dem er vermittelt ist, ist Produkt der „reinen" Einbildung, hinter deren Begriff sich der Schlußcharakter der Verstandesfunktion und damit deren Angewiesensein auf zwei transzendental-topologisch verschiedene Urteile, ihre Gestalt als (transzendentalen) Paralogismus also, verbirgt. l1

· In der Konsequenz des Kantischen Gedankens is: die Annahme einer begrenzten Zahl von Dimensionen die Verwechslung der Anschauungsform mit einem angeschauten Ding von Eigenschaften, die ja in der T a t dem Begriff eines formalen Gegenstandes zugrundeliegt. Logisches „Enthaltensein" reduziert sich auf diesen scheinb a r unmetaphorischen Sinn.

117 118 119 120

K a n t , Kritik der reinen Vernunft, A 78 Β 103. A 77 Β 103. A 78 Β 103. Vgl. hierzu S. 91 dieser Arbeit, Anm. 81.

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Weiter als Kant hat Hegel diese Hintergründe durchleuchtet, wenn er schreibt, der Raum sei „das Dasein, worein der Begriff seine Unterschiede einschreibt, als in ein leeres, totes Element, worin sie ebenso unbewegt und leblos sind" 1 ". Leerheit, Bewegungslosigkeit und Leblosigkeit, d. h. nicht-teleologische Bestimmtheit stehen hier synonym. »Das Wirkliche ist nicht ein Räumliches". Es ist nicht in dem Sinne räumlich, daß es von einer Struktur „des" Raumes her restlos bestimmt wäre. „In solchem unwirklichen Elemente gibt es denn auch nur unwirkliches Wahres, d. h. fixierte, tote Sätze; bei jedem derselben kann aufgehört werden; der folgende fängt für sich von neuem an, . . . ohne daß auf diese Weise ein notwendiger Zusammenhang durch die Natur der Sache selbst entstünde." 10 Gemeint ist das Urteil in seiner reinen auf es beschränkten Funktion, während für Hegel erst der sich aus dem Inhalt von Urteilen ergebende Zusammenhang derselben über einen bestimmten (und nicht nur auf die Funktion zu urteilen hin bestimmten) mittleren Begriff wirklich ist, der flicht durch reine Einbildungskraft, als Ansehen als Punkt, Linie usw. zustande kommt, sondern als gegebener Begriff in gegebenen und deshalb auch unbestimmten Urteilen vorkommt. Hegel fällt nicht in das teleologische Denken des Lebens zurück. Er schreitet über das Urteil, wie Kant es als möglich begründet, zum Leben des Begriffes, in Richtung auf die „lebendige" Sprache fort. Dieser Begriff ist sowohl (im Obersatz) enthaltender als auch (im Untersatz) enthaltener. Er „bewegt" sich selbst. Dem gekennzeichneten Denken, das er das mathematische nennt, wirft Hegel vor, davon zu abstrahieren, „daß es der Begriff ist, der den Raum in seine Dimensionen entzweit und die Verbindungen derselben und in denselben bestimmt", indem er sich in seinem eigenen Umfang bewegt, also nicht darin fixiert ist und somit den Schluß möglich madit ,M . Er vermißt in diesem Denken, daß es „z. B. nicht das (dynamische, v. Vf.) Verhältnis der Linie zur Fläche"114 betrachtet. Der Begriff, der in sich den Raum in seine Dimensionen entzweit, muß selbst räumlich sein. Nur so bezieht er sich auf Räumliches außer ihm als Räumliches. Er ist selbst, durch sein Vorkommen in Sätzen verschiedener topologischer Herkunft, dialektisch und nicht in einem (eindeutigen) Verstand bestimmt. Bestimmt ist er in Satz und Gegensatz, gesprochen aus verschiedenen Standpunkten, die sich nur zusammenfügen, indem sie sich andere Möglichkeit von Bestimmtheit gegenseitig einräumen. Ohne daß sich an der zitierten Stelle bei Hegel ein direkter Hinweis darauf ergäbe, kann gesagt werden, daß sie den Kantischen 1,1

Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 37. Ebd. 12 * Ebd. S. 38. 114 Ebd. 111

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Raum und logische Form

Ansatz treffen soll und auch trifft, der als Einheit des Ich-denke in Korrespondenz zur Funktion des sich selbst genügenden Urteilens steht und in seiner Konsequenz zur Denkform des Schlusses und zu einem sprachlichen Zusammenhang nicht gelangen kann, obgleich er darauf beruht. Besteht die Funktion des Urteils in der „objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe""1, so ist sie nicht in einem wirklichen — denn ein wirkliches Subjekt ist sprachlich zu einem anderen hin bestimmt — sondern in einem als Abstraktion von Einheit bestimmten Subjekt begründet"*.

8. Zum Problem der Feststellung von Bewegung im Urteil

In Kants Kritik zeigt sich nicht nur, worauf Metaphysik eingeschränkt werden muß, wenn sie als Wissenschaft möglich sein soll. Streben nach Wissenschaftlichkeit könnte im Hinblick auf Metaphysik immer noch ein von außen an sie herangetragener Maßstab und die Verbindung von Metaphysik und Wissenschaft damit etwas Zufälliges sein. Es zeigt sich vielmehr zugleich, daß es für das sich selbst begründende Subjekt nur diese eine Möglichkeit geben kann, mit Bestimmtheit zu urteilen. Dieser Begriff der Wissenschaft ist nicht nur der irgendeines methodischen Vorgehens, sondern bestimmter der des mathematischen Bestimmens, der gerade darin sein Wesen' hat, in „reale Zusammenhänge" einzudringen, sich aller „Lebensbereiche" zu bemächtigen und Entelediien aufzulösen. Leibniz ist in diesem Zusammenhang (der nicht nur ein historischer ist, so daß es auch hätte anders gehen können, sondern ein systematischer) im bestimmten Sinne progressiv, selbst wenn er scheinbar mit der Wiederaufnahme der „fast schon verbannten substantiellen Formen", deren Anführung er selbst „ein großes Paradox" nennt"7 an vorkartesianisdie Traditionen anknüpft. Die Kritik an der Position des Descartes, Ausdehnung als Substanz zu verstehen, und die Einsicht, entgegen der bloß statischen Bestimmtheit der Natur den Begriff des Dynamischen einführen zu müssen, entspringen dem Wissen um das Ungenügen des rohen Kartesianischen Begriffs vom Raum. Leibniz erkennt, daß räumliche Qualitäten in bezug auf Klarheit und Distinktheit den sogenannten m

127

Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 140 § 19. Hegel verwendet den Terminus Raum, wenn er ihn Element des Unbewegten nennt, zunächst in der Bedeutung, in der audi Kant ihn verwendet. Aber zugleich zeigen sidi doch schon Hinweise auf die Notwendigkeit, den Raum als Begriff zu denken, in dem der Obergang von Dimensionen ineinander gedacht ist. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, Nr. 11, a. a. O., Bd. IV, S. 435.

Zum Problem der Feststellung von Bewegung

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sekundären nur graduell, aber nicht wesensmäßig etwas voraus haben118. So störend wie bei diesen die maßstäblich nicht erfaßbare Intensität ist bei jenen die Stetigkeit, der gegenüber Leibniz die Forderung nach Unteilbarkeit und damit Unräumlichkeit der Substanz erhebt. Der Raum wird unwesentlich und bedeutet nur etwas, insofern der subjektive Geist „nach einer Identität, nach einem Dinge, das wirklich dasselbe sei" (qui s o i t . . . la meme) sucht, und sich dann nach dem so gewonnenen Maßstab Verhältnisse metrischer Art vorstellt"'. Trennung von Räumlichkeit und Substantialität und damit Idealität des Raumes bedeuten bei Leibniz gerade Mathematisierung. Die Einführung des Begriffs des Dynamischen ist eigentlich die Einführung eines Begriffs zur mathematischen Erfassung auch des Dynamischen. Innerhalb rein mathematischer Ausdrucksweise bedeutet der Fortschritt durch Leibniz die Entdeckung der Infinitesimalrechnung, wohl der bedeutendste Schritt in Beziehung auf das Zustehenden des Subjekts als des Vermögens, bestimmt zu urteilen, Natur mathematisch erscheinen lassen zu können. Allerdings durchschaut erst Kant, daß die Abwendung von dem undifferenzierten Begriff der extensio bei Descartes für die Erkenntnis nur sinnvoll ist, wenn das Vermögen, klar und distinkt zu urteilen, zugleich auf Anschauung von Gegebenem in der reinen Form des Gegebenseins bezogen bleibt und der Raum nicht nur als ideell gedacht ist; mit anderen Worten, wenn der Fortschritt durch Leibniz gegenüber Descartes nicht als Verdrängung eines Raumbegriffs durch einen anderen, sondern als dessen Bestimmung verstanden wird. Bei Kant sind die Kategorien als Begriffe für Beziehungen nicht an die Stelle eines substantiell gedachten Raumes getreten, so däß der Raum nur noch die Ordnung wäre, „in4* der der Geist sich sein Operieren vorstellte, sondern sie haben nur Sinn, wenn durch sie die Anschauung, bzw. deren reine Form „in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird"130. Es ist also klar gesehen, was die Einführung dynamischer Kategorien schon bei Leibniz bedeutet, nämlich das genaue Gegenteil einer Wiederbelebung der substantiellen Formen oder Entelechien im alten Sinn. So haben denn auch in Kants Kategorientafel"1 die „dynamischen Kategorien" im Unterschied zu den „mathematischen" „Korrelate". Dieser Unterschied hat insofern „einen Grund in der Natur des Verstandes"1", als dadurch die dynamischen mit den mathematischen gleichnamig werden, indem so, was sonst unter den Begriffen des reinen Verstandes keinen Platz finden könnte, 128 129 130

131 138

Ebd. Nr. 12, S. 436. Leibniz, 5. Brief an Clarke, a. a. Ο., Bd. VII, S. 401. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 128.

A 80 Β 106. Β 110.

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Raum und logische Form

sich als reines Beziehungsverhältnis darstellt, das es erlaubt, etwa Kausalität als Funktion zu bestimmen. Nur in dieser Bestimmung kann Kausalität hier erscheinen. Seit seinen Jenenser Jahren ist für Hegel diese Philosophie Denken von einem festen „Standpunkt" aus, „den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixirt haben, eine mit Sinnlichkeit afficirte Vernunft" 1 *. In einem Standpunkt als solchem liegt Beschränktheit des Horizontes auf das „Gegebene"; das ist hier nicht das Sinnliche in der Fülle seiner Erscheinung, die Welt der Dinge, sondern das durch die Möglidikeit seiner Gegebenheit vom jeweiligen Standpunkt aus Abgesteckte und darauf Reduzierte, wobei „von einem Standpunkt her" nichts anderes heißt als Gegebensein für das sich nicht bewegende und in diesem Sinne nicht selbst im Raum seiende, sich in seinem reinen Fürsidisein verstehende Subjekt. So ist es nicht überraschend, wenn Hegel von der transzendentalen Reflexion schreibt: „Dieser Mensch und die Menschheit sind ihr absoluter Standpunkt . . . als eine fixe unüberwindliche Endlichkeit der Vernunft"" 4 . „Endlich" heißt hier dasselbe wie „unbeweglich", weil dem Standpunkt die Endlichkeit „bestehen bleibt" 1 ". Es wird prinzipiell als von einem Standpunkt aus gedacht, von dem aus die Wirklichkeit bleibt, als was sie festgestellt ist, ohne Bewegung oder Entstehen und Vergehen. Sie ist frei von Andersheit, Nichtidentität, weil ja der Standpunkt der Betrachtung sie der subjektiven Form ihrer Anschauung gemäß ansieht in der Abstraktion reiner Sinnlichkeit. Die Wirklichkeit geht auf in der Form ihres sinnlichen Präsentiertseins für das Subjekt. Aber auch hier soll Abstraktheit nicht einen falschen, sondern einen einseitigen philosophischen Standpunkt kennzeichnen. Man kann das Recht eines Standpunktes und seine Notwendigkeit, sich ehrlicherweise auf reine Sinnlichkeit zu beziehen, aus der Argumentation Hegels herauslesen. Sinnlichkeit ist das allgemeine Faktum, das „bestehen bleibt"; über alle Veränderung hinweg fällt sie in jeden feststellenden Blick eines einzelnen, endlichen Wesens, und das „höchste Abstraktum" der „Egoität" korrespondiert ständig dem „Ding" als „höchste Abstraktion""'. Das „Ding", von dem hier die Rede ist, ist nicht mehr entelechisch; die Sinnlichkeit, in der es angeschaut wird, ist bereits in einer „ersten Anwendung" „des Verstandes"" 7 geformt. Das Subjekt wird von ihr her nicht durch Perzeptionen bestimmt und damit bewegt. Vielmehr ist sie

133

157

Hegel, Glauben und Wissen, Werke, neu hrg. v. H. Glockner, Stuttgart Bd. 1, S. 291. Ebd. Ebd. S. 292. Ebd. S. 293. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 152.

1958,

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vom Subjekt her durch Apperzeption als einen Akt bestimmender Aufmerksamkeit vorherbestimmt und festgelegt. Die „reale" Einheit „Ding" ist in die feststellende transzendentale hinein aufgelöst. So muß es sein um der Objektivität der Erkenntnis willen. Was als Ergebnis dieses Vorgangs „Ding" heißt, ist die „Abstraktion der Position" im „Ding"118. Die Position eines Standpunktes bewirkt die Positivität des Dinges, sein Angeschautsein „als außer uns". Die Abstraktheit besteht darin, daß die transzendentale Philosophie bei der Notwendigkeit dieser Beziehung als einer der Identität des Subjekts erforderlichen Notwendigkeit stehen bleibt und nicht weiter nach den Umständen fragt, unter denen der formal unmögliche Schluß von einer „objektiv" nicht auszumachenden Position (Lage) des Subjekts auf die Position von „Dingen" „als außer uns" sich wirklich vollzieht. Diese Frage setzte einen Raumbegriff voraus, der über den Kantischen und von Hegel verwendeten hinausführt, indem er die Konstitution dieser auf feste Begriffe gebrachten Raumvorstellung nicht nur in ihrer logischen Notwendigkeit in Hinblick auf die Identität des Subjekts begreift, als Bedingung, die nicht fehlen darf, sofern diese Identität sein soll, sondern in dem wirklichen sprachlich-gesellschaftlichen Zusammenhang sieht, in dem Subjekte sich als Identität wissen. Nur so wäre der unter den Begriff des Raumes fallende Raum anders als rein ideell gedacht und damit eine Bedingung, die Kant für den Raum stellt, erfüllt. Erst mit diesem Begriff wären Anschauung von etwas als außer uns und urteilender Bezug zur Wirklichkeit, Feststellen von etwas als etwas, aus demselben Grunde heraus begriffen. Deshalb muß auch die Erörterung des Raumes im Hinblick auf die logischen Formen noch abstrakt bleiben. Die Abstraktheit wird hier sogar noch deutlicher, da sich der Zusammenhang selbst als ein bloß logisch notwendiger und damit als formaler ergibt. Zugleich wurde aber die Frage nach den logisch-mathematischen Bestimmtheiten des Raumes in ihrem philosophischen Zusammenhang erörtert und damit konkretisiert, ohne daß dabei allerdings einzelne Fragen dieser Bestimmtheiten, die in den Bereich der mathematischen Raumlehre gehören, hätten berührt werden können oder müssen. Hegel bezeichnet das Problem des synthetischen Urteils a priori „als die Idee, daß in dem synthetischen Urtheil Subjekt und Prädikat, jenes das Besondere, dieses das Allgemeine, jenes in der Form des Seyns, dieß in der Form des Denkens, — dieses Ungleichartige zugleich a priori, d. h. absolut identisch ist""·. Im „als" von „Feststellen als . . . " liegt die „Idee" der Identität des Ungleichartigen, auch der von Anschauen und Denken. Wenn es heißt, „daß die Kantischen Formen der Anschauung 138

Hegel, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 293. " · Ebd. S. 297. Hervorhebung v. Vf.

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und . . . des Denkens gar nicht als besondere isolirte Vermögen auseinander liegen"140, obwohl sie es im Zusammenhang der „Kritik der reinen Vernunft" müßten, weil der Verstand sich dort nur als Mittel auf das der Form der Anschauung nach unmittelbar Gegebene beziehen soll, spielt das wohl auf die Kantstelle Β 152—156 an, aus der Hegel frei zitiert, „daß der Verstand als transcendentale Synthesis der Einbildungskraft selbst die Einheit des Raums und der Zeit ist, und diese selbst erst möglich macht". Er nennt dies einen „der vortrefflidien Punkte dessen, was Kant über die Sinnlichkeit und Apriorität sagt"141. Wenn aber auch nach Kant ohne Verstandesbegriffe die Anschauung als solche „bloß bestimmbar" 1 " ist und „mithin noch gar keine bestimmte Anschauung enthält"14*, so denkt Kant doch wohl nicht das Bestimmbare und das Bestimmende in eins. Kant unterscheidet die Bestimmtheit der Einzelheit in der Anschauung144 von der im Begriffe14®. Er muß diese Unterscheidung aufrechterhalten, damit überhaupt apriorische Bestimmtheit gemäß der „Kritik der reinen Vernunft" möglich ist. Für Hegel dagegen ist das Einzelne als Allgemeines bestimmt, und somit können „bestimmbar" und „Bestimmtsein" gar nicht auseinanderfallen. Er projiziert eigenes Denken in Kant hinein — allerdings als Zuendedenken dieser Position im doppelten Wortsinn — wenn er betont, es sei „gleichgültig", ob der „in den Dimensionen seiner Form erkannte Verstand subjektiv oder objektiv gesetzt wird" und ob er, wenn er schon abstrakt einseitig aufgefaßt werde, „im Ich . . . intellektualisirt" oder „auch als Verstand der Natur" „in der Natur realisirt gedacht wird"14* und seine „Dimensionen" in ihr als „das bewußtlose System der Mannigfaltigkeit und Verknüpfung der Welt"147 erscheine. Es ist gleichgültig, weil beides derselben Abstraktionsstufe entspringt. Das eine ist zugleich mit dem anderen gesetzt, beide Seiten entspringen der allerdings nur logischen Notwendigkeit der gleichen Idee, an welche die Kantisdie Philosophie die Frage nach ihrer Wirklichkeit nicht mehr stellen kann. Es ist der entscheidende Punkt getroffen, wenn Hegel das Problem des synthetischen Urteils a priori, das oberste der „Kritik der reinen Vernunft" und auch der Schlüssel zu Kants praktischer Philosophie, in der die „Idee" der Freiheit im Mittelpunkt steht und der „Spinozismus" abgewehrt werden soll, auf das Problem der Form des Urteils überhaupt l « Ebd. S. 298. ' » Ebd. S. 357. 141 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 152. Β 154. 144 „repraesentatio singularis". Kant, Logik § 1, Akademie-Ausgabe Bd. 9, S. 91. 145 „repraesentatio per notas communes". Ebd. Vgl. auch Β 136 Anm. " · Hegel, Glauben und Wissen, a. a. O., S. 308. ,4 ' Ebd. S. 309.

Zum Problem der Feststellung von Bewegung

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als Einheit des Besonderen und Allgemeinen zurückführt und diese Einheit eine „Idee" nennt. Das kann nicht nur ein vager Ausdruck sein. Ideen gehören nicht zum urteilenden Verstand, sondern zur Vernunft, „welche nichts Anderes ist, als diese Identität solcher Ungleichartigen"148. Die in der Kopula des Urteils ausgedrückte Identität ist Idee der Vernunft, jedoch nur ein abstraktes Moment derselben: Im Urteil ist die Vernunft „in den Gegensatz versenkt". Die Verbindung der Kopula „ist nicht ein Gedachtes, Erkanntes, sondern drückt gerade das Nichterkanntseyn des Vernünftigen aus"14'. Audi hier sind Form des Urteils wie des Raumes die des Andersseins der Vernunft. Beides sind Formen der Fixierung, bloße, nur logische Form. Die kopulative Synthesis des Auseinander im Urteil drückt lediglich eine funktionale Beziehung aus und fixiert damit die nur so Bezogenen als Getrennte. In dieser Stabilität deckt sie sich mit der Form dieses Auseinander. Der starren, nur eine funktionale Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat ausdrückenden und sie somit getrennt haltenden Kopula entspricht auf der Stufe der Vernunft und damit des Schließens der „Mittelbegriff"'". Er ist beides: Subjekt in der einen, Prädikat in der anderen Prämisse. So ist er dem Zusammenhang der Hegeischen Ausführung nach sowohl Seiendes wie Gedadites, Besonderes wie Allgemeines. Die Kopula des Urteils ist subjektive Synthesis des Verstandes und in all ihren Kategorien letztlich an der transzendentalen Einheit der Apperzeption festgemacht. Dabei kann der Standpunkt Kants für den urteilenden überhaupt stehen, da auf diesem Felde schwerlich über Kant hinauszugelangen sein wird. Aus dem „ist" im Urteil heraus ein vorontologischeS Seinsverständnis bezeugt zu sehen, verkennt wohl die Bedeutung von „ist" in der Sprache überhaupt. Wenn die Sprache irgendwie einen ontologischen Horizont geben soll, dann sicherlich am wenigsten auf dem Weg der Abstraktion von „ist" aus dem konkreten, in der Situation erst voll bedeutenden sprachlichen Zusammenhang.

148

Ebd. S. 297. "· Ebd. S. 300. Ebd.

DRITTER

ABSCHNITT

Raum und die transzendentalen Kategorien

1. Begriff einer in formalen Operationen nicht zu bestimmenden Natur Innerhalb der Kantischen Kritik des Vermögens, mit objektiver Gültigkeit zu urteilen, ist der Apparat der formalen Logik erschöpft, ehe die Möglidikeit von Urteilen, die die Wirklichkeit betreffen, erwiesen werden kann. Die Notwendigkeit von Urteilen ergab sich unter der Voraussetzung eines hypothetischen Urteils, also im hypothetisdien Schluß, der aber, der objektiven Gültigkeit wegen, wieder ein kategorisches Urteil verlangte, das nur als disjunktives nicht mehr subjektiv-zufällig ist. Es ist eine vollständige Disjunktion, daß der Raum entweder als Prinzip der äußeren Anschauung oder als Gegenstand einer formalen Ansdiauung angesehen ist, denn das sind die Alternativen, die hier überhaupt in Betracht kommen. Daß von diesen beiden Seiten einer vollständigen Disjunktion beide zutreffen, in einem Umschlagen der einen Seite in die andere, so daß es keiner empiristischen Entscheidung darüber bedarf, welche nun „zutrifft", ist als„Tatsache" angenommen, weil sonst unverständlich bliebe, inwiefern überhaupt ein Urteil eine objektive Tatsache ausdrücken könnte. „Raum" ist ein Phänomen, das sich nicht nur nicht eindeutig beschreiben oder analysieren läßt, sondern sich in einer transzendentalen Überlegung als dialektisches zeigt: als die nicht eindeutig zu fassende Gegenständlichkeit unseres Urteilsvermögens oder der allgemeinen Zuversicht, daß das, was man sagt, wahr sein kann. In diesem Sinne bewegen wir uns als sprachliche Wesen im Raum. Daß das, was man sagt, wahr sein kann, also die Wahrscheinlichkeit gewisser Urteile, war der Ausgangspunkt der Aristotelischen Topik und Physik. Was wahr sein kann, muß aber nicht wahr sein. Wir bewegen uns als Skeptiker im Raum, also so, daß wir uns aus dem Raum der Zuversicht in die Wahrheit von Urteilen ebensogut hinausbegeben und die Frage stellen können, unter welchen Bedingungen ein Urteil wahr ist und als objektiv gültig angesehen werden muß. Wenn diese Fragestellung zu dem Resultat führt, Notwendigkeit sei Urteilen nur zuzu-

Begriff einer formal nidit zu bestimmenden Natur

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sprechen, wenn der Raum sowohl Prinzip als auch Gegenstand sei, führt das anscheinend zum Ausgangspunkt zurück, daß der Raum beides ist und wir uns in dem Raum bewegen, der die Gegenständlichkeit davon ist, daß Urteile wahr (objektiv) sein können. Aber das ist nun nicht mehr eine Zuversicht in die Wahrheit der Aussagen „der meisten oder der Weisen", sondern Resultat einer transzendentalen Überlegung. Die Voraussetzung, die die formale Logik macht, daß es Urteile gibt und Aussagen, die irgendwie für wahr gehalten werden, aufgegriffen werden können, ist nidit mehr vorphilosophische Voraussetzung, sondern Ergebnis der Philosophie selbst. Es bedeutet, daß wir uns nur insofern aus dem Raum fraglosen Fürwahrhaltens von Urteilen hinausbegeben, als wir zugleich darin verweilen. Nichts anderes kann es heißen, das transzendentale Subjekt sei zugleich empirisches Subjekt. Von diesem Resultat her ergibt sich der Begriff einer Natur, die nicht mehr als gegenüberliegender Gegenstand der Urteile verstanden werden kann, so daß zu fragen wäre, wie sie in Urteilen zu erreichen sei. Dem Resultat nach sind Urteile das erste. Aus ihnen läßt sich ein Gegenstand der Beurteilung abstrahieren. Als dergestalt abstrahierte sind die Gegenstände „insgesamt im Räume". Sie sind in ihrer Vorstellung, nach der sie ein bestimmtes objektives Raumstück einnehmen, „Einschränkungen"1 des Raumes, der die Gegenständlichkeit des Fürwahrhaltens der Urteile ist, als deren Objekte sie abstrahiert worden sind. Diese Abstraktion ist diese Einschränkung: Die Einschränkung des Fürwahrhaltens der Urteile setzt deren Gegenstände als Gegenstände möglicher anderer Urteile aus dem Urteil heraus und läßt das Urteil als Urteil über sie erscheinen. Das Urteil ist dann eine subjektive Zutat ihnen gegenüber. Der Raum, in dem die Gegenstände „insgesamt" sidi befinden, insofern sie „außer" dem urteilenden Subjekt liegen, ist das Prinzip dieser generellen Einschränkung, die als kritische Einstellung gegenüber Urteilen die Gegenstände als den Urteilen vorausliegende Gegenstände erscheinen läßt. Er ist das Prinzip der Sinnlichkeit, insofern damit die Möglichkeit des Subjekts gemeint ist, es vor der Beurteilung von Gegenständen mit solchen sdion zu tun zu haben. Der kritische Verstand begreift sich bei Kant als Einschränkung eines „anderen" Verstandes. Seine Möglichkeit zu urteilen ist diesem gegenüber reduziert. Der andere Verstand wird gedacht, um „die Möglichkeit einer... Zusammenstimmung der Dinge der Natur zur Urteilskraft... wenigstens denken zu können"8, also um gegen solche Möglichkeit auch die Möglichkeit einer fehlenden Zusammenstimmung zu denken. Im Begriff „unserer" eingeschränkten Urteilskraft ist gedacht, daß ihr etwas Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 25 Β 39. * Kant, Kritik der Urteilskraft, 348. 1

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(in Raum und Zeit) „gegeben" sein muß, das ihr vorausliegt und somit verfehlt werden kann. Das Gegebensein konstituiert sich negativ gegen jene Urteilskraft, f ü r die der Gegenstand ist, wie er beurteilt ist. Es konstituiert sich nicht als das absolut andere gegenüber aller Urteilskraft, sondern eben als deren Einschränkung, die niemals bis zum Gedanken der absoluten Unmöglichkeit der genannten Zusammenstimmung fortschreiten kann. Der Gedanke, daß Urteile wahr sein können, ist konstitutiv f ü r den Gedanken, daß Urteilen zu beurteilende Gegenstände vorausliegen. Dieser Gedanke impliziert aber den Gedanken eines anderen Subjekts, dessen Urteilen gegenüber ich kritisdi bin, so daß sidi mir in dieser kritisdien Einstellung die Differenz zwischen Gegenständen und Urteilen über Gegenstände, deren Subjekt ich bin, auftut. Der Gedanke eines solchen anderen Subjekts, der Gedanke von mir selbst als dem Subjekt von Urteilen und der Gedanke von Gegenständen außer mir, insofern idi midi als dies Subjekt verstehe, sind ein Gedanke. Dieser eine Gedanke ist der Konstitutionszusammenhang des Naturbegriffs, wie er als Resultat im kritisdien Durchgang durch die Philosophie Kants sich herstellt. „Raum" als das, „worin" alle Gegenstände „als außer uns" erscheinen, ist in diesem Resultat Prinzip eines Verhaltens, das deshalb spradilich genannt werden kann, weil es Verhalten gegenüber Urteilen ist, und zwar ein Verhalten, das sie weder schlicht akzeptiert noch von sich weist und darin — gegenüber einer in diesen Urteilen festgestellten „ N a t u r " — frei ist. Es ist, wenn man so will, vom Prinzip der Prinziplosigkeit geleitet, die dodi nidit Willkür ist, insofern das Subjekt in der einschränkenden Negativität gegenüber dem generellen Fürwahrhalten von U r teilen sich selbst an das sich darin konstituierende Gegebensein bindet, indem es zugleich mit diesem Verhalten Bedingungen reflektiert, unter denen Urteile als objektiv gültig einzusehen und also notwendig zu akzeptieren sind. D a ß es Urteile gibt, soll nicht mehr nur phänomenologisch aufgegriffen werden. Das Phänomen, daß gesprochen wird, kommt nur als Resultat einer transzendentalen Überlegung in Betracht, als ein Phänomen, zu dem als Antwort auf die Einwände des Skeptizismus gegen die Möglichkeit, um die objektive Gültigkeit von Urteilen zu wissen, zurückzukommen ist. D a ß gesprochen wird, kann schon deshalb nicht als Phänomen aufgegriffen werden, weil Gesprochenes nicht einfach „Information" ist. Es genügt nicht, daß in einem intentionalen Sinn alles Sprechen Sprechen über „etwas" sei. Es steht immer auch in Frage, ob das Gesagte w a h r und also aufzunehmen und damit für das hörende Subjekt etwas „von Bedeutung" ist. Es kann wahr sein. Es ist sinnvoll, wenn es wahr sein kann, aber schon nicht mehr, wenn zugleich ausgemacht ist, daß es wahr sein

Räumlichkeit der Natur im spradilidien Verhalten

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muß. Die Kantische Kritik ist dagegen der Versuch, über die Bedingungen der Möglichkeit nachzudenken, unter denen Urteile a priori mit Notwendigkeit objektiv gültig, d. h. bei Kant: wahr sind. Sie stellt sich als der Versuch dar, über die Position des Skeptizismus, es könne nicht gewußt werden, ob Urteile wahr seien, hinauszukommen, und geht damit auf die Position ein, die als Charakteristikum von Gesagtem die transzendentale Gewißheit der Wahrheit des Gesagten verlangt, durch die es dann eigentlich sdion als überflüssig angesehen und in seiner Phänomenalität ignoriert wird. Denn in ihr liegt ja zunächst beschlossen, daß die redenden Subjekte sidi von der Unterschiedenheit ihrer jeweiligen Einsichten her begreifen, so daß eines dem anderen etwas sagen kann. Aber in dem Versuch, auf a priori ausgemachte transzendentale Gewißheit zu reflektieren, meldet sich das ignorierte Phänomen der menschlichen Sprachlichkeit wieder, wenn es bei Kant auch nicht explizit zu Wort kommt. Doch im nicht eindeutigen, den Raum sowohl als Prinzip der Sinnlichkeit wie als formalen Gegenstand umfassenden Raumbegriff Kants, der kein Kantisdier Begriff mehr ist, stellt sich das sprachliche Verhältnis des Menschen zur Natur dar, in dem er sich immer zugleidi zu den Dingen als den Gegenständen, wie eigenes Urteilen sie bestimmt, und zu anderen Subjekten verhält und die mögliche Sicht des anderen mit in die eigene Sicht als deren eigene Begrenztheit einbezieht. Der Kantisdie Naturbegriff (als Dasein unter Gesetzen) verabsolutiert das Moment der Einschränkung der Sicht des anderen. Einschränkung wird zur Ausschließung, in der Ich sich als ausschließlicher Bezug auf sich selbst konstituiert.

2. Räumlichkeit der Natur im sprachlichen Verhalten Seit Plato, vor allem seit der Rhetorik des Aristoteles, ist Sprechen als ein dreiseitiges Verhältnis zwischen Sprecher, Gegenstand und Hörer angesehen: Ich sage jemandem etwas über den Gegenstand'. Die Teilung des Gegenstandes in das, worüber ich spreche (Thema) und das, was ich darüber aussage (Aussage), entspricht dem Verhältnis von Sprecher und Hörer zueinander: Im Bezug auf das Thema besteht Ubereinstimmung, als Thema ist es (intersubjektiv) bestimmt. Der Inhalt der Aussage dagegen ist als Bestimmtheit am Gegenstand zunächst nur dem Sprechenden einsichtig, dem Hörenden aber nicht. Er vernimmt sie nur vom Sprechenden her, mit der ganzen Unsicherheit, die solcher Vermittlung anhaftet. s

Vgl. Aristoteles, Rhetorik, A 3 1358 a 37—b 1: σύγκειται μέν γαρ έκ τριών ό λόγος, εκ τε τοΰ λέγοντος και περί ου λέγει καϊ πρός δν . . .

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Nur wenn eine solche partiale Identität im Hinblick auf den Gegenstand besteht, ist Sprechen sinnvoll. Bei vollkommener Identität wäre es überflüssig. Bei vollkommener Nichtidentität dagegen wäre es sinnlos, da nidit klar wäre, worüber geredet würde. Ist der Gegenstand in der sinnlichen Wahrnehmung, also als solcher gegeben, der als dem Urteilen prinzipiell vorausliegend angesehen ist, so ist er, zufolge seiner Räumlichkeit, zwar verschiedenen Subjekten möglicherweise gegeben; er bietet verschiedenen Subjekten aber verschiedene Ansichten dar. Er ist „abgeschattet"4. Daß er mit verschiedenen Subjekten, zwischen denen die Stimme sinnlich trägt, zusammen „im Raum" ist, daß er als einer also der Verschiedenheit seiner Beurteilung vorausliegen soll, macht aus, daß im Hinblick auf ihn sowohl Ubereinstimmung als auch Nichtübereinstimmung besteht5. Das Thema einer Aussage ist das Gemeinte. Ubereinstimmung über es besagt, daß auch der Hörer weiß, was gemeint ist. Die Bedingung der Möglichkeit dafür liegt in der gemeinsamen Situation, in der sich der Sprecher, das, worüber gesprodien wird, und der Hörer „befinden". Soll sich aber daraus Bestimmtheit eines Gegenstandes ergeben, so muß gesagt werden können, welches exakt die Bedingung der Ubereinstimmung ist, die zugleich die Bedingung der Bestimmtheit des Gegenstandes sein muß. Das „Dieses da" oder das deiktisch Gemeinte ist nur unter dieser Bedingung bestimmt. Die deiktische Bewegung ist Hinweis auf eine in ihrer völligen Verlautbarung unnötige Apodiktizität eines Urteils, das den Gegenstand bestimmt und damit seine Bestimmtheit oder Gegenständlichkeit ausmadit. Worüber in bezug auf seine Bestimmtheit Übereinstimmung besteht, das ist „mit einem Wort" oder sogar mit einer Geste „angedeutet". Die Ubereinstimmung kann sich auf so weniges erstrecken, daß sich unter Umständen allein aus der Aussage rückwirkend das Thema erklärt. In jedem Fall müssen alle „Diese da", d. h. alle durch bloße Deixis als Thema einer Aussage eindeutig Bezeichneten, so untereinander übereinstimmen oder als das gleiche bestimmt sein (gleich gültig sein), daß ihr Unterschied untereinander sich als bloß verschiedene Stelle aus ihrem Bestimmtsein selbst ergibt. Das deiktische Meinen ist der Hinweis nicht auf den Gegenstand (auf einen Gegenstand kann man nicht zeigen), sondern auf die Stelle des möglicherweise durch die Sprache als 4

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Vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Den Haag 1950, S. 91 f., bes. S. 95: „Das Abgeschattete ist . . . prinzipiell nur möglich als Räumliches (es ist eben im Wesen räumlich)." In diesem Sinne ist jeder Gegenstand, über den gesprochen wird, sinnlich und räumlidi. Der »unmittelbar" sinnliche ist sdion als „Gegenstand" Resultat einer Einsdiränkung seiner sprachlichen Vermittlung. Der Raum, in dem er an sidi sein soll, ist in Wirklichkeit der abstrakte, selbst von der Reflexion auf die logische Form des Urteils als des Ausdrucks der Erfahrung mit ihm abgelöste Raumbegriff.

Räumlichkeit der Natur im sprachlichen Verhalten

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Phantasma entfalteten Systems, in dem er bestimmt und durch welches er erst bestimmter Gegenstand ist*. Der deiktisch aufweisbare Gegenstand gerade hat keine individuelle, sondern vorerst nur eine allgemeine Bestimmtheit als Gegenstand überhaupt. Erst in der Aussage, um derentwillen er aufgezeigt wird, erhält er eine besondere Bestimmung. Nun bedeutet jede Aussage eine besondere Bestimmung des „gegebenen" Themas. Deshalb besteht prinzipiell kein Untersdiied zwischen den Stufen der Bestimmtheit. Jedes Hiema ist relativ zur Bestimmtheit, die es durch die Aussage erhält, vorerst unbestimmt und nur insoweit bestimmt, als es bestimmt sein muß, um gemeint werden zu können. Die deiktische Bestimmtheit ist Bestimmtheit als Bestimmtheitsmöglichkeit. Wird ein Gegenstand „räumlidi" genannt, insofern zwischen verschiedenen Subjekten partielle Obereinstimmung über ihn besteht, gleich um welche Stufe der Bestimmtheit es sich handelt, so könnte der Einwand erhoben werden, Räumlichkeit sei doch als Charakteristikum des sinnlich Erfahrbaren zu verstehen. Nun war es aber gerade die Frage nach dem von außen Affizierenden und nach dem Verhältnis von Innen und Außen, die Grundfrage der Subjekt-Objekt-Problematik, die die Geschidite der Philosophie in dieser Fragestellung mit Kant hinter sich gelassen hat. Es ergibt keinen Sinn, von „etwas" zu reden, wenn Bestimmtheit sich auf das affizierende Material der Sinne und nicht auf die Form der Ansdiauung (in der es eine bestimmte Stelle einnimmt) beziehen soll. Gleidiwohl ist dadurch das Moment der Rezeptivität nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, erst so ist es in seiner Möglidikeit und zugleich Notwendigkeit im Zusammenhang mit Bestimmtheit, an der auch die des Subjekts hängt, gedacht: Die Rezeptivität besteht darin, daß der Hörende vom Sprechenden als einem „anderen Subjekt" her die Bestimmtheit des Themas durch die Aussage vernimmt. Er vernimmt eine Bestimmtheit, die dem Thema in seiner vorgängigen Bestimmtheit, also soweit er selbst von sich aus urteilen kann, nicht notwendig zukommt, aber doch zukommen kann. Die vorgängige Bestimmtheit des Themas läßt sie zu, obwohl sie aus ihm nidit analytisch abzuleiten ist. Das vernehmende Subjekt räumt sie ein, aber es schränkt zugleich — zufolge des eigenen Eingeschränktseins als Urteilsvermögen gegenüber einem Subjekt, für das der Gegenstand im ganzen Umfang seines Urteils gegeben ist — die Notwendigkeit ein, solche Beurteilung zu akzeptieren. Der Zuwachs an Bestimmtheit, den der Hörende vernimmt, determiniert ihn nicht. Bei einem Bestimmtwerden durch empirisches Material müßte allerdings, sollte so etwas überhaupt gedacht werden können, an zwin• Vgl. K. Bühlers „Deixis am Phantasma", Spraditheorie, Jena 1934, S. 121 ff.

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Raum und die transzendentalen Kategorien

gende Notwendigkeit gedacht werden. Es steht beim Hörenden, ob er sich, bzw. seinen Gegenstand bestimmen läßt und sich auf das, was er vernimmt, einläßt. Läßt er sich darauf ein, so tritt er damit mit dem Sprechenden in Übereinstimmung über den Gegenstand, der unter dieser Voraussetzung Objekt im Kantischen Sinne wird. Insofern in diesem Werden kein feststehendes Prinzip absolut bestimmend war, ist der Kantisdie Begriff des Objekts auch wieder gesprengt, und das, worin die Subjekte ungeachtet ihrer Verschiedenheit „untereinander"7 übereinstimmen sollten, nämlich die Bestimmtheit des Gegenstandes in der Aussage über ihn, bleibt zugleich unbestimmt. Das Auseinander bleibt. Jedes Subjekt erzeugt in sich und für sich die Bedeutung des erklungenen und den Raum erfüllenden Sprachlauts. „Die Modificirung der Sprache in jedem Individuum zeigt eine Gewalt des Menschen über die Sprache"8, die der Macht der Sprache über ihn entgegenwirkt und somit einen freien Raum innerhalb der Grenzen, die die Bestimmtheit der Bedeutung innerhalb dieser Sprache zuläßt, offenhält. In jedem entstehen „entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe"'. Der sprachliche Begriff bleibt an den sinnlichen Laut, der den Raum zwischen Hörer und Sprecher erfüllt, indem er ihn „überbrückt", gebunden, auch und gerade an dessen Räumlichkeit, so daß „innerhalb dieser Sphäre" „eine sich gegenseitig bestimmende Theilung", ein Auseinander, „möglich" bleibt10. Der sprachliche Ausdruck „ich" ist insofern sinnlich-räumlich, als er wirklich, d. h. sinnlich-lautlidi ausgesprochen, die Möglichkeit des anderen einräumt (was der Hörer erzeugt, indem er ihn vernimmt, ist er selbst als jemand, der für sich Bedeutungen erzeugt) und nicht nur Prinzip ist, demzufolge jegliche Verschiedenheit in Einheit aufgehoben würde. Der Raum ist ein „sinnlicher" „Begriff", in dem dies begriffen ist11. „Raum" ist das der abstrakten Eindeutigkeit der Bedeutung in jedem sprachlichen Begriff in der Situation des Sprechens entgegenstehende (abstrakte) Moment des Spielraumes an Bedeutung, ohne das nicht verständlich wird, wie ich mit anderen so übereinstimmen kann, daß es sich in der Ubereinstimmung wirklich um andere handelt. Die nähere Bestimmung des Themas durch die Aussage geschieht durch eine Bedeutung, die als solche unbestimmter ist als das eindeutige (systematische) Zeigen auf das Thema, das ihr vorausliegt. Die sprachliche nähere Bestimmung hebt zugleich die Art der fixen Bestimmtheit ihres Gegenstandes, in der sie ihn zunächst deiktisch hat, wieder auf, beKant, Kritik der reinen Vernunft, A 821 Β 849. Humboldt, Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Bd. VI, S. 184. » Ebd. Bd. VII, S. 170. 1 0 Ebd. Bd. VI, S. 166. 11 Ebd. 7

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Begriff der Situation

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stimmt ihn in freierer Bestimmtheit, also zugleich zur Unbestimmtheit hin. Engere Bestimmtheit bewirkt sie nur relativ zu derjenigen, die auf ihr dann möglidierweise erst aufbaut, indem sie ferneren, aber jederzeit ausstehenden sprachlichen Bestimmungen eine „Grundlage" legt. Der Raum hat sich als das ergeben, was er bei Kant sein sollte. Er ist als dasjenige begriffen, was die widersprüchliche Formulierung „subjektive Form äußerer Anschauung" formal anzeigt. Das Subjekt verhält sich im sprachlichen Verhalten rezeptiv, aber es behält sich zugleich seine fernere Bestimmung vor. Es bezieht sich auf Äußeres und zugleich auf sich selbst, die determinierende Bestimmung von außen aus sidi ausschließend. Was sich für es bestimmt, liegt zuvor, von der zu geschehenden Bestimmung her gesehen noch unbestimmt, in seiner Anschauung und ist in ihr als einer Anschauung potentiell bestimmt, wenn auch gerade diese vorausgesetzte Identität des Subjekts sich mit der akzeptierten weiteren Bestimmtheit seines Gegenstandes von der Sicht eines anderen Subjekts her ändert. Sie ist Voraussetzung für diese Änderung und deren Folge zugleich, Identität als sidi erweiternde, wesentlich andersseinkönnende und darin hyletische Identität. Der Begriff der Erfahrung dürfte damit erst adäquat umsdirieben sein.

3. Begriff der Situation Auf diesem Hintergrund läßt sidi philosophisch begreifen, was mit „Situation", dem Im-Raum-sein des empirischen Subjekts als Subjekts, in einer Phänomenbeschreibung, die es nur als besonderes Objekt vor sidi hat, gemeint sein kann. Ein Subjekt ist insoweit situationsbedingt, als die Einheit transzendentaler Subjektivität seine Differenz zum anderen Subjekt, das Andersseinkönnen des Subjekts als Subjekts, nicht negiert und sein spradilicher Charakter (in dem es sich urteilend äußert) für die „Bestimmtheit" seines „Gegenstandes" und damit für die eigene Bestimmtheit als Subjekt wesentlich ist. Der Gegenstand stellt sich dem Subjekt, wenn das in der Form des Urteils Gesagte ihm etwas sagt, anders dar als zuvor. Die Form des Urteils kommt nicht nur als Synthesis, sondern auch als Form der Mitteilung zur Geltung. Unter dieser nicht a priori auszumachenden Bedingung konstituiert sich erst Übereinstimmung der Subjekte und eine transzendentale Einheit der Apperzeption, unter der synthetische Urteile a priori möglich sind". ls

Für die „Situation" einer Gesellschaft ist es wesentlich, inwieweit die Grenze des Bereichs, in dem „synthetische Urteile" „a priori" möglich sind und der somit der planenden Berechnung unterlegt werden kann, vorgeschoben ist. Da Individuen nur innerhalb dieser Grenze des „allgemeinen" Verbands ihrer Identität als Subjekte

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Aber die Verschiedenheit der Situation und die Möglichkeit verschiedener Ansichten desselben Gegenstandes bleibt: Von meinem Punkt aus sehe ich, was der andere nicht sieht. Ich sage es ihm; nun weiß er es audi, allerdings nicht „gewiß". Er sieht es nach wie vor nicht. Die Sprache ist kein Weg zur Nivellierung in einem allgemeinen Bewußtsein von Gewißheit. Was ich sehe, entspricht meinem subjektiven Standpunkt, meiner subjektiven Beurteilung, die allerdings vom anderen akzeptiert werden kann und die er nur in diesem Sinne mit mir teilt. Das ist auch ein Aspekt der InterSubjektivität des Gegenstandes. Er ist so bedeutsam, daß idi wohl an meiner Sicht irre würde, wenn überhaupt niemand mein Urteil aus ihr jemals akzeptierte und sich auf sie einließe, obwohl er über kein Prinzip dafür verfügt. „Ich" hat immer auch die Bedeutung, daß idi etwas am Gegenstand einsehe, was der andere nicht einzusehen braucht, auch nicht, wenn ich es ihm sage. Ich ist nie unmittelbar allgemein und audi nie in Gewißheit zur Allgemeinheit vermittelt. Indem idi es ihm sage, kann er es zwar akzeptieren, der Möglichkeit nadi. Aber es bestimmt ihn nicht. Akzeptiert er es, so bleibt die Differenz zwischen ihm und mir, die beinhaltet, daß idi anderes einsehe als er und der Gegenstand in einem anderen Maße für midi positiv bestimmt ist als für ihn, und damit bin „ich" in einem anderen Maße für midi bestimmt als er für sich. „Idi" ist nicht möglicher Ansatz einer Deduktion. untereinander und damit gegenüber den anderen je für sich gewiß sind, wird innerhalb einer Gesellschaft bei den einzelnen Individuen diese Grenze nicht allzu verschieden verlaufen, erst recht nicht bei den einzelnen Subjekten einer „exakten" Wissenschaft. Sprechen bleibt sinnvoll, wenn außerdem zwischen den Individuen Situationsgefälle bestehen und einem „einsichtig" ist, was der andere aus seiner Situation heraus nicht unmittelbar einzusehen vermag. — Zu den neueren Diskussionen um das Problem des synthetischen Apriori vgl. H. Delius, Untersuchungen zur Problematik der sogenannten synthetischen Sätze apriori, Göttingen 1963. Dazu E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967, S. 166 f. — Die Frage, ob apriorisch-synthetische Sätze linguistisch oder als in sachlichen Zusammenhängen begründet zu denken sind, läßt sich wohl ohne Problemverkürzung nur erörtern, wenn der sprachliche Weltumgang einschließlich der Funktion des Anerkanntseins des Subjekts in „seiner" Sprache und die Frage der Konstitution „allgemeingültiger" „objektiver" Sachverhalte vor allem aposteriorischen Urteilen als ein Problem angesetzt werden. Es bedarf ζ. B. keiner Erfahrung zur Einsicht in den Sachverhalt, daß alles Farbige ausgedehnt ist. Es ist so innerhalb einer vom anerkannten Sprachgebrauch gestützten Normalität einer allgemein verbindlichen Einsicht in „grundlegende" Sachverhalte. Dennoch kann es vorkommen, daß der Sprachgebrauch, der dann „metaphorisch" genannt wird, demgegenüber offen ist und abweicht. Kant spricht ζ. B. vom „vielfärbigen" Subjekt. Das „Normale" muß dann zusätzlich so definiert werden, daß unter „farbig" „zunächst" nur verstanden werden soll, was sich an (ausgedehnten) Flächen innerhalb der optischen Wahrnehmung findet. Das heißt, der fragliche Satz erweist sich selbst als regelnde Norm des normalen Sprachgebrauchs. Er kann sich nicht unmittelbar auf Einsicht berufen.

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4. Begriff einer geistvollen Ansdjauung Mit dem Verständnis der Natur als „Dasein unter Gesetzen" oder mit der Abstraktion von der sprachlichen Natur des Begriffs „Ich", aus dem die Kantische Philosophie die Begriffe für das Naturverständnis zu deduzieren sich aufgibt, ist zugleich „Geist" ausgeschlossen. Daß dieser Umstand Kant nicht ganz entgangen war, deutet sich an, wenn in der „Kritik der Urteilskraft" „Geist" „als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen" thematisch wird, also der Vorstellung der Einbildungskraft, „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann" u . Eine solche Idee ist die „einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft weldie mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der ein^n bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also t u einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet"". Geist bezieht sich demnach auf eine überquellende Mannigfaltigkeit, ein Auseinander, das sich nicht in einem mit der Einheit des Verstandes aller Menschen verbundenen Begriff „zusammenfassen läßt" 15 und deshalb „zu etwas über die" vom Begriff abgesteckte „Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem" strebt 1 '. Dies Auseinander geht auch nicht in einer Form der Anschauung a priori auf und ist deshalb nichts im Raum, wie Kant ihn bestimmt, Gegebenes. Bemerkenswert ist aber, daß dies Mannigfaltige von Kant zu den „inneren Anschauungen" gezählt wird", deren Form die Zeit ist. Die Zeit ist zwar Schema der Kategorien, aber allein im Bezug auf den inneren Sinn ist den Kategorien keine objektive Gültigkeit des durch sie Beurteilten gewährleistet. Ohne ein entsprechendes Beharrliches im formalen Raum bringt die Einbildungskraft jene reiche Mannigfaltigkeit hervor, über die der Begriff nicht verfügt. Sind deshalb aber Vorstellungen, über die der Begriff nicht verfügt, nur im inneren Sinn? Sie haben nach Kant keine Realität, weil sie nicht in einem Räume fixiert sind, so daß sie begrifflich bestimmbar wären. Da es aber doch Vorstellungen sind, die als solche in Raum und Zeit oder nur in der Zeit sein müssen, gehören sie, für Kant nach dessen Raumbegriff ganz konsequent, zur Zeit allein, auf die sich der Begriff als auf sein Schema " Kant, Kritik der Urteilskraft, 192 f. 14 Ebd. 197. 15 Ebd. 196. " Ebd. 193. " Ebd. 194.

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Raum und die transzendentalen Kategorien

wohl beziehen kann, ohne damit allein schon objektive Realität zu erlangen. Ihr nur innerer Charakter ergibt sich für ihn mit ihrer begrifflichen Unbestimmtheit. Der Kreis schließt sich, indem „Geist" — als Vermögen des „Genies" jederzeit ein individuelles Vermögen — in einem Zug mit dem nidit unter den Begriff zu bringenden Auseinander aus dem Kreis der Realität ausgeschlossen wird. Die Sprache zerfällt in inneren „Geist" und äußeren „bloßen Buchstaben". Um über diesen Punkt hinauszukommen, ist ein anderer Begriff von Anschauung erforderlidi. Geist bliebe so nur dem einzelnen und dessen Innerem zuzurechnen, wie sonst nur ein Mangel an Verstand. Wenn Geist dem „Genie" als besondere Qualität zugeschrieben wird, ist unterstellt, im Normalfall würde geistlos mittels Buchstaben, Zeichen oder Signalen „informiert". Kybernetik als Prinzip ist in nuce postuliert. Ein anderer Anschauungsbegriff hätte die Anschauung nicht nur als im Begriff bestimmt zu fassen, sondern als etwas aufzunehmen, das an ihm selbst über die Positivität hinausdeutet, in der es als Bestimmtes gegeben ist. Dies wäre das bestimmte Thema einer Aussage, das Subjekt in der Bewegung im Satz. Dabei kann der Satz nicht als dies Phänomen aufgegriffen werden, um abstrakt gegen Kant einen anderen Standpunkt zu setzen, sondern nur insofern die Kantische Kritik selbst auf dies sprachliche Phänomen implizit verweist. Das im Satz als Thema Bestimmte läßt sich gerade wegen des Charakters als Thema nicht in dieser selben Bestimmung und auch nicht im selben Grad der Eindeutigkeit der Bestimmtheit festhalten. Die Bestimmung des Themas geschieht schon im Hinblick auf seine andere Bestimmung durch das Prädikat. Das Thema ist an ihm selbst geistig und in dem Sinne im Raum, in dem er, wie Kant selbst es fordert, zwar intersubjektives Bestimmtheitsgefüge (formaler Gegenstand wie in der Mathematik), aber zugleich Form der sinnlichen Anschauung ist. Das müßte heißen — wenn der Raum in der Bedeutung als formaler Gegenstand diese sinnliche Bedeutung nicht zurückdrängen soll — der Raum ist „Form" der für jedes Subjekt anderen Anschauungen, die der Prädikatsbegriff zwar sprachlich miteinander vermittelt, aber doch zugleich in ihrer mannigfaltigen Andersheit beläßt. Er bestimmt, als Allgemeinbegriff, zur (noetisdi-hyletischen) Unbestimmtheit hin und ist selbst nur deiktisch-eindeutig bestimmt, insofern er auf die verschiedenen Hinsichten, die er begrifflich umfaßt, wieder zurückweist und also selbst außer der benennenden eine (allerdings „vieldeutige") deiktische Funktion erfüllt18. Menschliche Anschauung ist dann nicht als etwas Unbegreifliches aus dem Begriff verdrängt. 18

Vgl. B. Liebrucks, Spradie und Bewußtsein, a. a. O., Bd. I, S. 419 ff.

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5. Kants Begriff reiner Anschauung als Resultat einer Reduktion anschaulicher Bedeutung auf eindeutig zeicbenbafte Elemente Denken ist nadi Kant ein Mittel. Erkenntnis bezieht sich unmittelbar auf Anschauung, auf „Gegebenes", leibhaft Gegenwärtiges. Von hier aus bliebe nur ein empiristisdier Positivismus als Konsequenz, wenn nach Kant nicht in der Anschauung selbst, nämlich in deren Form, die Möglichkeit läge, sich mittelbar auf sie zu beziehen, so daß auf diese Weise das Unmittelbare im Subjekt vertreten werden könnte. Der Widerspruch, der darin liegt, daß ein mittelbarer Bezug auf das Unmittelbare, das die Anschauung sein soll, angenommen wird, ist nur zu umgehen, wenn die Form der Anschauung als die „gewisse Form" oder „gewissen Verhältnisse"", in denen angeschaut wird, wenn angeschaut wird, unmittelbar im Subjekt und doch gegeben ist. Kant spricht somit von deren „unmittelbarer Gewißheit". Diese vermittelnde Unmittelbarkeit muß als der Unmittelbarkeit des empirisch Gegebenen streng korrespondierend verstanden sein. Sie darf nicht weniger unmittelbar sein als das, was zur Empfindung gehört. In der Tat korrespondiert die Empfindung einer Farbe oder überhaupt von Helligkeit notwendig mit der Anschauung einer bestimmbaren Stelle im Raum. Wird alles, „was zur Empfindung gehört", weggedacht?, so dürfte, entgegen der Auffassung Kants, zunächst audi das Ausgedehntsein negiert sein. In der exakten Bestimmung der „Stelle" von etwas im Raum oder seiner „Grenze" gegen anderes liegt die Vorstellung der Negation des Ausgedehntseins dieser „Stelle" oder der Negation einer dreidimensionalen Ausdehnung zu der begrenzenden „Fläche"". Der von diesem Resultat der Negation her sich wieder aufbauende Raumbegriff gewinnt Anschaulichkeit nur zurück, wenn diese Negation als bestimmte behalten bleibt. Der Punkt, gewonnen als Negation des Ausgedehntseins, ist nur dann zugleich als Punkt im äußeren Anschauungsraum vorgestellt, wenn er in dem Raum, dessen Element er sein soll, ursprünglich schon auf einer Linie und einer Fläche und diese im Raum liegt. Als bestimmte Negation des ausgedehnten Raumes, in dem wirklid} sinnlich angeschaut und also auch empfunden wird, ist er Element des „reinen" Raumes als „formalen Gegenstandes" möglicher exakter Bestimmungen. In diesem Begriff des Raumes liegen Anschaulichkeit und Unansdiaulichkeit zugleich. Anschaulichkeit ist als negierte, aber in der bestimmten Negation aufbewahrte Anschaulichkeit Element des formalen " Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 20 Β 34. 20 A 22 Β 36. 21 Daß diese philosophische Problematik im Begriff eines Raumes, der zugleich exaktes

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unanschaulichen Gegenstandes „Raum", in dem etwas durch die Stelle eines formalen Systems bestimmt ist. Damit ist die Kantische „reine Anschauung" analysiert in Bestandteile der Ansdiauung und des die Anschauung bestimmt negierenden Denkens. Denken und Anschauen verschmelzen in ihrem Begriff. Wie dies geschehen soll, ergibt sich aus dem Vorhergehenden: Die Begrifflichkeit dieses Denkens muß so interpretiert werden, daß damit jeweils zugleich etwas gemeint ist, das sich als Anschauliches finden kann. Mit anderen Worten: Die Begriffe dieses Denkens als eines exakten Bestimmens werden wesentlich nicht durch Wörter, sondern durch systematisch bestimmte, konstruierbare Zeichen (Linie, Fläche usw.) repräsentiert, die es ermöglidien, Verhältnisse zwischen diesen Begriffen anschaulich zu demonstrieren". Identität wäre dann ζ. B. demonstriert durch anschauliche Ununterschiedenheit der Zeidien, Niditidentität durch anschauliches Auseinander. Das Denken ist solange auf Anschauung im Sinne Kants bezogen, als solche Demonstration möglich bleibt, ob sie nun auf dem Papier oder am Phantasma gesdiieht. Es hat seine kritische Schranke in dem Zeichensystem, durch das es ausgedrückt wird, statt nur in der Sprache, der als „Umgangssprache" ja zunächst eine Absprache über exakt gleichbleibende Bedeutungen verwendeter Symbole fehlt. Hierin ist Kant Vorläufer des logistischen Postulats, eine eindeutige Notation des Denkens zu konstruieren. Aber das soll, des Begriffs der objektiven Gültigkeit wegen, zugleich eine Konstruktion in der Anschauung bleiben11. Da in ihr Gleichheit der figürlichen Symbole unmittelbar ein-

ö

a

BestimmtheitsgefUge und sinnliche Anschauungsform sein soll, bei Kant zurückgedrängt bleibt, dürfte sich daraus erklären, daß er audi noch Linien und Flächen, in einem infinitesimalen Sinn, als „Räume" bezeichnet, wenn audi als Räume „von verschiedener Qualität" (vgl. ζ. Β. A 715 Β 743). Es ergibt sich dann aber die Schwierigkeit, solche „Einschränkungen" (vgl. A 25 Β 39) oder verschiedenen „Qualitäten" von „Räumen" aus dem Begriff des uneingeschränkten räumlichen Ausgedehntseins oder das Negative aus dem Positiven zu verstehen, wenn nicht argumentiert wird, der Raum als Gegenstand exakten Bestimmens müsse zugleich „ursprüngliche Anschauung" sein, wenn gedacht werden können soll, daß in diesem Bestimmen „Sätze, die über den Begriff hinausgehen" (B 40/41), gewonnen werden können. Wegen dieses Zieles setzt Kant das Positive und dessen Negation in denselben Begriff und ist darin im Sinne der „Logik" Hegels implizit dialektisch. Daß bei Kant „Konstruktion" und „Zeichen" im Zusammenhang gesehen werden, zeigt deutlich der Umstand, daß Kant auch eine „symbolische Konstruktion" nodi „ebensogut" Konstruktion der Begriffe in einer Ansdiauung a priori nennt. Die Mathematik „wählt sich . . . eine gewisse Bezeichnung aller Konstruktionen von Größen überhaupt" (A 717 Β 745). Intersubjektive Disziplin abgesprochenen Bezeichnens tritt an die Stelle des transzendentalen Subjekts. Vgl. den aristotelischen Begriff der Ekthesis und Leibniz: Nouveaux Essays, Akademie· Ausg., Philos.Sdir., Bd. 6, S. 476: „Les geometres dans leurs demonstrations mettent preincrement la proposition qui doit estre prouvie, et pour venir i la

Kants Reduktion anschaulicher Bedeutung

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sichtig ist, erübrigt sidi zudem die Notwendigkeit der Abspradie über einen gleichbleibenden „Gebrauch" oder die Zuordnung von Zeichen und Bedeutung. Jede Figur 9teht unmittelbar für die Raumstelle, die sie einnimmt, und so repräsentiert sie unmittelbar die Verhältnisse zwischen entsprechenden „möglichen" sinnlichen Erscheinungen „im Räume". Die hier geltende Sprache ist φύσει und in keiner Weise θέσει, wenn der Raum die von Kant geforderte doppelte Natur als formaler Gegenstand und Form der sinnlichen Anschauung besitzt. Die „Geltung" der Exaktheilt dieser „Sprache" ist nicht an den Geltungsbereich von „Absprachen" oder wissenschaftlichen Konventionen innerhalb begrenzter Disziplinen gebunden. Sie ist dann streng inteitsubjektiv und deshalb streng objektiv gültig. Ohne die genannte Bedingung gilt allerdings auch hier, daß Zeichen und Bezeichnetes nur durdi die gesetzte Beziehung der Bezeichnung etwas miteinander zu tun haben. Der Punkt auf dem Papier ist anschaulich und ausgedehnt. Als Zeichen für den „gedachten" oder geometrischen Punkt ist er von diesem, der unausgedehnt ist, materiell verschieden, und zwar unendlich verschieden. Die Bezeichnung ist unendliches Verhältnis. Er hat keine Ähnlichkeit mit dem geometrischen Punkt. Es ist nichts an ihm, was ihn von sich aus als Zeichen für den geometrisdien Punkt besonders geeignet erscheinen ließe, außer seinem Ausgedehntsein und damit seiner Anschaulichkeit, durch die er aber nur geeignet ist, überhaupt optisches Zeichen für etwas sein zu können. Die Mannigfaltigkeit soll aber gerade nicht in der Zeichenbeziehung in Betracht kommen. Er soll keine Mannigfaltigkeit, sondern abstraktes Einssein bezeichnen und bezeichnet durch Aufhebung seiner selbst. Als Aufhebung einer Mannigfaltigkeit in eint Bedeutung ist er Prototyp jeder Bezeichnung. Zeichen erhalten ihre präzise Bedeutung erst in einem System von Zeichen. — Die Linie ist im Verhältnis zum Punkt übergeordneter Begriff. Eine Linie enthält dem Begriff nach mindestens zwei Punkte (woraus resultiert, daß sie gleichgültig gegen ihre Ausdehnung wesentlich zwei Punkte enthält und bis ins Unendliche, also ins Unanschauliche übergehend, teilbar ist). Das Zeichen für die Linie muß sich in seiner Anschaulichkeit von der des Punktzeichens unterscheiden. Das heißt, daß seiner Anschaulichkeit ein Merkmal zukommen muß, die der des Punktzeichens nicht zukommen darf. Da die Linie dem Begriff nach mindestens zwei Punkte enthält, ist es konsequent, sie durch zwei Punktzeichen darzustellen und diese zur Unterscheidung von zwei einzelnen Punktzeichen miteinander zu verbinden. Für die Konstruktion der Bedemonstration ils exposent par quelque figures ce qui est don^,c'est a qu'onappelle

Ecthese ...".

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griffe in der Anschauung ist es unerläßlich, daß das Verhältnis der Begriffe sich in den Zeichen in diesem Sinne auch anschaulich präsentiert. Aber dies Verhältnis ist auf das reine Schema des Enthaltenseins des niederen Begriffs im höheren reduziert. Nur innerhalb dieser Reduktion kommt die Anschaulichkeit des Zeidiens zur bedeutungsunterscheidenden Geltung. Im „Bild" der Linie ist die Negation der Ausdehnung in der Bedeutung aufgehoben, insofern die Linie ihrem Begriff nach eine eindimensionale Vielheit von Punken enthält. Es ist unterdrückt, daß selbst die geometrischen Begriffe in der Sprache außerdem mit Wörtern („Punkt", „Linie" usw.) benannt werden und sprachliche Begriffe sind. Man kann in diesem Verständnis ebensogut andere Wörter oder auch bloße Buchstaben dafür einsetzen14. Die Anschaulichkeit des Zeichens hat bei Kant aber — seinem in sich problematischen, zwiespältigen Raumbegriff zufolge — immer noch Bedeutung für die Konstruierbarkeit des mathematischen Begriffs und damit, in seinem Verstände, für dessen Wahrheit. Das Zeichen bleibt, wie der sprachliche Begriff, an ihm selbst zeigend und darin bedeutend. Aus dem anschaulichen Zeichenverhältnis resultiert unmittelbar die objektive Bedeutung des Begriffs. In ihm wird sie für den kritischen Verstand verständlich.

6. Hegels Begriff der Anschauung Hegel hebt die Anschauung als solche zunächst gegen das Moment der Aufmerksamkeit in ihr ab. Aufmerksamkeit ist die „abstrakte identische Richtung des Geistes" in allen seinen Bestimmungen, die „tätige Erinnerung, das Moment des Seinigen". Ohne sie ist nichts „für ihn". Es handelt sich hier um eine produktive Abstraktionsleistung. Das andere Moment in der Anschauung ist demgegenüber die Projektion der durch die Aufmerksamkeit angeeigneten Merkmale nach außen, ihre Äußerung als anschauliche Ausbreitung. „Die Intelligenz bestimmt hiemit den Inhalt der Empfindung als außer sich Seiendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist" 25 . Das Angeschaute wird aus der eigenen Sicht hinaus- und ihr vorausgesetzt, d. h. es wird zugleich mit seiner produktiven Aneignung von dem, was es „für" das Subjekt ist, unterschieden. Nach Hegel gehört die Anschauung nicht zum Bewußtsein, sondern zum Geist. Das bedeutet, daß das Angeschaute, die nach außen projizierte 24

"

Vgl. die Ausführungen bei R. Strohal, Die Grundbegriffe der reinen Geometrie in ihrem Verhältnis zur Anschauung. Leipzig und Berlin 1925, S. 122 ff. Hegel, Enzyklopädie von 1830, § 448.

Hegels Begriff der Anschauung

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Aufmerksamkeit, nicht nur als Gegenstand vom Subjekt, sondern von sich als Gegenstand als das „Andre seiner selbst"" verschieden ist. Geist war bei Kant das Vermögen, vom bestimmten Gegenstand auf eine ihm beigesellte unbestimmte Mannigfaltigkeit gelenkt zu werden. Die Einheit beider Momente, der intensiven Aufmerksamkeit und der extensiven Projektion nach außen, ist Anschauung im Hegeischen Sinne17. In der Anschauung wird der durch Aufmerksamkeit angeeignete Inhalt zum anderen seiner selbst oder zum Zeichen. Er repräsentiert mehr, als er unmittelbar ist. „Zeichen" hat hier eine andere Bedeutung als in der willkürlichen Koppelung eines abstrakten Begriffs mit einer sinnlichen Anschauung, die dann von sich aus nichts zeigt1®. Die Form des Stoffes eines Zeichens besteht darin, daß er das andere seiner eigenen unmittelbaren Bestimmtheit im Begriff ist. Die Formen der Anschauung sind Raum und Zeit. Räumlichkeit und Zeitlidikeit sind hier die Formen, in denen der Stoff das andere seiner selbst ist; d. h. er ist in ihnen über seine jeweilige begriffliche Fixierung hinaus. Die Zeit ist die Form der Veränderung oder des Vergehens, des Seins in das Nichtsein und umgekehrt. Warum das vom Raum auch gelten soll, ist nicht ebenso unmittelbar einsiditig. Der Raum ist immer auch Gegenstand formaler Anschauung, in dem Gegenstände ihre bestimmte Stelle haben, insofern ein Prinzip solchen Bestimmens festgehalten wird und das Subjekt darin Identität ist. Aber gerade dadurch wird der Geist sich selbst äußerlich. Er bestimmt sidi zur Anschauung in einer Form, die er aus sich heraus und in die er das Angeschaute setzt. Raum als Element des Fixen und Zeit als Element des Entstehens und Vergehens sind als entgegengesetzte Abstraktionen der einen Anschauung aufgefaßt. Formale Anschauung dagegen ist fehlende Einsicht in die Zeichennatur des Zeichens oder in die Zeichenhaftigkeit der Natur für ein sprachliches Wesen schon vor aller pragmatischen Zeichensetzung. Der formal Anschauende nimmt das von ihm in seiner Form Angeschaute unmittelbar für eine Sache. Er versteht unter Zeichen eine gesetzte Marke für die Subsumtion der Sache unter den formalen Begriff in der ausschließlichen Richtung auf Eindeutigkeit. Beschränkungen, die sich anschaulich einer Konstruktion des Begriffs in den Weg stellen, die Grenzen 26 27

28

Ebd. Zur Differenz zwisdien dem Begriff der Anschauung bei Kant und Hegel vgl. ausführlicher: J. Simon, Reine und sprachliche Anschauung (Kant und Hegel), in: Das Problem der Sprache, VIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, hrg. v. H. G. Gadamer, München 1967. Es bleibt dabei immer unverständlich, wie diese Koppelung soll geschehen können, da sie doch die Sprache, in der sie gesprochen wird, d. h. also andere Zeichen voraussetzt.

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seiner Konstruierbarkeit in einer reinen Anschauung, sind, soweit bei Kant auf die Möglichkeit der Erkenntnis der Sachen reflektiert wird, verstanden als kritische Beschränkungen der Erkenntnis der Sache, obgleich es die Schwierigkeiten sind, die gerade die Sache dem Mißverständnis ihres Zeichencharakters und der Subsumtion unter den formalen Begriff in den Weg legt. Sie sind das einzig Sachliche in diesem Prozeß. Für sich gelangt deshalb nach Hegel der formal Anschauende, d. h. der sich in der Anschauung unmittelbar bestimmt Findende, erst zu seiner Freiheit (und zur Sache!) im Zeichenverstehen, dann also, wenn es für ihn ist, daß die „unmittelbare Anschauung . . . einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat"1*. Er ist dann über den „bloßen Buchstaben" hinaus und verhält sich anschauend zur Sache. Anschauung und Aufspreizung des Raumes gegen den abstrakten Begriff sind dasselbe. Raum ist die unmittelbare Allgemeinheit des zeichenhaften Außersichseins der Natur oder die Sprachlichkeit der Natur im Moment des Zeichencharakters der Sprache.

7. Anschaulichkeit geometrischer Figuren als Resultat einer Reduktion bedeutender Anschauung auf ihre Bedeutung für Subjektidentität Formale Anschauung wurde als fehlende Einsicht in die Zeichennatur bestimmt. Dasjenige Subjekt ist anschauend, das sich (seiner Meinung nach) unmittelbar bestimmt findet. Der letzte Satz für sich genommen würde nicht dem Kantischen Begriff der Anschauung widersprechen. Er widerspricht ihm nur, wenn diese Form der Unmittelbarkeit als Abstraktion begriffen ist. Nach Kant enthält alle Anschauung von ihrer reinen Form her Merkmale, die das Angeschaute als möglichen Gegenstand der begrifflichen Erkenntnis erscheinen lassen, so daß anhand dieser Merkmale das Angeschaute etwas ist, das sich vom Verstand als Objekt bestimmen läßt. Es sind Merkmale, die zufolge bestimmter Regeln aufeinander bezogen werden können, wie Punkte, Gerade usw. Für Kant können diese Merkmale also nicht bloß anschauliche Zeichen für freie Setzungen des Verstandes sein, die durch die anschauliche Natur der Zeichen eingeschränkt wären, weil der Mensch der Anschauung bedürfe. Ein solcher frei setzender Verstand liegt nicht in Kants Sinn. Selbst der von ihm kritisierte freie Verstandesgebrauch gibt objektive Gültigkeit seiner Urteile vor. Zeichen als Merkmale, die die auf ihre subjektive Verhaltensidentität ausgehende Aufmerksamkeit den Dingen absähe *» Hegel, Enzyklopädie, 1830, § 4 5 8 .

Anschaulichkeit geometrischer Figuren

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oder auf die sie die Dinge um der Identität willen reduzierte, hätten mit Objektivität nur gemein, daß eben nur an ihnen die Darstellung dann rein subjektiv bleibender Identität gelänge. Es handelt sich für Kant nicht darum, ob in einem freien Spiel des Verstandes erzeugte Begriffe und deren gesetzte Beziehungen zueinander veranschaulicht werden können und »ihre Anschauung im Räume durdi ein von Begriffen möglicher Raumbestimmungen geleitetes Handeln der produktiven Einbildungskraft erzeugt werden" kann". Es sei denn, man verstünde unter Begriffen möglicher Raumbestimmung solche, die dadurch von anderen Begriffen unterschieden sind, daß sie im angegebenen Sinne veranschaulicht werden können. Anschaulichkeit wäre dann für diese Begriffe konstitutiv. Geometrie ist nach Kant nicht ein Veranschaulichen von Begriffen, sondern Einsehen aus reiner Anschauung, wobei „rein" die einseitige Abstraktion der allgemeinen geometrischen Bedeutung der anschaulichen Figuren meint. Ebbinghaus unterschätzt die Tragweite, die die Entwicklung der Geometrie und vor allem die Einsicht, daß auch die euklidische Geometrie nicht auf unmittelbarer Anschaulichkeit beruht", für die Kantische Philosophie haben. Wenn die Axiome dieser Geometrie sowenig wie die einer anderen aus einer Anschauungsform a priori folgen, sondern „Ausdruck bestimmter Grunderfahrungen " „von so allgemeiner Art sind, daß wir ihren empirischen Charakter zu vergessen pflegen"", dann ist das Zentrum der Kantischen Philosophie betroffen. Zu Recht wendet sich Ebbinghaus allerdings dagegen, aufgrund der Entwicklung der Geometrie auf ihren Begriff hin nun wieder vorkritische Ontotogie betreiben zu wollen. Kant hat gezeigt, unter welchen Bedingungen den Verstandeshandlungen objektive Gültigkeit zukommen kann. Wenn sich erwiesen hat, daß diese Bedingungen, wie Kant sie annahm (weil zu seiner Zeit die Physik als klassische Mechanik eine so gut wie vollständige Abrundung und Vollkommenheit erreicht hatte), nicht zutreffen, dann fällt nicht die Kantisdie Position, vor allem nicht das sich in ihr ausdrückende Problembewußtsein, sondern es stellt sich die Frage, was Erkenntnis dann überhaupt noch heißen kann. Ebbinghaus hat auch recht, wenn er sagt, Kant kenne die Geome-

30 51

52

J . Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert. Studium Generale, 7. Jg. 1954, S. 517. . . . daß „der wirkliche Jjiatus'... nicht zwisdien der Euklidischen Geometrie und Geometrie, sondern . . . zwischen der sinnlichen Ansdiauung und der Welt des geometrischen Begriffs" liegt und die Gestaltung, die die räumliche Ansdiauung „im Euklidischen System erhält, nicht aus ihm (dem Raum. D. Vf.) als reiner Anschauungsform hergeleitet werden' kann, . . . E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem Bd. IV, Stuttgart 1957, S. 41. E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. IV, S. 49/50. Helmholtz, den Cassirer hier anführt, sagt allerdings auch nichts darüber, wodurch denn diese Grunderfahrung gerade von „so allgemeiner Art" sein könnte.

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trie nur als eine sadihaltige Wissenschaft, und deshalb kann, wie er schreibt, die Rechtfertigung der Annahme der a priori unbezweifelbaren „Evidenz" der euklidischen Geometrie erst in der transzendentalen Analytik gefunden werden, weil eine sachhaltige Wissenschaft eine „Entscheidung über die objektive Gültigkeit von Verstandeshandlungen erfordert e M . Aber eine Entscheidung darüber ist doch wiederum nicht möglich, wenn vorher nicht entschieden werden kann, was „Evidenz" hier heißen soll. Darüber wird bei Kant überhaupt nicht entschieden, weder in der transzendentalen Ästhetik noch in der Analytik, weil der Begriff einer solchen Evidenz f ü r ihn nicht einmal versuchsweise in Frage steht. Sie beruht für ihn nicht auf einer „Annahme", sondern ist eben Evidenz und deshalb einer Rechtfertigung weder bedürftig noch fähig. Es handelt sich um Urteile oder „synthetische Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind" 34 . Die Geltung dieser Urteile ist Bedingung der Möglichkeit dafür, daß überhaupt Urteile a priori als sachhaltig gefällt werden können, also dafür, daß die Entscheidung über die objektive Gültigkeit von Verstandeshandlungen positiv ausfallen kann. Daß dies kein Zirkel ist, liegt allein daran, daß Kant die apriorische Sachhaltigkeit der euklidischen Geometrie völlig unbefragt läßt. Hätte er audi sie in den kritischen Zweifel einbezogen, wäre er tatsächlich in den Zirkel geraten, in den jeder gerät, der die euklidische Geometrie als spezielle auffaßt. Es wird darauf hingewiesen, daß die nichteuklidische Geometrie letztlich „ohne die euklidische Grundlage nicht entwickelt werden kann"". Aber die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie aus der euklidischen geschieht „durch eine willkürliche Änderung eines oder mehrerer Axiome" 3 ', so daß von einer „Entwicklung" eigentlich kaum gesprochen werden dürfte. Die Einheit beider Fälle von Geometrie f ü r das ändernde Subjekt liegt in der Unanschaulichkeit beider Fälle. Innergeometrische Unterscheidungen verschiedener Geometrien sind philosophisch irrelevant. Die Frage der Anschaulichkeit ist dagegen eine philosophische Sache. Kants Philosophie hängt daran, daß mit Anschaulichkeit α priori eine bestimmte geometrische Struktur einhergehe, weil sonst eindeutige Erkenntnis nicht zu denken ist. So ist in der Tat nicht zu folgern, den Fortschritten der naturwissenschaftlichen „Erkenntnis" im 20. Jahrhundert zufolge sei die Lehre Kants widerlegt". Es stellt sich vielmehr die Frage, ob diese „Erkenntnisse" noch unter das fallen, was Kant mit diesem Begriff philosophisch gemeint hat, und ob im Sinne Kants Erkenntnisse selbst innerhalb der » Ebbinghaus, a. a . O . , S. 518. M Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 732 Β 760. Hervorhebung ν. Vf. 55 W. Kroebel, Kant und die moderne Physik. Studium Generale, 7. Jg. 1954, S. 532. s « Ebd. " Ebbinghaus, a. a. O., S. 519.

Die Grenzen einer Absicht yon der Änderung der Identität

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Erscheinungen als möglich erwiesen werden können. Es läßt sich nämlich nicht allgemein sagen, was Erscheinungen seien, wenn sich nicht sagen läßt, die Form der Anschauung sei a priori bestimmt. Sind Erscheinungen die Dinge, „sofern sie Objekt der sinnlichen Anschauung sind", so iet „Erscheinung" nur dann ein allgemeiner Begriff, dem etwas entspricht, wenn gesagt werden kann, was denn den Dingen, sofern sie Objekte der sinnlichen Anschauung sind, gemeinsam und reine Form der Anschauung ist. Sagt man, für die äußeren Erscheinungen sei das der Raum, so miißte weiter gesagt werden, inwieweit der Raum formt. Mit „Form" meint Kant das, „worinnen sich die Empfindungen allein ordnen"1*, also mehr als das allgemeine Ausgedehntsein, eben eine unbedingt geltende, in der Anschauung selbst liegende Struktur. Wenn gesagt wird, auch die euklidische Geometrie sei eine Struktur durch ihre bestimmte, 'gegen die anderer Strukturen abgegrenzte Axiomatik, dann ist ihr Bezug auf die Anschauung rückwirkend für sie nicht konstitutiv. Daß Kant an ihrer Anschaulichkeit so viel liegt, liegt nicht an einer mathematischen Unbeweglichkeit dieses Mannes, sondern an seinem Versuch, Hume gegenüber den Begriff einer objektiv gültigen Verknüpfung eindeutiger Begriffe festzuhalten, dessen Kriterium er in der Beziehbarkeit dieser Verknüpfung auf sinnliche Anschauung sah". Ihm lag daran, sich bei solcher Begriffsverknüpfung etwas denken zu können. Dabei ist „etwas" etwas objektiv Gültiges und nicht nur etwas widerspruchsfrei Konstruierbares. Nicht auf die Konstruktion, sondern auf die Konstruktion in reiner äußerer Anschauung kam es Kant an. Allerdings projizierte er die Eindeutigkeit der Begriffe, im Sinne ihres Ineinanderenthaltenseins in einer Richtung, in die Anschauung hinein. Ihr gegenüber hielt er an Eindeutigkeit fest und emanzipierte sich gerade dadurch von der sinnlichen Anschauung, obwohl er als erster exakt wußte, daß er sich nur um den Preis, sich nichts mehr bei einer (wenn auch formal korrekten) Begriffsverknüpfung denken zu können, von ihr emanzipieren könnte.

8. Die Grenzen der Möglichkeit einer Absicht von der dem anschauenden Subjekt bedeuteten Änderung der Subjektidentität So haben die Axiome der Geometrie nach Kant ein gemeinsames „Prinzip": „Alle Anschauungen sind extensive Größen"40, d. h. die 58 Μ 40

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 20 Β 34. A 732 Β 760. Β 202.

Raum und die transzendentalen Kategorien

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„Vorstellung der Teile" macht die „des Ganzen möglich", in einer „Einheit der Zusammensetzung des mannigfaltigen Gleichartigen"4'. Mit anderen Worten: es tritt dem Prinzip der Synthesis nichts in den Weg, was Anlaß sein könnte, es „unterwegs" zu ändern. Nichts „Ungleichartiges" begegnet, weil nichts als Bestimmtes begegnet. Das Prinzip der Axiome ist die Reinheit der Anschauung vom bestimmten Material der Ansdiauung. Das ist aber im Prinzip das Verständnis einer rein gesetzten Beziehung zwisdien Ansdiauung und Begriff. Das Material soll nichts zur Bedeutung beitragen. Es soll nur von sich weg und nidit audi in sich als ein Auseinander hineinzeigen. Das ist Abstraktion von der zeichenhaften Natur des Materials in Richtung auf reine Eindeutigkeit. Von hier aus läßt sich nun audi sagen, was es mit der Forderung nach Anschaulichkeit auf sich hat, von der a priori angebbar sein soll, was ihre Form ist. Etwas ist in diesem Sinne als a'nschaulidi verstanden, wenn die Änderung, die es dem Subjekt abverlangt, also die Tatsache, daß es ansdiaulidi zunächst „ungleichartig" ist, weil das „Dasein des Mannigfaltigen" ins Spiel kommt", ebensogut restlos als produktive Tätigkeit des Subjekts verstanden werden kann. Die sukzessive Wahrnehmung der Teile eines Hauses ist in ihrer Abfolge rein subjektiv bedingt oder kann doch prinzipiell so aufgefaßt werden. (Allerdings liegt wohl auch darin schon eine Abstraktion von der verschiedenen Bedeutung der einzelnen Teile für den psychischen Prozeß der Wahrnehmung.) Das Subjekt erfährt, zumindest seinem Selbstbewußtsein nach, in dieser Sukzession durch das Objekt keinen Widerstand. — Die sukzessive Wahrnehmung des Weges eines Schiffes, das einen Fluß hinabtreibt, ist dagegen an eine nicht umkehrbare (in ihren Richtungen „ungleichartige") Reihenfolge gebunden. Der Relativität der Bewegung nach, an der Kants „Kopernikanische Wende" sich orientiert, könnte man aber noch immer davon ausgehen, daß das Schiff stehe und das Subjekt sich bewege. Der obigen Bestimmung nach ist der Vorgang dann immer noch anschaulich. Die sukzessive Synthesis der produktiven Einbildungskraft kann immer noch so verlaufen, wie es hier gefordert ist. Der Bewegungsablauf kann immer noch eigener Produktivität und Unbedingtheit, ihrer Selbstbestimmung in der Reihenfolge der Sukzession entsprechen. Die Mannigfaltigkeit könnte also immer noch als eine vollkommen gleichartige aufgefaßt werden, so daß nicht von dem Material her die Reihenfolge als bestimmt angesehen werden muß, sondern zufolge einer Regel des Verstandes, nach der das Verhältnis empirischer Wahrnehmungen a priori als bestimmt gedacht wird (Kausalität). Der Verstand übernimmt als seine Regel das der produktiven Einbildungskraft möglicherweise 41 42

Β 203. Β 201 Anm.

Die Vollständigkeit der Kategorientafel

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in bezug auf das freie und ungestörte Entwerfen ihrer reinen Sukzession durch die Materie entgegentretende Moment. Er bleibt auf reine Anschauung bezogen, soweit er es vermag. An diesem Vermögen findet er seine Kritik.

9. Die Vollständigkeit der Kategorientafel als Entsprechung zur begrenzten Möglichkeit der Negation sprachlicher Anschauung Kritisiert wird der Verstand nach der Fähigkeit, der produktiven Einbildungskraft in den Weg tretende Momente auf sich zu nehmen, so daß deren sukzessive Synthesis rein und unter dem Bilde einer „geraden Linie" möglich bleibt. Unter dieser Bedingung ist Verstand in sechs regulativen Grundsätzen möglich. Es kann nicht mehr dynamische als mathematische Kategorien geben, wenn diese Bedingung erfüllt sein soll, denn es können nicht mehr Sukzessionen unter einer Regel stehen, als es konstitutiv gibt. „Einheit der Zusammensetzung des mannigfaltigen Gleichartigen" enthält drei Kategorien, die sich aus dem Begriff der Sukzession ergeben: 1. die Einheit, mit der etwas ein Gleichartiges in einer Reihe ist, 2. dessen Mannigfaltigkeit, die Reihe selbst, und 3. die durch die Sukzession als eine „Vorstellung der Teile" sich ergebende höhere Ganzheit der zusammengefaßten Teile (Einheit, Vielheit, Allheit). Die Einheit, mit der etwas ein Gleichartiges sein kann, ist gleichgültig dagegen, ob das darunter Gefaßte in der Realität als Empfindung ist, nicht ist oder in welchem Grad es ist. Die Einbildungskraft, die die Reihe produziert, ist ja als reine verstanden (Realität, Negation, Limitation). Diese mathematischen oder konstitutiven, mit der Konstitution von Synthesis unmittelbar gegebenen oder evidenten Kategorien enthalten noch keinerlei Regeln, nach der die Synthesis vorzuschreiten hätte. Es kommt in ihnen keine objektive Folge zum Ausdruck. Das ist erst bei den entsprechenden dynamischen Kategorien der Fall. Der Begriff einer objektiven Bewegung gehört nun nach Kant nicht in eine theoretische Wissenschaft, aber die nicht mehr unmittelbar in reiner Anschauung „konstruierbaren" dynamischen Kategorien gehören insofern doch in die transzendentale Logik und in die Theorie, als sie es ermöglichen, objektive Bewegung ebensogut als subjektive aufzufassen, wenn es gelingt, das unumkehrbare Nacheinander im Ablauf einer objektiven Bewegung auf eine gesetzte Regel des Verstandes zurückzuführen und als Gesetz zu verstehen, das der Verstand sich selbst dadurch schon gibt, daß er im Bezug auf Nidit-Verstand doch in sich identisch bleibt und sidi

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auf das „andere" nicht einläßt. Das heißt, daß jeder unmittelbaren mathematischen Kategorie noch eine einzige weitere hinzugefügt werden kann. Es gibt nur diese transzendentalen Verstandesbegriffe als mögliche Bezugspunkte für transzendentale Regeln: Das Verhältnis von Inhärenz und Subsistenz ist die Ansehung von etwas als Einheit, nun nidit mehr „unmittelbar", sondern zufolge einer Regel des Verstandes. Das Verhältnis von Kausalität und Dependenz ist die reine Sukzession zufolge einer Regel. Das Verhältnis der Wechselwirkung ist das der Ansehung einer Mannigfaltigkeit als in sich zusammenhängendes Ganzes zufolge einer Regel. — Das Postulat, daß etwas möglich sein soll, denkt die Gleichgültigkeit gegen die Realität unter einer Regel. Das Postulat, daß etwas wirklich sein soll, schränkt zufolge einer Regel die Gleichgültigkeit gegen die Negation von etwas ein, und schließlich regelt die Kategorie der Notwendigkeit, inwiefern die Gleichgültigkeit gegen die Negation von etwas, d.h. dagegen, ob es ist oder nidit, durch die Regelung der Gleichgültigkeit gegen seine Realität, d. h. aus der Regel seiner bloßen Möglichkeit, geregelt ist, also allein zufolge der formalen Sukzession des Wirklichen, in dessen Gesamtheit es formal als in einem Aggregat enthalten gedacht ist. Es liegt damit fest, wie viele und welche Kategorien des Verstandes unter der genannten Bedingung möglich sind und welche Verstandesbegriffe selbst in Anwendung auf das, was das andere des Verstandes ist, in dem Sinne anschaulich bleiben, daß ihre Konstruktion in reiner Einbildung möglich ist. Daß der Verstand sich auf Anschauung bezieht, heißt demnach zugleich auch immer, daß er die Funktion ist, Anschauung rein zu belassen. Er „denkt" die Natur als unbedeutende, gleichgültige Mannigfaltigkeit, als nichts von Bedeutung. Als dynamische Kategorie geht er dabei durchaus von der Erfahrung aus, um sie unter eine allgemeine Regel in der Form eines mathematischen Urteils zu bringen. Er läßt sich auf sie nicht ein. Diese Ableitung der Kategorien verstand den Verstand als Funktion, die Anschauung rein zu erhalten und mit der Gewinnung des Begriffs der reinen Anschauung als eines Vermittelnden zwischen ihm selbst und der wirklichen Anschauung den Gedanken der Möglichkeit von Verstandesurteilen über Erfahrung fassen zu können. Sie gewinnt deren „Vollzähligkeit", indem sie den Verstand als auf sich selbst bezogene Handlung begreift. In dieser Reflexion des Verstandes auf sich sieht sie dessen „Möglichkeit". Sie kritisiert ihn als eine nur in der Tautologie mögliche Funktion; aber allein dies Tautologische gewährt systematische Geschlossenheit und also auch Vollständigkeit der möglichen, darin (analytisch) enthaltenen Funktionen.

Die Vollständigkeit der Kategorientafel

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Klaus Reich geht in der Abhandlung über „Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel" einen anderen Weg. Er hält sich auf dem Boden Kants auf, indem er „die objektive Gültigkeit eines Verhältnisses von Begriffen" zur „KardinalVoraussetzung" hat48. Diese Voraussetzung ist nun keineswegs einfadi. Sie kann nicht einfach sein, wenn aus ihr analytisch zwölf Urteilsarten folgen sollen. Die erste Voraussetzung ist die von Relation, die zweite die der objektiven Gültigkeit von Relation. Die Voraussetzung von Relation setzt ihrerseits dreierlei voraus: Zwei Relata (Begriffe) und dann die Vorstellung ihres Ineinanderenthaltenseins44. Die Voraussetzung der objektiven Gültigkeit der Urteilsrelation ist ausdrücklidi von dieser selbst unterschieden. Dieser Unterschied bedeutet zugleidi die Voraussetzung der dahingestellten (problematischen) objektiven Gültigkeit. Geht man von einer solchen „logischen Einheit von Modalität und Relationsmomenten"44 aus, so ist die Gewinnung der zweiten Hälfte der Kantischen Urteilstafel nur eine Frage der technischen Durchführung. Es ist auch einsichtig, daß nur diese sechs Formen gefunden werden können. Der „Schnitt" zwischen diesen sechs Urteilen der Relation und der Modalität und den ersten sechs Stellen der Urteilstafel4*, den Urteilen der Quantität und Qualität, wird bei Reich überbrückt durch die Verwendung des Kantischen Begriffs des Vergleichens im Gemüte im Unterschied zur Verknüpfung im Urteil. Die Momente der Qualität und Quantität am Urteil verstehen sich nach Reidi „von einem Verhältnis der Begriffe" untereinander her, in dem sie „als nicht notwendig zueinander gehörig gedacht" und nicht im Urteil verknüpft, sondern nur miteinander verglichen werden47. Es ist unmittelbar einzusehen, daß sich durch diese weitere Voraussetzung die Arten des Urteils auf ihre volle Zahl zwölf verdoppeln. Der Vorwurf gegen Kant, er habe die Urteilsarten empirisch aufgelesen4*, ist nur entkräftet, wenn sich zeigen läßt, daß diese Mannigfaltigkeit zugleich eine Einheit ist. Einheit der beiden Voraussetzungen der Verknüpfung und Vergleichung ergibt sich nach Reichs Darstellung dadurch, daß „die Unterordnung" als das Wesen aller Verknüpfung „gegebener Begriffe" „auf Vergleichung" beruht und „Begriffe" andererseits „zu einem Bewußtsein nur dadurch" gehören, „daß sie untereinander gedacht werden"4'. Die Vergleichung unmittelbar gegebener 45 44

45 44 47 48 48

Klaus Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, Berlin 1932, S. 51. „Begriffe" „gehören" „zu einem Bewußtsein nur dadurch . . . , daß sie untereinander gedacht werden". Ebd. S. 81. Ebd. S. 72. Ebd. S. 78. Ebd. S. 80. Das Zitierte dort gesperrt. Vgl. ebd. S. 6. Ebd. S. 81.

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R a u m und die transzendentalen Kategorien

Begriffe meint demnach das Verhältnis, in dem sie gegeben sind. Die als notwendig gedachte Verknüpfung derselben bezieht sich auf verglichene Begriffe, die als solche schon in dem Verhältnis der „Einerleiheit" oder der „Verschiedenheit" zueinander stehen50, wenn auch diese Alternative sich nur auf ihr Verhältnis zu einem dritten als dem angelegten Vergleichsmaßstab beziehen kann. „In aller Identitaet der Begriffe" — und „Identität" ist ein Vergleichsverhältnis5' — „kommen zwey Begriffe in einem überein, d. i. ein Begrif komt zweyen zu"52. Das Vergleichsverhältnis entsteht durch Herantragen eines äußerlichen Kriteriums" und ist deshalb nur subjektiv notwendig. Es beruht darauf, daß alle meine Vorstellungen meine Vorstellungen sind und jede als Teil in der Gesamtheit meiner Vorstellung enthalten ist, ohne daß sie deshalb notwendig untereinander im Denken verknüpft sein müßten. Daß sie als Vorstellungen schon alle, wie sie unmittelbar gegeben sind, eine Einheit bilden, abgesehen davon, was sie sonst auch beinhalten mögen, heißt aber nichts anderes, als daß sie in gleichförmiger Sukzession als der Form ihrer Anschauung a priori angeschaut werden. Die notwendige Verknüpfung beruht bei Kant auf dem Vergleich, in dem Begriffe (d. h. die Vorstellungen, die in Hinsicht darauf, daß sie in der Synthesis „Urteil" „Material" sind, „Begriffe" genannt werden) noch unverknüpfl nur nebeneinander oder allenfalls nacheinander liegen, insofern durch die sukzessive Apprehension des Subjekts schon eine, wenn auch immer noch äußerliche eindimensionale Ordnung in sie gebracht wird. Das Auseinander in diesem Sinn ist, so ist Reich einzuwenden, Grundlage der „notwendigen" Synthesis. Es trägt zur Vollständigkeit der Urteilstafel so gut bei wie die oberste Einheit des Verstandes und macht aus, daß die Einheit sich in zwölffacher Weise als möglich erweist, wodurch sie sich von der reinen Einerleiheit allen Urteilens, einer einzigen Tautologie, der Form nach unterscheidet. Nicht nur zwischen mathematischen und dynamischen Kategorien läßt sich nur so unterscheiden. Auch die Differenzierung der Urteilskopula nach verschiedenen modalen Werten ist nur einzusehen, wenn der Vergleich als lockere Verbindung von Begriffen mit möglicherweise negativem Ergebnis als nicht gelungene Synthesis und in diesem Sinne als ein Auseinanderhalten gegenüber der objektiv gültigen Verknüpfung mit in Betracht kommt. Nur so ist der Vergleich von der Verknüpfung wirklich verschieden. Nur so gibt es einen Ansatz bei der Einheit von Modalität und Relation. Diese „Einheit" bedeutet dann aber zugleich „Differenz". Das Ver50 51 53 53

Ebd. S. 82. Vgl. Kant, Nachlaßreflexion 5275, Akademie-Ausgabe Bd. 18. Kant, Nachlaßreflexion 3933, Akademie-Ausgabe Bd. 17; Reich, a. a. O., S. 80. Vgl. die Ausführungen zum Begriff des Maßes, S. 228 ff.

Die Vollständigkeit der Kategorientafel

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gleichen kann nicht nur mehr als Grundlage der Verknüpfung aufgefaßt werden, sondern verweist zugleich auf die kritische Grenze möglicher Verknüpfung als auf Anschauung, die nicht in ihrer subjektiven Form aufgeht, deren konstitutives Prinzip, wie Reich klar herausstellt, in der Tat das Schema des hierarchischen Ineinanderseins von Begriffen ist. Die Vollständigkeit der Urteilstafel und damit der Kategorien ist nur dann zu begreifen, wenn man sie nicht von der bloßen Voraussetzung ihres Prinzips, sondern von dessen Wesen als Behauptung gegen das Heterogene, soweit diese Behauptung von Subjektidentität möglich ist, ableitet und an der Grenze dieser Möglichkeit zu einem Ende kommen läßt. Die dynamischen Kategorien sind von ihrem Bezug auf „Dasein" her schon Grenzbegriffe. Es sind einerseits „metaphysische Begriffe" im Gegensatz zu den „mathematischen", „weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann". Andererseits ist in jeder „besonderen metaphysischen Naturwissenschaft (Physik und Psychologie), in der jene transcendentale Principien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne angewandt werden", „nur so viel eigentliche Wissenschaft", „als darin Mathematik anzutreffen ist". Vom Begriff des Daseins her sind diese „Grenzbegriffe" daher die eigentlichen problematischen Grundbegriffe der- kritisdien Grenzziehung Kants. Ihrer Dialektik als Grenzbegriffe, die auf der Grenze liegen und nidit eindeutig diesseits oder jenseits, entzieht sich Kant dadurch, daß er schreibt, es möge „zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt, . . . die nur das, was den Begriff einer Natur im Allgemeinen ausmacht, untersucht, audi ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge" sei „nur vermittelst der Mathematik möglich"54. Diese Philosophie zieht dann aber die Problematik der Differenz zwischen einem wissenschaftlichen, d. h. bei Kant: rein apriorischen5* Begriff der reinen Möglichkeit von bestimmtem Dasein und dem Begriff einer „Natur im Allgemeinen" in sich hinein. Zugleich mit dieser Grenzbestimmung ist dann der Horizont gewahrt, in dem es Kant überhaupt um die Kategorien geht. Es geht um die Bedingungen ihrer Möglichkeit und also um ihre bedingte Geltung. Die Einschränkung der Möglichkeit ihrer objektiven Gültigkeit ist dann zugleich mit ihrer Deduktion. Sie sind a priori eingeschränkt. Im reinen Verstandesgebrauch sind sie nicht nur nicht objektiv gültig. Es bleibt auch uneinsichtig, inwiefern gerade diese zwölf die Begriffe des Verstandes sein sollen. Reiner Verstand definiert sich nicht.

54

Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Vorrede, S. 469 f. " Ebd.

VIERTER

ABSCHNITT

Grenzen des kritischen NaturbegrifFs

1. Der Begriff des Daseins als Grenzbegnff einer transzendentalen Deduktion. Die in ihm notwendige Aufnahme des Begriffs einer von der subjektiven Einbildungskraft verschiedenen Kraft Kant faßt die krummen Linien als Abweichung von der Geraden auf, also von der Linie, wie sie in reiner Trägheit der Einbildungskraft gezogen wird. „Die geradlinichte Bewegung einer Materie in Ansehung des empirischen Raumes ist zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums ein bloß mögliches Prädicat" 1 . Bei einer geradlinigen Bewegung ist noch nicht zu entscheiden, ob sich die Materie wirklich bewegt oder das Subjekt. Was aber als Mangel erscheint, ist für die reine Wissenschaft eine Tugend: Die geradlinige Bewegung kann in ihrer Verlaufsform immer noch — wie bei Kant der „reine" (ungekrümmte) Raum überhaupt — als subjektive Produktion der Einbildungskraft aufgefaßt werden, so daß hier noch keine Anleihe bei der „Metaphysik der Natur"® zu machen ist, wie es erforderlich wäre, wenn von der Bewegung eines Objekts im Räume gesprochen werden müßte. Solche Bewegung „gehört nicht in eine reine Wissenschaft"1. Sie setzt „Dasein eines Dinges" voraus und beschäftigt sich deshalb mit „einem Begriffe, der sich nicht construiren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann" 5 . Bei der krummlinigen Bewegung wird dagegen eine Anleihe bei der Metaphysik unumgänglich. „Die Kreisbewegung ist (so wie jede krummlinichte) eine continuirliche Veränderung der geradlinichten, und da diese selbst eine continuirliche Veränderung der Relation in Ansehung des äußeren Raumes ist, so ist die Kreisbewegung eine Veränderung der Veränderung dieser äußeren Verhältnisse im Räume, folglich ein continuirliches Entstehen

1

1 s

Kant, stück, Kant, Kant,

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, a. a. O., Viertes HauptLehrsatz 1. Kritik der reinen Vernunft, Β 155 Anm. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede.

Der Begriff des Daseins als Grenzbegriff

139

neuer Bewegungen. Weil nun nach dem Gesetze der Trägheit eine Bewegung, so fern sie entsteht, eine äußere Ursache haben muß, . . . so beweiset jeder Körper in der Kreisbewegung durch seine Bewegung eine bewegende Kraft" 4 . Konnte das Subjekt die Bewegung in der Geraden noch als seine Konstruktion auf sich nehmen, wenn der Zwang der vorgegebenen Reihenfolge in der Sukzession als Notwendigkeit zufolge einer Regel des Verstandes begriffen wurde, so ergibt sich bei der nichtgeraden Bewegung ein Weiteres, das der freien Sukzession entgegensteht, das dauernde Abweichen von der Geraden, unter deren Bild die geregelte Sukzession noch begriffen werden konnte. Mit der Notwendigkeit der Aufnahme des durch produktive Einbildungskraft nicht konstruierbaren Kraftbegriffs ist die Grenze zwischen dem Bereidi der nur möglichen Prädikate und dem der wirklichen, von der Möglichkeit her allein nicht zu verstehenden Prädikate überschritten. Gleichzeitig ist der Bereidi möglicher Anschaulichkeit als der der Konstruierbarkeit der Begriffe in reiner Anschauung überschritten, und damit der Bereich, in dem synthetische Urteile a priori mit objektiver Gültigkeit möglich sind. Soweit der Begriff der Kraft aufgenommen ist, sind keine notwendigen Sätze über die Natur mehr möglich1. Kräfte können (sich) ändern. Sie sind hier „Ursachen" von Veränderungen, und zwar solcher Veränderungen, die sich nicht rational zufolge einer reinen Regel des Verstandes und einer Bewegung in der Einbildung auffassen lassen, so daß sie, streng Kantisch genommen, auch nicht als Ursache und deshalb gar nicht „verstanden" werden können. Ist Natur das „Dasein unter Gesetzen" des Verstandes, so gehört der Begriff der Kraft nicht zur Natur, oder die Natur, zu der der Begriff der Kraft gehört, fällt unter den Begriff einer wissenschaftlich unerkennbaren, weil in keinem rein formalen System zu bestimmenden Natur. Der Begriff der Kraft ist ein empirischer Begriff, der als soldier aufgelesen ist und nicht in ein formales System des Verstandes transformiert werden kann. Sein „Bild" bleibt „Bild". Er kann nicht auf ein transzendentales Schema hin schematisiert werden, zu dem reine Verstandesbegriffe „affin" sein könnten. Die Anleihe bei der „Metaphysik der Natur" ist die Anleihe bei einer Sprache, deren Begriffe ihren Bildcharakter nicht zugunsten ihrer Konstruierbarkeit in reiner Anschauung abstreifen können. 4 5

Ebd. Viertes Hauptstück, Lehrsatz 2, Beweis. Dies ist im Zusammenhang dieser Gedankengänge, in denen es immer noch um den Begriff der Wahrheit von Sätzen geht, und nidit irgendwie als Bestandteil einer „Wissenschaftslehre" der Naturwissenschaft zu verstehen. Unter gesamtsystematischem Gesichtspunkt bleibt bei Kant die ganze „Transzendentalphilosophie" Teilgebiet der „Metaphysik der Natur" (A 845 Β 873), und „Metaphysik" bleibt wesentlich ein offenes, suchendes System der „Nachforsdiung" nach Grundsätzen (A 738 Β 766).

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

2. Das transzendental-idealistische Problem einer den Raum erfüllenden Materie Anschauung ist nach Kant nicht das, was in moderneren Wissenschaftstheorien „Empirie" heißt, sondern „nur die Art, wie wir von einem an sidi selbst uns ganz unbekannten Objekt affizirt werden"*. Als reine Anschauung enthält sie noch nichts Materielles. Während die Verstandesleistung in der Synthesis zur Einheit besteht, ist Anschauung die Art, in der dem Verstand ein Mannigfaltiges zu dieser Einheit, Verknüpfbares also, so vorgegeben ist, daß Begriffe als reine Verstandesbegriffe sich darauf beziehen können. Anschaulich ist die Bewegung im reinen Raum und in der reinen Zeit, die von Materie frei und nicht genötigt ist, sich nach äußeren Bestimmtheiten zu richten: Wenn eine subjektive Bewegung nur möglicherweise auch eine objektive ist, behält das Subjekt die Möglichkeit, diese Bewegung als eigene Tätigkeit zu verstehen und in diesem Sinne ausschließlich als es selbst als reine Tätigkeit dabeizusein. Anschaulich ist ein Vorgang, den das Subjekt als seine produktive Tätigkeit verstehen kann. Daß die Materie „einen Raum, nicht durch ihre bloße Existenz, sondern durch eine besondere bewegende Kraft" erfülle 7 , scheint dem entgegenzustehen, was Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" über den Raum sagt. Dort heißt es, etwas sei im Raum, insofern es angeschaut werde. Aber die den Raum erfüllende Bewegung, die wie jede Bewegung für sich nur dem Gesetz der Trägheit folgt (das, wie ausgeführt, keine besondere Kraft für Kant ausdrückt, sondern ursprünglich zu seinem Begriff des Raumes gehört), kann als gleichmäßige unbeschleunigte für sich allein genommen gar nicht von einer Bewegung des Subjekts unterschieden werden. Sie kann ebensogut objektive wie subjektive sein. Da der Raum zwar den Grund dafür enthalten kann, „daß bei Erweiterung des Volumens einer sich ausdehnenden Materie die ausdehnende Kraft im umgekehrten Verhältnis schwächer werde" 8 , aber niemals den Grund dafür, „daß sie irgendwo aufhöre", — er ist ja Inertialsystem! — so folgte aus der Annahme der raumerfüllenden Kraft allein, daß „in keinem anzugebenden R ä u m e . . . eine anzugebende Quantität Materie

• Kant, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, Akademie-Ausgabe, Bd. 8, S. 219 (Hervorhebung vom Vf.). 7 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Zweites Hauptstück, Lehrsatz 1. 8 Daraus versuchte Kant in seiner frühen Schrift „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" die Möglichkeit eines Beweises für die Dreidimensionalität des Raumes abzuleiten. Vgl. dort, Akademie-Ausgabe, Bd. 1, § 10.

Die Individuation im Subjektbegriff

,141

anzutreffen" sei', also nichts anderes, als in dem Begriff des Raumes als reiner Form der Anschauung sdion liegt. Die raumerfüllende Kraft und die produktive Einbildungskraft sind von ihrer Äußerung her ununterscheidbar. Gerade das ermöglicht gedanklich Kants sogenannte Kopernikanische Wendung zu dem Ansatz, „daß die Natur sich nach unserem subjektiven Grunde der Apperzeption richten, ja gar davon in Ansehung ihrer Gesetzmäßigkeit abhängen solle"1', und damit die „Affinität"" des Mannigfaltigen zur Synthesis, unter der es Objekt ist. Erst die Annahme einer zweiten, der Raumerfüllung entgegenwirkenden Kraft (unter dem Namen Anziehungskraft) macht den Obergang in die Metaphysik der Natur und die Annahme einer von der Einbildungskraft verschiedenen Kraft notwendig, welche die raumerfüllende Kraft einschränkt", so daß eine bestimmte Größe des Ausgedehntseins und damit überhaupt Materie nicht nur der Möglichkeit, sondern der Wirklichkeit nach möglich erscheint". Das heißt aber, daß Wirklichkeit, im Moment ihres Unterschieds von ihrer bloßen Möglichkeit, im Sinne des Kantischen Anschauungsbegriffs unanschaulich ist und somit niemals als objektiv notwendig verstanden werden kann. 3. Die Individuation im Subjektbegriff gegenüber dem Begriff des transzendentalen Subjekts Das Subjekt, das in seinem Entwurf der Natur über die Konstruierbarkeit der Begriffe zufolge der in einer reinen Anschauung evidenten Axiome hinausgeht, diese Axiome also verändert, verändert die Einheit der Synthesis der produktiven Einbildungskraft. Es hebt sie auf. Eine Einheit kann nur durch ihre Aufhebung verändert werden. Das verändernde Subjekt hat das Subjekt der transzendentalen Einbildungskraft zu seinem Gegenstand. Es hat ein sich veränderndes Subjekt zum Gegenstand. Nun kann zwar das transzendentale Subjekt niemals Gegenstand sein, aber hier ist ja auch nicht ein Subjekt, das transzendentales bleibt, Gegenstand, sondern ein Subjekt, das sich als transzendentales Subjekt verändert. Es wird ein anderes als ein transzendentales, nämlich ein erfahrendes oder empirisches, sich veränderndes Subjekt. Das Subjekt, das die Axiome der Erfahrung wegen verändert, ist die Syn* Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Zweites Hauptstück, Lehrsatz 5, Beweis. 10 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 114. » A 113. 12 Audi in der „Kritik der reinen Vernunft" sind die geometrisdien Figuren als Einschränkungen des Raumes verstanden. 13 Kant, Metaphysisdie Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Zweites Hauptstück, Lehrsatz 5.

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

thesis, die die beiden Subjekte, das der produktiven Einbildungskraft und das der Erfahrung, zusammenfaßt zum erfahrenden Subjekt, denn Erfahrung ist nur möglich, insofern ein empirisches Subjekt zugleich transzendentales ist. Es faßt sie nicht zu einem Gegenstand zusammen; es ist die Synthesis als das Übergehen von dem einen ins andere. Es ist dies Ubergehen — nicht wieder als Zusammenfassen von Gleichartigem wie die Synthesis der Einbildungskraft. Es ist das Übergehen zum anderen, nidit nur vojn „einen zum anderen" gemäß der Relativität dieser Ausdrücke, sondern das Ubergehen vom einen, das an ihm selbst Einheit ist, zum anderen, das an ihm selbst anderes oder sich veränderndes, nämlich erfahrendes ist, und es ist erst in diesem Übergehen Subjekt der Erfahrung. Denn dieser Übergang ist zugleich der Übergang von der Form der Anschauung zur Wirklichkeit als „Veränderung der Veränderung" oder zur „Natur", die nadi Hegel ihren Begriff darin hat, nicht das relativ andere, sondern das an ihm selbst andere zu sein. In diesem Übergang als dem Prozeß der Erfahrung ist die Form der Anschauung Ausgangspunkt oder Gegenstand der Veränderung. D a von ihr zu reden nur im Hinblick auf Erfahrung einen Sinn hat, hat sie ihren Sinn darin, verändert zu werden. Erst wenn Anschaulichkeit in diesem Sinne sich aufhebt, wenn über sie, wie in einem Satz über den Satzgegenstand, hinausgegangen wird, ist die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingung der Möglichkeit der „Gegenstände" der Erfahrung. Es stellt sich jetzt deutlicher dar, was sich hinter einer „Anleihe" bei der „Metaphysik der Natur" verbirgt, die aufgenommen werden muß, wenn wirkliche Anschauung, über ihren reinen Begriff hinaus, gedacht werden können soll: Hinter dem Prinzip zweier Kräfte, die jede für sich nicht von der Funktion der produktiven Einbildungskraft verschieden sind (bei der Annahme nur einer der beiden Kräfte bliebe der Raum jedesmal leer), verbirgt sich die Voraussetzung verschiedener Ausgangspunkte, von denen aus sie gegeneinander wirken. Die „Anleihe" ist die Voraussetzung des ganz abstrakten Auseinander zweier Kräfte, das nun als Auseinander in den Gedanken des Subjekts eingeht, statt „immer schon" subjektiv überformt zu sein. Wie in Hegels „Phänomenologie des Geistes" kommt es hier schon zu einem Ubergang aus der Subjekt-Objekt-Relation in ein Verhältnis gleicher, aber in ihrer Wirkung nicht mehr gleichgültiger, einander entgegenwirkender Kräfte. Ein Subjekt ist für ein Subjekt: „Wir sehen, daß im Innern der Erscheinung der Verstand in Wahrheit nicht etwas anders als die Erscheinung selbst" ist „und in der Tat nur sie/? selbst erfährt" 14 . Das Gegeneinanderwirken 14

Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 128.

Die Individuation im Subjektbegritf

143

zweier Kräfte, die jede für sich im selben Sinne Verstand sind, nämlich im Sinne der Konstruierbarkeit ihrer Äußerung in „reiner Anschauung", als Gegeneinander der gleichen „Kraft", aber aus verschiedener Richtung, ist das .Innere der Dinge', das Prinzip der „Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört"1*, also nicht weniger als das Sein der Dinge selbst. Auseinander (Raum) erscheint hier als principium individuationis von Subjekten (gleicher Funktion). Nicht nur ihrer von der Funktion als Verstand unterschiedenen leiblichen Materialität nach, sondern als Verstand, der in allen derselbe ist, sind sie zugleich untersdiieden. Im Durchgang durch die „Kritik" ergibt sich wieder eine an Leibniz erinnernde, aber nun „kritische" Position. Raum ist nicht mehr nur Form. Er ist weder formales Ordnungsgefüge noch nur Form der Anschauung, sondern Bedingung der Möglichkeit materialer Formerfüllung. Die Verschiedenheit zweier Kräfte war die Bedingung der Möglichkeit der Materie1*. Eine Funktion kann nun nicht zweimal vorkommen, weil sie nichts Vorkommendes ist. Eine Funktion als andere ist nur möglich, insofern sie sich ändert. Bedingung der Möglichkeit des Fürwahrnehmens der Materie ist eine sich an ihr selbst ändernde Funktion, oder die Funktion, die an ihr selbst in ihr anderes, nämlidi in Materie, übergeht. Materie ist die sich ändernde, sich gegen ihre allgemeine Bestimmtheit aufspreizende und darin unbestimmte Funktion. Das Subjekt, das sich gegenüber seiner fixierten Bestimmtheit ändert, ist Materie. — Eine solche Formulierung hat nun allerdings die Anschaulichkeit im Sinne des Figurenzeichnens in einer reinen Einbildungskraft hinter sich gelassen. Sie ist ebensogut von hinten nach vorn zu lesen: Materie, die die Änderung (der Richtung oder die Annahme einer anderen Richtung als die eine der Einbildungskraft) erzwingt, ist Subjekt und nicht nur Objekt der Bestimmung. Das Subjekt kommt im Versuch, Dasein in der Natur zu denken, zu sich selbst: Es ist freies Subjekt, insofern es eine andere Kausalreihe als die, die sich eindimensional ohne Anfang und Ende schematisieren läßt, initiiert. In sich selbst, gegenüber seinem vorausgesetzten Begriff von sich selbst, hat es sich dirimiert und ist für sich der Widerspruch zu dem, was es unter der Voraussetzung der Einheit von Subjektivität denken oder bestimmen kann. Insofern die „Anleihe" notwendig ist, um Dasein in der Natur denken zu können, stellt sich das „kritische" Denken, das auf „Anleihen" angewiesen ist, als der eigentlich problematische Ansatz gegenüber der Natur heraus. Es ist selbst der Irrtum der Position, die glaubte, „etwas" 15 1β

Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Zweites Hauptstück, Lehrsatz 5.

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

von der Natur zu erreichen, indem sie die Position aufsuchte, von der aus Natur eindeutig zu bestimmen sei, unter Absicht von sich dagegen aufspreizenden „Kräften", in deren Annahme man „Spuren des Fetischismus" erblickte". Deren „Bestimmung" kommt ohne Anleihen bei der Metaphysik, bei deren „unverbindlichem" Gerede von Kräften in einer Sprache, deren Bildlichkeit sich nicht zur Affinität zu reinen Verstandesbegriffen schematisieren läßt, nicht aus, so daß dahingestellt bleiben muß, ob diesem Sprechen „objektiv" etwas entspricht oder nicht. Zum Denken von Dasein gelangt die „kritische" Position nur, indem sie das metaphysische Wort in ihre Sprache aufnimmt, womit sie sich bereits im Gespräch mit der Position befindet, von der sie sich nur scheinbar selbständig absetzt, durch keine andere Valuta als die des anerkennenden Kredits gedeckt, den sich sprechende Wesen als solche gegenseitig einräumen. 4. Annahme einer intensiven Größe zur Abdeckung einer von der transzendentalen Einbildungskraft verschiedenen Kraft im Begriff des Subjekts Der metaphysische Begriff der Kraft ist unter dem Begriff der intensiven Größe auch in die „Kritik der reinen Vernunft" aufgenommen. Alle Erscheinungen „enthalten... über die Ansdiauung noch die Materien zu irgendeinem Objekte überhaupt . . d . i. das Reale der Empfindung, also bloß subjektive Vorstellung, von der man sich nur bewußt werden kann, daß das Subjekt affiziert sei, und die man auf ein Objekt überhaupt bezieht, in sich"18. Affektion des Subjekts stellt sich dar als Grenze des Versuches, die Anschauung rein zu halten: Im reinen Bewußtsein oder in der reinen Anschauung „verschwindet" „das R e a l e . . . ganz"". Es geht über in „Negation". Auf der Möglichkeit, es in reiner Anschauung und reinem Denken dadurch zurückzudrängen, daß das Subjekt objektive Bewegungen auf sich zu nehmen vermag, beruht die Möglichkeit reiner Wissenschaft. Daß dies Zurückdrängen prinzipiell nur bis zu einer gewissen Grenze, nämlich bis zur Veränderung einer Veränderung, möglich ist, bedeutet, daß das reine Denken im Begreifen dieser ihm eigentümlichen Grenze sdion das Reale „antizipiert", insofern es sich auch nur auf seine eigene Möglichkeit besinnt. Kants Denken hebt sich nicht skeptisch vor aller Realität auf, sondern erst vor der Realität in einer gewissen Potenz oder von bestimmter Intensität. Dem Skeptizis17 18

"

E . Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1908, S. 503. K a n t , Kritik der reinen Vernunft, Β 207/08. Β 208.

Annahme einer intensiven Größe

145

mus werden „bestimmte Grenzen" angewiesen10. Denken ist weder gar nichts von Gültigkeit, noch ist es alle Realität. In dieser Antizipation ist der Grad der Realität, der die reinen Möglichkeiten eines reinen Bewußtseins übersteigt und es zum empirischen Bewußtsein hin modifiziert, immer ein Grad über einen Nullwert hinaus, von dem aus das „empirische Bewußtsein" zu einem „gegebenen Maße" der Empfindung „erwachsen kann" 0 . In dieser antizipierenden Bestimmung der Materie als einer der reinen Einbildungskraft entgegenwirkenden Kraft ergibt sich „zwischen Realität in der Erscheinung und Negation ein kontinuierlicher Zusammenhang"**. Die Differenz zwischen beiden und damit zwischen empirischem und reinem Bewußtsein ist differenzierbar. Die Realität erscheint in der Antizipation als Größe vor dem Bewußtsein, aber doch als eine Größe, die an ihm ihr Maß hat. Sie wird „nur als Einheit apprehendiert", und die Vielheit oder Andersheit in ihr wird „nur durch Annäherung zur Negation = 0 vorgestellt"®*. In der Vorstellung als Einheit ist sie von der gleichen Art wie das sich als identisch begreifende Ich. Die Distanz von ihm oder die Nichtidentität wird dadurch aufgehoben, daß „Zwischenempfindungen" als möglich gedacht werden können, die zwar immer noch von Null als der reinen Anschauung verschieden sind, sich aber doch ebensogut der Identität mit ihr nähern. Daß der Grad der Empfindung und der darin liegenden „Materien zu irgendeinem Objekte überhaupt"*4 intensiv, d. h. „in einem Augenblicke und nicht durch sukzessive Synthesis vieler Empfindungen geschieht"**, also nicht extensiv, über sich selbst als das andere seiner selbst hinaustreibend, ermöglicht es, die Empfindung oder überhaupt das andere des Subjekts als etwas zu verstehen, das es affiziert und zu ihm als einem Identischen affin ist. Es stellt sich dem Subjekt im Begriff der intensiven Größe als etwas dar, das ihm sowohl Sachhaltigkeit als Identität seiner selbst verbürgt. Subjekt und Objekt werden damit erst mögliche Relata einer Relation, die dem vorausgesetzten Begriff vom Subjekt genügt. Die intensive Größe ist der Druck der Realität „in einem Augenblicke". Man erkennt in ihr die raumerfüllende Kraft aus „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" wieder, durch die die Materie sich im Räume ausbreitet und die, indem sie gehemmt wird, den Raum als bestimmtes Quantum von Materie erfüllt. Die Vorstellung des einen Augenblicks, die zu dem Begriff der intensiven Größe gehört, lebt Β 128. " Β 208.

10

22 23

ϊ4

κ

A 168 Β 210. Ebd.

Β 207.

Α 168 Β 210.

146

Grenzen des kritischen Naturbegriffs

von der Vorstellung eines Gegeneinander von Kräften, die sich dadurch, daß sie gegeneinander wirken, gegenseitig hindern, sich ins Unendliche auszubreiten und somit aufzuheben: Der Begriff des in der Zeit bestimmten Subjekts setzt „Beharrliches" als „die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme" 1 ', voraus. Nur so bin ich mir „meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt"". — Aber umgekehrt setzt die Existenz einer das Subjekt in der Zeit bestimmenden Realität audi das Subjekt als dieser Bestimmung entgegenwirkende Kraft voraus. Die Entgegensetzung von Realität und deren Negation geschieht „in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfüllten, oder leeren Zeit"88, da Realität dem Begriffe nach ein Sein in der Zeit und Negation ein Nichtsein in der Zeit anzeigt. Die Zeit erfüllt ihre Aufgabe als Schema, so „ganz Ungleichartiges" wie Begriff und Anschauung zu vermitteln, nur deshalb, weil die beiden zu vermittelnden Seiten von vornherein von der Bedingung der Möglichkeit ihrer Vermittlung, nämlich der Erkenntnis her konzipiert sind. Die Zeit, vorgestellt als dieselbe in einem Augenblick, ist nidits anderes als die Voraussetzung der Erfüllung dieser Bedingung, wie sie in allem Vorstellungen begleitenden Selbstbewußtsein geschieht. Sie als vermittelndes Schema ist diesem gesunden Selbstbewußtsein 50 sicher, wie es sich selbst seiner sicher ist, d. h.: soweit es sich nicht wegen eines über es als identisches Sidi-Verhalten hinweggehenden Druckes der Realität selbst in Frage stellt. Da es dies „gewöhnlich" oder in der Eingewöhnung eines identischen Sich-Verhaltens als „glückliches" Bewußtsein unterläßt und alles Ich in der Tat auch Identität ist — allerdings zufolge einer Abstraktion und also in Wahrheit ebensogut nicht — bleibt ein Residuum vor dem Skeptizismus übrig. Er kann zu den philosophischen Haltungen gerechnet werden, „die mehr den Schulen gefährlich sind und schwerlich ins Publikum übergehen können"". Solange Realität und Negation als Kategorien des Denkens ihrerseits vorgestellt werden als Erfülltsein oder Nichterfülltsein derselben und mithin den Unterschied überformenden Zeit, ist das Ausmaß dieses Unterschieds noch nicht im Denken, sondern noch davor. Solches Vorstellen hält sich in der Dimension auf, in der die Möglichkeit, von einer vorausgesetzten Ich-Identität her zur Realität zu gelangen, nicht im Ernst bezweifelt ist. Indem der Begriff der Negation gerade es selbst in seiner reinen Möglichkeit als sich Beziehen auf reine Anschauung meint, ist diesem Begriff die Schärfe genommen, mit der er ins Publikum dringen und wirksam werden könnte. Die Zeit, die sich nicht wie der 2

· Β 275/76. Β 275. 28 A 143 Β 182. 27

28

Β XXXIV.

Annahme einer intensiven Größe

147

Raum in Dimensionen aufspreizt, erfüllt für sich und also abstrakt genommen vollkommen den Begriff der reinen Anschauung in der Vorstellung des punktualen Augenblicks, der erfüllt sein kann oder nicht. Der Begriff der intensiven Größe, nach dem alles Reale als „Gegenstand der Empfindung" einen Grad hat*0, antizipiert, was nicht Realität unter vorausgesetzter Identität in der Wahrnehmung ist, immer nodi als Grad („Null") und also gar nicht als etwas, was wirklich nicht unter dieser Voraussetzung zu antizipieren ist. Er nimmt sich vom Wahren nur, was an ihm unter vorausgesetzter Identität in der Anschauung und also als gleich gültige Größe antizipiert werden kann. Daß das nur bis zu einem bestimmten Grad möglich ist, muß dem Subjekt so erscheinen, als sei der Grad eine Bestimmtheit des Erscheinenden gemäß einer weder räumlichen noch zeitlichen, sondern intensiven Größe. Es ist sich seiner als eines rein identischen nur gewiß, insofern in der Form der Anschauung nichts ist, was es nicht antizipieren könnte. Selbst Negation allen Inhalts dieser Form, die ihm als Gedanke den Boden seiner Gewißheit entzöge, ist von diesem Boden her ein Grad. Die Frage, ob „wir" uns denn tatsächlich der Begriffe Realität und Negation anders denn als „Entgegensetzung beider... in dem Unterschiede derselben Zeit, als einer erfüllten, oder leeren Zeit" bedienen können, läßt nur die eine Antwort zu, daß dies nicht möglich ist. Solange „wir" uns dieser Begriffe bedienen, sind „wir" als Identische dabei. „Wir" ist ein Publikum, in das der Skeptizismus nicht eingedrungen ist. Auf dem Hintergrund eines solchen „Solange" hat Zeit den Sinn, die radikalste denkbare Differenz, die von Realität und Negation, in einem Augenblick zu umgreifen und nur als Grad von Erfülltsein dieses Augenblicks verstehen zu lassen. Von diesem Solange gewährt sie scheinbar ein solches Verstehen. Aber es ist nicht „die" Zeit, die dies gewähren und damit für alle Zeit ermöglichen könnte, sondern eine Vorstellung von Zeit, die von den Bedingungen her begrenzt ist, unter denen es möglich ist, daß „wir" uns dieser entgegengesetzten Begriffe nur bedienen und uns unserer eigenen Identität vor dem Anwenden dieser Begriffe gewiß sind, so daß ihr Sinn nicht auf uns zurückschlägt, sondern sich nur auf alles „außer uns" bezieht. Ohne solche die Vorstellung von Zeit abstekkenden Bedingungen gewährt Zeit keinen „Augenblick", der wie eine Form erfüllt sein könnte oder nicht, so daß die Negation nur Negation des Inhalts, nicht aber auch der in dieser Form vorstellenden Vorstellung bliebe. Offenbar handelt es sich um ein Publikum, in dem ein vorherrschendes Bewußtsein, das nicht das ausgezeichneter Personen zu sein braucht, noch über dem Denken steht. Es „bedient" sich des Denkens so

Β 207.

Grenzen des kritischen Naturbegriffs

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nur, wodurch es sich als eine im allgemein herrschenden Bewußtsein gefestigte Gruppeneinheit konstituiert. Die intensive Größe, die innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft" noch am ehesten als Einwirkung der vom Subjekt unabhängigen Natur oder als materieller Faktor erscheint, ist in Wahrheit ein Moment, das unter der Bedingung eines vorherrsdienden und dem Denken übergeordneten (verdinglichten) Bewußtseins antizipiert wird. Antizipation aller Afiektion durch anderes, als eines Grades von Augenblickserfüllung, gelingt, solange das Bewußtsein selbst, wenn man das andere des Denkens Natur nennt, in einem Naturzustand verharrt, in dem es „animal sociale" ist im Verband eines geschlossenen Publikums, in den das Denken nicht eindringt, sondern im Sinne des Bestehens eines solchen Verbandes „gebraucht" wird, d. h. solange Denken pragmatisch ist, sich aber selbst noch nicht als pragmatisch durchdenkt. Erkenntnis der Natur soll durch Denkarbeit der Widerlegung des Skeptizismus in den Bedingungen ihrer Möglichkeit aufgewiesen werden. Aber der Begriff dieser Erkenntnis und der der darin gemeinten Natur sind Begriffe, die auf der Stufe der Reflexion einen Sinn haben, auf der der Mensch als natürliches Wesen, das er ja auch ist, dabei ist, aber unreflektiert. In der Reflexion auf Naturerkenntnis kommt er sidi selber nidit als Natur, sondern nur als deren Subjekt in den Gedanken. Solche Naturzustände des Menschen, die Hume schon traf, indem er Gewohnheit und Trägheit als Natürliches im Menschen für die Möglichkeit der Erklärung des Anscheins von Erkenntnis einer Gesetzen folgenden Natur freilich noch vorkritisch heranzog, sind durch ausgesprochene oder unausgesprochene Grundsätze fixierte Sprachzustände. Mit ihnen stellt sich Natur als Gegenstand möglicher Erkenntnis her.

5. Die innere Grenze in Kants antiskeptischer

Position

Der Hume'sdie Skeptizismus kritisiert das Denken hinsichtlich seiner Annahme, es sei möglich, a priori zum Begriff einer notwendigen Verknüpfung von Naturgegebenheiten zu kommen. An die Stelle einer solchen Notwendigkeit setzte er eine aus der Erfahrung stammende Gewohnheit, bei bestimmten gleichartigen Gegebenheiten bestimmte andere zu erwarten. Kant sah in dieser Lehre bekanntlich einen falschen Schluß „aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung nach dem Gesetze, auf die Zufälligkeit des Gesetzes selbst"31. Dieser Unterschied kann aber nur gemacht werden, wenn das Gesetz sich auf ein „Material" bezieht, das nichts mit der zufälligen Gegebenheit des Empirischen zu tun hat und S1

A 766 Β 794.

Die innere Grenze in Kants antiskeptisdier Position

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Gegebenes nur betrifft, insofern es überhaupt gegeben ist, also auf die reinen Formen der Anschauung. Gleichartige Dinge sind in ihrer spezifischen Art für die Erfahrung zufällig. Haben wir uns daran gewöhnt, eine bestimmte Art, wenn sie gegeben ist, ζ. B. den Blitz, als Ursache dafür anzusehen, daß dann auch ein Ding einer bestimmten anderen Art, z.B. der Donner, gegeben ist, indem wir „unmittelbar durch die Kraft der Gewohnheit"" davon ausgehen, was in der Vergangenheit so gewesen sei, müsse audi „in Zukunft so bleiben"®8, so kann das nur die Anwendung des Gesetzes betreffen, die sidi auf zufällige, in empirische Begriffe gefaßte Gegebenheiten ebenso zufällig bezieht. Ursache ist etwas aber nicht, insofern es Ding einer Art ist, sondern insofern es als Zeitliches zeitlich in einem notwendigen Zusammenhang mit anderen Zeitlichen steht. Die Gleichförmigkeit der Erscheinung der Möglichkeit des Erscheinens nach ist Ansatzpunkt der Kausalität, nicht die Gleichartigkeit wirklicher Dinge. Wenn auch nach Hume daraus, daß der „Lauf der Dinge" bisher „regelmäßig" war, nicht geschlossen werden kann, „daß es in Zukunft so bleiben muß"**, so steht doch fest, daß der Lauf der Dinge der Form ihrer Erscheinungsmöglichkeit nach so bleiben wird, wie er bisher war, nämlidi ein nicht umkehrbares Nacheinander, durch das er überhaupt erst ein „Lauf" ist. Wenn man genau liest, stellt man fest, daß audi nach Hume nicht die Art gewisser Dinge Anlaß dafür sein soll, daß sich die Gewohnheit bildet, sie als Ursachen gewisser anderer Dinge anzusehen. Sondern die Gewohnheit als „Prinzip der menschlichen Natur""5 ist Grund dafür, daß etwas als etwas angesehen wird, das notwendig anderem vorausgeht. Bei Kant ist es umgekehrt: Die Notwendigkeit des Gesetzes ist Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die Gewohnheit, nach diesem Gesetze Erscheinungen zu verknüpfen, sich bilden kann. Denn erscheinende Dinge müssen, insofern sie erscheinen, als gleichförmige Mannigfaltigkeit in dieser Weise zusammengefaßt werden. Hätten sie diese Gleichförmigkeit, weil sie einem Individuum der Menschenarm erscheinen, so wäre der Skeptizismus nidit überwunden. Er ist nur überwunden, wenn sie einem Prinzip der Anschauung zufolge als gleichförmige Mannigfaltigkeit angeschaut sind und ein ansdiauendes Wesen es zum Prinzip hat, sie so anzuschauen, und dadurch den Skeptizismus überwindet. Die Erfüllung dieses „wenn" bleibt, als Ergebnis der Reflexion über Kant und dem Kantischen Notwendigkeitsbegriff nach, notwendigerweise zufällig. Humes vorkritischer Skeptizismus konnte nicht, wie der durch Kant hin34 ss 34 55

Hume, Eine Untersudiung über den menschlichen Verstand, Leipzig 1907, S. 61. Ebd. S. 49. Ebd. Ebd. S. 55.

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

durchgegangene, die Notwendigkeit der Zufälligkeit mit der Zufälligkeit der Notwendigkeit zusammendenken. Nach Hegel ist die Zufälligkeit „die absolute Notwendigkeit"". Sie ist Modalität dessen, was grundlos geschehen muß, damit etwas als mit Grund geschehen verstanden werden kann. Es kann selbst absolut keinen Grund haben, muß zufällig sein, ehe überhaupt von Müssen zu reden ist. Dies notwendig Zufällige, die Reduktion der Erscheinungen auf ihre bloße Form des zeitlichen Erscheinens unter Zugrundelegung dessen, was Kant über die Zeit sagt, ist aber nichts anderes als die Reduktion auf eine Gleichförmigkeit der Anschauung, in der ungehemmt und unbeschleunigt das Subjekt nur der eigenen Bewegung des Anschauens folgt und den objektiven Zwang einer bestimmten Reihenfolge der Apprehension als schon nidit mehr der reinen Anschauung zu entnehmende Regel des Verstandes auf sich nimmt. So kann sich „Ich" als reine Identität begreifen, solange dies zufällig gelingt, d.h. solange die Bewegung eines Dinges „geradlinichte" Bewegung bleibt. Kausalität ist begründet und zugleich begrenzt". Das Gesetz ist dann aber von der zufälligen Gewohnheit unserer Bestimmung nach dem Gesetz nicht mehr abstrakt zu unterscheiden. Das notwendige Gesetz ist die reine Gewohnheit. Es ist die Absicht davon, daß zufällig nach ihm etwas als bestimmt gedacht wird. Nur als diese Absicht oder Abgrenzung gegen die Zufälligkeit, in der es sich bildet, ist es eindeutig notwendig. Diese Bildung könnte nur als „Veränderung einer Veränderung" oder Bewegung einer Bewegung gedacht und deshalb nicht auf Anschauung a priori bezogen werden. Daß dies nicht möglich ist, ist der eigentliche Nerv des Hume'schen Skeptizismus, der von Kant nicht abgetötet werden konnte, weil die Gewöhnung sich nicht selbst in den Blick bekommt. Sie ist identisch mit sich selbst. Die reinen Formen ihrer Anschauung sind solche, die Ungewohntes ausschließen. Hume's „Untersuchung über den menschlichen Verstand" betrachtet diesen Verstand als „Gegenstand", indem sie danach fragt, was ihm überhaupt seiner „Natur" nach38 zufolge seiner Kräfte und Fähigkeiten an Erkenntnis möglich ist, aber nicht als einen Gegenstand, über den Wissen eher möglich wäre als über irgend einen anderen. Auch im Bezug auf die Verknüpfung der geistigen Tätigkeiten, also auf die Erforschung des Verstandes selbst, kommen wir nicht weiter als bis zu der Einsicht, »· Hegel, Logik II, S. 183. 57 Hegel spricht von der „Hartnäckigkeit des gesunden Menschenverstandes, sich in der Kraft seiner Trägheit, das Bewußtlose in seiner ursprünglichen Schwere und Entgegensetzung gegen das Bewußtsein, die Materie gegen die Differenz gesichert zu halten, die das Licht nur darum in sie bringt, um sie in einer höhern Potenz wieder zur Synthese zu konstruieren" (Differenz des Fidite'schen und Schelling'schen Systems, Hamburg 1962, S. 25). 58 Hume, a. a. Ο., S. 10 f.

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daß nur die Gewöhnung solche Verknüpfungen zustande bringt. Die Gewöhnung ist also audi dann, wenn der Verstand selbst Gegenstand ist, das einzig Regelnde. In dem vorkritisdien Skeptizismus bleibt die Zufälligkeit als Modalität selbst etwas Zufälliges. Löst sich der Gegenstand, der wir in unserem Selbstbewußtsein oder in der Reflexion selbst sind, darin auf, Gewohnheit zu sein? Dann löste sich die Hume'sche Argumentation, Kausalität hinge an der Natur des Verstandes, ebenfalls auf. Bei Hume ist diese Konsequenz explizit nicht gezogen. Aber sdion die Reflexion des Subjekts auf das, was es selbst ist, bzw. aus sich selbst vermag, ist, diesem Prinzip des Verharrens bei sich zufolge, die Auflösung eines Gegenstandes »Verstand" und seiner „Natur" in prinzipielles Verharren als Verhaltensidentität. Der vorkritische Skeptizismus tut, was ihm immer vorgeworfen wird, aus Konsequenz: Das skeptische Bewußtsein hebt sich selbst (als Position) auf; es „vollbringt" sich". Er besteht nicht gegen die Kritik, sondern nimmt undurdischaut vorweg, was Kant ausspricht: Ich ist kein Gegenstand. Es ist Prinzip. Aber das Prinzip war reine Gewohnheit. Erst dieser letzte Schritt, der die Notwendigkeit als solche an einem Zufälligen festmacht, dessen Zufälligkeit erst als absolute Notwendigkeit zu begreifen ist, überwindet die Selbstaufhebung der skeptischen Position und kommt gerade dadurdi zu einem Begriff von Notwendigkeit im Denken, daß er Notwendigkeit nicht mehr unvermittelt auf ein Ding, sondern auf die Zufälligkeit, d. h. doch: Dinglichkeit des Dinges bezieht. Es ist der Weg zu dem wahren Gedanken der Natürlichkeit des menschlichen Verstandes als dem ersten unbedingt wahren Gedanken über ihn selbst. Die Vollzähligkeit der Kantischen Kategorien als Bedingung der Möglichkeit, in ihrer Deduktion an ein Ende zu kommen und so zugleidi von ihnen aus in vollständiger Induktion zum Verstand als ihrem Inbegriff zu gelangen, ergibt sich mit der begrenzten Möglichkeit einer reinen Bewegung im Subjekt, objektive Bewegung nachzuzeichnen. Jenseits dieser Grenze ist das Subjekt genötigt, eine „Anleihe" bei einer „Metaphysik der Natur" aufzunehmen. Nach den bisherigen Überlegungen heißt das: in die Erfahrung einzutreten, sich als rein identisches Subjekt preiszugeben und der zufälligen Wirklichkeit aufzuschließen. Was da aufgenommen wird, ist die Idee eines anderen Subjekts, ohne die ja schon der Begriff eines sich ändernden Subjekts nicht gedacht werden kann. Was dabei fallengelassen wird, aber auch erst an dieser Grenze fallengelassen werden muß und nicht schon, wie Hume glaubte, gegenüber dem abstrakten Begriff einer äußerlichen Natur, ist das Postulat der Anschaulichkeit in einer reinen Anschauung, das zu den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, wie Kant gezeigt hat, dazugehört. " Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 67.

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

Die Idee eines anderen Subjekts wird aufgenommen, indem ein Satz angenommen wird, dessen Begriff nicht in der reinen Anschauung und nicht von der Idee der Einheit der Subjektivität her zu schematisieren ist. Das Kausal Verhältnis ζ. B. verknüpft zu einer notwendigen Folge, was in der Zeitfolge folgt wie ein Augenblick dem anderen: der eine bedeutet als dieser schon den anderen. Die Zeit ist dabei im räumlichen Bilde einer Linie angeschaut: Auf einer Linie ist nichts zwischen ihren Punkten. Die Vorstellung eines Punktes impliziert notwendig die Vorstellung eines weiteren Punktes. Die Vorstellung folgt dem immanenten Gesetz ihrer Räumlichkeit, indem sie dermaßen sich formiert. Anden verhält es sidi, wenn man einen Satz als „zusammengesetztes Zeichen" bestimmt44. Zeichen bezeichnen etwas anderes als das, was sie unmittelbar anschaulich sind, zumal wenn gesagt wird, ein Zeichen habe Bedeutung, „wenn sidi alles so verhält als hätte" es „Bedeutung"41. Die Verknüpfung von Zeichen richtet sich aber nach den Bedeutungen. Die Verknüpfung ist von ihren Gliedern her in keiner Anschauung vorgezeichnet, weil sie mit der Anschaulichkeit der Glieder nichts zu tun hat. Hier wird wieder deutlich, daß die Kantische Forderung der Urteilsverknüpfung im Hinblick auf mögliche Anschauungsgegenstände den Zeichencharakter der Zeichen übergeht. Das Kantische Subjekt verweilt beim Angeschauten, insofern es angeschaut ist. Es versteht sich als kritisch, insofern es nur verknüpft, was in der reinen Form der Anschauung als verknüpfbar angelegt ist. Da diese Form dem rein in sich verweilenden Anschauen oder dem gleichförmigen Anschauen entspricht, ist das Ignorieren des Zeidiencharakters dasselbe wie das Verharren des Subjekts rein bei sich. Es transzendiert sich nicht. Die Auffassung Wittgensteins im „Tractatus logico-philosophicus"42, nach der Urteile (Sätze) die Wirklichkeit abbilden, insofern sie „a posteriori", d. h. ihrer Bildung zu Sätzen gegenüber zufällig „verifizierbar" sind, ist das andere Extrem. Es verdeutlicht die Abstraktheit des Kantisdien Ansatzes, ohne deshalb sich selbst als wahr auszuweisen. Im Gefolge der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit, um die Wahrheit von Urteilen zu wissen, bildete sidi ja gerade der Ansatz Kants. Die Kritik an ihm ist Kritik an der Reflexion auf solche apriorischen Bedingungen. Sie verweist auf den Begriff eines Wissens zurück, das die Wahrheit aus Urteilen erfährt, ohne in einer Reflexion in sich die Gewißheit ihrer Wahrheit zu erlangen. Erst im Durchgang durch die Kantische Reflexion zeigt sich die Wahrheit einer solchen Gewißheit. Es zeigt sich,

40 41 42

L. Wittgenstein, Tagebücher, in: Schriften, Frankfurt a. Main 1963, S. 143. Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a. a. O., Satz 3.328. Ebd. Satz 4.022: „Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist."

Die innere Grenze in Kants antiskeptisdier Position

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daß es sie nicht gibt. Das ist scheinbar dasselbe wie der Skeptizismus Hume's, über den die Position Wittgensteins nicht hinausgeht, wenn sie das empirische Zusehen gegenüber dem außersprachlichen Verhalten an die Stelle der transzendentalen Verknüpfungsform setzt, an deren Möglichkeit nach Kant die objektive Gültigkeit audi der empirisdoen Sätze hängt, und das Verhalten, das gewöhnlich auf ein Zeichen hin erfolgt, als dessen Bedeutung bestimmt. Der Sinn des Wittgensteinschen Satzes, die Bedeutung eines Zeichens zeige sich in dem durch es ausgelösten Verhalten43, könnte diesem Satz zufolge nur in unserem Verhalten diesem Satz gegenüber liegen. So versteht ihn aber Wittgenstein nicht, und so verstehen wir nicht die Sprache. Der Anspruch an Sätze, daß sie Wahres mitteilen sollen, hat sich, wenn der Kantische Versuch, die Gewißheit ihrer Wahrheit in einer transzendentalen Überlegung zu erlangen, nicht gelingt, nur erledigt, wenn zwischen Wahrheit und ihrer Gewißheit kein Unterschied besteht. Genau diesen Unterschied lehrt der Durchgang durch die Kantische Reflexion: das Einsehen in die Unmöglichkeit der transzendentalen Gewißheit der Wahrheit, aber nicht der Wahrheit. Apel trifft das Phänomen der Sprache, wenn er in seiner Kritik der pragmatisch-behavioristischen Positionen von Morris" und Wittgenstein auf den situationseröffnenden Charakter der Sprache hinweist45. Gesprochene Worte eröffnen mitunter erst den Raum, in dem sich dann bestimmte Verhaltensweisen bilden können. Apel verweist auf Worte aus dem Neuen Testament und auf bedeutende Werke der Dichtkunst. Im Durchgang durch Kant ergibt sich jedoch, daß ein solcher, durch subjektive Reflexion nicht im voraus sicherzustellender Eröffnungscharakter für keinen Satz der Sprache auszuschließen ist. Er ist nichts, was im „Bereich" des Sprachlichen „vorkommt" und deshalb in einer Theorie neben dem Feststellungscharakter auch zu bedenken wäre, sondern genau das, was die Theorie nicht faßt. Das ist erst dann nidit etwas Irrationales, wenn die Reflexion auf die feststellende Sprache wie bei Kant auf ihre höchstmögliche Spitze und über sich hinaus getrieben worden ist. Die Ausflucht in den Behaviorismus ist dagegen die Folge eines Festhaltens der Identifizierung der Wahrheit mit ihrer ohne Kant nur als außersprachliche „Verifikation" zu verstehenden Gewißheit. Soll Wahrheit in der außersprachlichen „Verifizierung" liegen, so ist sie zudem „a priori" als irrational deklariert. Der Begriff einer theoretischen Wahrheit oder einer wahren Theorie, auch der Theorien, die „Wahrheit" so verstehen, wäre in sich widersprüchlich. Mit 43 44 45

Ebd., Satz 3.328. Ch. Morris, Signs, Language and Behaviour, New York 1955. K. O. Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963, S. 33 ff.

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

der Einsicht in die Unmöglichkeit der Gewißheit müßte dann audi die Möglichkeit der sprachlichen Erfahrung der Wahrheit und folglich jeder Sinn ihrer Mitteilung (also die Sprache in ihrer ersten Funktion vor der der Faktenfeststellung) geleugnet sein. Der Durchgang durch Kant ergab mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer Anleihe bei der „Metaphysik der Natur" zugleich die Notwendigkeit der Idee des anderen Subjekts und des Zusammendenkens der Wahrheit mit ihrer Mitteilung statt mit ihrer Gewißheit. Der Ausgangspunkt von dem Postulat einer Einheit von Wahrheit und Gewißheit hatte sich im Resultat in den Gedanken einer Einheit von Wahrheit und Mitteilung, von der Voraussetzung nur eines Subjekts, vorgestellt als abschließender Inbegriff seiner Gedanken, in den Gedanken des anderen Subjekts geändert. Die Sprache ändert die Gedanken eines Menschen in die anderer Menschen; sie bewegt die Gedanken. Mit ihr bewegen Mensdien sich. So sehr das Kantische Denken sidi an der Naturwissenschaft orientiert, so sehr ist es in seiner Konsequenz, die über den Kantischen Ansatz hinausführt und ihn aufhebt, ungeeignet zu einer systematischen, von einem Prinzip geleiteten und in sich widerspruchsfreien Bestimmung der Erfahrung. Die Möglichkeit solch eines Prinzips hebt sich in dieser Konsequenz auf, wenn an dem Anspruch der Wahrheit der Urteile, d. h. daran, daß gedacht werden können soll, daß es Urteile über etwas sind, festgehalten wird. Das Prinzip einer universalen, widerspruchsfreien Bestimmung läßt sich nur halten, wenn dieser Anspruch nicht länger erhoben wird. Die Anstrengung des Denkens gegen die skeptisdie Position Hume's hat dann ihre Triebkraft verloren. Ohne diesen Anspruch genügt die „probeweise" Formulierung von eindeutig bestimmten Urteilen gegenüber der Erfahrung. Welchen Sinn sie auch haben mag, ob er wissenschaftsökonomisch oder pragmatisch verstanden wird, es ist dann nicht mehr der der Wahrheit der Urteile im philosophischen Sinn. Die Unanschaulichkeit solcher Formulierungen dokumentiert auf dem Hintergrund der Kantisdien Forderung nach Anschaulidikeit, die ja wegen der Denkmöglichkeit der Wahrheit gestellt worden war, den Verzicht auf einen solchen Sinn. Das philosophische Resultat aus Kant ist nicht ein Verzicht auf Anschaulichkeit, sondern Verzicht auf deren Reduktion auf „Form" der Anschauung. Die Aufhebung der reinen Anschauung kehrt nicht einfach zum empirischen Begriff des Subjekts von sich zurück. Wie ein Subjekt eine inhaltliche Anschauung, d. i. eine Empfindung, in sich aufnehmen und ausdrücken könnte, so daß dieser Ausdrude wahr, Ausdruck von etwas sein sollte, bleibt nach wie vor unbegreiflich. Die Aufhebung der reinen Anschauung kehrt zur empirischen nur zurück, insofern sie die reine Anschauung, als Absicht vom empirischen Inhalt, zugleich bestehen läßt und in der bestimmten Negation einer konkreten

Grenzbestimmung als Grenzüberschreitung

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Anschauung zum Begriff gelangt. Das ist das Artikulieren und Verstehen von Zeichen, das die Notwendigkeit der Zufälligkeit von etwas, des sinnlichen Zeichens in seinem artikulierten Auseinander, für den Begriff unmittelbar einsieht. Die Artikulation des zufälligen Tones in einer sinnlich erfüllten Zeit formt ihn auf Bedeutung hin, indem sie ihn hervorbringt. Sie negiert also niemals abstrakt gegenüber der Form und reicht darin über die reine Anschauung hinaus, die bei Kant, in der Konsequenz seines ambivalenten Raumbegriffs, als das Wesen mathematischer Begriffe unvermittelt den Begriffen als „Synthesis möglicher Anschauungen" realer äußerer Gegenstände gegenüberstehen bleibt4'. Die artikulierte Spradie überbrückt den Raum als das Auseinander verschiedener Subjekte, aber sie tut es eben deshalb nicht mehr auf geregelt eindeutige Weise. Dennoch ist sie dem Notwendigen gegenüber, das an der Reinheit der Anschauung seine Grenze hat, das absolut Notwendige. Gerade die Zufälligkeit des Zeichens ist für den Begriff zufolge des sprachlichen Begriffs vom Begriff notwendig. Das Subjekt kann reine Verstandesbegriffe der Bedeutung nach von denen der Sprache prinzipiell unterscheiden und sich darin als Verstand konstituieren, weil es in einer Sprache lebt, die gegenüber dem transzendentalen Begriff der Notwendigkeit zufällig ist, und es aus ihr heraus auf »sich" als Identität reflektiert. Es kann dies, wie Hume mit Kant einzuwenden ist und wie die „Deduktion" der Kategorien in ihrer Vollzähligkeit zeigt, bis zu der genannten Grenze durchaus. Es muß es können, um Begriffe wie Notwendigkeit und Zufälligkeit allererst gegeneinander bestimmen und denken zu können. Aber es kann es nur, weil die Natur des Verstandes zwar nicht den Begriff (psychologisch, etwa aus Gewöhnung) festlegt, aber als sprachliche Natur aus sich entläßt. Die Natur des Verstandes ist der Organismus, aber der Organismus, insofern er Töne in dem Sinne artikuliert, daß sie etwas über ihr raum-zeitliches Angeschautsein Hinausweisendes bedeuten. Hamann spricht von „der Gebärmutter der Sprache, welche die Deipara unserer Vernunft ist"47.

6. Grenzbestimmung als Grenzüberschreitung Nur wenn und soweit das Subjekt Empfindungen überformen und in seine Gleichförmigkeit des Anschauens einbeziehen kann, sind ihm syn46 47

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 719 Β 747. Hamann, Werke, hrg. v. J. Nadler, III, S. 239. In der artikulierten Spradie sieht Hamann audi „das leibhafte Urbild alles Zeitmaaßes", in der Bilderschrift das „der Oekonomie des Raums" (III, 286). Der formalen Einteilung von Raum und Zeit liegt die Spradie als Bedingung voraus. Hamanns Äußerungen gewinnen im Durchgang durdi Kant ihren exakten philosophischen Ort.

Grenzen des kritischen Naturbegriffs

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thetische Urteile a priori möglich, und es ist innerhalb einer Grenze denkbar, daß es das kann. Nur insofern ist es transzendentales Subjekt. Das Mitdenken der Grenze überschreitet sie: Von der Wirklichkeit betroffen werden kann ein Subjekt, ohne noch die Möglichkeit zu haben, sidi als identisch aller Erfahrung Vorausliegendes zu denken, nur, wenn anderes ihm ebenfalls als Subjekt, d. h. als nicht mehr von einem Vor-Begriff her zu Bestimmendes, also nicht mehr als Objekt, entgegensteht. Diese Grenze durchzieht den Begriff der Subjektivität. Zugang zur Wirklichkeit (Natur) hat ein Subjekt nur über die Sprache. Nur über die Sprache hat ein Subjekt von Gegenständen es mit anderen Subjekten von Gegenständen zu tun. Nur in Übereinstimmung mit diesem Ergebnis wird hier von Sprache gesprochen. Es könnte positivistisch eingewendet werden, die natürliche Erfahrung könnte schon das Subjekt nötigen, seine durch das Prinzip der Identität bestimmte, gleichförmige Form der Anschauung zu ändern. Ein solches Subjekt ist aber nidit Subjekt möglicher Erfahrung. Zu aller Erfahrung gehört ihrer Möglichkeit nach Verstand, d. i. Widerstand gegen solches Betroffensein von außen. (Poincare setzte hier seine „Prinzipien" an, ohne aber ein Prinzip dafür angeben zu können.) Verstand macht „die Vorstellung eines Gegenstandes" dadurch „überhaupt möglich", „daß er die (reine)48 Zeitordnung auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt, indem er jeder derselben als Folge eine, in Ansehung der vorhergehenden Erscheinungen, a priori bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt"". In allen Fällen des Affiziertseins muß dies möglich sein. Es ist Bedingung dafür, daß verschiedene Affektionen dasselbe Subjekt betreffen. Sonst könnte das Subjekt keine Verbindung zwischen den verschiedenen Gegebenheiten erkennen und also auch nichts durch sie in ihrer Verschiedenheit erfahren. Es kann nur etwas entgegen seiner Form der Anschauung (also überhaupt etwas) erfahren, insofern es ihm als Gegenstand in einer ebenfalls bestimmten, aber seiner Form der Anschauung entgegenstehenden Form „gegeben" ist und insofern in dem, was ihm da, der Funktion seines synthetisierenden Verstandes zuwider, gegeben ist, ebenfalls schon Verstand und damit eine synthetische Einheit ist. Eine solche nicht in der Form seiner Anschauung liegende und für es doch verständliche Synthesis ist nur in der Form eines sprachlichen Satzes als Synthesis möglidi. Natur ist als Gegenstand der Erfahrung ohne den „Umweg" über die Sprache gar nicht sinnvoll zu denken. Die Sprache ist die erste Natur des Menschen, in der er lebt und die er nicht nur „sich"

48

Zusatz v. Vf.

49

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 199 Β 244/45.

Grenzübersdireitung als Bedingung sinnvoller Sätze

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gegenüber hat. Es ist nicht mehr schlecht metaphorisch, wenn jetzt gesagt wird, sie eröffne den Raum, in dem Menschen sich erfahrend, und iicfc erfahrend orientieren.

7. Die Grenzüberschreitung zu einem sich individuierenden Begriff subjektiver Synthesis als Bedingung eines Begriffs sinnvoller Sätze Anschaulich kann dem Subjekt nur etwas sein, dessen Handlung der Synthesis es selbst ist. Synthesis, die seiner Form der Anschauung entgegensteht, ist rein als Synthesis dasselbe wie diejenige, die es gemäß der Form seiner Ansdiauung selbst ist, nämlich „Einheit der Zusammensetzung des mannigfaltigen Gleichartigen". Insofern ist in dem, was ihm sprachlich gegeben ist, audi „Verstand". Aber ihm fehlt die Anschaulichkeit. Das Subjekt weiß sich nicht selbst unmittelbar in dieser Synthesis als produktive Einbildungskraft am Werk. Sie ist für es nur „Form des Begriffs". Obgleich die fremde Synthesis sich der in ihr tätigen Kraft nach nicht von der eigenen unterscheidet, ist sie eine Bewegung, die, wenn auch selbst eine gleidiförmige, der Gleichförmigkeit der eigenen subjektiven Bewegung zuwiderläuft. Das Eigene widerfährt als anderes. Der Satz ist eine Synthesis, der Anschaulichkeit nur zukommt, insofern er etwas beinhaltet, das in der Anschauung des sprechenden Subjekts liegt. Für das vernehmende Subjekt ist sie unanschaulich, also auch in dem, was sie für beide Subjekte als deren Einheit im Akt der sprachlichen Kommunikation ist. Auch das sprechende Subjekt verläßt die Anschaulichkeit, indem es den Satz aus-spricht und anderen zumutet, darin Sinn zu finden und sich denken zu können, daß er wahr sei. Die Bedingungen dafür treten an die Stelle der Bedingungen der Anschaulichkeit im Sinne Kants. Die (räumlichen) Bedingungen dafür, daß ein Satz sinnvoll ist, bestehen darin, daß das Thema des Satzes beiden Subjekten, dem sprechenden und dem hörenden, einsichtig ist. Es muß in der Anschauung beider gemäß der Einheit ihrer Anschauungsform liegen. Das Thema ist unter der Bedingung, daß ein Satz sinnvoll sein soll, Gegenstand im Kantischen Sinn. Als Thema ist seine Artbeschaffenheit oder das, was es außer seiner eindeutig bestimmten Gegenständlichkeit in Raum und Zeit nodi sein mag, nicht von Belang. Wichtig ist nur die Stelle, die es in dieser gleichförmigen Ordnung einnimmt, da es mit ihr eindeutig bezeichnet ist und eindeutig „gemeint" sein kann. Jedes der Subjekte muß in der Lage sein, diesen deiktischen Hinweis nachzuvollziehen oder die Wirklichkeit dieses Gegenstandes gemäß seiner bloßen Möglichkeit als Gegenstand der Aussage zu begreifen. — Die Aussage über das Thema dagegen muß, wenn der Satz sinnvoll sein soll, über die

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

Raum-Zeitlichkeit in diesem Sinne hinausgehen. Durch sie ist dem Gegenstand etwas hinzugefügt, durch das es dem vernehmenden Subjekt nicht mehr möglich ist, ihn der eigenen subjektiven Synthesis zufolge und damit allein seiner Möglichkeit nach zu begreifen. Die Aussage verändert den Gegenstand von einem nur möglicherweise seienden, aber durch eine Stelle im Deixis-Feld eindeutig bestimmten, der er als Thema ist, in einen Gegenstand, der notwendig wirklich ist. Ihm soll zukommen, was zufällig ist, insofern Notwendigkeit vom sich als abstrakt identisch begreifenden Subjekt her vorgestellt sein können soll. Die Aussage ist „wirkliches Prädikat". Nach K a n t hört ein Gegenstand durch ein nicht mehr allein von transzendental-subjektiven Bedingungen seiner Möglichkeit zu begreifendes wirkliches Prädikat auf, Gegenstand oder anschaulich zu sein'*. Notwendigerweise wirklich, so daß es im Subjekt seinetwegen einer Wendung bedarf, ist allein dasjenige, das Anlaß gibt, die subjektiven Bedingungen seiner Möglichkeit, wie sie in einem allgemeinen Gesetz formuliert werden können, zu überschreiten und die genannte „Anleihe" bei einer Sprache aufzunehmen, deren Begriffe sich nicht im Hinblick auf nur mögliche Anschauungsgegenstände oder deren reine Formen deduzieren lassen, so daß sie in diesem Sinne „zufällig" sind. Es kann demnach keine Rede davon sein, den Kantischen Anschauungsraum gegen einen „Realraum" aufzuheben. Die Wahrheit eines jeden „Realraumes" ist der Kantisdie Anschauungsraum. Empirische Realität des Raumes ist nur möglich bei gleichzeitiger transzendentaler Idealität. Kants Raumbegriff lehrt, unter welchen Bedingungen die Wissenschaft vom Raum überhaupt real oder sachhaltig sein kann. In dem sich in der Form des Satzes ausdrückenden Raumbegriff zeigt sich, daß mit Notwendigkeit nur dann von der Wirklichkeit (in realen Prädikaten) die Rede ist, wenn die „natürliche", weil an der Behauptung der eigenen Identität interessierte Intention, Wirklichkeit in apriorischen Bestimmungen einzufangen, aufgehoben und Geist statt nur Verstand aufgewendet werden muß.

8. Aufhebung der im Kantischen Ansatz beschlossenen irrationalen Versiegelung der Natur Daß der Begriff von Wahrheit bei Kant unter Bedingungen steht, deren Erfüllung in der Konsequenz seiner Lehre hypothetisch bleiben muß und nicht durch den Rückgriff auf den Begriff einer entsprechend 50

Vgl. das oben zum Lehrsatz 2 des vierten Hauptstückes der „Metaphysischen A n fangsgründe der Naturwissenschaft" Ausgeführte, S. 139 dieser Arbeit.

Aufhebung einer irrationalen Versiegelung der Natur

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eingeriditeten oder gar eingewöhnten menschlichen Natur als erfüllt behauptet werden kann, führt zu der irrationalen Position, der „Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form", sei „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten" könnten". Das verlegt das Wie eines solchen Vorgangs ins Irrationale. Denn daß er vor sich geht, ist eine unumgängliche Voraussetzung aller eindeutigen Erkenntnis und kann nicht audi (eindeutiger) Gegenstand dieser Erkenntnis sein. Zum Kantischen Ansatz gehört die Versiegelung der Natur durch den abstrakten Begriff subjektiver Identität, soweit sie nicht Dasein unter Gesetzen ist. Die mensthliche Natur muß zwar als festgelegt, aber als unerforschlich festgelegt gemeint sein. Das ist die härteste Form einer Festlegung. Daß in der „Kritik der Urteilskraft" das „Genie" von Natur aus, als deren „Günstling"", eine Ausnahmestellung einnimmt und also doch in der menschlichen Natur „angeborene"" individuelle Untersdiiede in die Philosophie aufgenommen werden, ist unumgänglich, um Phänomene, die von dem prinzipiellen Ansatz her unerklärlich bleiben und bleiben müssen, wie das des menschlichen „Geistes", doch noch „erklären" zu können. Es muß dann als Ausnahme betrachtet werden, daß sidi im Urteilen dem „bloßen Buchstaben" „Geist" „zugesellt". Es ist kein Zufall, daß fast zur selben Zeit in den Schriften von Hamann und Herder die Sprache als Einheit von Geist und Natur (Laut) in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Gegen Süßmilch, der einen Ursprung der Sprache nur aus dem Göttlichen (das dann nicht-menschlich ist) glaubte erklären zu müssen, versucht Herder sie aus der menschlichen „Natur" zu verstehen. „Natur" ist für ihn aber nicht eine Beschaffenheit des Menschen, auf der sich dann unerklärbarer Weise die Sprache aufbaute. Natur ist von Anfang an ausnahmslos sprachlich. „Schon als Thier, hat der Mensch Sprache." Es ist nicht gemeint, daß dem „Mängelwesen" Mensch statt irgendwelcher anderer Fähigkeiten die Sprache lebenswichtig wäre. Schon der übrigen Natur soll ein Ausdrucksbedürfnis eigen sein: „Ein leidendes Thier so wohl, als der Held Philoktet, wenn es der Schmerz anfället, wird wimmern! wird ächzen!"54 Es wird nicht von einer geistlosen Natur ausgegangen, der Geist und Sprache „von oben" eingegossen werden müßten. Daß „der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Thieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, 81

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 141 Β 180/81. Kant, Kritik der Urteilskraft, 200. " Ebd. 181. 54 Herder, Über den Ursprung der Spradie, Sämtliche Werke, hrg. v. B. Suphan, Bd. V, S. 5. a

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in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegrif sammeln"", soll nicht heißen, der Mensch habe von allen Tieren etwas — er wäre dann Gegenstand einer anthropologischen, philosophisch seit Kant problematischen Wissenschaft —, sondern umgekehrt: die Arten der Natur seien „gebrochene und durch katoptrische Spiegel auseinander geworfne Stralen seines Bildes"56. Er ist nicht in einem naiv-realistischen Sinne Mitte, sondern „Inbegriff". Was in der Natur um ihn auseinanderliegt, sammelt sich zugleich in ihm verfeinert, so daß er von Natur aus über seinen Organismus hinaus in sich (in der Sprache) die Begriffe artikuliert, um die äußere Natur zu erkennen und zu benennen, aus sich herauszusetzen und sich (in „Besonnenheit") von ihr zu unterscheiden. Es ist bei Herder also auch nicht einseitig ein transzendentalphilosophischer Standpunkt bezogen. Es ist nicht entschieden, die Begriffe seien a priori und die äußere Natur nur Gegenstand, insofern sie unter solche Begriffe gefaßt ist. Die menschliche Sicht der Natur hat sich durchaus aus der (dann aber nicht mehr als abstrakter Gegenstand von Geist vorgestellten) Natur heraus „gebildet"57. Die Frage aus Piatons „Kratylos", ob die Sprache θέσει oder φύσει sei, stellt sich nach diesem Durchgang durch die Kantische Kritik in einer Dimension dar, in der sie nicht eindeutig beantwortet werden kann. Die Sprache muß dem Menschen von Natur aus zukommen, weil ohne ihre „Voraussetzung" etwas ihm wirklich Zukommendes, nämlich das Gegenstandsein von Gegenständen, nicht zu begreifen ist, so daß 55

Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, a. a. Ο., X I I I , S. 68. D o r t gesperrt. 5 » Ebd. 57 H e r d e r bringt dies „Bilden" in eine bildliche, nicht in eine in einem naiv realistischen Sinn „wissenschaftlich" gemeinte Geschichte: Mit dem aufrechten Gange, der einen Überblick über die N a t u r erlaubte, wurde der Mensch ein „Kunstgeschöpf" und fähig, alle Künste „zu lernen" und somit jener „feinste Inbegriff" als eine „lebendige Kunst" (ebd. S. 137). Diese Kunst ist ihm „einzig natürlich" (112). Die „Triebfeder" dieser Bildung sieht H e r d e r in dem göttlichen „Geschenk der Rede". „ N u r durch die Rede w i r d Auge und Ohr, ja das Gefühl aller Sinne eins und vereinigt sich durch sie zum schaffenden Gedanken, dem das Kunstwerk der H ä n d e und andrer Glieder nur gehordiet" (138 f.). Die ausgebildete Sprache macht ihn zur Mitte, d. h. zum Subjekt und freien Wesen. Er ist „der erste Freigelassene der Schöpfung" (146), also im Unterschied zu Kant nicht nur extramundanes transzendentales Subjekt, das der N a t u r die Begriffe vorgäbe, sondern dadurch Subjekt, d a ß er einen Überblick über die N a t u r erhält, sich zu ihrem Verständnis bildet, und z w a r von N a t u r aus, so d a ß es ebensogut die N a t u r ist, die ihn „unter allen Lebendigen zum theilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus allem geformt" hat (156). Er ist frei als das Wesen, das an anderem teilnehmen kann und nicht nur in seine eigene N a t u r gebannt ist, wie es von einem Subjekt gesagt werden müßte, das von N a t u r aus so eingerichtet wäre, daß es allem anderen seine Begriffe a priori aufprägte.

Aufhebung einer irrationalen Versiegelung der Natur

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nicht er sie erfunden haben kann. Aber Natur ist hier zugleich nicht mehr ein Gegensatz zu Kunst im Sinne eigener Produktivität. Kunst wird in der Aufhebung des radikalen, als in der „Wurzel" verborgen vorgestellten Gegensatzes von Geist und Natur erst denkbar. Ebenso wird denkbar, daß ein Urteil, über seine Auffassung als transzendentale Synthesis hinaus, wahr sein können soll. Es kommt, um die Kantische Ausdrucksweise aufzunehmen, „Geist" zum „bloßen Buchstaben". Das in Formen der Anschauung als eindeutig bestimmbar Gegebene geht aus dieser Form des Gegebenseins über in Bedeutung (es weist über die Subjektivität des einen anschauenden Subjekts hinaus), ohne daß die Art und Weise einer solchen Veränderung in eine von wesentlich einem Subjekt bestimmte Eindeutigkeit zurückgeholt werden könnte. Es gibt keinen transzendentalphilosophisdien Begriff des Verhältnisses zwisdien Laut und Bedeutung. Die Relationskategorien, als transzendentale deduziert, sind bei Kant ersdiöpfend deduziert, und zwar so, daß sie die Synthesis einer Reihe von gleichförmig Gegebenem darstellen. Das Verhältnis zwisdien Laut und Bedeutung führt solch einer Reihe gegenüber in eine andere Dimension. Entsprechend muß audi die Form der Anschauung dieser Natur unmittelbar etwas anderes sein als Form unmittelbarer Anschauung von gleichförmig Gegebenem in einer gleichbleibenden Form. Sie muß sich ändern, d.h. unmittelbar aufhören, bloße Form in diesem Sinne zu sein: „Das Schaf blökt" meint einen reinen Naturvorgang in der Zeitreihe, soweit ihn die Reflexion als solchen isoliert. Sagt aber jemand, daran anknüpfend: „Du bist das Blökende", so ist (aufgrund eines Aktes der Apperzeption) das Blöken als Merkmal ergriffen. „Der Schall des Blökkens von einer Menschlichen Seele", nun nicht unmittelbar, sondern schon „als Kennzeichen des Schaafs, wahrgenommen, ward, kraft dieser Bestimmung, Name des Schaafs"". Der durch die deiktische Partikel „du" bezeichnete Ort gegenüber dem Subjekt — das ist schon eine Relation zwischen Natur (Lautursprungsort) und Geist — wird benannt und dadurch aus der Gleichgültigkeit aller Orte, die bei Kant dem apriorischen Charakter des Raumes (in seiner Subsumtion unter die Zeitform) innewohnt, herausgenommen und bestimmt. Diese Bestimmung ist also ganz verschieden von der Kantischen, die auf der Gleichgültigkeit aller Orte beruht und deshalb den Ubergang der Dimensionen ineinander, das Sidiöffnen des Raumes, nicht gewinnt. Einzig als dies Ubergehen ist Individuelles bezeichnet. Die von der Reflexion auseinandergehaltenen Momente, der Anfang bei der namenlosen Stelle und das Resultat als der Allgemeinbegriff „Schaf", sind erst das Ganze als sich vermittelnde Mitte 68

Herder, Über den Ursprung der Sprache, a. a. O., Bd. V, S. 36.

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Grenzen des kritischen Naturbegriffs

zwischen Zufälligem und der allgemeinen Notwendigkeit, daß alle das gleiche verstehen. Wirkliche Anschauung als aufgehobene reine Anschauung, deren Begriff allein der kritischen Philosophie im Unterschied zu einem unkritischen Hinweis auf Empirie gerecht würde und ohne Verlust an Problembewußtsein über sie hinausführen könnte, ist nun bei Herder nicht explizit thematisch. Kant gegenüber ist seine Theorie infolgedessen eine Philosophie in bloßen Begriffen, ein Geschichtenerzählen vom Ursprung der Sprache, das eine Naturgeschichte des Menschen zu sein vorgibt und den Begriff der Natur so verwendet, daß den Aussagen über die Natur darin keine Anschauung korrespondieren kann, schon weil diese Natur sich in der Vergangenheit gebildet haben soll und demnach kein Gegenstand sein kann, der in aller Zeit derselbe ist, so daß man sich auf ihn beziehen könnte. Andererseits gehen diese Geschichten in ihrer Bedeutung über Kant hinaus. Es ist eine Dimension intendiert, wie sie bis zu Hegel hin nicht in Erscheinung trat und hinter der die moderne Anthropologie so gut wie hinter Kants kritischem Bewußtsein zurückbleibt. Bei Kant ist eigentlich innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft" nicht zu behaupten, daß die Natur es so eingerichtet habe, sondern nur, das sei hypothetische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Ist dagegen etwas als Erkenntnis, ζ. B. über das Wesen des Menschen, behauptet, so setzt sich diese Behauptung der Kantischen Kritik aus. Sie verfällt ihr, da den von ihr erarbeiteten Bedingungen nach nur als allgemeingültig erkannt werden kann, was sich auf Natur überhaupt und nicht auf die spezielle Natur einer Gattung bezieht. „Der Mensch" kann nur innerhalb einer Kritik dieser Kritik wieder ins Zentrum der Philosophie rücken: als Wesen, das Sätze bildet und fragt, ob sie wahr sein können. Was „der Mensch" sonst noch sein kann oder vor seinem Sprechen, quasi als eine solchem Tun zugrundeliegende, zu ihm „befähigte", „genötigte" oder „gewöhnte" Substanz gewesen sein mag, was überhaupt sein Wesen sein soll, gelangt als Fragestellung nicht durch die Instanz der Kantischen Kritik. Andererseits ist die Natur des Menschen aber immer schon seine sprachliche, die einzige, die in der Kritik der Kritik des Naturbegriffs als „Dasein unter Gesetzen" in Frage kommen kann, nachdem jeder andere Naturbegriff der kritischen Erkenntnisfrage gegenüber problematisch bleibt. Der Schritt von einem objektivistisch-ontologischen Naturbegriff zum Begriff der Natur als „Dasein unter Gesetzen" des einen transzendentalen Verstandes hebt sich seinerseits auf in der Voraussetzung, daß gesprochen wird. Sätze sind das Vorausgesetzte. Die allgemeine Form ihrer Artikulation, die Zusammensetzung aus Subjekt und Prädikat, ist das einzige als vorausgesetzt aufgenommene formale Element. Es ist „for-

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male Anschauung", aber als die Aufhebung dessen, was bei Kant „formale Anschauung" von dem Begriff subjektiver Identität her ist. Es ist zugleich Resultat des Durchgangs durch die Kantische Kritik. Nur als Resultat philosophischer Überlegung, in der es zum Begriff der Grenze und damit des anderen, der Veränderung innerhalb des Begriffs der Subjektivität kommt, kann die Sprache in den Mittelpunkt rücken. Unmittelbar von der Sprache auszugehen, wäre nichts anderes als unkritische Verabsolutierung irgendeines Moments der unbekannten menschlidien Natur.

FÜNFTER ABSCHNITT

Systematische Ortsbestimmung der theoretischen kritischen Philosophie

1. Das dogmatische Bestimmtsein des sich als reines Bewußtsein verstehenden Bewußtseins durch Grundsätze entsprechend seiner Abdeckung des Satzcharakters der Sätze Die Kantisdie Kritik ist an der Vorstellung orientiert, daß sich in der Erkenntnis etwas nach etwas ausrichte. Sie dreht den klassischen WahrheitsbegrifF, nach dem sich die Wirklidikeit im wahren Urteil abbildet, um und bleibt somit in ihm befangen. Aber es handelt sich nicht um eine abstrakte Umkehrung. Nach Kant gibt es keine gesetzten Sätze, nach denen sich die Natur zu richten habe wie zufolge vorkantischer Positionen die Sätze nach der Natur. „Die Philosophie h a t . . . keine Axiomen und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gebieten, sondern muß sich dazu bequemen, ihre Befugnis wegen derselben durch gründliche Deduktion zu rechtfertigen" 1 . Gerechtfertigt sind die „Grundsätze" und die transzendentalen Erörterungen, ohne die nach Kant nicht die Möglichkeit von Sätzen, die a priori objektiv heißen könnten, gedacht werden kann, eben dadurch, daß sie diese Möglichkeit gewährleisten. Das ist noch keine petitio principii. Denn daß das Problem der synthetischen Urteile a priori gelöst wird und gedacht werden kann, daß Sätze als solche, ohne die Vorstellung einer „Verifikation" von außen, wahr sein können, ist kein Postulat hinsichtlich eines bestimmten Zwecks, sondern eine Anforderung an „jedes Menschen Vernunft". Es ist eine mit der Vernünftigkeit eines Menschen als eines Sätze bildenden, vernehmenden und behaltenden Wesens identische Anforderung. Es darf nicht vergessen werden, daß Kant gegenüber allen dogmatischen Positionen, audi und gerade gegenüber dem erkenntnistheoretisch dogmatischen Satz, Sätze seien wahr, insofern sie einen „wahren" Inhalt spiegelten, philosophisch so weit gekommen war, Wahrheit im Zusammenhang mit dem zu begreifen, was gleichermaßen „für 1

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 733/4 Β 761/2.

Das dogmatische Bestimmtsein durdi Grundsätze

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jedes Menschen Vernunft gültig" ist*. Der vorkantisdie Rationalismus vermochte nicht zu sagen, inwiefern gedacht werden könnte, daß die Ubereinstimmung „aller Urteile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander... a u f . . . dem Objekte"* als einer neutralen Instanz beruhen könnte. Die genannte Anforderung an jedes Menschen Vernunft, die insofern nicht dogmatistisch ist, als jeder Mensch sie aus dieser selben Vernunft heraus stellt, bedeutet aber — was Kant nodi verdeckt war —, daß Sätze als Sätze sollen gedacht werden können. Kants Begriff der synthetischen Urteile a priori versteht sich aus dem Unterschied dieser Gruppe von Urteilen zu analytischen Urteilen einerseits und aposteriorischen Urteilen andererseits, also aus ihrem Unterschied sowohl zu Sätzen als fürsichseienden Gebilden als Gegenstand einer formalen Analyse als auch zu Sätzen, insofern sie auf etwas anderem, auf Empirie, beruhen sollen. Beide extremen Seiten erscheinen Kant unproblematisch, wenn das Problem der synthetischen Urteile a priori gelöst ist. Analytische und empirische Urteile setzen in ihrem Begriff die Möglichkeit der reinen Synthesis von Begriffen zu Urteilen voraus. Empirische Sätze werden als Sätze von einem empirischen Inhalt unterschieden, in bezug auf den die verschiedenen Subjekte übereinstimmen sollen. Im synthetischen Urteil a priori ist es ein reiner Inhalt, der das als möglich erscheinen lassen soll. Die Subjekte sind gegenüber diesem Inhalt und deshalb auch untereinander als gleich verstanden. Die Vorstellung eines solchen reinen Objekts, das als Grund der Übereinstimmung der Subjekte hinsichtlich gewisser Sätze vorausliegen soll, impliziert die Vorstellung, daß dieses Objekt überhaupt für verschiedene Subjekte ein gleiches ist, und zwar vor der sprachlichen Kommunikation der Subjekte miteinander, als Anschauung. Es ist vorausgesetzt, daß verschiedene Subjekte, ungeachtet ihrer verschiedenen Positionen zu dem Gegenstand und ihrer sonstigen „besonderen Beschaffenheit"4, der Form nach gleich anschauen. Da dieser formale Gegenstand allem Urteil über ihn vorausliegen und also auch gegenüber der Aufnahme und Bewahrung dieser Urteile im Gemüte weiterhin als derselbe vorausliegen soll, ist er in diesem Dreiecksverhältnis zwischen verschiedenen Subjekten und ihm selbst ebenfalls als ein Gegenstand ungeachtet einer besonderen, sich möglicherweise von Anschauung zu Anschauung ändernden Beschaffenheit vorausgesetzt. Er ist nur ein angeschauter. „Nur" bedeutet hier, daß in seiner Anschauung nichts liegt als das, was sich durdi die dann als überzeitlich vorgestellte Form, daß er von verschie2

s 4

Β 848/9. — Nur wird allein aus solcher abstrakten gleichen Gültigkeit für alle wiederum nicht verständlidi, weshalb Sprache und damit auch Sätze nötig sind. Ebd. A 820 Β 848.

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denen Subjekten in gleicher Weise angeschaut sein soll, ergibt. Sprecher und Hörer und Gegenstand sind vorausgesetzt als reine Größen in dieser Konstruktion gemäß dem Satz (Axiom), daß zwei Größen, die bezüglich einer dritten gleich sind, auch untereinander übereinstimmen. Die Reflexion auf den Satz als Satz, d. h. als Vermittlung zwischen verschiedenen Subjekten nicht „ungeachtet", sondern bei ihrer Verschiedenheit untereinander — nicht als Objekte, sondern als verschiedene Subjekte (ζ. B. als verschiedene Apperzeptionsweisen oder Aufmerksamkeitsakte) eines Objekts — bleibt bei Kant selbst unbeachtet; sie bleibt abgedeckt durch die Benutzung des genannten Axioms. Das Axiom wird nicht nur in seiner Geltung für reine Größen aufgestellt, sondern angewendet auf extensive, also räumliche Größen (der Gegenstand muß ein Gegenstand „außer uns" im Räume sein), die trotz einer vorausgesetzten Identität als Größen zugleidi wesentlich in ihren „Teilen" auseinanderliegen, so daß verschiedene Subjekte ihnen gegenüber sich doch nicht auf dieselbe Art und in derselben Perspektive verhalten können. Der „Vergleich" der Vorstellungen eines Objektes in versdiiedenen Subjekten setzt bereits mit dem einen vergleichenden Subjekt Einheit der Subjektivität voraus, die doch nach Kant auf dem Objekt beruhen soll. In diesem Vergleich werden aus der vorausgesetzten subjektiven Einheit heraus die verglichenen Vorstellungen als vergleichbar angesetzt, obwohl sie als Vorstellungen verschiedener Subjekte gar nicht in ein vergleichendes Subjekt fallen können, ohne daß ihr Wesen als subjektive Vorstellungen übergangen würde. Vor dem die Vorstellungen verschiedener Subjekte vergleichenden, also sie als Vorstellungen negierenden einen Subjekt konstituiert sich erst das „eine" Objekt. Es resultiert aus der gleichförmigen Benennung nicht vergleichbarer Vorstellungen als vergleichbare Objekte. Das von Kant genannte Prinzip der Axiome der Anschauung, alle Anschauungen seien extensive Größen, resultiert daraus, daß die Anschauung eines „mannigfaltigen Gleichartigen im Begriffe einer Größe gedacht"*, d.h. aber in Wahrheit: unter Eliminierung des „Mannigfaltigen" als „Gleichartiges" ausgelegt wird. Daß die Kantische Philosophie schließlich doch auf einem obersten Satz beruht, ist dasselbe wie dies, daß sie Sätze nicht als Sätze, sondern als Leerformen für vorausliegende Inhalte versteht, so daß sie im Fall der Grundsätze zur Vorstellung reiner (formaler) Inhalte gelangt. Die Rechtfertigung der Axiome hinsichtlich ihres Prinzips geschieht zwar in der Vernunft selbst, da es keine fremde Forderung an die Vernunft, sondern eine Selbstforderung der Vernunft jedes Menschen ist, Sätze als wahre Sätze denken zu können. Die Vorstellung jedoch, die • Β 203; bei Kant gesperrt.

Das dogmatische Bestimmtsein durdi Grundsätze

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Wahrheit beruhe auf „dem Objekte", ist schon wieder, bzw. immer noch dogmatisch, weil in diesem Zusammenhang unter „dem Objekte" nur etwas vorgestellt sein kann, was das andere Subjekt hinsiditlidi seiner Auffassung dem ersten Subjekt gleichmacht. „Objekt" darf in dieser Konstruktion sogar gar nichts anderes als die Funktion der Vergleichung der Subjekte sein. Es ist nichts als die „dritte" Größe, die dem dogmatischen Axiom zufolge Gleichheit bewirkt. Das Axiom ist dogmatisch, weil es nicht als zum besonderen Zweck der Konstitution einer „intersubjektiven" Objektivität gesetzter Satz ins Bewußtsein aufgenommen ist. Dieser dogmatische Charakter läßt die konstituierte Objektivität als absolute Objektivität erscheinen. Von einem Axiom kann nicht gesagt werden, es sei dogmatisch gegenüber „der" Natur. Was „die" Natur, auch die des Menschen, sei, kann aus Gründen, die Kant genannt hat, nur dogmatisch oder in pragmatischer Absicht behauptet werden. Dogmatisch sein kann ein Satz nur gegenüber dem, was er sein soll, nämlich ein Satz, der als solcher an ein anderes Subjekt, und zwar wesentlich an ein anderes, gerichtet ist und die Freiheit einräumt, akzeptiert zu werden oder nicht, und der, wenn er akzeptiert wird, aus anderen Gründen als dem einer Übereinstimmung im Objekt akzeptiert wird*. Übereinstimmung im Objekt setzt die Differenz zwischen Subjekten als bereits überbrückt voraus. Übereinstimmung durch Akzeptieren von Sätzen konstituiert erst ein gemeinsames Objekt und weist erst die Einheit eines Objektes für verschiedene Subjekte aus7. Kants Verdeckung dieser sprachlichen „Natur" des Urteils in der Reflexion darüber, ob es als wahr gedacht werden könne, resultiert aus der perennierenden alternativen Vorstellung, entweder habe sich das Subjekt nach der Natur oder die Natur nach dem Subjekt zu richten. Sein Raumbegriff und das Theorem, die zweite dieser „Möglichkeiten" sei sinnvoll hinsichtlich eines möglichen Begriffs einer „adaequatio" zwischen Subjekt und Natur, gehören untrennbar zusammen. Das Subjekt ist in diesem Zusammenhang der Raum. Es entwirft mit der Anwendung des Satzes von der Übereinstimmung in einem Dritten den Raum, der „der ' Es läßt sich nicht eine Darstellungsfunktion der Sprache, etwa als Darstellung der Gedanken nur eines Subjekts, von einer Mitteilungsfunktion reinlich absondern. Die Darstellung von Gedanken ist als solche schon an andere gerichtet. Gedanken sind unmittelbar als allgemeine, audi von anderen zu vollziehende, gedacht. Ihre Darstellung zielt auf bestehende Übereinstimmung, die dann weiterer zu erzielender Übereinstimmung zugrunde gelegt werden könnte. 7 Daß das Akzeptieren „frei" stehe und damit Freiheit in der Konstitution von Objekten eine Rolle spiele, kann hier nur heißen, es sei kein Zwang durch ein vorausliegendes Objekt gegeben, nicht aber, einzelne Subjekte leisteten von sich aus ungeachtet ihrer Lage und frei von allem Vor-Urteil, aller Überlieferung, Konvention usw. diese Konstitution in einem freien sprachlichen Verhalten zueinander.

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Systematische Ortsbestimmung der theoretischen Philosophie

verhältnislose, unbestimmte Behälter für alles überhaupt" 8 ist, in den es alles, auch sich selbst in seiner Unterschiedenheit zu anderen Subjekten, unterschiedslos setzt, sich selbst als dieses Setzen ausgenommen. In ihm gelten nur die „gewissen Verhältnisse", die gerade diese Unterschiedslosigkeit mit sich bringt. Die Konstitution dieses Raumes geschieht im Bewußtsein der Freiheit gegenüber aller, auch der eigenen Natur. Sie geschieht aber ohne Bewußtsein dieser Natur. Insofern ist die Freiheit Willkür. Wenn dies ein Einwand gegen Kant sein und er also die kritischen Einwände Kants gegen den Dogmatismus berücksichtigen soll, kann nicht gemeint sein, es handele sich um eine Willkür gegen eine Natur, von der wir nidit wissen können, wie wir etwas von ihr wissen könnten. Willkür liegt in dem Bewußtsein dieser Freiheit, insofern in diesem Bewußtsein untergegangen ist, was sehr wohl gewußt werden kann und „an sich" (im Unterschied zu einer ansichseienden Natur des Objekts oder des Subjekts) auch gewußt ist: daß nämlich dieser Raumbegriff nur in dem Zusammenhang der Frage nach der Denkmöglichkeit der Wahrheit von Sätzen selbst in Frage kam. Dieser Zusammenhang geht mit dem Verlust des Bewußtseins unter, daß Urteile zunächst Sätze sind. Soweit dies nicht im Bewußtsein ist, bewegt sich das Bewußtsein unter der Herrschaft von Sätzen, zumal das sogenannte „reine" Bewußtsein. Es pervertiert sich in die Vorstellung, aus sich heraus habe es gewisse Sätze (nämlich die „Grundsätze") als unbedingt wahre deduziert, während deren Prinzip immer noch Sätze sind, über die es sich insofern keine Rechenschaft gegeben hat, als es nicht weiß, daß es gesetzte Sätze sind. Nun kann andererseits ein Satz nicht „als" Satz „im" Bewußtsein festgehalten werden. Ein Subjekt, das einen Satz vernimmt, ändert sich selbst, indem es ihn „in" sich aufnimmt. Das Sätze verstehende, sprachliche Subjekt ist kein „Behälter". Es kann sich nur als soldi einen HohlRaum verstehen, indem es Sätze nicht akzeptiert und sich negativ-sprachlich verhält. Es rechnet dann den Satz lediglich dem anderen Subjekt und dessen Besonderheit zu. Die Möglichkeit, sich als dieses behaltende Bewußtsein zu verstehen, ist nur eine positive Möglichkeit, wenn das negativ-sprachlidie Moment, daß Sätze nicht notwendig zu akzeptieren sind, verabsolutiert wird. Das Subjekt macht sich das negativ-sprachliche Verhalten zum Grundsatz, der aber insofern nicht willkürlich gesetzt ist, als er den Inbegriff von dem darstellt, was das Subjekt allein von sich aus, in sich durchhaltender Identität des Verhaltens, Sätzen gegenüber kann, und zwar unbeschadet ihres besonderen Inhalts. Es negiert Sätze als Sätze, d. h. als Phänomene, die als solche schon etwas Wirkliebes be8

Hegel, Logik II, S. 171.

Noumenalisierung eines Sätze begleitenden Selbstbewußtseins

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deuten wollen und darin zugleich auf ein anderes Subjekt als ein besonderes, demgegenüber auch das erste Subjekt sich als besonderes begreifen müßte, zurückdeuten. Der genannte Grundsatz ist nicht Ausdruck einer Willkür gegenüber irgendeiner Natur, etwa einer sprachlichen „Natur" des Menschen. Die unvermittelte Berufung auf die Sprachlichkeit des Menschen als auf ein Phänomen bedeutet umgekehrt Willkür wie die Berufung auf irgendein Phänomen sonst, dem man sich unmittelbar, d. h. von sich aus willkürlich zuwendet. Die Berufung auf ein Phänomen impliziert die dogmatische Setzung des Satzes, in dem sie sich mitteilt. Der Grundsatz eines prinzipiell negativen sprachlichen Verhaltens ist insofern im Unterschied zu solchen Sätzen nicht willkürlich, als dies Verhalten sich gegenüber allen Sätzen dieser Art gleich, eben negativ verhält. Er bedeutet ein gleiches Verhalten gegenüber Sätzen, also Gleichem gegenüber. Die Willkür liegt erst darin, daß dies Verhalten sich nicht auf Sätze als Sätze, sondern gerade auf Sätze als ihrer allgemeinen Form nach gleiche Gebilde bezieht und bei dieser reinen Form der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat als einem positiven Phänomen stehenbleibt. Gerade diese Form, die sich das sich negativ-sprachlich verhaltende Subjekt als auf einem dem Urteil vorausliegenden „Objekte" beruhend vorstellt, verweist aber schon als Form auf das andere Subjekt. Sie bedeutet als Form die Besonderheit des Inhalts und die Veränderung des Bewußtseins. Sätze haben schon als Sätze einen besonderen Inhalt, soweit sie nicht tautologisch sind. Das Prädikat in allen Sätzen ist eine nähere Bestimmung des Satzsubjekts. Es gibt keine Sätze rein allgemeinen Inhalts. Nur die prinzipielle Negation der Sätze als Sätze (nicht die ihres Inhalts, denn ein sogenannter negativer Satz ist als Satz, ζ. B. als verneinende Antwort auf eine Frage, akzeptiert) konstituiert ein sich durchhaltendes allgemeines, in sich wie anfänglich verweilendes Verhalten, eine Freiheit des Bewußtseins gegen anderes und gegen Veränderung, so daß diese Freiheit seine „Schwere so ausmacht, wie die Schwere die Substantialität des Körpers"'. Es verdinglicht sich in diesem Verhalten.

2. Noumenalisierung eines Sätze begleitenden Selbstbewußtseins in der Abdeckung des Satzcharakers der Sätze Die Verdeckung des Sätze verstehenden und sich verändernden „Wesens" des Bewußtseins in seinem Selbstbewußtsein, umfassender Raum zu sein, ist identisch mit dem Bewußtsein des Bewußtseins von sich selbst, • Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ξ 7.

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als das es sich allein von sich selbst her, im Ausschluß von allem anderen, und als Inbegriff von allem außer ihm selbst zu begreifen vermag. Es schließt sich selbst als Sich-Veränderndes in dieser Vorstellung aus und hat in ihr eine Vorstellung von sich als Identität. Das Bild eines solchen „Bewußtseinsraumes" ist ursprüngliche Metapher seines „Inneren"; ohne die Konstitution dieses Bildes existiert „es" nicht. Es erscheint sich darin „selbst" und allein darin als ein Selbst. Diese Vorstellung ist deshalb so wahr wie es selbst im Bewußtsein seiner Selbständigkeit, d.h. unwahr, weil die Möglichkeit negativen sprachlichen Verhaltens und die sich darin konstituierende Selbst-Vorstellung alles sprachliche Verhalten nur „begleitet". Sie muß es sogar wesentlich „begleiten können". Aber sie bleibt momenthafte Begleiterscheinung. Das Vergleichen von Sätzen, in dem ein Satz erst einmal „dahingestellt" bleibt, so daß ein anderer auf ihn bezogen werden kann, geschieht nicht von einer neutralen, sich selbst gleichbleibenden Instanz her, sondern nur in dem Zusammenhang, in dem der ganze Kontext dann als sprachliches Gebilde akzeptiert werden kann oder nicht, ohne daß die Negation, die Attitüde des bloßen Bewahrens dahingestellter Sätze und damit eine von Sätzen unbetroffene Identität des Subjekts feststünde. Unwahr ist also die Vorstellung eines solchen Bewußtseinsinnenraumes als sich von ihrem Wesen als Begleitvorstellung verabsolutierende Vorstellung. Im „Innern" „geschieht" in Wahrheit nichts, was nicht hinsichtlich seiner Öffnung nach „Außen" geschieht. Daß der angeblidie Bewußtseinsinnenraum genau „der" Raum ist, in dem sich das Subjekt „alles außer ihm" vorstellt, und daß er sich nicht nur auf eine mysteriöse Weise mit diesem „äußeren" Raum „deckt", daß also auch der äußere Raum in diesem Verstände keinerlei (äußere) Objektivität der Gegenstände „in" ihm gewährleistet, wird begriffen an dem Verhältnis von Sätzen, die „im" Bewußtsein (Gedächtnis) immer nur in der Weise „gesammelt", „verglichen", als gleich gültig angeschaut und dahingestellt werden, daß sie zugleich Sätze sind, die dann als größerer Zusammenhang das Bewußtsein „betreffen" und für es die Bedeutung haben, es zu verändern. Jeder Satz war in diesem Sinne schon das „Ganze", das das „Ganze" des bisherigen Bewußtseins, vorgestellt als potentiell allumfassenden Raum, sprengt. Der Gegensatz zwischen Bewußtseinsimmanenz und äußerer Natur, der schon einer „Vorstellung von etwas im Räume außer uns" nicht gerecht wird10, hebt sich auf. Das Sich-Verschließen des Subjekts in der Absicht der Grundlegung einer reinen theoretischen Einstellung gegenüber Sätzen, die es „in" sich als wahr bewahren könnte, ist Mittel zum Zweck, aber nicht im Sinne eines Werkzeugs, das anderes verändern soll, sondern 10

Das Moment des Äußeren gehört schon zur räumlichen

Vorstellungsa.it.

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der Veränderung des Bewußtseins selbst. Es „selbst" — in seiner SelbstVorstellung als Identität — ist Mittel zum Zweck eindeutiger Erfahrungsbestimmung oder der Konstitution eindeutig bestimmter „Objektivität". Der Begriff einer Natur als „Dasein unter Gesetzen", der der Vorstellung einer solchen „Objektivität" entspricht, bleibt dann ebenfalls in seinem Zusammenhang mit einem (negativ) bestimmten Verhalten, einer „Moral" des Subjekts verdeckt. Der systematisdie Zusammenhang zwischen reiner und reiner praktischer Vernunft verdeckt sich bei Kant. Nur dadurch stellen beide Seiten sich als jeweils reine dar. Die „Kritik der praktischen Vernunft" „soll bloß dartun, daß es reine praktische Vernunft gebe, und kritisiert in dieser Absicht ihr ganzes praktisches Vermögen. Wenn es ihr hiermit gelingt, so bedarf sie das reine Vermögen selbst nicht zu kritisieren, um zu sehen, ob sich die Vernunft mit einem solchen als einer bloßen Anmaßung nuht übersteige (wie es wohl mit der spekulativen geschieht). Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweist sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat" 11 . Im Unterschied zur reinen theoretischen Vernunft, die ihre Grenze als reines Vermögen an (den reinen Formen) der Anschauung findet und dadurch eingeschränkt ist, hat die reine praktische ihr Kriterium darin, daß sie sich (in der Tat) übersteigt und „wirklich praktisch" wird. Als theoretische schränkt sich die Vernunft auf den reinen Gegenstand ein, als praktische bewährt sie sich in der Tat. Der reine Gegenstand auf der einen und die Tat auf der anderen Seite sind die Extreme, an denen sich die Wahrheit der Begriffe entscheiden soll, nachdem ihr sprachlicher Charakter verdeckt bleibt. Es zeigt sich schon bei Kant das Dilemma des Verständnisses von Sätzen als Urteile, die dadurch nicht „nur" Sätze sein sollen, daß sie entweder auf dem (reinen) Objekte beruhen oder daß sie sich in der Praxis „bewähren". Dieses Dilemma von zweierlei Kriterien hinsichtlich der Wahrheit von Sätzen behebt sich allein dadurch, daß sie wieder als Sätze der Sprache zum Bewußtsein kommen. Das aber bedeutete, daß sie überall ihren Charakter als Grundsätze verlören. Die Tat, die im Praktischen den Grundsatz der reinen praktischen Vernunft rechtfertigen soll, geschieht aus dem Bewußtsein der Freiheit (der Möglichkeit, eine Kausalreihe zu initiieren) als dem formalen Bestimmungsgrund des Willens". Diejenige Tat hebt den Grundsatz nicht auf (sondern bewährt ihn), die im Einklang mit ihrem formalen Bestimmungsgrund bleibt und lediglich dies zum Grundsatz hat. Dieser sich 11 12

Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 3. Ebd., § 5.

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Systematische Ortsbestimmung der theoretischen Philosophie

in jeder Tat bewährende Grundsatz, soweit sie als vom formalen Bestimmungsgrund unter Abstraktion vom besonderen Tatmotiv bestimmt vorgestellt ist, ist das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" (der „kategorische Imperativ"). Der reinen Anschauung im Theoretischen entspricht die reine Tat im Praktischen. Daß es reine praktische Vernunft geben können soll, versteht sich aus der Abstraktion des Motivs von der Tat und der Reduktion der Tat auf den allen Taten gemeinsamen formalen Grund. Das materiale Motiv wird den ihrer allgemeinen Vernunft gegenüber besonderen Tätern zugerechnet; sie haben es vor dem allgemeinen Gesetz zu verantworten. Die Abstraktion der „Idee" der Freiheit als Abstraktion dieses formalen Grundes ist dasselbe wie die Abstraktion von dem besonderen Motiv und damit von der Besonderheit der Täter. Diese Abstraktion ermöglicht den Begriff einer (undogmatischen) Gesetzgebung aus reiner Vernunft. Daß sie als kategorisch und doch nicht als dogmatisch vorgestellt sein kann, erklärt sich dadurch, daß sie sich mit der Konstitution der Möglichkeit einer reinen Vernunft zugleich ergibt. Insofern ist reine Vernunft unmittelbar praktisch oder „ursprünglich gesetzgebend"14. Die diesem Gedanken einer sidi bewährenden reinen praktischen Vernunft vorausliegende Abstraktion des formalen Bestimmungsgrundes einer jeden Tat ist dieselbe Abstraktion wie die, derzufolge die Verknüpfung der Begriffe des Urteils als auf „dem Objekte" beruhend vorgestellt wird: Es ist Abstraktion von der Bezogenheit der Tat auf ihr materiales Objekt in seiner besonderen Beschaffenheit, um derentwillen der Täter sie aus seiner besonderen Beschaffenheit und seinen besonderen Bedürfnissen heraus wirklich tut. Es ist nur darauf reflektiert, daß er sie tun konnte, wenn er sie getan hat, und daß dies Können weiterhin möglich bleiben soll, d. h. daß die Tat nicht den sie konkret gebietenden besonderen Grundsatz, in dem der Täter sein Motiv formulierte, aufreibt. Es ist auf Sätze reflektiert, die das Subjekt als Grundsätze seines nur durch es selbst bestimmten Verhaltens behalten kann, und damit grundsätzlich auf ein Verhalten, das nicht eine Änderung (des Verhaltens) des Subjekts im Gefolge haben muß. Gleichförmigkeit in der Anschauung und der aus diesem Prinzip resultierende Raum auf der einen und die Möglichkeit einer Gesetzgebung überhaupt, auf der Basis eines sich gleichbleibenden, Gesetzen affinen Verhaltens auf der anderen Seite stehen insofern in einer prästabilierten Harmonie zueinander, als ihre Voraussetzungen identisch sind. Sie bestehen in der Verdeckung des Satzes " Ebd. 56. — Nadi den bisherigen Ausführungen lassen sich die Begriffe „dogmatisch" im Sinne eines „dogmatischen Verfahrens der Vernunft" selbst und „dogmatistisdi" nicht abstrakt einander entgegensetzen. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β XXXV.

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als eines sprachlichen Gebildes, das über sich als Gebilde hinaus auf anderes hinweist, im negativ-sprachlichen Verhalten als Prinzip des Verhaltens. Gerade in dieser Verdeckung fordert die eine Seite die andere. Die Sprachlichkeit des Bewußtseins bleibt darin wirksam, daß ein bestimmtes Verhalten des sich als einziges subiectum verstehenden Subjekts gegenüber der Natur, vorgestellt als Inbegriff von allem anderen (außer ihm „selbst"), auf es zurückwirkt und es als Bewußtsein so bestimmt, daß es sich einer unmittelbar praktischen reinen Vernunft und deren ursprünglicher Gesetzgebung ebenso unmittelbar untergeordnet versteht. Es ist im Begriff seiner selbst unmittelbar moralisch bestimmt als Gehorsam gegenüber einer Gesetzgebung, die ihm formal ein Verhalten befiehlt, das das gleiche bleiben kann und nicht durch sich selbst in seinem Verlauf über sich hinausführt. Nietzsche hat den im moralischen Verhalten liegenden Ausschi uß einer Steigerungsmöglichkeit kritisiert. Die Moral setzt nadi ihm den Menschen „als erkannt, als bekannt" voraus. Dabei bleibt dunkel, was sich gegenüber der im moralischen Denken rein formal vorausgesetzten „Beharrlichkeit der Person"" in welchem Sinne steigern soll. Im Vergleich zu solchen Postulaten von Steigerung kann eine Kritik an Kant, die dessen kritischen Ansatz bewahrt, exakt sagen, was der kategorische Imperativ verbietet und hemmt: materialiter nichts. Er ist aber unmittelbar (nämlich seiner und der reinen praktischen Vernunft Möglichkeit nach) identisch mit der Unterdrückung sprachlichen Verhaltens, denn das ist ein Verhalten, in dessen Verlauf die Veränderung bisherigen Verhaltens, ein Sidi-Offnen von festgestellter Subjektivität, beschlossen ist. Es ist Verhalten zu etwas, das für ein Bewußtsein darin bedeutend ist, daß es sich es nicht „wie alles andere" als gleich gültig und ohne sich zu ändern einverleiben kann. Der kategorische Imperativ unterdrückt nicht expressis verbis das sprachliche Verhalten. Das wäre eine materiale Intention. Er ist vielmehr als formaler Imperativ signifikant für dessen Unterdrücktsein in einem Bewußtsein, dem die Erfahrung seiner Sprachlichkeit und sein allgemeines Anerkanntsein als besonderes fremd oder bestenfalls ein befremdliches, akzidentelles Ereignis geblieben ist. Dieser Imperativ verbietet das sprachliche Verhalten nicht, sondern ist eins mit dessen Nichtgebotensein innerhalb einer Sphäre, die sich auf diesem allgemeinen Mißtrauen „aufbaut" (institutionalisiert), entweder durch materiale Gesetze, oder, auf der höchsten Spitze und Vollkommenheit einer hier zu erreichenden Vernünftigkeit, nach Gesetzen aus „reiner" Vernunft. Kants Philosophie ist die äußerste Aufklärung des Bewußt14

Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrg. v. K. Sdiledita, Mündien 1960, Bd. III, S. 868.

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seins innerhalb eines Sätzen gegenüber verhaltenen Verhaltens. Zu dessen Kritik gehörte das Bewußtsein, daß es nicht einfach durch ein anderes Verhalten positiv abgelöst werden kann. Jedes „andere" Verhalten wäre gegenüber diesem ein bestimmtes, sich gleichbleibendes, ebenso verhaltenes Verhalten. Als ein anderes Verhalten als dieses formale Verhalten wäre es material und also dogmatisch bestimmt. Das formale Verhalten war aber bereits die allerdings abstrakt hervorgekehrte Einsicht in die wesentliche Verhaltenheit sprachlichen Verhaltens gegenüber dogmatischen Sätzen. Mit Kant kommt eine Epoche der Philosophie zu ihrem vollständigen Abschluß. Die Reflexion auf die Gewißheit des Zutreffens von Urteilen gewinnt die Vollständigkeit ihrer Bedingungen: Diese Gewißheit stellt sidi ein, wenn innerhalb der Sphäre eines bestimmten Verhaltens das Subjekt sich anschauend ausschließlich so verhält, daß nichts aufgenommen wird, was für es über dieses Verhalten hinaus im Sinne einer Änderung im Verhalten von Bedeutung sein könnte. Der Begriff der Anschauung als Begriff eines Verhaltens, in dem das Subjekt es prinzipiell mit etwas außer ihm zu tun hat, ist von Kant als der entscheidende Begriff erkannt und entsprechend in der Vorstellung einer reinen Form der Anschauung so gefaßt, wie diese Reflexion es erfordert. Dieser vollendete Abschluß langer philosophischer Bemühungen konnte sich nur ergeben, weil der Satzcharakter der solch ein Verhalten als identisches Verhalten regelnden Sätze verdeckt blieb. Die Reflexion auf den Satzcharakter auch dieser Sätze deckt die Täuschung auf, es läge einer reinen Anschauung ein reiner (formaler) Gegenstand vor, von dem her sich die Ubereinstimmung der Subjekte hinsichtlich dieser Sätze ungeachtet ihrer Verschiedenheit verstehen ließe. Sie lenkt das Bewußtsein auf die Verschiedenheit von Subjekten und damit von dem einen auf anderes Verhalten. Sie läßt die fragliche Gewißheit als bedingte Gewißheit bestimmten Verhaltens und die Moral des Subjekts, daß es sich in einer Sphäre hält, als Bedingung der theoretischen Gewißheit erscheinen, allerdings als Bedingung, die selbst durch die Verdeckung ihrer (sprachlichen) Bedingtheit bedingt ist15. Diese Ver15

Beim späten Wittgenstein heißt „eine Sprache vorstellen", „sich eine Lebensform vorstellen" (Schriften, a. a. Ο., 1, S. 296). Sprache sprengt aber immer auch eine Lebensform und übersetzt schon der Form der Sätze nach in andere Lebensform. Nur die Reflexion auf Einheit der Vorstellung läßt Sprache als Entsprechung zu einer Lebensform erscheinen. Reflexionen auf solche Sphären, für die Wittgensteins Theorie der „Sprachspiele" beispielhaft ist, sind schon bei Kant letztgültig an ihre Grenze geführt, die von innen gesehen „Form der äußeren Anschauung" heißt und von außen her als Verdeckung des Sphären aufschließenden Charakters der Sätze in den „Grundsätzen" erscheint. Ohne Bewußtsein dieser Grenze fallen solche Reflexionen selbst hinter Kants „inneres" Grenzbewußtsein zurück.

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deckung bedingt gleichermaßen die theoretisdie wie die moralische Unbedingtheit, die beide tragende Pfeiler des Denkens sein mußten, das sich in Kant erschöpft. Ihre Aufdeckung vermag den moralischen Ernst einer Naturbestimmung als Dasein unter Gesetzen als unter Sätzen zu verstehen, die, bei der Not sprachlichen Verhaltens, als verläßlidi wahr sollen gedacht werden können. Ein moralischer Anspruch sprachlicher Wesen projiziert sidi abstrakt in die Natur. Diese Aufdeckung entdeckt aber zugleidi mit der Verwurzelung eines sidi für theoretisch haltenden Verhaltens im Moralischen dessen Unwahrheit. Das Moralische bewährt sich in der Tat, in der es sich einzig in der Reflexion auf sich einseitig daran orientiert, daß es selbst frei und so der formale Bestimmungsgrund von Tun überhaupt gewahrt bleibe. Es ist die höchste Abstraktion von allem Inhalt. Genau das ist aber die Bedingung der Naturbeurteilung zufolge der Kategorie der Kausalität, wie Kant sie begreift: Zu keiner Zeit wird jemand sagen können, ein Schiff treibe gegen die Strömung. Die Bewegung des Flusses kann in ihrer reinen zeitlichen Form als Ursache für die des Schiffes verstanden werden. Das heißt, sie kann mit ihr kategorisch so verknüpft werden, daß diese Verknüpfung als Satz, dessen Gegenteil nicht eintritt, aufgefaßt wird und daß außerdem noch begriffen wird, wieso das möglich ist. Nicht, weil dies immer so erfahren worden ist, sondern weil gerade von allem Inhalt des Beobachteten abstrahiert und nur auf die Form der Anschauung der Gegenstände geachtet wird, kann das begriffen werden. Die Zeit, als Form der Anschauungen überhaupt, ist eine unumkehrbare Folge. Eine Umkehrung in der Bewegung des Anschauens wäre nur als von außen, etwa durch einen Reiz motiviert zu verstehen, aber nicht aus der gleichförmigen Sukzession in der Anschauung. In der Anschauung als solcher geht ein gleichgültiger Punkt einem anderen, aber einem anderen als einem gleich gültigen und nicht etwa die Aufmerksamkeit stärker oder schwächer affizierenden Punkt" vorher. Auf einen Zeitpunkt folgt ein anderer als ein gleicher. Die Bewegung des Flusses ist insofern Ursache der Bewegung des Schiffes, als man auch das Schiff im Blick behält, wenn man anschauend der Bewegung des Flusses und dabei allein der Bewegung des Anschauens ihrer reinen, inneren, zeitlichen Form nach, d. h. nichts anderem oder nichts dem Anschauen gegenüber Äußerem folgt. Eine Kugel, die von einer anderen angestoßen wird, setzt die Bewegung fort, die die Bewegung dieser anderen der Anschauung abverlangte, aber nicht die Bewegung dieser Kugel. Deren Bewegung ist nur insofern Ursache der Bewegung der angestoßenen, als die Bewegung der Anschauung sich nicht 10

Vgl. die Bemerkungen zu Hegels Begriff der Anschauung, S. 126 ff.

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ändern muß. Andernfalls sind noch andere Kräfte im Spiel. In der Anschauung des einen Gegenstandes ist die Bewegung des Anschauens des anderen nicht verlassen. Grenzen der Gegenstände gegeneinander, d. h. Unterschiede ihrer Konstitution als besondere über ihre reine Gegenständlichkeit hinaus, sind bezüglich dieser Bewegung nicht existent, und deshalb ist die Verbindung beider Gegenstände in einem Urteil als notwendig und objektiv gültig möglich. Kausalität ist eine Kategorie a priori. Eine Bestimmung ihr zufolge ist nur möglich, insofern die Existenz des Angeschauten im reinen Angeschautsein aufgehoben und die Grenzen existierender Gegenstände gegeneinander, ihre Daseinsbestimmtheit, in einem ununterschiedenen Angeschautsein dieser Gegenstände, in das sie sich einfügen, aufgehoben werden kann. Wenn verschiedene Daseiende in einer reinen Anschauung aufgehoben sind, d.h. wenn überhaupt Daseinsbestimmtheit als etwas Aufzuhebendes angesetzt ist, ist die Kategorie, derzufolge eine Bestimmung der Anschauung möglich ist, dynamisch. Bei nur einem Gegenstand, wie in der Anschauungsbewegung der verschiedenen Teile eines Hauses", ist keine Daseinsbestimmtheit als etwas Aufzuhebendes angesetzt. Bei nur einem Gegenstand ist überhaupt keine Daseinsbestimmtheit gesetzt, sondern lediglich die Abstraktion eines unbestimmten Daseins18. Die Anschauung als die Erkenntnisquelle, derzufolge mir etwas (als daseiend) gegeben ist, gelangt in der Vorstellung, Anschauung nur eines Daseienden zu sein, wesentlich an keine Grenze. Etwas hat seine Grenze gegen anderes. Aber Anschauung in dieser Vorstellung ist nur möglich, insofern die Grenze eines Daseienden gegen andere Daseiende in ihr zugleich aufbewahrt und die Vorstellung einer bestimmten räumlichen Strecke (Erstreckung von etwas zwischen seinen Grenzen) in sie eingegangen ist. Die Vorstellung einer reinen Anschauung dagegen, in der explizit verschiedene Daseiende als in einer Anschauungsbewegung aufgehoben vorgestellt sind, impliziert die Verwischung solcher Grenzen. Die so vorgestellte Anschauung überzieht nicht etwa gleichartige Teile eines Ganzen, das in sich schon zwischen seinen Grenzen gegen anderes seinem Dasein nach als ein Ganzes von homogener Qualität bestimmt wäre". Sie negiert verschiedene Qualitäten hinsichtlich ihrer Bestimmtheit gegeneinander. In diese Anschauung geht nichts ein, was etwas für sich sein könnte. Sie ist, wenn man unter Dimensionen Parameter von Bestimmtheitsmöglichkeiten versteht, ohne jede Dimension außer der einen Dimension der Anschauungsbewegung selbst. Sie ist rein zeitlich. Die Bestimmtheits" Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 193 Β 238. » Vgl. Hegel, Logik I, S. 110 ff. *· Hegel bestimmt „Qualität" als für sich isolierte Bestimmtheit eines Seienden. Logik I, S. 97.

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möglichkeit aus ihr heraus ist wesentlich eindimensional, als Verknüpfung Verschiedener zufolge ihres gemeinschaftlichen Angeschautseins, nicht zufolge ihres für sich seienden Bestimmtseins gegeneinander, also allein zufolge einer ihnen selbst äußerlichen Regel. Kausalität hat nichts mit der Qualität zu tun, die Sachen im Vergleich miteinander haben könnten. Sie bedeutet die regelhafte Verknüpfbarkeit von Gegenständen hinsichtlich ihres gemeinsamen zeitlichen Angeschautseins. Daß etwa durch neue physikalische Ergebnisse, ζ. B. die Quantentheorie, Kant kritisiert werden könnte, ist dem Kantischen Begriff der Kausalität zufolge ausgeschlossen. Es ist bei Kant nicht behauptet, daß irgendwelche Erscheinungen zufolge ihres Seins andere Erscheinungen zur Folge haben müßten. Exakt formuliert ist nicht die Sonne kraft ihrer Qualität Ursache der Temperatur eines Steines bestimmter Qualität; vielmehr besteht ein Kausalverhältnis, insofern es eine Regel gibt, derzufolge ein zeitlicher Zusammenhang dieser Erscheinungen sprachlich formuliert werden kann. Keineswegs kann die Regel als ein Satz aufgefaßt werden, in dem ein Kausalverhältnis, das in der Natur der Sachen läge, nachträglich beschrieben würde. Nicht eine erste Sache ist Ursache, sondern das erste in dem bestehenden Kausalverhältnis ist der Satz, der die Regel beinhaltet, die etwas als ein erstes gegenüber einem Folgenden bestimmt. Über die Auffassung eines Satzes als nachträgliches Abbild eines vorliegenden Sachverhalts ist Kant philosophisch hinaus. In seiner Philosophie ist eingesehen, daß die Wahrheit von Sätzen gemäß einem solchen Begriff von Sätzen nicht gedacht werden kann. Von Einzelwissenschaften her, die weiter an diesem Satzbegriff festhalten, kann Kant philosophisch nicht kritisiert werden. Die Kritik an Kant geht in eine andere Richtung: Es fragt sich, unter welchen Bedingungen ein Satz als Regel eines zeitlichen Zusammenhangs von Erscheinungen möglich sein kann, wenn bedacht bleibt, daß der Verweis auf einen Zusammenhang aus der qualitativen Beschaffenheit der Sachen ausgeschlossen ist. Daß eine subjektive Bewegung oder Handlung wie die Anschauung in ihrer Vorstellung als Anschauung von Verschiedenartigem gegenüber der Beschaffenheit ihres Materials frei, in sich aber gleichbleibend sein soll, ist dann nur noch zu verstehen als ein Imperativ an ein Bewußtsein dieser Freiheit als Bewußtsein eines Könnens. In der „Kritik der praktischen Vernunft" versteht sich das Bewußtsein des Könnens aus dem Vernehmen des Imperativs10 im Bewußtsein. Wenn bedacht bleibt, daß die empirische Befragung der Natur, ob denn Sätze als Regeln eines zeitlichen Verhältnisses zwischen Erscheinungen gebildet 10

Jemand „urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sidi bewußt ist, daß er es soll". Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 54.

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werden können, ausgeschlossen ist, dann bleibt auch im Theoretischen nur das Bewußtsein des Könnens aus dem Bewußtsein eines Sollens. Regeln sollen gebildet werden, aber nicht nur werkzeuglich als Gebilde aus Stimmaterial, sondern als Sätze, d. h. als Gebilde, deren objektive Gültigkeit, d. h. bei Kant: deren Wahrheit, gedacht werden kann. Sie sollen sich, in Kants Gedankengang, deshalb auf die Form der Anschauung beziehen. Anschauung ist dadurch als ein Verhalten bestimmt, auf das sich der Imperativ mitbezieht. Denn wenn Sätze gebildet werden sollen, die sich als Regeln auf Anschauung beziehen, muß schon die Anschauung das in ihr gegebene derart „geben", daß dies möglich ist. Nun ist bei Kant die Form zeitlicher Anschauung das reine Nacheinander des Angeschauten. Daraus allein folgt nicht die Möglichkeit einer Regel, in deren Begriff die Wiederkehr von Gleichartigem innerhalb des Nacheinander, ein Jedesmal-wenn, beschlossen liegt. Damit Sätze dieser Form möglich sind, muß Anschauung vorgestellt sein als Verhalten, das Gleichartigkeit im nacheinander Angeschauten garantiert und das nacheinander Angeschaute zugleich als etwas in einer bestimmten, sich wiederholenden Weise voneinander Verschiedenes nun nicht mehr aufnimmt, sondern herstellt. Es kann sich nur um die Anschauung planmäßig hergestellter Erscheinungen handeln. Zu dieser Konsequenz gelangt Kant nicht, aber es ist die Konsequenz seines Ansatzes. Kausalität ist ein Imperativ, eine Anleitung zum planmäßigen Handeln, bzw. zur Handlung planmäßigen disziplinierten Anschauens. Da das Ziel Sätze sind, ist der disziplinierte Ausdruck gegenüber aller Erfahrung das Entscheidende. Die Möglichkeit des disziplinierten (wissenschaftlichen) Ausdrucks ist Richtschnur des als Bestimmtheitsmöglichkeit Angeschauten. Ob es durchgängig Kausalität „in der Natur" gibt, hängt allein davon ab, ob eine durch eine bestimmte Ausdrucksmöglichkeit gegenüber den Erscheinungen sich begrenzende Wissenschaft sich so begrenzt, daß Fragen in der Form „Warum?" in ihr überall eine Antwort erhalten können. Wenn sie sich anders begrenzt, begrenzt sie sich immerhin noch gegen dies „metasprachliche" Fragewort. Da Kant das positivistische Prinzip ineinander geschachtelter Sprachen nicht kannte", galt das Kausalitätsprinzip für ihn uneingeschränkt, d. h. er forderte für jede Wissenschaft Sätze der Form „Jedesmal w e n n . . . , dann . . . " als exakte Antwort auf die Frage „Warum?", auf die ja ζ. B. eine Statistik keine Antwort zu geben vermag. Da Kant noch nicht sah, daß nur dies positivistische Prinzip eine eindeutige Wissenschaftssprache garantiert, glaubte er uneingeschränkt, das sprachliche „Warum?" 21

Er kannte es weder historisch noch systematisch, weil die Frage nach der Wahrheit von Sätzen bei ihm uneingeschränkt gestellt bleibt.

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als eine Frage an „die" Vernunft unmittelbar auf „die" Wissenschaft als einen sprachlich unbegrenzten Zusammenhang von Sätzen ausdehnen zu können. Nur so konnte Kant die Frage nach der Wahrheit mit der nach wissenschaftlicher Bestimmtheit des Ausdrucks noch uneingeschränkt zusammen stellen. Nicht zuletzt durch die genaueren Bestimmungen des Begriffs der Eindeutigkeit im Ausdruck von Erfahrungen ist es möglich, Kausalität, verstanden als durchgängige eindeutige Bestimmtheitsmöglidikeit an der Ansdiauung, im Sinne einer Regel innerhalb eines Spiels zu verstehen, die darin besteht, daß auf die Frage „Warum" immer eine sich auf Ansdiauung beziehende Antwort gegeben werden soll. Dann ist Anschauung die Ermöglichung soldier Antworten aus dem sinnlich Gegebenen zufolge eines bestimmten, aus dieser Spielregel geforderten Verhaltens. Daß Kant weit von der Einsicht in diesen Verhaltenscharakter des bei ihm reine Form der Ansdiauung Genannten entfernt war, entspricht in der Denkstruktur genau seinem Begriff einer reinen praktisdien Vernunft. Daß reine Vernunft praktisch sein soll, impliziert die Vorstellung, ohne besondere imperativische Regelungen, wie das positive Recht sie kennt, wäre sittlidies Verhalten möglich. Jeder einzelne Mensch als Vernunftwesen ist in dieser Vorstellung angeschaut als unmittelbar unter einer Regel, dem Sittengesetz, stehend, unter Ausschluß der Vermittlung durch Sitten und durch deren als Recht fixierte Norm. Die Frage, warum etwas getan werden soll, findet nach Kant unmittelbar aus reiner Vernunft ihre Antwort. Sie findet sie aber gewöhnlich aus der gesellschaftlich vermittelten Gewohnheit, und im Modus der Notwendigkeit nur, soweit diese Sitte positives Recht geworden ist und Gewalt dahinter steht. Erst dann ist die Antwort eindeutig". Erst in der Sphäre des Rechts muß sie auch gegeben werden. Wer auf dem Boden des Gesetzes steht, wird ein Urteil akzeptieren, das ihm das Eigentum an einer Sache mit dem Beisatz abspricht, sie würde ihm gehören, wenn er ein Recht darauf hätte. Dem, der „das Recht als Recht negiert", 22

Die Androhung einer bestimmten gesellschaftlichen Sanktion (Strafe) macht erst die Frage, warum eine bestimmte Handlung getan oder unterlassen werden soll, eindeutig beantwortbar, wenn audi zugleich mit der Eindeutigkeit im Hinweis auf den geregelten Zusammenhang zwisdien Tat, bzw. Unterlassung und Sanktion die Antwort an unmittelbarer „Vernünftigkeit'' verliert. Aus der Sitte heraus ist die Antwort nicht eindeutig; aus der Moralität heraus ist die Antwort zwar wesentlich immer eine und dieselbe (Achtung vor dem Sittengesetz), aber sie steht in keiner Beziehung zu einer Frage nach dem Warum einer bestimmten Handlung als einer Eisd)einun% der menschlichen Freiheit. Das heißt nicht, daß der eindeutig angebbare Grund irgendwann der wahre Grund des Sollens sein könnte. Die Kluft zwisdien Wahrheit und notwendiger Eindeutigkeit ist hier deutlicher als im Theoretischen.

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sagt dies Urteil dagegen nichts. Das das Recht negierende Verbrechen ist zwar eine wirkliche Handlung. Aber, „weil sie sich auf die Sittlichkeit, welche ihre allgemeine Sphäre ausmacht, durchaus negativ bezieht, ist sie widersinnig"0. Sittlichkeit einschließlich des Rechts ist hier verstanden als die Sphäre, in der besondere Handlungen ihren formalen Bestimmungsgrund finden, d. h. in der freie Handlungen wirklidi möglich sind, weil der Handelnde in dem, was er tut, anerkannt ist und das tut, was als ein mögliches Tun anerkannt ist. Die einzelne Tat ist im allgemeinen Anerkanntsein vermittelt. Insofern das nicht der Fall ist, existiert die Tat, aber als Widerspruch zu dem, was sie im allgemeinen als Tat, d. h. als ein Gesdiehen aus Freiheit, möglidi macht. Sie verhält sich negativ zu den allgemeinen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Soldi ein Widerspruch kann im Kantischen Denken nicht vorkommen, da Kant von besonderen formalen und deshalb immer auch materialen Bestimmungsgründen einer Tat nicht spricht. Kant spricht eigentlich nur davon, daß überhaupt (frei) gehandelt werden kann. Freiheit besteht aber nidit im Bewußtsein, daß man überhaupt handeln, sondern daß man bestimmte Absichten wirklich ausführen kann. Ob das der Fall ist, darüber kann allgemein gar nicht gesprochen werden, denn das hängt von besonderen Bedingungen ab. Der Kantische Naturbegriff entspricht demselben Denken, das unmittelbar ein einzelnes als Fall einer höchsten Allgemeinheit nimmt: Anschauung fällt unmittelbar unter den Begriff der Anschauung. Es handelt sich um die gleiche Abstraktion, die somit beide Teile der Kantischen Philosophie „systematisch" verknüpft. Wenn Anschauung als Anschauung eines denkenden Wesens verstanden ist, ist sie Anschauung, die die Bestimmung der Anschauung durch „eine der logischen Funktionen zu Urteilen" wirklich möglich erscheinen läßt. Daß dies unmittelbar möglich sei, ist die Abstraktion. Es ist nur möglich, wenn das Subjekt sich anschauend so verhält, daß es nicht in einen Widerspruch zu einer Sphäre tritt, in der, als der Sphäre eines bestimmten geregelten Ausdrucks, überhaupt Sätze zu eindeutigen Urteilen bestimmt sind. „Reine Form der Anschauung" bedeutet dann das Verweilen innerhalb eines solchen verhaltenen, disziplinierten Anschauens. Diese Kritik an Kant als Kritik an seiner praktischen und theoretischen Position präzisiert Kant gegenüber den Begriff der Freiheit. Bei Kant ist dieser Begriff auf einen noumenalen Bereich beschränkt. Im Hegeischen Begriff des existierenden Widerspruchs als des Widerspruchs, in dem etwas zu den allgemeinen Bedingungen seiner von allgemeinen Prinzipien her gedachten Möglichkeit steht, kommt das Phänomen einer » Hegel, Logik II, S. 285.

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Anschauung zur Geltung, die sich zufolge einer geregelten Sprache nicht — und d.h. überhaupt nicht eindeutig im Sinne eines genormten Begriffs — bestimmen läßt. So wie ein Verstoß gegen das positive Recht existiert und durch seine Existenz die Rechtssphäre, durch die er als Verbrechen negativ bestimmt ist, betrifft, weil es sich um eine in sich reflektierte Handlung mit einer immanenten eigenen Vernünftigkeit handelt, so betrifft audi die nicht in eindeutiger Sprachregelung bestimmbare Anschauung solch eine Sprachregelung. Der Verstoß treibt die Rechtssphäre, die eigentlich auf Anerkennung beruhen sollte, zur Gewaltanwendung. Er kritisiert damit den gesellschaftlichen Zustand, in dem er geschieht, und bestimmt das geltende Recht als etwas, das nur an die Stelle, von Anerkennung und einer nicht vorhandenen natürlichen Sittlichkeit aus diesem „Mangel" heraus notwendig getreten war. So bestimmt die Anschauung, die im Widerspruch zu der gemäß einer geregelten „Objektsprache" eindeutig bestimmbaren Anschauung steht, aber als solch ein Widerspruch nichtsdestoweniger existiert, die Sphäre der Bestimmbarkeit als eine besondere. Sie ist an die Stelle eines Begriffs der Wahrheit von Urteilen getreten, so daß das Bewußtsein gegenüber dieser Sphäre von Bestimmbarkeit zu „sich" gelangt, als Bewußtsein der Freiheit ihr gegenüber und damit auch gegenüber einer Natur unter dem Begriff dieser Bestimmbarkeit. Das im mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken idealiter unbedingt geltende Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch macht es allerdings unmöglich, daß innerhalb dieses Denkens ein existierender Widerspruch bestehenbleiben könnte. Hier sollen nicht, wie ζ. Β in der Rechtspflege, bestimmte Sätze durchgesetzt werden, sondern jeder Widerspruch (und damit jede Existenz als Unterschied zur formalen Bestimmung) soll, wenn nötig unter Preisgabe bestimmter Sätze (Axiome oder Prinzipien im Sinne Poincar^s) vermieden werden. Dadurch erst reduzieren sich letztlich die „Gegenstände" auf ihre mögliche Gleichgültigkeit gegenüber jeder (qualitativen) Bestimmtheit, die sie als Fälle unter besonderen Prinzipien noch haben können". In dieser absoluten Gleichgültigkeit gegenüber besonderen Prinzipien sind es aber auch nicht mehr Anschauungen, die zufolge einer der besonderen logischen Urteilsformen bestimmt werden könnten, so daß z.B. noch Kausalität als durchgängige Bestimmtheitsmöglichkeit behauptet sein könnte. Die Kategorien bleiben bei Kant, im Unterschied zum rein analytischen Prinzip der Widerspruchsfreiheit, auf Anschauungen mit ihren „besonderen" raum-zeitlichen Formen genuin bezogen. Hier ist noch nicht bewußt, daß "

Unter dem Prinzip der Kausalität ist etwas immer noch wesentlich qualitativ bestimmt, ζ. B. als Masse und nicht nur als Punkt.

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entweder der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch oberstes und dann notfalls alle anderen „Prinzipien", auch die „besonderen" der Sinnlichkeit, auflösendes Prinzip ist oder Anschauung als etwas, was unmittelbar kategorial zu bestimmen wäre, aufgefaßt werden kann. Die als in durchgängigen Kategorien bestimmbar vorgestellte Natur ist nicht, wie Kant es darstellt, eine „rein" angesdiaute. Als Bedingung der Bestimmbarkeit ist Anschauung immer schon als bestimmtes Verhalten bezüglich eines eindeutigen Ausdrucks der Anschauung in einer metaspradilich geregelten Objektsprache vorgestellt.

3. Moralischer und psychologischer Begriff der Person Wenn jemand in den Reden eines anderen keinen Widerspruch entdeckt, heißt das noch nicht, daß er sich das Gesagte zu eigen macht. Wenn aber die Begriffe des Gesagten auch von ihm auf Anschauung bezogen werden können, dann sind es Begriffe der Bestimmung von Anschauungen, deren Bedeutung sich zufolge eines im selben Sinn geregelten Verhaltens der verschiedenen Subjekte herstellt, so daß die Subjekte ungeachtet ihrer sonstigen Verschiedenheit in der Verwendung dieser Begriffe übereinstimmen. Die Affinität bestimmter Begriffe zur Anschauung bedeutet die Identität intersubjektiven Verhaltens zu den Dingen über die Verschiedenheit der Subjekte hinweg, d. h. audi ungeachtet der Verschiedenheit der Zustände eines Subjekts, die von der Verschiedenheit der Affektionen ausgehen kann. Sie bedeutet Identität des Verhaltens bezüglich einer feststehenden gemeinsamen Sprache, sowohl gegenüber der Verschiedenheit der Subjekte als audi der verschiedenen „Zustände" im (psychologischen) Subjekt". Sind also die Begriffe in der Rede eines anderen für mich auf Anschauung a priori beziehbar, so kann ich nicht anders, als mir diese Rede zu eigen machen; ich habe sie mir (als Voraussetzung dieser Beziehbarkeit) schon zu eigen gemacht. Das Gesagte ist für mich von der gleichen Überzeugungskraft, derzufolge ich von meinem eigenen Dasein in „verschiedenen Zuständen" meines „Daseins" überzeugt und also „psychologische" Person bin". — Im Fall der bloßen Widerspruchsfreiheit ist die Rede des anderen für midi bloß vernünftig. Da sie mir deshalb noch nicht etwas sagen muß, was ich mit Notwendigkeit akzeptierte, sie mir andererseits aber wegen der immanenten Vernünftigkeit nicht einfach nichts sagt und ich eine Regel darin erblicke, u

26

Das entspricht der Forderung einer Wissenschaftsspradie, in der — in moderner Terminologie ausgedrückt — Bedeutungsidentität auf Bezeichnungsidentität reduziert werden kann (Extensionalitätsthese). Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 223.

Moralischer und psychologischer Begriff der Person

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hat diese Rede für mich den Charakter einer Handlung. Ich rechne sie dem anderen Subjekt zu. Es ist für midi „moralische" Person. Dieser doppelte Personbegriff kann in der Sphäre abstrakt in sidi verhaltenen Verhaltens nidit zusammengebracht werden. Ich bin entweder als ich selbst dabei, oder das Gesagte wird dem anderen, d. h. seiner bloßen Besonderheit und Schuld, zugerechnet. Die Möglichkeit einer Zurechnungsfähigkeit schlägt durch die radikale Trennung zwischen Noumenalem (Geist) und in reinen Formen der Ansdiauung gegebenem Phänomenalen (Buchstaben) unmittelbar, d.h. im unmittelbaren Bewußtsein der Freiheit17 um in den Zwang einer Zurechnungsnotwendigkeit. Wie die psychologische Person sich in der Reflexion auf sich selbst oder im negativ sprachlichen Verhalten konstituiert, so konstituiert sie im selben Vorgang die moralische, indem sie das Gesagte dem Sprechenden als bloß besondere Handlung zurechnet, die nur für das Subjekt dieser Handlung „Verbindlichkeit" besitzt, als eine „an sich zufällige Handlung", die durch eine selbstgegebene „Regel . . . notwendig gemacht wird"". Kants kritische Einschränkung der Möglichkeit notwendigen Urteilens hat das Verhalten zur Grundlage, Aussagen nur dann zuzulassen, wenn sie einer Ansdiauungsform entsprechen, die so strukturiert ist, daß andere Subjekte als solche darin keinen möglichen Ort haben. Uberall sind gleich-gültige Punkte. Das ist der Fall, insofern das sprechende Subjekt zugleich das Hörende ist. Nur das reflektierende Subjekt erfüllt von sich aus die von Kant herausgearbeitete Bedingung einer objektiven Gültigkeit der Urteile a priori, d.h. die Bedingung, daß keine Zustimmung zu ihnen seitens anderer Subjekte abgewartet zu werden braucht. Das transzendentale Subjekt Kants ist wesentlich dasjenige, dessen Sprechen, entgegen der Hinwendung im Sprechen zu anderen, Verweilen bei sich selbst ist. Es ist die Abstraktion der Tätigkeit, im Sprechen zugleich sich selbst zuzuhören. Die dialektische Bewegung, daß man zu sich und zu anderen zugleich spricht, wenn man spricht, ist in verschiedene eindeutige Richtungen zerlegt. Diese Zerlegung bestimmt die menschliche Weltorientierung, solange Berechenbarkeit und Zurechnungsfähigkeit Leitbegriffe der Orientierung sind. Sie ist nicht monistisch aufzuheben, sondern in ihrer abstrakten Wirklichkeit zu begreifen, wozu es des selbst nicht abstrakten Begriffs bedarf, der sie als Abstraktion erscheinen läßt. Im Begriff der Sprachlichkeit hebt sich die Zerlegung der menschlichen Person in ein Objekt der Berechnung und ein zurechnungsfähiges Subjekt insofern auf, als 27 2S

„Du kannst, denn du sollst", vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 54. Kant, Metaphysik der Sitten, 222.

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Systematische Ortsbestimmung der theoretischen Philosophie

von ihm her sidi die gemeinschaftliche Wurzel solcher „Aspekte" zeigt. Die Zurechnungsfähigkeit einer Person rechnet sie zu einer allgemeinen Sphäre von anerkennenden Rechtspersonen, die möglicherweise gerade von dieser Person als Unrechtssphäre abgelehnt wird, weil sie in ihr in ihrer eigenen Beurteilung der Dinge nicht anerkannt und entgegen ihrer sprachlichen Natur einer besonderen, dieser Sphäre aber nur scheinbar fremden „Behandlung" unterzogen wird.

4. Kritik des reinen Verstandesgebrauchs als Kritik der Vorstellung eines vor nur einem Subjekt isolierbaren Gegenstandes Der erste Satz des „Discours de la methode", „der gesunde Verstand" sei „die bestverteilte Sache der Welt", und der andere Satz, er sei „gleidi... bei allen Menschen"1*, schreiben dem Verstand „Eigenschaften" zu, die der Vorstellung eines unendlichen und homogenen Raumes nahe sind. Wenn der Verstand als einzige Erkenntniskraft angesehen wird und Einbildungskraft, Sinne und Gedächtnis nur seine „Hilfsmittel"®0 darstellen, bedeutet die Vorstellung seiner gleichmäßigen Verteilung, daß niemand, der Verstand besitzt, irgendeinem anderen verständigen Menschen an Einsicht überlegen sein kann und demzufolge auch niemand einem anderen etwas zu sagen vermag, auf das dieser andere, wenn er nur die richtige Methode®1 anwendet, nicht auch von sich allein aus kommen könnte. Wahrheit ist dann gerade wegen der gleichmäßigen Verteilung Sache des einzelnen, aber nur, insofern er in sich verhaltener einzelner ist. Wahr ist, was vom Verstand klar und distinkt erfaßt wird. Das Übersichtliche barocker Anlagen, die „ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer Ebene absteckt"38, symbolisiert dies Ideal. Der Kundigste ist der, der sich treu an das Prinzip hält, das dadurch bestimmt ist, daß es das Einfachste" ist. Es kann „nichts so fern liegen, daß man es" mit diesem Kompaß „nicht schließlich erreichte", „und nichts so verborgen sein,... daß man es nicht entdeckte"®4. Der sidi nur an das Prinzip haltende Verstand reicht dadurch überall hin, 29

Descartes, Discours de la Methode, französisch-deutsch, Hamburg 1960, Erster Teil, Nr. 1. 30 Vgl. Descartes, Regulae ad directionem ingenii, XII. 31 Das ist der Weg, der ihn zu dem Ort führt, an dem er noch nicht ist. Alle Distanz hebt sich im Begriff der Zeit auf. Raum ist dann nicht der Raum, in dem Subjekte miteinander sind, d. h. sprechen. u Descartes, Discours..., II. Teil, 1. » Regulae, V. " Discours..., II, 11.

Kritik des reinen Verstandesgebraudis

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daß er unmittelbar bei sich selber bleibt. Folgerichtig wird diese „Bewegung" unter der „als Linien"" veranschaulicht. Die gerade Linie ist Spur einer Bewegung, die allein zufolge des Beharrungsprinzips vor sich geht. — Aber es ist übersehen, daß au es .veränderlich und endluh" und also „an ihm sdiledithin negativ bestimmt" (ebd.). Das Negative an ihm wird aber im Begriff der Qualität als eine .bloß" negative Bestimmung fest- und von ihm ferngehalten. In dieser doppelten Negation geschieht die Behauptung des Seins gegen das negative, heterogene Moment im Sein selbst. (Insistieren auf einer inneren »Grenze, die ebensosehr keine ist". S. 177) So bestimmt sich erst die Setzung des Positiven als »Fürsichsein", in dem sich »das qualitative Sein vollendet" (S. 147). Die Qualität ist das gegen die Negation oder als Negation der Negation, als Abweisung der das Sein in Frage stellenden Fragen behauptete Sein. — Im Begriff als Quantität ist die Bestimmtheit des Seins gegen diese Behauptung (gegen das Festhalten an einer Grenze zwischen wesentlicher und bloß zufälliger, heterogener Bestimmtheit) »gleichgültig geworden" (S. 177). Die Abgrenzung erwies sich als nicht haltbar. Unter dem Gesichtspunkt der Quantität steht Veränderung nicht mehr abstrakt gegen Selbstbehauptung. Nur durch Veränderung, d. h. Fragen oder Wissen der eigenen Identität im anderen, erscheint Selbstbehauptung möglich. Quantität ist in Frage gestellte Qualität. Sie ist gegen die Bestimmtheit, die sie für sich haben sollte, »gegen sich selbst", »gleichgültig" (S. 178 f.). In der Kategorie der Quantität wircj zuerst das Denken von Veränderung im Sinne von Bewegung möglich, während im qualitativ bestimmten Denken lediglich Bestehen und Vergehen (als abstrakte Wahrheit des Bestehens eines endlichen Wesens: Sein zum Tode) die Alternative bilden. Der Begriff der Quantität wagt sich gewissermaßen ohne Furcht, zugleich mit seinem anfänglichen Inbegriff (Für-sich-sein) sich zu verlieren, ins Leben — oder audi aus Furcht, sich ohne dieses Wagen gerade zusammen mit seinem anfänglichen Sein zu verlieren. Die Quantität ist schlechthin identisch mit Sein für anderes. Insofern ist sie auch abstrakt, da sie nidit auch als das andere des anderen zurückbleibt und sich als reine Veränderung in Sinnlosigkeit verliert. Die Wahrheit bezüglich der Unterscheidung von Qualität und Quantität liegt nach Hegel in der Einheit beider, im Maß (vgl. S. 336 ff.). Die Quantität als das abstrakt andere Moment der Qualität entdeckt deren Abstraktheit zwar zugleich mit ihrer ontologischen Verwurzelung. Sie richtet sich im Keime schon gegen die Behauptung der Bestimmtheit von etwas dem Sein nach oder als Seiendes, d. h. schließlich, gegen das verabsolutierte, aus dem Sprechen gelöste kopulative Denken und die Hypostasierung jeglicher Kopulation als feststellendes Urteil zum Wesen.

Ζ VEITER ABSCHNITT

Positivistische Setzungen

1. Metaphysik der Maßsetzung An die Stelle des Insistierens auf der Qualität als der Kategorie, in der etwas als „Beharrliches im Dasein", im Unterschied zu seiner „beharrlichen Vorstellung" 1 , ausgesagt wird, tritt zunächst als durchdachtere Kategorie die des Maßes und des Messens. Gibt es Maß vor aller methodischen Maß-Setzung? Der Satz des Protagoras aus Abdera, nach dem der Mensdi Maß aller Dinge sein soll, „der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind"', meint offensichtlich nicht den Menschen als Gattungswesen, sondern den Einzelmenschen in seinen jeweiligen wechselnden Zuständen und Dispositionen®. Es ist hier keine anthropologische, sondern eine skeptische Position bezogen. Ein allgemein gültiges Maß ist verneint. Kant dagegen spricht von Anschauung a priori „in gewissen Verhältnissen" und formuliert demnach scheinbar ein Maß für Dinge, insofern sie erscheinen. Das Maß ist die Einheit von Qualität und Quantität. Ein Maß ist ein bestimmtes Quantum von qualitativ Bestimmtem. Alles Quantifizieren geschieht unter der Voraussetzung einer Qualität. Die nach Wellenlängen quantifizierende Farbenbestimmung ist die Bestimmung der „übergeordneten" Qualität Licht. Die Bestimmung auch des Lichtes als Abschnitt auf einer Skala von Wellenlängen setzt eine noch höhere („allgemeinere") umfassende Qualität voraus usw. Wenn der Raum als Form der Anschauung des sinnlich Gegebenen zugleich in allen Teilen derselbe ist, dann werden Qualitäten als einteilbar und damit als meßKant, K r i t i k der reinen Vernunft, Β X L I , Anm. τ ω ν μέν δντων ώ ς εστι, των δέ μή δντων ώ ς οΰκ Ιστιν (Plato, Theaitet 152 a 3 — 4 ) . * Das geht aus einer Stelle bei Sextus Empiricus (Pyrrhonische Grundrisse I, S. 2 1 6 ff.; Diels-Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1960, Bd. I I , S. 258, 80 [74], A 14) und auch aus Piatons Theaitet hervor. Sokrates entgegnet, wenn der Mensdi das M a ß aller Dinge sei, sei er nicht klüger als eine Kaulquappe oder irgendein anderer Mensdi (άλλου τοΰ ανθρώπων, 161 d 2). (Vgl. O t t o Apelts Anmerkung zu seiner Übersetzung desTheaitet, Leipzig 1911, Bd. I V , S. 160, Anm. 16.) 1

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Metaphysik der Maßsetzung

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bar angeschaut. Durdi ihre Ausdehnung im Raum ist eine Qualität meßbar. Wenn eine „intensive" Größe, ein Druck ζ. B., gemessen werden soll, muß sie räumlich darstellbar sein. Aber der Raum enthält als reiner Raum noch kein Maß. Ein Maß muß festgesetzt werden. Ein Ding im Raum muß gesetzt werden als etwas, das seine Qualität nicht verändert, damit andere, wie auch immer qualitativ Bestimmte an ihm gemessen oder danach bestimmt werden können, ob sie „sich" quantitativ gleich bleiben oder „sich" verändern. Die Setzung des Maßes kann also nicht Bezug auf ein „an sich" gleichbleibendes Ding sein, weder auf den Menschen (der in dieser Betrachtung Ding wäre) noch auf sonst etwas, weil erst unter einem Satz als einer Maßsetzung irgendetwas „sich" selbst gleich sein kann oder nicht. Insofern audi in dieser Setzung immer schon „etwas" (als Satzsubjekt) vorausgesetzt ist, von dem „angenommen" ist, daβ „es" „sich" nicht ändert, erreicht die Reflexion über das Maß wesentlich nicht die Frage nach dem Maß des Seienden, daß es ist (ώς εστι), und des Nichtseienden, daß es nicht ist (ώς ουκ εστίν). Sie verharrt in der Voraussetzung eines Seienden, daß es (gleich) ist. Daß sich etwas bezüglich seiner Quantität nicht ändern soll, ist eine Anforderung an seine Qualität, die darin vorausgesetzt bleibt. Messen ist unmöglich in einer reinen Anschauung, in der nichts von „daseiender" Qualität vorausgesetzt sein kann. Die Kantische Vorstellung der Konstruierbarkeit von Figuren in reiner Anschauung, die Meßbarkeit voraussetzt, setzt sich darüber hinweg. Sie setzt sich über den Unterschied zwischen sinnlicher Anschauung und reiner (formalgeometrischer) Bestimmung hinweg und kann nur so von „reiner Anschauung" sprechen4. Als dies antizipierende Hinwegsetzen gelangt die Reflexion über die unreflektierte Voraussetzung des Seins hinaus und zu „sich" selbst. Es ist ihr möglich, das Maß unabhängig von einer „haltenden" Qualität zu „behalten", nämlich „in" sich selbst, nun aber nicht mehr als aus4

In der „Konstruktion* der mathematischen Begriffe soll nach Kant ein „einzelnes Objekt" in reiner Ansdiauung dargestellt werden. Dieses einzelne Objekt (ζ. B. ein „gegebenes" Dreieck) ist zwar „empirisch", aber seine Konstruktion soll „Allgemeingültigkeit für alle möglichen Anschauungen" ausdrücken, „die unter denselben Begriff gehören" (A 713 Β 741). Hier wird besonders deutlich, daß „reine Ansdiauung" sidi in der Abstraktion des reinen Formalismus des Enthaltenseins von etwas unter einem übergeordneten Begriff konstituiert. Das einzelne ist methodisch schon in seiner Besonderheit gegenüber dem Allgemeinen negiert, wenn von reiner Anschauung und der Möglichkeit, in ihr Begriffe zu konstruieren, die Rede sein soll. Aber auch das einzelne Dreieck stellt nur insofern die allgemeine Methode der Konstruktion von Dreiecken im Sinne der Regel für Verhaltensidentität des konstruierenden Subjekts dar, als es als „dieses-da* gegeben ist. Sonst stellt sidi nichts Allgemeines dar. Auch in der Einbildung muß dazu etwas einzelnes gegeben sein, so daß es sich hier nie um „reine" Einbildung handeln kann.

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Positivistische Setzungen

gedehnte Größe (eines Maßstabes), sondern als Zahl, d. h. als Bedeutung eines Zeichens, das in einem System von Zeichen einen Wert hat. Das daseiende Zahlzeichen bedarf keiner bestimmten vorausgesetzten Qualität. Der artikulierte Laut hat seiner Beschaffenheit nach nichts mit dem Halten (im Sinn von objektivem Gleichbleiben) der bedeuteten Quantität zu tun. Allein durch die festgelegte, geregelte Beziehung dieses Zeichens zu anderen ist Quantität dargestellt. In solch einer Sprachregelung gelingt zum Schein die Lösung von einer in einer bestimmten Bestimmtheit vorauszusetzenden Qualität, die als solche philosophisch unbegreiflich geblieben ist und bleiben mußte. Hier liegt auch der Schlüssel zum philosophisdien Stellenwert entsprechender sprachpositivistischer Positionen. In diesem Bezug auf die Sprache wird aber das geäußerte Wort sogleich wieder in die Regelung und die Herrschaft des sich äußernden Subjekts zurückgenommen. Die Äußerung zum anderen hin „gilt" nur, insofern ihm gegenüber methodische Übereinkunft sdion besteht. Die Regelung gesteht „unbedeutende" subjektive Varianten in der Gestaltung der Symbole f ü r exakte Werte zu. Die Überschreitung dieser Grenzen, der individuelle Ausdruck also, ist durch dieselbe Regelung zur Bedeutungslosigkeit bestimmt. Diese Lösung vom anderen als anderen ist scheinbar die Lösung von irgendeiner vorauszusetzenden Qualität. D a ß diese Lösung möglich erscheint, bedeutet aber den Verzicht auf die Denkbarkeit der objektiven Gültigkeit ihres Resultats, um die es Kant, der in dem Begriff einer „reinen Anschauung" als Anschauung in gewissen Verhältnissen a priori „unbedacht" Qualität voraussetzte, nodi ging*. s

Wenn Cassirer schreibt, „nicht Uhren und körperliche Maßstäbe, sondern Prinzipien und Postulate" seien „die eigentlichen, letzten Maßinstrumente", weil „in der Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit der Naturerscheinungen" „das Denken immer nur dadurch einen relativ festen Standort" „besitzt", „daß es ihn sich selbst nimmt" (Zur modernen Physik, a. a. O., S. 19), so bleibt fraglich, was hier „nehmen" heißen soll. Woher nimmt sich das Denken den Standort, der es selbst bestimmendes sein läßt, also sich selbst als Identität? Die Antwort kann nur lauten, daß es sich in der Sprache findet, an die es, sich äußernd, gehalten ist und in deren Bedeutungen ihm Bleibendes entgegenkommt, aber eben nicht als reines Prinzip von Identität, das es nicht gibt, sondern als Identität, die den sinnlichen Spielraum anderen, individuellen Verstehens ebensogut behält wie die durchgängige Bedeutung (s.o. S. 187). Sprachliche Bestimmtheit ist weder die eines bestimmten Dinges — es gibt keine naturbestimmten Dinge — noch ist sie nur vom Denken bestimmt, denn es gibt auch kein reines, nur bestimmendes Denken, das nicht zugleich sdion in Bestimmtheit existieren müßte. Das Denken vernimmt sich in der Reflexion auf den geäußerten Laut als bestimmt, indem es mögliches anderes Vernehmen „derselben" Bedeutung, also in dieser Reflexion an der Sprache die anderen, ausschließt. Darin bestimmt es sich selbst. Der Begriff des Meßbaren (Cassirer, a. a. O., S. 10) wie der des Postulats und Prinzips setzen diese Bewegung des Subjekts voraus als Reflexion, Zurückbeugung der auf den anderen und dessen Verständnis hin sinnvollen sprachlichen Artikulation

Metaphysik der Maßsetzung

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Als Reflexion „an" der Sprache, die so gut ein Übergehen der Andersheit der anderen wie der Dinge im Sinne des Worüber des Sprechens ist, ist Identität des Subjekts etwas Vermitteltes, auch wenn diese Reflexion als jederzeit mögliche das Leichteste ist (ihre Möglichkeit „begleitet" alles Spredien). Diese Identität ist nicht der Mensch als gleichbleibendes Wesen und von diesem Wesen her gleiches Ding, wie ein anthropologischer Subjektivismus es versteht. Der Vorgang der Reflexion an der Sprache ist vielmehr Bedingung eines solchen Relativismus, weil durch ihn sich erst Identität als möglicher Bezugspunkt eines Relativismus herstellt. An die Stelle einer transzendentalen Philosophie über „die" Natur, derzufolge wie bei Kant der Begriff einer äußeren Natur in einem obersten Grundsatz aller objektiven Sätze über sie sollte gedacht werden können, ist mit dem Begriff des Messens die experimentelle Naturwissenschaft getreten. Innerhalb der Grenzen der Wissenschaftlichkeit ist sie deren legitime Nachfolgerin, aber unter „einsichtigem" Abstrich eines Anspruchs auf Objektivität im Sinne Kants. Da Kant zur Dialektik hinführt, ist dieser Abstrich für die Wissenschaft als Wissenschaft konstitutiv. Messen ist Vergleichen. Eine Strecke an einem Körper ist der Maßstrecke gleich, wenn ihre äußeren Punkte mit den äußeren Punkten der Maßstrecke zur Deckung gebracht werden können. Nur das Experiment kann dann zeigen, daß zwei Strecken, nachdem sie einmal als gleiche festgestellt wurden, einander gleichgeblieben sind, indem es sie trennt und wieder zusammenbringt. Aussagen über Gleichheit oder Ungleichheit nicht aneinanderliegender Strecken beruhen auf der Setzung, daß Strecken, die im Vergleich gleich gewesen sind, gleichbleiben. Die gesetzte Qualität des Maßstabs, gleichbleiben zu können, wird auf das Gemessene übertragen. Diese Setzung überträgt Bestimmtheiten, die sich aus dem Messen ergeben, auf Dinge, insofern sie nicht nebeneinanderliegen, sondern „für sich" sind. Wenn angenommen wird, Längen seien auch in der „Zwischenzeit", in der sie voneinander entfernt sind, gleich, so ist gemeint, daß sie beim nächsten Aneinanderhalten wieder gleich seien. Im Unterschied zu Kants oberstem Satz über den Raum ist der Satz, daß es sich so verhalte, ausgesprochen pragmatisch. Von Gleichheit zu sprechen, wo die Bedingung der Möglichkeit des praktischen Vergleichs nicht gegeben ist, bedeutet, diese Kategorie von einer Kategorie der experimentellen Vergleichung als einer Praxis in eine der Bestimmtheit der Dinge im Bezug auf sich selbst umzudeuten*. Soll eine solche Aussage möglich und etwas in

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auf den Sprecher selbst, die wesentlich in allem Spredien Moment ist. Sie bleiben darin selbst abstraktes Moment. Es hätte abstrakt theoretisch genausoviel Sinn, Nichtidentität zu postulieren. Wie

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Positivistische Setzungen

der Entfernung von seinem Maßstab für sich bestimmt sein, so ist die Entfernung selbst als etwas Bestimmtes angesetzt. Urteile über den entfernten Gegenstand besagen dann immer zugleich etwas über die Entfernung, z.B. in der euklidischen Geometrie, daß die Entfernung oder die Bewegung eines Körpers im Raum von seinem Maßstab weg keinen Einfluß auf die Größe des entfernten Gegenstandes oder auf das Verhältnis seiner Größe zu der eines anderen Gegenstandes, von dem er entfernt wurde, haben soll. Der Gegenstand wird als der vertraute auch in der Entfernung aus dem unmittelbaren Umgang „behalten". Er wird nur „aufgeräumt". Deutlich hat diese Vorstellung ihre Parallele zur Heideggerschen. Der Raum als Bedingung der Möglichkeit dieser „Entfernung" bedeutet, es sei möglich, einen Gegenstand hinsichtlich seiner Lage unbegrenzt zu verändern, ohne seine Größe (den Raum, den er einnimmt und in den als den der vertrauten Dinge er sich einpaßt) zu verändern. Die Größe „bleibt" im Gedächtnis, nachdem sie einmal gemessen worden ist, und was im Gedächtnis ist, ist als „getreues" Abbild gesetzt (obwohl ihm natürlich jeder Bildcharakter abgeht). Der frühere Zustand und der gegenwärtige unterscheiden sich aber schon dadurch, d a ß der frühere als Tatsache, als tatsächliches Übereinstimmen in einer gemeinsamen Strecke gemessen war und der gegenwärtige eine Forderung ist. D a ß das, was war, noch ist, das „τό τί ήν είναι" des Aristoteles, „δσων ό λόγος έστίν ορισμός"7, müßte die Differenz zwischen Tatsache und Forderung in sich aufheben und als Identität aussagen. Es umgriffe die Differenz zwischen der bestimmten Form „ήν" und der unbestimmten „είναι". Die räumliche Entfernung wäre als Begriffsumfang des Zeitwortes dargestellt und in ihm als nichts Wesentliches aufgehoben.

2. Forderung oder Tatsache des Gesetzten Es bleibt aber zu fragen, ob die im Allgemeinbegriff aufgehobene Differenz zwischen Tatsache und Forderung ihrerseits Forderung oder Tatsache ist. Bei K a n t handelt es sich um Synthesis von Verschiedenem in der Form eines reinen Nacheinander, als das er die Zeit bestimmt. Das Problem ist beseitigt durch die Form der Anschauung, das zu Verknüpfende sei reines, gleichgültiges Nacheinander ohne solch eine D i f ferenz. R. Hönigswald nennt in neukantianistischer Kantinterpretation sidi beim praktischen Messen Ungleichheit so gut wie Gleichheit ergeben kann, so kann auch ebensogut postuliert werden, daß sich das Ungemessene verändert, wie - daß es sich gleich und also identisch bleibt. Man muß sich praktisch für das eine oder andere entscheiden. 7 Aristoteles, Metaphysik Ζ 4 , 1 0 3 0 a 6—7.

Forderung oder Tatsache des Gesetzten

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die Kantische „Allgemeingültigkeit" „nicht die Tatsache, sondern die Forderung der Anerkennung" 8 . Das Zitat gibt, indem es den Begriff „Anerkennung" ins Spiel bringt, einen Hinweis darauf, was „λόγος" hier heißen könnte. Bisher wurde von der Tatsache der Gleichheit und der Forderung der Gleichheit gesprochen. Die Forderung ist, da Gleichheit immer im Zusammenhang mit Messen gebraucht war, der schwächere Begriff, der sidi im Messen, also als Tatsache, zu bewähren hat. Die Forderung der Gleichheit bedeutet eigentlich die Voraussetzung der Tatsache einer allgemeinen Anerkennung als Forderung. Unter dieser Voraussetzung kann ζ. B. euklidische Geometrie als intersubjektive Wissenschaft getrieben werden. Hönigswald ist es offensichtlich darum nicht zu tun. Er meint eine Forderung, die bedeutet, daß unter der Voraussetzung ihrer Erfüllung Erkenntnis möglich ist. Der Unterschied wird ganz deutlich, wenn man bedenkt, daß euklidische Geometrie tatsächlich betrieben wird. Ob aber tatsächlich Erkenntnis als apriorische Synthesis stattfindet, ist eine Frage, die sich nidit ohne weiteres positiv beantworten läßt. Nur solange an Axiome die Frage nach einem Unterschied zwischen Tatsache und Forderung nicht gestellt war und es einen allgemein anerkannten „λόγος" gab, der diese Indifferenz umfaßte, sie glei