Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen 9783964567710

Komplementär zu dem Kommentarband 'Geschlechter. Performance, Pathos, Politik will diese Anthologie lateinamerikani

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German Pages 440 Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Polyxene und das Küchenmädchen
Das Unding
Freundinnen
Aura und die elftausend Jungfrauen
Warten auf den Italiener
Sieben Bilder im Spiegel
Pancho Villa oder die nackte Frau
Malinche
Kämpfe unter der Gürtellinie
Die Moderatorin
Der Engel und der Vampir
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Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen
 9783964567710

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Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen Heidrun Adler, Kati Röttger (Hrsg.)

THEATER IN LATEINAMERIKA

Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 2

Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen Herausgegeben von Heidrun Adler und Kati Röttger

Vervuert • Frankfurt am Main

1998

Die Übersetzungen aus dem Spanischen wurden mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen / hrsg. von Heidrun Adler und Kati Röttger. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1998 (Theater in Lateinamerika ; Bd. 2) ISBN 3-89354-322-8

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

Alfonsina Storni, Argentinien P O L Y X E N E U N D DAS K Ü C H E N M Ä D C H E N

9 (1931)

Griselda Gambaro, Argentinien

39

DAS UNDING ( 1 9 6 5 )

Maria Irene Fornés, Kuba/USA FREUNDINNEN

87

(1977)

Carmen Boullosa, Mexiko AURA UND DIE ELFTAUSEND JUNGFRAUEN ( 1 9 8 5 )

137

Mariela Romero, Venezuela WARTEN AUF DEN ITALIENER ( 1 9 8 8 )

161

ALBALUCIA ANGEL, KOLUMBIEN SIEBEN BILDER IM SPIEGEL (1991)

205

SABINA BERMAN, MEXIKO PANCHO VILLA ODER DIE NACKTE FRAU (1992)

251

INÉS MARGARITA STRANGER, CHILE MALINCHE ( 1 9 9 3 )

299

DIANA RAZNOVICH, ARGENTINIEN KÄMPFE UNTER DER GÜRTELLINIE ( 1 9 9 3 )

325

ALINA MARRERO, PUERTO RICO DIE MODERATORIN (1994)

375

YOLANDA PANTIN, VENEZUELA DER ENGEL UND DER VAMPIR (1994)

407

¿Quéfilerà mi vida sin la dulce palabra? Alfonsina Storni

Vorwort Im 17. Jahrhundert tadelte die mexikanische Nonne Juana Inés de la Cruz die Männer für das idyllische Bild, das sie von einem Frauenleben zeichneten. Sie forderte für die Frau das Recht, zu denken und auszusprechen, was sie denkt, und auf diese Weise ihr eigenes Bild ihres Lebens zu zeigen. Heute wird dem keineswegs mehr widersprochen, aber noch immer gilt für die Frau, was Pablo Neruda in seinem Liebesgedicht Nr. 15 schreibt: „Me gusta cuando callas" (Ich liebe es, wenn du schweigst). Die hier versammelten Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen sollen zeigen, daß die Frauen sich das Recht genommen haben zu denken und es aussprechen und dennoch unter jener „Liebeserklärung" leiden. Diese Zusammenstellung von Theaterstücken, die von Frauen geschrieben wurden, soll keinesfalls weibliche gegen männliche Dramatik setzen. Beide Bände, die Anthologie und der sie begleitende Kommentar Geschlechter/Performance, Pathos, Politik wollen vielmehr die Unhaltbarkeit solcher Begriffsbildung herausstellen. Die hier vertretenen Autorinnen haben eines gemeinsam: Sie bringen selbstbewußte Darstellungen der Welt aus einem weiblichen Blickwinkel. Sie schreiben kein anderes Theater als Männer, sie verweigern nur die männliche Perspektive. Ich betone „selbstbewußt", weil die Autorinnen wissen, daß dies ein anderer Blick auf die Welt ist als die tradierte (auch von Autorinnen tradierte!) Weltsicht. Und sie vergleichen das Ergebnis mit dem, was man von ihnen erwartet. Selbst wenn sie uns böse Parodien männlicher Machtposen zeigen (Sabina Berman, Carmen Boullosa, Diana Raznovich u.a.), geht es keiner von ihnen um eine Abgrenzung weiblich versus männlich. Sie wollen vielmehr den Dialog: „Sprich m i t mir. Sprich nicht nur z u mir." Allerdings bedarf es dazu der Absage an überkommene männliche Urteile. Diese Frauen zeigen, was sie wollen, im Gegensatz zu dem, was die Tradition ihnen zu wollen vorschreibt. Und sie setzen dies auf unterschiedlichste Weise für das Theater um. Das wird im Kommentarband Geschlechter/Performance, Pathos, Politik ausführlich beschrieben. Das erste Stück, Polyxene und das Küchenmädchen von Alfonsina Storni führt in das Thema dieser Anthologie ein: Das Küchenmädchen ist eine gebildete junge Frau, die zwischen Kohlköpfen Verse von Euripides deklamiert. Storni zeigt eine mehrfache, sehr ironische Repräsentation der Frau in ihrem Verhältnis zum Mann, die den Tod der Sklaverei vorzieht. Dieses Thema: die Auseinandersetzung mit dem herrschenden männlichen Diskurs und auch die ironische Distanz, mit der es behan-

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Vorwort

delt wird, sind charakteristisch für das Theater dieser lateinamerikanischen Frauen. Stornis Ausführung wurde 1931 publiziert. Die anderen Stücke stammen aus den letzten zwanzig Jahren. Eine Ausnahme bildet Das Unding (1965) von Griselda Gambaro. Sie schreibt noch heute, warum das alte Stück? Weil es wie die jüngeren Stücke den „anderen Blick" zeigt, sein Protagonist aber ein Mann ist. Denn, selbst wenn weibliche Belange in den meisten Stücken im Vordergrund stehen - da vor jedem Stück ein kurzer Überblick über Autorin und Werk gegeben wird, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden -, weisen doch alle über die enge Mann-Frau-Beziehung hinaus auf jede Form von Unterdrückung/Kolonisierung; sei es des einen durch den anderen, sei es des Individuums oder ganzer Völker und Bevölkerungsgruppen (z.B. Frauen) durch Herrschaft jeder Art: Tradition, Vorurteil, Medien, Markt, Politik etc.. Immer geht es den Autorinnen darum, festgeschriebene Denkmuster aufzubrechen, sich aus dem männlichen Diskurs zu lösen und die Dinge mit den eigenen Worten zu benennen. Was wäre mein Leben ohne das holde Wort? Alfonsina Storni: La Palabra, 1920. Heidrun Adler

Wir danken allen, die uns ideell und materiell bei dieser Arbeit unterstützt haben.

Alfonsina Storni Polyxene und das Küchenmädchen Polixena y la cocinerita Tragische Farce in Prosa und Versen Ein Akt und ein Epilog

Deutsch von Heidrun Adler

Polyxene und das Küchenmädchen

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Alfonsina Storni (1892-1938) ist als Dichterin berühmt geworden. Mit ihren Zeitgenossinnen Gabriela Mistral (Chile), Juana de Ibarourou und Delmira Agustini (beide aus Uruguay) prägte sie die Lyrik Lateinamerikas über ihre Zeit hinaus. Als Theaterautorin war sie ohne Erfolg. Ihre sehr feministischen Stücke wurden erst lange nach ihrem Tod gewürdigt. Stornis Zeitgenossen konnten mit der unkonventionellen Weltsicht dieser engagierten Frau nicht umgehen, sie reagierten mit Diskriminierung. Erste Theatererfahrungen sammelte Storni als junges Mädchen, als sie fast ein Jahr lang mit der Truppe JOSÉ T A L L A VI aus Rosario unterwegs war. Später arbeitete sie als Sängerin und Tänzerin in Bars und Cafés in der Provinz. 1910 wurde sie Lehrerin und ging nach Buenos Aires ans T E A T R O I N F A N T I L M U N I C I P A L DE LABARDÉN. Sie schrieb Pantomimen, Puppentheater, Farcen und Fabeln, die sie mit ihren Schülern in Parks und auf öffentlichen Plätzen aufführte. Für das erwachsene Publikum schrieb sie vier Theaterstücke: El amo de este mundo (1927), La debilidad de Mr. Dougall (1927), Dos farsas pirotécnicas (1931): Cimbelina en 1900 y pico und Polixena y la cocinerita. El amo de este mundo, der ursprüngliche Titel war Dos mujeres wurde im April 1927 im TEATRO C E R V A N T E S in Buenos Aires uraufgeführt. Trotz begeisterter Aufnahme durch das Publikum am Premierenabend2 mußte das Stück nach wenigen Tagen abgesetzt werden, weil die Kritik gegen seine feministische Aussage Sturm lief. Der Text basiert auf Stornis berühmten Gedicht Tu me quieres blanca und diskutiert die Doppelmoral der argentinischen Gesellschaft, die der Frau nicht die gleichen Rechte zubilligen will, die der Mann für sich in Anspruch nimmt.3 Erst ein Jahr zuvor waren den Frauen in Argentinien die bürgerlichen Rechte zuerkannt worden, und die Öffentlichkeit war noch nicht in der Lage, eine so unabhängige, intelligente Frau wie die Protagonistin Margareta, eine ledige Mutter wie die Autorin selbst, auf der Bühne zu akzeptieren. Keines ihrer weiteren Stücke ist zu ihren 1

Storni schreibt in „Entretelones de un estreno", in Nosotros, April 1927, daß sie das Stück Dos mujeres genannt habe, weil Gut und Böse von zwei weiblichen Charakteren repräsentiert werden. Die Titeländerung sei nötig gewesen, weil es bereits ein Stück dieses Namens gab. Außerdem hoffte sie, mit dem neuen Titel die Aufmerksamkeit ein wenig von den weiblichen auf den männlichen Charakter abzulenken; siehe dazu Conrado Nalé Roxlo und Mabel Mármol: Genio y figura de Alfonsina Storni. Buenos Aires 1964, S. 120.

2

berichtet Alejandro Storni, der Sohn der Autorin, in Roxlo, Mármol (122).

3

In ihrem Gedicht fordert die Autorin den Mann, der von ihr erwartet, daß sie rein, keusch und treu sei, auf, sich erst einmal selbst zu läutern, dann dürfe er solche Wünsche äußern.

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Alfonsina Storni

Lebzeiten aufgeführt worden. 1938 nahm Alfonsina Storni sich das Leben Polyxene und das Küchenmädchen ist wie alle Theaterstücke Stornis eine sehr ironische Polemik für die Gleichberechtigung der Frau. Schauplatz des Geschehens ist hier nicht der Salon, in dem man gesittet über die Probleme spricht, sondern die Küche, der Platz, „an den die Frau gehört". Ein junges Mädchen aus guter Familie geht allein in die Welt, verdient sich ihren Lebensunterhalt in den verschiedensten Berufen und arbeitet schließlich als Küchenmädchen. Der Sohn des Hauses, in dem sie dient, stellt ihr nach. Dem Flegel an Intelligenz und Bildung überlegen, als Frau aber, und darüber hinaus in der selbstgewählten niedrigen sozialen Stellung, unterprivilegiert, spielt sie griechische Tragödie. Mit Kohlköpfen, Kochtöpfen und Pfannen rezitiert sie sehr frei und eigenwillig Verse der Polyxene aus Hekabe von Eurípides und ganze Passagen aus dem Bericht über deren Tod auf dem Grabhügel des Achilleus. Mit einem Küchenmesser nimmt sie sich am Ende das Leben. Storni hat Polyxene und Cimbelina4 nach ihrer Rückkehr aus Europa geschrieben, unter dem Eindruck von Valle-Incláns esperpentos und Ortega y Gassets Essay Deshumanización del arte. Sie nennt die beiden Stücke pyrotechnische Farcen. - Die Farce ist ein hybrides Genre, das auf einer Deformation der Realität beruht. Und Pyrotechnik ist die Kunst ein Feuerwerk zu gestalten. - Mit diesem Untertitel gibt die Autorin den Charakter der Stücke vor: es sind Parodien, die ein Feuerwerk der Kritik entzünden werden. Ferner heißt es: tragische Farce, ein Oxymoron, mit dem die Autorin die Situation der Frau in der abendländischen Kultur perfekt beschreibt. Aggressiv und sehr ironisch setzt sie das Schicksal einer intelligenten Argentinierin dem der zur Sklaverei verurteilten Trojanerin gleich. Sie akzeptiert die traditionellen Konventionen nicht, welche die Frau zum passiven Tauschobjekt unter Männern degradieren und gleichzeitig für die Erhaltung der ausschließlich männlichen Ehrencodices verantwortlich machen. Der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Liebe und Harmonie und der Unmöglichkeit, sie zu erreichen, weil die Rollen - so Storni - auf lächerliche Weise festgeschrieben sind, wird in der Parodie einer Tragödie der Weltliteratur vor Augen geführt.5 Allerdings ist Polyxene keine Vorlage für ein modernes 4

eine Anleihe bei Shakespeare, mit der Storni eine Romanze im Stil des spanischen Siglo de Oro aber mit modernsten expressionistischen Techniken kreiert.

5

„For feminists, the rewrighting of myths denote participation in these historical processes and the struggle to alter gender asymmetries agreed upon for centuries by myth's disseminators." Diana Purkiss:„Women's Rewrighting of Myth", in Carolyn Larrington:77ie Feminist Companion to Mythology, London 1992. S. 441.

Polyxene und das Küchenmädchen

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Schicksal; Storni zeigt eine andere Perspektive, die weibliche Perspektive des Dramas. Parodiert wird der Moralkodex, der die Tragödie der Heldin bestimmt: Polyxenes Opfertod ist heldenhaft, der Tod des Küchenmädchens ohne Sinn; die Tragödie der Frau existiert nicht im männlichen Kanon. Darum bedient sich Storni der antiken Verse und der Karikatur eines Theaters im Theater. Alfonsina Storni wehrte sich dagegen, als militante Feministin bezeichnet zu werden, war aber eine der leitenden Figuren der ASOCIACIÓN PRO DERECHOS DE LA MUJER und schrieb eine feministische Kolumne in LA NACIÓN, der angesehenen Tageszeitung von Buenos Aires. Sie war in ihrer Weltanschauung und auch, was die Wahl ihrer theatralen Mittel angeht, ihrer Zeit zu weit voraus, um verstanden zu werden.6 Heidrun Adler

6

Rachel Phillips beschreibt den desolaten Zustand des argentinischen Theaters der 20er und 30er Jahre als Ursache für die Aussichtslosigkeit Alfonsina Stomis, eine glänzende Karriere als Dramatikerin zu machen, in Alfonsina Storni. From Poetess to Poet. London 1975, S. 61.

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Alfonsina Storni

Dieses Stück wurde für die Schauspielerin Berta Singerman geschrieben, das erklärt seinen Stil. Die willkürlichen Verse sollten mehr der Überspanntheit des Berichts entsprechen als dem üblichen Versmaß.

Polyxene und das Küchenmädchen

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Polyxene und das Küchenmädchen Personett des ersten Akts: Küchenmädchen (25) - Stubenmädchen (23) - Junger Mann (28) - mehrere Gesichter junger Leute zwischen 18 und 24 Jahren. Personen des Epilogs: Euripides - seine Frau (sie spricht nicht) - Stimme des musikalischen Fisches (männlich) Küchen- und Stubenmädchen sind wie zeitgenössische Hausangestellte gekleidet, aber mit sehr viel Geschmack und Anmut. Es muß der Eindruck entstehen, sie deuteten diese Rolle nur an (als hätten sie sich verkleidet). Der junge Mann ist aus gutem Haus, normal gekleidet. Er wirkt kraftvoll. Die Gesichter der jungen Leute stilisieren eine snobistische Eleganz. Sie wirken, wenn sie auftauchen, wie Puppen. Euripides ist im Stil seiner Zeit gekleidet; ein energischer alter Mann. Seine Frau trägt eine Tunika ihrer Zeit. Sie ist noch jung. Der musikalische Fisch wird als ein gewaltiges Maul dargestellt, in das Euripides hineintreten kann, und mit zweifarbigen Scheinwerfern als Augen (rot und grün). Erster Akt Eine stilisierte Küche. Überall Töpfe, Staubwedel, Pfannen, Besen, Schüsseln etc. in verschiedenen eigenwilligen Formen und grellen Farben. In einer Ecke dekorativ ein Haufen Weißkohl. Ein Gemüsekorb mit Gurken, Möhren und Petersilie. Neben einem Spülbecken ein Pult, auf dem aufgeschlagen ein großes Buch liegt. Auf einem Tisch viele Bücher. Eine Trittleiter, ca. 150 cm hoch, in die Stufen sind Nägel eingeschlagen. Oben in der Wand ein Klappfenster. Das Bühnenbild soll beim Zuschauer den Eindruck von origineller, bunter Irrealität wecken. Wenn der Vorhang aufgeht, trocknet das Mädchen die letzten Teller neben dem Becken und liest mit übertriebener Betonung aus dem Buch auf dem Pult. KÜCHENMÄDCHEN „Oh, Mutter, welchen Schmerz mußt du erleiden! Oh, unglücklichste aller Mütter. Oh, unglückselige Frau! Welch unaussprechlich bittere Schmach hat wieder die feindliche Gottheit wider dich, ach Mutter, gesendet? Dein Kind ist nicht mehr dein: nicht mehr soll ich in der Knechtschaft, Greisin, dir Mitdulderin sein. Wie ein Kalb, wie ein Reh, das weidet im Tann,

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Alfonsina Storni

so wirst du Unglückselige mich Unselige dir aus den Armen Entrissen sehn, vom Schwert durchbohrt, in das Dunkel der Nacht des Hades gesandt, wo ich unter den Toten ruhen soll..." Sie ist mit den Tellern fertig und beginnt die Küche aufzuräumen. Oh Euripides, wenn du mich sähest, wie ich hier abwasche, mich, die dein Genie bewundert und deine Tränen trocknet, deine Gesänge deklamiert... Singen wir, singen wir! Alles im Leben ist Gesang, alles! Während sie spricht, hängt sie Töpfe auf, Siebe, stellt Geschirr zusammen Das Besteck singt, wenn es ans Waschbecken stößt; das Wasser singt, wenn es in den Töpfen kocht; es singt das Lendenstück, wenn es das weißglühende Eisen berührt; der Dampf singt, wenn er die Deckel hebt; es singt der Stahl, wenn er den Stahl schärft; es singt das Wiegemesser beim Zerkleinern von Petersilie und Knoblauch; es singt der Stößel im Mörser beim Zerstampfen der Gewürze. Also singen wir, laßt uns ständig singen! Laßt uns den Glanz der Töpfe besingen, wie Monde in einer Reihe an der Wand über einem in Öl gemalten Himmel aufgehängt; laßt uns die Rundung der Zwiebel als edles Symbol der Mutterschaft besingen; laßt uns das Lied des heißen Öls anstimmen, das Dampf aufbrodeln läßt, fallen die bescheidenen Kürbisscheiben hinein; besingen wir das Wasser, das wild aus den Rohren schießt, auf die Teller fällt und sie vom Fett, Schmach des Geschirrs, reinwäscht; besingen wir den Schwung des Arms, der von rechts nach links wischt, um vom Rand in die Mitte hinein in systematischem Fieber zu putzen und zu polieren... Laßt uns singen!... Laßt uns singen! ... Laßt uns singen! Laßt uns vom Glanz der ordentlichen Küche singen! Alles ist jetzt fertig. Bin ich die perfekte Köchin oder bin ich es nicht? Äußerst anmutig Wie sitzt meine Haube? Meine Schürze? Holt aus einer Schublade Spiegel und Schminkzeug Setzen wir eine Rose für 70 Centavos auf den Mund. Malt sich die Lippen Die Film... Klappe... blühende... Wangen Schminkt sich Ich bin die Gesundheit, die das gastrointestinale Reich bewacht... Ich bin der Appetit schlechthin. JUNGERMANN erscheint aufgelöst mit einem Zettel Warum machst du dich über mich lustig, Schlampe? Was kommst du mir mit Zettel-

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Küchenmädchen

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chen? Was bildest du dir ein? Er packt ihren Arm Soll ich dir die Schnauze polieren? KÜCHENMÄDCHEN Lassen Sie mich los, lassen Sie mich los, Sie tun mir weh... JUNGER MANN Dreckige Schiunze; Hure! KÜCHENMÄDCHEN Sie wußten genau, daß ich nicht gehen würde, daß ich nicht gehen würde. Sie könnten mich umbringen, und ich würde nicht gehen! JUNGER MANN Und mich läßt du einen ganzen Monat um dich herumschwänzeln und machst mir was vor? KÜCHENMÄDCHEN Sie verstehen überhaupt nichts, können nichts verstehen... JUNGER MANN Was soll ich nicht verstehen? KÜCHENMÄDCHEN Daß es Frauen gibt, die man nicht kaufen kann; weder mit Liebe noch mit Drohungen, weder mit Geld noch mit Schmeicheleien... JUNGER MANN Und du bist so eine? Denkst du, ich glaub dir deinen Quatsch? Wenn du was taugtest, würdest du dann in einer Küche fremde Sabbereien abwaschen? Woher hast du die Seidenkleider? Wem bindest du auf, du wärst unschuldig von zu Hause weggegangen, in die weite Welt hinein? Die wußten schon, warum sie dich rausgeschmissen haben, unverschämte Lügnerin! KÜCHENMÄDCHEN in ernstem Ton, aber komischer Attitüde, während sie ein kleines Küchenbeil in die Höhe seiner Stirn schwingt, wie auf halbem Wege gebremst Raus hier, raus hier, oder ich spalte Ihnen den Kopf mit einem Hieb! JUNGERMANN Laß das los! Er bezwingt sie, sie stöhnt auf. Loslassen! So!... Gib das her! Sie läßt das Beil los. Du kommst sofort in mein Zimmer. Wieviel willst du? Fünfhundert? Tausend? Dreitausend? Fünftausend? Ist das genug? Mehr kriegst du nicht. Keinen einzigen Centavo mehr für eine Köchin. Und wasch dich vorher, wenn du die Ehre willst, zu mir ins Bett zu steigen, Küchenschabe! Ab. KÜCHENMÄDCHEN hat in dieser Szene eine zweideutige Haltung; wenn er sie verläßt, fängt sie an zu lachen, nicht verzweifelt, sondern mit kleinen, glucksenden Lachern. Sie sieht sich um, ob noch etwas zu tun ist und hängt mechanisch, ohne jeden Sinn, Gegenstände auf und ab. Plötzlich

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nimmt sie die Trittleiter, die in einem Winkel steht, und stellt sie in die Mitte der Bühne; überstürzt schlägt sie Nägel in die Stufen und spricht: Die Komödie läuft gut... die Komödie läuft sehr gut... sehr gut... letzter Akt... Sie macht eine Bewegung, als schlüge sie sich ein Messer ins Herz Großartig! Bravo! Bravo! Sie applaudiert Ich bin die Heldin... Ich begrüße mich selbst! ... Schöner Mann; dumme Frau! ... Er kommt zur Tür herein; sie sitzt... Sie ist klein, sehr klein... nicht höher als der Tisch... Er ist vier Etagen... ja, er ist vier Etagen hoch... Was für eine Szene! Sie imitiert sich selbst Hinaus! Hinaus, oder ich töte Sie! Ich hatte ein Beil in der Hand, ein kleines Beil... eine Knoblauchzehe würde von einem Schlag damit sterben... Aber eine Katze, wäre eine Katze damit umzubringen? Ziemlich klein... abrupt Das Messer hier ist größer!... Sie nimmt ein großes, spitzes Messer Ein Hühnerkopf fliegt mit einem Schlag ab... Oben auf dem Grabmal wäre es gut...! Sie legt es auf die oberste Stufe der Leiter, dann streicht sie sich mit der Hand über die Stirn wie jemand, der aus einer Halluzination erwacht. Hin und wieder lacht sie kurz auf, jetzt nicht mehr glucksend, sondern traurig. Sie setzt sich an den mit Büchern beladenen Tisch und blättert in einem Buch. STUBENMÄDCHEN kommt herein Bist du fertig? KÜCHENMÄDCHEN Ja, die Küche ist sauber. STUBENMÄDCHEN Machst du keine Mittagspause? KÜCHENMÄDCHEN Nein, ich bleibe hier und lese. STUBENMÄDCHEN Wann gibst du auf? KÜCHENMÄDCHEN In zehn Tagen. STUBENMÄDCHEN Ich morgen. Was hast du? Warum lachst du? KÜCHENMÄDCHEN Nichts. STUBENMÄDCHEN Hast du von unserem Abenteuer genug? KÜCHENMÄDCHEN Genug? Noch nicht, das ist alles ziemlich komisch. Hast du einmal gesehen, wie ein Mensch verbrennt? Seine Verrenkungen sind das Komischste, was man sich vorstellen kann. In verändertem Ton Mußtest du nie darüber lachen? STUBENMÄDCHEN Mädchen, wir sind zwei Unglücksraben. KÜCHENMÄDCHEN Hallo! Wer hat dir das gesagt? STUBENMÄDCHEN Du willst es nicht wahr haben. KÜCHENMÄDCHEN Ich koche den perfekten Reis und begreife Einstein; kann ich unglücklich sein?

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STUBENMÄDCHEN Laß uns mit der Spinnerei aufhören; laß uns nach Hause gehen... Mein Vater hat sich gerade einen Packard gekauft. Ah, wenn ich an die weichen Polster denke! KÜCHENMÄDCHEN düster Geh doch! STUBENMÄDCHEN Allein? KÜCHENMÄDCHEN Allein. STUBENMÄDCHEN U n d d u ?

KÜCHENMÄDCHEN sehr bedeutungsvoll Ich gehe eher, als du... STUBENMÄDCHEN Aus diesem Haus? KÜCHENMÄDCHEN Nein. STUBENMÄDCHEN Hast du nicht gesagt, du gehst? KÜCHENMÄDCHEN Ich werde gehen. STUBENMÄDCHEN Ich verstehe dich nicht. KÜCHENMÄDCHEN Mach dir nichts draus. STUBENMÄDCHEN Irgendwas ist mit dir. Ich hab dich vorhin schreien hören; ich hab auch die Stimme des Bengels gehört. Hat er dich wieder belästigt? Was war los? Sag schon... Warum lachst du? KÜCHENMÄDCHEN zweideutig mit düsterem Unterton Wir haben eine Komödie gespielt, seit ein paar Wochen spielen wir sie. Die Proben werden immer besser. Du glaubst mir nicht? Ich hatte immer schon etwas von einer Schauspielerin, das weißt du... fröhlicher Sobald ich diese Küche verlasse, gehe ich zur Bühne; das wird dann meine siebte Erfahrung. Vielleicht meine große Erfahrung. Denn, wer sagt dir, daß meine wahre Berufung nicht darin liegt, ein Medium des Lebens, der Leidenschaften, der Gedanken aller zu sein? Boshaft und spöttisch Weißt du, welche Rollen ich besonders gut spielen würde? Gefallene Mädchen; hier, sieh meine Gesten, meinen Blick, meinen Gang. Sie entspannt sich Bin ich nicht die Prostituierte? Sind meine Bewegungen nicht vulgär? Ist mein Fleisch nicht aufreizend? Bin ich eine großartige Schauspielerin, oder bin ich es nicht? Los doch, wenn du ein Mann wärest und ich keine Komödiantin, wieviel würdest du für mich zahlen? Sag schon, wieviel? STUBENMÄDCHEN Ach, du bist verrückt. Immer dieselbe! KÜCHENMÄDCHEN Wie lange ist es her, daß ich von zu Hause wegging? Vier Jahre, erinnerst du dich? Ich war schön damals, fast noch ein Kind... kein Fältchen auf der Stirn. Aber ich habe viel geweint... Hast du dir mal vorgestellt, was du fühlen würdest, wenn

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die Figuren in den Büchern sich bewegten, aus ihren Seiten herauskämen und sich in dein Leben einmischten? Wieviel haben die Figuren in den Büchern gelitten! Einige sind verhungert, andere in Gefängnissen wie Früchte verfault, und wieder andere sind aus Liebe zu den Menschen am Galgen gestorben. Und wenn dich diese Fiktionen betrogen haben? Sehen, wissen, kennen, erkennen, gibt es eine größere Versuchung im Leben? Nein, ich war nicht reich wie du; aber ich brauchte nicht zu arbeiten... mein Vater und meine Mutter waren wunderbar, aber so klein! Sie hatten das Leben auf vier elende Funktionen geschrumpft. Nein, mir hat nichts gefehlt. Aber ich wußte etwas, nämlich, daß ich ein menschliches Wesen war, verstehst du? Ein menschliches Wesen mit nur einem Leben, mit nur einer Handvoll Jahre, um das abzugelten, was die Welt mir an Gutem wie an Schlechtem geben würde. Ich ging fort, um die Welt zu sehen. Aber aus Überzeugung. Ich wollte arbeiten, um sie zu sehen. Ich war Aufseherin, Krankenschwester, Dienstmädchen und Arbeiterin, jetzt stehe ich in einer Küche... Sich den Lebensunterhalt zu verdienen, klärt sehr schnell die Vorstellungen. Ich habe von glücklichen Herren und unglücklichen Unterdrückten reden hören... Ich war Herrin; ich wollte Dienerin sein... Ja, das Leben hat zwei verschiedene Gesichter, wenn man eine Küche von innen oder von außen sieht; es ändert sich der Wert des Geldes, es ändert sich der Wert deiner Anstrengung, es ändert sich der Wert der Stunden. E S ändert sich der Wert der Langusten... In der Küche versorgst du dich gratis; außerhalb mußt du sie teuer bezahlen. KÜCHENMÄDCHEN Ich habe meine Familie die ganze Zeit nicht gesehen; ich habe studiert; meine Brüder haben das Schlimmste von mir gedacht, ja, das Schlimmste! Die Erinnerungen schmerzen sie; wieder übertreibt sie, steht auf Ich liebe Diana! STUBENMÄDCHEN Oh, armes Kätzchen... ich auch. KÜCHENMÄDCHEN Diana, keusch, stark, frei, Herrin ihres Körpers und ihrer Pfeile... STUBENMÄDCHEN Komm, gehen wir! KÜCHENMÄDCHEN Ach wäre dies ein Wald und meine Kochtöpfe wären Männer. Reich mir den Bogen! Reich mir die Pfeile! STUBENMÄDCHEN Pfeile? Nimm den meines Geistes... STUBENMÄDCHEN

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KÜCHENMÄDCHEN zieht ihr einen imaginären Pfeil aus dem Kopf; spannt einen imaginären Bogen und macht das Geräusch eines abgeschossenen Pfeils: Pssss... ja! Ein Mann am Boden! STUBENMÄDCHEN Haßt du sie? KÜCHENMÄDCHEN Eh, du, beschreibe mir einen Mann... Sie nimmt Papier und eine Schere. STUBENMÄDCHEN Er hat zwei Beine. KÜCHENMÄDCHEN Ich schneide sie aus. Sie schneidet eine lächerliche Figur aus dem weißen Papier. STUBENMÄDCHEN Über den Beinen einen Brustkorb... KÜCHENMÄDCHEN Ich schneide. STUBENMÄDCHEN In der Toraxhöhle, gewöhnlich als Brust bezeichnet, links... KÜCHENMÄDCHEN Ein Rattennest. Warte, ich schreibe: Rattennest. Sie schreibt das Wort an die Stelle des Herzens. STUBENMÄDCHEN Einen Hals, einen Kopf... KÜCHENMÄDCHEN Ich schneide. STUBENMÄDCHEN Im Kopf... KÜCHENMÄDCHEN Sag es nicht: ich schreibe... Hochmut, Grausamkeit, Blindheit. Schreibt die Worte auf den Kopf. STUBENMÄDCHEN Er ißt. KÜCHENMÄDCHEN Geht. STUBENMÄDCHEN Liebt. KÜCHENMÄDCHEN Tötet. STUBENMÄDCHEN Beleidigt. KÜCHENMÄDCHEN Ah! Stößt einen schrecklichen Schrei aus. STUBENMÄDCHEN Mädchen! KÜCHENMÄDCHEN greift sich in komischem Pathos ans Herz Dritte Szene des ersten Aktes... Die Dame greift sich ans Herz und schreit. Dann packt sie den Mann und nagelt ihn auf die Leiter... so, mit einer Hutnadel. Sie nagelt den Hampelmann auf die Leiter Wenn sie keine Hutnadel hat, nimmt sie irgendeine andere. STUBENMÄDCHEN Mädchen, du schnappst noch total über... KÜCHENMÄDCHEN wieder normal Ich habe mein Schicksal akzeptiert; es hat mir einen üblen Streich gespielt; aber du mußt wissen, ich habe es akzeptiert...

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Alfonsina Storni

STUBENMÄDCHEN DU hast ziemlich unter diesen harten Erfahrungen gelitten; das war nichts für dich; es wird Zeit, geh wieder nach Hause. Ich verzichte auf mehr. Kindereien. Der Drang, eine unverbesserliche Welt zu verbessern. Geh nach Hause; sie müssen von deinem Leben erfahren, wissen, daß du immer ein anständiges Mädchen geblieben bist... Ich werde mit ihnen reden. Sie müssen es erfahren. KÜCHENMÄDCHEN Niemals, meine Liebe. Geh du nur zurück. Ich kehre niemals um. Ich gehe immer vorwärts, und wenn ich in einen Abgrund stürze. Du hast einen anderen Charakter. Du kannst die Dinge meistern. Ich kann sie nur erdulden. Du kannst mit dem Leben spielen... Ich wollte es auf die Probe stellen, und nun hat es den Spieß umgedreht. Akzeptiert. Ich habe mehr gesehen, als ich sehen wollte, und manches davon werde ich nie vergessen können, oh, und wenn ich tausend Jahre leben würde. Soll ich dir eine Begebenheit erzählen, eine unter so vielen? Es war in einem Saal im Kinderkrankenhaus; ein Zeitungsjunge, er wird zwölf Jahre alt gewesen sein; keinen Vater, keine Mutter; schmutzige Augen, wie ein geprügelter Hund. Er wurde in jammervollem Zustand eingeliefert; lag im Sterben, hatte einen langsamen Todeskampf; zwei, drei Tage dauerte es. Bevor er starb, wehrte er sich: er begriff, daß es zu Ende ging und schrie und weinte und bettelte, man möge ihn doch retten. Eine Ärztin behandelte ihn; sie war hübsch und jung; sie war anmutig, elegant, hatte das sanfte Lächeln einer guten Fee. Der Junge hatte solche Angst vor dem Sterben, daß er sie, als sie an sein Bett kam, stöhnend bat: „... bitte, lassen Sie mich nicht allein; bitte, bleiben Sie bei mir, ich sterbe..." Sie hielt sich nicht bei ihm auf, flirtete mit einem anderen Arzt des Saals, der sie begleitete. Als einzige Antwort bedeckte sie sein Gesicht mit dem Laken. „Der Tod ist häßlich", sagte sie zu ihrem Kollegen und ging weiter. STUBENMÄDCHEN Und was hätte sie für ihn tun sollen?

KÜCHENMÄDCHEN Ja, sicher, ich weiß, sie war Ärztin, sie war daran gewöhnt, Menschen sterben zu sehen. Sie hatte ihren festen Stundenplan, und es war nicht ihre Aufgabe, Sterbenden beizustehen. Aber wenn du die Patienten mit ansteckenden Krankheiten gesehen hättest, endgültig verlassen von allen, die sie am meisten liebten, verlassen, Väter von ihren Söhnen, Männer von ihren Frauen, Töchter von ihren Müttern...

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STUBENMÄDCHEN Und hast du nicht auch große Gesten gesehen, Tugenden, Heldentaten? KÜCHENMÄDCHEN Oh, ja, die habe ich gesehen; aber sie waren selten; gerade ausreichend, um nicht in der Menge von Feiglingen und Egoisten an Verzweiflung zu sterben. STUBENMÄDCHEN Nimm dagegen den Fall eines anderen Arztes nach dem ersten Weltkrieg. Er war ein berühmter Spezialist. Er verdiente gerade genug, um mehr schlecht als recht leben und die Frauen seines Hauses versorgen zu können, die schutzlos zurückgeblieben waren. Ein Kranker aus unserem Land besuchte ihn in Deutschland, er war nicht reich aber wohlhabend. Er hatte eine unheilbare Krankheit, und jener Gelehrte, der von seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten fast erdrückt wurde, wollte ihm keine Rechnung schreiben. „Ich danke Ihnen, daß Sie von Amerika hierher zu mir gekommen sind. Das ist für mich Bezahlung genug. Ich kann einem Mann nichts in Rechnung stellen, dem ich das Leben nicht retten konnte." KÜCHENMÄDCHEN Ja, bewundernswert. STUBENMÄDCHEN Vor allem, wenn du an alle die anderen denkst, die mit den armen, zum Tode verurteilten Wesen spekulieren.

KÜCHENMÄDCHE Zum Tode verurteilt? Wir sind alle zum Tode verurteilt. Der Unterschied besteht nur aus ein paar Jahren mehr oder weniger... Das einzige, was ich die Menschen lehren würde, ist sterben können. Derjenige ist der Größte, der besser zu sterben versteht... Wenn das Leben für dich keinen Wert mehr besitzt, lösch es aus. Ein großzügiges Herz liebt das Leben so sehr, wie es den Tod akzeptieren kann. Hauptgewinn im Spiel des Lebens ist ein unerwarteter Tod... STUBENMÄDCHEN Ach, Mädchen; mir ist Marmeladenbrot lieber. KÜCHENMÄDCHEN Kennst du HEKABE von Euripides?

STUBENMÄDCHEN Ich und die Griechen? Nein, meine Liebe; friß du nur selbst den Aischylos-Sophokles-Euripides-Salat... Geschenkt...! KÜCHENMÄDCHEN Wenn du mir nur ein wenig ernsthafter zuhören wolltest...

STUBENMÄDCHEN Ich bin innen so ernst, daß ich nach außen einfach frivol sein muß. KÜCHENMÄDCHEN Wenn du mir zuhören würdest... Warum hat mich diese Frau so beeindruckt? Ich möchte die Romantiker verachten,

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bin aber selbst romantisch. Heroische Gesten bewundere ich, weil ich selbst nicht dazu fähig bin! Niemals könnte ich so sterben wie diese Frau. STUBENMÄDCHEN Wie wer? KÜCHENMÄDCHEN Wie Polyxene. STUBENMÄDCHEN Komm, komm... KÜCHENMÄDCHEN Doch, wie in der Sage, die in Wahrheit kaum hätte anderes sein können. STUBENMÄDCHEN Wie welche Sage? KÜCHENMÄDCHEN Von Polyxene, die Euripides aufnimmt. Ich habe sie hier. Sie deutet mit dem Kopf zu einem der Bücher Seit Tagen lese ich sie immer wieder... STUBENMÄDCHEN jovial Du bist sichtlich abgemagert... KÜCHENMÄDCHEN Polyxene! STUBENMÄDCHEN Gott schütze Polyxene... KÜCHENMÄDCHEN Sie war die Tochter einer Königin, die Tochter Hekabes; Mutter und Tochter wurden nach dem Trojanischen Krieg Sklavinnen, hier, hier ist die Szene... STUBENMÄDCHEN Oh, der Glanz der Antike! Versklavte Königin mit Namen Hekabe... ihre Tochter heißt Polyxene... KÜCHENMÄDCHEN Und als sie alles verloren hatte, forderte man ihr Leben, und sie gab es ohne Furcht hin... STUBENMÄDCHEN Oh, Polyxene, Polyxene! KÜCHENMÄDCHEN Wenn ich zu so einer Tat fähig wäre, wie stolz wäre ich! STUBENMÄDCHEN Also, ich würde gern im Morphiumrausch sterben, um gar nicht zu merken, daß ich sterbe. KÜCHENMÄDCHEN Oh, das Leben ist schmutzig, verglichen mit dem edlen Werk eines großen Dichters: schöne Gesten, schöne Körper, schöne Seelen, schöne Gedanken, schöne Taten... Ich sterbe, ich sterbe vor Durst... STUBENMÄDCHEN sehr anmutig Wasser? Soda? Limonade? Erfrischungen? Gebrannte Mandeln? Eiscreme?... Plötzlich im off laut ein Grammophon mit einem Vorstadttango; Gelächter und Lärm von jungen Leuten KÜCHENMÄDCHEN wieder im Wahn, in sehr menschlichem, echten Ton Ah, dieser Schuft; oben in seinem Zimmer; mit seinen Freunden... sie

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tanzen, lachen, lärmen... Es sind viele, mehr als sonst... Was wird er tun? Was hat er vor? Ich kenne seine Gemeinheit nur zu gut... Er hat sie nicht ohne Absicht hergebracht... Der ist zu allem fähig. Freundin, Liebste, beschütze mich, beschütze mich; ich erzähle es dir, ich werde dir alles erzählen; mein Herz bricht vor Schmerz; ich kann nicht weiterleben... ich liebe ihn, ich liebe ihn bis zum Wahnsinn; ich liebe ihn, ich hasse ihn, ich verachte ihn, ich verabscheue ihn... ich könnte sein Herz zerreißen, mit den Fingernägeln... wenn du wüßtest, was es heißt, gegen den eigenen Willen einen brutalen Mann zu lieben... Er hat die Seele einer Hyäne und die Sprache eines Müllkutschers... Aber er ist schön, ja, schön und männlich, so männlich wie er gemein ist! Er hat mich zu einem Nichts erniedrigt, hat mich mit scheußlichen Worten beschmutzt, mich wie die schlimmste aller Frauen behandelt, denn mein Willen ist so stark wie meine Liebe... Niemals, niemals, niemals werde ich ihm gehören! Niemals werde ich mich vor ihm demütigen, niemals, niemals! Er soll mich an einen Baum binden, mich gnadenlos schlagen, ich werde widerstehen! Er soll meinen Leib mit Nadelstichen foltern, ich werde widerstehen! Er soll mich lebendig verbrennen, ich werde widerstehen! Eher gebe ich mich einem Bettler auf der Straße hin als ihm! Niemals! Niemals! Die Musik verstummt, der Lärm dauert an. Die Musik hat aufgehört, nimm meine Hände, nimm mich in den Arm! Geh nicht weg! Geh nicht weg! Sie verlassen das Zimmer... Sie kommen die Hintertreppe herunter. Hörst du sie nicht? Ob sie gehen? Sie gehen nie dort hinunter... Wollen sie durch den Dienstboteneingang auf die Straße? Hoffentlich! Das Klappfenster oben in der Küchenwand geht auf und das Gesicht des Jungen Mannes erscheint, mit ihm noch vier bis fünf andere Gesichter. Zusammen wirken sie wie eine Herde, die kurz davor ist loszubrechen, um ein Feld zu verwüsten; sie grinsen ironisch und beleidigend. 1. STIMME

Ist es die da?

2. STIMME Dufte Puppe! 3. STIMME Hallo, Jungfrau! JUNGER MANN Fünfhundert und keinen Centavo mehr... 1. STIMME Keinen Centavo mehr. 2. STIMME

Und du?

3. STIMME Keinen Centavo mehr...

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4. STIMME Nicht einen... Man hört sie unter Gelächter und Lärmen eine Treppe hinunterrennen. Stille. STUBENMÄDCHEN Sie sind weg. Durch den Dienstboteneingang... ich habe die Tür schlagen hören. Das Küchenmädchen lacht wieder glucksend wie vorher, darunter mischen sich tiefe Seufzer. Komm, Mädchen, komm schon! Nur Mut! Beachte einen schlechten Kerl einfach nicht. Sieh zu, daß du aus dieser Misere herauskommst... Nimm jetzt, sofort deine Koffer und geh... Komm schon, vergiß ihn... Kopf hoch! Hast du nicht von den mutigen Frauen gesprochen? Jetzt ist der Augenblick da, eine zu sein! Komm schon, nur Mut, nur Mut! Na, na! Sie klopft ihr auf die Schulter, denn das Küchenmädchen hat den Kopf auf den Tisch gelegt. Polyxene, Polyxene! Vorwärts! KÜCHENMÄDCHEN mit einem freudigen, triumphierenden, heldenhaften Ausruf und wachsender Erregung Ja, Polyxene, Polyxene! Ich erzähle es dir, ja, ich werde es dir erzählen... aber paß auf, paß auf, wir müssen die Szene richten; ich möchte einen roten Mond, einen Tragödienmond. Hekate, Hekate persönlich. Sie dreht sich suchend um Dieser bronzene Topf... hier; wir hängen ihn an die Lampe. Sie hängt ihn auf Beleuchter, rotes Licht, hierher! Ein roter Strahl trifft auf den Boden des mit der Unterseite zum Publikum hängenden Topfes und stellt nun einen roten Mond dar. Der Topfboden kann Rostflecken haben, die wie die Mondlandschaft wirken. Jetzt Stimmung, Stimmung. Das Licht wechselt und taucht die Bühne in ein gedämpftes Licht, das noch erlaubt, Details zu erkennen, aber doch abgeblendet ist. Schauplatz ist Troja. Hier ein Grab, das Grab des Achilleus. Sie nimmt die Leiter Wir machen den Grabhügel mit Küchengerät, Besen und großen Schüsseln. Sie hängt die Dinge an die Leiter, bis sie ganz bedeckt ist und wie ein Grabhügel aussieht. Das Stubenmädchen sieht ihr voller Mitleid und schmerzlicher Verwunderung zu; während dieser Szene sollte sie versuchen, sich aus dem Geschehen etwas zurückzuziehen. STUBENMÄDCHEN Mädchen! Mädchen!

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KÜCHENMÄDCHEN Dieses Bänkchen hierher. Sie bildet mit einer kleinen, schmalen Bank die Basis des Grabhügels Mehr Sachen, noch viel mehr Sachen. Sie stapelt Schüsseln etc. auf der Bank Häufen wir das Grabmal, wo Polyxene getötet wurde, schön geschmückt auf. Die Pfanne, dieser Rost; noch mehr Sachen, mehr Sachen... Hoch mit dem Hügel! Ein klingender, glänzender Grabhügel, vor allem glänzend! Für das Blut einer Jungfrau ist aller Schmuck noch zu gering. Komm, hier einen Schöpflöffel, einen Schneebesen, ein Hackbrett, Staubwedel, Besen... Fertig... Jetzt noch das Schwert... das Schwert... hier! Sie sucht im Gemüsekorb Eine Mohrrübe oder eine Gurke... Ja, ja, diese Gurke. Sie packt die Gurke Sieht aus wie ein maurischer Säbel. Euripides sagt, der Sohn des Achilleus habe Polyxene mit einem Schwert durchbohrt, aber ein maurischer Säbel geht auch. Es lebe die Gurke! Sie legt sie oben auf die Leiter neben das Messer, das sie am Anfang der Szene dort hingelegt hat. STUBENMÄDCHEN Mädchen, Mädchen...

KÜCHENMÄDCHEN Sieh mich nicht so an, hilf mir lieber, steh da nicht rum... hör zu: als sie Polyxene opferten, kam das griechische Heer, um dem Opfer beizuwohnen... Womit stellen wir das griechische Heer dar? Womit? Womit nur? Ja, diese Kohlköpfe hier auf dem Boden... Sie wirft Kohlköpfe um die Leiter herum; der Raum hinter der Leiter bleibt frei Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, hundert, tausend, dreitausend Griechen, unendlich viele Griechen... Das ist das griechische Heer, das zu dem Hügel schaut, der über dem Grab des Achilleus aufgetürmt worden ist... Eine Tunika... Sie sucht, findet aber nichts, was ihr dienen könnte Eine Girlande... Fahrig bindet sie einen Kranz aus Petersilie und setzt ihn sich an Stelle der Haube unordentlich auf den Kopf Ich bin jetzt Polyxene; ich erzähle jetzt, was geschah: Das Stubenmädchen verbirgt, in ihrem Winkel hockend, aufseufzend den Kopf im Schoß. Das Küchenmädchen beherrscht erregt und im Wahn die ganze Szene, gelegentlich verfällt sie in satirische Töne, indem sie ihr Drama mit dem erzählten Drama verwebt. Sieh dort: es tritt der starke Odysseus zu Hekabe, der gramgebeugten. Hekabe, einst Königin der Trojaner... jetzt eine Sklavin;

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dem gebogenen Stab die Hand aufstützend, ihr Blick umwölkt von Schattenbildern; Nicht Tränen quellen ihr aus den Augen. Blut ist es, das in Strömen aus den dunklen Höhlen fließt und Rosen in die schwarze Erde webt. Unendlich tropft der Jammer ihres Herzeleids, der immertönenden Flöte gleich. Schon brachten ihre Frauen, die um sie versammelt, diese Botschaft: „Höre, Sklavin, die du einst Herrin warst: Odysseus kommt mit schnellem Schritt zu deinem Zelt. Nicht Mitleid für dein Schicksal rührt ihn und nicht Dankbarkeit, die er dir schuldet. Er kommt mit einer Botschaft, die dein greises Herz mit Worten scharf wie Schwerter zerreißen wird. Rufe die Götter in des Hades Nacht und die himmlischen an! Flehe um Gnade, sonst mußt du sehen, wie Polyxene tot am Grab des Achilleus hinsinkt, umflossen von Blut." Und so sprach Odysseus zu der Gramgebeugten, zu Hekabe, der heimatlos weinenden: „Ich weiß, Weib, daß nur Polyxene, die Tochter, dich in die Verbannung begleitet. Hart war das Schicksal zu dir: den Gatten verloren, den großen Priamos, und die Heimat siehst du nie wieder. Doch noch mehr Leid muß dein Leben erfahren; noch mehr Elend dein tägliches Brot sein. Das Heer befiehlt, und ich gehorche: Das Volk Achaias fand es gut, Polyxene, dein Kind, zu opfern an des Achilleus hohem Grab. Nachdem Troja fiel, soll das Blut deiner Tochter

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für das Blut so vieler Griechen bezahlen, und so sei sie dem Tapfersten unseres Heeres geopfert.. Da zerreißt Hekabe ihre Kleider, fleht um Gnade die Knie des Odysseus jammernd umschlingend. Doch es naht Polyxene: schön ist sie und rein, sie kennt nicht die Liebe, ein Bild der Anmut in der sie umgebenden Luft. Aus ihrem Mund bricht das Feuer des Zorns. Nicht eine Träne befleckt ihr von Mut erstrahlendes Antlitz. Sie beruhigt das Weinen der Mutter, der Sklavin, fällt Odysseus ins Wort und spricht feierlich: „Mutter, Freund: König war mein Vater einst von allen Phrygern. Jetzt bin ich eine elende Sklavin... die Schwester Hektors, des Löwen Schwester, des Paris, scharfzackiger Blitz des Gewitters! Das Brautbett, das für mich man bereitete, knirschte von Perlen, strich die Hand darüber, denn Gattin des Größten unter den Griechen, jenem toten Achilleus, sollte ich sein, dem ich nun mein junges Blut als Opfer darbringen muß. Mein Glück verwandelte sich in schwarzen Regen: Besiegte Trojanerin, in die Herde derer verbannt, die dienen! Von einem Knecht würde mein bräutliches Lager entweiht, oder Mätze müßte ich sein eines Herrn, der mich kauft. Sein Haus müßte ich putzen und seinen Söhnen dienen, die Speisen bereiten, am Webstuhl stehen den jammervollen Tag, seinen Wünschen mich beugen.. Aber du, großer Odysseus, bringst mir mit deinen harten Worten größeres Glück. Das Schicksal fordert für mich einen meiner Herkunft würdigen Tod.

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Als Ehrenlohn und Opfer für des Achilleus Grab soll sein Sohn ihn rächen, soll mich töten. Nun, unter meiner Heimat Himmel wird sich mir die Hölle auftun, und mein Blut wird dunkle Netze spinnen! Ich bin entschlossen: Freien Auges scheide ich vom Sonnenlicht und gebe frei dem Hades meinen Leib dahin. Zu einem schönen Tod, bevor unwürdig niedre Schmach mich trifft. Und niemand wird mich klagend, angstvoll, schwächlich sehn. Ich werde nicht um Gnade flehn: Möge der Wind die Arme mir entreißen, wenn sie sich jammervoll erheben! Oh Mutter, die mir das Leben gab, ich geh hinab... Oh Mutterbrüste, die so liebreich mich genährt! Leb wohl, oh Mutter, lebe wohl. Weine nicht, sieh doch, neue Sonnen entstehen in meinen Augen; meinen ruhmreichen Vater werde ich wiedersehen und meine Brüder; erzählen werde ich ihnen deine traurige Geschichte. Nun denn, Odysseus, führe mich... Verhülle mir das Haupt, denn vor dem Tode hat der Mutter Klage mir das Herz gebrochen. Meine Not bricht ihr das Herz. Es bleibt nur noch die kurze Strecke von hier bis zur ehernen Spitze eines Messers!" Das Heer Achaias war vereint in voller Zahl, zum Schauspiel des Todes um das Grab geschart... He, ihr Kohlköpfe, hoch mit euch! Ein köstliches Schauspiel beginnt: Öffnet die Mäuler, denn Blut wird fließen! Ich bin Polyxene, seht, ich komme: Ich packe einen Griechen

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und sehe ihm ins Gesicht: Sie nimmt einen Kohlkopf. Sieh mich jetzt genau an; ich bin lebendig; im Mund habe ich eine Zunge; in beiden Augenhöhlen habe ich Augen, sieh, wie sie funkeln... Es ist mir gegeben, mich frei zu bewegen; ich entzünde Gedanken und meine Seele brennt; ich konnte lieben und herrschen! Du hast für meinen Tod gestimmt, dein Wunsch und der der Mehrheit ist die Schneide, die meine Zunge abmäht wie das Gras, sie stumm macht; meine Augen verdunkelt und meine Bewegungen aus dem Zusammenhang löst... Doch ich klage nicht, siehst du, ich zittere nicht. Ich schreite voran, und ich bin schön! Sie läßt den Kohlkopf fallen. Auf den Grabhügel steige ich. Sie geht zur Leiter. Es führt mich der Sohn des tapferen Achilleus, der durch meines Bruders Hand fiel. Auserkorene Jünglinge begleiten mich. Tack tack!... Tack tack!... Tack Tack!... Sie steigt auf die Leiter. Schon sind sie oben bei mir. Seht meinen Henker, er spricht zu den Achaiern und bietet ihnen das Opfer dar. Mit verstellter Stimme „Oh Vater Achilleus, nimm von meiner Hand dies Opfer an. Komm und trinke das dunkle Blut der reinen Jungfrau, welches wir, Archaias Heer und ich, dir spenden! Sieh dafür uns gnädig an. Beschütze unsere Schiffe, schicke uns günstige Winde,

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und laß von Ilion heimkehrend alle wiedersehen ihr Vaterland." Dann faßt er das schreckliche Schwert am Griff! Sie hebt die Gurke. Schon packen mich die auserkornen Jünglinge, mich an der Flucht zu hindern und meinen zuckenden Leib zu halten! Doch zornig befehle ich meinen Wächtern: „Was tut ihr? Keiner lege an mich die Hand, keine einzige Hand soll mich packen, denn ich bin keine Sklavin, auch wenn ich es bin! Bin Königin mehr noch als früher! Standhaft biete ich euch meinen Nacken. Ich verstehe zu sterben!" Auf Geheiß des Königs lassen sie nun von mir ab. Da dröhnt der Beifall. Sie läßt die Gurke fallen. Mein Mut schleicht unter den Griechen wie eine Schlange, die tapferen Männern ins Herz beißt. Lächelt doch, he, edle Kohlköpfe, mit euren Mündern aus grünweißen Blättern; preiset mich mit Geschrei und Geflüster; geht auf zwei Beinen; mit grimmigem Blick kräuselt die riesigen Lippen zum Lobgesang; runzelt noch mehr eure runzligen Brauen; haltet das pflanzliche Haar in den Wind! Seht nur, seht: Schon naht mein Henker, das grimme Schwert gezogen. Wie Feuer trifft ihn mein Blick bis ins männliche Mark, und er weicht zurück. So trete ich vor, und ich sehe ihn zögern, von Mitleid bewegt. Ich nehme von hoher Schulter mein Gewand und reiße es bis zur Hüfte, bis zum Nabel entzwei und zeige Hals und Brüste. „Sieh her. Wünschest du in meine Brust das Schwert

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zu bohren, bohre, wenn in meinen Hals... wohl an: der Nacken ist bereit zu deinem Stoß!" Der Mann tritt vor! Sie nimmt das Messer. Jetzt knie ich nieder! Sie wendet dem Publikum den Rücken Ein Strahl des Mondes führt seine Hand, ein grausamer Blitz, und der starke Arm mich... Sie stößt sich mit einem rauhen Stöhnen in die Brust. Sie fällt tot hinter die Leiter. Man sollte sie so wenig wie möglich sehen können. Wieder normales Licht auf der Bühne, und der rote Mond verschwindet. Das Stubenmädchen springt auf und läuft zum Küchenmädchen, beugt sich über sie, weicht zurück. Sie hebt ihre rechte Hand; sie ist blutig. STUBENMÄDCHEN läuft schreiend ab Hilfe! Hilfe! Sie hat sich umgebracht! Sie hat sich umgebracht!

EPILOG Eigenwillige Dekoration, die Plutos Hölle darstellen soll. Der Ort ist nicht düster, sondern angenehm. Von der Mitte hinten bis vorn rechts zum Publikum teilt schräg ein phantastisches, orangefarbenes Meer die Bühne. An seinem Ufer blaue Felsen. Euripides, auf einem der vorderen Felsen sitzend, trägt auf den Schultern die Füße seiner Frau, die, auf einem höheren Felsen ruhend, den ganzen Akt über schläft. EURIPIDES wehrt sich in der beschriebenen, unbequemen Haltung gegen die Fliegen. Er spricht in einer Mischung aus Engagement und Ironie, aber in beidem sparsam und würdevoll. Ein gewisser gutmütiger Ton. Gepflegte Manieren Weg, weg ihr berühmten Fliegen: quält nicht Euripides... Hört auf, mich zu stechen. Erkennt mich doch; ich bin Euripides von Samos, der in einer großen Zeit blühte, bevor unser größter Feind, der weiße Herr Jesus, herabkam, um unsere Statuen mit Schleiern zu verhüllen, ohne daß wir, die wir schon tot in Plutos Gefilden wohnen, uns hätten erheben können, um sie zu zerreißen. Seit vierundzwanzig Jahrhunderten rede ich mit denselben Worten zu euch, und genauso lange reizen eure Stachel meine Wangen zum Glühen, sobald ich an einen plutonischen Fluß komme. Aber hört

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doch, hört, eine neue Zeit ist angebrochen, und wir haben jetzt das Jahr 1931, eine Zeit, in der kein Wesen, sei es noch so beflügelt, es wagt, schamlos vom Blut eines anderen zu leben, ohne öffentlich beschimpft zu werden. Stecht einen anderen. Nehmt lieber meine Frau, sie hat süßes Blut und eine zarte Haut. Sucht doch Aristophanes; gebt ihm in meinem Namen die Sticheleien zurück, die er mir versetzt hat, und laßt mich in Frieden, ich war einmal sehr berühmt. Meine Feder schrieb Tragödien, die noch heute die Schwachen in der Welt reizen. Und viele waren es. Ich wurde von der Menge bewundert; genoß die Freundschaft der Mächtigen. Mit den Tränen, die meine Tragödien zum Fließen brachten, schwoll die Flut der Meere, und Gott Seufzer nahm durch sie ganz beträchtlich zu. Ich starb, denn ich war ein Mensch und kein Gott, wofür ich sehr dankbar bin, und jetzt lebe ich hier in dieser sanften Hölle, begleitet von meinem zweiten Weib, die den größten Teil des Tages ihre Füße auf meinen Schultern ruhen läßt. Lorbeeren schuldet ihr meine Stirn. Szenen meine Tragödien. Gewicht mein Körper. ... Aber, was tust du da, Frau... Was tust du? Du schnarchst? Das ist neu. Wo hast du etwas so Verächtliches gelernt? Auch hier ändern sich die Zeiten, und neue Tote bringen neue Sitten... Als du und ich noch auf der schönen griechischen Erde lebten und rotes Blut durch meine Adern floß, kamen aus deinem schlafenden Mund Wolken melodischer Seufzer, Rosen und Veilchen zu kleinen flüsternden Küssen gebündelt... Jetzt, da kaltes gelbes Blut meinen Körper mit seinem Fließen beehrt, verlierst du deine edlen weltläufigen Sitten und bläst auf schamlose Weise. Pause Oh, Vater Aischylos, großer Schöpfer des Theaters von wohltönenden Versen, die reine Nahrung für mich; wanderst du etwa in Höhle 10000, daß du heute nacht so spät an diese Ufer kommst, wo ich mit den eigenwilligen Wellen des orangefarbenen Meeres versuche, mich zu unterhalten. Vorsichtig schiebt er die Füße seine Frau zur Seite und steht auf Weib, geliebtes Weib: ich lege deine leichten Füße auf die sanfteste Stelle dieses Felsens. Nie berührte ein zarter Schmetterling sanfter die Rose deiner Füße. Blase nur weiter, vielleicht kräuselt das Meer sich besser im Takt des Windes, der aus deinem geliebten Munde strömt. Er reibt seine Schultern im Gehen Oh, Schmerz! Seit vier Stunden drückt mein süßes Gut mir ihre Füße in den Hals. Gesegnet sei

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Pluto, der seine Gäste auf diese Weise gefälliger macht, denn häufig drückt sie mich zehn. Pause. Diese Langeweile! Diese Langeweile! Weder ein Krieg noch ein Opfer, keine Pest und kein Inzest, keine köstliche Verleumdung, nicht einmal ein Verbrechen, womit ich meine Feder benetzen könnte! Dank Pluto, der trotz seines unheimlichen Aussehens sanft mit den Dichtern umgeht und jeden neuen Mond sich neue Zerstreuungen für uns ausdenkt. ... So hat uns seine Phantasie in diesen Tagen eine großartige Neuheit beschert und diese weitläufige Wohnung der Toten ganz durcheinandergebracht. Nein, die Neuigkeit ist nicht ein intelligentes Publikum für meine Tragödien, oh nein. Ein musikalischer Fisch; ein gigantischer, musikalischer Fisch, der alles weiß, und den wir über die Neuigkeiten des Tages aus aller Welt befragen.... Eines Morgens kam Pluto mit einem Korb voller Flöten zu uns und gab jedem eine. Hier ist meine. Mit dieser Flöte kann ich den musikalischen Fisch herbeirufen, wann und so oft ich es will, er kommt sofort, wo immer er gerade ist, denn wie die Gedanken durchzieht er die Welt in einem Augenblick... Seine Stimme ist schmeichelnd und wie die eines Vergänglichen, und wie alle Lebewesen des Meeres besitzt er ein großes Herz und hat Mitleid mit Euripides. Ich werde ihn rufen. Er bläst die Flöte Piriri... pirirä... pirirü... Da erscheint schon sein silberner Kopf. Vorn rechts erscheint der Kopf des Fisches, sein Körper wird von den Felsen am Ufer verborgen. FISCH Guten Abend, erhabener Euripides. EURIPIDES Hallo, weiser und wohlinformierter musikalischer Fisch. FISCH Ich hörte deine Flötentöne, die im unverwechselbaren Rhythmus deiner Verse klingen, und kam sofort. EURIPIDES WO bist du gewesen? FISCH Heute Abend bin ich weiter als gewöhnlich fort gewesen. Ich schwamm eine Allee des Atlantik entlang und kam bis zum Südpol. Sehr kalt für die Musik und das Wissen, die ich mit mir herumtrage, aber ich hatte das Glück mich mit einer anbetungswürdigen Pinguinenfrau mit keuschen Gebärden und seidigem Cape zu unterhalten, mit der ich mich morgen am selben Felsen verabredet habe. Dann schwamm ich am Land der Onas vorbei, wo ich sehr seltsame Dinge erfuhr. Es sieht so aus, als gelte dort ein Menschenleben sehr wenig.

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EURIPIDES Beeile dich, oh großer Freund! FISCH Nun, du wirst sehen: man erzählte mir unter anderen Dingen von einem großgewachsenen und braungebrannten Fremden, der sich damit vergnügt, statt Lamas Indios zu fangen, ohne daß irgend wer ihn hinter Gitter setzte. Man kennt ihn unter dem Spitznamen „Indiojäger"... Es gibt dort sehr viel Schönes zu sehen. Ich könnte dir unendlich lange von überraschenden Dingen erzählen. EURIPIDES Du Glücklicher hast die Aufgabe, durch die Welt zu ziehen, und nun bist du der Journalist der Steinzeit, denn wo es keine bedruckten Blätter gibt, werden sie von lebendigen Zungen ersetzt. Hab Mitleid mit mir, der diesem Reich der Langeweile und tausendmal aufgewärmten Saucen nicht entkommen kann. Glaube mir, manchmal möchte ich richtig sterben. FISCH Oh, Euripides; wenn du wirklich sterben willst, stürze dich in mein Maul, und ich werde dich so sanft ich nur kann verschlucken. Wenn du in meinem Leib bist, kann niemand dich mehr zum Leben erwecken. EURIPIDES Ich danke dir, großer Fisch, für deinen edlen Rat; die Wesen, die andere verschlingen können, sind immer musikalisch; und wenn du daran zweifeln solltest, sieh dir meine Frau an, die im Schlaf lieblich singt und mit ihrem Atem das Meer einlullt und aufwühlt. FISCH Da wir gerade von Frauen sprechen: ich habe dir heute Abend eine große Neuigkeit von meiner Reise in den Süden mitgebracht, die dich ganz besonders angeht. EURIPIDES Sprich schon... FISCH Kennst du Argentinien? EURIPIDES Oh, welch ein Name, welch wohlklingender Name! Heißt so eine von Horaz oder Virgil besungene Frau? FISCH Ich spreche dir nicht von einer Frau, Euripides, sondern von einer südlichen Demokratie, die ihren Namen vom edlen Silber hat. EURIPIDES Republik hast du gesagt? FISCH Ja, Republik Argentinien... EURIPIDES Warte... warte... ja, ja; ich erinnere mich. Strabos gibt uns jeden Tag Geographieunterricht. Wir erwarten in diesen Tagen grosse Neuigkeiten... Ja, ja; das ist es: Republik Argentinien, ein weit entferntes Land, dessen Füße auf dem Südpol ruhen, während das er-

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habene Haupthaar ihm im Ofen der Äquators leicht brutzelt; ja, siehst du, ich erinnere mich... FISCH Genau das. Ich sehe, du weißt mehr, als ich vermutete. Du wirst dann auch wissen, was Agathaura ist, nämlich die Stadt, deren gewöhnlicher Name Buenos Aires ist. EURIPIDES Oh, ja; eine große Stadt; 2 000 000 Einwohner; ein paar Griechen auf dem Paseo de Julio; sehr gute Mietwagen; schöne Jungfrauen; warte... warte... ihr Gründer... ein Iberer! Lebt in Jehovas Paradies. Da wir die Straßen der verschiedenen Wohnstätten der Toten verbunden haben, pflegt er in einem absolut hispanischen Apparat mit Motor hierherzukommen. FISCH Also du wirst staunen! EURIPIDES Sprich... FISCH Weißt du, was die siebte Plage jener Regionen ist? EURIPIDES Ja; Sappho hat mit mir gesprochen. Dichterinnen! Kommst du dort wieder hin, dann rate ihnen, sich zu verstellen. Sie sind unvermeidlich. Zu meiner Zeit gab es sie auch, und Zeus weiß, daß wir, mit Erlaubnis der Götter, Sappho ziemlich gescholten haben. Aber sie hat nicht auf uns gehört. Diese glühende Verseschmiedin war aus Lesbos, einer Insel, die früher ein Amazonennest gewesen war, und deren kriegerische Frauen, als sie den drohenden Schild ablegten, zu den Büchern griffen... Wie eine summende Biene kam Sappho und lachte die Frauen von Athen aus, bezeichnete sie als unwissend und versklavt. Aber Pallas Athene, wie du wissen wirst, eine sehr maskuline Frau, da sie ohne Mutter dem väterlichen Haupt entsprungen, war ihr feindlich gesinnt, und mit ihrer Hilfe begruben wir die auf edle Weise häßliche Sappho unter attischen Verleumdungen. FISCH Also, ich muß dir sagen, Euripides, daß eine Frau... EURIPIDES Ich sehe schon, eine schreckliche Nachricht... dein Fischgesicht ist ganz blaß geworden... FISCH Eine Frau hat heute Abend in Buenos Aires eine Farce uraufgeführt; und du bist ihr Opfer. Sie hat aus deiner Tragödie HEKABE die großartige Episode vom Tod der Polyxene genommen und sie in ihre eigenen Verse gesetzt. Und zittere Euripides; die Szene spielt sich in einer Küche ab. Eine unwürdige, moderne Sklavin, eine übelriechende Putzfrau der verachtenswerten Demagogen des Zwanzig-

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sten Jahrhunderts hat mit Töpfen, Schüsseln und Besen den Grabhügel des Achill aufgebaut und in ihre Geschichte deine berühmten Worte eingeflochten, und das vor stumm dasitzenden Zuschauern und beim Gestank nach Kohl und Knoblauch! EURIPIDES Oh, musikalischer Fisch, oh mein Freund, oh weises Wasserwesen! ... Ich glühe vor Zorn! Schon kocht mein gefrorenes gelbes Blut! Nenne mir den Namen dieser Frau, denn ich weiß, daß es unter jenen Verseschmiedinnen einige gibt, die trotz allem nicht vollkommen zu verachten sind. Tröste mein verletztes Gehör mit einem meiner Polyxene würdigen Namen. Bedecke den Geruch von Knoblauch und Kohl mit dem Duft eines erhabenen Gedankens, der von einem harmonischen Frauennamen inspiriert wird... Nenne mir den Namen jener Autorin! FISCH Komm näher; Eigennamen bringen Unglück. Euripides nähert sein Ohr dem Fischmaul. Diese Verseschmiedin heißt... sehr leise Alfonsina Storni... EURIPIDES Ah, Oh! Öffne dein Maul, öffne es weiter!... Ich möchte ganz hineinpassen! Leb wohl, Weib, leb wohl Pluto, lebt wohl, Freunde! Ich scheide, ich scheide aus freiem Willen! Er stürzt sich in das Fischmaul hinein.

Griselda Gambaro Das Unding El desatino Ein Stück in zwei Akten, sechs Bildern

Deutsch von Kati Röttger

Das Unding

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Griselda Gambaro, 1928 in Buenos Aires geboren, begann ihre Karriere als Theaterautorin 1963 mit Las paredes, einem auf den ersten Blick existenzialistischen Stück: Die Wände eines Zimmers, in dem ein junger Mann lebt, rücken immer näher zusammen, hinter den Vorhängen verbergen sich keine Fenster, gedämpfte Schreie aus den Nebenräumen: ein Alptraumszenario. Aber Gambaro dachte nicht an eine absolut aussichtslose Situation des Menschen in der Welt, vielmehr an die individuelle, wenngleich verbreitete Passivität gegenüber Manifestationen der Macht. Gambaro mahnte politische Wachsamkeit und Verantwortungsbewußtsein an, lange bevor der politische Terror in Argentinien jedermann in seinen Bann schlug. Die Öffentlichkeit wurde auf Gambaro erst aufmerksam, als El desatino, Das Unding, im April 1965 im INSTITUTO TORCUATO Dl TELLA uraufgeführt wurde. Dieses Unding ist ein mysteriöses Eisenstück, das eines Morgens an Alfonsos Bein festhängt und ihn unfähig macht, sich selbständig zu bewegen. Von seiner unmittelbaren Umgebung erfährt er weder Hilfe noch Mitgefühl. Nur ein Fremder versucht, ihn zu befreien. Alfonso weist ihn scharf zurück. Kati Röttger deutet Das Unding als „parodistisches Bravourstück über den Ödipuskomplex, das keiner aktuellen feministischen Dekonstruktion der Freudschen Psychoanalyse nachsteht." 1 Alle männlichen Figuren des Stückes, das Kind, der junge Mann, Alfonso und Luis, sind Verkörperungen der verschiedenen Altersstufen vom Kind zum Mann. Alfonso fürchtet sich vor dem letzten Schritt, dem Akt, ein Mann zu werden. Er verlangt nach der Mutter Gambaro karikiert sie zur alternden Schlampe - und träumt von Lily, einer Parodie kleinbürgerlicher sexueller Phantasien. Er bewundert Luis, den Mann, der er werden wird, und fürchtet zugleich den miesen macho, der mit seiner Mutter schläft. Endlich vom Unding befreit, stirbt Alfonso, und der junge Mann nimmt seine Stelle ein; die Entwicklung nimmt ihren Lauf. Bereits in diesen ersten Stücken zeigt sich, was für Gambaros umfangreiches Werk charakteristisch ist: es enthüllt den Diskurs der Macht. Mit den Mitteln des grotesco criollo, der Farce und der Parodie analysiert Gambaro auch in ihren folgenden Stücken 2 immer wieder die Mecha1

Kati Röttger: „Nichts ist was es ist, Das Theater von Griselda Gambaro" in Materialien zum Theater in Argentinien, hrgs. von Karl Kohut und Osvaldo Pelletiert. Frankfurt/Main 1998.

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Los siameses, 1967; El campo, 1967; Nada que ver, 1972; Sucede lo que pasa, 1976; Información para extranjeros, 1978; Decir sí, 1981; La malasangre, 1982; Real envidio, 1984, Nosferatu, 1985; Antigona furiosa, 1986, um nur die bekanntesten zu nennen; auf Deutsch sind bisher erschienen: Das Lager, Siamesische Zwillinge, Böses Blut, Ja Sagen!

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nismen der Macht, nicht allein auf politischer Ebene, vielmehr in allen zwischenmenschlichen Bereichen. Dabei bedient sie sich der dem Theater ureigenen Dynamik zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen dem Dargestellten und den Assoziationen, die es hervorruft. Sie benutzt die Macht der Theatralität, um die Theatrali:ät der Macht sichtbar zu machen.3 Die für Gambaros Stücke typische Konstellation Unterdrücker-Unterdrückter-Kollaborateur, die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, sind schon in Las paredes nur oberflächliche Muster. Entscheidend für die Wirkung dieses Theaters ist die Trennung vor. Rede und Gestik.4 Die Rede des Unterdrückers ist freundlich - sein Verhalten widerspricht dem; sein Opfer geht auf die Rede ein - sein Körper zeigt die Auswirkungen der Unterdrückung; das Opfer ist passiv, arbeitet der eigenen Vernichtung in die Hand. Noch deutlicher wird Gambaros Arbeitsweise an den Einaktern El despojamiento und El nombre, die sie für Teatro abierto schrieb. Es sind Monologe einer nicht mehr ganz jungen Frau, die sich für einen Fotojob bewirbt, und einer alten Hausangestellten, die über ihr Leben spricht; beides von der politischen Atmosphäre in Argentinien 1974 vollkommen unabhängige, alltägliche Situationen. Trotzdem tragen sie eine eindringliche politische Botschaft, und das Vehikel ist Theatralität. Beide Frauen sind allein auf der Bühne. In El despojamiento tritt wiederholt ein Mann auf, der der Frau ohne jede Erklärung Kleidungsstücke wegnimmt, bis sie fast nackt und erniedrigt zurückbleibt. In El nombre berichtet die alte Frau, wie ihr in jedem Haus, in dem sie arbeitete, ein anderer Name gegeben wurde, bis sie darüber ihren Verstand verlor. Es sind einfache Frauen, die sich mit Frechheit oder Gleichmut zur Wehr setzen und doch zulassen, daß man sich über ihre persönlichen Rechte hinwegsetzt. Der Unterdrücker' ist unsichtbar, er entsteht in der Phantasie des Zuschauers; Gambaro setzt auf die Fähigkeit des Monologs, eine dramatische Resonanz zu schaffen: die,Vergewaltigung' eines Menschen durch einen anderen wird mit Hilfe unserer Vorstellungskraft sichtbar. Genauso funktioniert auch Gambaros bekanntestes Stück El campo (Das Lager), das immer wieder fälschlich als konkrete Konzentrationslagersituation gedeutet wird. Es ist aber ein Stück, in dem Gambaro die „Ambivalenz der Funktion der Macht in nahezu perfekter theatralischer wie dramaturgischer Umsetzung bis in den Titel zuspitzt." 5 Die Bot3

Dazu Nina Molinaro: „Discipline and Drama: Panoptic Theatre and Griselda Gambaro's El campo", in Latin American Theatre Review 2 9 , 2 (1996), S. 29.

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schaft ist dieselbe w i e schon in Las paredes: Das Gefängnis besteht, so Gambaro, im Bewuißtsein des Zuschauers. Was die Thealterästhetik und ihre politische Vision angeht, war Griselda Gambaro, als sie zu schreiben begann, ihrer Zeit weit voraus und je mehr Zeit viergeht, desto deutlicher zeigt sich dies. Aber anders als zu Lebzeiten Allfonsina Stomis war 1963 das argentinische Publikum (mit dem modernen europäischen und nordamerikanischen Theater bekannt) eher bereit, ihre Arbeit anzuerkennen. Eine adäquate Würdigung hat sie allerdings erst in den 80er Jahren erfahren. 6 Heidrun Adler

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Über keinen argentinischen Theaterautor/in ist inzwischen so viel geschrieben worden wie über Griselda Gambaro; siehe den diese Anthologie begleitenden Kommentarband Geschlechter/Performance, Pathos, Politik. Frankfurt/Main, 1998: Bibliographie.

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Das Unding Personen: Alfonso - die Mutter - Luis - Lily - der junge Mann - das Kind - die Nachbarn. Erster Akt BildI Ein graues Zimmer; ein Bett mit eisernem Rückenteil, ein Nachttisch, ein Kleiderschrank, eine Kommode mit Spiegel und Stuhl. Ein Nachttopf mit Blümchenmuster unter dem Bett. Entlang des Bühnenrandes stehen große Blechkübel, darin völlig verwelkte Blätter. In einigen Kübeln stecken nur Stöcke, Holzstäbe. Auf dem Nachttisch ein Wecker, und, gegen die Wand gelehnt, eine Zeitschrift, auf der die Großaufnahme eines Filmsternchens zu sehen ist. Zwei Türen, eine führt links nach außen, die andere, auf der rechten Seite, führt auf den Flur. Ein Fenster, das zur Straße zeigt. Wenn der Vorhang hochgeht, steht Alfonso in Unterhemd und langer Unterhose dem Publikum gegenüber. Er blickt erstaunt und vertändnislos auf ein unbestimmbares Etwas, das an einem seiner Füße festsitzt, ein großes schwarzes Ding aus Eisen, mit einem Umfang von ca. 40 cm. Nach einer Weile bewegt er den Fuß und versucht, ihn zu befreien, aber er schafft es nicht. Er murmelt etwas Unverständliches. Er versucht vergeblich, das Ding zu bewegen. Es scheint ihn nicht besonders zu beeindrucken. Er gähnt. ALFONSO leise, ergeben Verdammt! ... Er versucht, sich auf das Bett zu setzen. Nach einigen schwankenden Versuchen gelingt es ihm tatsächlich, sein Gleichgewicht zu halten und sich auf den Bettrand zu setzen. Plötzlich klingelt der Wecker. Alfonso fuchtelt mit den Händen herum, um ihn auszustellen, erreicht aber nur, daß er auf den Boden fällt, wo er weiterklingelt. Er versucht, ihn mit seinem freien Fuß zu treten, trifft ihn aber nicht. Er schimpft: Der klingelt, wann er will! Zum Wecker Er klingelt immer weiter! Von mir aus...! Das Klingeln hört auf. Mit einer wütenden Bewegung lehnt er sich wieder gegen das Bett. Man hört eine schlecht gelaunte und hysterische, schimpfende Stimme auf dem Flur näher kommen. MUTTER Stimme Diese Putzerei! Jeden Tag putzen! Kaum hat man laufen gelernt, wird einem ein Staubwedel in die Hand gedrückt! Was für ein Leben! Scheiße! Alfonso versucht, schnell aufzustehen. Die Mutter kommt herein. Unter dem alten Morgenrock, den sie sich übergeworfen hat, guckt der Saum ei-

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nes Nachthemds hervor. Sie sieht zerzaust aus, als sei sie gerade aus dem Bett gekommen. Trotzdem glänzt an ihrem Hals eine große Perlenkette, die in zwei Reihen über den verschlissenen Morgenrock fällt. Sie hat einen Staubwedel unter dem Arm. Wenn sie Alfonso sieht, der sich mit seiner Bettdecke zu bedecken versucht, ruft sie überrascht: Alfonso! Alfonso! Was machst du hier noch? Hast du den Wecker nicht gehört? ALFONSO respektvoll Guten Morgen, Mutter. MUTTER Seit wann begrüßen wir uns? Was hat dich gestochen? Gehst du nicht zur Arbeit? ALFONSO Heute nicht. MUTTER säuerlich Dein Problem. Aber ich muß hier putzen. Setzt den Staubwedel in Bewegung. Siehst du? Ich muß den Staub aufwirbeln. Je mehr ich ihn aufwirbel, um so weniger Zeit hat das Ungeziefer, sich zu vermehren. ALFONSO Heute brauchst du nicht sauber zu machen. MUTTER Gut, gut! Du arbeitest nicht. Du willst nicht, daß ich sauber mache. Wofür lebst du, Alfonso? Warum schmeißt du alles hin? Sie hebt den Wecker vom Boden auf und stellt ihn mit einem Knall auf den Nachttisch ALFONSO Mama, würdest du mir das Werkzeug bringen? MUTTER Wozu, Alfonso? Du immer mit deinen albernen Wünschen. Du weißt genau, daß meine Wirbelsäule nicht mehr mitmacht. Alt sein ist kein Vergnügen. Warum nimmst du nicht ein bißchen Rücksicht? ALFONSO Tut mir leid, Mama. Ich hatte vergessen, daß du dich nicht bücken kannst. MUTTER Ah, erinnerst du dich? Als du unterwegs warst, hat sich die Bandscheibe verschoben. Und jetzt bin ich völlig steif, wegen dir! ALFONSO Mama, ärger dich doch nicht! MUTTER Ich soll mich nicht ärgern! Was denkst du eigentlich? Soll ich lachen? Ist ziemlich unangenehm, sich nicht bücken zu können. Steif, völlig steif! Sie zieht ein großes, gräuliches Taschentuch aus ihrer Tasche, schneuzt sich und fängt dann an, es sorgfältig auszufransen. Alfonso hebt den Kopf und beobachtet sie besorgt. ALFONSO vorsichtig Mama, ist das nicht Lilys Taschentuch? MUTTER ohne ihn anzusehen Von wem? ALFONSO Lily.

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MUTTER hebt den Kopf und sieht ihn an, lacht Sie ist meine Schwiegertochter. Darf ich nicht ihre Taschentücher benutzen? ALFONSO Aber sie hat es noch nicht mal selber benutzt! MUTTER Ah, und ich soll alte Sachen nehmen? Sowas persönliches wie ein Taschentuch, das soll ich benutzen, wenn schon andere Leute ihre Nasen reingesteckt haben? Danke! ALFONSO Nein, Mama. Versteh mich nicht falsch. Du hast andere. Diese gehören Lily. Ich hab sie Lily zum Geburtstag gekauft. MUTTER Wie alt ist sie geworden? ALFONSO Zwanzig. MUTTER An jeder Hand. ALFONSO hartnäckig Nein, sie ist zwanzig geworden. Du hast die Schachtel aufgemacht. Ich hatte sie im Kleiderschrank verwahrt. MUTTER amüsiert Ich hab den Schlüssel gefunden. Taschentücher in allen Ecken. Tausende. Warum kaufst du ihr nicht mal was anderes? ALFONSO Sie hat sie noch nicht benutzt. Du hast kein Recht dazu. MUTTER Warum? Da kannst du sehen, wie wichtig ihr deine Geschenke sind. Sie hat das Taschentuch fast vollständig zerfranst. Wenn ich nicht wäre, hättest du schon das ganze Haus mit dem Krempel vollgestopft. ALFONSO schüchtern Und... und die Kette... Du hast dir auch die Perlenkette umgehängt. MUTTER schüttelt das Taschentuch, aus dem ein mikroskopisch kleines Viereck geworden ist, und steckt es wieder in die Tasche. Während sie auf den Spiegel zugeht Gefällt sie dir? Über dem Morgenrock glänzt sie nicht so schön. Trotz meines Alters ist meine Haut noch straff. Ich sollte mir ein ausgeschnittenes Kleid nähen. Du hast nicht zufällig ein Kleid mit Ausschnitt für Lily gekauft? ALFONSO Nein. MUTTER Kannst du dir die Perlen auf der Haut vorstellen? Sie zieht ihren Halsausschnitt herunter und läßt einen dünnen Hals sehen, welke Haut. Zufrieden. Ja, ja, die Ware ist immer noch frisch. ALFONSO Mama, die Kette gehört dir nicht. Sie gehört Lily. MUTTER Oh, Alfonso, du gehst mir auf die Nerven mit deiner Lily. Trägt sich eine Kette etwa ab? Vor zwei Jahre hast du sie gekauft, zu ihrem zwanzigsten Geburtstag, hast du gesagt, und sie hat sie nicht

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getragen. Ich lüfte sie ein bißchen. Wenn man Perlen liegenläßt, werden sie feucht und grün. Statt Perlen hast du dann Oliven. ALFONSO Aber Mama, was kann ich Lily noch bieten, wenn sie kommt, und du hast schon alles benutzt? Kleider, Schuhe, Schmuck. MUTTER verärgert Warum verplemper ich meine Zeit mit dir? Schuhe, sagst du? Ich hab's langsam satt, dir immer wieder zu sagen, daß sie mir zu klein sind! Verflucht, du ruinierst mir meine Füße! Sieh her! Sie hebt ein völlig abgetretenes Paar Pantoffeln hoch Sowas muß ich tragen, und die Gnädige hat den Kleiderschrank voller Schuhe! Dickschädel! Ich hab dir gesagt, daß sie dieselbe Schuhgröße hat wie ich! ALFONSO eigensinnig Nein, nein. Sie hat nicht deine Schuhgröße, sie hat nicht so große Füße. MUTTER Ach, zum Teufel! Wozu verplemper ich die Zeit mit dir? Bin schon viel zu spät dran mit der Hausarbeit. Du gehst heute nicht zur Arbeit? Ich hab keine Lust, dein Zimmer zu putzen, wenn du drin bist. Die Männer auf die Straße, die Frauen ins Haus. So hab ich's gelernt. ALFONSO versöhnlich Ja, Mama. Sobald ich kann, gehe ich. MUTTER Von mir aus können dich die Flöhe fressen, ich putz hier jedenfalls nicht. ALFONSO Ja, Mama. MUTTER erbittert Kannst du auch was andres sagen? Ich bin doch nicht blöde! Du könntest zur Abwechslung wenigstens mal „aber gerne" sagen. ALFONSO Ich wollte dich nicht beleidigen, Mama. Kurze Pause Würdest du... mir die Zeitschrift geben? MUTTER Welche Zeitschrift? ALFONSO Die auf dem Nachttisch. MUTTER nimmt die Zeitschrift, blättert darin Ah, Schweinereien! Gratuliere! Hab ich dich dafür zur Schule geschickt? Nackte Weiber... taugen nichts. Das kann ich dir versichern, ich als Frau. Männer... Sie sieht sie höchst interessiert an Nackte Männer. Guckt, schüttelt mißbilligend den Kopf hm, hm... faltet die Zeitschrift zusammen und klemmt sie sich unter den Arm. ALFONSO macht Anstalten zu protestieren, läßt es aber bleiben. Mama, kannst du nicht Luis holen? MUTTER Luis? Diese Vogelscheuche? Wozu?

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ALFONSO Damit er mir das Werkzeug bringt. MUTTER Schon wieder das Werkzeug! Ist das ein Grund, mich zu zwingen, mit dem zu reden? Es gibt kaum jemand, den ich so wenig ausstehen kann. ALFONSO Ruf ihn an. MUTTER Nein. Das Telefon ist kaputt. ALFONSO Dann ruf vom Laden aus an. MUTTER Nein, nein, zum Laden geh ich erst, wenn ich was brauche. Und ich brauch nichts, weil ich kein Geld hab. Hast du welches? ALFONSO In meiner Hose. MUTTER durchsucht die Hose und steckt das Geld ein, wird freundlicher Gut, ich hole Luis. Nachdenklich Der Kerl ist unsympathisch, ich sag's nochmal. Achtet sehr auf sein Äußeres, aber bei dem Gesicht, völlig umsonst! Kann ich nicht jemand anders holen, jemand, der besser aussieht? ALFONSO Er ist mein Freund, Mama. Sag ihm, es ist dringend. MUTTER Wozu? Ich sag ihm, er soll sich Zeit lassen. So machen das die feinen Leute. Lassen Sie sich Zeit. So gehört es sich. Meine Familie ist vornehm, weißt du. ALFONSO Sag ihm, es ist dringend. MUTTER verärgert Ich hole ihn, und damit basta. Kaum reicht man dir den kleinen Finger, schon willst du die ganze Hand. Ich muß immer herhalten. Luis ist 'ne Vogelscheuche. Wenn ich nur an ihn denk, krieg ich schlechte Laune. Was willst du? Ein bißchen Schönheit kann keinem schaden. ALFONSO Es ist schon viel besser geworden, Mama. Du wirst sehen. Hol ihn und sag ihm ... MUTTER Es reicht, Alfonso! Deine Eile steck dir sonstwo hin. Diese Aufregung! Sie geht ab. Alfonso kauert sich wieder auf den Bettrand. Geduldig zieht er sich die Bettdecke über die Schultern, und so bedeckt wartet er schläfrig. Auf einmal knarrt das Eisending, und er springt auf. Bild II Am nächsten Tag. Jemand atmet schwer in der Dunkelheit. LUIS Eine Kälte ist das! Macht das Licht an und erscheint in der Tür. Er ist ein junger Mann mit Pferdezähnen, sehr elegant gekleidet, fast wie ein Dandy. Er trägt einen leichten Mantel, Handschuhe und einen Schal. An

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seiner Seite, als großer Gegensatz, ein Junge von etwa zehn fahren, ausgemergelt, mager und verlottert. Alfonso, mit Bartstoppeln und ungepflegt, sitzt unbequem auf der Bettkante. Unter dem Bett zwei Nachttöpfe mit Blümchenmuster. Was machst du? Schläfst wie ein Murmeltier? Immer noch im Bett? Es ist schon fast 10 Uhr. Ich sterbe vor Kälte. ALFONSO Ich auch. Ich bin zu Eis gefroren. LUIS Ach hier, das ist doch gar nichts! Du bist in deinem Zimmer, eingemummelt. Das Problem ist draußen; der Wind, der Regen. ALFONSO Regnet es? LUIS Nein, die Sonne scheint, aber sie wärmt nicht. Mein Magen ist leer. Du hast mich heute nacht so dringend anrufen lassen, daß ich es nicht geschafft habe zu frühstücken. Ich bin wie ein Pfeil angeschossen gekommen. Ich hab meinen kleinen Bruder mitgebracht. ALFONSO zum Kind, gleichgültig Hallo. Das Kind antwortet nicht, ungerührt. LUIS zum Bruder Geh in die Ecke und spiel. Gehorsam geht das Kind in die Ecke und setzt sich. Es sieht die Stöcke und zieht heimlich einen heraus. Zufrieden legt es ihn auf seine gekreuzten Beine und fängt mechanisch an, in einem sehr schnellen Rhythmus mit der Fingerspitze von einem Ende des Stabes zum anderen über die Oberfläche des Holzes zu gleiten, ein offensichtlich sinnloses Spiel. Kann mir deine Mutter kein Frühstück machen? ALFONSO Warum fragst du sie nicht? Ich trau mich nicht. Sie ist heute schlecht gelaunt. LUIS SO ein Theater! Er geht zur Tür und ruft: Señora! Señora! Zu Alfonso Ist die taub? Schreit: Señora! Zu Alfonso Wie heißt sie? ALFONSO unangenehm berührt Wer? Mama? Zögert Sie heißt... Martha... denkt nach Martha Christina. LUIS DU hast mir mal einen anderen Namen gesagt. ALFONSO Sie heißt... Viola. LUIS schüttet sich aus vor Lachen Viola? Frau Viola? Lacht Ich kann nicht! Was für ein Name! Beruhigt sich Ist sie schon wach oder schläft sie noch? ALFONSO Sie ist wach. Ich hab das Wasser im Bad gehört. LUIS ruft: Señora! Señora! Zu Alfonso, amüsiert Da kommt sie! Dieses Gesicht, oh Gott! Wo kommt die her? Schläft sie im Bett oder unter 'ner Brücke? Die ist ja völlig zerknittert! Bringt sich selbst in Ordnung.

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MUTTER sieht genau so aus wie am Tag zuvor, mürrisch Señora? Welche Señora? Ich oder die andere? LUIS tut erstaunt Gibt es eine andere? MUTTER DES wissen Sie ganz genau. Es gibt zwei Frauen im Haus, meine Schwiegertochter und mich. LUIS lächelt Ihre Schwiegertochter? MUTTER Lily. LUIS amüsiert Ach Lily, die hab ich ganz vergessen! MUTTER Lachen Sie nicht über mich. Sagen Sie mir, bevor wir weiterreden: Ich oder die andere? LUIS lacht Die andere ist ein Trick! ALFONSO verängstigt Luis, was sagst du da? LUIS galant Für mich existieren nur Sie! MUTTER geschmeichelt Gut, gut, ich weiß schon, was Sie wollen. Ab. LUIS kehrt ins Zimmer zurück, reibt sich die Hände Hast du gesehen, wie leicht das geht? ALFONSO mit Bewunderung Du erreichst alles. LUIS Und es ist leicht, sag ich dir, mit ein bißchen gutem Willen. Wenn man früh aufsteht, um ins Büro zu gehen, macht das Eindruck. ALFONSO Aber du gehst doch gar nicht. LUIS gereizt Ich tu so, und das reicht. Das hat deine Mutter beeindruckt, meine saubere und anständige Ausstrahlung. Du dagegen stinkst. ALFONSO hält sich den Mund zu Verzeihung. Ich hab mir die Zähne nicht geputzt. LUIS ES ist was anderes. Er deutet mit dem Fuß auf die Nachttöpfe. ALFONSO Ach, das! Meine Mutter wollte sie nicht ausleeren. Gekränkt Sie will, daß Lily das macht. Ist das etwa eine Arbeit für Lily? LUIS spottend Natürlich ist das eine Arbeit für sie! Du hast doch nicht nur zum Vergnügen geheiratet, he, Alfonso? ALFONSO verärgert Nicht dafür! Du hast es auch auf Lily abgesehen! Was hat sie euch getan? LUIS idem Nichts, ärgere dich nicht, Alfonso. Kurze Pause, er wird allmählich gereizt Eigentlich sollte ich mich ärgern. Was wolltest du so dringend? Deine Mutter verfügt einfach über meine Zeit. „Kommen Sie morgen, kommen Sie morgen", was glaubt die? Deine Familie ist nicht besonders freundlich, ist dir das klar? ALFONSO Es ist meine Schuld. Mama wollte dich nicht belästigen.

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LUIS Diese Hexe! ALFONSO Aber nein! Es ist meine Schuld. Ich brauch dich. Deshalb habe ich Mama gebeten, dich zu holen. Warst du gerade beschäftigt? LUIS Ja, ja. Achtung! Was hast du dir jetzt wieder in den Kopf gesetzt? Ich zittere bereits. ALFONSO Das Werkzeug. Ich brauch das Werkzeug, Luis. Meine Mutter kann es mir nicht holen. Es ist zu schwer. LUIS unangenehm überrascht Du willst das Werkzeug? Jetzt? ALFONSO Ja. LUIS idem Jetzt? Und wo ist es? ALFONSO Im Schuppen. LUIS Du willst, daß ich jetzt in den Schuppen geh und mich schmutzig mache? ALFONSO Du machst dich nicht schmutzig. Da ist nur ein bißchen Staub. MUTTER kommt mit einem Stück Brot und einer Tasse Milchkaffee herein Hören Sie nicht auf ihn. Seit gestern jammert er nach dem Werkzeug. Lästig, der Kerl! Im Schuppen ist Staub, Öl, Mäusedreck. Darum wollte ich es nicht holen. Das ist eine Zumutung. ALFONSO Mama, man braucht sich nicht schmutzig zu machen. MUTTER Keine Widerworte! Man macht sich schmutzig. Siehst du nicht, wie er angezogen ist? Nächstes Mal denkst du nach, bevor du was sagst. LUIS zu sich Nachdenken? MUTTER K o m m e n Sie mit mir, Luis. Ich hab den Milchkaffee im Eßzimmer serviert. Trinken Sie ihn mit mir zusammen. Ich bin immer so alleine. Wofür setzt man Kinder in die Welt? Damit sie ihr eigenes Leben führen und einen alleine lassen. Sie setzt die Tasse auf dem Nachttisch ab. ALFONSO Mama, sag das nicht. Du bist doch diejenige, die nicht will, daß ich bei dir bin. Du jagst mich immer auf die Straße. MUTTER W a n n ? N u r aus Angst, wegen diesem Ödipuskomplex. Darum. Aber du spielst die Mimose. Immer wieder das mit der Straße! Und dann... diese Lily. Weinerlich Immer nur sie! Du gehst zu weit, Alfonso. W a s ist mit mir? Bin ich nur ein Putzlappen? ALFONSO Quäl dich nicht, Mama, Mamilein.

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MUTTER gent zu Alfonso, streichelt ihn Jetzt tut es dir leid, ich weiß. Nimm. Sie gibt ihm das Brot in die Hand, küßt ihn auf die Stirn Ich liebe dich zu sehr, mein Sohn. Kommen Sie, Luis. Der Kaffee wird kalt. In der Tür zu Alfonso Mein Söhnchen, wir sind bald zurück. Beide ab. ALFONSO fingt an, das Brot zu essen; er will an die Tasse herankommen, aber sie ist außer Reichweite. Das Kind hört auf zu spielen und sieht ihn an. Alfonso cnackt mit seinen Fingern. Er macht unglaublich viele Geräusche, immer lauter. Dann ruht er sich aus. Er will wieder an die Tasse heran. Er schafft es nicht. Zum Kind, trocken Gib mir die Tasse. Das Kind rührt sich nicht; ungeduldig Hörst du nicht? Gib mir die Tasse! Das Kind steht auj. Langsam, Alfonso meidend, nähert es sich dem Nachttisch. Es sieht das Eisending am Fuß. Es nimmt die Tasse, entfernt sich einige Schritte und trinkt den Inhalt. Dann wischt es sich den Mund ab und stellt die Tasse wieder auf den Nachttisch. Geht in seine Ecke zurück, nimmt das Holz und vertieft sich wieder in sein Spiel. Bastard! Kaut das Brot. Sieht, daß das Kind mit dem Holzstab spielt. Befiehlt: Laß das Holz! Das Kind sieht ihn an und spielt dann weiter. Pause, dann lauter Laß das Holz! Noch lauter Laß das Holz! Ohnmächtig sucht er in seiner Umgebung etwas zum Werfen. Er findet nichts und wirft dem Kind das Stück Brot an den Kopj. Das Kind weicht schnell aus, reckt sich über den Boden, nimmt das Brot und ißt es, während es Alfonso anstarrt. Alfonso schüttelt mehrere Male der. Kopf. Statt Wut stellt sich Mißmut ein. Er murmelt, als mache er eine schmerzliche Feststellung: Kindheit! ... Unschuld! Wütend Alles Märchen! LUIS kommt herein, sehr zufrieden Wie deine Mutter mich vollstopft! Frau Viola! Er lacht... Was hast du gemurmelt? ALFONSO Dein Bruder! Meine Pflanzen! Wie sollen sie wachsen, wenn er sie mit der Wurzel rausreißt? LUIS gleichgültig Immer dasselbe! Er wendet sich zum Jungen, entreißt ihm den Stock, wirft ihn achtlos auf den Boden und gibt dem Jungen zwei Ohrfeigen Ruhe, Bengel! ALFONSO Pflanz sie ein! LUIS Oh nein! Bitte keine Ansprüche! Er holt eine Zigarette hervor, zündet sie an. Er nimmt einen Zug, nähert sich Alfonso, der angstvoll lächelt, und hält die Glut der Zigarette vor dessen Augen. ALFONSO erschrocken lächelnd Was hast du vor? Luis kommt mit der Glut immer näher an die Augen.

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Alfonso wirft sich keuchend zurück. Nein, Luis! Bitte! LUIS lachend Ich verbrenne dich nicht. Nur bis an die Wimpern. Sei ein Mann, Alfonso. ALFONSO voller Angst, versucht zu lachen Ja, ja, ich bin ein Mann, ich weiß, daß du mich nicht verbrennen wirst, aber... stößt einen Schrei aus. LUIS angenehm überrascht Hab ich dich verbrannt? ALFONSO hält die Hand über das Auge Ja, du hast mich verbrannt. Warum hast du diese Einfälle? LUIS Nicht übertreiben. So schlimm war es nicht. Du hast selber Schuld. Wenn du dich nicht bewegt hättest... Wann kann ich die Messerprobe machen? ALFONSO lächelt erschrocken Nein, laß die Proben! Nein, nein! LUIS Spielen wir was anderes, ich will dich unterhalten. Er nimmt seinen Schal und knotet ihn um Alfonsos Hals Ich wärme dich, Alfonso, ich wärme dich, Alfonso. ALFONSO angstvoll scherzend Willst du mich erwürgen? He, willst du mich erwürgen? LUIS Dich erwürgen? Lacht Eine ausgezeichnete Idee! Ich hab noch nie einen Erdrosselten gesehen. Sie laufen schwarz an, stecken die Zunge raus. Trocken Steck die Zunge raus! Raus! Raus! ALFONSO steckt die Zunge raus, im Spiel, läßt sie danach aber draußen, weil er nicht atmen kann. Er möchte scherzen Ist schon gut, Luis, ist schon gut. Gestikuliert Ganz ruhig! LUIS zieht kräftig an beiden Enden des Schals, stützt sich dabei mit dem Fuß am Bett ab, als sei es ein Brett. Lacht, spottet: Ah, alter Schurke. Wehre dich jetzt! Na los, wehre dich! ALFONSO schnappt nach Luft, die Arme über Kreuz Luis, bitte, bitte... stammelt etwas Unverständliches, während Luis weiter zuzieht. MUTTER kommt schlecht gelaunt herein Alfonso, was machst du da? Seid ihr jetzt total verrückt geworden? Und Sie, Luis? Warum beherrschen Sie sich nicht? Warum lassen Sie die Hände nicht da, wo sie hingehören? Luis läßt wütend die Enden des Schals los. Alfonso schnappt nach Luft. Schämt ihr euch nicht? Hier kann man nicht mal in Ruhe putzen! Immer muß man euch im Auge behalten, Dummköpfe! Was macht die Pflanze auf dem Fußboden? Warum paßt ihr nicht auf das Kind

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auf, statt Dummheiten zu machen? Ich mag Kinder, aber ich kann sie nicht ertragen! Sie geht zum Kind Geh nicht an meine Pflanzen, oder du lernst mich kennen! Sie nimmt den Stock und steckt ihn in den Kübel. Dann wirft sie einen wütenden Blick auf die drei und geht ab. LUIS sehr beleidigt Hast du eine Laune, mein Lieber! Gratuliere! Es macht mehr Spaß, einer Leiche Gesellschaft zu leisten. ALFONSO Luis, ich wollte dich nicht beleidigen. LUIS verstockt Ja, ja. ALFONSO Verzeih mir. Ich hatte solche Angst zu ersticken. Das ist dumm, ich weiß, aber ich kann nicht anders. LUIS schreit: Dann spiel nicht! Er tritt ans Fenster und trommelt mit den Fingern gegen die Scheibe. Pause. Spricht demonstrativ mit sich selbst Sie reparieren die Straße. Eine Menge Typen, kleine, große, ein Besessener. Bestimmt haben die mehr Spaß als wir hier im Haus. Ja, bestimmt mehr Spaß! Schweigen. ALFONSO scheu Luis...! Schweigen Luis...! Ich kenne einen neuen Witz. Soll ich ihn dir erzählen? Luis schweigt. Weißt du, warum die Hunde sich gegenseitig am Hintern schnuppern, wenn sie sich treffen? Luis trommelt gleichgültig gegen die Fensterscheibe. Das Kind hebt den Kopf und hört gespannt zu. Auf einem Fest hängten alle Hunde ihre Hinterteile in der Garderobe auf, weil die Schwänze beim Tanzen störten. Auf einmal gab jemand Alarm, und alle rannten nach draußen. Jeder nahm das Hinterteil, das ihm am nächsten hing. Und seitdem... seitdem... beschnuppern sie sich gegenseitig, um ihren eigenen Hintern wiederzufinden. Luis schweigt. Plötzlich lacht das Kind, ein köstliches, unschuldiges, amüsiertes Lachen, das nicht mehr aufhört. Luis und Alfonso sehen es barsch an, das Kind hört auf zu lachen. LUIS wendet sich zu Alfonso, sieht ihn an, etwas milder Du... wenn du Witze erzählst... bist du entsetzlich. ALFONSO gehorsam Ja, ja. LUIS kommt näher, verständnisvoll Was ist los, Alfonso? Warum die schlechte Laune? ALFONSO gerührt, zeigt das Ding am Fuß Sieh dir das an. LUIS Wo hast du dir das geholt? Warum machst du solche Dummheiten? Hast du keine Augen im Kopf?

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ALFONSO sich entschuldigend Es... es ist einfach passiert. LUIS beugt sich über das Eisending Aber wie ist das passiert? ALFONSO Gestern Nacht. Ich lief auf der Straße. Ich gucke immer in die Mülltonnen, ob ich was Schönes finde. Oder ich kippe die Mülltonne aus und bring sie dann meiner Mama als Geschenk. Er zeigt auf die Kübel Sie tut Erde rein und pflanzt was. Und gestern Nacht... hab ich dies da neben einer Mülltonne gefunden. Faß m a l an. Es ist aus Eisen. Ich wollte es als Alteisen verkaufen oder M a m a schenken, ich wußte noch nicht, was. Und heute Morgen... au! Luis dreht an dem Fuß.... wollte ich... au! Du tust mir weh! LUIS dreht sehr beschäftigt an dem Fuß Halt den Mund. Erzähl weiter. ALFONSO Ich... steh auf... und leg den Fuß... au! Ich weiß auch nicht, wie schwitzt wie man das abmachen kann... Ich kann den Apparat... noch nicht mal... vom Boden... hochkriegen. LUIS weiterdrehend Nein, nicht bewegen. ALFONSO totenblaß Und... au!... und dann... LUIS Sei still, tu mir den Gefallen, ja? So ein Idiot! Laß mich nachdenken. Er entfernt sich und beobachtet hochmütig das Eisending. Alfonso bückt sich und versucht, sich am Fuß festzuhalten, entdeckt Blut und, ohne daß er sich traut hinzusehen, ergreift er blindlings die Bettdecke, bedeckt den Fuß und hält die Decke mit beiden Händen fest. Luis wird mißtrauisch. Du kannst nicht laufen? ALFONSO Nein. LUIS idem Kein bißchen? ALFONSO Nein. LUIS Und nicht aus Faulheit? Aus Faulheit bist du zu allem fähig. ALFONSO Ich schwöre, nein. LUIS Ach, Alfonso, wenn ich dir nur glauben könnte! Aber wie? Du hast mich schon so oft hereingelegt. Er bückt sich und hebt die Bettdecke hoch, angeekelt. Nimm das weg. Er versucht vergeblich, das Ding zu bewegen, reißt am Fuß herum, Alfonso hält sich mit der Hand den Mund zu, damit man seine Schreie nicht hört. Luis arbeitet verbissen. Er beugt sich vor, ganz offensichtlich voller Ekel Unmöglich, diesen Appaparat in B e w e g u n g zu setzen. W a s hast du gemacht? Hast du ihn mit Zement zugekleistert? ALFONSO Nein, nein. Gestern nacht habe ich ihn auf der Schulter getragen.

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LUIS Und jetzt? Warum kriegst du ihn jetzt nicht hoch? ALFONSO Ich kann nicht. LUIS Und du willst, daß ich es mache? Sehr einfach! Pause Dafür brauchst du einen Fachmann. ALFONSO Ich möchte niemanden holen. Wie soll ich so einen dummen Unfall erklären? LUIS bitter Und wieso holst du mich? ALFONSO Du bist mein Freund. LUIS Das reicht nicht. Du glaubst doch nicht, daß es reicht, ein Freund zu sein. Das nützt gar nichts. Du hättest mir diese Unannehmlichkeit lieber ersparen sollen. Was stellst du dir vor? Was soll ich jetzt tun? ALFONSO sich entschuldigend Darüber hab ich nicht nachgedacht. LUIS von oben herab Das sieht dir ähnlich, nicht darüber nachzudenken, welche Folgen deine Taten haben können. Schweigen, spöttisch Und wenn du Lily holen würdest? ALFONSO irritiert Laß sie in Ruhe! Sie schläft. LUIS Puh, schläft die immer? Siehst du sie denn, wenn sie wach ist? ALFONSO Natürlich sehe ich sie! LUIS lachend Gut, gut. Beruhige dich. Wenn man deiner Lily was will... hört auf zu lachen. ALFONSO Warum lachst du? Immer lachst du, wenn du über Lily sprichst. Machst du dich über sie lustig? LUIS leicht ironisch Wer macht sich lustig? Deine Mutter, die Nachbarn, ich nicht. ALFONSO hoffnungsvoll Willst du... willst du, daß ich dir erzähle, wie wir uns kennengelernt haben? Ich erzähl es in zwei Sätzen. Es war auf einem Tanzfest, ich war allein, traurig, gelangweilt und... LUIS unterbricht ihn, simuliert Grauen Nein, Alfonso, nein. Nicht noch mal! ALFONSO enttäuscht Willst du es nicht hören? Mit neuer Hoffnung Meine Höchzeit? Ich erzähle... ich erzähl dir die Hochzeitsnacht... LUIS Nein, nein. Schon wieder? Du bringst so wenig Abwechslung in die Geschichte, Alfonso. Außerdem ist ja doch nichts passiert. ALFONSO Es ist doch nichts passiert? LUIS Ja. So hast du es mir erzählt: eine vollkommen harmlose Nacht. Danach hast du es bereut und wolltest es zurechtbiegen. Aber die erste Version ist die, die zählt. Schäm dich nicht. Das sind die Ner-

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ven. Er beugt sich über das Eisending, zeigt sehr überzeugt Hier ist eine Schraube. Siehst du? ALFONSO beugt sich vor Nein, ich sehe nichts. LUIS idem Wenn ich's dir sage! Wenn man diese Schraube herausdreht, fällt das ganze Ding auseinander. Nichts als Hülle. Morgen komm ich im Arbeitsanzug, in meinem Overall. ALFONSO Ich habe einen hier, im Kleiderschrank. LUIS Bist du nicht ganz dicht? Ich verkleide mich doch nicht mit fremden Sachen. Außerdem, tut mir leid, ist das nicht besonders hygienisch. MUTTER erscheint mit einer Perücke mit Modefrisur, schick und jugendlich, die einen schrecklichen Kontrast zu ihrem Gesicht bildet, das jetzt sehr stark geschminkt ist. Sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen, auf denen sie kaum laufen kann und ein Kleid, weiß und jugendlich, das ihr zu eng ist. Säuerlich Immer noch hier? LUIS freundlich Störe ich? MUTTER Ich sag das nicht wegen Ihnen. Alfonsos Freunde sind auch meine Freunde. LUIS Oh, Señora, es ist ein Vergnügen, Ihnen zu lauschen. Ich bin ein Freund von Alfonso, nur um Ihr Freund sein zu können. MUTTER lacht geschmeichelt Ah, wie Sie reden! Die Mädchen müssen Ihnen in Scharen nachlaufen. LUIS Das glaube ich nicht. MUTTER mitleidig Mit diesem Gesicht...! LUIS Mich interessieren nur Frauen, die in der Blüte ihres Lebens stehen. MUTTER kokett Welche? LUIS nähert sich ihr verführerisch Können Sie sich das nicht denken? MUTTER idem Ach, ich weiß nicht. Ich hab so wenig Erfahrung! Nimmt die Tasse, die auf dem Nachttisch steht. LUIS Gnädigste, bitte bemühen Sie sich nicht. Wozu bin ich da? Versucht, ihr die Tasse aus der Hand zu nehmen. MUTTER läßt die Tasse nicht los Nein, bitte, Luis! Sie könnten sich schmutzig machen. LUIS großmütig Was macht das schon! Er bemächtigt sich der Tasse. Dann wasche ich mich wieder.

Das Unding

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MUTTER lacht Wie freundlich Sie sind. Solche Männer sind selten geworden. Nicht einmal Alfonso ist so. LUIS lachend Ich stamme aus der „Belle époque". Sie wollen abgehen, stoßen aber mit jemandem zusammen. Beim Rückprall fallen sie über die Bühne, die Tasse fliegt in die Luft, die Mutter verliert die Schuhe. MUTTER Mist! Meine Schuhe. Sie sucht sie. LUIS Wer sind Sie? Was wollen Sie? Können Sie nicht sehen, wo Sie hinlaufen? Der junge Mann kommt herein. Es ist ein riesiger, muskulöser junger Kerl in blauem Arbeitsanzug und mit einem kleinen Helm auf dem Kopf. Er trägt eine Flasche in der Hand. JUNGER MANN Entschuldigen Sie. Ich wollte nur ein bißchen Wasser... MUTTER mürrisch Wofür? JUNGER MANN Für mich. Ich komme um vor Durst. LUIS Hören Sie, wie er redet? Es gibt Kerle, die reden wie die Affen. JUNGER MANN Entschuldigung. MUTTER streckt die Hand nach der Flasche aus, grob Gib her. LUIS Nein, bemühen Sie sich nicht. Zum Bruder Beweg dich! Hol Wasser! Er gibt ihm die Flasche, das Kind nimmt sie und geht ab. JUNGER MANN sieht freundschaftlich zu Alfonso. Dann sieht er das Eisending Was ist passiert? ALFONSO peinlich berührt Ein... ein Unfall. MUTTER sehr würdevoll zu Luis Man muß sich jede Einmischung gefallen lassen! LUIS Haben Sie Geduld, Gnädigste. MUTTER Wo kommt der her? LUIS Sie reparieren draußen die Straße. Herablassend Sie sind von der Straße, nicht? JUNGER MANN Ja. Zu Alfonso, freundschaftlich Warum legen Sie sich nicht hin? ALFONSO trocken Ich kann nicht. JUNGER MANN Sie können nicht? Warum? Mit erstaunlicher Leichtigkeit hebt er das Eisending hoch, und Alfonso fällt endlich mit einem Schrei auf das Bett. LUIS mit wütendem Erstaunen Wie haben Sie das bewegt?

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JUNGER MANN War ganz einfach. Es wiegt nichts. Zu Alfonso, während er ihm das Gesicht mit einem schmutzigen Taschentuch abwischt, liebevoll Ist es so besser? ALFONSO mit zusammengebissenen Zähnen Ja, es ist besser... Er drückt ihm fest die Hand und das Taschentuch Lassen Sie mich in Ruhe! Das Kind kommt mit dem Wasser, gibt dem jungen Mann die Flasche. JUNGER MANN Danke. Sucht in seinen Taschen und holt einen Bonbon hervor. Zum Kind Mach den Mund auf. Das Kind schüttelt den Kopf. Na komm, Mund auf, Augen zu. Mißtrauisch gehorcht das Kind. Der junge Mann steckt ihm den Bonbon in den Mund. Lacht gutmütig Es ist Papier drum! Das Kind holt mißtrauisch ganz schnell den Bonbon aus dem Mund und untersucht ihn. Als es sieht, daß es nicht betrogen wurde, lächelt es den jungen Mann genauso an, wie es lachte, klar und unschuldig. Es fängt an, den Bonbon auszuwickeln. JUNGER MANN Vielen Dank für alles! Er geht ab. LUIS geht zum Bruder, reißt ihm den Bonbon aus der Hand, wickelt ihn wieder ins Papier und steckt ihn in die Hosentasche. Ich habe dir tausendmal gesagt, daß du von Fremden nichts annehmen sollst! Er zeigt auf die Ecke Geh in die Ecke und spiel! ALFONSO aufrichtig Eine Erleichterung! LUIS wie angestochen Was? ALFONSO Mich auszustrecken...! LUIS idem Ja, das habe ich mir schon gedacht, daß das der Grund für die Erleichterung ist. Sehr gut! Jetzt habe ich den ganzen Morgen hier bei dir vertan, und du läßt zu, daß sich jeder x-beliebige einmischt. Bin ich denn ein Idiot, der nicht weiß, was er tut? ALFONSO sich entschuldigend Nein Luis, er ist von allein gekommen. LUIS Ich weiß. Aber nächstes Mal sagst du mir vorher Bescheid. Wenn jeder das erledigen kann, brauchst du mich ja nicht zu holen. MUTTER Ärgern Sie sich nicht, Luis. Es lohnt sich nicht. Alfonso ist und bleibt rücksichtslos. Zu mir, seiner Mutter, ist er auch nicht anders! LUIS Man denkt, man tut ihm einen Gefallen, und dann... ALFONSO richtet sich auf Luis, ich danke dir, daß du gekommen bist. LUIS Ja, ja, bedanken. Aber passiert ist passiert.

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ALFONSO versucht vergeblich, das Eisending zu bewegen Ich kann es nicht bewegen. Wenn das nicht geht, das schwöre ich dir, werfe ich mich wieder auf den Fußboden. LUIS Halt den Mund! Was hab ich davon? Oder glaubst du, du gibst mir meine Würde zurück, wenn du dich auf den Boden schmeißt? Zur Mutter Señora, ich bedaure, daß Sie diese Szene mit ansehen müssen, aber Sie müssen meine Enttäuschung verstehen. Freundschaft, wozu ist sie gut? Ich wollte morgen in einem weißen Overall kommen, meine eigene Arbeit zurückstellen, hierbleiben, diese ekelhaften Füße riechen, bis ich sie befreit habe, aber ich muß gestehen, jetzt frag ich mich, ob es sich lohnt, dieses Opfer zu bringen. Wenn jeder hergelaufene Fremde reinkommen und tun kann, was er will... ALFONSO hoffungsvoll Aber du kannst doch kommen und hierbleiben, Luis. Da waren doch Schrauben. Er hat die Schrauben nicht angerührt, diese Bestie. MUTTER Luis, mein Lieber, ärgern Sie sich nicht. Ich, als Mutter, bin Ihnen sehr dankbar. Wir brauchen Sie. Kommen Sie morgen wieder. Schweigen. LUIS schließlich sehr würdevoll Ich werde kommen. Für Sie, Señora. MUTTER Was für ein gutes Herz Sie haben, Luis! Zur Seite Wenn nur dieses Gesicht nicht wäre! Kommen Sie. Sie sind doch ein Feinschmecker. Ich hab ein paar Törtchen gebacken. Kommen Sie mit? LUIS galant Sehr erfreut! Mit Ihnen gehe ich bis ans Ende der Welt. Geschmeicheltes Lachen der Mutter. Was haben Sie gebacken? Beide ab. Man hört ihre Stimmen im Flur, dann einen Aufschrei der Mutter, als wäre sie gekniffen worden. MUTTER Stimme, fröhlich Oh, Luis, bitte! Nicht so doli! Ein geiles und seniles Lachen. Schweigen. ALFONSO sieht zum Kind, mürrisch Was machst du? Kurze Pause, dann freundlicher Würdest du... ausleeren... ausleeren...? Zeigt auf die Nachttöpfe unter seinem Bett. Schweigen. Das Kind rührt sich nicht. Nichtsnutz! Wozu hat dich dein Bruder mitgebracht? Sprich! Bist du blöd? Schweigen des Kindes. In anderem Ton Möchtest du noch 'nen Bonbon? Willst du? KIND leise, hoffnungsvoll Haben Sie einen? ALFONSO lacht amüsiert Nein, ich hab keinen. Reingefallen, he? Er faßt sich an den Kopf Dir fehlt hier was, stimmts? So ein Pech, einen Idio-

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ten bei sich zu haben...! Warum bist du nicht Lily? Pause, leise Lily, wie ich dich vermisse, Lily... Und wenn du mich in diesem Zustand sehen würdest... Ich würde mich zurecht machen und dann gingen wir spazieren, in den Zoo. Gehst du gern in den Zoo, Lily? Nein, ich glaube nicht. Denkt nach Oder doch, dir gefällt alles. Während er spricht, verdunkelt sich die Bühne, bis Lily auftritt, die ein anderes Licht mitbringt, wärmer und lebendiger. Du tanzt gern. Demütig Ich kann nicht tanzen... ungeschickt... ich war schon immer ungeschickt... Lily tritt auf, geht einige Schritte und bleibt dann reglos stehen. Eine Super-Blondine mit gefärbtem, lockigem Haar, großem Mund und allen Attributen von Weiblichkeit in doppeltem Ausmaß: Brüste, Hüften, Beine. Ihre Kleidung deutet billigen Geschmack an: ein sehr enges Kleid, knallrot, mit einem Schlitz an der Seite, der ihre Beine sehen läßt, Blumen an der Taille und ein Pelz über den Schultern. Eine Art Anita Ekberg aus „La dolce vita", aber durch Alfonsos Blick verzerrt. Sie lächelt halb spöttisch, halb rätselhaft, gleichzeitig auch voller konventioneller Koketterie. Sie hat eine Zigarette in der Hand und raucht sinnlich, indem sie die Rauchwolken direkt zu Alfonso bläst. Er findet sie so bezaubernd, daß er seinen eigenen Augen kaum traut. Nach kurzem Schweigen sagt er, ohne seinen strahlenden Blick von Lily abzuwenden, zum Kind: Geh spielen... irgendwohin... draußen, weit weg... Verschwinde, bitte, hau ab... Laß uns... Das Kind steht langsam auf, bleibt stehen, reglos, ausdruckslos. Lily, Lily, komm in meine Arme, Lily! Er breitet die Arme aus und fällt mit einem lauten Rums aus dem Bett.

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Zweiter Akt Bild III Die Bühne ist leer, bis auf einen verkümmerten Baum auf der linken Seite und einige sehr häßliche künstliche Blumen, die steil aufgerichtet direkt in den Bühnenboden gesteckt sind. Alfonso sitzt unter dem Baum, noch ausgemergelter, sein Bart ist gewachsen. Er trägt eine Jacke über seinem Unterhemd, hat aber immer noch die lange Unterhose an, das Eisending am Fuß, das in einige Lumpen gehüllt ist. Er ist verfroren. Ab und zu schnieft er. Von der rechten Seite nähern sich Luis und die Mutter, Hand in Hand. Luis trägt einen fleckenlosen weißen Overall, Hemd und Krawatte mit Krawattennadel. Die Mutter trägt eine Perücke, ein helles, jugendliches Kleid, das nicht zu ihr paßt, und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie sind zufrieden und trällern. LUIS Was machst du hier, so allein? ALFONSO Ich amüsiere mich. L U I S D U könntest etwas unterhaltsamer sein. Warum hast du deine Gitarre nicht mitgebracht? M U T T E R Gefällt dir der Ausflug, mein Sohn? A L F O N S O Ja, Mama. Wo wart ihr? MUTTER zeigt in die Ferne Da hinten. Da ist nichts. Überall Steine und Schotter. Zu Luis Was ist das da, Luis? LUIS Hütten. MUTTER Unbewohnt? LUIS wichtigtuerisch Je nach dem holt eine Schachtel Zigaretten hervor. ALFONSO gierig Gibst du mir eine? LUIS Nein, kauf dir selber welche! Bietet der Mutter eine an Rauchen Sie, Señora? MUTTER Nein, Luis, ich rauche nicht. In meinem Alter! LUIS Zum Lernen ist es nie zu spät. Probieren Sie. MUTTER lachend Nein, Luis. Was würde Alfonso sagen? Er ist so streng. Hast du nichts dagegen, Alfonso? ALFONSO Nein, Mama. Probier nur. Wenn du sie nicht magst, gibst du sie mir. Luis zündet eine Zigarette an und steckt sie der Mutter in den Mund. MUTTER Wie macht man das? LUIS Einatmen. MUTTER So einfach? Mehr nicht?

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LUIS Mehr nicht. Haben Sie gesehen, wie leicht es ist? Alle Mädchen rauchen. MUTTER atmet ein, als wollte sie einen Ochsen verschlingen, verschluckt sich, hustet und spuckt Ihh, wie ekelig. Mir dreht sich alles. Ich w e r d e ohnmächtig. Sie stützt sich auf Luis. LUIS hält sie unter den Achseln und berührt dabei ihre Brüste Keine Angst, ich halte Sie fest. MUTTER Und du, Alfonso, was machst du? Läßt du mich im Stich? Was für ein Sohn! Alfonso versucht vergeblich, an die Zigarette zu kommen, die auf den Boden geworfen wurde. LUIS zur Mutter K o m m e n Sie, Gnädigste. Wir wollen etwas frische Luft schnappen. MUTTER W a s ist in den Hütten? LUIS Die Besitzer kommen nur im Sommer. Jetzt ist niemand da. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen. Man kann sie mit einem Tritt öffnen. MUTTER kokett Niemand? LUIS Habe ich doch gesagt. MUTTER W a s ist da drin? LUIS Kisten, Stühle, Liegen. MUTTER interessiert Liegen? LUIS Ja, kommen Sie. Er holt einen Kamm und einen Spiegel aus der Tasche. Er gibt Alfonso den Spiegel und fängt an, sich zu kämmen. Er kämmt ?ich sehr sorgfältig, endlos lange. Gerade, Alfonso. Er klopft das Haar mit der Hand fest. Alfonso bewegt den Spiegel. Gerade, Alfonso. Schlabberhand. MUTTER näherkommend Oh, so viele Schuppen! Warten Sie, die mach ich weg. Sie klopft seine Schultern ab. Sie lehnt sich an ihn, benetzt ihre Fingerspitze mit Spucke und entfernt damit Schuppe für Schuppe. LUIS geschmeichelt Sie sind die Frau meiner Träume. MUTTER Nicht Lily? LUIS W e r kennt Lily? ALFONSO Luis, du machst vor nichts halt, um es dir mit meiner Mutter nicht zu verderben. LUIS scherzhaft Ich kenne sie nicht. Sie, Señora? MUTTER idem Ich m u ß wohl. Oh, wie mir die Füße wehtun! Diese verfluchten Schuhe! Sie zieht sie aus und wirft sie zu Alfonso Wie oft hab

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ich dir gesagt, daß du viel zu kleine Schuhe für Lily kaufst. Die Arme, sie hat sich schon bei mir beklagt. Hat sie dir nichts davon gesagt? ALFONSO Lily hat kleine Füße, Mama. Sie passen ihr gut. MUTTER Dieser Dickschädel! Zu Luis Unmöglich, ihn zu überzeugen. Wieder zu Alfonso Hast du meine anderen Schuhe mitgenommen? ALFONSO holt die Schuhe aus einer Tasche, hält sie ihr hin Hier sind sie, Mama. Mir ist kalt. MUTTER Mir auch. ALFONSO Wollen wir nicht zurück? MUTTER Kannst du nicht hören? Ich sagte, mir ist kalt. Ich möchte laufen und mich ein bißchen aufwärmen. Ich bin schon ganz steifgefroren. ALFONSO Ich will zurück, ich bin müde. Ich werde mich erkälten, Mama. MUTTER lacht Alfonso, du mit deiner eisernen Gesundheit! Außerdem dringt diese Kälte nur bis zu den Knochen durch. Weiter nicht. ALFONSO schwächlich Ich will zurück. MUTTER irritiert Hör auf damit! Das war nicht verabredet. Reiß dich zusammen. So bist du keine angenehme Gesellschaft, mein Sohn. Außerdem wird dir die frische Luft guttun, sie regt den Appetit an. Ich hab noch nie jemand gesehen, der solche Farbe hat wie du. Ist es nicht so, Luis, hat er nicht eine schlechte Farbe? LUIS Ja, eine sehr schlechte Farbe. Das Stubenhocken. Er geht nie raus! ALFONSO Es wird bald dunkel, Mama. Lily wartet auf mich. MUTTER Lüg nicht! Lily hat geschlafen, als wir weggingen. Du weißt, sie schläft wie ein Walroß. Vielleicht schläft sie immer noch, oder sie ist ausgegangen. Jedenfalls wartet sie nicht auf dich. Stimmt das, oder stimmt das nicht? Antworte! ALFONSO Ja, Mama. Das stimmt, aber ... LUIS Señora, wenn wir so weitermachen, werden wir von der Dunkelheit überrascht. MUTTER Sie haben Recht. Es ist nur wegen diesem Klotz. So ein Spielverderber! Wozu haben wir ihn eigentlich mitgenommen? LUIS Es war Ihre Idee.

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MUTTER Aber Luis! Was würden die Leute denken, wenn wir alleine losgingen? Ich bin kein junges Mädchen. Ich muß auf meinen Ruf achten. Wegen Alfonso. ALFONSO Könnte ich nicht allein gehen, Mama? MUTTER Mit wem denn? Ich werde dich nicht auf den Arm nehmen. Die Zeiten sind vorbei. ALFONSO Und der Karren vom Gemüsehändler? MUTTER Nein. Der Gemüsemann hat gesagt, er muß Gemüse verkaufen und hat keine Zeit, junge Männer aufs Land zu fahren. Recht hat er. Du hast dich auf eine Tomate gesetzt. Ich mußte sie bezahlen. ALFONSO Das war keine Absicht. MUTTER Absicht oder nicht, mein Lieber, das ist dasselbe. Warte auf den jungen Mann, Alfonso. Umso besser kannst du ihm auf die Hühneraugen treten. Luis lacht laut über den Witz. Nachsichtig Und Sie sind still und bringen mich jetzt zu den Hütten. LUIS Zu Befehl, Señora. MUTTER zu Alfonso Eine kleine Runde, mehr nicht. Um warm zu werden. Lacht dümmlich Warm...! Danach sage ich dem jungen Mann Bescheid. Wir kommen zurück, um dir Gesellschaft zu leisten. Weil ich dich so liebe, mein Junge! ALFONSO Sag ihm, er soll bald kommen, Mama. MUTTER sieht zu Luis, abgelenkt Ja, mein Lieber, ja, mein Lieber. Zu Luis Da sind die Hütten? LUIS Ja, dort. MUTTER Sind die Liegen stabil? Widerstandsfähig? LUIS Sie halten einiges aus. MUTTER Und niemand ist da? Beide ab. Man hört einen Aufschrei der Mutter, als hätte Luis sie gekniffen, und ihr geiles, seniles Lachen Noch einmal! Bild IV Alfonso schläft, er sieht noch schlechter aus. Es wird hell. Er wacht plötzlich auf, tötet ein Insekt auf seiner Hand. Er ist vollkommen steif, jede Bewegung erzeugt ein lautes Knarren. Nach und nach kann er die Schultern und den Hals bewegen, den Kopf drehen. Er streckt sich. Schnieft. Die Mutter und Luis treten auf. Die Mutter läuft zu Alfonso. MUTTER Alfonso, mein Lieber! Sie küßt ihn Gestern ist es so spät geworden, als wir die Hütten angesehen haben, daß wir direkt nach

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Hause gegangen sind. Was hätten wir drei in der Dunkelheit anfangen sollen? Es war so kalt! Hast Du eine schlechte Nacht gehabt? ALFONSO ängstlich Hat Lily auf mich gewartet? MUTTER verzieht das Gesicht Es ist unmöglich, dich zu lieben. Warum fragst du nach Lily? Kaum bin ich hier, fragst du nach Lily. Ich kann sie nicht mehr sehen. Laß sie doch in Ruhe! LUIS singend Es war niemand zu Haus! Es war niemand zu Haus! Wir gingen hinein, und niemand war da! ALFONSO versteht, friedlich Ist schon gut, Mama. Ich frage dich nichts. Es ist mir egal. LUIS zerdrückt eine Ameise Au! Mich hat eine Ameise gepiekst! Er springt wie ein Akrobat. MUTTER läuft zu ihm Komm her, Luis! Lauf nicht! Zieh den Strumpf aus. Luis springt weiter. Komm her! Wenn du nicht kommst, läuft die Ameise weiter und weiter, und wer weiß, wo sie landet. Sie bringt ihn dazu, sich zu setzen, zieht ihm den Schuh und den Strumpf aus Hier ist sie. Sie zeigt ihm die Ameise. LUIS Es piekst. MUTTER tut Spucke auf eine Fingerspitze und reibt damit seinen Fuß ein, dann küßt sie die schmerzende Stelle. Heile, heile Gänschen... Besser? LUIS Ja! Wie gut das tut! MUTTER Genauso wie mit Ihnen zusammen zu sein, Luis! ALFONSO Mama, hast du dem Jungen Bescheid gesagt? MUTTER gestört durch die Unterbrechung Ja. ALFONSO Wann kommt er? MUTTER Heute nachmittag. Du mußt ein bißchen Geduld haben, mein Sohn. Du hast ihm Vertrauen geschenkt, nun mußt du abwarten. ALFONSO Er hat es sich genommen, Mama! MUTTER Das ist dasselbe. ALFONSO Ich will hier weg. MUTTER Nie bist du zufrieden. Du könntest die frische Luft genießen. In Zukunft wirst du nicht mehr so oft rauskommen, also, genieß es. Das kann nicht schaden, wer weiß, ob er kommt. ALFONSO Um wieviel Uhr will er kommen? MUTTER Ich weiß nicht. Nach der Arbeit. Wenn er nicht mit seiner Freundin ins Kino geht. ALFONSO Kommt er erst nach dem Kino?

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MUTTER Ja doch! Was erwartest du? Er ist jung, du kannst ihn nicht festbinden, immer zu deiner Verfügung haben. Denk mal nach. LUIS Oh, bitte verteidigen Sie diesen Idioten nicht! MUTTER kokett Eifersüchtig? ALFONSO Warum hat er nur so viel Kraft, he, Luis! Das ist doch ungerecht verteilt! MUTTER Ich hab dir ein Sandwich mitgebracht. Sie gibt ihm ein Sandwich in die Hand Du tust mir so leid, mein Junge. LUIS verärgert Ihm geben Sie einen Sandwich? Aber ich hab gesagt, daß ich Hunger habe! MUTTER sehr besorgt Sie haben Hunger, Luis? LUIS Ja! MUTTER Alfonso, wozu brauchst du...? Du ißt zu viel Brot, trinkst Wasser, und der Brei schwillt in deinem Magen an. Außerdem hast du doch kaum Appetit! Sanft nimmt sie ihm das Sandwich aus den Händen und gibt es Luis, während sie zu Alfonso wie zu einem Kind spricht, beinahe singend Ich hab dein Zimmer geputzt, Blumen reingestellt, die Pflanzen gegossen... Warte, ich pflück dir ein paar Blumen... LUIS während die Mutter Blumen pflückt, flüstert ironisch Heute nachmittag geh ich mit Lily ins Kino. Er ißt das Sandwich. ALFONSO Hast du sie gesehen? LUIS Ja, an der Ecke. ALFONSO Daß bloß Mama nichts erfährt. LUIS Läßt du sie ins Kino gehen? ALFONSO Ja, ja, warum sollte ich sie nicht lassen? Die Arme! LUIS Mit mir? ALFONSO Ja. LUIS Mißtraust du mir nicht? ALFONSO Mein Gott, Luis, was du denkst. Wer ist besser als du? LUIS zweideutig Ja, ja, wer ist besser als ich? MUTTER Was flüstert ihr da? LUIS Geheimnisse. MUTTER wie ein kleines Mädchen Ich will es wissen, ich will es wissen! LUIS zärtlich Sei kein kleines Mädchen! ALFONSO schnieft Mama, hast du kein Taschentuch? MUTTER gibt ihm eins Hier, nimm.

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ALFONSO sieht es genau an Von Lily? Schnieft und traut sich nicht, hineinzuschneuzen. MUTTER Was willst du? Soll ich dir meine leihen? Lily hat mir schon ein paar Mal gesagt, daß ihr die Schuhe zu klein sind. ALFONSO Nein, nein, Mama. Sie sind ihr nicht zu klein. MUTTER streitlustig Jawohl, sage ich! LUIS zerdrückt noch eine Ameise. Er springt mit großen Verrenkungen. Er entfernt sich, auf einem Bein hüpfend. Au! Au! Mich hat wieder eine Ameise gepiekst! Au! Au! MUTTER ZU Alfonso Sieh dir das an. Diese Aufregung! Wohin geht er? Wirft die Blumen auf den Boden und läuft hinterher Was für ein Typ! Beide ab. Alfonso schnieft, sieht sich das Taschentuch von Lily an und legt es sich auf den Kopf Der junge Mann kommt mit einem Karren, einem niedrigen Wägelchen mit ein oder zwei Rädern. ALFONSO unangenehm überrascht Sie hier? JUNGER MANN Ich wollte sie abholen. ALFONSO Arbeiten Sie nicht? JUNGER MANN Ich habe mir frei genommen. Morgen mache ich dafür Überstunden. Lily? ALFONSO Ist ins Kino gegangen. Ich mußte sie dazu zwingen. Immer hockt sie zu Hause, sie muß sich ein bißchen ablenken. Ich fürchte, sie wird sonst krank. JUNGER MANN Wie ist Lily? Wem ist sie ähnlich? ALFONSO trocken Ich kann sie nicht beschreiben. Sie ist keine Filmschauspielerin. JUNGERMANN Wann lerne ich sie kennen? Ich möchte sie so gerne kennenlernen, Herr Alfonso. ALFONSO schlecht gelaunt Das hat Zeit! Das hat Zeit! Um das Thema zu wechseln Und Ihre Freundin? JUNGER MANN Aus. Sie wollte nicht, daß ich blau mache. ALFONSO wütend Haben Sie blau gemacht, oder haben Sie sich freigenommen? JUNGER MANN Das ist dasselbe. Ist nicht wichtig. Wenn ich nicht tue, was sie sagt, wird sie wütend. Dann streiten wir uns. Aufrichtig Aber was sie auch macht, ich werde es ertragen.

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ALFONSO Aber ohne triftigen Grund von der Arbeit fernzubleiben, das finde ich nicht richtig. Warum haben Sie das nicht bleiben lassen? JUNGER MANN Das hat mir Ihre Mutter auch gesagt: Gehen Sie zur Arbeit, es hat keine Eile. Das verstehe ich nicht. ALFONSO Was verstehen Sie nicht? Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel. JUNGER MANN Ich wollte sie nicht beleidigen, Herr Alfonso. Aber bis wann hätten Sie denn warten wollen? Das tut Ihnen doch nicht gut. ALFONSO gerät immer mehr in Wut Doch, die frische Luft tut mir gut! Und Sie werden sehen, daß ich Ihnen kein bißchen dankbar bin. JUNGER MANN Oh, kein Problem, Herr Alfonso. Glauben Sie mir. Ich hätte meinen Mund halten sollen. ALFONSO Aber sie haben geredet. Sehr verdrießlich Für mich! Für mich! Verflucht! JUNGER MANN Fluchen Sie nicht, Herr Alfonso. Ich bereue nicht, was vorgefallen ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Mädchen gibt es überall. Nicht alle besitzen Lilys Vorzüge, ich weiß. Aber... aber ich wollte sie... ALFONSO Ist gut. Ich verstehe. Aber wenn Sie gekommen sind, um mir Ihre Sorgen zu erzählen, hätten sie sich den Weg und den Streit mit Ihrer Freundin sparen können. Lily wartet vielleicht auf mich. Ich will keine Zeit verlieren, unter Männern, Schluß mit den Vertraulichkeiten. JUNGER MANN Oh, tut mir leid, Herr Alfonso. Woran habe ich nur gedacht? Mit großer Sorgfalt, beinahe zärtlich, hebt er Alfonso hoch, stützt ihn mit seinen Armen. Alfonso stößt ihm sichtbar die Ellenbogen in die Rippen, um Kontakt zu vermeiden. Ist alles in Ordnung, Herr Alfonso? ALFONSO Ja, ja. Aber zwei Tage auf dem Land haben mich an den Rand des Abgrunds gebracht. JUNGER MANN natürlich Sie riechen schlecht. Er riecht Der Fuß riecht schlecht, Herr Alfonso. ALFONSO mürrisch Das ist nicht der Fuß. Das ist das Ding. Es fault. Das Eisen fault, wissen Sie. Gehen wir. Ich möchte mich ein wenig frisch machen, bevor Lily kommt. Schließlich fordert die Beziehung zwischen Mann und Frau Gesundheit und Sauberkeit, außer in Fällen von Nekrophilie, aber das ist bei uns nicht der Fall, versteht sich. Er schließt mit einem kurzen überlegenen Lachen.

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JUNGER MANN hört ihm fasziniert zu Bei Ihnen ist das nicht der Fall? ALFONSO Natürlich nicht. Ich sage Ihnen eins, diese Dinge sind nicht für jedermanns Ohren bestimmt! Pause Aber setzen Sie mich doch hin, Mann. Ich komme mir lächerlich vor. JUNGER MANN Ja, ja, entschuldigen Sie. Sorgsam setzt er Alfonso auf den Karren. ALFONSO mißtrauisch Oder verfolgen Sie andere Absichten mit mir? JUNGERMANN ohne zu begreifen Mit Ihnen? ALFONSO Ich bin doch nicht blöde. Sie Schwein! JUNGER MANN Womit habe ich Sie beleidigt, Herr Alfonso? ALFONSO Mit nichts, nichts...! Halte durch, Alfonso, halte durch. Was willst du jetzt machen? Bring mich nach Hause! JUNGER MANN Sofort, Herr Alfonso. Er schiebt den Karren. Pause. Und Lily. Wie ist Lily? Blond? Haben Sie ein Foto? ALFONSO während der Junge den Karren schiebt, verärgert Ich hab gar nichts! Sie glauben wohl, ich verbringe mein Leben damit, nur an Lily zu denken? Ich hab was anderes zu tun! JUNGER MANN Aber... was können Sie tun... so? ALFONSO heftig Was heißt, so? Wer bin ich denn? Ein Nichtsnutz? JUNGER MANN Nein, nein, Sie haben mich falsch verstanden. ALFONSO für sich Kein Taktgefühl! Trampel! JUNGER MANN Ich kann mich nicht ausdrücken. Ich spreche nur wenig. Und wenn ich spreche... ALFONSO Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Schweigen Sie. JUNGER MANN Aber... Ich wollte sagen... Ich glaubte, sie würden immer an Lily denken. Ich wüßte keine bessere Sache, an die man denken könnte. ALFONSO Lily ist keine Sache! Hören Sie? Ich habe Köpfchen, junger Mann. Ich gebrauche es auch. Ich denke... ich denke... ihm fällt nichts ein. JUNGER MANN ernsthaft interessiert Woran? ALFONSO zufrieden An die Toten. Daran denke ich. JUNGER MANN dumm An... ? ALFONSO An die Toten! Ich denke gern an die Toten. Das ist eine alte Gewohnheit. Ich zähle sie. JUNGER MANN überaus erstaunt Es gibt so viele! ALFONSO mit neidischem Verdacht Viele? Kennen Sie viele?

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JUNGER MANN Nein. Kennen... nein. ALFONSO Na also... warum dann angeben? Diejenigen, die ich kenne, habe ich gesagt. Persönlich. Ich meine die Toten, die ich persönlich kenne. JUNGERMANN Ah! ALFONSO Heute nacht hab ich sechs gezählt, während ich auf den Schlaf gewartet hab. Die Landluft frischt das Denken auf. Vorher bin ich nie auf mehr als einen gekommen. JUNGERMANN Und jetzt? ALFONSO Habe ich sechs. Mit einem kleinen Lachen Ich hatte sie vergessen. JUNGER MANN Wer sind sie, Herr Alfonso? ALFONSO Meine Großmutter, mein Großvater, meine drei Vettern. Sie sind alle gleichzeitig gestorben. Auf einen Schlag haben sie meine Sammlung vergrößert. Ein Zug hat sie erfaßt. Lacht Das nennt man Glück! Plötzlich niedergeschlagen Aber ich könnte mehr kennen. Es sind nur wenige. Pause Fühlen Sie sich gut? JUNGER MANN Ja, warum? Und Lily? Sie ist bestimmt nie krank, oder? ALFONSO Das hab ich doch gesagt! Wir sind gesund! JUNGER MANN Werde ich sie jetzt kennenlernen, Herr Alfonso? Könnten Sie mir nicht ein Foto zeigen? So sehe ich sie kaum... ALFONSO unterbricht ihn, sehr verärgert Sie werden sie nicht sehen! Machen Sie sich bloß keine Illusionen, ja? Hören Sie auf mit Lily! Sie gehen mir auf die Nerven! Ich bin es leid zu wiederholen, daß ich nicht mit Ihnen über Lily sprechen möchte! Nicht ein Wort mehr! Sind Sie taub? Beide ab. Bild V Alfonsos Zimmer. Die Nachttöpfe unter dem Bett sind verschwunden. Der junge Mann kommt mit Alfonso auf dem Arm herein. JUNGER MANN ruft: Ist hier niemand? Zu Alfonso Sie sind anscheinend noch nicht hier, Herr Alfonso. Er legt ihn auf das Bett Ich hole Ihnen eine Schüssel mit Wasser, dann können Sie sich waschen. ALFONSO mürrisch Nein. Nein, ich will nichts, ich warte auf meine Mutter. JUNGER MANN Wer weiß, wann sie kommt, Herr Alfonso. Ich bringe Ihnen das Wasser.

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ALFONSO Ich sage Ihnen nein, junger Mann! Sie können es nicht abwarten, mit mir was anzufangen, das merke ich ganz deutlich. Aber nein, ich werde bei diesem Spiel nicht mitmachen. Schreit Ich bin ein gesunder Mann! JUNGER MANN friedfertig Ja, Herr Alfonso. Das Ding riecht schlecht. Waschen Sie sich. ALFONSO Was habe ich mit diesem Ding zu tun? Lassen Sie mich in Ruhe, junger Mann. Kommen Sie mir nicht zu nahe. Jeder an seinem Platz, das ist das beste. Man hört die Haustür und die Stimme der Mutter. Sie kommt singend näher. Sie tritt ein. Sie trägt die Perücke in der Hand und sieht zerzaust aus, als wäre sie zu schnell gerannt. MUTTER Oh, schon hier? Wie schnell! Warum solche Eile? Und Sie, junger Mann, wollten Sie Alfonso nicht am Nachmittag abholen? Warum tun Sie was anderes, als Sie sagen? JUNGER MANN Ich habe frei genommen. ALFONSO Oder ist einfach nicht hingegangen. Verächtlich Er sagt, was ihm gerade in den Sinn kommt. Mama, würdest du mir eine Schüssel mit Wasser bringen? MUTTER Ich? ALFONSO Ich bin am Ende. Der ganze Körper tut mir weh. MUTTER Was willst du? Denkt, er könnte in seinem Zustand so ohne weiteres Ausflüge machen...! ALFONSO Das war Luis' Idee, Mama. MUTTER Nein, alle waren einverstanden. Und beschuldige Luis nicht, wenn er nicht hier ist. Pause Er ist nach Hause gegangen, um zu baden. Zum jungen Mann Wir haben keine Dusche, er ist so reinlich! ALFONSO sanft Mamilein, wärst du so gut...? MUTTER kurz angebunden Das Wasser kannst du vergessen. Ich bin nicht deine Dienerin. Warte auf Lily, die kann dir helfen. Für irgendwas mußt du sie ja haben, oder? ALFONSO Aber ich würde so gern ein bißchen anständig aussehen. MUTTER Sie ist deine Frau. Zum jungen Mann Haben Sie das gehört? Hat man sowas schon gesehen? Wenn Sie nicht gekommen wären, um die Nachttöpfe auszuleeren, stünde das ganze Haus jetzt voll damit. Sie spricht weiter, während der junge Mann abgeht Nein, Alfonso, die Ehefrau ist nicht nur zum Vergnügen da. Ich bin nicht dein Kin-

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dermädchen. Soll sie dir helfen. Ich bin erschöpft. Ich bin so gerannt. Träge, lächelnd Dieser Luis! Wenn das Gesicht nicht wäre! Ich lege mich... Der junge Mann kommt mit einer Schüssel voller Wasser und einem schmutzigen Handtuch herein. JUNGER MANN zufrieden Hier ist das Wasser, Herr Alfonso. MUTTER hämisch Ah, diese Vertraulichkeit! Sehr gut, ausgezeichnet, junger Mann! Weiter so! ALFONSO ärgerlich Wer hat Sie gerufen? MUTTER idem Er tut so, als wäre es sein Haus. Sehr gut! JUNGER MANN Ich dachte... Sie wollten sich waschen. Er reicht ihm die Schüssel. ALFONSO Das ist der Gipfel! Er nimmt die Schüssel, schüttet das Wasser auf den Boden und schleudert die Schüssel mehrere Meter weit weg, die Mutter geht mit dem Kopf in Deckung. Er schreit: Ich will nichts von Ihnen! Ich ertrage Sie nicht! Gehen Sie! Gehen Sie, verdammt noch mal! Gehen Sie, und lassen Sie mich in Ruhe! MUTTER sehr würdevoll, aber irritiert Gehorchen Sie, junger Mann. Sie nehmen sich zu viel heraus. Das erträgt niemand. Dies ist nicht Ihr Haus. Denken Sie daran. Und ich rate Ihnen zu gehen. Jetzt ist nicht der richtige Moment. JUNGERMANN schüchtern Sie möchten auch, daß ich gehe, Herr Alfonso? ALFONSO ohne ihn anzusehen, zwischen den Zähnen Ja doch! Weg mit Ihnen! Weg hier, tun Sie mir den Gefallen! JUNGER MANN Kann ich gar nichts für Sie tun? ALFONSO kehrt ihm den Rücken zu, schreit: Nein! MUTTER schiebt den Jungen zum Ausgang Gehen Sie, mein Lieber, gehen Sie. Kommen Sie morgen wieder. Wer weiß, vielleicht können Sie ihn morgen ins Bad bringen. Morgen ist ein neuer Tag, he? Morgen ist immer ein neuer Tag! Seine Laune wird dann besser sein! Sie berührt seinen Bizeps. Bewundernd Oh, sind das Muskeln! JUNGER MANN während die Mutter ihn schiebt Bis... morgen. Er sieht zurück. Bis morgen, Herr Alfonso. Alfonso antwortet nicht. Ab. MUTTER froh Endlich sind wir ihn los. So ein Schleimer! Muskeln hat der! Lacht senil Aber ich stehe mehr auf die dünnen! Schade, daß wir ihm so vertraut haben! Schade... geht ab.

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ALFONSO dreht sich um, riecht Wie fies ich bin! Dieser Gestank! Pause, nachdenklich Vielleicht hat Mama morgen bessere Laune und hilft mir... Was für ein Charakter... Sie kommt sich bestimmt verlassen vor... Sie ist so eifersüchtig auf Lily... Er unterbricht sich plötzlich, richtet sich auf, sehnsüchtig, lauscht einen Moment, fragt: Lily? ... Ulys Auftritt ist theatralisch: Theater im Theater. Sie bleibt einen Augenblick regungslos stehen, und dann beginnt sie wie eine Schauspielerin, die die Bühne betritt, das Bett mit vielen Bögen zu umkreisen. Weder berührt sie jemals Alfonso, noch kommt sie so nahe, daß er sie berühren kann. Sie ist wie in der vorherigen Szene gekleidet. Alfonso, mit einer fremden Stimme, schwer und tief Lily, wie leid es mir tut, daß du ausgerechnet jetzt kommst! Ich bin so schmutzig! LILY spricht sehr übertrieben, mit den Fehlern einer Nordamerikanerin, die kein perfektes Deutsch sprechen kann; wenn sie Englisch spricht, dann klingt es noch übertriebener, sie öffnet dann den Mund sehr weit und trennt die Wörter, wie man sich das Englisch von Gangstern und Vamps vorstellt. Oh, das macht nichts, Baby. ALFONSO Ich habe dich so vermißt! Und nun kommst du ausgerechnet dann, wenn ich mich nicht einmal im Bett bewegen kann ... LILY idem Das macht nichts, Baby! ALFONSO Lily, meine Liebste, Geliebte, meine Liebste. LILY lächelnd Oh, du auch Geliebter. Darling! ALFONSO Setz dich hierher, Lily. Er zeigt auf das Bett Hat dir das Kino gefallen? LILY überrascht Kino? ALFONSO gerührt Warst du nicht im Kino? Meinetwegen? LILY singt emphatisch, als hätte sie einen Auftritt Alle meine Entchen schwimmen auf dem See, Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh. Das habe ich für dich gelernt, Rodolfo. ALFONSO korrigierend Alfonso, Alfonso, Lily. LILY Oh, immer vergessen. Dumm! ALFONSO Danke, Lily. Wie glücklich waren wir am Anfang. Ich küßte dir die Fingernägel, die Hände. Er schließt die Augen und küßt liebevoll seine eigene Hand Niemand kannte dich. Weder Mama noch Luis kannten dich. Aber mach dir nichts aus Mama. Sie ist alt, mürrisch. Luis spottet über dich, aber er liebt dich. Er... leise verlangt nach dir, Lily.

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LILY weit weg Sahen... Liebesfilm... obenhin Luis kitzelt! ALFONSO Sag das nicht! Kurze Pause Du warst so wunderbar, als wir uns kennenlernten. Du hast mit den anderen getanzt. Ich sah dich an und wußte nicht, wie ich dich ansprechen sollte. Ich hatte noch nie jemanden berührt und war noch nie berührt worden, ich sah dich an. Das genügte mir: dich ansehen. Und auf einmal gehörtest du mir. LILY richtet sich die Strümpfe mit den Bewegungen eines Vamps. Wie von weitem Hello, Billy. ALFONSO Du bist nähergekommen und sagtest: Alfonso, Geliebter, mein Liebster. LILY wie von weitem Hello, darling! ALFONSO Wie seltsam! Ich hatte niemanden, außer Mama und die Mülleimer, und auf einmal hatte ich dich. Niemand konnte an dich ran... Ja, am Anfang konnte niemand an dich ran, aber jetzt... mit einer Kraftanstrengung Es gibt etwas... das macht mir Sorgen, Lily. Ängstlich Warum willst du nicht, daß ich bei dir schlafe? Gerade ich, du willst nicht... LILY fröhlich My darling! ALFONSO Das Bett ist klein, aber das ist kein Grund. Das ist kein Grund, Lily! Warum hebst du so viele Puppen auf? Wofür? Schmeiß welche weg und mach mir Platz. Sobald es geht, komme ich zu dir, Lily. Ich... ich werde dich nicht berühren, Lily, wenn du nicht willst. Ich schwöre dir.... LILY No, no, please! Nicht darum, Lieber. Bett von Mädchen, ganz klein. ALFONSO Das macht nichts. Sobald es geht, versprichst du mir das, Lily? Ich werde bei dir bleiben, irgendwo in einer Ecke, am Fußende deines Bettes. Läßt du mich? LILY weinerlich Kein Platz, darling. ALFONSO Es genügt, daß du zwei Puppen wegtust, die beiden vom Fußende: die schwarze und die mit den Nylonhaaren. LILY Oh, die zwei, nein, nein, nein! Puppen sind immer bei mir, immer! ALFONSO Ja, ja, Lily. Ich möchte... deinen Geruch.... stammelt. LILY Oh, Billy, Billy, du sprichst grausam! Das Bett ist klein. Paßt nicht. Keiner mehr. Du, ich, Puppen, das paßt nicht rein. ALFONSO Wirf die Puppen weg. Ich kaufe dir neue. Hinterher.

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LILY mit idiotischem Lachen Nein, nein, nein, sind meine Töchter, Billy! ALFONSO verzweifelt Wirf sie weg, Lily! Wirf sie weg! Mach mir ein kleines bißchen Platz! Einen winzigen Platz! LILY weint Meine Töchter... verlassen? Oh brutaler Kerl! Meine Töchter wegwerfen! Arme Kreaturen! ALFONSO gerührt Weine nicht, Liebste. Geliebte, weine nicht. Ich wollte dir nicht wehtun. Lieber sterbe ich. Pause, leise Verzeih mir. Schweigen. LILY erfreut und überrascht Ich weine nicht, Billy. Warum sterben? Billy, Billy, hello. Sie nimmt einen Lippenstift und malt sich vor dem Spiegel die Lippen an, trällert: Alle meine Entchen... Rodolfo, gefällt dir das Lied? ALFONSO leise Ja. LILY Good-bye, good-bye, dear! ALFONSO Lily, gehst du schon? Einfach so? LILY Yes. Kino mit Luis. Er kitzelt. Böse. ALFONSO Sag das nicht, Lily! LILY Soll ich nicht ins Kino gehe? Soll ich bei dir bleiben? Willst du das? ALFONSO Nein, nein! Du sollst dich unterhalten. LILY Ja, unter, unter... Good-bye, baby! ALFONSO Lily, Lily! LILY geht ab und wirft ihm dabei mit den Fingerspitzen Küsse zu. Baby! Ihre Stimme entfernt sich Baby! ALFONSO schreit Lily! MUTTER kommt herein, im Nachthemd, ohne Perücke, mit wirrem Haar, sauer Alfonso, willst du wohl still sein? Ich kann bei deinem Geschrei kein Auge zutun. Ich hab genug von deiner Lily! Zweideutig Nur du kriegst nicht genug, he? ALFONSO Das geht dich nichts an! Laß Lily in Ruhe! MUTTER Ich laß sie, ich laß sie ja! Wer ist sie denn? Ne Prinzessin? Wenn sie was tun soll, ist sie verschwunden. Schöne Liebe, Alfonso. Wenn der junge Mann nicht käme, um die Dinger auszuleeren... Sie zeigt auf die Stelle, wo die Nachttöpfe standen. ALFONSO Hör auf damit! MUTTER Ja, aber hör du dann ein einziges Mal damit auf, sie zu verteidigen. Meine Füße sind schon ruiniert, nur weil du ihr unbedingt kleine Schuhe kaufen mußt. ALFONSO Sie sind nicht zu klein. Sie ist ein Mädchen!

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MUTTER Ja, ich auch. Sie nimmt den Saum ihres Nachthemds und singt, sich wie ein schwachsinniges Kind hin und her wiegend La, la, la, la, la. ALFONSO M a m a , m a c h dich nicht über Lily lustig! Mach dich nicht lustig! MUTTER lauter, verbissener La, la, la, la la, la! Bild VI Alfonsos Zimmer. Eine Girlande hängt von der Decke. Alfonso sitzt im Bett, sichtlich geschwächt und abgezehrt. Der junge Mann legt ihm ein Jackett über die Schultern. Danach trocknet er ihm das Gesicht mit dem Zipfel eines Handtuchs. Die Mutter kommt sehr hergerichtet und geschäftig wirkend herein. Sie hat die Hände voller Teller und Flaschen. Sie setzt alles auf der Kommode ab und stellt einige Stühle zu einem Kreis zusammen. MUTTER zum jungen Mann, mürrisch Fertig? Hat man sowas Lahmes schon gesehen? JUNGER MANN Ja, Señora, er ist sauber. MUTTER Können Sie mir was besorgen? JUNGER MANN sanft und widerspenstig zugleich Ich? MUTTER idem Wer denn sonst? Der Polizist an der Ecke? JUNGER MANN Ich möchte Alfonso nicht allein lassen ... ALFONSO Von mir aus... schnaubt. JUNGER MANN Ich habe eine größere Feile beschafft, Herr Alfonso. MUTTER Oh nein, junger Mann! Bitte. Heute wollen wir uns amüsieren. Lassen Sie bitte die Feilen. Gehen Sie uns nicht auf die Nerven. Und spielen Sie nicht den D u m m e n , tun Sie mir den Gefallen? Ja oder nein? JUNGER MANN erstaunt über seinen eigenen Mut Nein. Er atmet tief durch Nein, ich gehe nicht. MUTTER wütend Verdammt! Immer diese Unverschämtheiten! ALFONSO stammelnd Sei... res... pektvoll... zu... meiner... meiner... Mutter. JUNGER MANN Ich wollte sie nicht beleidigen, Herr Alfonso. Pause Ich werde Ihnen die Feile zeigen. Heute, ganz bestimmt... Er bückt sich und hebt ein großes Bündel auf, wickelt eine große Feile aus Dann ist bald Schluß mit d e m Ding.

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MUTTER Warten Sie, bis es sich mit Sauerstoff füllt. Dann zerbricht es v o n alleine. Mein Onkel hatte ein Auto draußen stehen, das rostete so stark, daß es sich in Nichts auflöste. Warum solche Eile? ALFONSO stammelnd Er... versteht... dich... nicht. Er... ist... ein... ein... Dumm... köpf. Du... du verschwendest... deine... Energie. MUTTER sehr würdevoll Ich weiß, mein Lieber. ALFONSO idem Mama... wird... Lily... kommen? MUTTER W a s für eine Frage! Natürlich! ALFONSO W..www...ann? MUTTER Woher soll ich das wissen? Wenn es ihr in den Sinn kommt. Sie k o m m t , sie geht, wie es ihr beliebt. W o z u bin ich da, Alfonso? He? W o z u hast du deine Mutter? LUIS ruft von Innen Mama, Mama, erscheint, kauend Gibt es keinen Wein? MUTTER nachsichtig Aber Luis, was tust du? Ich hab dir schon eine Flasche gegeben. LUIS Ich hab so viel gegessen, Mama. Das m u ß ich begießen. MUTTER Gut, aber warum hast du jetzt schon angefangen zu essen? Die Party geht erst nachher los. LUIS mit einem Lachen Genau deshalb. Ich sorge vor. Damit ich nicht hungrig bleibe. MUTTER nachsichtig Ach, dieser Luis. Gibt ihm einen sanften Klaps auf die Wange So lieb! JUNGER MANN Und Ihr Bruder? Haben Sie ihn nicht mitgebracht, Herr Luis? LUIS Aha, jetzt mischen Sie sich auch schon bei meinem Bruder ein. JUNGER MANN Ich hab ihm Bonbons gekauft. LUIS Behalten sie die! Denkt nach Nein, geben sie her. Er kriegt sie von mir. Der junge Mann gibt ihm die Bonbons. Luis steckt sie sich in die Tasche, aber gleich darauf holt er einen wieder raus; dann ißt er einen nach dem anderen auf MUTTER sehr würdevoll Bei w e m hast du das Kind gelassen, Luis? LUIS hochmütig Bei niemandem, M a m a . Ich habe ihn in sein Z i m m e r eingeschlossen. Die Straße birgt so viele Gefahren. Ich halte ihn schon seit drei Tagen dort. Auch Kinder brauchen ab und zu eine Ruhepause. MUTTER idem Richtig. Er kam mir in letzter Zeit ziemlich nervös vor.

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LUIS Oh, ich weiß gar nicht mehr, ob ich ihm was zu essen gegeben habe. Er ist das gewöhnt. Er ißt sehr wenig. Das macht mir Sorgen. ALFONSO Junger... Mann! JUNGER MANN besorgt Ja, Herr Alfonso? ALFONSO Ich... will... eine... eine... Zeit... schrift. Mama... zeig... ihm... die... die... Zeitschrift, die... ich... möchte. Atemlos. MUTTER holt aus ihrem Mieder die Zeitschrift mit dem Filmsternchen Diese. Der junge Mann will sie nehmen, sie hält ihn auf Abstand. Kaufen Sie sich selber eine. Das ist meine, die verleih ich nicht. Da sind Fotos von Mister Muskel drin. Sie sieht sich die Bilder an. JUNGER MANN Ich hole eine. Ich brauche nicht lange, Herr Alfonso. ALFONSO während der junge Mann abgeht, heiter So... la... la... lange S i e wollen! ... Lacht krampfhaft. MUTTER zufrieden Was für ein Gedanke, Alfonso. Wir werden ihn nicht mehr los! Die drei lachen, Alfonso mit einem röchelnden Lachen. Die Mutter und Luis reichen einander die Hände und drehen sich hüpfend im Kreis. In der Türöffnung sammeln sich einige Nachbarn. NACHBARN Verzeihung. Dürfen wir reinkommen? MUTTER würdig und höflich Kommen Sie nur rein! LUIS idem Herzlich willkommen! Grüßt jeden Wie geht's? Guten Tag! NACHBARN Guten Tag. Es stimmt also. Im wievielten Monat? Gibt es eine Überraschung? NACHBAR 1 geht zu Alfonso und schüttelt ihn grob und fröhlich hin und her, während Alfonso winselt. Na los, tote Hose! Geschwiegen wie ein Grab, he? ALFONSO mit schlenkerndem Kopf und dünner Stimme Gut, gut, gut! NACHBAR 2 Herzlichen Glückwunsch! NACHBAR 3 Und wie war's? MUTTER schelmisch Und... wie man sich daran gewöhnt! Große Heiterkeit NACHBAR 1 Sind Sie zufrieden, Großmütterchen? MUTTER würdevoll Das können Sie sich vorstellen! In meinem Alter träumt man von Enkeln! LUIS spielt den Gastgeber Setzen Sie sich, bitte.

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NACHBAR 1 zu Alfonso Glückwunsch, mein Junge. Als Ihre Mutter mich zu diesem kleinen Fest eingeladen hat, konnte ich es nicht glauben. Es war auch Zeit, daß Lily und Sie an Kinder denken! Sie wird jetzt wohl mehr zu Hause bleiben, oder? Sie wird stillen müssen. Lacht. NACHBAR 2 Und Lily? Wie ist sie? Dick? ALFONSO mit schlenkerndem Kopf, weggetreten Eh, eh? NACHBAR 2 sieht die anderen trinken, gierig Señora, haben Sie mich vergessen? MUTTER mit jugendlichem Schwung Oh, entschuldigen Sie. Seit der Nachricht, daß Alfonso Papa wird, weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Bedienen Sie sich bitte! ALLE stoßen an Prost! Sie führen die Gläser an den Mund und trinken. In diesem Augenblick kommt der junge Mann sehr aufgeregt herein. LUIS trocken Haben Sie die Zeitschrift? JUNGER MANN heftig atmend Nein... sie war... nirgendwo zu finden. MUTTER verächtlich Lauter Muskeln, aber nichts dahinter. JUNGER MANN Leihen Sie ihm ihre, Señora. MUTTER Sind Sie verrückt? Hat man sowas Dreistes schon gesehen? JUNGER MANN ZU Alfonso Ich habe jeden Kiosk abgesucht. Glauben Sie mir, Herr Alfonso, es gab keine. ALFONSO Gehen Sie... zum... Teufel! JUNGERMANN erst betrübt, dann lächelnd Aber... aber ich hab was gefunden. Zufrieden Sehen Sie! Er läuft hinaus und kommt mit dem Kind auf den Schultern zurück. LUIS wütend Du bist ausgerissen! MUTTER zum jungen Mann Na kommen Sie schon, machen Sie kein Theater. LUIS idem Das wirst du mir büßen! Du bist ausgerissen! MUTTER Beruhigen Sie sich, Luis. Er ist nur ein Kind. Nachher geben Sie ihm ein paar Ohrfeigen, und damit hat sich's. Zum jungen Mann Warum haben Sie ihn nicht auf der Straße gelassen? JUNGERMANN bestürzt Auf der Straße? MUTTER Ach, wir lassen uns das Fest lieber nicht verderben. NACHBARN Ja, ja, noch ein Glas! LUIS wütend Runter mit meinem Bruder! Der junge Mann setzt das Kind ab, nimmt die Feile und geht zu Alfonso. Zum Bruder Geh in die Ecke! Gesicht zur Wand!

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Das Kind geht gehorsam in die Ecke und setzt sich mit dem Gesicht zur Wand. Hände in den Nacken! Das Kind gehorcht. MUTTER geht zu Luis und gibt ihm ein Glas Trink, Luis. Beruhige dich, Lieber. ALLE mit gefüllten Weingläsern Prost! Sie trinken. In diese Stille hinein hört man das scharfe, kreischende Geräusch der Feile, die der junge Mann auf dem Eisenstück hin und her bewegt. Alle drehen sich zu ihm um. Ertappt versucht er, entschuldigend zu lächeln. Es gelingt ihm nicht, er hält inne, Schweigen. MUTTER zu einem Nachbarn, würdevoll Denken Sie nur, wie glücklich wir über diese Nachricht sind... Man hört wieder das Kratzen der Feile, herablassend zum jungen Mann Bitte, junger Mann. Sie haben uns wirklich schon genug Ärger gemacht. JUNGER MANN Ja, Señora. Er fängt wieder an, mit der Feile zu arbeiten, erst leise, dann aber immer heftiger. Ab und zu Schmerzenslaute von Alfonso, die unbeachtet bleiben. Die Nachbarn trinken und lachen. Bei jedem Kreischen der Feile wirft die Mutter dem jungen Mann einen scharfen Blick zu. Noch lauteres Kreischen. MUTTER steht auf und geht zum jungen Mann Dieser Krach! Wie unsensibel, junger Mann! JUNGER MANN sich entschuldigend Es fehlt nicht mehr viel. MUTTER Ja, ja, ich verstehe. Aber dieser Krach! Muß man denn allen anderen damit auf die Nerven gehen? Es stört uns bei der Unterhaltung. Warum lassen sie es nicht langsam rosten? JUNGER MANN zeigt auf das Eisenstück Sehen Sie her, Señora, es fehlt nicht mehr viel. MUTTER sieht nicht hin, ungeduldig Ich weiß, es fehlt nicht mehr viel. Ich versuche, Ihnen klar zu machen, daß wir Ruhe haben wollen. JUNGER MANN Entschuldigen Sie. Es wäre schade, jetzt nicht weiterzumachen, wenn... Er feilt, es kreischt. MUTTER Oh nein, hören Sie auf! Es durchbohrt uns das Trommelfell. LUIS kommt näher, mürrisch Was soll das Gerede. Man redet viel zu viel. Wozu, Mutter? Mit gewissen Leuten bringt das gar nichts. Zum jungen Mann Begreifen Sie nicht, wo wir hier sind, junger Mann? JUNGER MANN schüchtern Doch. LUIS Das hier ist ein gesellschaftliches Ereignis oder besser, ein Ort, an dem man sich grüßt, sich küßt und miteinander redet.

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JUNGER MANN Ja, mein Herr. Entschuldigung. Nur noch ganz wenig! LUIS aufbrausend Das interessiert mich nicht die Bohne! Ich wiederhole: hier findet ein gesellschaftliches Ereignis statt. JUNGERMANN

Ja.

JUNGERMANN

Nein.

LUIS Wenn Sie das wissen, warum verhalten Sie sich dann nicht entsprechend? Sie sind nicht in der Fabrik oder auf der Straße. Auf der Straße können Sie tun, was Ihnen gerade einfällt. Hier nicht. Das ist das Haus der Familie. JUNGER MANN Ja, mein Herr. Ich wollte nicht stören. LUIS Sie stören aber! Hier ist ein Eindringling, ein Unerwünschter. Sind Sie zum Fest eingeladen worden? LUIS Genau. Sie und mein Bruder sind Eindringlinge. Wenn Sie auch nur den geringsten Anstand im Leib hätten, würden Sie gehen. JUNGER MANN Aber es fehlt doch nur noch so... LUIS unterbricht ihn, geht drohend auf den jungen Mann zu und hält ihm die Faust unter die Nase. Zum Teufel! Der junge Mann läßt erschrocken die Feile fallen. Benehmen Sie sich, wie es sich gehört. Verstanden? Wenn nicht, schmeißen wir Sie raus. Zu den anderen, die die Szene mit Beifallsgesten für Luis beobachtet haben Wir schmeißen ihn raus, nicht? Wir sind viele. NACHBARN NACHBAR 1 NACHBAR 2 NACHBAR 3 NACHBAR 4 NACHBARI

Ja, ja, wir schmeißen ihn raus! leise, zweifelnd Ob wir den rausschmeißen können? idem Wenn wir alle zusammen schieben... Ich schiebe am Rücken. Ich am Nacken. Ich am Hintern.

NACHBAR 2 blickt im Zimmer umher Gibt es hier keinen Stock? Mit einem Stock ist es leichter! NACHBAR 3 ohne sich zu rühren Ich könnte einen suchen... JUNGER MANN sanft und widerspenstig Ich rühre mich nicht weg. ALLE Er rührt sich nicht weg. Raus mit dem unverschämten Kerl! LUIS explodiert beinahe Strapazieren Sie nicht meine Geduld, junger Mann! Sie wissen nicht, wozu ich fähig bin, wenn man mich provoziert! Seien Sie klug! Aber anstatt etwas zu tun, geht er zur Gruppe der Nachbarn.

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ALFONSO nickt mit schwankendem Kopf und sagt mit dünner Stimme Gut, gut, gut! Ein Nachbar mit einer Flasche Wein unter jedem Armen erscheint. NACHBAR 5 Gibt's hier was zu feiern? NACHBARI Mehr Wein! MUTTER würdevoll Ein Familienereignis. Aber seien Sie willkommen. LUIS Ja, kommen Sie. Setzen Sie sich. Er schubst einen Nachbarn vom Stuhl und bietet ihn dem Neuankömmling an. Er öffnet die Weinflaschen, schenkt ein. Der Junge scharrt verlegen mit den Füßen und wirbelt dabei Staub auf. NACHBARI hustend Dieser Staub! Die Nachbarn fangen an zu husten. LUIS schreiend Halten Sie die Füße still! MUTTER geht zu Alfonso, gibt ihm einen Kuß Mein liebes Kind! ALFONSO mit schwankenden Kopf, dünner Stimme Gut, gut, gut! MUTTER Würden Sie mir einen Gefallen tun, junger Mann? Zu den anderen Ein Fläschchen Wacholderschnaps wäre doch nicht schlecht. JUNGERMANN Nein. MUTTER Sowas Böswilliges! Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll. Seit drei Wochen ist er nicht aus diesem Zimmer zu bewegen, und immer dieser Lärm mit der Feile. Mir platzt bald der Kopf. Zum Teufel mit ihm! LUIS liebevoll Laß ihn, Mutter. Laß Dir Deine Laune nicht von ihm verderben. Komm, trink ein Glas. MUTTER sehr erfreut Noch ein Gläschen? LUIS Na, komm, Mutter. Er legt ihr die Hand auf die Schulter, küßt sie. Die Mutter lacht wie eine Fünfzehnjährige und wendet sich von ihm ab. Alle trinken und lachen durcheinander, immer lauter. Der junge Mann beobachtet sie, und wenn er meint, sie seien abgelenkt, bückt er sich, um die Feile aufzuheben. ALFONSO versucht zu warnen Ee..ee..eee..eee..rr.. LUIS schreit, bevor der junge Mann die Feile ergreifen kann Lassen Sie die Feile liegen! Der junge Mann bleibt reglos stehen. Die Mutter setzt sich Luis auf den Schoß. Der junge Mann nimmt das Eisending in seine Hände, versucht es zu zerbrechen, schwitzt. Plötzlich großes Getöse. Beinahe gleichzeitig stößt Alfonso einen fürchterlichen Schrei aus, richtet sich auf und fällt mit offenen Augen wie ein nasser Sack auf das Bett zurück.

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JUNGER MANN sieht das Eisenstück an, das er in den Händen hält Es ist zerbrochen, Herr Alfonso. Es ist zerbrochen, endlich. Ein altes Stück Eisen... NACHBARN interpretieren den Lärm falsch und wenden sich zur Tür, amüsiert Ist das Lily, die Mama? NACHBARI geil Mamilein,Mamilein! NACHBAR 2 öffnet die Tür, ruft: Lily! Stolpert und fällt auf den Boden, wo er ruhig liegenbleibt Mein Augenstern! Geräusch von Küssen. JUNGER MANN legt das Eisenstück auf den Boden, lächelt sehr glücklich, wischt sich den Schweiß mit einem Tuch ab. Zärtlich zu Alfonso Herr Alfonso, Herr Alfonso, Sie sind frei... Haben Sie es gemerkt? Lacht Wir können jetzt zusammen ausgehen. Ich werde Lily kennenlernen. Erlauben Sie mir jetzt, Lily kennenzulernen, Herr Alfonso? Ich suche mir ein anderes Mädchen. Und wir gehen zu viert überall hin. In den Zoo. Gehen Sie gern in den Zoo, Herr Alfonso? Kurze Stille. Sie haben mir so leid getan... Sein Gefühl überwältigt ihn. Er lacht und weint beinahe So sehr... Ihr Freund sein, Herr Alfonso... Ich möchte Ihr Freund sein. Wissen Sie... Ich bin allein. Ich habe niemanden. Sie wissen nicht, wie das ist: allein zu leben wie ein Hund. Sie könnten mein älterer Bruder sein. Er lächelt Luis ist Ihr älterer Bruder, und Sie sind mein älterer Bruder... NACHBARN warten, blicken zur Tür Es ist nicht Lily... MUTTER geht zu Alfonso, sie ist offensichtlich betrunken Ich möchte dir ein Küßchen geben. Sie küßt ihn. Unabsichtlich stößt sie ihn an, und Alfonso fällt mit dem Gesicht auf das Bett. Ohne das geringste von dem bemerkt zu haben, was geschehen ist, richtet sie ihn wieder auf und setzt ihn bequem hin. Sagt ohne größere Überzeugung Mein armer Sohn!... schelmisch Ich glaube, Lily kommt nicht mehr... Ich glaube nicht, Jungs. LUIS Was ist los, Mutter? MUTTER Ich muß jetzt wohl ohne die Geschenke auskommen, die er Lily gemacht hat. Lily kommt nicht mehr! Ich hab das Gefühl. Ich hab genug von Lily. Lily hier, Lily da. Trällernd Lily, Lily, Lilu! Glücklich Sie kommt nicht mehr... LUIS belustigt Glaubst du, Mutter? MUTTER Kommt gucken, Jungs, kommt gucken...

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NACHBARN Gucken, gucken! Sie stehen auf, stolpern, einer gegen den anderen stoßend, mit ihren Weingläsern auf das Bett zu. Das Kind, das bis jetzt mit dem Gesicht zur Wand und mit den Händen im Nacken sitzengeblieben ist, dreht sich um und steht auf. Alle schauen zu Alfonso, freudig und neugierig, mit betrunkenem Gelächter. Das Gesicht des jungen Mannes verzerrt sich allmählich. JUNGERMANN weinend Herr Alfonso, Herr Alfonso...! Als das Kind sieht, daß alle abgelenkt sind, zieht es schnell die Stöcke aus den Kübeln und klemmt sie sich unter den Arm. Der junge Mann sieht es und schreit heftig. Laß die Stöcke los, du Schwein! Laß die Stöcke los! Vorhang

Maria Irene Fornes Freundinnen Fefu y sus amigas

Deutsch von Almuth Fricke

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Maria Irene Fornes, 1930 in Kuba geboren, kam 1945 nach New York, studierte drei Jahre in Paris Malerei und schrieb 1960, zurück in USA, ihr erstes Theaterstück, La viuda, das sofort unter die Finalisten für den Preis CASA DE LAS AMERICAS kam. Sie lernte im ACTORS STUDIO die Straßberg Methode kennen und schrieb bisher über 30 Stücke in englischer Sprache.1 Fornes ist die meistaufgeführte kubanische Theaterautorin. Seit 1968 führt sie auch Regie. In den 60er Jahren gehörte Fornes zu den Pionieren des Off-offBroadway-Theaters, hat das alternative, experimentelle Theater ohne Brüche überlebt, und ihre Stücke wurden mit sieben OBIES (Preis der New Yorker Wochenzeitung VILLAGE VOICE) ausgezeichnet; sie selbst

erhielt das NATIONAL ENDOWMENT FOR THE ART GRANT, Rockefelleru n d G u g g e n h e i m s t i p e n d i e n u n d d e n AMERICAN A C A D E M Y A W A R D

1985.2 Seit 1980 leitet sie den Drama-Workshop INT AR. Wenn ihre Stücke auch kaum Fakten ihrer Kindheit in Kuba reflektieren, findet sich eine lateinamerikanische Denkweise in der charakteristischen Mischung aus poetischer Aktivität und surrealistischer Ästhetik in allen ihren Texten.3 Aus der kubanischen Theatertradition stammen u.a. Elemente der farsa populär und der Groteske, dazu eine Vorliebe für rituelle Handlungen, die kubanische ,santeria'. Herausragende Kennzeichen dieses Theaters sind die Vorstellung vom Leben als täglicher Absurdität, die vom Zufall regiert wird oder vom nonsense; die Dialektik zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem; der Rollentausch; Parodie und Farce als Mittel, den Mythos falscher moralischer Werte zu zerstören. Freundinnen wurde 1977 in New York uraufgeführt. Das impressionistische Ambiente des Stücks erinnert an Tschechow. Sechs Frauen treffen sich zu einem Wochenende in Fannys Landhaus, um ein gemeinsames Projekt durchzusprechen. In scheinbar banalen Dialogen sprechen 1

Die wichtigsten sind: Tango Palace (1963); The Successful Live (1965); Promenade (1965); The Office (1966); A Vietnamese Wedding (1967); Dr. Kheal (1968); Molly's Dream (1968); Fefu and her friends (1977); The Danube (1982); Mud (1983); The Conduct of Live (1985); Abingdon Square (1987); What of the Night? (1989); Enter the Night (1996).

2

Diese Auszeichnungen werden hier hervorgehoben, weil Maria Irene Fornes in New York zu einer Minderheit gehört und wie kein anderer Lateinamerikaner in der Theaterszene Anerkennung fand.

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Sie selbst sagt: „Ich glaube, mein Leben i n Kuba hat kaum Einfluß auf meine Arbeit, aber d a s Leben in Kuba beeindruckt mich stark. In vieler Hinsicht denke ich noch wie eine Kubanerin...". Interview M. I. Fornes - H. J. Brown, New York 12. 8. 1996. Siehe auch: Susan Sonntag: „Preface", in Maria Irene Fornes. Plays. New York 1992.

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sie von ihren Gefühlen wie zu sich selbst. Sie denken laut und enthüllen dabei sehr komplexe weibliche Figuren.4 Die Frauen sind zusammengekommen, weil sie wissen, daß sie sich gegenseitig viel geben können. Ihre Gemeinschaft wäre transgressiv und in der Lage, Macht zu entwickeln, Macht, um ihre Individualität zu manifestieren; eine Individualität, die zu akzeptieren ihnen schwerfällt, denn ihre Rolle ist traditionell festgeschrieben: Der Mensch ist männlichen Geschlechts... [...] Und die Frau ist bösartig. Sie ist kein menschliches Wesen. Sie ist 1. ein Rätsel, 2. eine andere Art, 3. bisher unidentifiziert, 4. unberechenbar. Daher bösartig und sanftmütig, verderbt und freundlich, das heißt, sie ist schlecht.5 Monologe und Gespräche kreisen immer wieder um ihre Beziehung zum anderen Geschlecht. Und in den verschiedenen Repräsentationen ,Frau' stellt sich heraus, wie schwierig es ist, für sich selbst zu sprechen, wenn der weibliche Diskurs von der patriarchalen Welt kontrolliert oder zum Schweigen gebracht wird. Der Kern aller dieser Monologe kristallisiert sich in dem Konflikt zwischen Fanny und Julia: die eine sucht Harmonie, indem sie sich den Konventionen widersetzt, eine gewisse Autonomie anstrebt;6 die andere zerbricht, weil sie sich halbherzig unterwirft. - Julia sitzt im Rollstuhl und hat Halluzinationen von Richtern, die selbständiges weibliches Denken mit dem Tod bestrafen. Hier zeigt sich eine Konstellation, die Fornes in allen ihren Stücken herstellt: der Gegensatz von stark und schwach, von schön und häßlich, von normal und pervers. Betrachten wir die Gegensatzpaare im Kontext dieses Stückes, in dem Fanny im Spaß („um es nicht im Ernst zu tun") auf ihren Mann schießt, der sie „lästig und langweilig" findet, und Julia von einer Kugel verwundet wird, die ein Wild traf, wird die nahezu symbiotische Beziehung zwischen den Gegensätzen sichtbar, die wir auf Unterdrücker und Unterdrückte, Jäger und Beute erweitern können. Fanny ist stark und doch schwach: Sie liebt ihren Mann und kann ohne „Fefu and her friends war für mich ein Durchbruch, was die Autonomie der Figuren angeht. Seitdem erscheinen in meinen Stücken reale Personen, nicht länger Stimmen, die das Thema des jeweiligen Stückes artikulieren." Maria Irene Fornes zitiert nach Scott Cummings: „Seeing with Clarity: The Visions of M. I. Fornes", in Theatre (Vale) 17,1985, S. 52-53. Julias erzwungenes Glaubensbekenntnis in einer ihrer Halluzinationen (122). Fanny ist in der Lage Klempnerarbeiten auszuführen, d.h. sie ist nicht auf männliche Hilfe angewiesen, und, weiten wir den Symbolgehalt noch ein wenig aus, sie weiß, wie die verborgenen, verschwiegenen Dinge funktionieren.

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ihn nicht leben. - Fornes gibt ihr das Bild einer räudigen Katze. Julia ist schön, in ihren Halluzinationen aber ein stinkendes Tier; auf expressionistischer Ebene ist sie das erlegte Wild. Gleichzeitig hat ihre Paralyse gestische Bedeutung.7 Fornes zeigt auf die eine oder andere Weise in allen ihren Stücken, daß Menschlichkeit auf einem animalischen Fundament ruht, wodurch immer wieder Spannungen entstehen, die im männlichen Diskurs den Geschlechterunterschied definieren: männlich = Verstand; weiblich = tierischer Instinkt. In Freundinnen tun sich hinter dem augenscheinlich „normalen" Geschehen auf der Bühne - die Frauen diskutieren, lachen, spielen - Abgründe auf. „Maria Irene Fornes führt uns vor, wie der Herr der Welt, der darstellende Schauspieler und die Komplizenschaft des schweigenden Zuschauers das dramatische Spiel artikulieren."8 Heidrun Adler

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„The women of Fefu and her Friends share Julia's invisible scar, the mark of their paralyzing subjection to a masculine authority... [Her] internalized ,guardian' rewrightes Julia's identity at the interface of the body itself, where the masculine voice materializes itself in the woman's flesh." William B. Worthen: „Still playing games. Ideology and Performance in the Theatre of M. I. Fornes", in Feminin Focus: The New Women Playwrights, hrsg. von Enoch Braten. Oxford University Press 1989, S. 176. Die Mehrzahl der Frauen dieses Stückes plädieren dafür, sich der - erkannten - Lähmung zu widersetzen, z. B. CELIA: „Der Hang zum Konformismus betäubt gewöhnlich die Sinne." (125). ebd. S. 179.

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Freundinnen Personen: Fanny (50 - 60) schlicht, liebevoll und spielerisch, komplex, subtil und dynamisch - Cindy (35 - 45) treue Freundin von Fanny, fröhlich und umgänglich - Christina (35 - 45) Freundin von Cindy - Julia (35 - 45) brillant und energisch. Sie ist groß und schlank. Fannys beste Freundin - Emma (30 - 45) Bohemienne und künstlerisch. Sie hat Theater gespielt und getanzt - Paula (25 - 35) attraktiv, sportlich und sympathisch. Sie unterrichtet Malerei und Kunsthandwerk - Sue (20 - 30) ist Buchprüferin, interessiert sich für Kunst, speziell für Tanz. Sie ist eine Freundin von Paula und den anderen - Celia (35 45) sehr elegant und attraktiv. Mit dunklen Haaren und Augen. Sie schreibt über philosophische Aspekte der Erziehungswissenschaft. Erster Teil: Mittags. Im Wohnraum. Zweiter Teil: Am Nachmittag. Im Hof, im Arbeitszimmer, im Schlafzimmer, in der Küche. Dritter Teil: Gegen Abend. Der Wohnraum eines Landhauses. In Dekoration und Ausstattung des Raums verbindet sich der Stil der Jahrhundertwende mit rustikalen Einrichtungsstücken. Die Zusammenstellung ist schlicht und geschmackvoll. Rechts die Diele und der Haupteingang. Links eine Tür und ein Fenster mit Blick auf die Terrasse, den Innenhof und einen See. An der Rückwand befinden sich die Treppe zum ersten Stockwerk, der Zugang zur Küche, zum Eßzimmer sowie zu anderen Zimmern des Erdgeschosses und Glastüren, die nach draußen führen. In der Mitte des Raums steht ein Sofa. Davor ein Tisch. Rechts und links von dem Sofa je ein Stuhl. In der linken, hinteren Ecke steht ein Klavier. Weiter vorn eine Stehlampe. An der rechten Wand befindet sich ein Barschrank mit Getränken, Gläsern, einem Eiskühler und einer Sodaflasche. Am Türrahmen lehnt ein Doppellaufgewehr. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Konfekt. Auf der Sofalehne liegt ein Plaid. Erster Teil Fanny steht auf dem Treppenabsatz. Cindy hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Christina sitzt auf dem rechten Stuhl. FANNY Mein Mann hat mich geheiratet, um immer vor Augen zu haben, wie abscheulich die Frauen sind. CINDY Wie bitte? FANNY Doch, doch. CINDY Wie furchtbar.

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María Irene Fomés

FANNY Nein. CINDY Das ist nicht furchtbar? FANNY Nein.

CINDY Ich glaube nicht, daß jemand aus diesem Grund heiratet. FANNY Er ja.

CINDY Hat er dir das gesagt? FANNY Ständig. CINDY Mein Gott. FANNY Ich lache, wenn er es sagt. CINDY Du lachst darüber? FANNY Ja. CINDY Wie kannst du nur? FANNY Weil ich es lustig finde. Und außerdem ist es wahr. Darum lache ich. CINDY Was ist wahr? FANNY Daß Frauen abscheulich sind. CINDY Fanny! FANNY Überrascht dich das? CINDY Ja. Ich finde mich nicht abscheulich. FANNY Dich meine ich nicht. CINDY Du meinst nicht mich? FANNY Nein, es ist ein Gedanke. Eine Denkweise. CINDY Eine furchtbare Art zu denken. FANNY Ich nehme zurück, was ich gesagt habe. CINDY zu Christina Ist sie nicht unglaublich? FANNY Cindy, es ist eine abstrakte Vorstellung. Niemand Bestimmtes. CINDY Niemand Bestimmtes. Nur die Frauen im allgemeinen. FANNY Genau. CINDY ironisch Wie beruhigend. Ich dachte schon, du meintest uns. FANNY herzlich Du bist dumm. CINDY Abscheulich und dumm. Zu Christina Hast du so was schon gehört? CHRISTINA Ich bin sprachlos. FANNY Warum bist du sprachlos? CHRISTINA Du bist unglaublich. FANNY Sei nicht beleidigt. Ich habe kein Taktgefühl, aber sei nicht beleidigt. Ich weiß, daß ich taktlos bin. Cindy beleidigt mein Gerede

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nicht. Sie tut zwar so, als sei sie beleidigt, ist es aber nicht. Sie versteht, was ich sage. ClNDY Das stimmt nicht. FANNY liebevoll Natürlich stimmt es. Pause Ich liebe solche Ideen. Sie geben mir Kraft. CHRISTINA Daß Frauen abscheulich sind? FANNY scherzhaft Finde ich empörend und widerlich. CHRISTINA Und das regt dich an? FANNY Dich nicht? CHRISTINA Nein. FANNY Mich ja. Es bringt mich dazu, mich in eine Idee zu versteigen. Was machst du, wenn du etwas widerlich findest? CHRISTINA Ich meide es. FANNY Hm. Zu Cindy Du auch? CLNDY Ja. FANNY Sag mal, hast du nie einen Stein hochgehoben, der in der Erde steckt? In feuchter Erde? CHRISTINA Doch. FANNY Der voller Schlamm ist, wenn man ihn umdreht? CHRISTINA Ja. FANNY Und voller Würmer? CHRISTINA Ja. FANNY Ekelt es dich? CHRISTINA Ja. FANNY Und fasziniert er dich nicht gleichzeitig? CHRISTINA Doch. FANNY Siehst du, das Widerliche fasziniert dich auch. CHRISTINA Hm. FANNY Siehst du, das, was frei liegt, ist glatt, trocken und sauber. Was nicht offen liegt, unten drunter, ist schleimig und voller Schlamm und Würmer. Es ist ein anderes Leben, parallel zu dem offenen. Es ist da, gegenwärtig wie die Würmer unter dem Stein. Wenn du es zuläßt, ...frißt es dich auf. Pause Denke ich. Fanny sieht auf ihre Uhr. Okay, wer hat Lust Mittag zu essen? ClNDY hebt die Hand Für mich bitte gebratene Würmer mit viel Pfeffer. FANNY zu Christina Und für dich? CHRISTINA Ich hätte sie gern in einem Sandwich mit Mayonnaise.

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FANNY Und zum Trinken? CHRISTINA Ein wenig schmutziges Wasser in einem großen Glas mit Eis. Fanny wendet sich zu Cindy. CINDY Das gleiche, bitte. FANNY Gut. Ich gehe und grabe sie im Garten aus. Sie geht zur Terrassentür. Von dort gibt sie Christina ein Zeichen, die zu ihr geht. Psst... Wenn Christina näher kommt, greift Fanny zum Gewehr. Philipp hast du noch nicht kennengelernt? CHRISTINA Nein. F A N N Y ES i s t d e r d a . Sie zielt mit dem

Gewehr.

CHRISTINA schaut nach draußen Wer denn? FANNY schießt Der da! Christina und Cindy schreien auf. Fanny lacht, pustet über die Gewehrspitze, stellt es an seinen Ort zurück und schaut nach draußen. CINDY Um Gottes willen, Fanny. FANNY Sieh nur. Er steht schon wieder auf. Das ist ein Spiel, das wir spielen. Ich schieße, und er wirft sich zu Boden. Wenn er den Schuß hört, fällt er um. Wo immer er auch ist, läßt er sich fallen. Einmal ist er in eine Pfütze gefallen und war klatschnaß. Sie schaut nach draußen. Er hat sich nur ein bißchen schmutzig gemacht. Er klopft sich den Staub ab. Sie winkt Philipp zu und macht sich auf den Weg in die Küche. Es ist ihm nichts passiert, überzeugt euch selbst. Geht hinaus. CINDY zu Christina Möchtest du einen Drink? CHRISTINA Ja, gern. CINDY geht zum Barschrank Was möchtest du trinken? CHRISTINA Whisky-Soda. Cindy schüttet Eiswürfel und Whisky in ein Glas. Sie beginnt, aus der Sodaflasche Wasser hinzuzufügen. Nur Soda. Cindy stellt das Glas zur Seite und nimmt sich ein anderes, gießt wieder Wasser ein. Warte. Cindy hört auf, Wasser einzugießen. Gib mir Eis mit einem Tropfen Whisky. CINDY stellt das Glas weg und nimmt ein anderes Ein oder zwei Eiswürfel? CHRISTINA Einen zum Lutschen. Cindy tut einen Eiswürfel in das Glas und einige Tropfen Whisky und reicht es Christina. CINDY Sie ist eigen. Niemand ist wie sie. CHRISTINA Wie Fanny? CINDY Ja.

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CHRISTINA Zum Glück. CINDY Du kennst sie nicht. Sie ist wunderbar, weißt du. Wirklich. CHRISTINA Sie ist verrückt. CINDY Ein wenig. Ihre Ehe ist eigenartig. CHRISTINA Eigenartig? Gespielt ernst Sie ist abscheulich. Beide lachen. Wie ist er? CINDY Er ist auch... leicht verrückt. Sie sind nicht verrückt. Sie machen sich gegenseitig verrückt. CHRISTINA Warum trennen sie sich nicht? CINDY Warum sollten sie sich trennen? CHRISTINA Warum? CINDY Sie lieben sich. CHRISTINA Sie lieben sich? CINDY Klar. CHRISTINA Wer sind die anderen beiden Männer? CINDY Fannys Neffe, John, und Thomas, der Gärtner. Cindy bemerkt, daß Christina besorgt ist Das Gewehr war nicht geladen, mußt du wissen. CHRISTINA Woher weißt du das? CINDY War es nicht. Warum sollte es? CHRISTINA Es hörte sich an, als sei es geladen gewesen. CINDY Es waren keine Patronen drin, nur Schießpulver. CHRISTINA Wie eine Kanone. CINDY Es war Pulver ohne Kugeln. CHRISTINA Schon der Lärm kann einen umbringen. Mich hätte er fast umgebracht. Mein Herz klopft jetzt noch. CINDY Du hast dich erschreckt. CHRISTINA Natürlich habe ich mich erschreckt. CINDY Ich meine, es war nichts. CHRISTINA ironisch Zum Glück hat sie nicht auf mich geschossen. CINDY Fanny wird nicht auf dich schießen. Sie schießt nur auf Philipp. CHRISTINA Sehr liebenswürdig von ihr. Stell das Gewehr weg, ich mag es nicht sehen. Fanny erscheint auf der Treppe. FANNY Ich habe die Toilette in deinem Zimmer repariert. CINDY Du hast sie repariert?

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FANNY Ja. Das Teil funktionierte nicht, das verhindert, daß das Wasser weiter läuft. Ich habe es repariert. Jetzt warte ich darauf, daß der Spülkasten volläuft, um zu sehen, ob es wieder gut funktioniert. CHRISTINA Bist du Klempnerin? FANNY Ich mußte nur den Draht umbiegen, mit dem die Gummidichtung befestigt ist, damit sie genau auf das Loch fällt. Sie fiel immer daneben, darum lief das Wasser weiter aus dem Spülkasten heraus. Fanny setzt sich neben Cindy Diesmal war ich erschrocken, weißt du. Ich dachte, er sei wirklich verletzt. CINDY Ich dachte, das Gewehr war nicht geladen. FANNY Ich bin mir nie sicher. CHRISTINA Was? CINDY Fanny, was sagst du da? FANNY Er hat mir gesagt, daß er eines Tages Kugeln in das Gewehr tun würde. Er quält mich gern. Einen Moment lang ist es still. Jetzt bin ich Schuld daran, daß ihr euch schlecht fühlt. Zu Cindy Ich möchte dich nicht beunruhigen. Zu beiden So sind wir, wir gehen immer von einem Extrem ins andere. Aber es gibt keinen Grund zur Sorge. CHRISTINA D U machst mir Angst. FANNY Das hat nichts zu sagen. Ich erschrecke auch manchmal. Doch das ist unwichtig. Im Gegenteil, dadurch fühle ich mich stärker. Wir sind so. Es ist ein Spiel. Wenn ich nicht im Spaß auf ihn schieße, könnte ich es im Ernst tun. Siehst du, daß es Sinn macht? CHRISTINA leise Du bist verrückt. FANNY Bin ich nicht. Ich bin bei Verstand. CHRISTINA Das sind Albernheiten. FANNY Keineswegs. CHRISTINA leise Du machst mich traurig. FANNY Sei nicht traurig. Lach über mich, wenn du nicht mit mir einverstanden bist. Sag ruhig, ich sei albern. Ich weiß, daß ich albern bin. Los, lach schon. Ich ertrage den Gedanken nicht, dich traurig gemacht zu haben. CHRISTINA lächelnd Ist schon gut, ich werde darüber lachen. FANNY Soll ich dir einen Drink machen? CHRISTINA Nein, ich lutsche nur das Eis. FANNY Fühlst du dich nicht wohl? CHRISTINA Mir geht es gut.

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FANNY Was trinkst du? CHRISTINA Whisky. FANNY nimmt Christinas Glas Laß mich dir noch einen einschenken. Sie geht zum Barschrank. CHRISTINA Nur ein Schlückchen. FANNY gießt sehr sorgfältig einen einzigen Schluck Whisky auf das Eis So? CHRISTINA Ja, danke. Fanny reicht Christina das Glas und beobachtet, wie sie das Eis in den Mund nimmt und lutscht. FANNY Sowas Komisches habe ich noch nie gesehen. Werden dir die Finger nicht kalt? Christina nickt. Du brauchst ein Stäbchen, das du wie einen Stiel in das Eis stecken kannst. Dann könntest du es halten, ohne daß deine Finger kalt werden. Ich habe Stäbchen im Haus. Ich mache dir ein paar fertig. CHRISTINA Nein, mach dir keine Umstände. FANNY Das ist kein Umstand. Vielleicht magst du mich dann lieber. Pause. Sie lächelt Ich bin exzentrisch, Christina. Aber zum Glück stört es mich nicht, exzentrisch zu sein. Für die anderen ist es manchmal schwierig, aber auch nicht sehr. Habe ich Recht, Cindy? Die Menschen, die mich mögen, mögen midi, weil ich bin, wie ich bin. Stimmt doch, oder? CINDY lächelt und nickt Ich würde dich mögen, selbst wenn du nicht wärest, wie du bist. FANNY Du würdest mich gar nicht kennen, wenn i h rieht wäre, wie ich bin. CINDY Ich wüßte, daß du es bist. FANNY ZU Christina Siehst du? Ich habe auch gute Seiten. Ich werde zum Beispiel nie böse. CHRISTINA Dafür machst du alle anderen wütend. FANNY denkt einen Augenblick nach Nein. CHRISTINA Mich hast du wütend gemacht. FANNY Ich weiß. Und es kann sein, daß es wieder passiert. Trotzdem möchte ich, daß du mich magst. Meinst du, das wäre möglich? CHRISTINA ... Ich weiß nicht. FANNY Wir werden sehen. Sie geht zur Terrassentür und spricht nach draußen gewandt, nachdenklich Ich mag Männer lieber als Frauen. Ich beneide sie. Manchmal fühle ich mich wie ein Mann, denke wie er.

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Sie fühlen sich wohl in der Gesellschaft anderer Männer. Frauen nicht. Sieh sie dir nur an. Sie untersuchen den neuen Rasenmäher... an der frischen Luft, in der Sonne, während wir hier im Dunkeln hocken... Männer haben eine naturgegebene Stärke. Frauen müssen ihre Stärke erst entdecken, und wenn sie sie finden, kommt sie gepaart mit Bitterkeit und ist unberechenbar... Frauen fühlen sich unruhig miteinander. Sie sind wie Hochspannungsdrähte... tratschen, um den Kontakt zu vermeiden, und wenn nicht, dann weichen sie sich gegenseitig aus... wie Orpheus... Als hätte irgendein Gott gesagt: „Und wenn sie sich eines Tages wiedererkennen, wird die Welt in Trümmer gehen". Sie lauern immer darauf, ob der Mann kommt. Und solange er nicht gekommen ist, finden sie keine Ruhe... erst dann sind sie beruhigt und leicht benommen. Bei den Männern fühlen sie sich beschützt. Die Gefahr verschwindet. Sie können sich fast vollkommen fühlen. Die Männer sind wie das Fleisch, das die offenliegenden Nerven bedeckt. Sie sind die Isolatoren. Die Gefahr schwindet, aber der Preis dafür ist die Seele und der Geist. Ein hoher Preis! Ich habe das nie verstanden. Warum? Was fürchten sie? Hm. Na ja... Wißt ihr es? Vielleicht fürchten sie, daß der Himmel einstürzt. Sie wendet sich ihnen zu Habe ich euch wieder beleidigt? CHRISTINA Nein, ich hätte auch gern diesen Rückhalt gespürt, den sie fühlen. Das Vertrauen, das die Welt in sie setzt und das Vertrauen, mit dem sie die Welt sehen. Ich weiß, daß ich es nicht habe. FANNY Hm. Nun ja, ich muß nachsehen gehen, was meine Toilette macht. Fanny geht zur Treppe und steigt einige Stufen nach oben. Die Klempnerei ist wichtiger, als ihr denkt. Christina fällt von ihrem Stuhl und täuscht eine Ohnmacht vor. Cindy geht zu ihr. CINDY stolz auf Fanny Wie findest du sie? CHRISTINA Ich kann nicht nachdenken. Mir tut alles weh. Ich bin völlig fertig. CINDY Kann ich dir helfen? CHRISTINA Sing mir etwas vor. Cindy singt ein fröhliches Lied. Christina singt die zweite Stimme. Dann hört man eine Hupe. Fanny kommt herein. FANNY Das ist Julia. Zu Christina, die auf dem Boden liegt Bist du okay?

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CHRISTINA Ja. Fanny geht hinaus in die Diele. Cindy hinterher. Sie überrascht mich immer wieder! Sie steht auf. FANNY aus dem off Julia! ...komm, ich helfe dir. JULIA ES geht schon. Ich bin sehr stark. FANNY G u t .

JULIA Hast du meinen Koffer? FANNY Ja.

Julia und Fanny kommen herein. Julia sitzt im Rollstuhl. JULIA Hallo, Cindy. CINDY Hallo, meine Liebe. Wie geht's? JULIA Mir geht es gut. Ich kann schon Auto fahren. Du solltest mein Auto sehen. Es ist erstaunlich, wie sie es umgerüstet haben. Du mußt einmal damit fahren. Es ist nicht schwer. Zu Christina Hallo, Christina. CHRISTINA Hallo, Julia. JULIA Es freut mich, dich zu sehen. FANNY Ich bringe das in dein Zimmer. Du kommst nach unten. Dann bist du nah am Badezimmer. Fanny geht zu dem Schlafzimmer. Julia folgt ihr. CINDY Ich kann mich nicht daran gewöhnen. CHRISTINA Ihr geht es besser, oder? CINDY Nein. Nicht wirklich. CHRISTINA War es doch die Kugel, wodurch sie verletzt wurde? CINDY Nein... Ich w a r bei ihr.

CHRISTINA Ich weiß. CINDY Ich dachte, die Kugel habe sie verletzt, aber nein. Wie kann man wissen, ob eine Kugel einen Menschen verletzt hat? CHRISTINA Cindy... wenn die Kugel trifft, gibt es eine Wunde. CINDY Der Jäger zielte... auf das Wild... und schoß. CHRISTINA

Der Jäger?

CINDY j a .

CHRISTINA War es nicht... ? Sie zeigt in Fannys Richtung. ClNDY Fanny? ... Nein. Sie war nicht dabei. Früher ging sie oft auf die Jagd, aber jetzt nicht mehr. Sie hat Mitleid mit den Tieren. CHRISTINA Und was ist passiert? CINDY Der Jäger schoß. Julia und das Wild fielen zu Boden. Das Wild starb. Julia war bewußtlos. Sie zuckte... wie das Wild. Es starb und

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sie nicht. Ich schrie um Hilfe. Der Jäger kam und untersuchte Julia. Ihre Stirn blutete. Er sagte: „Die Kugel hat sie nicht getroffen. Sie hat sich beim Fallen verletzt." Ich weiß, daß nicht er sie verwundet hat. Es war jemand anderes. Er ging dann Hilfe holen, und Julia begann zu phantasieren. Sie hatte sich die Wirbelsäule verletzt. Durch den Fall auf den Kopf hatte sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Jetzt hat sie, bedingt durch den Aufprall, manchmal Gedächtnisausfälle. Es liegt an einer Narbe im Gehirn. Man nennt es das Petit mal. Fanny erscheint in der Tür. CHRISTINA Was hat sie im Delirium gesagt?

CINDY Im Delirium? ... Daß sie verfolgt würde... Daß sie gefoltert würde... Daß sie verurteilt worden sei und der Schuß ihre Hinrichtung war. Daß sie sich schuldig bekannte, weil sie leben wollte... Daß man, wenn sie zu jemandem darüber spricht... sie wieder foltert und dann töten würde... Und ich habe es nie erzählt... niemandem... denn ich habe Angst, daß man ihr weh tut. CHRISTINA Wer? CINDY Ich weiß es nicht. CHRISTINA Das ergibt keinen Sinn, Cindy. CINDY Für mich macht es einen Sinn. Zu Fanny Hast du zugehört? FANNY ZU Cindy Wer hat sie verletzt? CINDY Ich weiß es nicht. FANNY ZU Christina Kanntest du sie schon? CHRISTINA Ich habe sie einmal kennengelernt, vor Jahren. FANNY Dann erinnerst du dich, wie sie war. Sie hatte vor nichts Angst. Hast du je einen Menschen wie sie gekannt? ... Sie wußte so viel... Sie war so jung und dennoch wußte sie so viel... Woher wußte sie das alles? Zu Cindy Hast du dich nie gewundert? Nun ja... ich habe noch immer nicht die Toilette überprüft. Kannst du das glauben? Ich habe sie immer noch nicht überprüft. Fanny geht nach oben. CHRISTINA Wann ist der Unfall passiert? CINDY Vor einem Jahr... etwas mehr als einem Jahr. CHRISTINA Hat sie Schmerzen? CINDY Ich glaube nicht. CHRISTINA ...Wie zerbrechlich wir sind... Findest du nicht?

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Man hört das Geräusch eines ankommenden Autos, einer Autotür, die geöffnet und wieder zugeschlagen wird, und eines Fensters, das geöffnet wird. Der folgende Dialog ist aus dem off zu hören. FANNY Emma! Was hast du denn an! Du siehst toll aus. EMMA Habe ich mir in der Türkei gekauft. FANNY Hallo, Paula, Sue. PAULA Hallo.

SUE Hallo.

Cindy geht hinaus, um sie zu begrüßen. Julia kommt in ihrem Rollstuhl in den Wohnraum und wartet auf die anderen. Der folgende Dialog kommt immer noch aus dem off. FANNY Ich komme sofort runter! Hört mal, meine Toilette funktioniert! EMMA Stefanie, meine auch! FANNY Mach keine Witze EMMA Komm schon runter. Emma, Sue und Paula kommen durch die Diele herein. Fanny kommt die Treppe herunter. Emma und Fanny umarmen sich. FANNY Wie geht es dir? EMMA Gut... gut... gut... Immer noch in der Umarmung mit Fanny sieht sie Julia Julia! Sie läuft zu Julia und setzt sich auf ihren Schoß. FANNY E m m a ! JULIA Es geht schon!

EMMA Mach eine Rundfahrt mit mir. Julia fährt mit ihr auf dem Stuhl einmal im Kreis. Emma winkt den anderen zu Hallo, Cindy, Paula, Sue, Fanny. Die anderen grüßen zurück. JULIA Kennst du Christina? EMMA Sehr erfreut. CHRISTINA Sehr erfreut. EMMA zeigtauf ihre Freundinnen Sue... Paula... SUE Hallo. PAULA Hallo. CHRISTINA Hallo.

PAULA zu Fanny Dein Vortrag am Gymnasium hat mir gut gefallen. FANNY Erinnere mich nicht daran. Ich war furchtbar schlecht. Kommt mit, ich werde euch die Zimmer zeigen. Sie geht zur Treppe. PAULA Fanny, ich fand den Vortrag sehr interessant.

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EMMA Wann war er? Über welches Thema? FANNY Luftfahrt.

PAULA ES ging nicht um Luftfahrt. Es ging um Voltairine de Cleyre. JULIA Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich gekommen. FANNY ES war nicht von Bedeutung. JULIA Ich wäre gekommen. FANNY ES war wirklich ohne Bedeutung. EMMA Jetzt mußt du Julia und mir von Voltairine de Cleyre erzählen. FANNY Ihr wißt doch alles über Voltairine de Cleyre. EMMA Ich weiß gar nichts über Voltairine de Cleyre. FANNY Ich erzähle es euch beim Mittagessen. EMMA Ich habe schon gegessen. JULIA Du kannst zuhören, während wir essen. EMMA Gut, wann beginnen wir mit dem Meeting? FANNY Nach dem Mittagessen. Zuerst essen wir und dann machen wir das Meeting. Wer hat Hunger? Der folgende Dialog wird fast gleichzeitig gesprochen.

CINDY Ich. JULIA Eigentlich habe ich keinen Hunger. CHRISTINA Ich könnte jetzt schon etwas essen. PAULA Ja, ich.

SUE Ich würde lieber noch warten. EMMA Ich nehme nur einen Kaffee. FANNY ... Gut... Nachher stimmen wir ab. CINDY Was steht heute auf dem Programm? FANNY Zunächst müssen wir entscheiden, was das Hauptthema des Vortrags sein wird. Dann, wer jeweils die einzelnen Punkte des Themas übernehmen soll. Auf diese Weise vermeiden wir, etwas doppelt zu sagen. Danach proben wir und bestimmen die Reihenfolge, in der wir vortragen werden und wieviel Zeit die gesamte Präsentation brauchen wird. EMMA Wir müssen in Kostümen proben... in den Farben, die jede von uns tragen wird. Das ist sehr wichtig. Habt ihr euch schon überlegt, was ihr anziehen werdet? PAULA Ich weiß es noch nicht. Welche Farbe sollte ich deiner Meinung nach tragen? EMMA Rot.

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PAULA Rot? EMMA Kirschfarben oder Weiß. SUE Und ich? EMMA Dunkelgrün. CINDY Die Schatzmeisterin muß Grün tragen. EMMA Außerdem steht es ihr gut. SUE Wir müssen entscheiden, in welcher Reihenfolge wir vortragen werden. EMMA Ja. Die Reihenfolge orientiert sich an den Farben der Kleidung, wie sie im Regenbogen erscheinen. Wer möchte noch seine Farbe wissen? Cindy und Julia heben die Hand. Zu Cindy Für dich Lila. Zu Julia Purpur. Fanny hebt die Hand Für dich alles Gold Persiens. FANNY In Persien gibt es kein Gold. EMMA Aber in Peru. Ich habe mein Kostüm mitgebracht. Ich werde es nachher anziehen. FANNY Ist es nicht das, was du trägst? EMMA Nein, das ist nur ein Kleid. Mein Kostüm ist... dramatisch. Mehr sage ich nicht. Ihr werdet sehen. SUE Ich dachte nicht, daß wir Theater spielen. EMMA Das Leben ist Theater. Das Theater ist Leben. Wenn wir über das Leben reden wollen... wohin das Leben führen kann, dann müssen wir Theater spielen. SUE Wollt ihr etwa, daß ich schauspielere. EMMA Das ist nicht Schauspielern. Es ist Sein. Sich mit der Kraft des Geistes hingeben. Es ist Einatmen. Ausatmen. Atmen. JULIA Ich werde einen Tanz vorführen. EMMA Ich mache dir die Choreographie. JULIA Im Sitzen? EMMA Auf einer Chaiselongue. JULIA Einverstanden. Emma atmet tief durch und geht in den Garten hinaus. EMMA Philipp! Wie geht's? Hallo! Hallo, John! Was? Ich werde für Julia einen Tanz machen! FANNY Die sehen wir nicht so schnell wieder. Kommt mit. Fanny, Paula und Sue gehen nach oben. Julia fährt zu dem Gewehr, nimmt es und riecht an dem Gewehrlauf. Sie schaut Cindy an. CINDY Es war nur Pulver, ohne Geschoß. JULIA nimmt die Patronenhülse aus dem Gewehr. Sie tut sich selbst weh.

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Julia fällt in Trance und läßt die Patronenhülse auf den Boden fallen. Cindy hebt sie auf und beobachtet Julia. ClNDY Julia... Zu Christina Sie hört uns nicht. CHRISTINA Was sollen wir machen? CINDY Nichts, sie kommt gleich wieder zu sich. Sie nimmt Julia das Gewehr aus den Händen. Julia kommt zu sich. JULIA Eine leere Patronenhülse... Es steckte kein Geschoß drin. CINDY Ja. JULIA Sie tut sich selbst weh. Julia stößt einen Klagelaut aus. Sie wendet sich zum Tisch, nimmt ein Stück Schokolade, schiebt es sich in den Mund und fährt weiter zu ihrem Zimmer. Bevor sie hinausfährt, hält sie an. Ich muß mich eine Weile hinlegen. CINDY Ruf uns, wenn du etwas brauchst... JULIA Ja. Sie fährt hinaus. CINDY versucht, die Patronenhülse wieder in das Gewehr zu stecken Weißt du, wie man das macht? CHRISTINA Natürlich nicht. Cindy gelingt es, die Patronenhülse wieder in das Gewehr zu stecken. Celia tritt auf die Türschwelle. CELIA Ich bin Celia Johnson. Bin ich hier richtig? CINDY Ja. Cindy klappt das Gewehr zu. Das Licht wird dunkler. Es bleibt nur ein Lichtkegel über Celia. Das Licht geht aus. Zweiter Teil Am Nachmittag im Wohnraum. Paula sitzt auf dem Sofa. Sie schreibt in ein Heft. Dann stützt sie in der typischen Denkerhaltung den Bleistift an ihre Wange. Sie schreibt wieder eine Weile. Danach schaut sie konzentriert auf den Boden und denkt noch einmal nach. Sie schreibt wieder. Sue kommt herein. Sie trägt eine Küchenschürze, setzt sich hin. SUE Die Suppe ist fast fertig. Paula schaut Sue an und lächelt in Gedanken an das, was sie schreibt. Dann schreibt sie wieder für eine Weile. PAULA Ich hab's. SUE Was? PAULA Ein Liebesabenteuer dauert sieben Jahre und drei Monate. SUE Wieso?

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PAULA liest: Drei Monate Liebe. Ein Jahr sagt man sich: „Es ist alles in Ordnung. Das Problem geht vorüber." Ein Jahr versucht man herauszufinden, was eigentlich das Problem war. Zwei Jahre lang weiß man, daß das Ende gekommen ist. Ein Jahr, um die richtige Art und Weise zu finden, die Beziehung abzubrechen. Nach der Trennung zwei Jahre, um zu verstehen, worin der Grund für die Trennung lag. Macht sieben Jahre und drei Monate. Denkt nach Jeden Augenblick kann eine neue Beziehung anfangen. Die neue Beziehung, die sich genauso entwickelt wie die alte, drängt diese an die zweite Stelle. Und so entwickeln sich beiden gleichzeitig, auch wenn eine schon weiter fortgeschritten ist als die andere. Sue tritt zu Paula und sieht auf das Papier, auf das Paula geschrieben hat. SUE Du hast es wirklich zusammengerechnet. PAULA Natürlich. SUE Hm... PAULA zu sich selbst Wenn eine neue Beziehung beginnt, kann es sein, daß du nicht merkst, daß der Prozeß der vorherigen weiterläuft. In dem Moment, in dem du versuchst, die Probleme der neuen Beziehung zu verstehen, bemerkst du jedoch, daß der Prozeß der vorherigen noch nicht abgeschlossen ist. SUE Und wie löst du das Problem? PAULA Durch Enthaltsamkeit? SUE tippt mit ihrem Finger auf Paulas Stirn Enthaltsamkeit ist keine Lösung. PAULA DU hast Recht. Sue geht hinaus. Paula schreibt weiter. Einen Augenblick später kommt Sue mit einem Tablett zurück, auf dem ein Behälter mit Eiswürfeln steht, in denen Stiele stecken. SUE Was ist das? Paula schüttelt den Kopf. Nachtisch? Paula hebt die Schultern. Sue nimmt einen Eiswürfel am Stiel heraus und legt ihn sich auf die Stirn. Gegen Kopfschmerzen. Sie nimmt einen zweiten Würfel in die andere Hand und bewegt ihre Arme wie beim Judo. Kampf der Eskimos. Sie steckt sich einen der Würfel hinter das Ohr. Gehirnkühlung. Für den Fall, daß du zu viel denkst. Du solltest es ausprobieren. Sie versucht, Paula den Eiswürfel hinter das Ohr zu stecken. Beide sind ausgelassen und lachen. Sue steckt sich den Stiel in den Mund und nimmt ihn nur zum Sprechen heraus. Für den Fall, daß du keusch bleiben willst.

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Niemand wird dich küssen wollen. Nimmt zur Demonstration den Stiel wieder in den Mund und zieht ihn dann wieder raus. Sehr geeignet fürs Zölibat. Wenn du sieben Jahre lang mit so etwas im Mund herumläufst, bist du in der Lage, in deinen Beziehungsphasen Ordnung zu halten. Du kannst die eine beenden, bevor du die zweite beginnst. Sie steckt den Eiswürfel wieder in den Behälter und betrachtet die zwei Stielreihen. Ein tiefgefrorener Tausendfüßler. Sie geht in die Küche. Paula schreibt. Emma kommt von hinten herein, schaut aus dem linken Fenster und spricht mit Fanny, die im Hof ist. EMMA Es sind Schläger da, aber ich habe keinen einzigen Tennisball gefunden. FANNY draußen Du hast keine Bälle gefunden? EMMA Nein. FANNY draußen Hast du Cindy gesehen? EMMA Nein. FANNY draußen Ich schaue mal, ob ich sie finde. Sie hat vorhin gespielt. EMMA Gut. Ruft nach draußen: Sue! SUE kommt herein Ja... EMMA Hast du Cindy gesehen? SUE Ich habe sie nicht gesehen. EMMA Hast du die Tennisbälle gesehen? SUE Ja. EMMA Wo denn? SUE In der Küche. EMMA nach draußen Fanny! FANY von weitem Was ist? EMMA Sie sind in der Küche! FANNY Wer? EMMA Die Bälle! Sind in der Küche! Ich hole sie! FANNY draußen Gut. EMMA Danke, Sue. SUE Nichts zu danken. Sie setzt sich. Emma geht nach hinten ab. Und was hast du noch über die Liebe auf Lager? PAULA Die Trennung findet in Teilen statt: das Gehirn, das Herz, der Körper, die gemeinsamen Dinge, die geteilten Dinge. Der Geist geht, doch das Herz bleibt. Das Herz geht, doch der Körper möchte

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bleiben. Der Körper ist gegangen, aber die Sachen stehen noch in der Wohnung. Du mußt noch einmal zurückkehren. Du hast alles aus der Wohnung herausgeholt, aber dein Geist ist dort geblieben. Die Erinnerung verweilt an dem Ort. Sieben Jahre später, vielleicht sieben Jahre später verflüchtigt sie sich. Vielleicht auch nicht. Vielleicht dauert sie an. Vielleicht vergeht sie nie. SUE Vielleicht. PAULA Vielleicht. SUE Etwas beschäftigt dich. PAULA ...Nein. SUE Ich bringe Julia die Suppe. PAULA Tu das. Sue geht in die Küche. Celia kommt vom Garten herein. Im Verlauf der folgenden Szene spricht Celia in einem herzlichen Ton, der aber gleichzeitig distanziert klingt. CELIA Kann ich hereinkommen? PAULA Ja... etwas nervös Sue bringt Julia gerade die Suppe. CELIA Ach so. PAULA Ich habe nicht gegessen. Ich hatte keinen Appetit. CELIA Ich habe es bemerkt. PAULA Möchtest du etwas trinken? CELIA Nein, danke. Pause Ich wollte dich eigentlich anrufen. PAULA Das macht nichts. Gar nichts. Ich weiß, daß du viel zu tun hast. CELIA Auf jeden Fall hätte ich dich angerufen, aber ich hatte einfach keine Zeit. PAULA Ist nicht schlimm. CELIA Ich wollte dich wiedersehen. Wir sollten nicht so viel Zeit vergehen lassen. PAULA ES hat keine Eile. Jetzt ist es viel leichter, uns zu treffen. CELIA Ja, ich freue mich, daß es jetzt geht. PAULA Ich habe viel über mein Leben nachgedacht, seit wir uns das letzte Mal sahen. Ich konnte nicht anders. Ich frage mich, ob du mich verändert findest. CELIA Nein, du bist wie immer. PAULA Als ich dich sah, fühlte ich mich klein in deiner Gegenwart... Ich war nicht fähig, das zu tun, was ich gern getan hätte. Unsere Leben sind getrennte Wege gegangen. Ich habe viel Zeit damit vertan,

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darüber nachzudenken, was uns getrennt hat... Ich habe hin und her überlegt, was uns dazu gebracht hat, uns zu trennen. Und danach... was habe ich aus meinem Leben gemacht? Ich habe mich aufgegeben... hatte keine Lust zu nichts. Du hast mich verlassen. Ich habe weitergemacht. Aber nach einer Weile verließ mich meine Energie. Ich war da, um mit dir zu sein. Um dir Lust zu bringen. Um mit dir zu lachen, mit dir glücklich zu sein. Der Welt etwas Schönes zu geben. Jetzt sind wir uns fremd. Wir behandeln einander mit Vorsicht. Ich spreche mit dir, und du verstehst meine Worte nicht. Aber ich... ich erinnere mich an alle unsere gemeinsamen Tage. Celia will Paula antworten. Sue schaut durch das Fenster. SUE Wollt ihr mitspielen? PAULA Ja. Zu Celia Verzeih mir... Ich mache dir keine Vorwürfe. Wollen wir Tennis spielen? CELIA Nein, danke. Ich gehe einen Moment nach oben Pause Ich habe dich auch vermißt. Sie geht die Treppe hinauf. Paula bleibt einen Moment stehen, geht dann in den Garten. Sue entfernt sich vom Fenster. Fanny und Emma kommen durch die Halle herein. Beide tragen eine große Kiste mit Pflanzen und Gemüse. Fanny trägt einen Strohhut und Gartenhandschuhe. EMMA Denkst du nicht ständig an Geschlechtsteile? FANNY lächelnd Ich, an Geschlechtsteile? Nein, ich denke nicht ständig an Geschlechtsteile. EMMA Ich wohl, und es macht mich verrückt. Emma geht in die Küche. Fanny stellt ihre Kiste auf den Boden. Sie setzt sich hin, nimmt ihren Hut ab und zieht die Handschuhe aus. Emma kommt ohne die Kiste zurück. Bei jedem Menschen, den ich auf der Straße sehe, egal wo, denke ich immer an seine Geschlechtsteile. Wie sie sind, ob sie so oder so sind? Ich finde den Gedanken merkwürdig, daß jeder welche hat. Findest du nicht? FANNY Nein, das finde ich nicht. Ich fände es viel merkwürdiger, wenn jemand keine hätte. EMMA lächelt Ich will sagen, die Leute tun so, als hätten sie keine. FANNY Und wie verhalten sich die Leute, die welche haben? EMMA Wenn Geschäftsmänner und Geschäftsfrauen sich treffen, um irgendeine Angelegenheit zu besprechen, verhalten sie sich wie

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Leute, die keine haben. Aber alle haben welche, sie tun nur so, als hätten sie keine. FANNY Verstehe. Sie hebt die Augenbrauen und verdreht die Augen und lächelt Sollten sie das immer so machen? EMMA lacht Nein, das ist es nicht. Denk doch mal nach. Hab ich nicht Recht? FANNY Ja, ich glaube, du hast Recht. Oh Emma, Emma, Emma, Emma. EMMA So heiße ich. Siehst du? Es wird immer angenommen, daß wir in den Himmel kommen, wenn wir gut sind. Wer böse ist, fährt zur Hölle. Das ist richtig, aber im Himmel wird Güte nicht so bewertet wie auf Erden. Nein. Dort wird eine göttliche Kartei über das Sexualverhalten geführt. In dieser Kartei werden alle sexuellen Aktivitäten vermerkt, so gering sie auch sein mögen. Wenn du nicht deinen ganzen Glauben, dein ganzes Streben hineingibst; wenn du es tust, als sei es eine Pflicht und nicht die tiefste Hingabe spürst; wenn du nicht deinen Geist, dein Herz und dein Fleisch in Ehrfurcht hingibst, dann wirst du verdammt. Du kommst auf die schwarze Liste und nicht in den Himmel. Der Himmel ist voll von göttlichen Liebhabern. Und in der Hölle sitzen die erbärmlichen Liebhaber. FANNY Das stimmt. EMMA Ich wußte, daß du mir Recht geben würdest. FANNY Ja, sicher, sicher. Auf Erden werden wir nach unseren öffentlichen Taten beurteilt. Und Sex ist ein privater Akt. Der Partner gehört nicht zur Öffentlichkeit, denn auch er ist beteiligt. Daher ist es nur natürlich, daß Engel unser Sexualleben bewerten. EMMA Natürlich. Pause FANNY DU machst mich immer fröhlich. EMMA Danke. FANNY Ich danke dir. Man hört von draußen, daß Tennis gespielt wird. Fanny geht zum Fenster und schaut hinaus. PAULA aus dem off Fanny! Komm, spiel mit! FANNY Ja, gleich... Sie schaut noch eine Weile nach draußen. In ihrem Blick liegt etwas Trauriges. Emma setzt sich auf den rechten Stuhl und beobachtet sie. Fanny geht zur Kiste. Emma kommt ihr zuvor und hebt sie hoch. EMMA Ich trage sie. Ruh dich aus. Sie geht mit der Kiste hinaus.

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Fanny schaut dem Spiel draußen zu. Einen Augenblick später kommt Emma wieder herein und beobachtet Fanny einen Moment lang. Sie ist besorgt um sie. Fanny dreht sich ihr zu. FANNY K o m m , wir sehen uns das Spiel an. EMMA Geh du. Ich bleibe noch ein bißchen hier. Fanny geht hinaus. Emma verweilt einen Augenblick sehr nachdenklich. Dann nimmt sie Fannys Hut und Handschuhe und setzt sich neben die Tür zur Linken. Man hört immer noch das Geräusch des Tennisspiels und das Gelächter von draußen. Emma setzt den Hut und die Handschuhe auf die Stehlampe. Die Finger der Handschuhe zeigen nach oben, sie sehen aus wie geöffnete Hände. EMMA rezitiert für das Standbild von Fanny folgendes Shakespeare-Sonett. Nicht in die Sterne richtet sich mein Blick, doch sieht voraus er Künftiges gewiß wenngleich nicht gutes oder böses Glück, nicht Pestilenz und Sonnenfinsternis. Ich kann nicht sagen auf den Tag genau, wann Regen, Blitz und Donner unterbleibt. Wann die Regierung d u m m ist oder schlau, les ich aus nichts, was Himmels Hand beschreibt. Aus deinen Augen les ich, was ich weiß, in diesen Sternen seh ich, was ich sag: aus Treue wie aus Schönheit wird Beweis erst, wenn sich Schönheit treu vollenden mag: Vollende sie, sonst m u ß ich prophezein: Mit dir wird Treu und Schönheit sterblich sein! 1 Cindy und Christina kommen herein. Christina hat ein Französischbuch in der Hand, Cindy eine Zeitschrift. Cindy schaut aus dem Fenster. FANNY draußen Cindy, hast du Christina gefunden? CINDY Ja, sie hatte sich hingelegt. FANNY draußen Wir haben sie ermüdet. CHRISTINA lacht Die Reise hat mich ermüdet. FANNY draußen Spielt ihr nicht mit? CINDY Gleich. FANNY draußen Emma, kommst du nicht?

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EMMA Ich komme! Sie geht hinaus. Cindy und Christina setzen sich hin. CHRISTINA liest Êtes-vous externe ou demi-pensionnaire? La cuisine de votre cantine est-elle bonne, passable ou mauvaise? Sie liest leise weiter. CINDY liest in der Zeitschrift Eine Frau im Urwald hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, weil er ein Wolf war. CHRISTINA lacht Mein Gott. Liest Est-ce que votre professeur interroge souvent les élèves? Liest einen Moment lang leise. CINDY Warum muß man das Wasser laufen lassen, wenn man es nicht trinken will? CHRISTINA Weil es trüb wird, wenn du es nicht laufen läßt. CINDY Es macht doch nichts, daß es trüb wird, wenn du es nicht trinken willst. CHRISTINA Nun, es zieht die Fliegen an. Sie lachen. CINDY Gefällt es dir hier? CHRISTINA Ja. Ich freue mich, daß ich gekommen bin. CINDY Gefallen dir die anderen? CHRISTINA Ja. CINDY Magst du Fanny? CHRISTINA Ja... Sie verwirrt mich ein wenig. Ich versuche, ehrlich zu sein... und ich weiß nicht, ob sie es ist. Ich will damit nicht sagen, daß sie nicht sagt, was sie denkt. Ich weiß, daß sie es tut. Ich meine eine Art von Integrität. Ich weiß, daß sie integer ist, aber ich weiß nicht, wie konsequent sie mit dem Leben ist... mit dem, was größer ist, als das Sein... Ich meine nicht das Leben. Es sind eher Konventionen. Ich glaube, sie ist nicht konsequent... sie beachtet unsere Konventionen nicht. Ich glaube, sie ist in gewisser Weise eine Abenteurerin. Sie liebt Abenteuer und Risiko. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, nicht ehrlich zu sein, aber im Abenteuer muß man sich dem Zufall ausliefern und Risiken eingehen, und man muß die Konsequenzen tragen... weniger Respekt vor den Dingen haben, als wir anderen... glaube ich. Ich nehme an, ich bin im Grunde angepaßt. Und ich nehme an, daß ich mich manchmal zurückhalte, aus Angst jemandem zu nahe zu treten oder etwas kaputt zu machen, das die Konventionen vorschreiben. Ich bewundere Menschen, die unkon-

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ventionell sind, aber gleichzeitig fühle ich mich in ihrer Gegenwart in Gefahr. Ich glaube nicht, daß sie eine Gefahr für die Welt sind: ich glaube, sie sind viel wertvoller als ich. Wichtiger. Aber ich fühle auch, daß etwas in mir durch ihre Art in Gefahr gerät. Verstehst du? ClNDY Ja, ich verstehe. CHRISTINA Ich glaube, ich bin stolz, und mir gefällt der Gedanke nicht, daß ich Dinge schätze, die ohne Wert sind. Pause Ja. Sie gefällt mir gut. Sie lesen eine Weile. ClNDY Letzte Nacht hatte ich einen Traum. CHRISTINA Was hast du geträumt? ClNDY Es war ein Alptraum. CHRISTINA

W a s war es?

ClNDY Ich war auf einer Party. Dort war ein junger Arzt, der mich behandelt hatte. Wir tanzten alle im Kreis, und er stellte sich vor und sagte, er habe mit Mike über mich gesprochen, aber alles sei in Ordnung, er habe es so dargestellt, daß alles in Ordnung sei. Ich verstand weder, warum das Mike etwas angehen sollte, noch warum er mit ihm gesprochen hatte. Dann setzten sich plötzlich alle auf den Boden und taten so, als hätten sie Gesangsunterricht, einer übte Italienisch. Der Gesanglehrer wurde von zwei Geheimpolizisten geprüft. Er sollte mit jemandem, den sie mitgebracht hatten, eine Stimmprobe machen, und es sah so aus, als könnte er es nicht. Da legte ihm einer der Polizisten die Hände auf die Stimmbänder und beförderte ihn mit einem Fußtritt vor die Tür. Dann umfaßte er mich von hinten und legte seine Daumen auf meine Kehle, während er mit den kleinen Fingern meine Brüste berührte. Dann schubste er mich durch die Tür. Dann begann der junge Arzt, mich zu beschimpfen. Er bewegte seinen Mund wie ein Pferdemaul. Ich stand auf einem Balkon mit einem Geländer und sagte ihm: „Seien Sie still, und hören Sie mir zu!" Das sagte ich ihm mit soviel Nachdruck, daß er aufhörte und schwieg. Alle drehten sich bewundernd zu mir um, weil ich ihn zum Schweigen gebracht hatte. Dann sagte ich zu ihm: „Beherrschen Sie sich." Ich wollte eigentlich sagen: „Respektieren Sie mich." Ich war nicht sicher, ob ich das, was aus meinem Mund kam, auch sagen wollte. Ich drehte mich zu meiner Schwester um und wollte sie fragen. Der junge Arzt krümmte sich

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und zitterte vor irrsinniger Wut. Ein anderer Mann riet mir zu fliehen, bevor der junge Mann versuchen würde, mich umzubringen. Meg und ich rannten die Treppe hinunter. Sie fragte mich, ob ich mit zu ihr kommen wollte. Wir stiegen schnell in ein Taxi, doch bevor das Taxi schnell genug fuhr, rannte er aus dem Haus auf das Taxi zu und wollte gerade die Tür aufreißen, als ich aufwachte. CHRISTINA Was für ein Traum! ClNDY Was glaubst du, hat er zu bedeuten? CHRISTINA Daß du zu einem anderen Arzt gehen solltest. ClNDY lachend Es war nicht wirklich mein Arzt. CHRISTINA Da bin ich aber froh. Nimmt ihre Lektüre wieder auf. Fanny kommt mit Gläsern und einer Karaffe Limonade aus der Küche. SUE draußen Der war im Aus. Fanny geht zum Fenster. EMMA draußen Bist du sicher? SUE draußen Ja. EMMA draußen Ich dachte, er sei drin gewesen. SUE draußen Nein, er war aus. EMMA draußen Bist du sicher? SUE draußen Ja. EMMA draußen Spiel weiter. FANNY Möchte jemand Limonade? CHRISTINA Ja, gern. Fanny stellt die Gläser auf den Tisch, schenkt ein. Christina tritt zu ihr. FANNY Und du, Cindy? ClNDY Ja. Fanny füllt ein weiteres Glas und schaut zum Fenster hinaus. FANNY Wer möchte Limonade? EMMA draußen Ich, bitte. FANNY Komm her. Emma kommt herein. EMMA Puh, ist das eine Hitze. Sie nimmt ein Glas Limonade Danke. Sie setzt sich Ich trinke einen Schluck und dann gehe ich wieder raus. SUE draußen Emma, spielst du weiter, oder nicht? EMMA nach draußen Ja. Ich komme sofort. Sie geht zur Treppe Ich komme gleich wieder runter.

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Alle außer Fanny gehen hinaus. Sie steht traurig da, wie in einem Vakuum. Kurz darauf kommt Emma herein. Sie bemerkt, daß Fanny bedrückt ist, tritt zu ihr. Fanny bleibt einen Moment mit gesenktem Blick stehen. Dann sieht sie Emma an. FANNY Ich war sehr bedrückt. Eine seltsame Beklemmung. Ich glaube, w e n n ich diesem Gefühl nachgebe, könnte ich mich von diesem Übel nicht m e h r befreien... könnte ich mich davon nicht m e h r erholen. Es ist kein körperlicher Schmerz... Es ist nicht Traurigkeit... Es ist etwas Merkwürdiges, Emma, das ich nicht beschreiben kann... Es macht mir große Angst... Es ist, als gäbe es im Körper einen Schmierstoff... nicht im Körper... im Geist... und ohne ihn wird das Leben z u m Alptraum, und alles wird verzerrt. Kurze Pause Ein schwarzer Kater kam eines Tages in meine Küche... ein großer, übel zugerichteter Kater. Ihm fehlte ein Auge... er war räudig. Anfangs ekelte es mich vor ihm, aber dann dachte ich: „Dies ist ein Monstrum, das mir geschickt wurde, und ich m u ß es füttern." Und ich gab ihm Futter. Einmal hatte er in der Küche Durchfall. Stinkenden Durchfall. Er kommt immer noch... und ich füttere ihn immer noch. Ich habe Angst vor ihm. Emma gibt ihr einen Kuß auf die Wange. Fanny lächelt traurig Ich gehe ein bißchen nach oben. Geh wieder spielen. Es geht mir besser, mach dir keine Sorgen. Sie geht zur Treppe. Emma sieh ihr nach. Fanny dreht sich um und lächelt. Emma geht in den Garten, während das Licht schwächer wird. Ein Augenblick vergeht. Julia kommt langsam in ihrem Rollstuhl herein. Ihr Kopf hängt herunter. Sie fährt zum Sofa. Sie ruht einen Moment aus. Dann stützt sie sich auf die Armlehnen und hebt ihren Körper in das Sofa. Mit ihren Händen hebt sie ihre Beine auf das Sofa und legt sich hin. Sie deckt sich mit dem Plaid zu. Ihr Körper wird steif, ihr Blick starr und sie redet so schnell, als sei sie in Trance. Das Licht wird wieder heller. JULIA Sie schlugen mich. Brachen mir den Schädel. Brachen meinen Willen. Brachen meine Hände. Rissen mir die Augen aus. N a h m e n mir die Stimme. Meinem Herzen taten sie nichts, denn ich trug es nicht bei mir. Sie schlugen mich wieder, doch mein Kopf zersprang nicht in Stücke. Weil sie so gütig waren und Mitleid mit mir hatten. Die Richter. Kennst du die Richter nicht? Ich habe mich gut betragen. Nie hörte ich auf zu lächeln. Ich lächelte allen zu. Wenn ich aufhörte zu lächeln, schlugen sie mich, nur zu meinem Besten. Sie

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sagten, daß sie mich liebten. Ich spielte mit, denn wenn nicht... Sie läßt ihren Zeigefinger über ihren Hals gleiten, als würde ihr die Kehle durchgeschnitten und ahmt das Geräusch nach, von dem diese Geste begleitet wird. Ich sagte ihnen, daß die stinkenden Körperteile die wichtigsten sind: Der Anus, die Genitalien, der Mund, die Achselhöhlen. Alles wichtige Körperteile mit Ausnahme der Achseln. Und wer weiß, vielleicht sind die Achseln auch wichtig. Das sagte ich ihnen. Ihre Stimme wird feierlich und streng, wenn sie die Stimme der Richter nachmacht. Er sagte, daß alle diese Teile sauber und unter Verschluß gehalten werden müssen. Daß die Eingeweide der Frauen in dieser Welt am schwersten wiegen, und daß eine rennende Frau einen albernen und unschicklichen Eindruck hinterläßt. Unästhetisch. Darum sollte eine Frau nicht rennen. Sie sollte sich in einer Weise bewegen, die das Gewicht ihrer Eingeweide berücksichtigt. Nur so sei sie eine ästhetische Erscheinung. Er sagte: „Zum Beispiel die Maja von Goya." Er sagte, die Frauen von Rubens sind nicht ästhetisch. Fleisch. Er sagte, das Hinterteil der Frauen muß immer auf einem Kissen ruhen, sonst ist es abstoßend. Er sagte, es gibt Ausnahmen. Ballettänzerinnen sind eine Ausnahme. Sie können ihre Beine heben, weil sie keine Eingeweide haben. Isadora Duncan hatte Eingeweide und hätte aus diesem Grund nicht tanzen dürfen. Aber sie tanzte und wurde deshalb verrückt. Sie kehrt zu ihrer eigenen Stimme zurück. Sie war nicht verrückt. Sie hält sich unvermittelt die Hand vor das Gesicht, als wollte sie sich vor einem Schlag schützen. Sie war verrückt! Er sagte, man muß mich bestrafen, weil ich zu schlau werde. Ich bin nicht schlau. Ich bin es nie gewesen. Auch Fanny ist nicht schlau. Sie haben ein Auge auf sie geworfen. Auch auf sie. Sie kann noch laufen! Sie schützt sich vor einem Schlag und schließt die Augen. Warte. Ich werde mein Gebet sprechen. Ich bete ja schon. Sie murmelt vor sich hin, als würde sie beten. Danach öffnete sie vorsichtig die Augen. Sie spricht zum Publikum. Du glaubst doch nicht, daß ich mit denen streiten werde. Zu sich selbst. Ich habe Buße getan. Ich habe ihnen genau das gesagt, was sie hören wollten. Sie haben mich getötet. Ich bin gestorben. Der Schuß hat mich nicht getroffen. Er traf das Wild. Doch ich bin gestorben. Das Tier nicht. Also habe ich Buße getan, und das Wild starb, und ich lebe. Sie sagten mit ernster Stimme. „Lebe, aber verkrüppelt. Und wenn du

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redest..." Sie wiederholt die Geste des Durchschneidens der Kehle. Warum mußt du Fanny töten? Sie macht doch nur Spaß... mit ernster Stimme Nicht töten, heilen. Mt ihrer eigenen Stimme Du wirst ihr doch nicht weh tun? Wimmert Oh, Liebste, Liebste, meine Liebste, meine Liebste sie wollen dein Licht. Dein Licht, meine Liebste. Dein kostbares Licht. Oh, meine Liebste, meine Liebste. Sie bewegt abrupt den Kopf, als würde sie heftig geschlagen. Nicht weinen. Ich werde mein Gebet sprechen. Ich werde es sprechen. Sofort. Hier. Sie setzt sich mechanisch hin, wie von einer unsichtbaren Kraft angetrieben; sie rezitiert mechanisch. „Der Mensch ist männlichen Geschlechts. In seiner Kindheit ist er ein Junge, dann wird er zum Mann. Alles auf der Welt ist für ihn - den Mann. Um ihn zu nähren. Auf der Welt gibt es unheilbringende und schädliche Dinge. Auch diese Dinge sind für ihn. Damit er gegen sie kämpft und sie beherrscht und sie in heilbringende Dinge verwandelt, damit auch sie ihn nähren. Es gibt bösartige Pflanzen, bösartige Tiere, bösartige Mineralien. Und die Frau ist bösartig. Sie ist kein menschliches Wesen. Sie ist: 1. ein Rätsel, 2 eine andere Art, 3. bisher nicht identifiziert, 4. unberechenbar. Daher bösartig und sanftmütig, verderbt und freundlich, das heißt, sie ist schlecht. Wenn ein Mann etwas Böses tut, verdient er Nachsicht, denn das Schlechte ist von außen an ihn herangetreten - ist in ihn eingedrungen - und ist zur Tat geworden. Die Frau bringt das Böse aus sich selbst hervor. Gott hat dem Mann die Frau zur Gefährtin gegeben. Der Ochse ist gut, doch gab Gott dem Mann nicht den Ochsen zum Gefährten. Das Schaf ist gut, doch gab Gott dem Mann nicht das Schaf zur Gefährtin. Die Gefährtin des Mannes ist die Frau. Und das ist das Kreuz, das er tragen muß. Die Sexualität des Mannes ist nicht geistiger Natur. Sein Geschlecht ist körperlich. Darum ist sein Geist rein. Der Geist der Frau ist geschlechtlich, und darum bleiben nach dem Geschlechtsakt ruchlose Gefühle in ihr, die ihren Geist nähren. Darum haben Frauen Schwierigkeiten, in die menschliche Welt zurückzukehren. Ihre sexuellen Gefühlen wirken bis in ihren Tod, und sie nehmen sie mit ins Jenseits, wo sie dem Himmel Verderben bringen. Dann werden sie in die Hölle verwiesen, wo sie vielleicht durch Leiden von diesen Gefühlen erlöst werden und ihnen gestattet wird, in Gestalt eines Mannes auf die Erde zurückzukehren. Sie bewegt ihren Kopf, als

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würde sie geschlagen. Schlag mich nicht. Ich habe doch mein Gebet gesprochen! Sie wird weniger heftig geschlagen. Ergeben Ja, ich glaube daran. Ja, ich glaube es. Stöhnt Sie sagen, wenn es mir gelingt, an das Gebet zu glauben, werde ich die Richter vergessen. Und wenn ich die Richter vergesse, werde ich an das Gebet glauben können. Sie behaupten, beides wird gleichzeitig geschehen. Daß alle Frauen es geschafft haben. Warum ich nicht? Warum kann ich es nicht? Sie schließt die Augen und ruht erschöpft. Kurz daraufkommt Sue mit einem Teller Suppe auf einem Tablett herein. SUE Julia, schläfst du? Kurze Pause JULIA Nein. SUE Ich bringe dir Suppe. JULIA Stell sie auf den Tisch, Sue, ich stehe gleich auf. SUE Stellt den Teller auf den Tisch. Soll ich dir helfen? JULIA Nein, es geht schon, danke, Sue. SUE im Hinausgehen Bist du okay? JULIA Ja. SUE Bis gleich. JULIA Danke, Sue. Sue geht hinaus. Julia schließt die Augen. Es wird langsam dunkler und wieder heller. Cindy, Emma, Sue und Paula kommen von links herein, Fanny kommt die Treppe herunter. Sie umringen Julia. SUE Julia, bist du okay? JULIA Ja, mir geht es gut. Das Licht geht aus. Dritter Teil Im Wohnzimmer. Einige Schauspielerinnen stehen am Klavier und spielen und singen das Lied „An Silvia"2 von Schubert. Danach gehen sie ab. Emma kommt herein. Sie überblickt den im Wohnraum vorhandenen Platz, betrachtet den Lichtreflex auf der Haut ihrer Arme und Hände und geht die Treppe hinauf, um sich fertigzumachen. Eine geringe Veränderung der Beleuchtung deutet daraufhin, daß die Zeit fortgeschritten ist. Celia, Sue, Emma, Julia, Paula, Cindy und Christina kommen aus dem Eßzimmer herein. CELIA Jeder hat sein eigenes System, Informationen aufzunehmen, sie abzuspeichern und darauf zu reagieren. Sie setzt sich in die Mitte des Sofas. Die anderen setzen sich um sie herum. Manchmal ist dieses Sy-

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stem derart aufnahmebereit, daß es reagiert, bevor wir überhaupt Notiz davon nehmen. Dieser Mangel ist meines Erachtens der Ursprung der Dummheit, wenn nicht des Wahnsinns; das Unvermögen zu erkennen, was eine Sache von der anderen unterscheidet, mit anderen Worten, sich nicht für die wahre Natur der Dinge zu interessieren. SUE Zum Beispiel... CELIA Zum Beispiel, eine Person schreit mich an. Ich mag es nicht, angeschrien zu werden. Die Person ist unverschämt. Eine andere Person, oder vielleicht auch dieselbe, schreit mich an, aber aus anderen Gründen. In diesem Fall ist der Zorn gerechtfertigt, irgendeine Beleidigung, ein Mißbrauch oder eine Verletzung hat ihn hervorgerufen. Das Individuum schreit aus gutem Grund. Dann unterscheidet sich das Schreien des Einen von dem des Anderen. Das Schreien an sich ist vielleicht gleich, aber die Situation ist anders. Das Wesen des Schreiens hat sich verändert. Manchmal ist nicht schreien weniger annehmbar als schreien. Aber zu oft bilden wir uns lieber ganz allgemein eine Meinung und kümmern uns nicht ums Detail. Es scheint so, als sei es für diejenigen, die das Interesse an den Dingen verloren haben, zu schwierig, Aufmerksamkeit für das Detail aufzubringen. SUE Wie kommt das? CELIA Vielleicht weil wir anfangen, die Dinge auf ganz persönliche Weise zu sehen, wenn wir sie genau betrachten, und daraus könnte ein Gefühl von Einsamkeit entstehen. Es könnte uns aus allgemeinen Meinungen und Erkenntnissen ausschließen. Und vielleicht ist Einsamkeit das, was wir im Leben am meisten fürchten. Manchmal opfern wir lieber unseren Verstand und ordnen uns den herrschenden Denkmustern unter, als uns abzusondern. SUE Genauso ist es. CELIA Wir können nicht in einem Vakuum leben. Wir müssen Teil einer Gemeinschaft sein, so klein diese auch sein mag. Sehr selbstsichere Menschen können mit einer geringen Anzahl Gleichgesinnter überleben. Aber das gilt nicht für die Mehrheit. Die braucht viele Mitmenschen, die ihre Ansichten und Gefühle teilen. Einige müssen sich mit einer ganzen Nation identifizieren können. Daher rührt das Erfolgsgefühl, das aufkommt, wenn man Teil einer Menge ist, die

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euphorisch „Ja" oder „Nein" brüllt. Doch je größer dieses Bedürfnis ist, desto geringer ist die Qualität der Wahrnehmung und der Gedanken. Der Hang zum Konformismus betäubt gewöhnlich die Sinne. Diese Haltung ist bequem, aber der Preis, den man dafür zahlt, ist zu hoch. Dies betrifft vor allem den Lehrer, der den jungen Schüler dazu anhalten soll, die Unterschiede in sich selbst und die Unterschiede in jedem einzelnen Menschen wahrzunehmen, den er kennenlernt und beobachtet. Es geht nicht darum, Fakten abzufragen. Dann würde alles Besondere in uns verkümmern. Und jeder Gedanke, der nicht in den Konsens paßt, würde vom Individuum selbst zensiert werden, bevor er überhaupt ins Bewußtsein gelangen kann... Der Kopf von Emma erscheint oben auf der Treppe. JULIA Genauso ist es. Meine Halluzinationen sind verrückt, sicher, aber ich wäre gern mit anderen zusammen, die ebenfalls Halluzinationen haben. Ich wüßte dann zwar auch in Gesellschaft, daß ich verrückt bin, aber ich würde mich nicht so isoliert fühlen. Ihr müßt wissen, die Halluzinationen sind real. Sie sind nicht wie Träume. Sie sind so wirklich wie alles, was ich hier sehe. Ich habe sogar darum gebeten, eingewiesen zu werden, um mit anderen Verrückten zusammen zu sein. Aber die Ärzte wollen es nicht. Sie können mir keine Diagnose stellen. Und dadurch fühle ich mich noch stärker isoliert. Eine Weile ist es still. Versteht ihr? Selbst jetzt ist es schwierig, weil ihr nicht wißt, was ihr sagen oder tun sollt. Wenn ich unter Menschen wäre, die Halluzinationen haben, würden sie sagen: „Oh ja, klar, es ist fürchterlich. Sie sind dumm. Sie sehen nichts." Sie bemerkt die Bestürzung der anderen So schrecklich ist es nun auch wieder nicht. Bestimmt nicht. Ich lache darüber. Sie sieht Emma oben auf der Treppe. Emma ist schon fertig. Laßt uns anfangen. Zu Fanny. Kommt schon! FANNY Fangen wir an. Sie beginnt, den Tisch zu verrücken. Die anderen helfen, die Möbel zur Seite zu schieben, um in der Mitte des Raums Platz zu schaffen. Emma bleibt auf der Treppe stehen. Fanny geht in die Mitte. Die anderen setzen sich vorn im Halbkreis auf den Boden und schauen in die Mitte. Celia setzt sich auf einen Stuhl zur Linken. Ich fange an, oder? CINDY Ja. FANNY Ich rede über die bedrückenden Zustände in der Grundschulpädagogik, usw... usw... über die Einzelheiten des Projekts... ich

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weiß, was ich sagen werde, möchte euch aber nicht damit langweilen, wir kennen es schon auswendig. Ich rede... rede... und rede... über dieses und jenes. Dann stelle ich Emma vor... Und nun kommt die außergewöhnliche Emma Blake! Applaus. Emma schüttelt den Kopf. Was denn? EMMA Paula ist zuerst dran. FANNY Ist die Reihenfolge wichtig? EMMA Natürlich ist die Reihenfolge wichtig. D r a m a t u r g i e . Es muß eine Entwicklung und einen Höhepunkt geben. Ich bin kostümiert. FANNY Ach so. Und nun, sehr verehrte Damen und Herren, wird Fräulein Paula Cori über „Die Funktion der Kunst im Lernprozeß" zu uns sprechen! Und ich erzähle den Zuhörern von deiner Arbeit am Gymnasium, in den kommunalen Zentren, von deinen Aufsätzen usw... Paula Cori! Die anderen applaudieren. Paula geht in die Mitte. PAULA Sehr geehrte Damen und Herren, ich und meine Kollegin, die Erzieherin Stephanie Beckmann... FANNY Ich bin keine Erzieherin. PAULA Was bist du dann? FANNY Wohltäterin... Pfadfinderin. PAULA Nun gut, ich und meine Mitpfadfinderin Stephanie Beckmann, blablabla und so weiter und so fort, und ich biete dem Publikum die Glanzstücke meiner Weisheit und Erfahrung und werde einen Aufsatz schreiben und ihn auswendig lernen. Und selbst, wenn ich ihn auswendig weiß, bin ich sicher, daß ich stottern werde und alles vergessen habe. EMMA Ich helfe dir bei der Vorbereitung. PAULA Nachdem mir allerdings unsere Kollegin Emma Blake zur Hilfe geeilt ist... Sie ahmt Emma nach, faltet die Hände und öffnet ihre Arme, während sie ihren Kopf beim Sprechen nach hinten streckt... werden meine Eingebungen in einer Symphonie der Eloquenz überschäumen. EMMA Atme ein... Paula atmet langsam ein... verbeuge dich. Paula macht eine schwungvolle Verbeugung. Die anderen applaudieren. PAULA kommt aus der Verbeugung hoch Ach, das hat mir gefallen. Sie setzt sich auf das Sofa.

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EMMA Sehr gut. Noch mehr Applaus. FANNY Und nun, meine Damen und Herren, die einzigartige und unvergleichliche, unsere vortreffliche und teure Emma Blake! Emma geht in die Mitte. Sie trägt ein langes Kleid, dessen Ärmel bis auf den Boden fallen. EMMA Der Prolog von „Die Wissenschaft der dramatischen Erziehung" von Emma Sheridan Fry. 3 Sie nimmt eine dramatische Pose ein und untermalt den Monolog mit schauspielerischen Gesten und raumgreifenden Bewegungen Die Umwelt klopft an die Pforten der Sinne. Eine Unzahl von Stimmen ruft uns Tag und Nacht... Wir antworten nicht. Alles um uns herum schreit gegen unsere Taubheit an, kämpft gegen unseren schwachen Willen, schlägt gegen unsere Mauern, sprüht unserer Blindheit Funken entgegen, versucht, durch jede Pore in uns einzudringen, bettelt, kämpft, beharrt. Sie schreit: „Wo bist du? Wo bist du?" Doch wir sind taub. Die Signale erreichen uns nicht. Die Gesellschaft schränkt uns ein, die Schule steckt uns in eine Zwangsjacke, die Zivilisation überschwemmt uns, Entbehrung laugt uns aus, Luxus verhätschelt uns. Der Göttliche Drang ist gebremst. Das Geflügelte Pferd scheut in seinem Lauf, und wir, mutlos, besiegt, steigen ab und flüchten uns in uns selbst. Die Tore schließen sich, die Göttliche Inbrunst ist im Innern gefangen. So nimmt die Gleichgültigkeit, die den Tod bedeutet, von uns Besitz. Die Umwelt, die die Tore verschlossen vorfindet, versucht, sie aufzubrechen. Sie wird abgewiesen und kommt über einen anderen Weg wieder. Sie wird festgehalten und streckt uns ihre Hände entgegen. Immer bemüht, zu uns zu gelangen. Nie gab es eine beharrlichere Bittstellerin als die Umwelt; Einlaß und Anerkennung fordernd, Zeichen gebend, um gesehen zu werden, schreiend, um gehört zu werden. Und zu allen Zeiten ziehen wir uns in uns selbst zurück, taub, stumm, blind, starr... Vielleicht bist du nicht taub... Vielleicht empfängst du die Signale. Vielleicht rührst du dich... Die Tore geben nach. Der Göttlidie Drang durchbricht die Taubheit unserer Sinne und öffnet den Weg für das Zusammentreffen mit der Herausforderung, öffnet Fenster, um zu sehen, Ohren, um zu hören. Die Umwelt schreit: „Wo bist du?", und das Innerste schlägt von innen gegen die Tür und schreit: „Hier bin ich", Gitterstäbe

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verbiegend, Schranken niederreißend, Türen aufbrechend. Ohren an die Spalten legend, eindringend und fordernd, daß die Tore der Sinne weit aufgerissen werden. Die Tore öffnen sich! Der Göttliche Drang steht auf der Schwelle und schwenkt die Fahne der Kühnheit. Ein gebieterischer Instinkt läßt uns wissen, daß „alles" unser ist und daß wir alles, was die Welt je gewußt hat oder eines Tages haben und wissen wird, rufen und einfordern werden. Ein Sinn für das universelle Leben entsteht aus unserem individuellen Leben. Wir stürzen uns mit unersättlichem Appetit auf das Bankett dieses Tisches, der uns alle ruft. Was sind wir? Eine Schöpfung des Bewußtseins Gottes, die nun langsam und schmerzhaft zu sich selbst findet. Was ist Persönlichkeit? Ein kleiner Teil von uns. Unser Ganzes ist jenseits dieses hungrigen Ausbruchs vor den Toren der Sinne. Was ist Zivilisation? Eine begrenzte Ordnung, in die die Ganzheit immer noch nicht eingetreten ist. Was ist die Umwelt? Unser Gefährte, unser wahrer Gefährte, der laut nach Vereinigung mit uns ruft. Wir werden uns mit ihm vereinen. Wir werden alles aufnehmen, alles lernen, alles hier kennen, um auf dieser großen Suche in die Ferne zu schweifen. Die Aufgabe des Jetzt ist nur ein Schritt hin zur Schöpfung des Ganzen. Suchen wir jetzt die Gesetze, die die wahren Kräfte des Lebens regieren, die wachsen, erschaffen und verändern können, wenn sie einmal freigesetzt sind. Laßt uns das schlafende Leben wecken. Laßt uns kühn den Stern unseres Vorsatzes ergreifen, laßt ihn uns tragen wie die Laterne unserer Bedürfnisse und laßt ihn die Dunkelheit unseres Konformismus erleuchten. Seht. Das Licht leuchtet. Emma steigt auf das Sofa und hält eine imaginäre Fackel empor Seht her. Es erleuchtet unseren Weg! Seht her! Laßt nicht zu, daß sein prächtiger Schein unbemerkt vorübergeht. Seht! Der Tag ist gekommen. Emma wirft sich auf das Sofa. Paula umarmt sie. Ach, es ist wunderschön. JULIA Wunderschön. Sie klatschen Beifall. ClNDY Noch einmal! Noch einmal! EMMA steht auf Die Umwelt klopft an die Pforten der Sinne. Sie lacht und setzt sich zu den anderen in den Halbkreis. Paula bleibt auf dem Sofa sitzen. Wer kommt jetzt an die Reihe? Wer ist dran?

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FANNY geht in die Mitte Ich stelle Celia vor. Ich glaube nicht, daß ich Celia vorstellen muß. Sie soll einfach nach Emma beginnen. Die Dinge bedürfen keiner Einführung mehr. Sie geht nach hinten und ahmt Emma nach... Sie passieren einfach. EMMA So ist es! CELIA geht in die Mitte Nun... es ist schwierig, nach einem Spektakel wie diesem aufzutreten. EMMA Äußerst schwierig. CELIA Gut. Ich sollte zuerst meinen Namen sagen. FANNY ja. CELIA A u c h ich sollte durchatmen. Sie atmet tief durch. Alle anderen, aufler Paula, beginnen „Celia"4 zu singen. Verwirrt geht sie rückwärts, bis sie gegen das Sofa stößt und sich neben Paula setzt. Ohne zu bemerken, daß es Paula ist, die neben ihr sitzt, legt sie ihre Hand auf Paulas Knie. Am Schluß des Liedes bemerkt Celia, wer neben ihr sitzt und steht auf. Ich sollte vor Emma auftreten. Ich denke, keiner sollte nach Emma sprechen. ClNDY Ja. Zuerst sollten Fanny, Paula, Cecilia, danach Emma und zuletzt Sue auftreten, die dann die Finanzsituation darlegt und um Spenden bittet. Und das Geld wird nur so fließen. Es wird gut. Alle applaudieren. Cindy geht aus der Mitte heraus und Sue nimmt ihren Platz ein. SUE Ja. Blablabla, blablabla, Schecks und Cash. Während die anderen applaudieren, vollführt Sue einige Ballettschritte und geht zu ihrem Platz. FANNY Wer möchte Kaffee? CINDY steht auf Und abwaschen. CHRISTINA steht auf Ich helfe mit. EMMA steht auf Ich auch. FANNY Geht doch nicht alle. Setzt euch. Setzt euch. Sie geht hinaus. Ihr habt schon genug getan. Ruht euch aus. Nachdem sie die Möbel wieder an ihren Platz gerückt haben, springen Emma und Sue mit Kriegsgeschrei über die Sofalehne. Christina und Paula verfolgen sie. Celia geht in den Garten. JULIA Ich sollte abwaschen. Ich habe noch gar nichts getan. ClNDY D u kannst morgen etwas tun. JULIA Das stimmt. Und wie ist es dir ergangen.

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C I N D Y Hmm... JULIA Laß mich dich anschauen... Ich weiß es, wenn ich dir in die Augen sehe. Nicht sonderlich schlecht. CINDY Nicht sonderlich schlecht. Aus der Küche ist Gelächter zu hören. Christina kommt herein gelaufen. CHRISTINA Sie machen eine Wasserschlacht, um zu entscheiden, wer abwäscht. CINDY Emma? CHRISTINA Und Paula und Sue, alle. Fanny hat sich gerade in die Schlacht geworfen. Celia ist durch die Hintertür verschwunden. Christina geht vorsichtig zur Küche. Sie hört die Geräusche aus der Küche, kommt schnell zurück, wirft sich auf das Sofa und versteckt sich unter der Decke. Emma kommt mit einem Topf voll Wasser herein. Sie ist klatschnaß. Cindy und Celia zeigen in den Garten. Emma läuft in den Garten. Es klopft an einer Tür. Das folgenden Gespräch findet statt, während Emma, Sue, Cindy und Julia die Wasserschlacht zwischen Wohnzimmer, Küche und Garten weiterführen und rein und raus laufen. Ihre Rufe und ihr Gelächter können gelegentlich den folgenden Dialog übertönen. PAULA Mach auf! FANNY Hier ist niemand. PAULA Mach auf, du Feigling. FANNY Ich kann nicht. Ich bin beschäftigt. PAULA Was machst du? FANNY Ich habe einen Mann bei mir. PAULA Okay, ich warte. Du brauchst dich nicht zu beeilen. F A N N Y E S wird aber ziemlich lange dauern. PAULA Das macht nichts. Ich warte. FANNY Tu mir einen Gefallen. PAULA Gern. Mach auf, und ich tue dir den Gefallen. Man hört den Lärm eines fallenden Topfes und einer Tür, die zugeschlagen wird. FANNY Füll ihn für mich mit Wasser. PAULA Mach ich. FANNY Danke. PAULA Hier ist er. Mach auf. FANNY Stell ihn auf den Boden. Ich komme gleich raus. PAULA Ist gut. Hier ist er. Ich gehe jetzt. Sie kommt mit einem vollen Topf die Treppe herunter. Emma versteckt sich am Fuß der Treppe und spritzt

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Paula mit Wasser naß. Paula bespritzt Emma mit Wasser. Sue kommt mit einem Topf voller Wasser. Frieden! SUE Wer hat gewonnen? PAULA DU. DU wäschst ab. SUE Ich habe gewonnen. Du wäschst ab. FANNY steht an der Brüstung mit einem Topf Stellt euch in eine Reihe. SUE Pst! Paula und Emma schauen nach oben. Sie bespritzt sie mit Wasser Verloren! EMMA Bitte nicht! PAULA Frieden! Frieden! FANNY von oben mit einem vollen Topf Stellt euch in eine Reihe. Sie zeigt in Richtung Küche Ab in die Küche! Sie gehen in die Küche. Fangt mit dem Abwasch an. Einen Moment lang ist es still. JULIA Es ist vorbei. CINDY Wir sind in Sicherheit. JULIA zu Christina Du kannst rauskommen. Christina rührt sich nicht. Willst du noch warten? CHRISTINA nickt Ich spüre, daß da noch Gefahr lauert. CINDY Sie hat sich den ganzen Tag versteckt. FANNY kommt herein. Sie ist naß Ich habe gewonnen. Ich habe sie zum Arbeiten gebracht. JULIA Ich dachte, der Krieg ging um den Abwasch. FANNY Ja. Sie will hinausgehen Ich muß mich umziehen. Ich bin völlig durchnäßt. CHRISTINA Sie haben den Anlaß für ihren Krieg vergessen. FANNY geht zu Christina Haben wir das? JULIA SO läuft es doch immer. FANNY zieht Christina die Decke vom Gesicht Hast du nicht Lust auf einen Eiswürfel? Sie geht die Treppe nach oben. Christina läuf in den Garten hinaus. Cindy und Julia lächeln sich an. CINDY Und wie fühlst du dich? JULIA Gut. Ich habe auf mich aufgepaßt. CINDY Du siehst gut aus. JULIA Das stimmt nicht... Und wie geht es dir? Hast du Mike wiedergesehen? CINDY Nein. Nicht seit Weihnachten.

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JULIA Das tut mir leid. CINDY Es ist nicht schlimm. Und was macht dein Liebesleben? JULIA Das existiert nicht... Ich denke nicht daran. CINDY Verzeih mir... JULIA Es macht nichts. In den letzten Tagen fühle ich mich sehr krank, Cindy. Ich denke viel an den Tod. PAULA von der Küchentür Möchte jemand Kaffee? Cindy und Julia heben die Hand. Mit Milch? Sie heben die Hand. JULIA Sollen wir in die Küche kommen? PAULA Ich bringe ihn euch. Ab JULIA Ich fühle mich immer vom Tod bedroht, in jeder Sekunde, in jedem Augenblick ist er präsent. Und jedesmal rettet uns irgend etwas. In jedem Augenblick rettet uns irgend etwas vor dem Tod. Jeden Moment, den wir leben, verdanken wir irgend einem Umstand. Einem Etwas, das um uns kämpft und uns rettet. Ich fühle mich inzwischen leblos und wie im Angesicht des Todes. Der Tod ist nichts. Nur, ohne Leben zu sein... und ich habe mich manchmal schon ohne Leben gefühlt, wurde aber gerettet von... Schutzengeln. Ich weiß nicht, wer diese Schutzengel sind. Ich weiß nur, daß es sie gibt, denn ich habe ihre Abwesenheit gespürt. Ich glaube, wir kennen sie als Leben und haben uns an die Gestalten gewöhnt, die sie annehmen. Unser Leben ist eine Gestalt, die sie annehmen. Darum verspüren wir Freude, wenn wir die Dinge ansehen, und finden einige Dinge schön. Die Sonne ist ein Schutzengel. Die Dinge, die uns Freude machen, sind gewöhnlich Schutzengel. Wir verspüren Freude, wenn wir sehen, wie das Tageslicht durch das Fenster fällt. Nicht wahr? Wir Menschen sind für einander Schutzengel, wenn wir uns lieben. Und außerdem haben wir natürlich weiße Blutkörperchen und Antikörper, die uns schützen. Wenn ich mich leblos fühle, bekomme ich Angst, die Schutzengel könnten eines Tages nicht mehr rechtzeitig kommen, und ich bin dann ausgeliefert. Ich werde sterben... ohne ersichtlichen Grund. PAULA steht in der Tür mit einer Flasche Milch. Gleichmütig Möchte jemand saure Milch. Pause Ich mache Spaß. Die hier ist sauer, aber es ist noch mehr da... Macht nichts. Es war kein guter Witz. JULIA Doch, er ist gut, Paula.

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PAULA Dadrin fanden wir ihn witzig, aber hier ist er es nicht. Sie hebt die Schultern, während sie hinausgeht Es ist ein Küchenwitz. JULIA Er ist witzig, Paula. CINDY Schon gut, Paula macht es nichts aus. JULLA Ich glaube schon. Fährt in Pachtung Küche Ich werde nachsehen... PAULA taucht im Türrahmen auf „Hör zu, wer war die Dame, mit der ich dich sah? Das ist keine Dame, die ist abgestanden." Der ist auch nicht witzig. Ab Sue kommt herein. Sie trägt ein Tablett mit Zucker, Milch und zwei Tassen Kaffee. Sie bleibt an der Tür stehen, um mit Paula und Emma zu reden, die hinter der Tür sind. SUE Was macht ihr. Was? Okay, okay. Sie kommt ganz herein und stellt das Tablett auf den Tisch Die beiden hecken etwas aus. PAULA erscheint in der Tür Meine sehr verehrten Damen und Herren. Verehrte Damen, da das uns vorliegende Material zu gewagt und avantgardistisch ist, haben wir uns dazu entschlossen, das Niveau unserer Themen anzuheben, damit es dem einfühlsamen Publikum akzeptabler erscheint. Sie wirft sich in Pose. Emma kommt herein und hält sich eine imaginäre Kamera vor die Augen. EMMA Sag „Cheese"! PAULA Cheese! EMMA Klick! Die beiden drehen sich nach vorn lachen und machen eine Verbeugung. Die anderen applaudieren. PAULA Geschafft! Geschafft! Saure Milch schmeckt nicht. Aber wenn man sie lange genug schlägt, wird sie zu cheese! Der Kaffee ist in der Küche. SUE Oh, ich habe Julias und Cindys Kaffee schon gebracht. PAULA Gut, dann trinken wir ihn hier. JULIA Wir können auch in die Küche gehen. Christina und Sue nehmen ihre Tasse mit in die Küche. Sue nimmt das Tablett. Der Zucker bleibt auf dem Tisch stehen. PAULA Entweder hier oder dort. Sie setzt sich auf das Sofa Ich bin müde. CELIA kommt vom Hof herein Ist die Schlacht beendet? PAULA Ja. CELIA Der Himmel ist schön. Paula nickt. Wo sind die anderen alle? PAULA In der Küche und trinken Kaffee.

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CELIA Wir müssen miteinander reden. Paula setzt an zu reden. Nicht jetzt. Ich werde dich anrufen. Sie will wieder hinausgehen. PAULA Wann? CELIA Ich weiß es nicht. PAULA Ich liebe dich nicht, weißt du. CELIA Ich weiß. PAULA Nein, du weißt es nicht. Ich begehre dich nicht. CELLA Ich weiß. Sie will fortgehen Ich rufe dich an. PAULA Wann? CELIA Sobald ich Zeit habe. PAULA Ich werde nicht zu Hause sein. CELIA Wann wirst du da sein? PAULA Ich werde in meinem Kalender nachschauen. CELIA Tu das. Ich werde nach dem Kaffee fahren. Ich verabschiede mich jetzt. PAULA Auf Wiedersehen. Celia geht in die Küche. Paula geht die Treppe nach oben. Fanny kommt herunter. FANNY DU bist immer noch naß. PAULA Ich ziehe mich jetzt um. FANNY Brauchst du etwas zum Anziehen? PAULA Nein danke. Ich habe Kleidung zum Wechseln mitgebracht. Paula geht nach oben. Fanny bleibt auf der Treppe stehen. Die Beleuchtung wechselt langsam in einen gespenstischen, graugrünen Farbton, der eine Vision oder Wahnvorstellung von Fanny andeutet. Julia tritt in Zeitlupe ein, geht zum Tisch, nimmt die Zuckerdose, hebt sie in Fannys Richtung hoch, streckt den Arm aus, nimmt den Deckel ab, hebt ihn hoch, legt ihn wieder auf die Zuckerdose und geht immer noch in Zeitlupe zurück in die Küche. In dem Moment, in dem Julia hinausgeht, hört man Sues Stimme, die die folgenden Worte sagt. Sofort danach kommt Julia wieder in ihrem Rollstuhl herein, umringt von Cindy, Christina, Emma und Celia. Sue schiebt den Stuhl. Auf den Armlehnen des Rollstuhls liegt ein Tablett mit einer Kaffeekanne, Tassen und der Zuckerdose. Um den Eindruck zu verstärken, daß Julias Zeitlupenauftritt gar nicht möglich war, müssen der Rollstuhl und die vier Schauspielerinnen direkt neben dem Bühnenaufgang stehen. Wenn Julia abgeht, setzt sie sich sofort in den Rollstuhl, eine der Schauspielerinnen legt ihr die Decke auf die Beine, eine andere legt das Tablett über die Armlehnen. Inzwischen beginnt Sue von rechts außen zu sprechen und geht zum Stuhl. So entsteht der Eindruck, daß Sue schon die

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ganze Zeit den Stuhl schiebt. Wenn Sue dort anlangt, wo der Rollstuhl steht, nimmt sie ihn, schiebt ihn auf die Bühne und spricht weiter. Wenn sie in der Bühnenmitte angelangt sind, setzen sich alle. Sue stellt das Tablett auf den Tisch und schenkt Kaffee ein. Fanny bleibt im Hintergrund und beobachtet Julia mit Skepsis und Neugier. SUE Ich fühlte mich furchtbar übernächtigt und erschöpft. Ich ernährte mich von Kaffee. Und lernte die Nächte durch. Wir waren alle nervlich sehr angespannt. Es war üblich, medizinische Tests mit uns zu machen, aber eigentlich wurden wir nur gefragt, wie wir uns fühlen. Wir sagten, es ginge uns gut und bekamen den Stempel. Aber ich sah aus wie ein Gespenst. Ich war nur noch Haut und Knochen. Erinnert ihr euch an Susan Austin? Sie war ziemlich naiv. Als sie gefragt wurde, wie sie sich fühle, antwortete sie, sie sei nervös und schlafe schlecht. Daraufhin wurde sie zum Psychiater geschickt. EMMA Sie war eben verrückt. Fanny geht in den Garten hinaus. SUE Nein, war sie nicht. Oh Gott. Diese schreckliche Zeit... Erinnert ihr euch an Julie Brooks? EMMA Natürlich. SUE Sie war sehr schön. EMMA Ach ja. Sie war wunderschön. Paula kommt herunter, sobald sie sich fertig umgezogen hat. Sie setzt sich auf der Mitte der Treppe hin. SUE Ende des Semesters wurde sie ins Büro gerufen, weil sie mit achtundzwanzig jungen Männern ausgegangen war, man fand das unglaublich. Das Schlimmste war, daß sie nachher dachte, sie hätte etwas falsch gemacht. CINDY scherzend Sie war Nymphomanin. Das ist alles. SUE Nein, das war sie nicht. Sie war sehr schön, und alle Jungen wollten mit ihr ausgehen. Und wenn sie einer zum Kaffeetrinken einlud, trug sie sich in das Ausgangsbuch ein und schrieb den Namen des Jungen dazu. Keine von uns hat das je gemacht. Sie gingen nur Kaffeetrinken oder ins Kino. Es war völlig harmlos. EMMA Und an Gloria Schuman? Die hatte eine glänzende Arbeit in Psychologie geschrieben, und die Dozenten meinten, daß nicht sie das geschrieben haben könnte. Sie bestand aber darauf und wurde ebenfalls zum Psychiater geschickt. JULIA Alle mußten zum Psychiater.

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EMMA Nach ein paar Sitzungen hat der zu ihr gesagt: Meinst du nicht, du kennst mich jetzt gut genug, um mir die Wahrheit über die Arbeit zu sagen? Sie wäre fast verrückt geworden. Die wollten einfach nicht glauben, daß sie so klug war. SUE Das war eine schwere Zeit. PAULA Wir waren jung und verletzlich. Darum war es schwierig. In meinem ersten Studienjahr dachte ich, ihr wäret alle sehr glücklich. Ich hatte eine armselige Kindheit und dachte immer, die Reichen seien alle glücklich. In den Sommerferien seid ihr nach Europa oder Asien gefahren. Ich mußte arbeiten und war deswegen wütend. Aber dann fiel mir auf, daß nicht nur die Armut viele Leben ruiniert, sondern auch der Reichtum. Ich habe es immer irgendwie hingekriegt. Und ich glaube, ich hatte genauso viel Spaß, wenn ich an einem freien Tag zum Strand von Revere fuhr, wie ihr auf euren Ferienreisen zum Taj Mahal. Celia kommt in die Diele. Sie bleibt stehen und hört von dort aus zu. Als ich dann keinen Neid mehr verspürte, wurde mir die Verschwendung bewußt. Ich fing an, diejenigen zu verachten, die alles besitzen, was man sich wünschen kann, es jedoch nicht zu schätzen wissen und alles kaputt machen. Wenn man alles hat, dann sollte man großzügig sein. Wenn man die Möglichkeit hat zu studieren, sollte man eine bessere Einstellung haben. Wenn man nicht um seinen Platz in der Welt kämpfen muß, sollte man über mehr Noblesse verfügen. Aber ich sah, wie sie gepfuscht haben und alles an sich rissen wie Straßenkinder. Entweder benahmen sie sich wie verwöhnte Gören oder verfielen einem Laster. Ich fand sie einfach nur dumm. Wenn es einen Grund dafür gibt, daß einige reich sind, während andere vor Hunger sterben, kann es nur der sein, daß diejenigen, die Besitz haben, ihn den anderen zur Verfügung stellen. Sie müssen Verantwortung übernehmen für alles, was auf der Welt geschieht. Sie können auf die Dinge Einfluß nehmen. Die Armen haben diese Macht nicht. Ich denke, wir sollten die Armen unterrichten und die Reichen sich selbst überlassen... Es tut mir leid. Ich weiß, es ist genau das, was wir tun. Was Emma tut. Es tut mir leid... Doch es ist nicht genug. Ihr kommen die Tränen. Ich gehe mir das Gesicht waschen. Ich komme gleich wieder. Sie geht die Treppe hinun-

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ter in Richtung Küche, bleibt stehen und dreht sich um. Ich schätze euch sehr... euch alle. Celia geht zu Paula. Paula wendet sich ihr zu. Celia breitet die Arme aus und umschließt Paula in einer heftigen Umarmung. Sie küßt sie. Paula geht einen Schritt zurück, dreht sich um und geht hinaus. Celia geht hinter ihr her. Fanny geht in den Garten. FANNY Seid ihr schon draußen gewesen? Der Himmel ist mit Sternen übersät. Emma, Sue, Christina und Cindy gehen hinaus. Julia schaut Fanny an. JULIA Was ist los? Fanny schüttelt den Kopf. Julia bewegt sich in Richtung Garten. FANNY Bleib noch einen Moment, ja? JULIA Selbstverständlich. FANNY Hast du genug Kaffee getrunken? JULIA Ja. FANNY Hast du den Zucker gefunden? JULIA Ja. In der Küche stand Zucker. Was ist los mit dir? FANNY Kannst du gehen? Julia ist verletzt und öffnet die Arme, um zu zeigen, daß sie nichts zu verbergen hat. Es tut mir leid, meine Liebe. JULIA Was ist los mit dir? FANNY Ich weiß nicht. Jeder Atemzug schmerzt mich. Ich weiß nicht. Sie nimmt Julias Kopf in ihre Hände, um ihr in die Augen schauen zu können. Ich glaube, du weißt es. jULlAweicht Fannys Blick aus Ich weiß nicht. Ich habe dich in letzter Zeit nicht oft gesehen. Ich habe oft an dich gedacht. Ich denke immer an dich. Cindy erzählt mir, wie es dir geht. Ich frage sie immer danach. Wie geht es Philipp? Stehen die Dinge schlecht mit Philipp? FANNY Nein. JULIA Was ist mit ihm los? FANNY Einiges. JULIA Er liebt dich. FANNY Er kann mich nicht ertragen. JULIA Er liebt dich.

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FANNY Er hat mich verlassen. Sein Körper ist hier, aber der Rest ist gegangen. Ich m a c h e ihn fertig. Ich quäle ihn und quäle mich selbst. Ich brauche ihn, Julia. JULIA Ich weiß. FANNY Ich brauche seine Hände. Ich brauche seine Küsse. Ich brauche ihn als Mensch. Ich ertrage es nicht, nicht an seiner Seite zu sein. Sie sieht Julia in die Augen Ich schaue dir in die Augen und weiß, was du siehst. Julia schließt die Augen. Es ist der Tod. Julia schüttelt den Kopf. Kämpfe! JULIA Ich kann nicht. FANNY Ich habe gesehen, wie du gelaufen bist. JULIA Nein. Ich kann nicht laufen. FANNY Du bist hereingekommen, um den Zucker zu holen, Julia. Du bist gekommen, um den Zucker zu holen. Steh auf! JULIA Du weißt, daß ich nicht laufen kann. FANNY W a r u m nicht? Versuche es! Steh auf! Stell dich hin! JULIA W a s ist los mit dir! FANNY Du hast aufgegeben! JULIA Ich bin müde! Ich kann nicht mehr! Ich bin erschöpft! FANNY W a s siehst du? Julia antwortet nicht. W a s siehst du? W a s siehst du, das dich so ermüdet?! JULIA Ich kann nicht mit anderen zusammen sein! Es ermüdet mich! FANNY Was siehst du?! JULIA Willst du es auch sehen? FANNY Nein. Will ich nicht. Du bist verwirrt. Weil du es willst. JULIA D u weißt, daß es nicht so ist. FANNY ES ist ansteckend. Ich werde auch noch verrückt. JULIA Ich versuche, dir nicht zu nahe zu kommen! FANNY W a r u m ? JULIA Ich könnte dir Schaden zufügen. FANNY W a r u m ? JULIA ES ist etwas Ansteckendes. FANNY Du hast keinen Mut! JULIA Sei nicht grausam. FANNY Ich möchte ausruhen, Julia. Wie findet m a n Ruhe. Ich wünsche mir Ruhe für meinen Geist. Ich habe Angst, Julia. Julia schaut Fanny

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an. Sieh mich nicht an. Sie hält Julia die Augen zu Ich verliere den Mut, wenn du mich ansiehst. JULIA Daß dein Geist keinen Schaden nehme. FANNY Kämpfe! JULIA Daß dein Willen keinen Schaden nehme! FANNY Kämpfe, Julia! Sie rüttelt an dem Rollstuhl und versucht, Julia aus dem Stuhl zu bewegen. JULIA Ich habe kein Leben mehr! FANNY Kämpfe, Julia! JULIA Daß deine Hände keinen Schaden nehmen! FANNY Ich brauche deinen Kampf! JULIA Daß deine Augen keinen Schaden nehmen! F A N N Y Ich brauche deinen Kampf! JULIA Daß deine Stimme keinen Schaden nehme! FANNY Kämpfe an meiner Seite! JULIA Daß dein Herz keinen Schaden nehme! Christina kommt herein. Fanny sieht sie und läßt Julia los. FANNY zu Christina Du hältst mich für einen Unmenschen! Das bin ich nicht. Sie dreht sich zu Julia Verzeih mir... wenn du kannst. JULIA nickt Ich verzeihe dir. Fanny nimmt das Gewehr. C H R I S T I N A Was zum Teufel hast du mit dem Gewehr vor! F A N N Y Ich will es reinigen! C H R I S T I N A Stell es weg! F A N N Y D U bist albern! Celia erscheint auf der Treppe. CHRISTINA Mir ist es egal, ob du dir weh tust. Es geht um den Schaden, den du anderen zufügst! FANNY macht einen Schritt nach draußen und dreht sich um Wer bist du, daß du mir so etwas sagst? Pause Ich wette, daß keine Kugel drin ist. Wer nimmt die Wette an? CHRISTINA Nein! Ich will nicht wetten! Fanny geht hinaus. Christina geht zu Julia. Geht es dir gut? JULIA Ja... CHRISTINA Kann ich dir etwas bringen? JULIA Wasser. Celia geht zur Bar. Tu Zucker hinein... Könntest du mir ein feuchtes Handtuch für die Stirn bringen? Christina geht in die Küche.

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Ich habe ihr nichts gesagt. Stimmt doch? Ich habe es ihr nicht gesagt. C E L I A geht mit dem Wasserglas zu Julia Was hast du gesagt? J U L I A für sich Sie wußte es. Man hört einen Schuß. Julia greift sich an die Stirn. Christina und Celia laufen hinaus. Julias Hand sinkt langsam runter. Sie hat Blut auf der Stirn. Ihr Kopf fallt nach hinten. F A N N Y kommt mit einem toten Kaninchen in der Hand herein. Ich habe es getötet... geschossen... und es getötet... Fanny sieht Julia, läßt das Kaninchen fallen. Julia! Sie geht zu Julia, bleibt hinter ihr stehen und betrachtet sie. Sue und Cindy kommen aus der Diele herein, Emma und Paula aus der Küche, Christina und Celia aus dem Garten und stellen sich hinter Julia in einen Halbkreis. Die Lichter gehen langsam aus. Ende 1

William Shakespeare: „Sonette Nr. XIV", in Lied der Liebe. Deutsch von Karl Bernhard. Frankfurt 1989, S. 107.

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An Silvia von Franz Schubert nach einem Gedicht von William Shakespeare aus Zwei Herren aus Verona I V / 2 .

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E m m a Sheridan Frey gab Schauspielunterricht für Kinder an THE EDUCATIONAL ALLIANCE in N e w York von 1903 bis 1909. 1917 w u r d e ihr Buch Educational Dramatics von Lloyd A d a m s Noble herausgegeben. Der Text von E m m a s Rede s t a m m t aus dem Vorwort.

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Celia von Herman Ruby und Dave Dreyer, © 1925.

Carmen Boullosa Aura und die elftausend Jungfrauen Aura y las once mil vírgenes Komödie

Deutsch von Bernd Kage

Aura und die elftausend Jungfrauen

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Carmen Boullosa (1954) ist Schauspielerin, Schriftstellerin1 und Besitzerin einer Theaterbar. In den 70er Jahren begann sie für das experimentelle Theater in Mexiko zu schreiben. Ihre Stücke sind sofort von der Kritik unter den Etiketten postmodern und feministisch eingeordnet worden; feministisch im Sinne eines aktiven Widerstands gegen jede Art Beziehung, die auf Sexismus als Herrschaftsprinzip basiert, und postmodern im Sinne einer endlosen Reproduzierbarkeit aller bis dahin als einzig und authentisch verstandenen Objekte der Repräsentation. Boullosas Theater nimmt allgemein als „Wahrheit" akzeptierte Begriffe wie u.a. Religion und Geschichte auseinander und versucht, ihren Repräsentationscharakter bloßzulegen. Ihr Zuschauer/Leser soll seine Rolle als Zuschauer wahrnehmen. Ihre Mittel sind Parodie, Satire, Ironie. Die Parodie, die bei ihr nicht Ähnlichkeiten, sondern Unterschiede zum parodierten Objekt hervorhebt, schafft Distanz und entblößt die „Realität" ohne negativen Kommentar. Es ist Aufgabe des Zuschauers/Lesers zu erkennen und zu interpretieren. Aura und die elftausend Jungfrauen ist 1987 in dem Band Teatro herético erschienen, zusammen mit Cocinar hombres und Propusieron a María. Alle drei Stücke sind Parodien, die populäre und klassische Formen reproduzieren und als Satire diese neue Repräsentation in eine kritische Distanz rücken. Die Bezeichnung herético bezieht sich nicht allein auf die aggressive Art, in der Boullosa alles, was „heilig" ist, behandelt oder auf ihre Experimente mit dem Genre Theater, sie benennt in gleicher Weise ihre Sicht auf die gesellschaftliche Realität ihrer Heimat Mexiko. Alle drei Stücke sind in ihrer Theaterbar EL HIJO DEL CUERVO uraufgeführt worden, Aura und die elftausend Jungfrauen im April 1985. Die Rolle des Protagonisten war Alejandro Aura, TV-Star, Kritiker, Leiter der Theater- und Tanzklasse der UN AM 2 und Boullosas Ehemann, auf den Leib geschrieben. Im Stück ist er ein mexikanischer Durchschnittsmann. Ein weiblicher Engel bietet ihm im Traum beruflichen Erfolg, wenn er elftausend Jungfrauen defloriert. Diese sollen danach ins Fegefeuer wandern und das durch die Not der dritten Welt verschobene Gleichgewicht zwischen überfülltem Himmel und leerem Purgatorium wieder in Ordnung bringen. Was für Aura eine Belohnung wert ist, wird den Jungfrauen als Sünde angelastet, und obwohl sie ihm wie die Schafe zugetrieben werden, sind sie es, die dafür im Fegefeuer schmoren 1

Neben mehreren Gedichtbänden erschienen die Romane: Antes (1989); Son vacas, somos puercos (1991); El médico de los piratas (1992); Llanto, novelas imposibles (1992); La Milagrosa (1993); Isabel (ein Fortsetzungsroman in der Samstagsausgabe von Uno más uno 1992); Duerme (1994); Cielos de la Tierra (1997).

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Universidad Autónoma de México.

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müssen. Aura verkauft bei diesem Handel mit Gott, nicht mit dem Teufel (sie), die Seelen der Frauen3, nicht die eigene. Boullosa bedient sich der klassischen Themen Faust und Don Juan und zielt auf die himmlische/weltliche Hierarchie, die alle Weisheit und Macht in einer männlichen Figur vereint. Dabei kommentiert sie ironisch die Rolle der Frau als Tauschobjekt unter Männern, die im Namen von Kirche und Staat die Kontrolle über Leib und Seele der Frau innehaben. Die Übertreibung von elftausend Jungfrauen, die widerspruchslos und ohne eigenes Begehren zu Aura ins Bett steigen, unterstreicht nicht nur, wie absurd männliche Träume von unbegrenztem Sex sind, wenn sie sich verwirklichen; sie verweist in erster Linie auf die „Mittäterschaft" der Frauen im System sexistischer Unterdrückung, ein Thema, mit dem sich die mexikanische Literatur seit Ende der 60er Jahre ausführlich beschäftigt.4 Für Aura sind die Jungfrauen wie Musen. Sie inspirieren ihn zu den unglaublichsten Werbespots: eine Parodie auf die Werbung und ihre Mythen, die dazu dienen, das Bild der „perfekten Frau" zu propagieren, jener Frau, die nur als Objekt männlicher Begierde fungiert. Die Jungfrauen, sozusagen im natürlichen Zustand, bevor sie von der Werbung erfaßt wurden, sind viel zu häßlich, um begehrenswert zu sein und bringen Aura auf die kühnsten Werbeideen für jene Produkte, derer sie „bedürfen".5 Boullosa benutzt für ihr Theater die verschiedensten Möglichkeiten der Repräsentation: Werbung, Drama, Film, Musical - schafft eine Vision fließender Grenzen zwischen den Genres -, sie zitiert aus der Malerei, der Bibel, aus klassischen und populären Texten und „entheiligt" die Ikonen unserer abendländischen Kunst und Kultur, indem sie u.a. die Mona Lisa für ein Shampoo oder das Kruzifix für Seife oder Hautcreme werben läßt. Mit anderen Worten, sie zersetzt überkommene Formen von innen her, indem sie sie parodiert. Dem Zuschauer fällt die Aufgabe zu, ihre ironischen Zitate zu entschlüsseln. Heidrun Adler

Die Bühnenanweisungen fordern, daß alle Jungfrauen von derselben Schauspielerin gespielt werden. Damit werden sie zusammenfassend zur Kategorie Frau. In erster Linie Rosario Castellanos mit La liberación del amor (1970) und El eterno femenino (1975). Dazu Roselyn Costantino:„Postmodernism and Feminism in Mexican Theatre: Aura y las once mil vírgenes by Carmen Boullosa", in LATR 28, 2 (Spring 1995), S. 55-71.

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Aura und die elftausend Jungfrauen Personen: Aura (40 - 50), Texter einer Werbeagentur, fröhlich - der Freund (40), Besitzer der Agentur, großzügiger Typ, sollte den Namen des Schauspielers tragen, der ihn darstellt - Engelfrau und Jungfrauen, die von derselben Schauspielerin dargestellt werden, sie kann jedes Alter haben, sollte aber nicht zu jung sein. Es muß deutlich werden, daß sie alle Jungfrauen (und Engelfrau) darstellt, wenngleich Kostüm und Stimme bei jedem Auftritt wechselnMiezimein Garcia (35 - 40), Schauspielerin, kokett. Alle zu den Werbetexten zu zeigenden Spots sollen absurde, sehr freche Parodien auf die Mythen der Werbung sein: Schönheit, Reinheit, Sex, Jugend, Haarpracht etc. und dabei „Heiligtümer" aus Kunst und Kultur zitieren: Mona Lisa, Kruzifix, Schöpfungsbild von Michelangelo etc. Zwei Büroräume einer Werbeagentur, der eine dient Aura als Wohnraum. Alles ist sehr heruntergekommen. Aura schläft mit sichtlich angenehmen Träumen. AURA erwacht Ach! Wenn das wahr wäre!

TONBAND Auras Stimme, und falls möglich, erscheint eine Fotografie des Schauspielers am Bett He, ich bin dein innerer Monolog. Wenn das wahr wäre, würde ich auf mein verpfuschtes Leben pfeifen. Es wäre mir egal, daß ich hier hinten im Büro leben muß, in einer Ecke, die mir mein Freund aus Mitleid überlassen hat. Eigentlich sollten hier die Akten lagern. Aber wir haben keine. Wir schreiben keine Briefe und bekommen keine, seit mein Freund mich zu seinem Partner gemacht hat. Ich tauge zu nichts und habe die Werbeagentur meines lieben, hilfsbereiten Freundes ruiniert. AURA Jeden Tag 'ne andere Mieze! Er macht es sich wieder bequem, um den Traum weiterzuträumen, den ihm seine Phantasie beschert hat - den er irrtümlich für ein Geschenk seiner Phantasie hält. Plötzlich donnert es gewaltig und die heisere, aber durchdringende Stimme des Einzigen sagt: STIMME Jeden Tag. Das ist dein Auftrag, Aura Aura springt überrascht halb aus dem Bett. Vor ihm erscheint die Engelfrau und sieht ihm tief in die Augen. Unter erschlagender Musik und ebensolchem Licht sagt sie mit verzückter Stimme:

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ENGEL Jeden Tag! Seiner Unbegreiflichkeit gefällt es im Augenblick, elftausend Jungfrauen von diesem Planeten zu entfernen. Frage mich nicht, warum! Eine nach der anderen, mit anderen Worten: elftausend. Die keuschen Frauen werden an deine Tür kommen, eintreten und sind, wenn sie herauskommen, willst du nicht den flammensprühenden, drohenden Finger sehen, erledigt... Mit dieser lobenswerten Arbeit beschäftigt, wirst du keinen sexuellen Verkehr mit Frauen haben können, die nicht zu der langen Reihe von Jungfrauen gehören, die dich erwartet. STIMME unterbricht die Engelsfrau, die sich in Rauch oder einem anderen mystischen Element auflöst Als Gegenleistung erfülle ich dir einen Wunsch. Nenne ihn mir! Pause mit Musik Nenne ihn mir! AURA Ich? STIMME Wer sonst außer dir, Idiot! Du natürlich! AURA Einen Wunsch? STIMME Ja doch! AURA Einen Wunsch? STIMME Als Gegenleistung für die elftausend Jungfrauen. Nun mach schon, ich habe es eilig! AURA Sie meinen, Sie schenken mir elftausend Jungfrauen und dann noch... Sie müssen sich irren. Ich nehme die Arbeit an, wegen der Mystik, weil ich an Sie glaube. Es besteht kein Anlaß, Sie dafür um einen Gefallen zu bitten. Ich bin es, der Ihnen für die Gunst zu danken hat, die ich gar nicht verdiene. STIMME lacht laut auf, macht sich über Aura lustig, und befiehlt ihm dann: Sag ihn mir endlich, du Bock. AURA Nein... Ich weiß keinen... STIMME Aber ich. Du klagst ständig, daß du ein Nichtsnutz bist - und ganz unter uns, mit Recht, du taugst wirklich zu nichts. Also werde ich dich erleuchten, auf daß dir alles gelingt, was du jetzt anpackst. Ich, der Einzige, mache aus dir den besten Werbetexter der Welt. Simsalabim! AURA Nein, warten Sie! STIMME Was denn noch? AURA Lassen Sie es mich erklären... Ich arbeite jetzt als Werbetexter, weil das die Idee meines Freundes war, ich könnte als... STIMME Ich kenne die Geschichte. Armer Freund!

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E S ist nämlich so... eigentlich wollte ich es niemandem sagen, es ist ein Geheimnis. Aber ich weiß ja, wer Sie sind, und in der Situation, in der ich mich befinde, muß ich es Ihnen doch sagen... im Grunde, ganz tief in meinem Herzen, wollte ich schon immer Schauspieler sein. STIMME lacht laut, spottend Du!? ... Du! Na komm. Du wirst der Star deiner Werbespots sein. Aber nicht von allen, he...? Tu, was ich dir aufgetragen habe! Aura steht auf. Über das Hemd, das er trägt, zieht er hastig einen Pullover, Hosen über die Strümpfe, schlüpft in seine Schuhe und öffnet die Tür zum anderen Büroraum, wo sich sein Freund befindet. In diesem Moment klingelt das Telefon. Der Freund geht dran. FREUND Lust zur Werbung Co. KG... Ach... nein... sind wir nicht. Welche Nummer haben Sie gewählt?... Keine Ursache... deprimiert legt er auf Falsch verbunden, Scheiße! Er bemerkt Aura Das darf doch nicht wahr sein, Junge, das darf nicht wahr sein. Na, wie spät haben wir es denn? Nicht mal, wenn du hier wohnst, kommst du zu einer halbwegs vernünftigen Zeit zur Arbeit ins Büro. Gerade erst aufgewacht, was? Ich hab wie ein Idiot an die Tür gehämmert, aber nichts. Nichts! Nicht einmal ein „Komm rein" oder „Ich komme schon" in deiner wohlklingenden Stimme. Eine Stimme wie im Schulfunk. Du solltest Rundfunksprecher werden. Hast du daran schon gedacht? AURA

macht sich gelassen einen Kaffee und will ihn trinken, da vernimmt er das Wort des Einzigen und sein ganzer Ausdruck verändert sich Ich habe d i e Idee! FREUND Was soll das sein, die Idee? A U R A Ich weiß jetzt, wie wir diese Anzeige machen. FREUND Die mit der Seife? AUR4 Genau! Und zwar komplett. Soll ich es dir verraten? FREUND dreht sich um Es wäre unterhaltsamer, wenn du sie mir... AURA Halt den Mund und hör zu! Auf eine herunterfahrende Leinwand wird ein absurder Werbespot über Seife projiziert. Dazu wird folgender Text gesungen: Diese schöne Seife ist ein Geschenk des Herrn. Sie wäscht dich mild, sie wäscht dich gern. Sie wäscht mit frühlingsfrischem Schaum. Sie wäscht dich wie ein Liebestraum. AURA

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Am Ende des Spots wieder Licht im Büro. Der Freund und Aura arbeiten den Spot im Detail aus. Beide sind sichtlich zufrieden und glücklich. FREUND Wunderbar! Das ist was ganz Besonderes. Es klopft hartnäckig an der Tür zum Flur. AURA Hast du gehört? FREUND Was? AURA Na das. Das da! FREUND Ich höre nichts. Da ist nichts. Bleib ganz cool, du bist aufgedreht von dem umwerfenden Spot, den du gerade erfunden hast. AURA Das wird's wohl sein. Das Klopfen an der Tür hält an. Nun, dann will ich mal arbeiten gehen, also... bis später, Junge. Aura geht in seinen Raum, das Büro wird ausgeblendet. Eine Frau erwartet ihn. Sie ist etwa Mitte Vierzig, aber wie ein Mädchen gekleidet. Sie lächelt. Wie bist du reingekommen? JUNGFRAU Verzeihen Sie mir, daß ich hier ohne Aufforderung eingedrungen bin. Kaum stand ich vor Ihrer Tür, ging sie schon auf, und ich bin reingegangen... Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was mich herführt? AURA Ich glaube schon. JUNGFRAU Ach, das ist gut, denn ich weiß es nicht. AURA Wie meinst du das? JUNGFRAU Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe einen Umschlag mit einem Haufen Gutscheine für die Eisdiele Napoli bekommen, mit der Nachricht, die Gutscheine würden eingelöst, wenn ich mich hier bei dieser Adresse, bei einem Herrn vorstelle, das sind wahrscheinlich Sie. Und weil ich so gerne Eis esse, ich sterbe dafür, meine Eltern geben mir schon kein Geld mehr dafür, sie sagen, ich sei zu alt, also, weil... AURA Ich glaub es einfach nicht! Dunkelheit. Licht im Büro. Der Freund entdeckt auf seinem Schreibtisch einen merkwürdigen Zettel und liest ihn: FREUND „Wenn Sie Ihren momentanen mißlichen Zustand nicht begreifen können und denken: Das kann nicht sein, das darf einfach nicht sein, dann haben wir für Sie eine todsichere Abhilfe bereit. Wir bieten Ihnen die verschiedensten Leistungen an: muskeldehnende Gymnastik, entspannende Massagen für das verklemmte Gemüt, rhythmischen Tanz gegen übersäuerten Magen und sonstige Arten von Bit-

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terkeit. Und vergessen Sie nicht, Kopflos & Co. hat nur eine einzige Zweigstelle, nämlich die Hirnlos AG. Alles andere sind Fälschungen..." Das ist ja ganz außergewöhnlich! Wenn Aura so weitermacht, krepieren wir noch am Erfolg. Wie sagte mein Vater immer: Zu viel des Guten schadet nur... Das Telefon klingelt. Lust auf Werbung Co. KG... Ja, womit kann ich Ihnen dienen... Genau, das ist unser Werbetext... Aber natürlich! Unsere Preise? Die kann ich Ihnen persönlich... Abgemacht. Morgen ab 9.37 Uhr hier in unseren Büros, Hinternstraße 8... Keine Ursache. AURA kommt durch die Tür, die seinen Raum mit dem Büro verbindet. Er hat eine Kompresse auf dem Unterleib, ist aber sehr zufrieden. Und wie läuft's so? FREUND Ausgezeichnet. Was hast du da? AURA Aaah, ich nehm es gleich ab. Ein warmer Umschlag. FREUND Ein warmer Umschlag, da? Wozu? AURA für sich Oh! Er ist mein bester Freund. Soll ich es ihm sagen? Der Engel warnte mich davor, es zu tun... Wem soll ich treu sein? Dem Einzigen oder den Gesetzen dieser Welt? Wann werde ich das entscheiden können?... Im Augenblick jedenfalls nicht. Zu seinem Freund Ist 'ne Angewohnheit. FREUND Ah, verstehe. Hörst du, die von Clay-ay-ay-ton haben angerufen, wir sollen die Vermarktung aller ihrer Shampoos übernehmen. Morgen kommen sie wegen der Preise und möchten auch gleich den Vertrag unterschreiben, den wir Ihnen sofort mit dem Boten schicken sollen... Das heißt, wir haben es geschafft. Es klopft an der Tür. Und noch was: Das Blatt, das du mir hingelegt hast, das mit dem Entwurf für Kopflos & Co., ist super, wir brauchen nicht... AURA Hörst du nichts? FREUND Der Umschlag ist dir runtergefallen. AURA Hörst du nichts? FREUND Doch, doch, ich höre die Moneten vom Himmel fallen. AURA Entschuldige, ich werde mich in meine Räume zurückziehen. Er öffnet die Tür zu seinem Raum. Das Büro wird dunkel. JUNGFRAU gekleidet wie ein Hippie, Gesicht und Körper sind weitgehend von ihren langen Haaren verdeckt Haaa!

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AURA Haare! JUNGFRAU Nein! Ich gebe Ihnen alles andere, aber verlangen sie das nicht von mir. AURA Was? JUNGFRAU Verlangen Sie, was Sie wollen, mein Herr aber nicht das. AURA Nein, nein, Fräulein, entschuldigen Sie, Sie irren sich, ich will gar nichts von Ihnen, nehmen Sie es mir nicht übel, aber als ich Sie sah, mußte ich das Wort aussprechen. Ich will keine Haare, ich sehe Haare. JUNGFRAU Ach, entschuldigen Sie. Ich laufe so herum, weil ich ein Problem habe. Wie erkläre ich Ihnen das nur? AURA Na, einfach so. JUNGFRAU Ich bin nämlich schüchtern. AURA Und? JUNGFRAU singt: Wir grauen Frauen, die sich nicht trauen, mal jemand richtig anzuschauen, wir sind zu schüchtern... Die echten Damen, sie fürchten unseren Namen, weil wir noch zu nichts kamen, wir sind zu schüchtern... Und jeder Junge möchte mit unserer Zunge... AURA Aber warum sind Sie schüchtern, lassen Sie das! JUNGFRAU So bin ich geboren. AURA Und? JUNGFRAU Mir geht es schlecht. Aber ich weiß, daß Sie mir helfen könnten. AURA Ich Ihnen helfen? JUNGFRAU flehend Helfen Sie mir! Ich möchte der Welt endlich mein Gesicht zeigen können. Helfen Sie mir doch! Seit siebzehn Jahren gehe ich zur Analyse; völlig sinnlos! Wenn Sie mir die Hemmungen nicht nehmen können, machen Sie mir wenigstens das Haar schön. Ich habe alle Shampoos ausprobiert, keins hat geholfen. Ich weiß, daß Sie mir aus der Patsche helfen können, wenn ich Ihnen etwas gebe, das mir sehr viel bedeutet. AURA Ich habe allerdings die Lösung für dein Problem, komm her! Er führt sie zum Bett Na komm! Dunkelheit. Die Leinwand fährt herunter und es wird der Spot für das Shampoo Cha-Cha-Cha gezeigt.

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FREUND Sie! Ja, Sie! Sie haben ein Problem? Ihr Haar ist widerspenstig, trocken und gespalten? Haben Sie etwa Spliss? Dann probieren Sie es mit Cha-Cha-Cha! AURA und FREUND singen im Cha-Cha-Cha-Rhythmus Volles, schönes Haar, cha cha cha, volles, schönes Haar wünsche ich mir, cha cha cha. Ich tanze bei Wind und Wetter, und bald bin ich ein Star, cha cha cha. Eins zwei, cha cha cha, ein zwei cha cha cha, cha cha cha, cha cha cha... Volles, schönes H a a r Ende des Spots. Freund und Aura im Büro. FREUND Ich will ja nicht protzen, aber wir haben den Cha-Cha-Cha wiederentdeckt. Die Jungs tanzen nicht mehr Breakdance oder andere Stilclownereien, nur noch Cha-Cha-Cha. Wir, Lust auf Werbung Co. KG haben es geschafft, daß man die Skater auszieht und auf der Straße Cha-Cha-Cha-Schritte übt. Das Telefon klingelt. Aura hebt den Hörer ab. AURA mit Frauenstimme Lust auf Werbung Co. KG FREUND Nein! Du versaust wieder alles! AURA Wer? Von wo rufen Sie an? Soll ich wiederholen? Coca-Cola, BMW, Marlboro und C&A? Wirklich? Ich bin doch eine gute Sekretärin, nicht wahr? Ich verstehe gar nicht, warum mein Chef immer sagt, daß ich die Kunden vergraule. Ich verbinde Sie weiter. Er hält die Muschel zu und sagt mit seiner eigenen Stimme: Hast du das gehört, Junge? FREUND Das isses! Das isses! AURA hört das Klopfen an der Tür Ich überlasse dich deinen Geschäften. Er öffnet die Tür zu seinem Raum Ich ziehe mich zurück. Das Büro wird dunkel. JUNGFRAU Sagen Sie es mir schnell. Sie ist eine Gestalt aus einem Roman des vorigen Jahrhunderts. Sie soll so gekleidet sein, daß man nicht entscheiden kann, ob sie eine Nonne ist, die das Ordensgelübde abgelegt hat, eine Irre aus dem Waisenhaus oder eine Figur von Luisa M. Aleott. AURA Was soll ich Ihnen sagen? JUNGFRAU Das wissen Sie nicht? AURA Doch, doch. Machen Sie mir nur den Zusammenhang klar, und ich sage es Ihnen. Auf jeden Fall sage ich Ihnen, was Sie hören wollen.

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JUNGFRAU Mein Name ist Chartreuse. Als ich klein war, nannten mich meine Eltern Chartreuschen, meine Freundinnen sagten Charterine und meine Großmutter Chartusch. AURA Und? JUNGFRAU Reicht das nicht? AURA Ich denke nicht. JUNGFRAU Kennen Sie denn viele Chartuschen? AURA Nein... JUNGFRAU Soll ich weiter erzählen? AURA Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Aber kommen Sie ein bißchen näher, damit ich Sie besser hören kann. JUNGFRAU Mein ganzes Leben, so lange ich denken kann, habe ich dem Schweigen, der Meditation, dem Studium gewidmet, stets habe ich nur an höchste geistige Ziele gedacht, die die irdische Finsternis über alle Grenzen hinweg erleuchten. Seit ich meine Gedanken auf ein einziges Ziel ausrichten kann, stelle ich mir beharrlich eine einzige Frage: „Chartreuse", sage ich mir, „liebe Chartreuse, denke noch einmal scharf nach", und heute, als ich es mir wieder sagte, erschien ein Engel und sagte, daß Sie, im Tausch gegen etwas, woran ich nicht im Traum denken würde, für mich und die Menschheit, die man nie außer acht lassen sollte, die Antwort hätten: Was, sagen Sie es mir bitte, was glauben Sie, war zuerst da: Das Ei oder die Henne? Dunkelheit. Projektion eines Spots beginnt, eine Stimme singt: Das Ei oder die Henne, das ist die Wahl. Das Ei oder die Henne, das ist die Qual. Wer hilft dir raus aus dem Jammertal? Da hilft dir nur einer; der oder keiner: Doktor Wabbels Wackelpudding! Liebst du im Bett, liebst du im Büro, immer ist Wackelpudding das A und O. Auras Raum wird beleuchtet. Er liegt auf seinem Bett, die Engelfrau legt ihm einen warmen Umschlag auf den Unterleib. ENGEL ER schickt mich, dir zu sagen, du sollst nicht so gierig sein. ER hat nämlich vergessen, dir zu sagen, daß deine Tage auf Erden zu Ende sind, wenn du die elftausend erledigt hast, will heißen, du stirbst. Aber ER hat auch vergessen, dir zu sagen, daß du nicht einen Tag verstreichen lassen darfst, ohne eine von der Liste flachzulegen oder hat ER es nicht vergessen? AURA He, was kann ich dafür! Er schickt sie mir doch, wann er will, in Scharen. Was soll ich machen? Hör zu, ehrlich gesagt bin ich ziem-

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lieh erschöpft, und die Sache wird mir langsam lästig. Ich hab keine Ahnung, wie ich es ihm recht machen soll. ENGEL ER hilft dir. AURA Ich weiß ja. Er hilft mir! Aber sag ihm, er soll mir nicht jeden Tag so viele schicken. ENGEL Das ist dein Problem. Suche dir eine am Tag aus und mache mit den anderen Termine für später. AURA Ich kann mir keine aussuchen, weil für mich alle gleich sind, oder sehr ähnlich. Schlimmer noch, selbst du siehst für mich aus wie alle anderen. ENGEL Wage es nicht, mit dem Finger auf mich zu zeigen, denn obwohl ich, ja wohl, zu meiner Ehre, Jungfrau bin, bin ich mehr als das: ich bin unsterblich. AURA Wenn schon? Wir könnten trotzdem ein bißchen rumschäkern. ENGEL Ich bin unsterblich. AURA Was soll das heißen, du bist unsterblich? ENGEL Hast du das nicht kapiert? Weißt du nicht, was es mit der Geschichte der Elftausend auf sich hat? Also, dann wirst du wohl kein Wort verstehen, aber ich erkläre es dir trotzdem: Die Kommunisten sind an allem Schuld, daß es auf der Erde täglich schlimmer wird. Musik: vielleicht die, die bisher die göttlichen Erscheinungen angekündigt hat; die Engelfrau singt im Rumbarhythmus: Christen ja, Kommunisten nein! Christen ja, Kommunisten nein! Christen ja, Kommunisten nein! Die Musik wird unterbrochen. Entschuldige die Unterbrechung, aber ich habe das Wort ausgesprochen und muß mir den Mund sauber wischen -, in der Regel fahren die Leute direkt zur Hölle. Aber weil auch viele vor Hunger und Armut sterben, von Kriegen ganz zu schweigen, geht eine große Anzahl dieser Typen aus der dritten Welt geradeswegs in den Himmel, wie kleine Pfeile. Genauso ist es. Und das bringt uns aus dem Gleichgewicht, denn, wie du schon als Kind gelernt hast, sind Fegefeuer, Himmel und... AURA Und das All. ENGEL Nein! Du hast deinen Katechismus schlecht gelernt! ...sind Fegefeuer, Himmel und Hölle unser Jenseits, und das Fegefeuer ist nun praktisch leer. Dieser Zustand behagt dem Einzigen nicht, denn obwohl er die Gewissensreiter nicht beschäftigt, muß er einen

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Haufen Löhne zahlen, die nichts produzieren, unsere Wirtschaft ist bankrott. Deshalb dachte er an dich. AURA An mich? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. ENGEL Wie naiv du bist! Die Elftausend gehen nach der Begegnung mit dir ohne Umschweife ins Fegefeuer, um ihre lustvolle Nacht zu büßen. Und unsere Lage bessert sich zusehends. Verstanden? Auf Wiedersehen. AURA Nein! Warte... Soll das heißen, daß diese armen Mädchen sterben, wenn sie bei mir waren? ENGEL Genau das, du Trottel. Geht ab. AURA singt: Ich bin der Stachel der bergigen Höhen, ich bin der Stachel des Waldes, ich bin der Stachel der tiefsten Region, ich bin der Skorpi-on, ich bin der Stachel der tiefsten Region, ich bin der Skor-pi-on. Brennende Küsse, wollüstige Ergüsse, zum Exzeß getrieben, muß man das Laster lieben... da capo,... Dunkelheit. Licht im Büro. Der Freund malt riesige Kurven, die immer endlos nach oben verlaufen, während er mit sich selbst, mit seiner Stimme vom Tonband, spricht: TONBAND Hallo. Ich bin der innere Monolog. Ja, verehrtes Publikum, ja, auch wir Kommunisten haben einen inneren Monolog. Und ich muß sagen: „Ich hab das große Los gezogen." FREUND Also, ich habe immer an Aura geglaubt. TONBAND Ein Vermögen! Früher habe ich die Werbeagentur mit Extrajobs über Wasser gehalten, und damit auch meinen guten Aura durchgebracht. Und Julia machte mir ständig Vorwürfe. Dieser Mann treibt dich in den Ruin, sagte sie und hat mich dann seinetwegen verlassen. Obwohl sie eine Frau ist, und Frauen liegen von Natur aus immer daneben, muß sie jetzt zurückkommen. Jetzt bin ich reich, steinreich, Millionär. Und Aura ist auch reich. Aber ich weiß, daß Julia nicht zurückkommt... Wir beide lassen so richtig die Sau raus. FREUND Ich bin so zufrieden, ich kann an nichts Ernstes denken. Und heute erst recht nicht. Weil ich beschlossen habe, das Hochhaus, Torre Latinoamericana, für unsere neuen Büros zu kaufen. Es wird dann Lust auf Werbung Co. KG Tower heißen. TONBAND Kauf lieber das Hotel Mexiko! Du machst ein Theaterprogramm mit Aura persönlich, das nur aus Werbespots und allem

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Drum und Dran besteht. Du hättest einen Haufen geschmeichelter Kunden und den Laden immer voll. FREUND Das mache ich! Er rennt hinaus. Dunkelheit. Sofort Licht in Auras Raum. Er wirkt sehr erschrocken. JUNGFRAU eine Ex-Jungfrau, in Tränen aufgelöst, trägt einen langen schwarzen Umhang, der sie von Kopf bis Fuß einhüllt Wehe mir! Das Gewand zerreißen sollte ich mir, meinen Kopf auf den Boden, gegen die Möbel schlagen, das Antlitz mir mit Asche bestreuen, die Haare raufen, bis sie ausfallen... Für sich und ohne Geheul Eigentlich ist es gar nicht so tragisch. Niemand hat mich gezwungen, zu tun, was ich getan habe... Er wird es wissen... heult wieder Wehe, meine Keuschheit, mein makelloser Leib. Wehe mir! AURA Phantastisch! Geht ins Büro Hör dir den an! Jetzt habe ich einen Superspot, mein Freund! Dunkelheit. Auf der Leinwand ein Spot dazu folgender Text: Keuschi die ganz neue Jungferncreme. Weg mit allen Flecken, die den Körper bedecken! Weg mit Unreinheit, Pusteln und Pickel! Ganz ohne Sauna, Bürsten und Wickel. Allein mit der neuen Keuschi Jungferncreme sind Sie ganz Reinheit, sind Sie schön! Ende des Werbespots. Licht in Auras Raum. Er liegt mit einer häßlichen Frau im Bett. Das Telefon klingelt. Aura antwortet: Hallo. FREUND am anderen Ende der Leitung, spricht von einem Kabarett aus. Im Laufe des Gesprächs sollte der Raum sichtbar werden, aus dem er spricht. Aura willst du nicht herkommen? Ich erledige gerade ein paar kleine Geschäfte in der Bar vom Hotel Mexiko. Komm her, ich sitze hier mit zwei Supermiezen. AURA Supermiezen? FREUND Absolute Supermiezen, nicht wahr, meine Hübschen? AURA Und gehören die zu der Sorte, die ganz sicher für jeden die Beine breit machen? FREUND Für jeden! Also, für jeden natürlich nicht. Aber wenn du uns meinst, kannst du drauf wetten. AURA Also keine Jungfrauen? FREUND Wie kommst du darauf? Natürlich nicht... Willst du, daß ich sie frage? AURA Ich kann nicht kommen.

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FREUND Komm schon, Junge! Ich erzähle ihnen gerade von deiner Schnapsidee gestern, daß dir dieser Platz zwar für uns gefallen würde, daß du die Büros aber nur in die ersten beiden Etagen legen willst, auch wenn sich da dann alles stapeln würde, und in alle anderen nur Schlafzimmer, damit du den Rest deines Lebens jede Nacht in einem anderen schlafen kannst, immer mit 'ner anderen Mieze. Sie lachen immer noch darüber. Sie haben dich noch nicht gesehen, aber du gefällst ihnen schon, nicht wahr, ihr Hübschen? AURA Tut mir leid, jetzt kann ich nicht. Er legt auf. Der Raum, in dem der Freund saß, verschwindet. JUNGFRAU Wenn Sie gehen müssen, dann gehen Sie doch. Ich habe noch nicht entschieden, was ich tun werde. Ich denke... ja, ich denke, ich mache das mit Ihnen, aber ich glaube, es ist schlecht. AURA Schlecht für wen und warum? Hmm... Du hast es nie gemacht, du weißt nicht, wie es ist. Sei nicht blöde. JUNGFRAU zu sich Wenn ich es tue, kriege ich den orangefarbenen Käfer, Cannabis Abjectus, der mir in meiner Insektensammlung noch fehlt, und... ach, ich hätte ihn so gern, und... Das Telefon klingelt. AURA am Telefon Ja? STIMME am Telefon weiblich, gurrend Komm zu uns, sei nicht dumm. Wir gefallen dir bestimmt. Hihihi. AURA Das sind keine Jungfrauen! Er legt den Hörer auf. JUNGFRAU Ja, ja, mein Herr! Besorgen Sie es mir. Ich will es. Aber, ihn ansehend machen Sie bitte das Licht aus. Dunkelheit. Dann die Musik, die Auras Alptraum begleitet, sie kann den Vorstellungen der Schauspieler und der Regie entsprechend ausgewählt werden. Der Text lautet: JUNGFRAU oder mehrere Jungfrauen Ich heiße Laura, Ramona, Andrea, Lupe, Rosario, Estela, Carmina... Ich bin hier, um mit dir mich zu vergessen. Für einen Augenblick süßer Lust bin ich nicht Laura, Ramona, Andrea, Lupe, Rosario, Estela, Carmina... Bin nur ein Hauch, bin nur eine von vielen, die im Fegefeuer auf ewig verschwinden...

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Zweiter Akt Mit ausklingender Musik, die Auras Alptraum begleitete, öffnet sich der Vorhang. Hartnäckiges Pochen an der Tür zum Büro und die laute Stimme des Freundes. FREUND Aura, Aura! Aura antwortet nicht. Freund kommt herein, um nach ihm zu sehen. Hier bist du! Ich bringe Besuch mit. AURA Ich hatte einen schrecklichen Traum... Warte, ich ziehe mir die Hosen an. FREUND Ziehe dir auch ein frisches Hemd an! Hier ist Besuch... Hätte nicht gedacht, daß du noch schläfst, sieh mal auf die Uhr. Wann wirst du dieses Laster ablegen? Ich weiß, daß du sie gern siehst, darum habe ich sie gleich mitgebracht, ohne dich vorher anzurufen oder sonstwas... Ich wußte, sie würde wiederkommen, weil sie uns wirklich mochte. AURA Wer ist es? FREUND Es ist Miezimein. AURA Julia hier? Aber sie mag mich doch nicht, wenn die bloß meinen Namen hört... FREUND Nein Mann, nicht Julia. Nicht meine Mieze, sondern Miezimein, Miezimein Garcia. Ich hab sie auf der Straße getroffen. AURA Miezimein? Miezimein Garcia! FREUND Ganz genau. AURA Die mit dem roten Kleid? FREUND Na klar. Weißt du, sie war sehr lieb zu mir, seit ich sie auf der Straße getroffen habe. AURA Lieb zu dir? FREUND Im wahrsten Sinne des Wortes. AURA Miezimein!... ruft Miezimein! Das Licht wechselt. Die beiden Darsteller werden von der Dunkelheit fast völlig verschluckt, während ein Spot Miezimeins Auftritt beleuchtet, die irgendeine Melodie singt. Wenn der Spot zu Ende ist, wird Auras Raum wieder normal beleuchtet. MIEZIMEIN Wie geht's dir, Aura, mein Schatz, was hast du so getrieben? AURA Und dir? MIEZIMEIN So wie immer, ich mache Werbespots, träume weiter davon, einmal eine berühmte Balladensängerin zu werden, und ich lebe nicht schlecht...

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FREUND Ich hab ihr angeboten, mal mit uns einen Spot zu machen. MIEZIMEIN Ich wäre entzückt. AURA Klar doch... Und Huitzilopoztli? MIEZIMEIN Wer? AURA Na dein Freund damals. MIEZIMEIN Weeer? AURA Einer, der immer von Toren sprach. MIEZIMEIN Ach, Huichi? Habe ich seit Jahren nicht gesehen. AURA Und Zeus? MIEZIMEIN Welcher Zeus? AURA Der andere Freund, der Dicke. MIEZIMEIN Habe ich auch nicht mehr gesehen. TONBAND Hallo. Ich bin der allwissende Erzähler: „Was kann m a n von einer Figur erwarten, die sich Miezimein nennt, die dieses Adjektiv als N a m e n führt? Na, daß sie es mit jedem treibt. Es ist unbegreiflich, daß Aura sich über zwei oder drei von ihnen ärgert, denn das Problem sind alle, einfach alle." Während des Abspielens des Tonbandes hat Aura, ohne daß es zu hören war, sie nach einigen anderen gefragt. Die Heuchlerin will alle natürlich nicht mehr gesehen haben. AURA Und was ist mit... FREUND Hör auf damit. MIEZIMEIN Und du hast nicht geheiratet? AURA Nein. MIEZIMEIN zum Freund Und du? FREUND Ich bin noch nicht geschieden. MIEZIMEIN Aaah... also dann, gehen wir irgendwo was essen? FREUND Ich habe Hunger. AURA Ich habe noch nicht mal gefrühstückt... Wohin also? FREUND nicht mehr gut gelaunt Jetzt fällt mir ein, ich kann nicht mit euch gehen, ich habe zur Abwechslung ein Geschäftsessen. AURA Mach dir nichts draus, Junge, das ist der Erfolg. MIEZIMEIN Wir drei gehen ein andermal essen. Gehen wir, Aura? Ich habe auch Hunger. AURA Also los! In viel zu grellem Licht und zu lauter Musik erscheint der Engel, sichtbar für Auras erleuchete Augen.

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ENGEL Nein, nein! Geh ruhig essen, aber denke an deine löbliche Aufgabe, besser gesagt: Geh essen, aber nichts weiter. Sie ist alles andere als eine Jungfrau, mit ihr geht also nichts. Basta. AURA Nein? Aber das ist doch Miezimein. Die kannte ich schon vorher, die zählt nicht. Laß mir bitte die Gelegenheit. ENGEL Neiiin. Sie kann heißen wie sie will. Geht ab. AURA Ich glaube, ich gehe besser nicht essen. MIEZIMEIN Warum nicht? Gehen wir! Werbespot mit folgendem Text wird projiziert: AURA Mecky, das andere Restaurant. Hier gewinnen Sie Klarsicht für ihre Geschäfte. Nur bei Mecky. JUNGFRAU Für Mahlzeiten, wo sie die Dinge mit der nötigen Distanz angehen müssen. AURA Vergessen Sie Becky. Essen Sie bei Mecky. Ende des Spots. Die Jungfrau ist wie eine Braut gekleidet. Aura unterhält sich liebenswürdig, aber ein wenig gequält mit ihr. Sie hält die Hände vor ihren Schoß. JUNGFRAU Und zur Trauung ist er einfach nicht gekommen, stellen Sie sich das vor! Er ist nicht erschienen. Und meine Freunde waren da, meine Verwandten, und seine Freunde und Verwandten, die Geschenke und die Sahnetorte, riesig, mit unseren Namen drauf, und er kam nicht! AURA Sie Arme, sie müssen sehr gelitten haben. JUNGFRAU Das Schlimmste kam erst, als ich zu Hause war. Seitdem habe ich Schmerzen, hier. Darum konnte ich mir das Brautkleid nicht ausziehen. Wenn ich die Hände wegnehme, ist mir, als ob ich sterbe. Ehrlich! Und als ich gestern zwei Aspirin in der Apotheke kaufen wollte, war da ein merkwürdiger Mann, wie aus dem Film. Mit langem Haar und Bart, in einem langen, weißen Hemd und groben Ledersandalen, und mit einem Schmuck wie eine kleinen Krone auf dem Kopf. Kennen Sie den? Also, der sagte mir, ich soll hierhingehen, sie könnten mich heilen. Haben Sie ein Herz! Heilen Sie mich! AURA Ja. Das heißt, nein. Ach! Ich weiß nicht. Er rennt verzweifelt hinaus. Unter Tränen singt er: Oh nein, oh nein, ich bin der Stachel. Das geht zu weit. Das geht mir zu weit. Es tut mir alles so schrecklich leid. So schrecklich leid.

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FREUND hereinkommend Ich habe eine Überraschung für dich. Rate! Rate mal, was es ist! Du glaubst es nicht. Wer meinst du, hat uns angerufen, eh? Wessen Etat glaubst du, sollen wir managen, eh? Den eines Kunden, um den sich die Agenturen in New York reißen. Einfach unglaublich! Um wen geht es wohl? AURA Keine Ahnung. FREUND Um El Cuervo, die Theaterbar! El Cuervo gehört uns. Phantastisch!... Was ist los mit dir? Bist du krank? AURA Nein, nein. FREUND Und warum gehst du dann nicht vor Freude in die Luft? AURA Schon gut. Er geht zu seinem Raum Wir sehen uns später. FREUND Und jetzt? AURA Ich muß arbeiten. FREUND Das stimmt. Ein bißchen. Geht ab. TONBAND Ich bin es wieder, dein innerer Monolog, Aura. Ich bin ratlos, weiß nicht mehr, wer ich bin oder wer ich nicht bin. Ach! Sein oder Nichtsein. Aura betritt seinen Raum. Ihn erwartet eine sehr vornehme Frau, eine echte Prinzessin. AURA Und die Braut? JUNGFRAU Ich weiß nicht, was du meinst. Ich bin nie Braut gewesen. TONBAND Eine ist dir entgangen, Aura. Ihr habt euch nicht weiter verabredet. Konzentriere dich auf deine Aufgabe und lassen wir die Dummheiten. Wie wollen wir sie jetzt wiederfinden? Was ist, wenn sie nicht wieder auftaucht? Worauf haben wir uns da eingelassen! JUNGFRAU Warum fragst du nicht, Plebejer, dessen größter Fehler es war, in eine miserable Wiege geboren zu sein, was ich hier will? AURA Ja, was kann ich für Sie tun? Möchten Sie einen Kaffee? JUNGFRAU Kaffee trinke ich nicht. AURA Was möchten Sie trinken? JUNGFRAU Ich trinke nicht. AURA Aha! JUNGFRAU Ich komme wegen einer Auskunft, oder vielmehr bist du der Mittelsmann zu meinem Prinzen. Ich kann nur einen Adligen heiraten, einen meiner Klasse, einen Sproß aus königlichem Geschlecht. Gib mir Auskunft, Plebejer. Ich weiß, was du als Gegenleistung forderst.

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AURA Wollen Sie die Information gleich oder hinterher? JUNGFRAU Sofort, bevor du dann dein Plebejerhonorar einstreichst. Keine Angst, Prinzessin Katharina steht zu ihrem Wort. AURA Gehen Sie heute Abend, 21.30 Uhr, in die Bar El Cuervo. Und ich nehme nichts dafür. JUNGFRAU Wiesodas? AURA Ich will nichts. Hört ihr mich da oben? Ich nehme nichts. Ich breche den Pakt! Jungfrau geht ab. Lautes Donnergrollen und die Stimme des Einzigen. STIMME Jetzt wirst du sehen, was es bedeutet, meine ganze Macht gegen dich zu haben, meine Heerscharen, meine... Eine Störung auf dem Band, danach ist nichts mehr zu hören. Der Freund kommt sehr aufgeregt herein. FREUND Aura, was ist los? Was hast du angestellt? Vor unserem Büro wartet eine Armee von Bullen mit Schlagstöcken und Tränengas auf dich. Gleich sind sie hier. Was hast du gemacht? Und als ich die Treppe raufkam, bin ich einer Frau mit Flügeln begegnet, und die hat mir das hier gegeben. Er hält ihm eine Zeitung hin. AURA Was steht drin? FREUND „Mysteriöser Fall", „Mörder von elftausend Frauen spurlos verschwunden", „9000 noch nicht Ermordete klagen an". Das sind die Schlagzeilen. Und eine Meldung lautet: „Polizei sucht Mörder von 2000 Frauen, deren Leichen unauffindbar sind. Man befürchtet, der Schlächter hat sie aufgefressen". Was soll das heißen? AURA Wie soll ich das erklären? Ein Tonband läuft rasend schnell, verzerrt. Und wie entkomme ich der Rache des flammensprühenden Fingers? FREUND Dich rettet nicht mal mehr der Gott des Käses. AURA Was soll das mit dem Gott des Käses? FREUND Ich rate dir, verdrücke dich in ein Mennonitenkloster, vielleicht nehmen die dich auf. Na mach schon, sie schlagen schon gegen die Tür, und die hält nicht lange Stand. Hau durchs Fenster ab! Aura ab. Der Freund öffnet die Tür. JUNGFRAU Entschuldigen Sie! Sind Sie der, der mir den Coupon gibt? FREUND Nein. Ich nicht. Gehen Sie... Was für einen Coupon? JUNGFRAU Den Coupon für die Zeitschrift Kunst und Mode. FREUND Kunst und Mode?

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JUNGFRAU In der Schlange im Supermarkt habe ich gehört, daß man hier Gutscheine für ein Dauerabonnement der Zeitschrift Kunst und Mode verschenkt, als Gegenleistung für... Das Telefon klingelt. FREUND Lust auf Werbung Co. KG. Ja? Ah! Wie geht es Ihnen, Herr ...? Entschuldigen Sie eine Sekunde. Zur Jungfrau Gehen Sie bitte. Sie haben die Adresse falsch verstanden. By by... Hinaus! ... Raus! ... Out! JUNGFRAU im Hinausgehen Und mein Dauerabonnement für Kunst und Mode? FREUND Jawohl, Herr..., welche Freude, persönlich mit Ihnen zu sprechen... Aber... Unmöglich! Es kann gar nicht sein, daß die letzte Kampagne eine so negative Resonanz in der Öffentlichkeit hatte.... Ja, derselbe Texter hat sie gemacht, Aura. Ja... Ja... Sie wollen von ihm keine Texte mehr? ... Und warum nicht? ... Die Kunden beschweren sich? ... Aha, nur die, die wiederkommen... Die, die wiederkommen? ... Nein... Ich komme zu... Sie ziehen den Auftrag zurück? Werbespot mit folgendem Text: singt Du willst ins El Cuervo? Laß das lieber sein. Du willst ins El Cuervo? Geh da gar nicht erst rein. Die Getränke sind teuer, der Service ist schlecht. Das Publikum poplich, sein Schmuck ist nicht echt. Im Bier schwimmen Fliegen. Der Wirt ist ein Schwein. Geh nicht ins El Cuervo. Geh da nie wieder rein.

MIEZIMEIN

Dies ist das Ende. Aber nach dem Applaus soll sich der Vorhang wieder heben: A U R A S O war es. Ich ging ins Mennonitenkloster, bat um Schutz, und die entsprechenden himmlischen Heerscharen kümmerten sich mit außerordentlicher Güte um mich. Ich kann sagen, es ist vorbei. Ich habe nur ein Problem: unser größter Kunde will einfach kein Gras über die dumme Geschichte wachsen lassen. Als er in kurzer Zeit vor dem Bankrott stand, wurde in seinem Theater ein idiotisches Stück mit dem Titel: A U R A U N D D I E E L F T A U S E N D J U N G F R A U E N uraufgeführt. Alle Darsteller tanzen und singen das Schlußlied, als wäre dies ein grandioses Musical:

Aura und die elftausend

Jungfrauen

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Silber und Gold, 11000 Jungfrauen hold, Silber und Gold... Marmor und Stein, es dürfen aber nur Jungfrauen sein, Marmor und Stein... Samt, Seide und Elfenbein, laß dich immer nur mit Jungfrauen ein... Samt, Seide und Elfenbein... König und Pferd, so viel sind die Jungfrauen wert, König und Pferd... Mit Stumpf und Stiel, 11000 Jungfrauen zu viel, mit Stumpf und Stiel... Aura und Co. schlägt elftausend Jungfrauen K.O. Aura und Co... Alle Darsteller parodieren phantastische Sänger und Tänzer einer spektakulären Musicalnummer.

Die Theaterbar El Cuervo ist Carmen Boullosas Theater. Die Texte der Werbespots machte Kati Röttger

Mariela Romero Warten auf den Italiener Esperando al italiano

Deutsch von Elisabeth Müller

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Mariela Romero

„Siempre me ha conmovido la mujer; es un ser que me llena de ternura, pero no la veo como víctima. Somos hacedoras." (Mariela Romero, Interview 1988) Frauen haben mich immer sehr beschäftigt; sie gehen mir nahe, aber ich habe sie nie in der Opferrolle gesehen. Wir sind Macherinnen!"

Warten auf den Italiener

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Mariela Romero (1949) erlangte bereits mit einem ihrer ersten Theaterstücke, El juego (Das Spiel)1, das 1976 in Caracas uraufgeführt wurde, über die Grenzen ihres Geburtslandes Venezuela hinaus große Anerkennung. Das Stück erhielt 1980 den venezolanischen Kritikerpreis, wurde in den USA und in Frankreich inszeniert und schließlich unter dem Titel Bésame mucho von Philipe Toledano verfilmt. El juego markiert in Romeros Biographie die Wende von der Schauspielerin zur Dramatikerin und ist gleichzeitig von ihrer theaterpraktischen Erfahrung geprägt, denn es konstituiert sich in erster Linie aus theatralischen Mitteln, die an den Körper des Schauspielers gebunden sind. Der Text entwirft die weibliche Doppelfigur Ana I und Ana II, die sich in knappen, scharfen Dialogen einen Schlagabtausch von Macht und Unterwerfung liefern, aus dem nicht hervorgeht, wer Unterdrückerin, wer Unterdrückte ist. Vielmehr entwickeln die beiden eine (unendlich fortzusetzende) Reihe ritualisierter Spiele, in denen sie immer wieder neue Situationen der gegenseitigen Abhängigkeit schaffen, im Wechsel der Rollen von „Herrin" und „Sklavin", Peiniger und Opfer.2 Ähnliche theatralische Konstellationen erprobte Romero in den beiden weiteren Stücken der Trilogie, von der El juego den Anfang bildet, El inevitable destino de Rosa de la noche (1980) und El vendedor (1984), wobei in Rosa de la noche diesmal zwei männliche Figuren - Obdachlose, die ihr Dasein unter einer Brücke fristen - das Spiel von Macht und Ohnmacht spielen. Romeros zweitjüngstes Theaterstück3 Warten auf den Italiener4 verrät ihre Affinität zu Film und Fernsehen. In den zwölf Jahren, die zwischen El juego und diesem Stück liegen, hat die Autorin 22 Fernsehscripfs, sowie zwei Filmdrehbücher verfaßt. Auf den ersten Blick erscheint Warten auf den Italiener wie eine seichte Komödie im Stil einer Telenovela: Vier alternde Frauen wollen ihren Lebensherbst aufpeppen. Sie legen all ihr Erspartes zusammen, um einen Italiener zu mieten, der sie abwechselnd an den Wochenenden verwöhnen soll. Während eine von ihnen unterwegs nach Italien ist, um den von allen ersehnten Mann abzuholen, war-

1

veröffentlicht Caracas 1977.

2

vgl. Susana D. Castillo: „El juego-. Texto dramático y montaje", in LATR 14,1 (Spring 1980), S. 25-34.

3

Das jüngste heißt El regreso de rey Lear und ist 1996 in Caracas uraufgeführt worden.

4

Orig. Esperando al italiano, 1988 in Caracas uraufgeführt, 1989 veröffentlicht, erhielt 1989 den nationalen Kritikerpreis und den Preis für den besten Theaterautor des Jahres 1989.

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Marida

Romero

ten die anderen drei in Gesellschaft des Hausmädchens und eines Freundes auf die Ankunft. Liest man das Stück genauer, wird deutlich, daß die grausame Bösartigkeit und ritualisierte Theatralität der Machtspiele aus den frühen Stücken Romeros auch in Warten auf den Italiener zu finden sind, allerdings in äußerst subtiler und kaum wahrnehmbarer Weise. Ähnlich wie in Raznovichs Herbstzeitlose leben die vier Frauen in einem Spannungsfeld zwischen (illusionärer) Medienrealität und Frauenalltag: ihre Sehnsucht nach einem Leben wie in Filmgeschichten und Schlagertexten verschleiert nicht die Gewalt, welche die Bilder „echter Liebe, echter Schönheit, echten Lebens" auf sie ausüben. Dennoch sind sie keine naiven Träumerinnen, keine Opfer dieser Mediengewalt, sondern „Macherinnen". Alle alleinstehend und auf sich selbst angewiesen, nehmen sie ihren Traum vom „richtigen Mann" selbst in die Hand und gründen eine Kooperative, um ihn zu realisieren. Dabei ist ihnen klar, daß die romantische Liebe zu einem Mann doch nur Illusion ist. Deshalb läßt die Lösung des Problems Romantik erst gar nicht zu. Mit einem Mietvertrag sind sie vor Enttäuschungen gefeit. Da die Dramaturgie des Stückes jedoch haarfeine Übergänge zwischen alkoholisierten Gesprächen, dem Abspielen von schnulzigen Schallplatten, der Rezitation von Schlagertexten, nachgespielten Filmszenen und den Rollen, die die Freundinnen einander immer schon vorgespielt haben, vorsieht, verwischen sich am Ende die Grenzen zwischen der medialen Künstlichkeit ihres Lebens und der ,Wahrheit' ihrer Realität. Ihre Existenzen erweisen sich als ebenso fiktiv und wirklich zugleich wie der Silikonbusen, mit dem Teresa ihre Freundinnen überrascht - oder eben der Italiener, der nie ankommen wird. Kati Röttger

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Warten auf den Italiener Personen: Jacinta, Anfang 60 - Maria Antonia, Mitte 50 - Juan José, Mitte 50 Rosalba, Anfang 50 - Teresa, Anfang 50. Erster Akt Maria Antonias Wohnung. Jacinta, eine stämmige und energische Mulattin, wischt den Fußboden. Alle Eßzimmerstühle stehen auf dem Tisch. Aufgerollte Läufer und die übrigen Möbel stehen an der Wand. JACINTA singt „Maria Antonia es una mujer que está loca de remate, escribe con la escoba y barre con el paper mate..." Die Haustür wird geöffnet, María Antonia erscheint. Sie hat einen Blumenstrauß im Arm und schiebt eine schwere Kiste mit dem Fuß durch die Tür. MARÍA ANTONIA Jacinta! Jacinta! Hör auf damit und komm mir helfen. Hat jemand angerufen? JACINTA Nein. Paß auf! Der Boden ist feucht. Sie will ihr die Blumen abnehmen. MARÍA ANTONIA Nicht die Blumen, dumme Gans! Die Kiste! JACINTA hebt die Kiste hoch Aha... harte Drinks! Und was ist mit dem Gemüse, das du kaufen wolltest? MARÍA ANTONIA Ich bin nicht durchgekommen. Sie legt die Blumen auf den Tisch. Es war zu voll im Supermarkt! Wie Heiligabend damals vor dem Schwarzen Freitag 1 ... und alle haben Schnaps eingekauft. Bestimmt steigen die Preise jetzt wieder. Jede Wette! JACINTA Die armen Säufer! Soll mir aber egal sein, ich trinke nicht... Sie geht singend in die Küche: „Maria Antonia es una mujer loca de remate..." MARÍA ANTONIA Sehr witzig! JACINTA aus der Küche Dieses Lied hat Gualberto Ibareto berühmt gemacht, erinnerst du dich? Ich meine, das Lied hat ihn berühmt gemacht. MARÍA ANTONIA schleudert die Schuhe von den Füßen Ah, tut das gut! Diese Schuhe bringen mich um. Hast du die Hühnersuppe aufgesetzt?

Marieta Romero

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JACINTA aus der Küche Den Salat angerichtet, die Bratbananen vorbereitet und das Eis in den Eiskübel gefüllt. Sie kommt aus der Küche. Seit Jahren tue ich... jeden Samstag dasselbe... warum sollte ich es vergessen? MARÍA ANTONIA Ich geh unter die Dusche. Wenn Juan José kommt... JACINTA Bitte ich ihn herein und bring ihm einen Whiskey. Maria Antonia nickt und geht auf ihr Zimmer zu. Jacinta fängt wieder an zu singen: „Maria Antonia es una mujer loca de remate..." Was ist mit diesen Blumen? MARÍA ANTONIA Stell sie in die Vase! Sie geht in ihr Zimmer. JACINTA Jeden Samstag, den Gott werden läßt, derselbe Zirkus! Sie kommt nach Hause, wirft die Schuhe ab und läßt sie liegen... dafür hat sie ein Dienstmädchen. Sie würde sich nicht mal für nen Hunderter selbst bücken hebt die Schuhe auf kein Wunder, daß ihr die Füße weh tun. Diese Schuhe hat sie gekauft, als sie dreißig Pfund weniger wog. Jetzt sehen ihre Füße aus wie zwei Riesenschinken. Oh... und diese Angewohnheit, Begräbnisblumen zu kaufen, nachäffend: „Diese Blumen halten länger!" Wenn schon... Tatsache ist, sie bringen Unglück. Das hat ihr selbst der General gesagt... „diese Blumen riechen nach Tod, Maria Antonia"... aber sie hat nicht auf ihn gehört. Kein Wunder, daß er auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist... Man kann nicht sein ganzes Leben mit diesem Geruch nach Totenwache leben... Der Geruch der Blumen und... Es klingelt an der Tür, sie geht öffnen. Juan José tritt ein. Er trägt ein altes Kordjackett, gibt sich jünger als er ist, hat ein Buch unter dem Arm. JUAN JOSÉ Grüß dich, Jacinta! JACINTA Kommen Sie. Ich bring Ihnen sofort Ihren Whiskey. Maria Antonia ist noch unter der Dusche. JUAN JOSÉ Und die anderen? JACINTA Sind noch nicht da. Sie sind wie immer der erste.

Juan José macht es sich bequem, indem er wie gewohnt Dinge beiseite schiebt, während Jacinta mit den Blumen in die Küche geht.

JACINTA singend

„Allá viene, allá viene Juan José, viene de la gran capi-

tal..." trällert weiter. JUAN JOSÉ setzt sich Ich wünschte, du würdest dein Repertoire mal ändern, Jacinta. Er schlägt das Buch auf und blättert darin. MARÍA ANTONIA aus ihrem Zimmer Jacinta, Jacinta... meine Weste!

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JUAN JOSÉ Sie kommt gleich. Sie holt mir gerade einen Whiskey. MARÍA ANTONIA aus dem Zimmer Ach... du bist schon da? Bin sofort fertig. Jacinta trägt ein Tablett mit Gläsern, einer Whiskeyflasche und einem Kübel mit Eiswürfeln herein. JUAN JOSÉ María Antonia bittet dich um ihre Weste. JACINTA Hab ich gehört. Sie geht, um die Weste zu holen. Juan José schenkt sich einen Whiskey ein. Maria Antonia kommt herein. Nach der Dusche sieht sie erfrischt aus. MARÍA ANTONIA Hallo! Sie küßt ihn. JUAN JOSÉ zieht die Luft ein. Chanel? MARÍA ANTONIA nickt Wie immer! Ist das das Buch, das du mir versprochen hast? JUAN JOSÉ „Lola, espejo oscuro", es war sehr schwer zu kriegen. MARÍA ANTONIA Ich werde gleich morgen damit anfangen. Sie nimmt sich einen Whiskey Oh, diese Jacinta! Sie wird immer langsamer! JUAN JOSÉ Sie wird alt. JACINTA kommt singend mit der Weste herein „Ay Juan José me da pena verte, cómo te han vitoqueado... ya no sabes montar, ni siquiera hacer caminar el burro..." geht singend zum Schlafzimmer. JUAN JOSÉ Und, was ist mit Margarita? MARÍA ANTONIA Sie hat Teresa gestern Abend angerufen. Sie wird wohl heute mit der Mittagsmaschine ankommen. JUAN JOSÉ Mit dem Italiener? MARÍA ANTONIA Jacinta... laß die Pumps nicht hinter der Tür liegen. Heb sie auf und räum sie weg. Wechsel die Handtücher und leg eine neue Rolle Klopapier hin... das amerikanische ... mit den Blümchen. JUAN JOSÉ Importiertes Klopapier! So schlimm kann es um uns noch nicht stehen. MARÍA ANTONIA Wann war für die Armee die Situation je schlimm, mein Lieber? Außerhalb der Kasernentür vielleicht... aber für die... Sie tippt sich ans Auge. JUAN JOSÉ Du mußt dich beschweren, du wischt dir den Hintern mit geblümtem Klopapier. MARÍA ANTONIA Zum Glück hab ich noch die Einkaufskarte für den Armeesupermarkt, mein Lieber.

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JUAN JOSÉ Und einen hübschen Hintern obendrein... du hast eben Glück. Maria Antonia grinst kokett. MARÍA ANTONIA Heute stapelten sich da Unmengen Gouda, Prosciutto, Paté in Dosen... JUAN JOSÉ Und tausende und abertausende Kisten mit Schnaps! MARÍA ANTONIA Und die Weiber, die da einkaufen! Alle gleich! Dieselben Frisuren, dieselben eingefärbten Strähnchen, mit billigem Modeschmuck vollgehängt, als gehörten sie zur Schaufensterdekoration. Nein, mein Lieber, wenn ich die Karte nicht hätte... JUAN JOSÉ Dein einziges Andenken an den General. MARÍA ANTONIA wirft ihm einen wütenden Blick zu, beschließt dann aber die Bemerkung zu überhören Hast du die Zahlen getippt, die ich dir genannt habe? JUAN JOSÉ Nein. MARÍA ANTONIA Aber ich habe dir doch gesagt, der Jackpot ist voll... JUAN JOSÉ Ich gehöre zur Bingo-Generation, Maria Antonia. Ich glaube nicht an das Lotteriespiel. Es wird mich nie überzeugen. Pause Kommt Margarita mit dem Italiener? MARÍA ANTONIA Klar! Schließlich haben wir ihr dafür die Reise bezahlt. Juan fosé lacht. Habe ich dir schon sein Foto gezeigt? Er schüttelt den Kopf. Warte, ich zeig es dir. Geht es holen Hier! Wie findest du ihn? JUAN JOSÉ Italienisch sieht er jedenfalls aus: goldenes Kettchen um den Hals... aufgeknöpftes Leinenhemd, um die bis zur Taille behaarte Brust zu zeigen... oh, und die spitzen Schuhe... perfekt! MARÍA ANTONIA Ein Volltreffer! JUAN JOSÉ Aber ihr hättet ihn auch um ein Aktfoto bitten sollen. Die Ausbuchtung da unten sieht mir eher aus wie eine Damenbinde. Maria Antonia schnappt ihm das Foto weg. Jacinta kommt ins Zimmer zurück. MARÍA ANTONIA Jacinta, bist du sicher, daß niemand angerufen hat, als ich weg war? Bitte, versuch dich zu erinnern, du machst dir ja nie die Mühe, was aufzuschreiben... JACINTA Oho! Wenn du mir nicht glaubst, solltest du dir einen Anrufbeantworter anschaffen. Sie geht in die Küche Ich bin vielleicht alt,

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aber mein Kopf funktioniert noch ganz gut... nicht wie bei manchen anderen... MARÍA ANTONIA Diese Frau wird immer unverschämter! Eines Tages werde ich mit dem falschen Bein aufstehen und sie geradewegs in ihr Dorf zurückschicken. Wie geht es deinen Jungs? JUAN JOSÉ Gut. Ich hab heute Morgen bei ihnen reingeschaut. Es geht ihnen gut. Ein bestimmtes Klingelzeichen an der Tür. MARÍA ANTONIA Das ist Rosalba. Maria Antonia öffnet die Tür. Rosalba kommt herein und begrüßt sie mit einem Kuß. Sie ist eine elegante Frau mit weichen Bewegungen, sehr gut erhalten. Ihr Haar ist professionell frisiert. Sie hat eine Tortenschachtel in der Hand. Ich wußte, daß du es bist. ROSALBA Liebes, sei so gut und sieh mal aus dem Fenster, ob ich falsch geparkt habe. Hier einen Parkplatz zu finden, ist die reinste Tortur. Grüß dich, Juan José. JUAN JOSÉ Wie geht's Dir, Rosalba? ROSALBA Blendend! Ich bin aufgeregt! Glücklich! MARÍA ANTONIA Bist Du das, direkt hinter mir? Rosalba nickt. Dann kannst du stehenbleiben. Der Parkplatz gehört zwar dem Portugiesen vom Lebensmittelladen. Aber sein Auto ist heute Nacht abgeschleppt worden. ROSALBA Ich habe eine Biskuitrolle mitgebracht, Liebes. Alles andere sah scheußlich aus, alt und... dafür sind wir doch zuständig. Lacht. JUAN JOSÉ Damit meinst du ja wohl nicht dich, Rosalba. Du bist wie das Bildnis des Dorian Gray: eine Verkörperung ewiger Jugend. MARÍA ANTONIA Sieht sie nicht toll aus? Ist meine Freundin nicht schön? ROSALBA Nein, Liebes. Zu Zeiten der Pérez-Jiménez-Diktatur habe ich vielleicht gut ausgesehen. Aber leider ist das dreißig Jahre her... dreißig Jahre einer unerträglichen, nie enden wollenden Demokratie. JUAN JOSÉ Dreißig Jahre! Das ist doch nichts, Rosalba. Erinnerst du dich an den Tango? ROSALBA Sicher. Aber deswegen mußte Carlos Gardel 2 sich ja auch umbringen. Er war der Einzige, der sagen konnte: „Zwanzig Jahre

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sind nichts für einen liebevollen Blick." Wenn er noch am Leben wäre und sich selbst im Spiegel sehen könnte, würde er bestimmt was anderes singen! Wo ist Teresa? MARÍA ANTONIA Sie wird gleich kommen. ROSALBA Ich sterbe vor Neugier! JUAN JOSÉ Was möchtest du trinken, Rosalba? ROSALBA Whiskey, wie üblich. Ich will meine Gewohnheiten jetzt nicht ändern. Ah, Maria Antonia, sieh mal... ich habe dir ein Andenken an alte Zeiten mitgebracht. Erinnerst du dich an die Platte von Agustín Lara 3 , von der ich dir neulich erzählt habe? Holt eine Cassette hervor Meine Tochter hat sie mir aufgenommen. Spiel sie mal. MARÍA ANTONIA Sofort, Mädchen, sofort. JUAN JOSÉ Ich sagte vorhin zu Maria Antonia, daß der Italiener, den ihr erwartet... ROSALBA Er kommt heute, nicht wahr? Maria Antonia nickt. JUAN JOSÉ Ich glaube, er wird euch enttäuschen. ROSALBA Natürlich, Schätzchen, das glaubst du nur... weil du sein Foto nicht gesehen hast. JUAN JOSÉ Im Gegenteil. ROSALBA Dann sei ganz still, von Männern verstehst du nichts. JUAN JOSÉ Du dafür umso mehr, nicht wahr? Sie sind dein Spezialgebiet. ROSALBA An gutem Geschmack hat es mir nie gemangelt, mein Lieber. Zu Maria Antonia Jetzt müßte Margarita schon hoch in den Wolken schweben. JUAN JOSÉ Das habe ich zu Maria Antonia auch gesagt. ROSALBA Ich meine, daß sie im Flugzeug sitzt. Du solltest dir deine Kommentare sparen, okay? Ah, Maria Antonia, kannst du sie dir vorstellen? Wie ich sie kenne, kommt sie mit einem kompletten Gucci-Gepäck zurück, wie eine Prinzessin stolziert sie damit durch die Gänge von Fiumiccino... der Italiener zwei Schritte hinter ihr. JUAN JOSÉ Wie heißt der? ROSALBA Fiumiccino, Schätzchen. Bist du taub? JUAN JOSÉ Ich meine den Kerl... Wie heißt der Mann? MARÍA ANTONIA Gian Piero. Den Nachnamen weiß ich nicht mehr. ROSALBA Den brauchen wir auch nicht zu wissen. Der Vorname reicht.

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JUAN JOSÉ Heißt das, ihr wißt überhaupt nichts über ihn... über seine Vergangenheit... seine Familie... seine... ROSALBA Sieh mal J.J., wir haben nicht vor, eine Dynastie mit ihm zu gründen. JUAN JOSÉ Aber wenn man ein Haustier kauft, zum Beispiel einen Zuchtbullen, erkundigt man sich immer nach dessen Herkunft. ROSALBA auf Juan José deutend Was hat er, Liebes? MARÍA ANTONIA hebt ihr Glas Auf Gian Piero! JUAN JOSÉ Auf den Italiener. Er trinkt einen Schluck. ROSALBA J.J., wieso meinst du, daß der Italiener uns enttäuschen wird? JUAN JOSÉ Fragst du mich? ROSALBA Ja... dich! Eifersüchtig, J.J.? MARÍA ANTONIA lacht Oh, wenn du ihn J.J. nennst, klingt das immer so, als wäre er wohlhabend. ROSALBA Er und wohlhabend? Seit ich ihm das erste Mal begegnet bin, und das ist viele, viele Jahre her, wohnt er in derselben Pension, kauft Bücher im Antiquariat, fährt in öffentlichen Verkehrsmitteln und trägt dasselbe alte Jackett, das schon fast von allein steht. Nein... er ist arm, ärmer als eine Kirchenmaus. JUAN JOSÉ Aber stolz darauf. ROSALBA Selbst die Frauen, die er aufreißt, wenn er kann, muß er hierherbringen, weil er hier umsonst zu essen kriegt... betont und zu saufen dazu! MARÍA ANTONIA Ja, und ans Lottospiel glaubt er nicht... wie will er es da zu w a s bringen? Sieh mich an... Beim allerersten Mal habe ich achttausend sechshundert Bolívares gewonnen. JUAN JOSÉ Und was hast du mit dem Geld gemacht? Sie sehen sich an. ROSALBA trotzig Sie hat es in die Kooperative investiert. Juan José lacht. Hältst du das für eine schlechte Investition? JUAN JOSÉ Alles, was ihr tut, finde ich wundervoll! Er schenkt sich einen neuen Drink ein. ROSALBA Sicher... du hast mir immer noch nicht verraten, warum uns der Italiener deiner Meinung nach enttäuschen wird. MARÍA ANTONIA Eifersucht, Liebes. Er ist ganz einfach eifersüchtig. Es klingelt an der Tür. Das muß Teresa sein! ROSALBA Ich, ich, ich! Laß mich gehen. Sie öffnet die Tür, es ist tatsächlich Teresa. Überraschung! Überrascht ist aber Rosalba selbst bei Teresas

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Anblick, die in einer Gilda-Pose im Türrahmen lehnt. Oh Teresa... du siehst fabelhaft aus! Komm rein. Teresa kommt herein und streicht sich dabei über den kürzlich gelifteten Busen. Ich habe dich noch nicht gesehen! Zeig her... perfekt... wunderschön... besser als die Venus von Milo... sogar besser als das Maria-Lionza-Denkmal! TERESA Und ohne BH! MARÍA ANTONIA Da stecken ihre ganzen Ersparnisse drin. TERESA ohne auf die Bemerkung einzugehen Faß mal an... faß mal an, dann weißt du, was die wert sind. Juan José beugt sich vor. Dich habe ich nicht gemeint, Grabscher! JUAN JOSÉ Mir haben die alten besser gefallen. Zu Maria Antonia Sie waren schwerer. ROSALBA Selbst in deinen besten Zeiten hast du nicht so gut ausgesehen, Teresa. TERESA Demnächst laß ich mir auch noch den Bauch straffen. MARÍA ANTONIA Ich weiß nur nicht, womit. TERESA Ach, Maria Antonia... sei nicht so pessimistisch. Du weißt doch, irgendwie geht es immer... küßt sie, geht sich einen Whiskey einschenken Und, wie geht's euch? JUAN JOSÉ Gut... wir warten auf den Italiener. TERESA spöttisch Du auch? Alle lachen. ROSALBA Er auch. Er wartet auf ihn, um zu erfahren, warum wir nicht ihn genommen haben. TERESA höhnisch Na, das liegt doch wohl auf der Hand. JUAN JOSÉ Ich meine, das wäre billiger gewesen, und du, Teresa, hättest dir vielleicht auch gleich den Hintern straffen lassen können. MARÍA ANTONIA Was soll das, Junge, was soll das denn? TERESA Ach, laß ihn, Maria Antonia. Er kann mich mal... JUAN JOSÉ Ich kann dich mal was... Teresa? ROSALBA Erzähl mal, was hat Margarita gesagt? Du bist die einzige, die mit ihr gesprochen hat. TERESA Gleich erzähle ich alles... laßt mich erstmal in aller Ruhe meinen Drink nehmen... Antonia, hast du keine Musik? ROSALBA Wir haben Agustín Lara.3 TERESA Um diese Zeit? Nein. Maria Antonia, leg doch meine Lieblingscassette ein, die von Gatica. 4 Zu Rosalba Weißt du noch, als wir ihm

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mal vor dem Sender begegnet sind? Und als sie sagten, wer das war, hast du dir in die Hose gemacht. ROSALBA entrüstet Du übertreibst! T E R E S A E S lief dir die Beine runter. Peinlich... direkt vor dem Mann! An alle gewandt Sie war so fein zurechtgemacht und sah bezaubernd aus, rein und unschuldig wie eine Jungfrau. Sie hat die Beine verschränkt, um das Malheur zu verstecken, während er an uns vorbeiging, ohne uns überhaupt wahrzunehmen... mein großer Schwärm, ein Star. Dann habe ich mich umgedreht und die kleine Pfütze vor Rosalbas Füßen gesehen und sie, bleich wie ein Gespenst! ROSALBA Jacinta könnte uns was zu knabbern bringen. TERESA Ja, Antonia... dein Service ist schlecht... es gibt nichts zu essen... keine Musik... M A R Í A A N T O N I A E S gibt reichlich zu essen, Musik und Lucho Gatica. Das einzige, was es nicht mehr gibt, ist dein Sparkonto. TERESA Na und? Es war schließlich mein Geld, oder? M A R Í A A N T O N I A D U wirst am besten wissen, was wichtiger ist, deine Titten oder deine Altersversorgung. TERESA Oh nein, Maria Antonia... fang heute nicht wieder damit an. Nicht heute. J U A N J O S É María Antonia hat immer vorgesorgt! Er lacht Deshalb spielt sie auch, um ihre Rente aufzustocken. Wenn es nicht die Lotterie ist, tippt sie im Lotto, und wenn es nicht Lotto ist, dann schließt sie Pferdewetten ab, und wenn... ROSALB A Ich bin nicht hergekommen, um über Geld zu reden... und schon gar nicht über Geld, das weder auf Bankkonten noch in Wertpapieren oder sonstwo existiert. J U A N J O S É Aber in den Taschen des Italieners! TERESA zu Maria Antonia Du tust so, als hätte ich ein Verbrechen begangen oder eine Todsünde! MARÍA ANTONIA Eine unglaubliche Dummheit! TERESA Aber schau sie dir doch an, wie eine Fünfzehnjährige, oder? M A R Í A A N T O N I A Ja... das Problem ist nur, daß sie nicht zu dem Rest einer über Fünfzigjährigen passen, der über den ganzen Körper verteilt ist. ROSALBA Jetzt hör aber auf... wir wollen uns doch nicht unser Alter vorhalten...

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TERESA Was ist los, Mädchen? Mir war einfach danach. Ich wollte mir mal was gönnen. Es war mein Geld, und es sind meine Titten. Basta! ROSALBA Richtig. Wollt ihr euch wegen einer solchen Lappalie streiten? MARIA ANTONIA Komm nachher aber nicht zu mir, um dir was zu borgen! TERESA Wann habe ich dich schon um Geld gebeten? MARÌA ANTONIA Oh, mein liebes Kind, soll ich mal zusammenrechnen, was du mir schuldest? Ich weiß, für bestimmte Dinge hast du ein miserables Gedächtnis. ROSALBA beschwichtigend Das reicht, MariaAntonia! Laß uns Lucho Gatica hören. Laß uns romantisch werden und in Stimmung kommen. Noch einen Drink, MariaAntonia? Wo ist dein Glas? Sie findet es und schenkt ein. JACINTA betritt den Raum zum Blumengießen Der Mann konnte singen! Singt: „...reloj, no marques las horas..." JUAN JOSÉ fällt ein „Denn meine große Liebe stirbt... sie ist die la la la..." TERESA zu Rosalba Und, wie geht's deinen Töchtern? ROSALBA Gut. Nun, ich nehme an, daß es ihnen gut geht. Ich hab sie eine Weile nicht gesehen... Also, Beba hab ich gestern gesehen, aber nur ganz kurz. Sie kam auf einen Sprung vorbei, um die Kinder abzuliefern - und die Agustin-Lara-Cassette. Als suche sie nach einer Rechtfertigung für das Verhalten ihrer Tochter Die armen Dinger haben unwahrscheinlich viele Verpflichtungen... weißt du... ihnen bleibt kaum Zeit zum Luftholen. Ich verstehe nicht, wie man so leben kann, Teresa, als würde die Welt morgen untergehen... als würde jeden Augenblick etwas ungeheuer wichtiges zu Ende gehen. Und ich sag ihnen immer: „Macht euch nicht verrückt, Kinder, sonst werdet ihr vorzeitig alt." Kurze Pause Oh, aber meine Enkel sind wahre Schätze. Es ist übrigens das reinste Wunder, daß meine Einrichtung gestern ganz geblieben ist! TERESA Meine sind genauso, wenn sie kommen. Ich kann's kaum glauben, daß meine Möbel noch nicht in ihre Einzelteile zerfallen sind. MARÌA ANTONIA Wenn sie gepfändet werden, brauchst du dich darum wenigstens nicht mehr zu kümmern. TERESA verärgert Hör zu, Maria Antonia, wenn das den ganzen Abend so weitergehen soll, dann laß es mich gleich wissen, damit ich gehen kann.

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ROSALBA Du kannst doch nicht gehen! Was ist mit dem Italiener? TERESA Ich habe keine Lust, wegen ein Paar Titten auf mir herumhacken zu lassen. Ich bin bester Laune hierhergekommen, um auf Margarita zu warten... euch zu sehen... und den Italiener kennenzulernen. JUAN JOSÉ Sagt mal, kann er überhaupt Spanisch? MARÍA ANTONIA Ich denke, Margarita wird ihm ein paar Worte beigebracht haben. ROSALBA Und wenn nicht, macht es auch nichts. Wir holen ihn schließlich nicht zum Reden her, sondern für was anderes. Je weniger er versteht, desto besser! JACINTA Ob er wohl unsere venezolanische Hühnersuppe mag? Ißt man in Italien Hühnersuppe? JUAN JOSÉ Wir müßten ihn fragen... ironisch Schenkelchen sind ihm möglicherweise lieber. Jacinta lacht herzhaft. ROSALBA Sagt mal, was ist hier eigentlich los? Heute ist ein ganz besonderer Tag... der Tag, auf den wir so lange gewartet haben, und ihr wollt ihn uns verderben, mit euren giftigen Bemerkungen und eurer schlechten Laune? TERESA Sie hat recht! Was ist mit dir los, Maria Antonia? Was hast du? Offensichtlich ist dir 'ne Laus über die Leber gelaufen, das merkt doch jeder... Es kann nicht nur wegen meiner Titten sein. MARÍA ANTONIA ignoriert die Bemerkungen Merkwürdig... Auristela ist noch nicht da. TERESA Warum sollte sie auch? Sie gehört nicht zu unserer Kooperative. MARÍA ANTONIA Ich habe sie trotzdem eingeladen. Sie wollte den Italiener auch kennenlernen. JUAN JOSÉ Oh,... der arme Kerl hat keine Ahnung, was ihm hier blüht. ROSALBA J.J.! JUAN JOSÉ Ich habe nichts gesagt. Ich nehme mir noch einen Drink, möchtest du auch einen? Rosalba nickt. Und du, Teresa? TERESA Ja... bitte. ROSALBA Er wird sich riesig freuen, uns kennenzulernen. Außerdem ist alles für ihn vorbereitet... wir sind da, um ihn zu empfangen... Stimmung... Musik... Blumen... es ist alles bereit. JUAN JOSÉ Sogar das Klopapier. Importiertes Klopapier. Und falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Rosalba, auch mit Blumen.

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TERESA Ach so! Du warst im Armeesupermarkt! Jetzt wird mir klar, weshalb du so schlecht gelaunt bist. MARIA ANTONIA Halt den Mund und laß mich die Musik hören! Sie singt mit. TERESA Was ist passiert? Ist er dir endlich über den Weg gelaufen, und deshalb bist du so mißmutig? MARÌA ANTONIA Ich kaufe seit zehn Jahren im Armeesupermarkt ein, weil da alles billiger ist und bin ihm bisher kein einziges Mal über den Weg gelaufen... Warum sollte ich ihm dort ausgerechnet heute begegnet sein? Pause. Alle sehen sie an. TERESA Du hast ihn getroffen, stimmt's? MARIA ANTONIA Ich gehe da nicht hin, um ihn zu treffen, sondern um Geld zu sparen. Denn im Gegensatz zu dir, meine Liebe, habe ich noch gesunden Menschenverstand... Ich passe meinen Lebensstil der politischen Situation an... Jeden Morgen, wenn ich aufgestanden bin und die Zeitung gelesen habe, wird mir klarer, daß sich die wirtschaftliche Lage von Tag zu Tag verschlechtert. Dann werfe ich einen Blick auf den Kalender und einen in den Spiegel und stelle fest, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis ich vollkommen wertlos bin... und daß es vernünftiger ist, ein Sparkonto anzulegen, als mir die Titten mit Silikon ausstopfen zu lassen, um sie herumzuzeigen und mich lächerlich zu machen. Wer soll sie denn bewundern? Wer soll sie streicheln? Sie kippt wütend ihren Drink hinunter. Betretenes Schweigen mit Gaticas Stimme im Hintergrund. JACINTA Der Italiener natürlich! Sie wird dem Italiener ihre neuen Titten vorführen... dafür holt ihr ihn doch her, oder? Außerdem sehen sie wirklich toll aus, Teresa. MARÌA ANTONIA Halt den Mund, du dummes altes Weib... geh in die Küche, wo du hingehörst. Jacinta geht singend hinaus. JUAN JOSÉ Stimmt es, daß du in die Hose gemacht hast, als du Gatica getroffen hast, Rosalba? ROSALBA Das ist ihre Geschichte! Ich kann mich nicht daran erinnern. Laß uns tanzen. Sie singt mit Gatica: „Ay, corno es cruel la incertidumbre... si ella merece mi dolor o yo la tengo que olvidar..."

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JUAN JOSÉ steht auf, um mit ihr zu tanzen „Ay, esta amarga pesadumbrela la la.Jalalala..."

D U kannst kein Lied auswendig. Sie singt weiter: „Si la vas a juzgar, corazón, nunca pienses que ella es mala..." T E R E S A rückt an María Antonia heran Du hast ihn gesehen, stimmt's? Habt ihr miteinander gesprochen? MARÍA ANTONIA Und worüber hätten wir reden sollen? T E R E S A D U wirst schon wissen, ob du ihm was zu sagen hast. Maria Antonia schüttelt den Kopf. Und, wie sieht er aus? ROSALBA

MARÍA ANTONIA Dick... alt, wie ich...

Juan José und Rosalba tanzen weiter ohne zu singen, weil sie dem Gespräch der beiden folgen. T E R E S A Du bist nicht alt, Liebes. Keine von uns ist alt. Sieh dich an! Sieh uns alle an! Sie streicht sich mit den Händen über die neue Figur Wir sind, wie man so sagt, „im besten Alter"... wir sprühen vor Lebensenergie... und sind voller Träume... denn... was ist der Italiener anderes als ein Traum, den wir uns verwirklichen wollen... Wir haben eine Menge wunderbarer Erfahrungen und ebensoviele herrliche Erinnerungen. MARÍA ANTONIA Und Bitterkeit, Groll und eine Einsamkeit, die jeden Samstagabend kaum zu verbergen ist. Das haben wir auch alles. ROSALBA während sie tanzt Wir sind nicht allein. Wir haben uns gegenseitig und unsere Freundschaft... und bald haben wir den Italiener und teilen ihn uns, wie so vieles, was wir im Leben geteilt haben.

MARÍA ANTONIA Und einen riesigen Frust... das hatte ich noch vergessen! T E R E S A Dann habt ihr miteinander geredet. MARÍA ANTONIA „Wie geht's? Gut. Wie läuft's? Wie immer. Was gibt's Neues? Nichts." ROSALBA Oh! Was für ein banales Gespräch! MARÍA ANTONIA Wir haben sonst nichts mehr zu sagen. ROSALBA Ja, das ist auch wahr.

JUAN JOSÉ Willst du sagen, du warst nicht mal so neugierig, ihn zu fragen...? MARÍA ANTONIA barsch Ihn was zu fragen? JUAN JOSÉ Wieso er ohne jede Erklärung auf und davon ist?

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MARÍA ANTONIA Ich will gar keine Erklärung. Warum nach so vielen Jahren noch darüber reden? ROSALBA Sage ich doch. Man sollte die Vergangenheit verstehen, aber nicht dauernd aufwärmen. Laßt uns nicht mehr davon sprechen. TERESA Maria Antonia, wir sind doch Freundinnen... erzähl uns, was du mit ihm geredet hast. MARÍA ANTONIA singt: „No vale la pena... sufrir en la vida... si todo se acaba... si todo se va..." ROSALBA fällt ein: „Después que tantas ilusiones me forjé en mis noches, después que toda mi esperanza la cifré en tu amor..." MARÍA ANTONIA Jacinta, Jacinta. Bring frisches Eis, es ist nur noch Wasser da. Ich lege eine andere Cassette ein. Entschuldige, Teresa, aber es wäre besser, was anderes zu hören... zu Rosalba ...außer, du willst mit J.J. weiter Bolero tanzen. TERESA Warum nicht? Die beiden sehen haargenau aus wie Marga López und Roberto Cañedo in Salón Méxiko.' 5 ROSALBA Wenn man nicht so genau hinsieht... JACINTA bringt das Eis Oh! Warum habt ihr Lucho Gatica abgestellt? TERESA Weil wir nicht in nostalgischer Stimmung sind, Jacinta. Deshalb. JACINTA Ach so. Ich weiß noch, als Lucho Gatica zum ersten Mal nach Caracas kam. JUAN JOSÉ Und unsere angehende Radiosprecherin sich in die Strümpfe gepinkelt hat! ROSALBA Die bestimmt keine Nylons waren... sondern Seidenstrümpfe! JACINTA Er ist in Victor Saumes Show aufgetreten. Weißt du noch, Maria Antonia? Und der arme Pájaro Chogui, der damals so berühmt war, erinnerst du dich? Ihn ereilte das gleiche Schicksal wie den Vogel, von dem es in dem Lied heißt: Er fiel vom Baum und starb. Weißt du noch, Maria Antonia? MARÍA ANTONIA Ich war damals noch ziemlich jung. JACINTA Jung? Du hattest schon eine Scheidung hinter dir... und diesen verdammten Insulaner, der dich den ganzen bürokratischen Zirkus mit den Heiratspapieren anstellen ließ, bis schließlich rauskam, daß er bereits in Las Palmas, Gran Canaria, verheiratet war und obendrein ein Verhältnis mit einer Schwarzen aus Mamporal hatte, die Crucita hieß und schwanger war...

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MARÍA ANTONIA Verdammt, Jacinta!... Für gewisse Dinge hast du ein ziemlich gutes Gedächtnis! JACINTA Mein Kürbis hat immer gut funktioniert. Ich bringe die Hühnersuppe. ROSALBA Nein, Jacinta! Was fällt dir ein! Und der Italiener? Wir wollen auf ihn warten. Wenn er durch diese Tür kommt, werde ich ihm als erstes... JUAN JOSÉ ...seinen Scheck überreichen, nehme ich an. ROSALBA Sei nicht albern! Ich werde ihm als erstes jeden von uns förmlich vorstellen, Europäer lieben die Etikette. TERESA Und dann klärst du ihn über die Spielregeln unserer Kooperative auf, falls Margarita das nicht richtig getan haben sollte. ROSALBA Caro Gian Piero... benvenuto! Io sono Rosalba... TERESA Die lustige Witwe! Großmutter von drei unausstehlichen kleinen Bestien mit Engelsgesichtchen, ehemals Angestellte einer großen Public Relations Firma, ehemals Karnevalsprinzessin... als man in diesem Land noch Karnevalsumzüge mit Wagen und allem Brimborium machte... im Augenblick halbtags Verkäuferin in einem Laden für Modeschmuck und Damenunterwäsche auf Kredit. Besitzerin einer behaglichen, einladenden und vollbezahlten kleinen Wohnung mit Blick auf den Avila, die vollgestopft ist mit Porzellanfiguren, böhmischen Kristallschälchen, holländischen Spitzenkissen und Miniaturhäuschen aus Pappmaché. Dazu eine hübsche Sammlung von Streichholzschachteln und Teelöffeln, die sie als Souvenirs von ihren Auslandsreisen mitbrachte, als der Dollar noch bei vier Bolívares dreißig stand und der gute alte Dr. Serrano - stets incognito - noch zahlte, eine Siamkatze, Tiffanylampen, strategisch zwischen Leinentüchern verteilten Mottenkugeln; und all das, schon leicht angestaubt wie sie selbst, ist sie bereit, an den Wochenenden, an denen sie dran ist, mit dem Italiener zu teilen. MARÍA ANTONIA Du hast vergessen zu erwähnen, daß sie sich als Vorsitzende der Kooperative und Initiatorin der Sache durch ihre ausgefallenen sexuellen Praktiken gewisse Vorteile verschaffen wird, die, wenn man den bösen Zungen glauben will, den verstorbenen und stets incognito gebliebenen Dr. Serrano ins Grab gebracht haben. JUAN JOSÉ Wirklich, Rosalba? Was für Praktiken?

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Marida Romero

ROSALBA Oh, Liebes... du erwartest doch nicht im Ernst, daß ich ausgerechnet dir meine Geheimnisse anvertraue. JUAN JOSÉ Verstehe... Und was zum Teufel kann der Italiener mir voraushaben? ROSALBA Und dann stelle ich euch vor. Dich Teresa... MARIA ANTONIA Fünffach von Halunken derselben Sorte geschieden einer davon sitzt im Gefängnis, weil er mit Drogen gehandelt hat... oder Narkotika, wie es im neuen Gesetz heißt; ein anderer ist untergetaucht, weil er wegen wiederholten Betrugs von der Polizei gesucht wird; ein dritter beackert ein Stück Land in Barinas, das sie sich törichterweise von ihm hat abschwatzen lassen... denn, wenn's um Männer geht, folgt Teresa immer demselben Muster... und was ist mit den beiden anderen, Teresa? TERESA Vergessen und begraben.

JUAN JOSÉ Dann kannst du ihm ja sagen, du wärst auch Witwe. MARÌA ANTONIA Ehemalige Schwimmeisterin, auch als Venezuelas Esther Williams bekannt; früher eine hinreißende Brünette, die sich, um ihre grauen Haare zu verbergen, in eine gefährliche Blondine verwandelte; Mieterin... ist das die richtige Bezeichnung? ...einer bescheidenen kleinen Wohnung, aus der sie demnächst wohl rausfliegen wird, weil sie die Miete nicht mehr zahlen kann, oder sie beschließt, bei Nacht und Nebel mit all ihrem Hab und Gut auszuziehen; einstige Inhaberin von Bankkonten und Anlagen bei der staatlichen Spar- und Kreditanstalt, wo sie derzeit als Sekretärin arbeitet, wenn sie mal nicht krank gemeldet ist. Wie du siehst, caro mio, besitzt sie nichts, außer diesen fabelhaften, nagelneuen Titten, die, nehmen wir an, eine Garantiezeit von mindestens fünf Jahren haben. JUAN JOSÉ Das ist ein vernünftiger Zeitraum! Was danach kommt, wird Gott schon richten.

TERESA Und hier unsere liebenswürdige, charmante Gastgeberin! Eine aus Berufung verbitterte Frau; ehemaliges Mitglied einer der vornehmsten Familien der Oligarchie des Landes, aus der sie mit nichts als ihren Kleidern auf dem Buckel vertrieben wurde, weil ihr keine Zeit gelassen wurde, mehr mitzunehmen; ehemalige Sekretärin des Verteidigungsministers, der beschloß, sie zu seiner Geliebten zu machen, wovon ihr nichts blieb als ein paar bittere Erinnerungen

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und die Kundenkarte für den Armeesupermarkt... die hat sie allerdings... so daß sie ihren Kummer in Whiskey ertränken kann, während sie gleichzeitig Geld für einen Platz im Altersheim auf die Seite legt, wo sie ihre Tage pünktlich bezahlt beschließen kann, falls sie nicht früher stirbt als geplant, dann können ihre Ersparnisse für den Grabstein verwendet werden. Sie hat weder Kinder noch Illusionen und offensichtlich nichts als diese alte, ewig gleiche Verbitterung über den Minister, der eines Tages zu ihr sagte: „Schatz, ich gehe uns eine Pizza holen. Was für eine möchtest du?" Und noch heute wartet sie auf ihre Pizza mit Pepperoni und läßt jeden ihren Frust spüren! Sie nimmt ihr Glas und trinkt einen langen Schluck. JUAN JOSÉ nach einer kurzen Pause Puuh! Und ihr seid Freundinnen? TERESA Nun haben wir uns alle vorgestellt: drei alberne, angestaubte, eigensinnige, alte Damen, die eines Tages beschlossen haben, sich einen Macho zu suchen - entschuldige Juan José -, der ihnen ab und zu das Gefühl gibt, noch am Leben zu sein... und sie in ihrer Einsamkeit ein bißchen unterhält... Gut so, Maria Antonia? Oder soll ich noch was hinzufügen? JUAN JOSÉ Und dieses ganze Theater nur wegen ein paar Titten! JACINTA Sind sie wirklich aus Plastik, Teresa? ROSALBA Sie sind aus irgendeinem Zeug, aus dem sowas eben gemacht wird, Jacinta. Und selbst wenn Teresa vielleicht keinen Centavo mehr hat, sieht sie hinreißend aus... umwerfend... und wir sind weder alt, albern, verbittert und einsam noch langweilig. Maria Antonia bekommt jetzt gleich einen Whiskey und wird uns erzählen, was sie mit dem General geredet hat, dann bekommt sie noch einen, und das Thema ist ein für allemal erledigt. Es wird gestrichen. Vergessen. Aus unserem Gedächtnis gelöscht. Ihr wird übel. JUAN JOSÉ Und dann proben wir eine andere Vorstellungsrunde. Was fehlt dir, Rosalba? TERESA Na komm! Jetzt übergib dich bitte nicht hier auf den Teppich... ROSALBA Oh! Ich mag nicht, wenn ihr so... so aggressiv seid. Ihr wißt doch, es greift immer der zur Gewalt, der im Unrecht ist. Wir sind Freundinnen... und fröhlich... der Italiener kommt... wir erwarten ihn doch, oder? Schenk die Gläser voll, J.J., worauf wartest du? Sie geht ins Badezimmer. MARÌA ANTONIA Er hat sich dumm gestellt.

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Mariela Romero

JUAN JOSÉ Nein, ich schenke sofort nach.

MARÍA ANTONIA Der General... hat so getan, als würde er mich nicht erkennen... JUAN JOSÉ Ach so! Er schenkt ein. MARÍA ANTONIA Vielleicht war es ihm peinlich, mich so alt und häßlich zu sehen... oder er hat mich nicht erkannt, oder, wenn er mich erkannt hat, hat er vielleicht gedacht: „Wieso soll ich sie ansprechen? Worüber sollen wir reden?" TERESA War er allein? MARÍA ANTONIA nickt Er packte seinen Einkaufswagen voll mit Gemüse... Er hat 'ne Glatze. Ihm sind 'ne Menge Haare ausgefallen, weißt du? JACINTA Er hatte schon immer eine hohe Stirn. MARÍA ANTONIA Er sah mich ein paar Sekunden an, so daß ich dachte, er würde mich begrüßen. Ich glaube, er hatte Angst. JUAN JOSÉ Mir wär's genauso gegangen. Er reicht ihr den Drink. MARÍA ANTONIA Wie lächerlich, nicht? Es ging mir durch den Kopf: Was mache ich nur, wenn er mich grüßt? Zurückgrüßen? Ihn fragen, wie es ihm geht? Was es Neues gibt? Wie's bei ihm läuft? JACINTA Als wüßtest du das nicht. In den letzten Jahren hast du jedes Ereignis in seinem Leben Schritt für Schritt verfolgt und alle Zeitungsausschnitte aus dem Gesellschaftsteil mit seinem Foto aufgehoben. Als er in den Ruhestand ging... MARÍA ANTONIA Aber er hat sich umgedreht und ist weitergegangen, ohne Gruß. Er hat nicht mal das Gesicht verzogen... als gäb's mich gar nicht... als hätte ich ihm nie irgendetwas bedeutet... Er ging zwischen den Regalen weiter, schob den Wagen voller Gemüse vor sich her, hastig... laut auftretend... ohne sich umzusehen. Da dachte ich: „Ich gehe hinterher... Ich hole ihn ein und rufe ihn beim Namen, damit er sich umdreht und sich stellen muß. Und wenn er sich umdreht,... spucke ich ihm hier, vor allen Leuten, zwischen Marmelade und Butter, für seine Feigheit ins Gesicht..., weil man keiner Frau sowas Gemeines antun darf... Hier zwischen Backfett und Tomatensauce stelle ich ihn bloß, damit er sich noch lächerlicher vorkommt." Kurze Pause Und dann habe ich gar nichts getan... Ich habe weder etwas gesagt, noch etwas getan. Ich habe eine Weile hinter ihm her gestarrt und zugesehen, wie er zwischen den Wasch-

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pulverpaketen verschwand, im Getümmel zwischen den Frauen mit den eingefärbten Strähnchen und den Frisuren ausdemFrisiersaloa.. JUAN JOSÉ Vollgehängt mit billigem Modeschmuck... MARÍA ANTONIA Dann hab ich kehrt gemacht... und mich zwischen den Leuten verdrückt, falls er sich in einer Anwandlung von Reue doch noch mal nach mir umgedreht hätte. Vor zehn Jahren hätte ich ihn gestellt... Heute nicht mehr... heute nicht. Ich konnte nicht... Heute sah ich aus wie die Verräterin... die sich schämt... der Feigling. Wie traurig!... Du hast Recht, Teresa... ich bin aus Berufung verbittert. TERESA nimmt sie in den Arm Ist schon gut... Es ist vorbei. MARÍA ANTONIA Seit so vielen Jahren warte ich auf diesen Augenblick, und dann stell dir vor... komme ich mir einfach dämlich vor. TERESA Und was glaubst du, wie er sich jetzt vorkommt? Daran solltest du denken. Du bist ihm überlegen, Mädchen. Rosalba kommt mit einem spanischen Schultertuch und einem spanischen Kamm im Haar. Sie hat einen offenen Fächer in der Hand, den sie zuschnappen läßt, um auf sich aufmerksam zu machen. ROSALBA singt: „Palomita... palomita... cuidado con el pichón. Mira que guardando el nido, está el Gavilán Ladrón!" JUAN JOSÉ applaudiert Bravo!... Bravissimo!... meine sehr verehrten Damen, Frauen und Fräulein... Ich habe die große Ehre, Ihnen die allseits begehrte, vorzügliche und einzigartige Rosalba vorzustellen, die Königin der Zarzuela und des Chotis.6 Rosalba begint, „Lola" zu singen. Langsam Dunkelheit.

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Zweiter Akt Dasselbe Bühnenbild. Es ist einige Zeit vergangen. Jacinta, Teresa und Maria Antonia sitzen am Eßtisch und spielen Karten. Rosalba bringt frisches Eis aus der Küche, Juan José betritt mit ihr zusammen den Raum und bringt eine neue Flasche Whiskey mit. ROSALBA Na komm schon, J.J.... sag mir die Wahrheit... du bist in Maria Antonia verliebt, stimmt's? JUAN JOSÉ Meine Güte, Mädchen! JACINTA legt ihre Karten auf den Tisch Rommé! TERESA Schon wieder? JACINTA Ich kann nichts dafür. Zu Maria Antonia Du gibst. ROSALBA Ich habe den Eindruck... Nein, ich bin fast hundertprozentig davon überzeugt, daß du dein ganzes Leben lang heimlich in Maria Antonia verliebt warst und aus irgendeinem merkwürdigen Grund oder vor lauter Angst nie deine wahren Gefühle gezeigt hast. JUAN JOSÉ Soll ich dir Wasser geben? ROSALBA Nur ein bißchen. Ertränke ihn mir nicht... MARÌA ANTONIA zu Jacinta Heb ab! ROSALBA Und ich frage mich, J.J.... was mit deinen Gefühlen passiert, die du nicht zum Ausdruck bringen kannst... die du nicht rauslassen kannst... darstellen... inszenieren... Wie findest du das Wort? Schön, nicht wahr? Inszenieren! TERESA Was ist dran? JACINTA Zwei Reihen und ein Trio. TERESA Mit diesem Blatt kann ich überhaupt nichts anfangen, Maria Antonia. ROSALBA Denn das einzig Wahre, das Einmaligste und Wichtigste im Leben... was ist das wohl? Gefühle! Heißt es nicht, Liebe kann Berge versetzen? Nun, raff dich auf, mein Freund, triff eine Entscheidung und setz was in Bewegung, selbst wenn's nur eine kleine Düne ist... ein kleines Stückchen deiner selbst. Juan José lacht. Oh! Das bringt dich wohl zum Lachen. Das findest du lustig, nicht wahr? Aber dein Lachen hört sich nervös an, mein Freund. Habe ich vielleicht deinen empfindlichen Punkt getroffen? MARÌA ANTONIA Ich nehme die Zwei. JUAN JOSÉ Wollen wir mal deine Agustin-Lara-Cassette hören?

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ROSALBA Da hast du es! Agustín Lara hatte nie Angst vor Gefühlen... niemals... auch, wenn man ihn hochmütig zum sentimentalen Trottel abstempelte... denn noch heute verliebt sich genau dieser Hochmütige bei einer Noche de Ronda7... JUAN JOSÉ DU fängst an, dummes Zeug zu reden, Rosalba, ehrlich... TERESA Rosalba, spiel doch lieber eine Runde mit uns. ROSALBA Spielen... Was denn? MARÍA ANTONIA Rommé. ROSALBA Bedaure Liebes, aber das ist ein Teenager-Spiel... ich finde es albern! Da vertue ich meine Zeit lieber auf andere Weise. TERESA Hört sie euch an... Ich wette, wenn sie bei ihren HeissosseiFreundinnen im Club ist, sagt sie sowas nicht. MARÍA ANTONIA Die spielen ja auch nicht Rommé... sondern Bridge, mein Schatz. ROSALBA Ich unterhalte mich mit J.J. über transzendentale... vitale Dinge von existentieller Bedeutung für den Menschen. Wir unterhalten uns nämlich über Gefühle. Besser gesagt, über die Liebe. Ich gehe davon aus, daß ihr euch alle noch daran erinnern könnt, was die Liebe ist, oder? JUAN JOSÉ ZU den anderen Was habt ihr mit der Agustin-Lara-Cassette angestellt? ROSALBA sinnend Ich kann mich gut daran erinnern. Es ist noch ganz frisch in mir. Ich bin nicht wie ihr, die sich nur mit Verbitterung an die Männer in ihrem Leben erinnern können... meine Erinnerungen sind voller Zärtlichkeit... angenehmer Sehnsucht... liebevoller Wärme... voller... TERESA Sobald Rosalba ein paar Gläser getrunken hat, wird sie rührselig. JUAN JOSÉ Sie wird sich wieder einkriegen, wenn der Italiener durch die Tür kommt und sagt: „Veni, vidi, vici!" ROSALBA Der Italiener!... Wie spät ist es? Findet ihr nicht, das Flugzeug müßte inzwischen längst da sein? Teresa, hat sie nicht gesagt, sie kämen gegen Mittag an? TERESA zu Maria Antonia Tut mir leid... aber die Zwei gehört mir. Leg ein anderes Trio. MARÍA ANTONIA Die war nicht für ein Trio. ROSALBA Sollten wir nicht beim Flughafen anrufen, um zu fragen, ob das Flugzeug gelandet ist?

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TERESA Wenn es gelandet wäre, wüßten wir das schon. Margarita hat versprochen, uns anzurufen, sobald sie den Fuß auf venezolanischen Boden setzt. ROSALBA Aber, sieh doch mal, wie spät es ist... MARÍA ANTONIA

Rommé!

TERESA Das gibt's nicht! So schnell? Zeig her... MARÍA ANTONIA Meine zwei Reihen... meine zwei Trios und fertig! JACINTA steht auf Wenn sie selbst austeilt, wird sie gefährlich. TERESA Spielst du nicht mehr mit? JACINTA Nein... Ich hab in der Küche noch 'ne Menge zu tun. Geht ab. TERESA Und du, Juan José? JUAN JOSÉ Ich möchte wissen, was ihr mit der Agustin-Lara-Cassette gemacht habt, die Rosalba mitgebracht hat. ROSALBA Komm, Schatz, vergiß mal Agustín Lara! Wie ist die Nummer vom Flughafen, Teresa? Ich rufe an. TERESA Auch Flugzeuge können sich mal verspäten. Juan José, einen Whiskey bitte. MARÍA ANTONIA Wie wir Spätzünder... mit unserer absurden Kooperative... ROSALBA Ach, jetzt kommt sie dir absurd vor! JUAN JOSÉ Weder absurd noch verspätet. Ich weiß noch, wie ihr damit angefangen habt... erst war es nur ein Spiel... Rosalba sagte macht sie nach: „Meint ihr nicht, uns fehlt ganz einfach ein Mann?" MARÍA ANTONIA Und du warst beleidigt. ROSALBA Wenn ich ehrlich sein soll, Juan José, manchmal finde ich es richtig schade, daß du nicht schwul bist... du könntest den Italiener mit uns teilen! TERESA Jetzt sieh aber mal zu, daß deine erotischen Träume nicht mit dir durchgehen, Rosalba! Ein toter Liebhaber auf dein Konto reicht ja wohl! JUAN JOSÉ Wie hast du ihn eigentlich umgebracht, Rosalba? Was hast du mit dem armen Dr. Serrano angestellt? ROSALBA Das hat Teresa sich ausgedacht. Sie platzt vor Neid, weil sie nie einen Mann gefunden hat, der für sie sorgt... immer hat sie die Männer aushalten müssen. Echte Zuhälter.

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MARÌA ANTONIA Nun, er starb wie der heilige Laurentius. Nur zu schade, daß wir ihn nie zu Gesicht bekommen haben, nicht mal auf einem Foto. ROSALBA Er war ein sehr feiner Mann... ein Mann von Welt... ein Gentleman! Was d u von deinem Soldaten ja nicht gerade behaupten kannst! JUAN JOSÉ Verdammt! Fangt nicht schon wieder an! MARIA ANTONIA Rosalba hatte eines Tages die zündende Idee, typisch. Sie rief: „Ein Mann!" Natürlich! Einen für uns alle gemeinsam... Du fragst dich vielleicht, warum keinen Portugiesen... oder Holländer... oder Kreolen? TERESA Weil wir alle verfügbaren Männer von Caracas durchgegangen sind und, verzeih mir, Juan José, zu dem Schluß gekommen sind, daß es hier niemanden gibt, der unseren Erwartungen entspricht. MARÌA ANTONIA Ganz so war es nicht. Sie deutet auf Rosalba Sie hat uns gesagt, die Italiener seien die besten Liebhaber der Welt. Und so beschlossen wir, ganz legal einen zu mieten. ROSALBA Einen Mann, der uns keine Scherereien macht und nicht in unser Leben eingreifen will. Jung... ungebunden... und mit den notwendigen körperlichen Attributen ausgestattet, um an den Wochenenden unsere Bedürfnisse zu befriedigen. JUAN JOSÉ Ein Wochende pro Nase. ROSALBA Zwei Monate lang! JUAN JOSÉ Und wenn es deine Idee war, warum haben sie dich nicht geschickt, um ihn abzuholen? MARIA ANTONIA Sie! Bist du wahnsinnig? Zuerst einmal wäre sie wahrscheinlich mit dem Italiener dageblieben... und dann spricht sie kein Italienisch... bloß Cuti 8 , und auch das nur gebrochen... TERESA Und dann ist Margarita, die einzige Kosmopolitin, gewählt worden. Außerdem ist sie zuverlässig. JUAN JOSÉ Tja... und das erste Wochenende..., das heißt, dieses... wer von euch wird es mit dem Italiener verbringen? Sie sehen einander an, offensichtlich haben sie darüber noch nicht nachgedacht. JACINTA Oh, Mann, tritt nur nicht ins Wespennest... ROSALBA Stimmt, Maria Antonia... wer ist die erste? JACINTA Wenn man nach dem Alter geht...

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Marida

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MARÍA ANTONIA Halt den Mund! Alter zählt hier nicht. JUAN JOSÉ Ihr müßt euch einigen. Unglaublich, daß ihr darüber noch nicht nachgedacht habt. TERESA Hm, wenn der Italiener kommt, ...lassen wir ihn entscheiden. MARÍA ANTONIA Eter hat in dieser Sache nichts zu sagen Wir entscheiden. TERESA mißtrauisch Oh, ja, wie denn? JUAN JOSÉ Ich würde sagen, Maria Antonia als Gastgeberin... MARÍA ANTONIA Nein, mein Herr, das ist zu simpel. Wir sind zu viert, oder? Wir machen Lose. Ich schlage vor, wir losen um ihn. ROSALBA Entschuldige, aber ich bin nicht einverstanden. Mit der Verlosung schon. ...aber nicht zwischen uns vieren. Nein, Margarita hat schon mehr als eine Woche mit ihm verbracht. JUAN JOSÉ sie anstachelnd Rosalba hat recht, Maria Antonia... das wäre nicht fair. TERESA Ich könnte als erste gehen, um mein neues outfit auszuprobieren. MARÍA ANTONIA Aber du wirst nicht. Wir losen. Schluß aus! Jacinta... bring mir ein Blatt Papier und einen Stift. Jacinta gehorcht. ROSALBA Oh! Wie aufregend... eine Verlosung! JUAN JOSÉ Ich hoffe, du bist die letzte, Rosalba... sonst haben wir wohlmöglich noch einen Tod, aber nicht den „kleinen Tod", den du dir wünschst. ROSALBA DuSchwein! JACINTA mit Papier und Stift Hier ist es. MARÍA ANTONIA Schreib unsere Namen auf, Juan José... lesbar, bitte. Juan José schreibt. Und du, Jacinta, komm her. Wir brauchen eine unschuldige Hand. Sie nimmt ein großes Glas. TERESA Ich finde das lächerlich... warum darf ich nicht wählen? JUAN JOSÉ Fertig. Paßt gut auf, damit ihr später nicht denkt, es sei betrogen worden... alle drei Namen sind hier, okay? Jetzt falte ich die Papierchen zusammen, tue sie hier hinein und drehe die Trommel. Wer wird die Gewinnerin sein? Er schüttelt das Papier im Glas. Jacinta... zieh eins. Jacinta gehorcht. Sie öffnet ein Los. Sie sieht es verblüfft an. ROSALBA Lies es, einmal für alle.

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JACINTA SO ein Glück! Ich habe Maria Antonia gezogen. Sie umarmt sie Gratuliere! MARÍA ANTONIA Oh! Ich... ich... Laß sehen. Sie sieht das Papier an Ja... ich habe gewonnen... Sieh mal... Hier steht mein Name! TERESA Na gut... So toll ist das nun auch wider nicht. Zieh ein anderes.

Jacinta zieht ein Los. JUAN JOSÉ ZU Maria Antonia Du solltest mir danken. Das habe ich für dich getan! Maria Antonia lächelt. JACINTA Hier steht... Rosalba! ROSALBA kreischt Wirklich? Schwöre es, Jacinta! ... Laß mich sehen! Jacinta zeigt ihr das Los. Oh! ich kann es nicht glauben... Ich falle in Ohnmacht... verschwinde... Ich fühle mich wie im siebenten Himmel! JUAN JOSÉ Teresa, es gibt ein Sprichwort, das heißt: „Wer zuletzt lacht, lacht am besten." ROSALBA Maria Antonia, du mußt den Italiener aber gut trainieren. MARÍA ANTONIA lächelt geschmeichelt Jetzt, da alles geregelt ist, laßt uns feiern! JACINTA Siehst du, Maria Antonia, und erst wolltest du nicht.

MARÍA ANTONIA euphorisch Meine Damen, mein Herr... eine Runde auf das Haus Sie schenkt allen ein.

TERESA träge Mädels... seht euch unsere Gastgeberin an, mit einem Mal ist sie großzügig!

MARÍA ANTONIA Sei nicht sarkastisch, Teresa... die Verlosung war ganz fair und fand vor Zeugen statt. Es ist nicht meine Schuld, daß ich gewonnen habe. JUAN JOSÉ Und... was habt ihr unter der Woche mit ihm vor? MARÍA ANTONIA Ihn durchfüttern. TERESA Und natürlich ausruhen lassen. ROSALBA Von Montag bis Freitag kann er sich ausruhen und sich erholen.

MARÍA ANTONIA Wir müssen ja auch arbeiten... haben Familie... und andere Verpflichtungen...

JACINTA Und ein paar Jährchen auf dem Buckel, Juan José, wir sind alt! ROSALBA Wir? Du gehörst nicht zur Kooperative!

JACINTA Ist mir doch egal. Ich habe die Messieurs sowieso nie leiden können...

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Das Telefon klingelt. ROSALBA Oh! Das ist sie! Das ist bestimmt Margarita... Sie läuft zum Telefon und hebt den Hörer ab Hallo? Sie bedeckt die Sprechmuschel mit der Hand Jacinta... Jacinta... bitte geh du dran... Ich bin nicht da. Zu den anderen Es ist Beba. JACINTA nimmt den Hörer Hallo? Nein... Ihre Mutter ist nicht hier. Was für eine Stimme? Nein., das war sie nicht, aber... kurze Unterbrechung Alles klar...? Ich sag's ihr, wenn sie kommt. Gern geschehen! Das war Beba... sie sagt, sie weiß ganz genau, daß du hier bist... und du sollst daran denken, daß sie weg muß... sie will wissen, wann du zu Hause bist, damit sie dir die Kinder bringen kann. TERESA Warum sagst du deiner Tochter nicht die Wahrheit? Ich bin sicher, sie fände das sehr komisch. JUAN JOSÉ Hier ist sie! Endlich habe ich sie gefunden! Hält die AgustinLara-Cassette hoch Wollen wir sie hören, Maria Antonia? Maria Antonia schiebt sie in den Cassettenrecorder. TERESA Na komm schon... Mach nicht so ein Gesicht... Das hab ich doch nur im Spaß gesagt... ROSALBA Ich möchte, daß meine Töchter eine gute Meinung von mir haben, das weißt du genau... Da verstehe ich keinen Spaß. TERESA Was ist schon dabei... Nimm's doch nicht so ernst, bitte! Wir wissen doch alle, daß du eine bessere Mutter bist als Libertad Lamarque 9 in ,Die Frau mit dem Schleier', wenn sie zum Haus des bösen Montero kommt... JUAN JOSÉ übernimmt die Rolle von Montero „Du hast deine Verbannung selbst herausgefordert. Ich muß Raul von dir fernhalten. Aber ich kann nicht verhindern, daß ihr euch ein letztes Mal seht. Sieh zu, daß die Begegnung so kurz und schmerzlos wird wie möglich." ROSALBA in der Rolle von Libertad Lamarque „Du bist so grausam!" JUAN JOSÉ „Du hast mich dazu gezwungen! Ich wollte einen Skandal vermeiden, aber du hast dafür gesorgt, daß alle Welt von deinen Sünden erfahren mußte. Du hast meine Karriere ruiniert. Ich kann niemandem mehr ins Gesicht sehen. Du hast mir keinen Ausweg gelassen, als mich hier allein einzuschließen." ROSALBA „Du bist nur in deinem Stolz verletzt, das ist alles." JUAN JOSÉ „Hast du meine Liebe vergessen?"

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ROSALBA „Sprich nicht von Liebe. Mit dem, was du jetzt tust, beweist

du nur, daß du mich nie geliebt hast." JUAN JOSÉ „Oder, daß ich dich zu sehr geliebt habe, um dann zu erfahren, daß du mich nur wegen meines Geldes geheiratet hast." ROSALBA „Das ist nicht wahr! Aber selbst wenn ich tausend Mal im Unrecht wäre, hast du kein Recht, dich auf diese Art zu rächen. Niemand hat das Recht, einer Mutter den Sohn zu nehmen." JUAN JOSÉ „Das ist die Strafe, die du verdienst. Dein Liebhaber hatte das Glück zu sterben. Aber du bist dazu verurteilt, Jahr für Jahr in Einsamkeit weiterzuleben und dich nach deinem Sohn zu verzehren, bis du stirbst!" MARlA ANTONIA In diesem Augenblick kommt der kleine Junge die Treppe herunter! TERESA „Mama! Mama!" ROSALBA „Mein kleiner Schatz!" TERESA „Mama... wo warst du?" ROSALBA „Verreist, mein Liebling... aber nicht weit weg von dir. Du warst immer hier in meinem Herzen. Sie umarmt Teresa Laß dich ansehen! Was für ein hübscher Junge du bist!" TERESA „Bleibst du jetzt hier?" ROSALBA „Ich kann nicht, mein Herz. Ich muß auf eine lange Reise gehen, aber ich komme wieder und dann bringe ich dir eine Menge Spielsachen mit... und eine kleine Eisenbahn... Möchtest du eine Eisenbahn haben?" TERESA „Ja!"

ROSALBA „Du wirst mich nicht vergessen? Du kannst mich nicht vergessen. Niemand hat dich so lieb, wie deine Mama... niemand!" Sie umarmt Teresa noch einmal. JUAN JOSÉ „Lupe, bring das Kind weg!" Jacinta eilt herbei und trennt Teresa von Rosalba. ROSALBA „Einen Augenblick noch... Ich habe ihn ja kaum gesehen!

Bring ihn mir wieder!" TERESA „Mama... Mama... nimm mich mit!" ROSALBA fällt auf die Knie „Bring ihn mir wieder! Bring ihn mir wieder! Raul, Liebling... vergiß mich nicht." Jacinta führt Teresa weg. Rosalba dreht sich dramatisch zu Juan José um.

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„Du wirst vor mir sterben. D u bist krank. Du wirst vor mir sterben, dann werde ich zurückkommen, und er gehört wieder mir!" MARÍA ANTONIA In der nächsten Szene lehnt sie, wie eine Dirne zurechtgemacht, an einem Laternenpfahl vor dem Nachtclub, in dem sie arbeitet, und singt. ROSALBA singt: Quisiera abrir lentamente mis venas, mi sangre toda verterla a tus pies para poderte demostrar que más no puedo amar... Alle klatschen Beifall. MARÍA ANTONIA Nein, halt! Ihr habt die Szene vergessen, w o sie im Auto sitzen und der Sohn nicht weiß, daß sie seine Mutter ist und sich in den Abgrund stürzen will, und sie dann schreit: „Nein! Das kannst du nicht tun... Du hast nicht das Recht, dir das Leben zu nehmen, das ich dir einst gab." Alle sind wie erstarrt und sehen Maria Antonia an. Maria Antonia sieht Teresa an, die blaß geworden ist. Verzeihung. TERESA Schon gut. MARÍA ANTONIA Wirklich... das wollte ich nicht... das war das Spiel... ich meine, der Film. TERESA Schon gut. ROSALBA G e n u g geschauspielert. Das Flugzeug müßte inzwischen gelandet sein. Ich werde jetzt beim Flughafen anrufen. Sie geht zum Telefon und wählt eine Nummer. MARÍA ANTONIA ZU Teresa Verzeih mir, Liebes... bitte verzeih mir. JUAN JOSÉ Ich werde noch mal nachschenken... Er nimmt die Gläser. MARÍA ANTONIA Manchmal vergißt man... TERESA Ich hab doch gesagt, es ist gut. Und hör bitte auf, so d u m m herumzureden. Das kann ich nicht ausstehen. Ich weiß selbst, daß m a n vergißt. Ich habe vergessen. JACINTA W a s meint ihr, ob Margarita von dem Italiener so begeistert ist, daß sie beschlossen hat, ihn für sich allein zu behalten? ROSALBA Dann wird sie in irgendeiner Botschaft um Asyl auf Lebenszeit bitten müssen. Es hebt niemand ab. Offenbar ist es schwierig, da jemanden zu erreichen.

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JUAN JOSÉ Rosalba hat es so eilig, das läßt an einen langen und leidenschaftlichen Sommer denken. Rosalba zuckt mit den Schultern und geht ins Schlafzimmer. Zu Maria Antonia Dein Glas. TERESA Ich nehme mir selbst, wenn's dir nichts ausmacht. JUAN JOSÉ Was ist mit Lara, Maria Antonia? Wolltest du ihn nicht auflegen? MARIA ANTONIA Ja, richtig... Sie startet die Cassette. JUAN JOSÉ Ja... der Mann, war wirklich ein Glückspilz! Mit dem häßlichen Gesicht, dem schiefen Mund, den ihm ein Tänzer im Nachtclub mit dem Messer aufgeschlitzt hat, liebten ihn doch die schönsten Frauen der Welt. JACINTA Und du siehst aus wie ein Liebhaber der vierziger Jahre... JUAN JOSÉ Ich kann mich nicht beklagen, Jacinta... Ich hab's bisher auch nicht schlecht getroffen. TERESA Das stimmt, Juan José... Warum hast du eigentlich nicht geheiratet? Könnte es sein, daß Rosalba recht hat, und du immer heimlich in Maria Antonia verliebt warst? MARIA ANTONIA Redet nicht solchen Stuß. JUAN JOSÉ Ich habe nicht geheiratet, meine Verehrteste, weil ich nicht der Mann bin, der mit jemandem zusammenleben kann. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als Tag für Tag neben demselben Gesicht aufzuwachen und zu beobachten, wie es langsam alt, fett und schrumpelig wird. TERESA Verstehe... denn du bist so schön glatt geblieben. JUAN JOSÉ Nein... aber meiner selbst werde ich nicht überdrüssig. JACINTA Sind's nicht die Frauen, die deiner überdrüssig werden? JUAN JOSÉ Schon möglich... aber da ich es mir leider Gottes nicht leisten kann, eine Italienerin zu mieten... bin ich mit dem zufrieden, was mir über den Weg läuft... und, ihr werdet es kaum glauben, mir läuft immer was über den Weg. TERESA Ich glaube, du hast nicht geheiratet, weil es keine Frau gab, die dich heiraten wollte... wahrscheinlich bist du im Bett todlangweilig. MARÌA ANTONIA Hör auf, auf ihm herumzuhacken. JACINTA Ich kann mich noch erinnern... Vor vielen Jahren kam er mit der Mutter seiner Kinder hier reingeschneit... Sie war furchtbar mager... schüchtern, hatte langes, glattes Haar bis zur Taille und einen riesigen Bauch, der sie fast vornüber kippen ließ ahmt Juan José nach

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„Maria Antonia... dich, meine beste Freundin... du bist für mich wie eine Schwester... möchte ich bitten... Taufpatin meines ersten Kindes zu werden, und diese Frau, mit der ich beschlossen habe, den Rest meines Lebens zu verbringen..." TERESA Drei Jahre und zwei Kinder! JACINTA „... soll deine Freundin sein, wie ich dein Freund bin." Und das arme Mädchen blickte zu Maria Antonia auf, als stünde die heilige Muttergottes persönlich vor ihr. JUAN JOSÉ Wir machen alle mal Fehler, Jacinta. JACINTA lacht Ihr Fehler war, zweimal von Ihnen schwanger zu werden. JUAN JOSÉ Ich habe ihr nie die Ehe versprochen. Darin bin ich meinen Prinzipien immer treu geblieben. TERESA Und diese Art von Prinzipientreue rechtfertigt wohl, daß du sie in einer billigen Pension mit einer halben Dose Milchpulver und einem Kerosinkocher mit zwei Flammen sitzengelassen hast? Denn genauso haben wir das arme Mädchen vorgefunden, nicht wahr, Maria Antonia? Nachdem sie hier angerufen hatte: „Juan José ist nicht wieder aufgetaucht... er hat gesagt, er wollte in Puerto Cabello Arbeit suchen, um das Zimmer und die Verpflegung zu bezahlen... der Wirt will mich rausschmeißen, und ich weiß nicht wohin..." MARÌA ANTONIA vorwurfsvoll Teresa... Teresa... JUAN JOSÉ Ich bin festgenommen worden. Maria Antonia weiß, daß ich im Gefängnis war. TERESA Natürlich! Jetzt willst du uns wohl noch weismachen, daß du ein politischer Gefangener warst. Das ist doch ein Witz, mein Lieber! Du bist im Gefängnis gelandet, weil du ein Faulpelz und Schnorrer warst, und in deiner Zelle saßen lauter Schwuchteln, wie sie im Hafen herumlungern und junge Matrosen aufreißen. JUAN JOSÉ Das ist nicht wahr! TERESA Und was war, als wir dich holen kamen? Du warst im Himmel ...und hast Shakespeare gelesen... wie? Aber auf Französisch ironisch, was übrigens die beste Art ist, ihn zu lesen. JACINTA Kannst du Französisch, Juan José? TERESA Es wundert mich keineswegs, daß diese Frau dir nicht erlaubt, auch nur einen Fuß in ihr Haus zu setzen und daß deine Kinder, die nur aus Mitleid Kontakt zu dir halten, sich schämen, dein Nachwuchs zu sein.

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JUAN JOSÉ Aber keiner von ihnen hat sich umgebracht! MARÍA ANTONIA böse Oh, verdammt... ich will Agustín Lara hören. Was ist hier eigentlich los? Rosalba... Rosalba...! Wo zum Teufel steckt Rosalba? Rosalba kommt als Rumba-Tänzerin verkleidet zurück. ROSALBA singt: „Mambo... qué rico el mambo... mambo... qué rico es." 10 MARÍA ANTONIA Sie ist wirklich verrückt! Wo hast du das denn her, Schätzchen? ROSALBA Das war in deinem Kleiderschrank. Ich wette, ihr habt mich darin nicht gleich erkannt! MARÍA ANTONIA Da sind bestimmt die Motten drin... Zieh es aus! JACINTA Oh, nein... Maria Antonia... sie sieht aus wie Ninón Sevilla... ROSALBA singt und tanzt „Pero qué sabroso y qué rico bailan el mambo las mejicanas... mueven la cintura y los hombros igualito que las cubanas..." Was ist mit dir, Teresa? Das war doch im AVILA dein großer Erfolg... ach, Mädchen, schalte diesen alten Trottel ab und leg die Cassette von Toña la Negra11 rein! JACINTA Oh Rosalba... so, so solltest du den Italiener empfangen... dann kommt er gleich auf den richtigen Geschmack. ROSALBA Was ist, Teresa? Willst du mir nichts sagen? MARÍA ANTONIA Du wirst dir einen Ausschlag holen... der Fummel liegt hier seit hundert Jahren rum! ROSALBA singt: „A gozar en el carnaval de Bartolo... a gozar en el carnaval de Bartolo..." Sie versucht Teresa zum Tanzen zu nötigen. TERESA Hör auf mit dem Quatsch... Du bist ja übergeschnappt! ROSALBA Ich wollte mir was von deinem Parfüm nehmen, das da im Schrank steht, und hab das hier gefunden... Ich bin nicht übergeschnappt, Teresa... Sieh mal... es sitzt wie angegossen... fabelhaft, nicht wahr? JUAN JOSÉ Das Kostüm oder der Körper? ROSALBA Beides J.J.... Als ich dieses Kostüm zum letzten Mal anhatte, war ich vierunddreißig Jahre alt... und sieh mal... als wäre kein einziges Jahr vergangen! MARÍA ANTONIA Ich hab immer gesagt, du hast dich von uns allen am besten gehalten. JACINTA Kein Wunder. Sie schläft bis um zehn, geht dann zur Gymnastik... von da zum Schönheitssalon... von da zum Club... vom

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Club nach Hause und sieht sich 'ne Fernseheserie an... da kann man sich gut halten!... Ich racker mich ab seit ich dreizehn war, da hab ich nämlich als Dienstmädchen in Maria Antonias Haus angefangen. MARIA ANTONIA DU solltest dankbar sein, daß ich noch immer nett zu dir bin und dich durchfüttere. Rosalba kann nichts dafür, daß sie so ein sorgloses Leben hatte. JACINTA Nein... Aber ich beneide sie! ROSALBA Teresa, erinnerst du dich noch, als du in deinem Katzenkostüm ins AVILA kamst? Das Orchester verstummte... große Unruhe, die Musiker erhoben sich sogar und spielten einen Tusch... dann stolzierte sie durch den ganzen Club, stieg auf die Tische... und auf den Tresen. Und wenn jeder sie in ihrem hautengen schwarzen Anzug bewundert hatte, nahm sie den Schwanz und... Maria Antonia miaut wie eine Katze. Dann setzte das Orchester wieder ein, und Teresa landete wie eine Katze mit einem Satz mitten auf der Tanzfläche und war die Königin... die große Diva... und die Männer rissen sich darum, mit ihr zu tanzen... Einmal haben wir sie sogar verlost... weißt du noch, Maria Antonia? Mit dem Schwanz und allem drum und dran. Das war eine Nacht! JUAN JOSÉ Deine Überraschungsauftritte waren auch nicht schlecht! Rosalba lacht. Ich könnte mir vorstellen, daß sich viele noch heute fragen, wer das geheimnisvolle Wesen war, das plötzlich mit schwarzer Maske und schwarzem Regenmantel im Club auftauchte. ROSALBA Oh ja, den habe ich noch! JUAN JOSÉ Ihr Auftritt schlug ein wie eine Granate, Jacinta... schwarze Strümpfe mit Strapsen... schwarze Stöckelschuhe... schwarze Maske und schwarzer Regenmantel... so spazierte sie zwischen den Tischen umher und nickte jedem zu wie eine Königin, und wenn alle Blicke auf sie gerichtet waren... zack!... schlug sie den Mantel auf und zeigte sich splitternackt... fünf Sekunden... zehn Sekunden... dann verschwand sie eilig und ließ alle mit offenen Mündern sitzen... MARÌA ANTONIA

D a n n ging sie auf die Toilette u n d zog sich u m . O h ,

wenn der selige Dr. Serrano das gesehen hätte! ROSALBA Mit der schwarzen Maske hätte er mich nie erkannt. JACINTA Dein sorgloses Leben wäre auf der Stelle beendet gewesen.

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ROSALBA Er war ein sehr ernster Mensch, der nie einen Fuß in eine Karnevalsveranstaltung gesetzt hätte. JUAN JOSÉ Ich finde, wir sollten uns alle verkleiden, um Margarita und den Italiener zu überraschen. Wir könnten sie mit einem großen Karnevalstanz empfangen. ROSALBA Oh, ja, Maria Antonia!... Sieh mal nach, ob Teresas schwarzer Anzug noch da ist. JACINTA Jetzt sind sie vollkommen übergeschnappt! ROSALBA Ich verkleide mich als Rumba-Tänzerin... Jacinta geht als befreite Sklavin, die Rolle paßt am besten zu ihr... du, Juan José... bist, seit wir dich kennen sowieso als armer Intellektueller verkleidet, und du, Maria Antonia, gehst als General mit Schirmmütze und so... komm, Teresa... nimmt sie bei der Hand Wir proben unsere Vorstellung, du könntest, wenn ich deinen Namen nenne, genau wie auf dem Tresen vom AVILA imitiert das Fauchen einer Katze wie hast du das gemacht? Mach es noch mal, Maria Antonia. Maria Antonia miaut wieder. JUAN JOSÉ nimmt Teresa bei der Hand Komm, Teresa... mach mit! TERESA reißt sich von ihm los Er hat sich nicht umgebracht! JUAN JOSÉ überrascht Wie bitte? TERESA Es war ein Unfall. Er hatte nie die Absicht, sich das Leben zu nehmen. ROSALBA erstaunt Wovon redest du, Liebes? TERESA Mein Sohn hat nicht Selbstmord begangen! Ich habe ihn geliebt. ... Ich habe ihm alles gegeben, was eine Mutter ihrem Kind geben kann... er hatte keinen Grund, das zu tun, überhaupt keinen! Hörst du? Du Mistkerl? Er hatte keinen Grund! MARÍA ANTONIA Was hast du denn, Teresa? Es ist ja gut... alles gut! TERESA Ist es nicht! Ist es überhaupt nicht! Und niemand hat das Recht, mich für diesen Unfall verantwortlich zu machen... niemand! MARÍA ANTONIA Das tut doch auch niemand, Teresa... TERESA Doch, er! Aber du weißt, wie es war. Ich habe keine Schuldgefühle, verstehst du? Ich lebe mit meinem Kummer, aber ich habe keine Schuldgefühle. MARÍA ANTONIA Laß uns nicht wieder davon anfangen, Teresa... wir wissen doch alle... alle... TERESA Er nicht! Aber mich wirst du Scheißkerl nicht fertigmachen!

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ROSALBA Komm... Keine Beleidigungen... wenn du wieder so anfängst, wird mir übel... TERESA Dann kotz doch auf den Teppich! Wäre ja nicht das erste Mal... Es ging ihm nicht gut! Hörst du! Er war krank... krank, depressiv... Er hatte Depressionen. Aber er hat sich nicht umbringen wollen... Wenn ich dagewesen wäre, hätte ich mit ihm reden können... ich hätte ihn trösten können... Er wollte doch nur schlafen... und hat zu viele... von diesen verdammten Tabletten geschluckt... Sie schluchzt. ROSALBA Weine nicht, Teresa... dein ganzes Make-up verläuft, und Margarita und der Italiener, die jeden Moment kommen können, treffen dich total verschmiert an... und das wollen wir doch nicht... nicht wahr, Maria Antonia? Wir wollen, daß sie uns fröhlich, in Feststimmung... und guter Laune in unseren Kostümen antreffen, Teresa, dich mit dem Katzenschwanz... TERESA Scheiße! Laß mich mit den Kostümen in Frieden! JUAN JOSÉ Teresa... ich hab's nicht so gemeint... TERESA Du bist ein trauriger Idiot... ein Mistkerl und solltest aufhören, mich zu verurteilen und mich zu beschuldigen. MARÌA ANTONIA Ich bin sicher, er...

TERESA Ich war eine gute Mutter, oder, Maria Antonia? Aber ich hatte auch ein Recht auf mein eigenes Leben... Woher sollte ich wissen, daß er sich so einsam fühlte... daß es ihm so schlecht ging... Ich wäre nie darauf gekommen, daß er so etwas tun würde... Warum? Um mich zu bestrafen? Aber, was hat ihm denn gefehlt, Maria Antonia? Sag mir, was ihm in seinem Leben gefehlt hat... Was habe ich ihm verweigert? Nichts! Aber ich war auch allein... Es war für mich auch verdammt schwer, allein zu sein, nicht wahr, Maria Antonia? Du kennst mich... Was er in dem Brief geschrieben hat, das stimmt nicht... Er war immer so schwierig... schon als kleines Kind... so verschlossen... und introvertiert... aber sein Brief, der stimmt nicht. Wir haben uns nicht verstanden, aber ich habe ihn geliebt... trotz seines Schweigens... trotz seiner anklagenden Blicke... Er hat mich andauernd kritisiert... alles, was ich tat, hat er verurteilt... trotz seiner Ablehnung... seiner ironischen Bemerkungen... der Zurückweisungen... habe ich ihn geliebt. Was er in dem Brief schrieb, das stimmt nicht... Er hat das gar nicht so empfunden. Er war verwirrt... Das ist alles. Ich habe ihn nie im Stich gelassen. Ihr könnt mir vorwerfen, daß ich

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leichtsinnig war, aber im Stich gelassen habe ich ihn nie, oder, Maria Antonia? MARÍA ANTONIA Komm, komm... ich weiß nicht, warum du dich jetzt mit diesen Erinnerungen quälst. Komm, wasch dir das Gesicht... mach dich ein wenig frisch... führt sie weg Kämm dir die Haare, ich helfe dir beim Schminken. TERESA Ich war eine gute Mutter... Ihr könnt mir nichts vorwerfen und mir nicht die Schuld geben... Okay, ich hatte meine Liebhaber... vielleicht zu viele, aber ich habe meine Kinder nie vernachlässigt, oder Maria Antonia? MARÍA ANTONIA Niemand gibt dir die Schuld... niemand wirft dir etwas vor... komm jetzt. Sie gehen hinaus. Bedrücktes Schweigen. JACINTA Mit dem Whiskey muß irgendwas nicht stimmen... Sie geht in die Küche. ROSALBA nach einer kurzen Pause zu Juan José Du hättest sie nicht daran erinnern dürfen. Das war gemein! JUAN JOSÉ Scheiße... ich weiß selbst nicht, wie ich darauf kam... ich schwör's dir... ich weiß es nicht! ROSALBA Wir wollten uns gerade verkleiden... wir wollten in fröhlicher Stimmung den Italiener erwarten, und du hast uns alles verdorben. JUAN JOSÉ Ich schwöre dir, es war nicht meine Absicht. Sie sehen sich an. ROSALBA Bitte stell den Kasten ab. JUAN JOSÉ Scheiße, jetzt fühle ich mich hundsmiserabel. Am liebsten würde ich gehen. ROSALBA Dann geh... ich erklär's den anderen. Den Italiener wolltest du doch sowieso nicht kennenlernen, oder? JUAN JOSÉ Nein... natürlich nicht. Sag Maria Antonia, daß... ROSALBA Mach dir keine Gedanken, J.J. ...geh jetzt! Juan José geht. Sie singt leise vor sich hin „Palomita... palomita... cuidado con el pichón. Mira que guardando el nido, está el Gavilán Ladrón..." JACINTA bringt ein Schälchen Hühnersuppe herein Wo ist J.J.? ROSALBA Gegangen. JACINTA Ich dachte mir, ich bringe dir ein Schälchen Hühnersuppe gegen deine Übelkeit. ROSALBA Danke, Jacinta.

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JACINTA Ich frage mich, ob ich nicht den Tisch decken soll... es ist schon spät, und keiner hat zu Mittag gegessen... ROSALBA Meinst du, der Italiener ist entsetzt, wenn er mich so sieht? JACINTA Wenn er überhaupt kommt... ROSALBA Er wird kommen, Jacinta... Wir warten auf ihn. Er muß kommen. Margarita hat ihn abgeholt... auf der Piazza Navona... in R o m Italien. Maria Antonia kommt zurück. MARÍA ANTONIA WO ist Juan José? ROSALBA Er ist gegangen. Er hatte keine Lust, auf den Italiener zu warten. Geht es Teresa besser? MARÍA ANTONIA Ja. JACINTA María Antonia, ich frage mich, ob ich nicht den Tisch decken soll... MARÍA ANTONIA Natürlich sollst du den Tisch decken, was für eine dumme Frage... Oder willst du uns verhungern lassen? Das Telephon klingelt. ROSALBA Oh... das ist jetzt... Margarita! TERESA betritt den Raum Was ist los? Geht keiner ans Telephon? Sie laut zum Telephon Hallo? Wer? Sie deckt die Muschel ab Es ist wieder deine Tochter! Rosalba gibt Teresa zu verstehen, sie soll sie verleugnen Hallo... Beba? Teresa am Apparat... Danke, gut mein Schatz... und wie geht's dir und den Kindern? Wer? Nein... sie ist schon gegangen. Aber nein... wieso sollte sie sich verleugnen lassen? Und wie soll ich ihr das sagen, wenn sie gar nicht mehr hier ist? Teresa legt auf Diese Göre... hat einfach aufgelegt! ROSALBA Was hat sie gesagt? TERESA Ich zitiere: „Ich weiß, daß meine Mutter da ist... sag ihr bitte, sie soll sich nicht wieder sinnlos betrinken... und daran denken, daß ich weg muß und daß sie auf die Kinder aufpassen muß."... Dann hat sie aufgelegt! ROSALBA Ohne sich zu verabschieden... nichts? TERESA Aufgelegt. ROSALBA Sie kommt nicht nach mir. Ich würde mich nie so benehmen. MARÍA ANTONIA Jacinta wird den Tisch decken, damit wir essen können. TERESA Und der Italiener?

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MARÍA ANTONIA Ich habe keine Lust, noch länger zu warten. ROS ALB A Aber Margarita hat gesagt... MARÍA ANTONIA Ich bitte dich, Rosalba... Weder Margarita noch der Italiener werden kommen. ROSALBA Aber, die Kooperative... und die Reise... und...? TERESA Eins von beiden... entweder hat das Flugzeug Verspätung, oder Margarita ist mit unserem Angebot noch auf der Piazza Navona unterwegs... Maria Antonia lacht. ROSALBA Ich sehe nicht, was daran witzig ist. MARÍA ANTONIA Ich lache über uns. Haben wir wirklich geglaubt, das würde wahr? Irgendein gemieteter Italiener würde kommen und sechzig Tage mit uns verbringen? ROSALBA Warum nicht? So übel sind wir nicht... Sieh dir Teresa an mit ihrem neuen Busen... sieh mich an... sieh dich selbst an! MARÍA ANTONIA Hier, allein... wie jeden Samstag... wie sagte Teresa: ... voller Erinnerungen? TERESA Erfahrungen und Erinnerungen... MARÍA ANTONIA Genau... Erfahrungen und Erinnerungen... wunderbare Erfahrungen und herrliche Erinnerungen... Sonst nichts. JACINTA kommt singend herein, um den Tisch zu decken „Maria Antonia es una mujer loca de remate..." TERESA Sollen wir noch eine Runde Rommé spielen? Ich kann nichts mehr trinken! JACINTA Vielleicht nach dem Essen? Entschuldigung. Sie räumt alles vom Tisch, legt die Tischdecke auf. ROSALBA Spiel doch noch mal die Lucho-Gatica-Cassette, Maria Antonia... sie weckt so schöne Erinnerungen in mir! TERESA An den Tag, als du dir in die Nylons gepinkelt hast? ROSALBA Seidenstrümpfe, Teresa... Nylons habe ich nie getragen. MARÍA ANTONIA während sie die Cassette einlegt Sie war immer sehr fein... TERESA Ah, da wir von Seide sprechen... was ist mit den Dessous, die du uns zeigen wolltest? ROS ALBA Ich habe sie noch nicht ausgezeichnet... aber dir gebe ich einen Rabatt... ich mache dir einen echten Sonderpreis... BHs sehen jetzt sicher toll an dir aus...

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TERESA Wenn ich noch etwas hab, um sie zu bezahlen... JACINTA stellt Teller auf den Tisch und legt das Besteck dazu Ich dachte, sie wären aus Plastik? Dann müßten sie sich doch von selbst halten, oder? MARÍA ANTONIA Sie ist es, die sich nicht von selbst halten kann... ich sehe sie schon um Almosen betteln. ROSALBA Oh ja, wie die Heldin in der Serie. TERESA Ich hab sie gestern Abend nicht gesehen. Was ist passiert? ROSALBA Also... sie wurde aus dem Gefängnis entlassen und ist zu dem Mann gegangen, der sie natürlich nicht wiedererkannt hat, obwohl sie sich bis auf ein paar graue Haare hier und da nicht verändert hat... MARÍA ANTONIA Und hat sie ihre Tochter schon gesehen? ROSALBA Nein... gestern Abend war es zu Ende, als sie bei ihm zu Hause in einen großen Empfang reinplatzt, der veranstaltet wird, um die Tochter in die Gesellschaft einzuführen. Sie kommt rein und guckt alle völlig unbeteiligt an... als hätte sie nichts mit ihnen zu tun... und der Schmuck... wo sie den her haben soll, ist mir schleierhaft, denn nach zwanzig Jahren im Gefängnis fragt man sich natürlich, wo der ganze Schmuck und die feinen Kleider herkommen sollen... naja, jedenfalls geht sie hin und niemand erkennt sie... bis auf seine Mutter, die sie irgendwie... beunruhigt ansieht und dann die Haushälterin ausfragt... „Hortensia... wer ist diese Frau?" TERESA Stimmt... Hortensia weiß ja Bescheid... JACINTA Natürlich! Schließlich war sie diejenige, die ihr das Baby weggenommen und sie des Diebstahls beschuldigt hat. ROSALBA „Hortensia... wer ist diese Frau?" Und Hortensia... „Ich weiß es nicht, gnädige Frau... aber das Gesicht kommt mir bekannt vor." MARÍA ANTONIA Natürlich! Es ist ja dieselbe Schauspielerin. ROSALBA „Sie sieht aus wie eine steinreiche Frau, die neu in der Stadt ist."... Und die Alte: „Finde heraus, wer sie ist, Hortensia, denn ich habe das Gefühl, daß uns ihre Anwesenheit in diesem Haus Unglück bringen wird... ein großes Unglück!" Da war's zu Ende! JACINTA Gut, kommt jetzt und setzt euch, bevor die Suppe kalt wird. TERESA Die heutige Folge wird also endlich die Wahrheit ans Licht bringen. MARÍA ANTONIA geht zu Tisch Nun kommt schon...

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ROSALBA Meine Liebe... soll ich so essen... in diesem Kostüm! JACINTA Oh, je länger ich sie ansehe, desto mehr erinnert sie mich an Ninón Sevilla! ROSALBA Eßt ihr nur... mein Magen ist nicht ganz in Ordnung. Maria Antonia und Teresa setzen sich an den Tisch. Rosalba legt sich auf das Sofa Seht mal, das hat Juan José vergessen... ein Buch. MARIA ANTONIA Er hat es nicht vergessen. Er hat es mir geschenkt. Rosalba nimmt die Zeitung und beginnt darin zu blättern. TERESA Schade, daß Margarita nicht mit dem Italiener gekommen ist. Sie bedient sich Es wäre lustig gewesen, ihn zu teilen... lacht Verrückt... aber lustig! MARIA ANTONIA Das ist nichts mehr für uns, Teresa... und eigentlich brauchen wir ihn auch nicht, oder? Teresa zieht die Schultern hoch. Haben wir nicht alle aus dem Leben rausgeholt, was drin war...? Wir haben geliebt, soviel wir lieben konnten... Also, was soll's! ROSALBA richtet sich auf Hey... hört mal zu! TERESA Wenn's das Horoskop ist, kannst du's dir sparen... ROSALBA Nein, Mädels... hört zu... Die Beleuchtung wird allmählich schwächer Spanier... Geschäftsmann... in reifem Alter aber noch von jugendlichem Aussehen... liebevoll... intelligent... seriös... sucht elegante, gebildete Frau - geschieden oder verwitwet, Kunstliebhaberin - für Freundschaft und evt. spätere Heirat. Sie sollte schon reiferen Alters sein, zärtlich und liebevoll, Kinder willkommen. Ich lebe in guter gesellschaftlicher Position und möchte den Rest meines Lebens mit einer Frau teilen und genießen, die wie ich vom Alleinsein genug hat. Ende

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Schwarzer Freitag nennen die Venezolaner den Tag, an dem die internationalen Ölpreise drastisch gesenkt wurden und das Land in eine neue Phase der wirtschaftlichen Not eintrat. Der Tangosänger Carlos Gardel (1887-1935) starb bei einem Flugzeugunglück in Medellin, Kolumbien. Er war in Lateinamerika so beliebt, daß sein Todestag, der 24. Juni, noch heute in fast allen lateinamerikanischen Ländern ein Feiertag ist.

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Agustín Lara (1897-1970) war ein mexikanischer Musiker. Er komponierte zahlreiche Schlager, z.B. „Maria Bonita", „Madrid", „Granada", „Noche de Ronda" etc. Der chilenische Sänger Lucho Gatica wurde durch seine Interpretationen von Liebesliedern, besonders Boleros, berühmt. Marga López und Roberto Cañedo sind mexikanische Filmstars, die im Film „Salón México" die Hauptrollen spielten. Zarzuela ist ein spanisches Singspiel. Chotis sind Volkslieder aus Madrid, zu denen paarweise getanzt wird. „Noche de ronda" ist eins der bekanntesten Liebeslieder von Agustín Lara. Es beschreibt das Leiden der Verlassenen. Cutí ist eine Indianersprache. Libertad Lamarque ist eine argentinische Sängerin und Schauspielerin, die während ihres Exils in zahlreichen mexikanischen Filmen auftrat. Mambo und Rumba sind kubanische Tänze, die von Tänzerinnen in kunstvollen Carmen-Miranda-Kostümen in Nachtclubs vorgeführt wurden. Diese Rhythmen sind weit verbreitet und werden bei offiziellen und privaten Anlässen getanzt. Rosalba singt ein Lied des kubanischen Sängers Dámaso Pérez, der in MexikoCity im Exil lebt. Toña la Negra ist eine berühmte kubanische Sängerin und Tänzerin.

Albalucia Angel Sieben Bilder im Spiegel Siete lunas y un espejo

Deutsch von Solveig Maug

Sieben Bilder im Spiegel

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Albalucia Angel (1939) war lange Zeit das enfant terrible der kolumbianischen Literaturszene, bis sie nach ihrem dritten Roman endlich anerkannt wurde. Ihr Theater läßt die Gründe erkennen, die zu ihrer Ablehnung beitrugen: Sie ist eine engagierte Feministin und hat ungewöhnliche Wege gefunden, ihre Überzeugung literarisch darzustellen. Misiä senora (1983), ihr erstes Stück, eine Transskription des gleichnamigen Romans, gibt ein pessimistisches Bild des Lebens einer Frau in drei Generationen: Großmutter, Mutter und Tochter. Sieben Bilder im Spiegel (1991) führt die darin entwickelten Gedanken weiter, indem es die Frau in der Geschichte zeigt und über ihre tradierte Rolle hinausweist. Als Motto dieses Dramas in zwei Akten steht ein Satz aus Les guerrillieres von Monique Wittig, einem Roman, der eine utopische, von Frauen erschaffene und gelenkte Gesellschaft preist. Und eine utopische Situation zwischen sieben Frauen entwirft Angel in diesem Stück: Auf unkonventionelle Weise begegnen sich hier Virginia Woolf, George Sand, Marie Antoinette, Jeanne d'Arc und zwei literarische Figuren: Julia, ohne Romeo, und Alice im Wunderland. Zeuge, quasi Gastgeber des Treffens, ist die Autorin selbst. Zeit und Raum werden bei diesem Arrangement aufgehoben; Ort der Handlung ist ein Wald, locus amoenus, ein Ort der Phantasie, der räumlichen Desorientierung. Er schafft die Vorstellung eines zeitlichen Niemandslandes, in dem die Frauen nicht in einem Vergleich der jeweiligen historischen Bedingungen verschwinden, ihre Rolle vielmehr einen absoluten Charakter erhält. George Sand und Virginia Woolf artikulieren die Erfahrungen der Frau, ihre Abschiebung auf die traditionellen Ort der Familie, und formulieren den Weg, den sie in ihrer gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklung einschlagen sollte. Sie bewerten die Leistung neu, die Frauen wie z. B. Jeanne d'Arc im Lauf der Geschichte erbracht haben. „Ich träumte die Realität", sagt Angel über ihre schriftstellerische Arbeit1 „schrieb aus lauter Sehnsucht nach dem, was Frauen in der Geschichte geleistet haben, ohne daß dies recht zur Kenntnis genommen wurde, nach Geschichten in anderen Stimmen, nach einer Vision, in der sie anders als die Männer an der Geschichte teilhaben." Das Problem, Gesten und Worte, die mit tradierten Bedeutungen belegt sind, für neue Deutungen freizumachen, löst Angel, indem sie als erste Alice auf der Suche nach ihrem Kaninchen erscheinen läßt. Alice 1

Zitiert nach Magdalena Garcia Pinto: Historias íntimas: Conversaciones escritoras latinoamericanas. Hanover New Hamshire 1988, S. 11.

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im Wunderland ist der Inbegriff freier Phantasie2, und Phantasie spielt stets eine bestimmende Rolle bei der Entwicklung von Widerstand, sowohl auf literarischer wie auf ideologischer Ebene. 3 Ihr Auftritt ist dramaturgisch der Auftakt für das seltsame Treffen. Das Kind, das respektlos mit Wörtern und ihrer Bedeutung herumspielt, das ausspricht, was es denkt und was die Konventionen der Erwachsenen verschweigen, signalisiert das Wort als befreiendes Instrument in jeder Hinsicht. Der Schritt zu Virginia Woolf ist folgerichtig, denn über die Sprache emanzipiert sich die Frau, entdeckt ihre Kreativität und stellt die männliche Autorität in Frage. Entsprechend zeigt Angel den Mann in seinen Worten obszön (als Fuchs), dumm (als Jäger) und aggressiv (als Soldat). Komplexer als diese schlichte, didaktische Aussageweise, ist die intertextuelle Strategie, mit der Angel vorgeht. Jede Figur spricht aus ihrem eigenen Kontext heraus, der durch Kleidung, Gegenstände, Auftreten hervorgehoben wird. Sie repräsentiert den Diskurs ihrer Zeit und ihrer ontologischen Ebene. Darüber hinaus beziehen sich die Figuren auf andere literarische und historische Gestalten - George Sand und Virginia Woolf diskutieren über Flauberts Madame Bovary, George Sand und Marie Antoinette über die Französische Revolution, Alice deutet den Jäger als Figur aus einer anderen Geschichte etc. - und kreieren auf diese Weise ein raffiniertes „historiographisches Metatheater." 4 Konsequenterweise steht auch die Dramaturgie im Dienst der Aussage: Frauen = Solidarität und Koexistenz gegen Männer = Kampf, mit dem Risiko totaler Zerstörung. Es gibt weder IGimax noch Katharsis; selbst die bedrohliche Schlußszene löst Alice mit dem respektlosen Absingen eines Kinderliedes auf, und Julias dramatische Endzeitvision verschwindet, weil Jeanne ihr Pferd wiedergefunden hat. Das heißt: Angel entwirft das Idealbild eines friedlichen Leben unter Frauen, das durch den Mann gestört, aber nicht zerstört werden kann. Sie zeigt Szenen, die keine dramatische Entwicklung erfahren, jedenfalls nicht auf der Bühne, und indem sie weibliche Gestalten aus verschiedenen Zeiten 2

Siehe auch Angels Roman Dos veces Alicia. 1972.

3

Rosemary Jackson in Fantasy: The Literature of Subversion. Connecticut 1992, S. 1-2, wie auch Patricia Waugh in Feminin Fictions: Revisiting the Postmodern. New York 1984, S. 169, verweisen auf die Bedeutung der phantastischen Literatur als Flucht wie als konstruktives, subversives Element.

4

Linda Hutcheon entwickelt diesen Begriff in Narcisistic Narrative: The Metafictional Paradox. N e w York 1984. Siehe auch Juanamaria Cordones-Cook: „Intertextualidad y narcisismo dramático en el teatro feminista de Albalucía Angel", in Revista de Estudios Colombianos 15 (1993), S. 39-45.

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und Ebenen zusammenführt, schafft sie einen neuen historischen Kontext. Mit Hilfe von Literatur und Geschichte werden patriarchalische Mythen tradiert. Also bemächtigt sich Angel beider - zwei historische Figuren, zwei literarische Figuren, zwei Schriftstellerinnen -, um diese Mythen zu entwerten und dafür weibliche Mythen hervorzuheben. Sieben Bilder im Spiegel nennt Angel ihr Stück. Der Spiegel ist ein in der Literatur oft verwendetes Symbol des Lebens, das der Spiegel wiedergibt, entstellt, vergrößert oder verkleinert.5 Ein zweideutiges Symbol: positiv wird es als Selbsterkenntnis, Selbstfindung und wie im Mythos des Narziss als künstlerisches Selbstbewußtsein gedeutet6, negativ als Fragmentierung oder, wie Angel ihre Virginia Woolf sagen läßt: „Die Frau ist der Spiegel, in dem sich der Mann vergrößert sieht." Der Titel weist in jedem Fall auf das dialektische Spiel der Frauen von Erkennen und gegenseitiger Bestätigung hin. In diesem Spiegel gewinnen die Frauen ihr unbekanntes oder falsch interpretiertes Bild zurück. Heidrun Adler

5

Angel verwendet es auch in Manzana de piedra und Las andariegas.

6

siehe Linda Hutcheon, a.a.O. und Maria Mercedes Jaramillo: Del drama a la realidad en las obras de dos autoras colombianas (Albalucía Angel, Fanny Buitrago). Fishburg State College 1992, S. 11-13. Siehe auch Jacques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion", in Schriften /, Weinheim, Berlin 1991, S. 61-70.

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A ma chère Cid Du sagst, es gäbe keine Worte, um jene Zeit zu beschreiben. Du sagst, es gäbe sie nicht. Aber erinnere dich. Streng dein Gedächtnis an. Oder, wenn es fehlt, erfinde. Monique Witting: Les Guerrillières

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Personen: Autorin - Alice - Virginia Woolf- George Sand - Marie Antoinette Julia - Jeanne d'Arc - Jäger, Fuchs, Soldat: immer derselbe Schauspieler In einem Wald ist ein viereckiges Campingzelt aufgebaut, in das man aufrecht hineingehen kann. Es bietet genug Platz für zwei Personen. Klappliegen, Kocher und andere Campingutensilien. In der Mitte der Bühne gibt es ein kleines, mit Steinen eingegrenztes Lagerfeuer, das dazu dient, das Essen zu bereiten, Kaffeewasser zu kochen, usw. Außerdem gibt es noch einen Baumstumpf, einen Klapptisch und einen Klappstuhl. Erster Akt 1. Szene Morgengrauen. Die Autorin kommt aus dem Zelt und reckt und streckt sich. Sie trägt Jeans, Tennisschuhe, T-Shirt und Sportjacke. Man hört Vogelgezwitscher. AUTORIN schaut zu den Baumwipfeln Sie sind keine Frühaufsteherinnen, die Damen Eichhörnchen. Wie die Vögel krakeelen... Mal sehen, wer lauter singt...! Imitiert pfeifend eine Vogelstimme Hmmmm...! Reckt sich wieder Phantastisch...! Holt den Gaskocher und beginnt, das Frühstück zu machen, summt dabei einen Schlager Nein, mein Herr, sie sind keine Frühaufsteherinnen, die Damen Eichhörnchen. Wenn ich immer im Wald leben würde, wäre ich wie die Vögel rezitierender, dramatischer Tonfall sangeslustig wie die Lerche, macht Bewegungen des Tieres, das sie nennt listig wie die Füchsin, schwarz wie die Pantherkatze... oder leben Panther nicht im Wald...? Sie zweifelt, verliert sich in Gedanken Oder doch...? spielerisch Oder nicht...? faucht, teilt Prankenhiebe aus.... wie die Pantherkatze... Sie wendet sich dann schnell wieder dem Gaskocher zu Mein Kaffee...! Sie schenkt sich ein und probiert einen Schluck Hmmm...! Ausgezeichnet, meine Dame: Kaffee Sello Rojo im Ton der Radiowerbung in ihrer Küche, in ihrer Guten Stube, in ihrem Büro... Sie reckt sich auf dem Baumstumpf, das Gesicht zum Himmel Eins steht fest, nur ein Wald kann solche Farben hervorbringen... und diesen Duft... schnuppert die Luft Vater im Himmel, so ein herrliches Leben! Oder besser, Mutter im Himmel... Schließlich ist die Trägheit die Mutter aller Dinge... Wenn ich im Wald leben würde, wäre ich so faul und frech wie die Enten da im Teich, die immer nur schwim-

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men, hin und her, glücklich und zufrieden, sie macht die Bewegung immer nur schwimmen... springt auf und spricht wieder in dramatischem Ton Ich wäre so frei wie die Schwalben, so schnell und flüchtig wie ein Lichtblitz zwischen den Blättern übertrieben rezitativ erforsche meine Augen, laß meinen Mund staunen, zerbrich diesen verrückten Kopf mit deinen Händen... Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht Alice auf, gekleidet wie auf einer Zeichnung von Tenniel. Diese sind schwarz-weiß, aber wir können uns Alice mit rot-weiß gestreiften Strümpfen, roten Schühchen, weißer Schürze, dunkelblauem Kleid und einer Schleife derselben Farbe im Haar vorstellen. ALICE Hallo...! Haben Sie nicht zufällig ein Kaninchen vorbeikommen sehen mit... AUTORIN ist aufgefahren, als sie unerwart die Stimme hört, und ist beschämt, daß sie beim Beten überrascht wurde Ein Kaninchen? ALICE Ja. Weiß. Mit Handschuhen. AUTORIN Mit Hand...? ALICE Ja. Und mit einem Stock und karierter Weste...! Ach... Und mit einer Taschenuhr, die an der Weste hängt drängend, da sie die verdutzte Haltung der anderen bemerkt Ja oder nein...? AUTORIN Kariert... also, nein... als dächte sie nach, dann überzeugt Also, nein. Ich habe kein Kaninchen gesehen. ALICE Sch...eibenkleister! AUTORIN Es tut mir leid! Irgendein Bekannter...? ALICE Ja. Nun... Ja und nein. AUTORIN A h h h . J Der einzige, den ich gestern Morgen gesehen habe, war ein Fuchs. Wunderschön! Mit sooo einem Schwanz, wunderschön! Ich traf ihn ganz plötzlich. Als ich es am wenigsten erwartete, stand er da, zwei Meter entfernt pfeift Huiii.J Was für umwerfende Augen! Wie zwei riesige Kohlenstücke! Tiefschwarz, und er stand da... reglos und sah mich an, sah mich an... spricht mit der Mimik eines Hypnotiseurs. Alice scheint in Hypnose zufallen. Sah - mich - an... ALICE Sah - mich - an... AUTORIN Umwerfend...! ALICE Umwerfend...! AUTORIN ihr wird der prähypnotische Zustand ihrer Gesprächspartnerin bewußt Hey! pfeift Huiiiiii...! Sie fährt ihr mit der Hand vor dem Gesicht auf und ab, bis Alice reagiert Huhuuuuuu...! ALICE Huuhuuu...! Ist er schon weg...?

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AUTORIN Wer. 2 ALICE Ihr Freund. AUTORIN Welcher Freund...? ALICE Dieser umwerfende Typ mit den glühenden Kohlenaugen. AUTORIN lacht laut Ja. Er löste sich in Luft auf... wie eine Rauchwolke. ALICE Vollständig? AUTORIN Genau so, vollständig... ALICE Ich kenne jemanden, der verschwindet stückchenweise, erst der Schwanz, dann die Ohren... In diesem Augenblick erscheint Virginia zwischen den Bäumen, Alice unterbricht sich und beobachtet sie. Die Autorin folgt Alices Blick. Virginia trägt eins ihrer typischen Gewänder: Wadenlanger grauer Rock, blaflgrüne Bluse, vielleicht eine offene Wolljacke mit Taschen, flache Schuhe, ihre übliche Frisur, die Haare zu einem halben Knoten zurückgenommen. Sie kommt näher, ohne ihren Waldspaziergangschritt zu beschleunigen. VIRGINIA sehr liebenswürdig Hallo! Einen schönen guten Tag! ALICE trocken Einen schönen guten Tag! AUTORIN freundlich Hallo...! VIRGINIA Etwas kühl..., nicht wahr...? ALICE Nun, nicht sehr... AUTORIN versucht die Frechheit zu mildern Ja, ziemlich kühl. VIRGINIA Dieses englische Klima ist immer unvorhersehbar. Mitte Mai, und dann dieser eisige Wind... Sie reibt sich die Arme. AUTORIN Englisch...? Aber wir sind doch nicht in... ALICE Man kann sich an alles gewöhnen. Vor kurzem riet mir der Tausendfüßler, von einem Pilz zu essen, um zu wachsen... und vom... VIRGINIA Ach, ja..? Wie interessant! Ein Pilz, um zu wachsen! Das sollte ich mir notieren in meinem... Sie will ein Notizheft und einen Bleistift aus der Tasche ziehen Ahhh.J Aber ich kenne dich doch...! Sie betrachtet Alice von oben bis unten aus der Nähe, geht um sie herum Good heavens! Aber ja, natürlich...! ALICE Ach, ja? Zur Autorin Noch so eine. Zu Virginia Glaube ich nicht. Nein. Offengestanden, ich glaube es nicht. VIRGINIA Und die Geschichte mit der Katze...? ALICE sprachlos Die Geschichte mit der K a . J Ahhh...! Und woher, zum Teufel, kommen Sie...? VIRGINIA sehr ernst Ich komme aus meiner eigenen Feder. Aus meinem Bedürfnis, zu sein... Sie sieht beide fest an Aus meinem starken

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Wunsch, meinen eigenen Schatten zurückzugewinnen... Sprachlos sehen sich beide an, wagen keine Regung, während Virginia unbeirrt in schlichtem Ton ohne jegliche Übertreibung weiterspricht. Wie Antigone. AUTORIN wie im Traum Wie Athene...! VIRGINIA Nein...! Athene entsprang dem Kopf ihres Vaters Zeus. Ich entstehe aus mir selbst. Ich habe mich selbst erschaffen...! ALICE ironisch Und das sind Beweise...! AUTORIN Sie wollen also sagen, daß... Ich meine... wenn Sie behaupten „ich habe mich selbst erschaffen..." VIRGINIA Nicht mehr und nicht weniger. AUTORIN mit belegter Stimme Aha... VIRGINIA Und es wird nicht mehr lange dauern, bis eines Tages die Frauen mit demselben Gefühl erwachen wie die Vögel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf den Winden segeln. Voller Freude, daß sie das Labyrinth durchquert und dem Minotaurus die Stirn geboten haben. Sie betrachtet die Umgebung und die beiden Frauen, die wie verzaubert dastehen Wir Frauen müssen wissen, daß wir auch diese Macht besitzen. Nicht nur die magische und köstliche Macht, jahrhundertelang den Männern als Vergrößerungsspiegel zu dienen, damit sie sich zweimal mehr als Mann, zweimal mehr als König, zweimal mächtiger, Pause Zweimal... AUTORIN sehr schüchtern ...mehr, als was sie sind... VIRGINIA Ohne diese Macht wäre die Erde wahrscheinlich Morast und Dschungel... ALICE hat sich im Schneidersitz zu Virginias Füßen niedergelassen und stützt das Kinn auf die Hände, sie betrachtet Virginia vollkommen fasziniert Was ist Morast...? AUTORIN lachtauf. VIRGINIA Ein Ort voller Sumpf und Treibsand und giftiger Schlangen... ALICE Treibsand...! Nach einer kleinen Pause Was ist Treibsand...? AURORIN schaudernd Sand, der dich nach und nach verschluckt, wie deinen Freund, der stückchenweise verschwindet. Erst die Füße, dann die Beine... ALICE unterbricht sie Aber die Katze verschluckt niemand. Sie verschwindet von ganz allein. VIRGINIA Ah ja...! Die Geschichte mit der Katze...! Ich fand sie immer lächerlich.

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ALICE Nun ja, das ist Geschmackssache. Ich finde die Katze nett, aber dumm, mit einem rührenden Sinn für Humor. Zu glauben, daß jemand vor Angst oder was auch immer, tot umfällt, wenn sie sich auflöst und ihr Grinsen in der Luft hängen läßt... Wenn sie das für ein unvergeßliches Ereignis hält, also, dann ist sie vollkommen bekloppt... Jawohl! Sieht die Frauen zornig an Bekloppt... Pause. Sie gibt grollend katzenhafte Töne von sich „Das hängt hauptsächlich davon ab, wohin du willst..." Ha...! Das Gehirn wird ihr verfaulen, wenn sie weiterhin so überaus geistreiche und abrakadabrige Antworten gibt... und angesichts des etwas überraschten Blickes von Virginia Ja...! Abrakadabrig...! VIRGINIA wohlwollend lächelnd Nun ja... so schlimm ist die Katze nun auch wieder nicht, alles in allem. ALICE Nein. Sie ist nicht schlimm. Sie ist mongoloid... VIRGINIA Die Geschichte, die mich am meisten interessiert, ist die mit dem Pilz, wie war das noch... Es ist eine Geschichte... ALICE unterbricht verärgert Puhhh.J Das war überhaupt nicht lustig. Der Schlüssel zum Garten oben in den Bäumen, und ich klein wie eine Ameise...! Zeigt der Autorin die Größe Ich wurde immer kleiner und kleiner... Immer winziger. Ich dachte schon, ich würde nie im Leben wieder eine mehr oder weniger normale Größe haben. Der Hund schien mir so groß wie ein Elefant... VIRGINIA Aber der Schlüssel war nicht in den Bäumen. Er lag auf dem Glastisch. ALICE ungeduldig Also, haben Sie das Buch geschrieben...? VIRGINIA sehr ernst Nein. Aber ich hätte es gern geschrieben. Vielleicht hätte ich die Geschichte mit der Katze... Eine Männerstimme ruß aus der Ferne, ohne daß man jemanden sieht. JÄGER Stimme Haben Sie vielleicht einen Fuchs vorbeikommen sehen...? Der Mann erscheint, Jägeranzug, Gewehr auf der Schulter. Er grüßt sehr höflich mit dem Hut. Guten Tag auch, meine verehrten Damen... Er betrachte Alice eingehend... und mein Fräulein... ALICE zu sich selbst Und woher, verdammt, will dieser Schwachkopf den Unterschied wissen? Schläft er etwa in meinem Bett!? JÄGER Haben die Damen spöttisch und das Fräulein vielleicht einen Fuchs vorbeikommen sehen?

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AUTORIN Mit rotem oder grauem Fell? JÄGER Grau. AUTORIN Ach nein! Ich habe keinen grauen Fuchs gesehen. JÄGER drängend Und einen roten? AUTORIN Kann sein... JÄGER Also, was nun?! Haben Sie ihn gesehen oder nicht? Befehlston Haben Sie ihn gesehen oder nicht? ALICE Dieser Kerl ist aber hartnäckig! Für wen hält er sich eigentlich? Für die Mutter Maria? JÄGER Mit Ihnen habe ich nicht geredet, Fräulein. ALICE Und ich habe Ihnen nicht geantwortet, mein Herr. Ich spreche nicht mit Leuten aus anderen Geschichten. JÄGER sprachlos, fragend an die Frauen gewand Mit Leuten aus anderen Geschichten? ALICE Ja. Für mich sind Sie Blaubart... JÄGER noch verdutzter Blau... was? ALICE Ach, vergessen Sie es! Das ist zu hoch für das Gehirn eines Mannes mit einem Gewehr in der Hand. JÄGER vollkommen aufler sich Und was ist so schlimm an meinem Gewehr?! He? Was, zur Hölle, ist schlimm daran? Ich gehe nicht herum und erschieße Leute damit, nur Tiere. Und? Was, zur Hölle, ist daran schlimm! VIRGINIA hat sich auf den Baumstumpf gesetzt. Beschwichtigend Beruhigen Sie sich! Es ist doch halb so schlimm. Das Mädchen wollte nur sagen, daß Männer, die mit Gewehren bewaffnet sind, bereit sind, der Natur mit Gewalt zu begegnen. Ein Gegenstand wie dieser dient dazu, einem Tierleben ein Ende zu bereiten, und warum dann nicht auch... einem Menschenleben... JÄGER spöttisch Und Sie? Wer sind Sie denn? Die antimilitaristische Frauenliga, oder was, zur Hölle...?! ALICE Gar keine Hölle! Und mehr Respekt, bitte! Wir sind hier keine Liga von gar nichts. Und Sie kommen mir immer mehr vor wie dieser arme verrückte Hutmacher, der nur dummes Zeug von sich gab. JÄGER Ach ja? Von wegen dummes Zeug! Und wer hat Ihnen überhaupt erlaubt, hier zu zelten? Zeigen Sie Ihre Genehmigung! Ich bin der Waldhüter, meine Damen spöttisch und mein Fräulein.

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AUTORIN Sehen Sie, mein Herr... Verzeihung, Herr Waldhüter. Ich habe im Dorf gefragt, ob es irgendwelche Einwände gäbe, und man sagte mir, es spräche nichts dagegen. Auf der anderen Seite des Flusses sei es kein Problem. JÄGER A.ha! Von wegen, kein Problem! Ab jetzt ist es ein Problem, meine verehrte Dame. Es wird ein Problem sein... Marie Antoinette tritt auf, sie ist aufgeregt, und wie aufgedreht läuft sie hin und her und hält ihre Perücke fest, verheddert sich in ihrem Reifrock, Volants, Ohrgehänge. Die Frauen bleiben ganz gelassen, wenn sie sie sehen. Nur der Jäger ist verdutzt. MARIE ANTOINETTE außer Atem Gut, daß ich Sie gefunden habe! Mon Dieu, quel horreur! Ich habe Sie überall gesucht! JÄGER unverschämt Wer ist denn das da? MARIE ANTOINETTE faßt sich augenblicklich Das da? Ich bin nicht irgendein das da! Ich bin die Königin! Herrschaftlich Und Sie? Wer, zum Teufel, sind Sie und was machen Sie hier mit diesem Gewehr? Wissen Sie nicht, daß die Jagd an diesem Ort verboten ist? Auch mit Pfeil und Bogen! Ausdrücklich verboten! Machen Sie, daß Sie fortkommen, bevor ich Sie von meinen Wachen aufknüpfen lasse! JÄGER stammelnd, schaut die Frauen ungläubig an Aber... wie ist es möglich, daß... MARIE ANTOINETTE Fort, habe ich gesagt! Sie bedeutet ihm mit der Hand zu gehen. Der Jäger lüftet grüßend den Hut und geht eilig ab. Allgemeines Gelächter der Frauen. Was hatte dieses Individuum in meinem Wald verloren...? AUTORIN Keine Ahnung. Er tauchte plötzlich auf, mit seinem Gewehr über der Schulter, und fragte nach einem Fuchs. MARIE ANTOINETTE Füchse? In meinen Wäldern? AUTORIN Nun, es scheint so. Zumindest sagte er dies. MARIE ANTOINETTE Ach, was! In diesen Wäldern hat es seit Barbarossas Zeiten keinen Fuchs mehr gegeben. AUTORIN schüchtern Aber das stimmt nicht... Euer Majestät! Noch gestern traf ich einen... ALICE unterbricht Mit großen Augen, wie riesige Kohlenstücke, und er stand reglos da und sah sie an, sah sie an... MARIE ANTOINETTE lacht Oh, la la? Also, ich würde ja auch gern einen treffen. Meine Waldhüter sind wie immer in Wolkenkuckucksheim... und so zerstreut... so...

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Pause, Alice und die Autorin sehen sie erstaunt an, Virginia bereitet sich in Ruhe auf dem Kocher einen Tee, ohne den anderen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ahhh... meine Wiener Wälder...! Kein Wald der Welt ist wie meine grandiosen, üppigwuchernden, nach Moos und Zedern duftenden Wälder von Wien! Sie singt den Donauwalzer und macht dazu ein paar Schritte. Alice tut es ihr nach und singt mit. Sie tanzen in großen Walzerschritten, die Autorin sieht ihnen eine Weile wohlwollend zu. Virginia unterbricht sie. VIRGINIA Möchten Sie einen Tee? Ich denke, man sollte die Gelegenheit nutzen. AUTORIN lacht laut Nein, danke. Mir reicht der Frühstückskaffee, ich kann sonst in der Nacht nicht schlafen. Alice und Marie Antoinette ziehen sich in eine Ecke zurück und plaudern leise. VIRGINIA Sie können nicht schlafen? Sie Arme! Ich mache auch oft ganze Nächte kein Auge zu. Nostalgisch und wie zu sich selbst Ich jage Gespenstern nach, die mir hinter den Vorhängen auflauern oder vom Balkon aus meinen Namen rufen, oder vom Fluß her. Es sind von Trauer erfüllte Stimmen. Sie tragen die Bürde der Verbannung. Sie sind wie ein durch Blitzschlag vom Baum abgerissener Ast. Ich höre sie immer und immer wieder... Pause Vorboten des Todes. Sie wendet sich der Autorin zu Haben Sie noch nie ein aufgewühltes Meer gesehen? AUTORIN mit etwas zitternder Stimme Nein, ich glaube nicht. VIRGINIA ES ist, als wollte es sich an der Erde rächen. AUTORIN Ist Ihnen nicht kalt? Lassen Sie uns lieber etwas essen. Die Mittagszeit ist wie im Fluge vergangen. Sie geht zum Zelt. VIRGINIA fährt in ihrem Monolog fort Wer einmal das aufgewühlte Meer gesehen hat, wird diesen heftigen Kampf nie wieder vergessen. Pause Und wer einmal die Brücken der Stille überquert und dabei die Stimmen der Überlebenden gehört hat und die Pfeile gesehen hat, die dem mitten ins Herz gehen, der Liebe sucht und Gewalt findet, kann sich nicht mehr von der dunklen, heimtückischen Erinnerung daran befreien. Aller Schutz ist dahin. Pause Die Männer wollen den Krieg, um ihre Machtfrustrationen zu kompensieren und ihre Männlichkeit zu bestätigen, und um ihre Träume vom Sieg zu verwirklichen... Für

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sie ist der Krieg seit jeher ein Beruf. Denn sie gebären nicht die Söhne, die dann in der Schlacht sterben. ALICE tritt zu Virginia Marie Antoinette möchte Sie etwas fragen, weil ich ihr erzählt habe, daß Sie Geschichten schreiben. VIRGINIA zu Marie Antoinette, die sie von weitem schüchtern beobachtet hat Und was? MARIE ANTOINETTE Ach... nun... nichts besonderes... Mir hat Alices Geschichte v o n der Herzkönigin, die jedem so mir nichts, dir nichts den Kopf abschlagen wollte, so gut gefallen.

ALICE macht eine Handbewegung, als würde sie den Kopf abschlagen Zack... Zack...

MARIE ANTOINETTE schaudert und fahrt sich mit der Hand über den Nacken. Brrr! Und das hat mich an gewisse Zeiten erinnert. VIRGINIA Das kann ich mir vorstellen... Das ist zu erwarten. MARIE ANTOINETTE Eigentlich war das alles die Schuld von Louis. Wenn er auf mich gehört hätte, und wenn wir uns mit denjenigen verbündet hätten, mit denen wir uns hätten verbünden sollen, und wenn er sich nicht auf so dumme Reformen gestürzt hätte, um die Hungernden zu speisen, bevor sie uns auffressen, wie er sagte; das sagte er... Ha!... Das sagte er! Da hat er sich aber geschnitten! Etwas mitleidig und leicht lächelnd Der Arme! Sie bringt die Perücke in Ordnung und streift die Röcke glatt; holt einen Handspiegel aus der Tasche, zieht ihre Augenbrauen mit Spucke nach und schminkt sich die Lippen Quel horreur! Ich sehe ja aus wie eine Vogelscheuche und habe es gar nicht gemerkt! Virginia und Alice betrachten sie wortlos. Armer Louis! So ahnungslos! So phantastisch naiv. Pause. Rückt ihre Perücke wieder zurecht Und dann tauchte da, Gott weiß woher, so jemand auf...! So ein Dahergelaufener! Ein gewisser Napoleon! Wenn der Pöbel vor Hunger den Verstand verliert, muß man schlau sein, auf der Hut. Kein Gedanke daran, daß diese Leute vor dem Aas zurückweichen. Dieses Lumpengesindel weicht niemals zurück. Niemals! Genauso habe ich es Louis gesagt, am Abend vor dem Sturm auf die Bastille. Pause Da haben wir nur noch Sterne gesehen! Die Ratsherren und Minister, Offiziere und Kommandanten, Kammerherren, Fürsten und Markgrafen haben sich vor Angst in die Hose geschissen. Sie sieht die Frauen herausfordernd an Ja! In die Hose ge-

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schissen! Psssssst! Die Menschenrechte! Hat man so etwas Lächerliches schon gehört!? VIRGINIA Ich könnte mir vorstellen, daß Sie überhaupt keine Ahnung hatten. MARIE ANTOINETTE Ich verstehe Sie nicht. Was heißt hier, ich hatte keine Ahnung? VIRGINIA Das heißt, daß Sie über die wirkliche Lage nicht Bescheid wußten. Über die Realität. MARIE ANTOINETTE mit entsetzter Miene Nicht? Wie sollte ich über die Realität nicht Bescheid wissen bei dem vielen Blut, das durch die Straßen floß... Sie bedeckt mit den Händen das Gesicht Mon Dieu... quel horreur! VIRGINIA Haben Sie niemals an die anderen Frauen gedacht? MARIE ANTOINETTE An die anderen Frauen? Meinen Sie die von früher? nachdenklich Also eigentlich habe ich sie nie kennengelernt. Ich meine, die berühmten. Die Pompadour! Pahhh! Sie war immer unmöglich angezogen, aufgetakelt wie ein Fronleichnamsaltar! Ich glaube, so schön war sie auch nicht. Phantasien der Geschichtsschreiber! VIRGINIA Ich spreche nicht von der Pompadour. Ich spreche von den Frauen, die das Lied der Revolution sangen. Diejenigen, die für ein Stück Brot starben oder um ihre Männer, ihre Kinder zu verteidigen... MARIE ANTOINETTE Ahhh.J Die! VIRGINIA Genau die! MARIE ANTOINETTE beschämt An diese nicht... An die habe ich nie gedacht. Pause Nein! Das stimmt nicht! Ich habe wohl an sie gedacht! Einmal sah ich sie unter dem Balkon meines Palastes vorbeiziehen mit ihren strahlenden, von Fackeln erleuchteten Gesichtern. Sie wußten, daß sie in den Tod gingen... Pause Woher nehmen sie diesen Mut, dachte ich und spähte hinter den Vorhängen. Woher? Später erfuhr ich, daß es Nonnen waren, Karmeliterinnen. Eine von ihnen brannte sich mir wie Feuer ein, hier ins Herz. Sie war von beeindruckender Schönheit. Mit ihrer weißen Tunika und dem kurzgeschnittenen Haar, dunkel blitzenden Tigeraugen... Es schien, als ginge sie zu einem lärmenden Kirmesvergnügen. Als wolle sie der ganzen Welt Kerzen anzünden, weil ihr Geliebter sie erwartete. Pause

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Der Anblick dieser Frau hat mich tief getroffen. Sie zeigt wieder auf sich. Hier, ins Herz... Die Autorin kommt mit dem Essen aus dem Zelt, alle setzen sich um den Kocher herum und beginnen still zu essen. Das Licht nimmt langsam ab, während die Frauen sich unterhalten. VIRGINIA Heute nacht wird es wohl regnen. MARIE ANTOINETTE Unmöglich. In Frankreich regnet es nie um diese Zeit im Mai. Außerdem ist Vollmond. Mit einem großen Seufzer Mon Dieu! Wenn doch wenigstens Jacqueline hier wäre, um mir mein Bett zu machen und mein Federkissen aufzuschütteln! AUTORIN Euer Majestät und Virginia können in meinem Zelt schlafen. Das ist kein Problem. MARIE ANTOINETTE Danke, liebe Freundin. Sie sind sehr großzügig. Ich hoffe, ich kann Sie für diesen außerordentlichen Gefallen eines Tages ausgiebig entschädigen. AUTORIN hat sich erhoben und beginnt, die Sachen aufzuräumen Keine Ursache. Machen Sie sich keine Gedanken. Ich tue es gern. Man hat in diesen Breitengraden nicht häufig Gäste Ihres Ranges. Macht eine kleine Verbeugung Euer Majestät! MARIE ANTOINETTE Nein, ich denke nicht! VIRGINIA Ich kann überall schlafen. Wenn man einmal erfahren hat, was Krieg ist, ist es nichts Außergewöhnliches, unter freiem Himmel zu schlafen. Sie schaut mit einem Seufzer der Erleichterung zum Himmel Wenigstens hört man hier nur die Geräusche des Waldes. AUTORIN Alice und ich werden wie die Vögel schlafen, dort unter den Bäumen. Nicht wahr, Alice? ALICE Nun, nach all diesem Wirrwarr mit dem Kleiner- und Größerwerden, und nachdem ich das Geheule der Schildkröte über mich ergehen lassen mußte und ihren Tanz mit dem Greif, die Herzogin und eine weiße Königin, die einfach irgendwelche Befehle gibt, und eine sogenannte Herzkönigin... bemerkt den Gesichtsausdruck von Marie Antoinette und macht eine Verbeugung 'schuldigung, Majestät, das sind Königinnen aus einer anderen Geschichte. Hören Sie gar nicht auf mich. Sie dreht sich zum Publikum und lacht laut. AUTORIN war ins Zelt gegangen und kommt mit einer Decke und einem Schlafsack, den sie in einer Ecke ausrollt, wieder heraus. Sie bietet Alice die

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Decke und ein Kopfkissen an Ich glaube, ich lege mich jetzt schlafen, meine lieben Freundinnen. VIRGINIA und MARIE ANTOINETTE zusammen Ich auch. Sie gehen ins Zelt. ALICE Tja nun, was soll man da machen? Pause. Sie stößt einen langen Seufzer aus und macht es sich unter der Decke bequem Ich wüßte nur zu gern, was, zum Teufel, Dina jetzt gerade macht! AUTORIN macht es sich in ihrem Schlafsack bequem Wer ist Dina? ALICE wieder ein langer Seufzer Meine Katze. Es wird fast ganz dunkel, einige Augenblicke tiefer Stille, dann hört man die Musik von „Gaspard de la Nuit" von Ravel. Die Szene scheint zu Ende zu sein, dann hört man plötzlich im Hintergrund die Stimme von Jeanne. JEANNE Stimme He! Fast gleichzeitig wird ein Scheinwerfer auf Jeanne gerichte. Die Musik hört auf Ritterrüstung, silbernes Kettenhemd und Hose, Schwert am Gürtel, bronzener Brustharnisch, in der Hand hält sie die kleine Standarte mit der bourbonischen Wappenlilie. Ihre kleine Gestalt erstrahlt im Licht, und man könnte sie für eine Erscheinung halten. He...! Bitte...! Pause, in der sie auf Antwort zu warten scheint Haben Sie vielleicht zufällig ein weißes Pferd hier vorbeikommen sehen? Marie Antoinette und Virginia sind beim ersten „Bitte!" aus dem Zelt herausgekommen, Alice und die Autorin sind hochgefahren und sitzen nun da und sehen die kleine strahlende Gestalt sprachlos an. Jeanne bleibt unter dem Scheinwerfer, in erwartungsvoller Haltung, mit ängstlichem Gesicht, mindestens eine halbe Minute. Dann geht auf einen Schlag das ganze Licht aus. 2. Szene Alice schläft an Jeannes Knie gelehnt unter ihrer Decke. Jeanne sitzt mit dem Rücken am Baumstumpf und schläft ebenfalls tief. Die Autorin schlummert eingerollt in ihrem Schlafsack. Der Fuchs geht vorsichtig über die Bühne. Mit verschlagenem Grinsen betrachtet er die Frauen eine nach der anderen. Er schleicht zum Zelt und öffnet es vorsichtig einen Spalt breit. Lacht kurz auf. Dreht sich ein paar Mal im Tanz mitten auf der Bühne. Er ist weiß gekleidet, barfuß, mit karierter Weste, weißem Hut, durch den die zwei großen Ohren herausragen. Er hat einen gewaltigen, glänzend roten Schwanz, eine Nelke im Knopfloch. FUCHS zum Publikum Soso...! Das sind also die jungen Damen... Er dreht sich wieder mit verschlagenem Grinsen. Nach hinten ab. Alice streckt sich langsam über Jeannes Knien, die ihr zärtlich über das Haar streicht.

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JEANNE flüstert Es ist noch sehr früh. Schlaf weiter. Die Vögel sind noch nicht einmal erwacht. ALICE Ich wache gern noch vor den Vögeln auf. JEANNE Ich auch. Beide lachen Schsch... Wecken wir die anderen nicht auf. Die Armen...! ALICE Also, dein weißes Pferd ist einfach weggelaufen und hat dich allein gelassen...? JEANNE Nein. Nie im Leben hätte es das getan. Englische Soldaten haben es gestohlen; zwei Soldaten meiner Kompanie haben sie ertappt, aber sie konnten sie nicht mehr einholen. Ich bin sicher, daß es bei der ersten Gelegenheit fliehen und mich suchen wird. Pause. Alice sieht sie an und streicht ihr schüchtern über das Haar, als wollte sie sie über den Verlust trösten. Tiefer Seufzer. Es ist ein wunderschönes Pferd... Das schönste, das ich je gesehen habe...! ALICE Mach dir keine Sorgen, es wird dich bestimmt finden. Da bin ich ganz sicher. Mir macht zum Beispiel das weiße Kaninchen nicht die geringsten Sorgen. Es ist ein zerstreutes Kaninchen. Es rennt hin und her, wie ein Blödmann, angeblich weil es zum Tee erwartet wird. Imitiert das dünne Stimmchen Herrjemineh, herrjemineh, ich komme zu spät!... Die Herzogin! Streicht sich über den Bart Oh... meine schönen Ohren! Meine Schnurrbart..., es wird furchtbar spät... sie wird mich köpfen lassen...! Jeanne versucht ihr Lachen über Alices Clownereien zu unterdrücken. Und dann redet es die ganze Zeit davon, daß es die Handschuhe verloren hat, und ich fürchte, wenn die Königin noch wütender wird, als sie schon ist, und die Gärtner es nicht schaffen, den ganzen Rosengarten rot anzumalen, wird kein Haar von meinem Freund dem Kaninchen übrig bleiben... Jeanne läßt sich nicht die kleinste Kleinigkeit der Geschichte entgehen. Alice lacht wieder verschmitzt und spielt einen Moment mit Jeannes Feldwimpel. Weißt du was...? Als ginge es um ein großes Geheimnis Das Kaninchen trägt eine karierte Weste...! Sie krümmt sich vor Lachen, das sie so gut sie kann zu unterdrücken versucht, aber doch die Autorin weckt. AUTORIN streckt sich im Schlafsack, kriecht langsam heraus H m m m . J Hier riecht es so gut...! Zu Jeanne und Alice Habt ihr gar nicht geschlafen... ALICE scherzhaft Doch...! Hervorragend...! Diese nette Rüstung eignet sich prima zum Schlafen, wie ein kuscheliges Federkissen. Sie schlägt

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leicht auf die Rüstung Ting, ting... Wer ist da...? Sie lacht zärtlich und gibt Jeanne einen geräuschvollen Kuß auf die Wange, dann hüpfend ab. JEANNE Sie ist köstlich, diese Alice...! Ein verrücktes Mädchen! AUTORIN Ja. Das ist sie! Machen wir uns einen kleinen Kaffee...? JEANNE erstaunt Einen kleinen Kaffee...? AUTORIN Ach, Verzeihung... Du magst vielleicht lieber Tee? JEANNE Hättest du ein Glas Milch...? Ziegenmilch ... vielleicht...? AUTORIN Ich fürchte nein. Keine Ziegenmilch. Aber Kuhmilch kann ich dir besorgen, warte! Sie geht auf Zehenspitzen zum Zelt und kriecht auf allen Vieren hinein. JEANNE mit gefalteten Händen betend Lieber Gott... laß mich mein schönes Pferd wiederfinden! Ich weiß nicht, was ich ohne Pferd im nächsten Kampf tun soll... kniet nieder Herr, ich danke Dir, daß ich durch dich diese wunderbaren Menschen getroffen habe...! Die Autorin kommt mit der Milch aus dem Zelt und gibt Jeanne ein Glas. ]eanne steht auf und trinkt hastig.Virginia kommt aus dem Zelt und richtet ihre Frisur. VIRGINIA Haben Sie gut geschlafen...? Zu Jeanne besonders teilnahmsvoll Sind Sie nicht vor Kälte aufgewacht...? JEANNE Nein. Ach was...! Die Kälte hat mich noch nie vom Schlafen abgehalten... Da gibt es andere Dinge... VIRGINIA geht aufmerksam zu Jeanne und setzt sich dann auf einen Campingstuhl Ich habe Sie immer tief bewundert, Jeanne. JEANNE setzt sich sehr verlegen auf den Baumstumpf Sagen Sie bitte nicht so etwas...! Da gibt es nichts zu bewundern. Ich habe einfach nur für die gerechte Sache gekämpft, um mein Land von den Engländern zu befreien. Ich habe nur dem Befehl meines Herrn gehorcht. Das ist alles... verlegene Pause Das ist alles... VIRGINIA Ich weiß, ich weiß... Aber man muß schon besonders mutig sein, Jeanne. Vor allem eines habe ich immer sehr bewundert, diesen Glauben. Diesen Glauben, rein wie ein Diamant... Er hat Berge versetzt und Ihnen erlaubt, Dinge zu tun, die im Verlauf der Geschichte noch keine Frau getan hat. Zärtlich Sie waren nicht nur die Paladinin, die ihr Volk zum Sieg führte, Sie waren auch der glaubwürdige Beweis dessen, was die abergläubischen und primitiven Männer, die den Klerus beherrschen, bis dahin für ein Wunder hielten. Pause Für die armen, in ihren eigenen Gesetzen der Macht verstrickten Männer

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waren Sie ein Wunder, Jeanne, oder eine Gotteslästerung. Für uns Frauen sind Sie einfach ein Wesen mit dem Mut einer Löwin, die ihre Jungen beschützt, eine Frau, die ihr Schicksal erfüllt, erleuchtet und kristallklar. Sie haben für die Geschichte der Frau den Wert und die wahre Bedeutung zurückerobert, die ihr zusteht. JEANNE Wissen Sie, daß ich sehr oft Angst hatte? Wissen Sie, daß ich in panischer Angst zitterte, als sie mich einsperrten und mir damit drohten, mich zu verbrennen... Ich hatte immer schon schreckliche Angst vor dem Feuer...! VIRGINIA Good heavens! Das ist doch kein Verbrechen, Jeanne. Die Angst vor dem Tod in den Flammen und die Angst vor der Folter sind kein Verbrechen. JEANNE leidenschaftlich Was vor Gott wirklich zählt, ist die Seele! Nicht, wie jemand gekleidet ist! Sie springt auf und macht ein paar Schritte zum Ausgang, dann kommt sie zurück und stellt sich vor Virginia auf. Sie schaut sie an, wie jemand, der auf eine Herausforderung eingeht. Die Kleidung ist das Wenigste... ist das Geringste... das Allergeringste...! Und sie wollten mich zu einer Lüge zwingen. Ich sollte sagen, die Stimmen meiner geliebten Heiligen Margarethe, der Heiligen Katharina und des Erzengels Michael hätten mir nicht gesagt, daß ich mich als Soldat kleiden und die Waffen ergreifen soll, um dem Dauphin die Krone zurückzugeben. Noch einmal heftig Meine Männerkleider sind nicht... VIRGINIA unterbricht sie mit einer sanften Geste Die hat uns viel gelehrt, Jeanne. Viel... Ihre Männerkleidung. JEANNE setzt sich wieder auf den Baumstumpf Armer Dauphin ...! Eine arme Marionette! VIRGINIA Ein kraftloser und furchtsamer Mann. Wie wohl die meisten Regierenden. Oder das andere klassische Beispiel. Im Hintergrund der Bühne wird jetzt eine kleine Leinwand herabgelassen, es werden Fotos projiziert, während Virginia weiterspricht. Beim ersten Foto dreht Jeanne sich leicht um, nur so weit, daß sie die Fotos betrachten und weiterhin Virginia aufmerksam zuhören kann. Es werden Fotos gezeigt von Franco, Hitler, Mussolini, Somoza, Pérez Jiménez, Strössner, Batista, Videla, Pinochet, usw. Es endet mit einem Kriegsfoto, evtl. Hiroshima. „Die Gestalt des Mannes, des Mannes par excellence, wie man ihn sehen mag oder auch nicht... Die Quintessenz der Männlichkeit, das perfekte Urbild, von dem alle anderen nur unvollkommene Kopien

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sind. Er ist ohne jeden Zweifel der wahre Mann. Seine Augen sind starr. Sein Blick glänzt vor wilder Entschlossenheit. Sein Körper zeigt eine unnatürliche Haltung, er steckt in einer Uniform. An der Brust dieser Uniform prangen verschiedene Orden und andere geheimnisvolle Symbole. Seine Hand ruht auf einem Schwert. Im Deutschen nennt man ihn Führer, im Italienischen Duce, im Spanischen tirano oder dictador. Und er hinterläßt Ruinen und die toten Leiber von Männern, Frauen und Kindern..." Lange Pause, dann fährt sie in kriegerischem Ton fort. „Uns Frauen gab man in England das Wahlrecht, damit die Männer es auf ihre Weise, nämlich für ihre Kriege nutzen konnten. Damals bereitete man den Krieg von 1914 vor." Pause. Sie steht auf und nimmt sich noch eine Tasse Tee, während Jeanne und die Autorin sie respektvoll beobachten. Sie kehrt auf ihren Platz zurück und setzt sich wieder auf den Stuhl. Im Krieg von 1940 wußte die Frau schon, was sie zu tun hatte. Helena Dormaton erklärte im DAILY TELEGRAPH: Das einzige, was die Frauen aller Länder tun können, um den Krieg zu verhindern, ist, die Versorgung mit Kanonenfutter zu unterbinden. Pause. Sie sieht ihre Partnerinnen eine nach der anderen an; mit gemessener Stimme weiter Genau dieser Rat wurde den Frauen schon vor 2000 Jahren gegeben. Pause Von Lysistrata. JEANNE Am Tag der Krönung in Reims sah ich alles ganz deutlich. Wie wenn man ein Buch öffnet und alle Buchstaben und Abbildungen erkennt. So war alles: kristallklar, wie Sie es sagten. VIRGINIA Was war kristallklar, Jeanne?

JEANNE Was der Herr gewollt hat. Er setzte mich in einen Frauenkörper, damit ich männliche Heldentaten vollbringe... VIRGINIA Nein, Jeanne. Das sagen die Chroniken. Aber diese Version ist veraltet. Von nun an ist es etwas ganz anderes... Die Autorin hat sich die ganze Zeit nicht von ihrem Platz gerührt und den Dialog mit ergebener Aufmerksamkeit verfolgt, nun macht sie eine leichte Bewegung, um sich bemerkbar zu machen und wendet sich an Jeanne. AUTORIN Was Virginia sagt, ist richtig, Jeanne. Deine Taten stehen in allen Chroniken, aber die Geschichte hinkt... Wir haben sie wieder ans Licht geholt, mit der Bedeutung, die sie tatsächlich hat.. JEANNE verblüfft Bedeutung...? AUTORIN Ja. Wie damals, als sie dich verbrannten und das Feuer dein Herz schonte. Erinnerst du dich? Dein Herz blieb im Fluß...

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JEANNE wie im Traum Mein Herz blieb im FlußMarie Antoinette kommt ohne Perücke, ohne Reifrock und ungeschminkt, mit den Schuhen in der Hand aus dem Zelt. Sie strahlt und will gerade etwas sagen, aber das Wort bleibt ihr beim Anblick der drei Frauen im Mund stecken. Jeanne ist noch wie geistesabwesend bei dem Gedanken, daß ihr Herz im Fluß geblieben ist. Virginia betrachtet sie liebevoll, die Autorin mit wahrer Verehrung. Virginia und die Autorin sehen sich an und lächeln. Marie Antoinette bleibt reglos stehen, bis Virginia sich ihr schließlich zuwendet. VIRGINIA Haben wir Sie mit unserem Geplauder geweckt...? MARIE ANTOINETTE Nein, nein... überhaupt nicht...! Die Vögel des Waldes hatten mich bereits geweckt... Ich habe wie ein kleines Mädchen geschlafen und wonnige Träume gehabt. Sie lächelt sie an Das liegt sicher an Ihrer Gesellschaft. Sie haben mich alle Probleme vergessen lassen. Sie berührt wieder schaudernd ihren Nacken Brrr.J Sogar die Guillotine! VIRGINIA Das freut mich! Denken Sie nicht mehr an diese Dinge! Jetzt sind sie keinen Pfifferling mehr wert. MARIE ANTOINETTE Nein, ich denke nicht... Jetzt... AUTORIN Einen kleinen Kaffee? Oder lieber eine kleine Tasse Tee...? MARIE ANTOINETTE tritt zur Gruppe Ich möchte lieber Tee. Danke.

Die Autorin geht, um Wasser zu kochen, Marie Antoinette setzt sich auf den Boden Ich glaube, ich habe die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht! AUTORIN Ach, ja...? Welche denn...?

MARIE ANTOINETTE Man kann ohne Perücke leben...! Jubelschrei Juchuuu.J Alle lachen, einschließlich Jeanne, die sich vielleicht sogar am meisten über den Kommentar amüsiert. Zu Jeanne gewandt. Wissen Sie, daß ich für Sie schon immer blinde Bewunderung gehegt habe, mein Kind? Mein ganzes Leben lang. Sie und Judith waren meine Heldinnen. Mon Dieu.J Ich kann mir vorstellen, was diese Frau fühlte, als sie Holofernes den Kopf abschlug... Es muß erhebend gewesen sein...! Virginia lächelt in sich hinein, Jeanne bleibt ernst. JEANNE freundlich, leise Judith war auch eine Gesandte des Herrn... MARIE ANTOINETTE Nun, ich weiß nicht, wessen Gesandte sie war, aber Tatsache ist, daß es einfach erhebend gewesen sein muß... Lachen.

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Bemerkt ihre Kleidung Mon D i e u . J Mein Kleid ist ja völlig hinüber... Wenn doch Jacqueline hier wäre, um mir ein Bad zu bereiten mit Badesalz und... Der tadelnde Blick der anderen Frauen läßt sie sofort verstummen. Sie lächelt leicht und will sich die Schuhe anziehen, ändert ihre Meinung, zieht sie wieder aus und wirft sie weit weg. Wissen Sie noch etwas...? Ich habe entdeckt, daß man auch ohne Schuhe leben kann... allgemeines Gelächter. Ich erinnere mich, als ich noch klein war, in Österreich, beobachtete ich die Töchter der Freundinnen meiner Mutter, wenn sie im Garten spielten. Sie kamen mir vor wie lächerliche Puppen, kokett und eitel. Sprunghaft. Pause Sie waren wie ein Haufen mechanischen Spielzeugs, von dem man wußte, wozu es später dienen würde. Mon D i e u . J Niemals kam mir der Gedanke, daß ich genauso war... Mon D i e u . J Und jetzt wird es mir endlich klar...! Wahre Lachsalven aller, in die Marie Antoinette einfällt und sich halbtot lacht, während das Licht langsam erlischt.

Zweiter Akt 1. Szene Auf der Bühne erscheint für einige Augenblicke ganz allein George Sand. Sie trägt ihre typische Kleidung: Graue Flanellhose, bunte Weste, gleichfarbige weite Jacke, weißes Hemd mit Manschettenknöpfen, weinrote, breite Seidenkrawatte, schwarze Lackschuhe, wie man sie auf den Bildern ihrer Zeit sieht. Sie kommt mit festem Schritt herein, die Hände in den Hosentaschen wie jemand, der sich am Ort auskennt. Überrascht bleibt sie einen Moment stehen, als sie das Campingzelt sieht. GEORGE SAND Na, so was...! Ich hätte geschworen, daß das gestern noch nicht da war...! Aber ohne sich allzu lange damit aufzuhalten, holt sie ein Notizbuch aus der Tasche, Feder und Tintenfaß, und läßt sich auf einem Campinghocker nieder, überlegt einen Augenblick äußerst konzentriert und beginnt zu schreiben. Wenig später hört sie damit auf und lacht laut. Armer Alfred...! Wenn er wüßte, was ich auf seine Kosten schreibe... lacht wieder. Alice erscheint auf der Bühne und schaut in die Baumwipfel, mal hier, mal dort stehenbleibend.

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ALICE widerwillig Katzen ohne Grinsen habe ich oft gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist das absolut Unglaublichste und Verschrobenste, das sich jemals jemand vorstellen kann... Sie schaut dabei in die Bäume. Pause Das absolut Allerseltsamste und Verdrehteste und Schrulligste und Lachhafteste und... und... GEORGE SAND hat sie amüsiert beobachtet Affektierteste... ALICE nicht überrascht, ärgerlich Affektierteste...? Absolut nicht. Außerdem paßt es nicht... GEORGE SAND Nun, es unterstreicht... die Dissonanz. Und es hört sich hübsch an, so rhythmisch, nicht wahr...? ALICE noch ärgerlicher Eben nicht. Außerdem ist diese Katze alles andere als affektiert. Mehr noch, ich habe noch nie eine Katze gesehen, die weniger affektiert ist... Außerdem bedeuten die Worte hier, was sie sind und sind nicht, was man sagen will! Sie wirft ihr einen triumphierenden Blick zu. GEORGE SAND Nun gut. Wie du willst. Aber ich finde das, was du sagst, etwas kompliziert. ALICE Ja. Es ist äußerst kompliziert. Hier ist alles so... Und am besten sucht man nicht auch noch ein fünftes Bein an dieser lächerlichen Katze... Sie tritt zu George Sand und betrachtet sie Sind Sie Schriftstellerin? GEORGE SAND mit Nachdruck Ja. Ich bin Schriftstellerin. ALICE Aha...! Und was schreiben Sie...? Wenn man fragen darf...? GEORGE SAND Briefe... und Romane... lächelt in sich hinein „Menschliche Epopöen", wie mir einmal mein Freund Balzac sagte... Sie lacht. Pause. Aber was ich wirklich gern schreiben würde, ist das menschliche Gedicht, die menschliche Ekloge, den menschlichen Roman, siehst du...? vertraulich Ich fühle mich berufen, das Wesen des Menschen darzustellen, wie ich es mir wünsche... leidenschaftlich Wie ich glaube, daß es sein sollte...! ALICE Das finde ich richtig. Ich bin auch eine leidenschaftliche Romantikerin... GEORGE SAND Du bist romantisch, unsteter Schmetterling...? Du siehst aus wie ein umhertaumelnder Falter. Ist es nicht so...? ALICE Ja, das gefällt mir. Sie sieht neugierig über George Sands Schulter auf die Notizen Und worum geht es in Ihren Romanen...?

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GEORGE SAND A h h h . J Sie tut geheimnisvoll U m das Menschliche u n d Mystische. U m die Leidenschaft... diese heilige Kraft! In m e i n e n Romanen will ich die Liebe, die überall in der Welt verlorenging und e n t w ü r d i g t w i r d , enthüllen und heilig sprechen. Die Frau hat ein Recht auf Liebe... LÉLIA.J CONSUELO...! VALENTINA! Das sind meine Heldinnen. Die die Liebe u n d die Freiheit suchen und sich v o n niem a n d e m ein Leben a u f z w i n g e n lassen. Sie sind g a n z sie selbst! Voilà...! Leidenschaftlich und lauter werdend Ich m a g die Literatur der V e r z w e i f l u n g nicht, die Verbitterung..., die nur das Elend der A r m e n zeigen will... ALICE sehr interessiert, aber sie unterbricht Und w i e heißt du? GEORGE SAND Ich heiße George Sand. ALICE Das ist ein sehr schöner Name. Ich heiße Alice... zweifelnd A b e r ist George nicht ein Männername...? GEORGE SAND Sicher. Früher hieß ich Aurore. ALICE Wann früher...? GEORGE SAND Bevor ich Schriftstellerin w u r d e . Die Männer hat es immer sehr w e n i g oder gar nicht interessiert, w a s eine schreibende Frau z u sagen hat. A l s o beschloß ich, sie an der Nase herumzuführen... und... Ziip... beide lachen. ALICE D u trägst einen sehr schönen A n z u g . Die Krawatte finde ich toll. GEORGE SAND lacht, steht auf und geht auf der Bühne auf und ab N u n , nicht jeder findet sie toll. A u f Mallorca haben sie Steine nach mir g e w o r fen, bis sie es m ü d e waren. W e n n C h o p i n und ich einen Spaziergang über die Insel machen wollten, mußten w i r die Zeit, w e n n die Leute des D o r f e s auf der Straße waren, meiden, lacht m a n hat mir alles Mögliche nachgerufen: „verkommene Hure", „ M a n n w e i b ! " Sie lacht laut N u r w e i l ich so gekleidet w a r wie sie... Pause Die Reaktionen der Männer sind unvorhersehbar u n d seltsam, w e n n sie einer Frau begegnen, die nur sie selbst sein will. Seltsam... In Paris fanden meine Freunde es amüsant. Die K l e i d u n g hat sie nicht gestört - w e n n es an subtilem Spott auch nicht gefehlt hat -, aber es störte sie, d a ß ich schrieb, daß ich ihnen Konkurrenz machte. Sie lacht. Mehr noch: d a ß ich besser schrieb, als sie... Wie berauscht von ihrem eigenen Lachen setzt sie sich Ich erinnere mich noch, als ich A l f r e d z u m ersten M a l begegnet bin... Er ist ein großer Schriftsteller, verstehst du...? A l f r e d d e Musset. Später w u r d e er einer meiner Liebhaber. Der A r m e w u ß t e

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nicht, wohin mit sich, als wir anfingen über Literatur zu sprechen. CONSUELO sei ein Akt der Anklage gegen die Gesellschaft, sagte ich angriffslustig... Die Liebe ist souverän...! Man muß die Frau dazu erziehen, sich selbst aus dem Labyrinth zu befreien, das der Mann um ihre Moral, ihre Gefühle, ihr Geschlecht gewoben hat...! Pause. Sie sieht Alice an, die wie verzaubert vor ihr steht. Sie legt ihr beide Hände auf die Schultern und schüttelt sie sanft Scheint dir das nicht gerecht... dir...? Alice nickt zustimmend. Also, ich meine, daß keine Gesellschaft ohne diese Voraussetzungen funktionieren kann. Genauso habe ich es dem armen Alfred gesagt. Und er starrte mich nur erschrocken an, wie verhext, gebannt... lacht wie ein hoffnungslos verliebter Gockel...! Die Autorin kommt mit Paketen beladen, grüßt überaus freudig überrascht. AUTORIN George Sand...! Die Schriftstellerin George Sand...! GEORGE SAND Bonjour.J Sie reicht ihr herzlich die Hand und steht auf. AUTORIN sieht zu, daß sie die Pakete los wird Verzeihung...! Das hier ist Proviant, denn in letzter Zeit wird das Zeltlager immer größer... Etwas verwirrt Aber bitte, machen Sie es sich bequem..! Sie geht zum Zelt, um etwas zu holen. In diesem Moment kommt Marie Antoinette, ohne Schuhe, ohne Perücke und ohne Reifrock, mit einem großen Strauß wilder Blumen, sie trällert einen Schlager vor sich hin. GEORGE SAND Merde.J Das darf doch nicht wahr sein! Das ist doch das Letzte, was mir passieren konnte! Ohhh, nein! Das Letzte! Sie versucht, von der Bühne zu verschwinden. AUTORIN dreht sich blitzschnell um und läuft George Sand hinterher, hält sie leicht am Arm fest Bitte... gehen Sie nicht...! Ich werde es Ihnen erklären. Mit einer Geste in Richtung Marie Antoinette Sie ist jetzt vollkommen harmlos... GEORGE SAND Ach ja...? Ein unschuldiges Täubchen...! Seit wann ist Marie Antoinette harmlos? Nicht einmal, wenn sie schläft...! Diese Frau ist gefährlicher, intriganter, machiavellistischer und antidemokratischer als der Teufel in Unterhosen! Marie Antoinette kommt vorsichtig näher, schaut George ostentativ von oben bis unten an, George ignoriert sie ebenso ostentativ und wendet sich an die Autorin. Haben Sie ein Glas Wein...? Ich sterbe vor Durst...! AUTORIN Wein...? Oh, nein...! Das tut mir aber leid! Ich habe Coca-Co... nein... ich habe... Bier! Möchten Sie ein Bier...?

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GEORGE SAND Na gut, danke. Besser als gar nichts... Sie setzt sich wieder. MARIE ANTOINETTE folgt der Autorin zum Zelt Und wer ist die da...? AUTORIN flüsternd Eine Schriftstellerin. Sie ist Französin, wie Sie... MARIE ANTOINETTE Ach, ja...? Französin? Pause Nun ja, ich bin eigentlich Österreicherin... Dabei geht sie mit der Autorin ins Zelt. Nach kurzer Zeit kommen beide wieder heraus ...und deshalb muß sie sich wie ein Mannweib anziehen...? GEORGE SAND hat den letzten Satz noch mitbekommen, springt auf und geht angriffslustig auf Marie Antoinette zu, aber schließlich lächelt sie nur ironisch Wenn solche Dinosaurier häufiger frei herumlaufen würden, wüßte ich nicht, was aus der armen, gebeutelten u n d leidenden Menschheit werden sollte! Gott sei uns gnädig! Wie meine Großmutter sagen würde... Sie setzt sich wieder, nimmt ihre Zigarettendose heraus und zündet sich eine Zigarette an. MARIE ANTOINETTE sieht sie an, als wollte sie ihren Augen Mon Dieu...! Quel horreur...!

nicht trauen

GEORGE SAND ironisch, bietet ihr von weitem eine Zigarette an Euer Majestät rauchen? MARIE ANTOINETTE Nein, merci...! Ich rauche nicht...! GEORGE SAND Fein...! Aber vielleicht ein kleines Bier...? MARIE ANTOINETTE mit einer verstohlenen Geste von Übelkeit Bier...? Um diese Zeit...? GEORGE SAND kann das Lachen nicht zurückhalten Euer Majestät, sagen Sie mir eins, da wir ja nun alle hier sind. Sie deutet mit einer weiten Geste auf die anderen Frauen, die das Publikum einschließt Warum, zum Teufel, haben Sie nicht auf den Rat von Mirabeau gehört, als er Sie d a r u m bat, die Idee einer kostitutionellen M o n a r c h i e zu unterstützen? Marie Antoinette will unterbrechen, aber George gestattet es nicht und fährt entschieden fort Sie haben sich mit Ihren brillanten und schwachsinnigen, anachronistischen und egoistischen Vorstellungen nicht nur gegen die Freiheit der Nation verschworen u n d die allgemeine Sicherheit gefährdet, mit Ihrem „hier überlebe nur ich, und zum Teufel mit allen anderen". Sie wollten auch noch das Vaterland ans Ausland verkaufen! Sie wollten es unter ein paar blutrünstigen, machthungrigen armen Teufeln verteilen! Voilà...! MARIE ANTOINETTE Mirabeau war verrückt...! Seine Reformvorstellungen waren der schlimmste Irrtum aller Zeiten...! Der Schlimm-

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ste...! Er wollte, daß Louis der Abschaffung der Privilegien zustimmt... GEORGE SAND äußerst interessiert Und...! M A R I E A N T O I N E T T E erschrocken stotternd Bürgerliche Rechte und Freiheit... Das stand auf der Fahne... verächtliche Geste Pahhh...! GEORGE S A N D Die Grundpfeiler der Menschenrechte, meine liebe Marie Antoinette... MARIE ANTOINETTE unsicher Louis Auguste wollte ihnen zu gegebenem Zeitpunkt seine Unterstützung gewähren. Er wollte... aber andere Interessen standen auf dem Spiel. Das verstehen Sie nicht, wie sollten Sie auch. Die Führung eines Staates ist viel zu komplex. Kommen Sie mir nicht damit, Sie wüßten, wie man einen Staat wie den unsrigen regiert... GEORGE SAND Ich weiß es nur zu gut, meine liebe Dame. Nur zu gut... Mich überrascht allerdings, daß Sie vorgeben, es zu wissen... Voltaire, Ihr immer treffsicherer Voltaire, hatte Recht, als er sagte, die Eitelkeit sei eine der großen Gefahren der Metaphysik. M A R I E A N T O I N E T T E Voltaire...? Ein altes Schlitzohr. Sehr verdächtig. Er und Rousseau versuchten, die Macht ins Wanken zu bringen, indem sie Meinungen ohne Hand und Fuß von sich gaben. Voltaire als Altruist verkleidet, und Rousseau verdrehte die religiösen Vorstellungen zu lauter Grillen. Pause, als wollte sie das Gesagte überdenken Das einzig, was ich an Rousseau lesenswert fand, waren seine Schriften über die Liebe zum Landleben... G E O R G E S A N D Religiöse Schwärmerei für die Natur... MARIE ANTOINETTE überrascht und ärgerlich über die Unterbrechung Jawohl... genau das! GEORGE SAND mit Nachdruck Und was sagen Majestät zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und moralischen Verfall, mit dem sich unser armes Vaterland herumschlug, weil Ihre Klasse, die führende Klasse, nur an Müßiggang dachte und daran, sich bei Kaviar und Champagner mit ihren Geliebten zu ergötzen. Tut so, als zöge sie erst durch das eine, dann das andere Nasenloch Schnupftabak ein Der Verfall, meine Dame! Das Elend kroch wie eine hungrige Hyäne durch die Straßen und über die Felder, und Sie badeten sich im Gold, und glaubten, das Volk würde weiter den mit Exkrementen, mit Ihnen, den elenden Henkern, beladenen Karren ziehen...!

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MARIE ANTOINETTE sprachlos, entsetzt Louis wollte... GEORGE SAND Ja ... Louis wollte...! Mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert, meine liebe Dame. Louis Capet war ein Schlappschwanz! Pause In Wahrheit war er ein armseliges Spielzeug der Geschichte... MARIE ANTOINETTE Er war schwach... ja. Widersprüchlich. Ängstlich... GEORGE SAND von oben herab Nun gut... eins muß man Ihnen lassen: Sie sind mit Würde gestorben...! Ihre Tage im Kerker und vor allem Ihr Gang aufs Schafott... zieht einen imaginären Hut Chapeau... Madame...! MARIE ANTOINETTE selbstgeßllig Oh, lä lä... Nun... das habe ich auch immer gedacht...Sie tauschen ein herzliches Lächeln aus. George Sand hebt ihr Bierglas zum Toast. Alice hat die ganze Zeit in ihrer Lieblingshaltung: im Schneidersitz, das Kinn in ihre Hände gestützt, zwischen ihnen gesessen. Sie schaut sie aufmerksam an. Erst Marie Antoinette, wie ein seltsames Geschöpf, dann George Sand in abgöttischer Verehrung. ALICE zu George Sand Kann man Ihre Bücher lesen...? MARIE ANTOINETTE da niemand ihr mehr besondere Aufmerksamkeit schenkt Also, ich werde mal sehen, ob ich ein paar Kräuter zum Würzen finde... geht ab. GEORGE SAND Meine Bücher...? lacht Ich glaube schon. Das eine oder andere wird es geben... ALICE Welches ist Ihr Lieblingsbuch...? GEORGE SAND nachdenklich Mein Lieblingsbuch... Ich glaube LELIA Pause und DIE GESCHICHTE MEINES LEBENS... ALICE träumerisch A h h h . J Ich wäre auch gern Schriftstellerin... GEORGE SAND lacht wieder Und auf wen wartest du...? Auf die Muse...? Greif dir Papier und Bleistift und an die Arbeit, unsteter Schmetterling...! A n die Arbeit...! Schriftstellerin wird man nicht so mir nichts, dir nichts. Das ist kein Kinderspiel... ALICE Ich weiß. Es ist eine Hundsarbeit... GEORGE SAND Sehr richtig...! Die Autorin hatte ebenfalls mehr oder weniger reglos den Dialog zwischen George Sand und Marie Antoinette verfolgt. Sie sitzt auch auf dem Boden, die Knie umschlungen, nicht weit von der Gruppe entfernt. AUTORIN zu George Sand, bescheiden George... was ist der wichtigste Rat, den Sie einer Schriftstellerin geben würden...?

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GEORGE SAND steht auf und geht rund um die Bühne Ich verabscheue Ratschläge...! Aber wenn ich denn einer jungen Schriftstellerin einen Rat geben sollte, dann den, von Anfang an fest aufzutreten. Verwirrung im Gesicht der Autorin Ich meine, sich nicht von Lehrmeinungen und Spitzfindigkeiten und Wortspielereien einwickeln z u lassen, mit denen die Göttlichen versuchen, Zeit und Raum zu schinden... macht eine Verbeugung Seine Majestät, der Mann...! Sie bleibt abrupt stehen Nicht verzagen...! Immer drauflosschreiben...! Es steht nirgendwo geschrieben. Ich wiederhole: nirgendwo steht geschrieben, daß wir Frauen weniger Talent haben als die Männer, noch daß diese, trotz nicht weniger, vergeblicher Bemühungen, hätten beweisen können, oder jemals werden beweisen können, daß das Ei eher da war als die Henne...! Voilà...! VIRGINIA kommt, hört noch Georges letzten Satz Good heavens...! Wie gern hätte ich das so deutlich gesagt... ALICE Was ist das für ein Ei? Die Henne legt es, gebraten ißt man es...! Allgemeines Gelächter. VIRGINIA geht auf George Sand zu und streckt ihr freundlich die Hand entgegen, sie spricht den französischen Namen englisch aus Sehr erfreut, Sie zu sehen, George Sand! Sehr erfreut...! lacht Good heavens...! GEORGE SAND Mit w e m habe ich die Ehre...? VIRGINIA Virginia Woolf. Ebenfalls Schriftstellerin. GEORGE SAND Es ist mir ein Vergnügen, Virginia. Alice und die Autorin stellen sich dazu und verfolgen das Gespräch. VIRGINIA Sagen Sie mir, liebe George, stets geisterte mir eine Frage durch den Kopf, und nun möchte ich die Gelegenheit nutzen. Sie haben sich mit Flaubert geschrieben. Mit dieser stolzen und erhabenen Korrespondenz kann sich nur Madame de Sévigné messen... Oh, my G o d . J Verzeihen Sie mir...! Ich hasse Vergleiche... N u n ja, in einem Ihrer Briefe an Flaubert schrieben Sie über MADAME BOVARY... GEORGE SAND sehr interessiert Ja...? Beide setzen sich, George Sand auf den Baumstumpf und Virginia auf einen Stuhl. VIRGINIA Nun... ich habe immer sehr viel über den Einfluß nachgedacht, den diese Gestalt auf die Frauen Ihrer Epoche haben konnte. Ich möchte mich deutlicher ausdrücken. Sie werden mir sagen, wenn ich mich irre. Schließlich handelt es sich um Ihre Epoche... Ich kann

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nur von meinem eigenen Standort aus urteilen... Besser gesagt, von diesem M o m e n t in der Geschichte. Sie lächelt komplizenhaft Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, daß Sie nicht so gedacht haben, wie die Allgemeinheit, ich meine, diejenigen, die MADAME BOVARY für die höchste, erhabenste, usw. Exegese hielten, die jemals ein menschliches Wesen über die Frau und ihr komplexes Schicksal geschrieben hat. M a n sieht deutlich, d a ß Ihr Urteil das Urteil einer Freundin ist, ein Urteil der Bewunderung für einen großen Schriftsteller... George Sand nickt mehrmals. Und in vielen Punkten urteilen Sie richtig, glauben Sie mir... Es sind brillante Bemerkungen...! Aber ich will Ihnen sagen, daß ich letzten Endes nicht mit... wie soll ich sagen... mit dem Kern übereinstimme... Denn es ist nicht dasselbe, MADAME BOVARY für einen ausgezeichneten Roman zu halten, und wenn m a n so will, warum auch nicht, für den Roman seiner Zeit... und ihn dann so zu beurteilen, wie Sie es taten, und wie es die meisten Kritiker bis heute weiterhin tun. Pause Sie versichern, er sei ein einzigartiger und tiefgreifend psychologischer Beitrag zu dem, was man damals für den Beginn des Abenteuers der macht Anführungszeichen in die Luft „Befreiung der Frau" hielt. GEORGE SAND sehr gespannt Ich verstehe... ich verstehe... Ich glaube, ich weiß, wie das Wasser zur Mühle geht, meine liebe Virginia, hm...! VIRGINIA George, glaubten Sie wirklich, d a ß MADAME BOVARY ein Symbol dieser Befreiung war...? Ich glaube, daß Flaubert den Zeitgeist nutzte und widerspiegelte, er träumte nur davon, sie selbst erschaffen zu haben, aber ich wiederhole: er spiegelte nur wider, was bereits in der Seele von E m m a Bovary u n d allen anderen E m m a Bovaries der Welt als kleine Flamme aufflackerte... Er griff es nur auf. Sie greift in die Luft Sehen Sie so... Die Rübe am Strunk packen... GEORGE SAND lacht Wunderbar... meine liebe Virginia! Es ist köstlich, Ihnen zuzuhören... vertraulich Wissen Sie was...? Ich habe MADAME BOVARY immer für ein Spiegelkabinett gehalten... Sie lacht noch mehr, Virginia fällt ein. ALICE Was ist ein Spiegelkabinett...? Ein hübsches Wort...! GEORGE SAND ohne auf die Unterbrechung einzugehen Und diese Spiegelspiele... VIRGINIA Ich kenne sie...

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GEORGE SAND Was meinen Sie, ist das Vergessen nicht ein dummes Monster, das schon viel zu viele Generationen verschlungen hat...? VIRGINIA Good heavens...! Selbstverständlich...! GEORGE SAND Entrinnt dem Vergessen...! Schreibt eure eigene Geschichte! Sie springt auf und geht auf der Bühne hin und her Alle, die begriffen haben und die tiefen Wunden ihres Herzens heilen wollen: schreibt sie auf...! Pause So habe ich es meinen Arbeitern, meinen Bauern... immer wieder gesagt. Wir müssen mit unserer eigenen Version in die Geschichte eingehen...! Pause Die armen Leute konnten kaum schreiben und lesen...! Welch ein Verbrechen...! Menschliche Wesen, die unsere Gesellschaft nicht einmal schreiben und lesen gelehrt hat...! Eine unbeschreibliche Ausbeutung! Unbeschreiblich! VIRGINIA steht auf, geht auf George Sand zu und legt ihr den Arm um die Schulter Meine liebe George, Sie waren ein wirkliches Naturereignis... GEORGE SAND lächelt Ach was...! Ich bin rebellisch auf die Welt gekommen, das ist alles... VIRGINIA Wenn ich Ihnen erzählen würde, wie oft ich als junges Mädchen davon geträumt habe, zu sein wie George Sand... Einmal schrieb ich einen kleinen Roman, dessen Figur hätten Sie sein können, zweifellos. Er heißt ORLANDO. Sie lacht, geht langsam zu ihrem Stuhl zurück, setzt sich Einmal ist Orlando eine Zigeunerin, die sich in Sehnsucht nach ihrem schönen England verzehrt aber gezwungen ist, in der Wüste zu leben. Ein anderes Mal sehen wir sie als schrecklich gelangweilte, englische Lady, etwas impulsiv, aber ausserordentlich geistreich... George Sand geht über den letzten Satz herzhaft lachend zu Virginia und setzt sich auf den Baumstumpf Zu Beginn der Geschichte ist Orlando ein junger Träumer, über beide Ohren verliebt in eine russische Prinzessin mit verführerischer Stimme Sascha...! die er eines Tages ertappt, wie sie ihn in den Armen eines Matrosen ihres prächtigen Schiffes betrügt... beide lachen. GEORGE SAND Wie originell...! Ich würde es gern lesen...! VIRGINIA Die Kritiker hielten ORLANDO für nichts Geringeres als ein kleines Meisterwerk, und Lob und Schmeicheleien kamen und gingen. Sie lacht, zuckt die Achseln. Ich glaube, ORLANDO ist ein zu frivoles Buch, um ernst genommen zu werden und ist zu lang für eine Farce... Pause, nostalgisch Eigentlich ist ORLANDO ein langer Liebesbrief, den ich schreiben wollte...

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GEORGE SAND zündet sich bedächtig eine Zigarette an Ich glaube, die Kunst ist keine Studie der tatsächlichen Realität, sondern eine Suche nach der idealen Wahrheit... Meinen Sie nicht? Ich meine einen Roman wie CORINNE von Madame de Staël... VIRGINIA herablassend Ach... CORINNE... Die ideale Wahrheit, meine liebe George Sand... ist schon lange von unseren Barrikaden verschwunden. Jetzt gelten andere Grenzen, andere Stimmen... Die Frau hat gelernt, aus sich heraus zu gehen. Auf den Seiten einer Schriftstellerin und in jeder anderen Ausdrucksform, in der die Frau sich verwirklicht, läßt sie die ganze schmerzvolle Wut heraus, die sie so viele Jahrhunderte wie in einem Spinnennetz gefangen hielt... Pause Die schmerzvolle Wut... Ängste... uralte Ängste, so uralt, wie das Meer... Hatten Sie keine Angst...? In Erinnerungen verloren zeichnet sich das Entsetzen über eine Reise ins Nichts auf ihrem Gesicht ab Diese Stimmen...! Durchdrungen von Trauer und welkenden Blumen... Sie hält sich die Ohren zu.... Sie schreien meinen Namen von den Baikonen herunter. Pause Sie steigen aus dem Fluß. Sie werden lauter und lauter... Steht auf, geht in Richtung Publikum Wenn ich dieses Stimmengewirr und das eisige Entsetzen, das durch die Straßen zieht, fassen könnte... London in Flammen...! Die halbe Menschheit wird zerstört, und wir Frauen sind Zeugen der Geschichte... Faßt sich langsam und wendet sich dann ruhig an George Sand Die Frau hat ihr Bewußtsein Schicht um Schicht von trügerischen Geboten befreit. Sie glaubt nicht mehr an phantastische Glaubenssätze. Nicht mehr an die Weisheit der honoris causa... Pause. Sie setzt sich neben George Sand auf den Baumstumpf Jane Austen hat eine der größten Breschen geschlagen... Emily Brontë, Charlotte, Mary Wollstonecraft... so viele... so viele... Und alle, die noch kommen werden: Bettlerinnen... Arbeiterinnen... Spinnerinnen... Sie verliert sich wieder in Erinnerungen. Pause. George Sand beobachtet sie schweigend, wagt nicht, sie zu unterbrechen. Die Autorin und Alice haben sich auf ihren Zuhörerplätzen nicht gerührt und werfen sich nun beunruhigte Blicke zu. Alice macht ihr ein Zeichen, daß Virginia „weggetreten" sei, die Autorin gibt ihr zu verstehen, still zu sein. Aber Alice steht auf und geht leise zu Virginia und berührt sanft ihre Schulter.

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ALICE flüsternd Virginia... Virginia... bis diese langsam aus ihrem Traum zurückkehrt und sie ansieht Wußten Sie, daß auch die Blumen sprechen können...? VIRGINIA außerordentlich erstaunt Ach, ja...? ALICE Ja. Aber sie sind dumm. Ich habe im Garten der Roten Königin einige Dahlien und Rosen getroffen, die anfingen, sich über meine Kleidung lustig zu machen... von wegen, meine Blütenblätter wären nicht wie die ihren, und so... Andere sprachen alle auf einmal... Sie hebt die Schultern Strohdumm! Sie redeten lauter Kappes... Alle lachen, außer Alice. Klagend spricht sie weiter Und wenn ich Schriftstellerin werden will, wie, zum Teufel, soll ich mir mein Brot verdienen und die Kinder hüten und meinen Mann und das Haus fegen und Geschirr spülen und Babyfläschchen wärmen und Windeln wechseln und einkaufen und bügeln und Strümpfe stopfen und Hemden ausbessern immer atemloser und Mittagessen kochen und Abendbrot und Frühstück zubereiten... und das Badezimmer putzen und die Fenster und den Boden wischen und Teppiche klopfen... Außer Atem läßt sie sich auf den Boden fallen Uff...! Heilige Mutter Gottes...! Sie schlägt sich an den Kopf Und die Miete bezahlen...! Streckt die Beine von sich wie eine Stoffpuppe Und wie soll ich das alles schaffen...? George Sand schüttelt sich vor Lachen, die Autorin lächelt nervös, Virginia ist vollkommen ernst. VIRGINIA schulmeisterlich Genau da will ich Sie sehen, mein Fräulein. Genau da fangen die Pinien an zu wachsen...! ALICE Ach, ja...? Und wieviel Meter... genau, wenn man fragen darf? Virginia geht zum Zelt und droht ihr von weitem. George Sand schickt sich an, mit Feder und Tintenfaß auf den Knien zu schreiben. Die Autorin geht zum Kocher, um etwas zuzubereiten. Alice rührt sich nicht. Julia erscheint, entrückter Gesichtsausdruck, typisches Gewand einer jungen, reichen Frau von Verona Mitte des XVI. Jahrhunderts, Brokat und Musselin, eine ätherische Erscheinung. JULIA mitten auf der Bühne, zögernd Verzeihen Sie, meine lieben Damen... GEORGE SAND will gerade die Feder ins Tintenfaß tunken Pas vrai.J Also, jetzt brauche ich wirklich eine Flasche Wein...! Sie bleibt wie versteinert in ihrer Bewegung. Die Autorin ist gerade mit der Teekanne beschäftigt. Alice liegt auf dem Boden. Alle drehen sich nach Julia um und sind wie gelähmt, Julia lächelt.

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JULIA sanft Verzeihen Sie... aber ich suche... wischt sich ein paar Tränen ab Haben Sie nicht zufällig meinen Prinzen vorbeikommen sehen...? ALICE Verzaubert...? Oder nicht verzaubert...? JULIA mit bezauberndem Lächeln Verzaubert...! Das Licht verlöscht langsam nach ein paar Sekunden, alle verbleiben wie Wachsfiguren. Einige Augenblicke später hört man einen Schmerzensschrei, Poltern und der Fuchs tritt auf. Er zündet in einer Ecke der Bühne eine kleine Petroleumlampe an, nähert sich vorsichtig der Gruppe. Leuchtet die Gestalten eine nach der anderen an, lacht auf und zieht Fratzen, bei George Sand hält er sich etwas länger auf. FUCHS zum Publikum Zarte Weibchen...! Er macht obszöne Gesten Hübsche Titten...! Kleine Ärsche...! Eine der Frauen niest laut. Der Fuchs springt erschrocken zur Seite. Ich verdufte lieber...! Er rennt von der Bühne. Einige Sekunden später kehrt er zurück, flüstert: Die sind in der Lage, unseren Planeten auf den Kopf zu stellen...! Er bläst seine Lampe aus. Man hört ihn von der Bühne rennen und dann, von weitem, seinen Kriegsschrei. 2. Szene Julia und Jeanne d'Arc kommen herein, Jeanne ohne Rüstung und Schwert. Sie gehen langsam Arm in Arm. Dämmerlicht. JEANNE Arme Julia...! Es muß schrecklich sein, wenn man so verliebt ist...! Und obendrein mit so vielen Problemen... Und dein armer Prinz verzehrt sich bestimmt genauso wie du... vor lauter Liebe... Hast du gar keine Ahnung, wo er sein könnte...? Sie setzen sich auf den Baumstumpf JULIA vollkommen verzweifelt Nein... Pater Lorenzo hat uns sehr geholfen. Er wird mir auch wieder helfen, ihn zu finden. Pause. Wischt sich ein paar Tränen fort, lächelt dann, versucht aus ihrer Illusion Mut zu schöpfen Mein Prinz der Liebe, meine Liebe unglückseliger Maiennächte, als wir auf den Gesang der Lerche warteten... meine Liebe in der Verbannung meiner Träume, die mein Inneres zerreißen, denn seine Arme umfangen mich nicht mehr wie flammender Efeu, und mein Mund erstickt, weil sein Atem mir fehlt...! Sie steht auf, geht ein paar Schritte in Richtung Publikum Meine grünschimmernde Nachtigall, mein Geliebter, süß wie der Honig... Wo sind nur deine Augen, durch die einsame Nacht kriegerisch Reisender, ohne meine Küsse... meine Küsse... holder Prinz, der du mein Herz zur Verzweiflung

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bringst... Mein Untergang und Ende... Dein durstiger Mund strich über meine Haut, wie ein Reisender in der Wüste und umfing mich mit dem Duft von Bambus... Du gabst mir Leben in den Stunden der Angst, in denen mein zerbrochenes Herz in deinen Händen lag, so erwarteten wir die Morgendämmerung. Nichts hält mich mehr zurück. Nicht die Erinnerung und nicht das Blut, durch das du in mir fließt, können sie fangen, mein Geliebter. Sie können die Faser meines Seins nicht durchtrennen, denn ich bin nicht mehr ich. Mein Schmerz gehört mir nicht mehr, nicht einmal die Hölle schreckt mich... Sie geht zurück und läßt sich wieder auf den Baumstumpf sinken Lichterloh brennende Liebe und Liebe, die mich in Dunkelheit hüllt... JEANNE läßt schüchtern ihre Hand auf Julias Hand ruhen Was wird Pater Lorenzo tun, um ihn zu finden...? Soll ich mitgehen...? JULIA Nein... nein...! Die Capulet und Montague haben überall Wachen aufgestellt. Sie sind bewaffnet. Sie wollen mein Blut und das Blut meines Geliebten... Ihre Schwerter sind bereit, die Liebe zum Schweigen zu bringen... Nein, geh nicht, liebe Jeanne, bleib hier bei mir und laß uns über die Liebe reden. Lächelt Du bist süß wie die Trauben aus Korinth. Sie streicht ihr übers Haar Hat dir niemand gesagt, daß deine Augen wie braune Mandeln sind...? JEANNE schüchtern Nein... das hat mir noch niemand gesagt... JULIA lächelt zärtlich Du sträubst dich, wie die Täubchen... Warum fürchtest du dich so vor den Menschen...? JEANNE Ich...? Mich fürchten...? Nun... ich bin gewöhnt, unter Soldaten und Pferden zu leben und sie sind... anders. Es ist ein Leben in ständiger Gefahr, und man muß immer auf der Hut sein, wie die Tiere in den Bergen, man darf seinem eigenen Schatten nicht trauen... JULIA Bist du nie verwundet worden in einer Schlacht...? JEANNE Doch. Einmal hat ein Pfeil mich hier durchbohrt. Sie zeigt unter ihr Schlüsselbein Es fehlten nur wenige Zentimeter, um mir das Herz zu brechen. Es war ein Wunder des Herrn... Pause, steht auf und geht umher, erzählt weiter Ich habe den Mann gesehen, der ihn abschoß. Es war ein riesengroßer Engländer, wie eine Pyramide... Er trug einen sehr langen, flammendroten Bart, und das Haar war auch rot, ein paar Strähnen lugten unter seinem Helm hervor... Ich sah, wie er auf mich zielte... macht die Bewegung des Zielens ...als wir die Brücke überquerten. Er war hinter einem Busch versteckt, und ich fühlte

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plötzlich, daß mir etwas im Nacken brannte, wie wenn sich dir zwei Augen auf den Rücken heften, und ich riß am Zügel meines Pferdes. Es war nicht auf diesen Ruck gefaßt und bäumte sich auf, wir drehten uns um, und dort war er, hinter dem Gestrüpp... Ich konnte ganz deutlich seine Augen sehen... Er sprang mit gespanntem Bogen auf, schrie etwas auf englisch... Und ich spürte, wie mir ein tiefes Brennen ins Fleisch drang, und die Erde begann, sich zu drehen... JULIA geht zu ihr und streichelt ihr Gesicht Wunderbare Jeanne...! Tapfere kleine Kriegerin...! Hast du dich nie in einen Soldaten verliebt...? JEANNE sehr überrascht Mich verliebt...? Ich war dabei, Frankreich von den Engländern zu befreien und dem Dauphin die Krone zurückzuerobern...! Sehr ernst Ich war nicht auf so etwas aus. Verliebtheiten sind etwas für junge Damen, die sich Probleme und Kinder einhandeln wollen... Herablassend Ich weiß natürlich, daß es bei dir anders ist... JULIA Woher weißt du, daß es bei mir anders ist...? JEANNE Weil diese Liebe, die dich mit Ketten zwischen Tod und Wahnsinn fesselt, dich durch Wonne und Qual schleift, dich das Paradies sehen und gleichzeitig in der Hölle leben läßt, einer großen Feder würdig ist... ritterliche Geste Ich verneige mich... meine Dame! George Sand und Virginia erscheinen angeregt diskutierend. Julia und Jeanne betrachten sie mit Zuneigung. Jeanne setzt sich Julia zu Füßen und lehnt sich an den Baumstumpf. GEORGE SAND Sie muß auch Musik sein... Voilà...! In der Literatur müssen die Worte einfach singen... wie eine Arie aus Tosca, zum Beispiel...! Virginia lächelt und nickt. George Sand geht zum Zelt und kommt mit einem Klappstuhl heraus. Sie setzt sich neben den Kocher. Virginia setzt Wasser auf. Liszt, ein unerträglicher, dennoch großzügiger Mann, stimmte darin mit mir überein, und wir lasen gemeinsam ganze Seiten meiner Manuskripte, als wären es Partituren. Berlioz sagte, meine Bücher hätten die Kraft und Harmonie einiger Passagen aus SIEGFRIED. „Ah, Consuelo... George...!" sagte er... „Consuelo verkörpert nicht nur die Musik, sondern bringt vorzügliche Vibratos und Andantes und Adagios hervor...! Unvergeßliche Pianissimos...!" Sie lacht Der arme Frédéric sagte, meine Romane sollten etwas mehr Pianissimo haben und weniger Andantes con brio...

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VIRGINIA Warum sagen Sie immer armer Frédéric, wenn Sie von Chopin sprechen, George? Weil er an Tuberkulose litt...? GEORGE SAND lächelt Frédéric war bereits schwindsüchtig, als ich ihn traf. Mit Nachdruck Als ich ihn aus dieser verkommenen Gesellschaft entführte... den leichtfertigen Marquisen und Strohköpfen, „die sich um ihn rissen!" Ich sage armer Frédéric, weil er wie ein Kind war, verloren im Dickicht dieser ehrlosen, grotesken Vampir-Gesellschaft! Sie saugten den Künstlern das Blut aus den Adern...! Ein Haufen Schmarotzer ohne jegliches Talent! Chopin haben sie zu sehr verhätschelt. Diese dummen Marquisen haben ihn ziemlich kaputt gemacht. Für mich war er immer dieses im ungeheuren Schaffenstaumel seiner Sonaten und Polonaisen verlorene Kind... Empfindsam, sanftmütig, kapriziös... abhängig von meiner mütterlich schützenden Sorge... Hatten Sie keine Kinder, Virginia...? VIRGINIA Nein... Es war nicht die richtige Zeit dafür. Pause. Sie bietet George Sand eine Tasse Tee an. Weder in meiner Lebensgeschichte, noch in der Geschichte der Welt... Zu Jeanne und Julia Ein Täßchen Tee? JEANNE steht auf Nein, danke. Ich muß gehen, mein Pferd suchen... Bis später...! Bis später, Julia...! Ab. JULIA winkt Ciao...! Ciao cara Giovanna.J Sie bläst in ihren Tee, zu Virginia und George Sand Sie ist so hübsch und so tapfer, diese Jeanne. Ich wäre gern wie sie... VIRGINIA Aber du hast auch sehr viel Mut, liebes Kind. JULIA verwirrt Ich...? Ach, nein...! Ich bräuchte viel mehr Mut, als ich habe... schluchzt sono molto disgraziata... molto...! VIRGINIA Good heavens! Weine nicht, Kind! Sie holt ein Taschentuch aus ihrer Tasche, wagt aber nicht, es ihr anzubieten Dein Herz ist traurig, aber das bedeutet nicht, daß es dir an Mut fehlt, oder daß du feige bist... GEORGE SAND zärtlich Du hast eine der großartigsten und schönsten Heldentaten der Weltgeschichte vollbracht... Eine amour fou, von der man heute spricht und bis ans Ende der Jahrhunderte noch sprechen wird, verstehst du das nicht? JULIA wischt sich ungläubig die Tränen Ich...? GEORGE SAND Ja, du...! Du und dein verzauberter Prinz, der junge Herr aus Verona...!

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JULIA in verliebtem Wahn Wo bist du nur... Geliebter meines Herzens, das ohne dich nicht schlagen will...? Zu George Sand und Virginia Auch nicht der Tod könnte mein Herz von seinem trennen. Ich weiß, die Schicksalsfee macht ihre Runden, um Tribut zu fordern. Sie wird uns an jenen Ort ohne Grenzen führen, wo die Nacht still ist und schlaflos... wo das Moos duftet und schmerzliche Erinnerung fließt, wie ein Fluß ohne Wasser... wie ein Wald, in dem kein Vogel wohnt. Sie steht langsam auf und macht ein paar unsichere Schritte, wie im Traum Ich kenne ihre Schritte... Ich habe sie auf ihrem Weg gesehen, wie sie die Opfer wählt, als wären sie Nichtigkeiten oder Blumen, unnützes Zeug, und wie sie sie auf ihren Karren häuft, habgierig... räuberisch... Das Herz einer Hyäne hat sie. Die Eingeweide eines Skorpions... Sie webt und webt ihr Netz wie Weberinnen ihre Teppiche mit Bildern von der Liebe weben, mit weißen Pferden und Kindern, die im Fluß baden, mit Eichhörnchen und Schmetterlingen, und die Luft ist dort lau, und die Vögel zwitschern, dort ergreift eine Hand die andere, und man hört Lachen, und jemand besingt die Ankunft des Frühlings... Sie aber webt und webt wie eine riesige Spinne, die ihr Netz mit Brillanten besetzt und es mit Gold bestickt, um ihre Opfer zu blenden, die ihr folgen, verwirrt von ihrer Kriegerstimme, die Blut und Feuer fordert und Versprechen auf Versprechen macht... und sie verfallen dem bezwingenden Zischen der Schlange, die Kinderleiber und Frauenherzen und die Köpfe feindlicher Völker fordert, denn dies sind die einzigen Opfergaben, die sie adeln und nähren Pause, geht mit verlorenem Blick aufs Publikum zu Sie ist die Hinterlist selbst...! Die, die Stürme sät und eifersüchtig lauert, wie ein Geier. Ich fürchte sie nicht... Ich fordere sie heraus, mir ihren vergifteten Stachel direkt ins Herz zu stoßen. Ganz sanft Mein Herz, das doch schon gebrochen ist aus Liebe... Sie dreht sich leicht zu Virginia und George Sand um, die atemlos zugehört haben, geht zum Feuer, läßt sich wie ein Blatt auf den Boden fallen und bleibt dort liegen. streckt sich und sagt leise zu sich: Es ist kalt...! George Sand Noch etwas Tee...? Sie geht zu Julia und schüttelt sie sanft Kind...! Sie müssen etwas essen...! Ironisch, aber liebevoll Ich weiß ja, daß Luft und Liebe auch gute Nahrung sind, aber man sollte dem Hungrigen doch etwas zu essen geben, der Magen dürfte ein

GEORGE SAND VIRGINIA

ZU

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wenig vernachlässigt worden sein... glaube ich... Ich hole etwas... Sie geht ins Zelt. Alice und die Autorin erscheinen. Alice geht rückwärts, spricht gestikulierend. ALICE ...Und ich sage dir: Nein! Humpty Dumpty sagte, es käme darauf an... Sie dreht sich um... erleichtert Also hier kommt man wenigstens auch dort an, wohin man geht. Einmal war ich ganz sprachlos, als ich irgendwohin gehen wollte, aber am entgegengesetzten Ort ankam...! Ohne einen Blick für die anderen Frauen setzt sie sich rittlings auf den Baumstumpf. Hochtrabend Die Worte müssen das sein, was man selbst sagen will...! Meint Humpty Dumpty... Die Autorin setzt sich auf eine Ecke des Baumstumpfs, ebenfalls ohne Julia und George Sand zu beachten. Man muß sie am Kragen packen... So... als würde sie ein Huhn am Hals packen und kräftig schütteln Man muß sie beherrschen! Die Meisterin sein! AUTORIN Ach, ja...? Und wenn sie nicht gestorben sind... ALICE Genau so. Und wenn sie nicht gestorben sind... AUTORIN Du glaubst wohl, daß alles sei sehr einfach, babyleicht... ALICE Was ist babyleicht? AUTORIN Rede keinen Kappes... Sie wirft ihr eine Papierkugel an den Kopf, Alice weicht grinsend aus.... Stell dich nicht so dumm an...! ALICE Kappes...? Ich würde es nicht wagen...! Kann man das essen...? AUTORIN Spiel hier nicht die Außerirdische...! Du hast dieses Wort vor kurzem selbst gesagt. Du hast es dir ausgedacht, nicht ich...! ALICE Nun, dann hast du mich eben nachgeäfft! Und in diesem deinem Alter weißt du wirklich nicht, was Kappes ist...? Sie lacht Nein...? AUTORIN überzeugt Es bedeutet, Albernheiten daherreden. ALICE übertrieben höflich Albernheiten daherreden...? AUTORIN Dummes Zeug sagen... ALICE Ach, ja...? Aha...! AUTORIN Du kannst vielleicht nerven...! ALICE Wenn du es wissen willst, die Rote Königin und ihre Freundin, die Weiße Königin, die können nerven. Man darf auf gar keinen Fall das Wort an sie richten, bevor sie es an dich richten. Nicht einmal, als ich Königin war, durfte ich zuerst reden... Das sind Riesennervensägen!

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AUTORIN Es gibt Leute, die halten sich für den Nabel der Welt, nur weil sie eine Krone auf dem Kopf tragen, oder weil sie Herr Präsident oder Herr Bürgermeister oder Herr Kommissar genannt werden... Oh... mein Herr, jawohl, mein Herr, nein, mein Herr, macht Verbeugungen zu Ihren Diensten, mein Herr, steht stramm, wie ein Soldat Sofort... mein Herr...! Ich meine... mein General...! Man hat den Befehlen gefälligst blind Gehorsam zu leisten, weil man sonst vielleicht ohne Lohn oder ohne Haus oder gleich ohne Kopf dasteht... Sie macht eine Bewegung, als würde sie von einer Explosion durch die Luft fliegen Wenn wir nicht aufpassen und zulassen, daß diese Verrückten auf die Idee kommen, nur sie wüßten, woher der Wind weht, und anfangen auf Knöpfe zu drücken... Ahhh... Nervensägen, oder nicht...? ALICE Riesennervensägen...! AUTORIN Warum wechseln wir nicht lieber das Thema. Das mit den Knöpfen regt mich zu sehr auf... ALICE Weißt du was...? Heute ist mein Nicht-Geburtstag... AUTORIN Wie... dein Nicht-Geburtstag... Man feiert den Geburtstag... Niemand feiert seinen Nicht-Geburtstag... ALICE zuckt die Achseln Nun, ich schon... Die Autorin sieht zu Julia, die unsichtbare Blumen pflückt und dabei die Bühne verläßt, und zu George Sand, die, Tintenfaß auf dem Boden, Feder in der Hand, ununterbrochen auf den Knien schreibt. Alice bemerkt es, folgt dem Blick der Autorin eine Weile Et voilà...! Die Musen... kommen im Galopp! Beide lachen. AUTORIN Schsch.J flüstert Man darf das Genie nicht stören...! VIRGINIA kommt mit Essen aus dem Zelt Ich habe nichts besonderes gefunden, aber... Sie bemerkt, daß ]ulia nicht da ist Ist Julia fort...? ALICE Ja, sie ging Blumen pflücken... zeigt Dorthin... VIRGINIA Good heavens...! Dieses Kind...! Sie geht ab in die Richtung, in die Alice zeigt. ALICE George Sand bewundernd Nichts auf der Welt wäre ich lieber als Schriftstellerin... wie sie...! AUTORIN Nun, glaube bloß nicht, daß es so einfach ist wie Seifenblasen machen! ALICE Und wer sagt, daß es so einfach ist wie Seifenblasen machen, oder was auch immer...? Ich weiß ganz genau, was es heißt, eine Frau zu sein, die schreibt...

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AUTORIN ironisch Du weißt es...? Wie schön...! Sie reicht ihr die Hand Ich gratuliere...! Alice kehrt ihr wütend den Rücken zu. Sie tippt Alice auf die Schulter, bis diese sich wieder umdreht Weißt du, daß man George Sand in einem Zug mit den großen Genies ihrer Zeit nannte...? Stell dir vor, Karl Marx zitierte sie in seinen Reden, als er 1843 nach Paris kam! Hippolyte Taine nannte sie „die revolutionäre Schriftstellerin des Jahrhunderts." Puschkin sagte, er habe sich rettungslos in vier Heldinnen ihrer Bücher verliebt. ALICE verblüfft was...?

Hat sie etwa auf den Straßen Bomben gelegt u n d so-

AUTORIN Nun, als hätte sie sie gelegt...! Turgenjew sagte, George Sand zähle zu den Begnadeten der Geschichte. Und Dostojewski setzte sie auf den, wie er selbst schrieb, unbestreitbar ersten Platz in der Reihe der dem russischen Idealismus anhängenden europäischen Schriftsteller. Ein weiblicher Messias, so nannte sie Saint-Simon... ALICE W o a o w . J

VIRGINIA kommt wieder und bleibt unschlüssig in der Mitte der Bühne stehen. Das Essen hat sie noch in der Hand Ich finde das Kind nicht... GEORGE SAND wie aus einem Traum erwachend W e l c h e s Kind...? Ach, Julia... scherzhaft Dieses Mädchen wird uns noch vor lauter Liebe vergehen... W i e beneidenswert...!

VIRGINIA setzt das Essen irgendwo ab und betrachtet die Aufzeichnungen von George Sand Beschäftigt? GEORGE SAND nimmt die Blätter zusammen, ordnet sie Nein... ich bin schon fertig.

VIRGINIA Wie ich Sie beneide...! So überall schreiben zu können! Wenn ich nicht in meiner eigenen Umgebung in Klausur war, bei absoluter Stille und... umgeben von all meinen... lacht laut Good heavens...! Nur gut, daß es Leute gibt, die so schreiben können... zeigt auf George Sand. GEORGE SAND Glauben Sie das nicht. Es kommt sehr selten vor... Ich schreibe meistens spät in der Nacht. Fast immer bis zum Morgengrauen... Das schwache Licht, diese Zeitspanne der Stille zwischen Sonnenaufgang und dem Erwachen der Vögel... das ist eine einzigartige Stille... Das war genau die Zeit, wenn Seite um Seite aus mir herausbrach... VIRGINIA setzt sich dicht neben George Sand Ich verstehe Sie... In meinem Haus in Rodmell ging es mir ebenso. Leonard mochte es nicht, daß

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ich bis zu so später Stunde noch schrieb, aber es war wie eine Beschwörung, verträumt eine Beschwörung... Plötzlich leidenschaftlich Man muß den Frauen mehr Raum geben...! Sonst ist es unmöglich! Ich meine, daß sie schreiben können. George Sand hört ihr intensiv zu. Lange Pause, in der die beiden Frauen in stummem Einverständnis versunken sind. Emphatisch weiter: Damit die Frauen ihren Geist entfalten können, ist es unumgänglich, daß sie ein eigenes Zimmer und ein monatliches Einkommen haben. Fünf Guinees sind genug. Wütend Nur, weil es an fünf lumpigen Guinees mangelt und an einem elenden Zimmer, wo sie ihre Sachen hinstellen und die nötige Ruhe haben können, um zu schreiben, ohne daß jemand sie stört, nur deshalb können Frauen sich den Luxus nicht leisten, ihren Geist zu entfalten... zeigt ironisch auf George Sand et voilà...! GEORGE SAND Wenn Monsieur Rousseau Sie hören könnte! Er ist felsenfest davon überzeugt, daß die Frau nur ein liebreizendes Wesen ist... Ohne graue Zellen! Beide lachen laut. Alice und die Autorin fallen ein. Alle vier sehen sich an und lachen noch mehr. Der Soldat erscheint im Kampfanzug, von Kopf bis Fuß schlammig, die Brust voller Orden. Er hält ein Messer im Mund, in einer Hand ein Maschinengewehr, in der anderen einen Granatwerfer, er ist mit Handgranaten behängt, einem Säbel und was sonst noch an Kriegsgerät an seinem Körper Platz haben mag. Er geht vorsichtig rückwärts. Die Frauen hören sofort auf zu lachen. Er ist angespannt, spürt plötzlich, daß sie da sind, obwohl sich niemand auch nur einen Millimeter gerührt hat. Mit einer heftigen Bewegung dreht er sich um und zielt mit dem Maschinengewehr auf die Frauen. SOLDAT spuckt das Messer aus Keine Bewegung oder ich schieße...! Er schreit: KEINE BEWEGUNG! ALICE Hier bewegt sich doch niemand... SOLDAT RUHE...! Er nähert sich vorsichtig Alice und der Autorin, geht um sie herum und betrachtet sie prüfend, wobei er stets auf sie zielt, dasselbe mit Virginia und George Sand, die die Beine übereinanderlegt, eine Zigarette herausholt und sie mit Bedacht anzündet. Halt, Sie da...! Was machen Sie da...? Machen Sie sofort die Zigarette aus...! Außer sich Oder ich schieße...! Verstanden...? Oder ich schieße...! MARIE ANTOINETTE rauscht herein. Sie trägt Perücke und Schuhe. Bleibt wie angewurzelt stehen, als sie den Soldaten sieht Mon Dieu...! Quel horreur...!

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SOLDAT blitzschnelle Bewegung in ihre Richtung, wobei er mit dem Granatwerfer auf sie zielt, mit dem Maschinengewehr im anderen Arm zielt er weiterhin auf die anderen Frauen. Ruhe oder ich schieße...! MARIE ANTOINETTE hebt die Arme, läßt sie aber gleich mit gelangweilter Geste wieder fallen Mich fährt niemand so derbe an, junger Mann. Ich bin die Königin... SOLDAT Ach, ja...? Was für eine Königin...? Marie Antoinette will etwas sagen, aber Alice kommt ihr zuvor. ALICE widerwillig Die Herz-Königin! SOLDAT dreht sich zu Alice und zielt auf sie Ruhe, Neunmalklug...! Du hältst gefälligst den Schnabel...! Hast du gehört...? Keinen Pieps mehr...! ALICE sehr ironisch Pieeep.J SOLDAT außer sich Verdammte...! Legt den Granatwerfer auf den Boden, legt das Maschinengewehr an, die Hand am Abzug Ich puste euch weg... Ich werde euch... VIRGINIA äußerst ruhig Und was führt Sie in diese abgelegene Gegend, Herr Soldat...? Irgendein kleiner Krieg...? GEORGE SAND ebenso ruhig Sieht ganz so aus... ALICE singt vor sich hin Mambrú se fué a la guerra, qué dolor, qué dolor, qué pena, Mambrú se fue a la guerra no sé cuando vendrá... do re mi... do re fa... no sé cuando vendrá... SOLDAT zielt entschlossen auf Alice, die weitersingt Niederträchtige Göre...! ]ulia bricht in diese Szene ein, mit einem Strauß Wildblumen im Arm. Wenn sie den Soldaten sieht, läßt sie die Blumen fallen, läuft zu ihm und reißt an seinem Arm mit dem Maschinengewehr. JULIA Was tust du da! Brutale Bestie! Mit offenem Mund sieht der Soldat Julia an und läßt langsam das Maschinengewehr sinken, schließlich auf den Boden fallen. Bleibt so stehen, während Julia spricht Was suchst du hier an diesem friedlichen Nachmittag...? Hier ist kein Platz für dich, blutrünstiger Störenfried! Gefräßige Räuberbrut! Verschworener der Stürme und brennenden Blitze, Rädelsführer von Pest und schwarzen Legionen, die sich in der Welt breitmachen mit ihrem eigenen Unrat im Gepäck! Wer soll heute deine Beute sein? Zeigt auf die Frauen Diese Frauen...? SOLDAT versucht mit wenig Erfolg, seine Stimme wiederzuerlangen, stottert Meine Dame... ich glaube, Sie phantasieren...!

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JULIA als hätte sie nichts gehört Oder kommst du nur zufällig vorbei? Nur, um dich ein Weilchen zu amüsieren und uns deine widerliche Vogelscheuchengestalt zu zeigen, behängt mit Gewehren und blutrotem Dolch. Spöttisch Wenn du dich nur im Spiegel sehen könntest! Soldat tastet sein Gesicht ab und starrt Julia wieder mit offenem Mund an. Ich kenne dich, du Taugenichts...! Ich sah dich durch das Geschützfeuer gehen, und mit leeren Händen kamst du zurück, die Luft war schwer vom Schweigen, als die dichte Wolke sich hob, dunkel... Das Land war in Blut und Tränen getaucht... Es regnete Asche an jenem Abend... Die Sonne ging unter als schwarzer Fleck... Und leer waren die Stimmen der Kinder, die sich dahinschleppten oder zwischen den Flammen umherliefen... doch niemand konnte sie retten, denn ihre Körper waren zerfetzt, ohne Augen, um zu sehen, ohne Ohren, um zu hören... Pause Ich war Zeuge deiner Taten im Namen des Friedens! Ich habe das Getrampel der Stiefel gehört, den apokalyptischen Schrei derer, die sich in deine Arme stürzten und die geköpften Häupter mit sich rissen... SOLDAT stottert Aber... aber... Sie wissen doch gar nicht, wie ich heiße... Sie wissen nicht... JULIA Weißt du nicht, daß dein Name überall geschrieben steht? ... Jeder kennt ihn... selbst die Kinder! Jeanne erscheint, ohne Schwert und Rüstung, sie ist aufgeregt. JEANNE von hinten sehr laut Mädels...! Ich habe mein Pferd gefunden...! Sie macht Freudensprünge und wiederholt mehrmals Ich habe mein Pferd gefunden! Pötzlich stößt sie mit dem Soldaten zusammen, der sie ansieht, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Sie bleiben einander gegenüber stehen, Jeanne wie gelähmt und verblüfft, die anderen Frauen ausdruckslos, unbewegt. Das Licht geht aus.

Sabina Berman Pancho Villa oder die nackte Frau Entre Villa y una mujer desnuda

Deutsch von Elisabeth Müller

Pancho Villa oder die nackte Frau

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Sabina Berman (1955) studierte zunächst Psychologie und entdeckte über das Universitätstheater ihre Berufung zur Dramatikerin. Bei ihrem ersten Stück, Mariposa (1974), stand sie selbst auf der Bühne und führte auch Regie. Für Yankee wurde sie 1979 mit dem PREMIO N A CIONAL DE TEATRO ausgezeichnet.1 Neben ihrer Arbeit für das Theater schreibt sie Drehbücher für Film und Fernsehen, Gedichte2, und 1990 erschien ihr erster Roman.3 Heute ist Sabina Berman die erfolgreichste mexikanische Theaterautorin. Die Basis ihres Erfolgs beim Publikum ist eine solide Beherrschung der ironischen Salonkomödie ä la Villaurrutia4, der sie mit den Mitteln des postmodernen Theaters eine überraschende Form gibt. Dabei zeigt sie ihre Figuren stets aus verschiedenen Blickwinkeln, so daß sie sich einer eindeutigen Festlegung widersetzen. In Uno más uno, dem ersten von drei Einaktern unter dem Titel El suplicio del placer5 tauschen SIE und ER einen Schnurrbart, um jeweils als Mann oder als Frau aufzutreten. Hier wird die Wiederholbarkeit und Austauschbarkeit scheinbar unverwechselbarer Identität auf die Spitze getrieben. Dieses Mißtrauen allgemeinen „Wahrheiten" gegenüber bringt Berman in zunehmendem Maße aggressiv auf die Bühne - ein Spiegel der politisch-sozialen Entwicklung in Mexiko. Es geht immer weniger darum zu zeigen, daß Wahrheit kein absoluter, sondern ein subjektiver Begriff ist, vielmehr attackieren Bermans Stücke immer schärfer die „offizielle" Geschichte, die seit 70 Jahren regierende Partei, den PRI. Das postmoderne Theater sucht die ideologische Dimension jeder Art von Repräsentation bloßzulegen; Parodie, Diskontinuität, Grenzüberschreitung, Widerspruch, Pastiche sind u.a. seine Mittel, die Berman 1

Yankee, auch unter dem Titel Bill erschienen, nimmt die „romantische" Pilgerfahrt der US-Amerikaner nach Mexiko aufs Korn, zugleich beschäftigt Berman schon in diesem frühen Stück die Frage, ob es überhaupt eindeutige Wahrheiten gibt. Weitere Stücke: Esta no es una obra de teatro (1979), auch als Un actor se repara erschienen; Rompecabezas (1981; Premio Nacional de Teatro); La reacción^1982); Herejía (1983; Premio Nacional de Teatro; ursprünglicher Titel Anatema; später umbenannt und als En el nombre de Dios aufgeführt); Aguila o sol (1985); Suplicio de placer (1985; erster Titel El jardín de las delicias); Muerte súbita (1988; zweite Fassung 1991); Entre Villa y una mujer desnuda (1993); El gordo, la pájara y el narco (1994); Krisis (1996); La grieta (1997).

2

Poemas de agua 1987; Lunas 1988.

3

La bobe, der Kindheitserinnerungen verarbeitet.

4

Xavier Villaurrutia (1903-1954) ist einer der bedeutendsten Theaterautoren Mexikos, der unter dem Einfluß von G.B. Shaw und Oscar Wilde den Stil des modernen mexikanischen Theaters geprägt hat.

5

dt. Quälende Leidenschaft, in Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. von Heidrun Adler und Víctor Hugo Rascón Banda. Berlin 1993, S. 167-190.

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Sabina Bcrman

in Entre Villa y una mujer desnuda; El gordo, la pájara y el narco; Krisis; La grieta souverän einsetzt, um die Autorität des historischen und politischen Diskurses zu untergraben und die oft widersprüchliche Natur mexikanischer Dogmen herauszustellen. 6 Mit dem provokativen Titel: Pancho Villa oder die nackte Frau formuliert Berman das Dilemma des mexikanisches Intellektuellen, sich zwischen dem männlichen Ideal, dem machismo, und einer individuellen Rolle zu entscheiden, die impliziert, daß er einen weiblichen Diskurs zuläßt; mit anderen Worten: zwischen offiziellem Diskurs und eigener Urteilskraft. Adrián steht zwischen seinem Idol Pancho Villa und seiner Geliebten Gina. Er schreibt eine Villa-Biographie; Szenen daraus laufen parallel zur Handlung, der Beziehung zwischen Adrián und Gina. Eine frustrierende Beziehung, bis Gina dem Geliebten ein Ultimatum stellt: entweder du bleibst - mit allen Konsequenzen oder du gehst für immer. Adrián kann sich nicht entscheiden, denn ein echter macho würde das Problem mit Gewalt lösen - Villa erschießt eine Frau, die mehr von ihm erwartet, als er geben will -; aber Adriáns Stärke ist seine Eloquenz, die ihm in dieser Situation jedoch nicht hilft. Also entscheidet Gina: sie verläßt ihn zugunsten eines softies. Adrián ist zerstört. Für Berman ist nicht der weibliche „Sieg" wichtig, sie hat es darauf abgesehen, die Ideale, an denen sich der Mexikaner aufrichtet, mit dem Blick einer Frau zu zeigen. Mit Klischee-Szenen aus Film und Melodrama7 bereitet sie uns auf die grandiose Schlußszene vor, in der Villas pompöse Kanone 8 vornüberkippt, und Adrián, in Unterhosen und mit seinen Schuhen in der Hand, jämmerlich das Schlafzimmer verläßt. Was aussieht wie eine Parodie auf den machismo (Salonkomödie!), ist scharfe Kritik an der Art, wie die Mythen der Revolution dazu benutzt werden, etwas an der Macht zu halten, was weder Hand noch Fuß hat.9 Heidrun Adler

6

siehe dazu Jacqueline E. Bixler: „Machtspiele und die Krise: Das neue Theater v o n Sabina B e r m a n " , in Geschlechter/

Performance,

Pathos, Politik. F r a n k f u r t / M a i n

1998, der diese Anthologie begleitende Kommentarband. S. 81-96.

7

Adrián als Humphrey Bogart-Verschnitt; dramatischer Fenstersturz aus dem Parterre; das pathetische Verhältnis zwischen Mutter und Sohn; Liebhaber wird aus dem Schlafzimmer gezerrt etc.

8

Seitenhieb auf die „Phallokratie"; auch Andreas Schnurrbart, vrgl. Uno más uno.

9

in Mexiko heißt es: „keinen Kopf"; Adriáns Entschuldigung ist ein von einem fahrenden Zug geköpfter Mann; in La grieta leitet ein kopfloser Licenciado ein Regirungsbüro.

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Pancho Villa oder die nackte Frau Bei der Premiere des Stückes wurde das Bühnenbild des Wohnzimmers so gestaltet, daß alle anderen Orte der Handlung ohne jede räumliche Veränderung darin integriert waren. Die Szenen mit Vüla können im Wohnzimmer stattfinden, wo sich in einem Szenenspiel zwei geschichtliche Epochen überlagern, indem Villa und die Frau aus der mexikanischen Revolution in Ginas Wohnzimmer sitzen und Tee trinken. Villa kann mit seiner Mutter durch das Zimmer spazieren und sich so bewegen, als wäre es im offenen Feld. So sind die Bühnenanweisungen zu verstehen, wenn Gina den Rauch ihrer Zigarette in Villas Richtung bläst und er glaubt, es sei der Rauch des Schlachtfeldes, oder wenn Villa die Tequilaflasche von Ginas Schreibtisch nimmt und daraus trinkt. Im ersten Akt wurde der hintere Teil des Wohnzimmers in ein Schlafzimmer verwandelt, in dem Gina und Adrián sich unterhielten, während im vorderen Teil des Zimmers Villa und die Frau beim Tee saßen. Die Einrichtung war kreuzförmig angeordnet: In der Mitte stand das Sofa, dahinter ein schmaler Gang, der links in der Wohnungstür und rechts in zwei Bögen - der Küchenund Schlafzimmertür - mündete. Im hinteren Teil des Zimmers war ein Rundbogenfenster, das mit Hilfe der Beleuchtung und von Regengeräuschen in Adrians Hauseingang verwandelt werden konnte. Das Fenster wurde gedreht und wurde zur Haustür mit Gegensprechanlage. Wegen der schnellen Auf und Abgänge der Personen im ersten Akt hielt die Regisseurin es für notwendig, Küchen- und Schlafzimmertür dicht nebeneinander zu legen. Personen: Gina (40) - Adrián (45) - Andrea (30-40) - Ismael (22) - Pancho Villa - eine Frau - Doña Micaela Arango, Pancho Villas Mutter. Gina muß nicht ausgesprochen hübsch sein, aber eine Frau, die man gern zur Freundin hat. Ihre Bewegungen sind geschmeidig, und sie wirkt im allgemeinen ausgleichend auf ihre Umgebung. Daß sie in den Szenen dieses Stückes häufig die Fassung verliert - indem sie heftig wird oder kopflos handelt -, hängt damit zusammen, daß ihr freundliches Wesen durch extreme Umstände aus dem Gleichgewicht gerät. Adrián muß auch nicht ausgesprochen gut aussehen, doch ist er ein Mann, den jede Frau liebend gern zum Abendessen einladen würde, um herauszubekommen, ob die Sinnlichkeit, die sich hinter seiner ernsten, herben Aufmerksamkeit erahnen läßt, echt ist. Als ein von sich selbst eingenommener Intellektueller trägt er eine bewußt lässige Eleganz zur Schau und ist von betörender Eloquenz. Von einem politischen Gespräch läßt er sich leicht mitreißen, dann spricht er schnell und leidenschaftlich. Andrea ist geradeheraus. Gestik, Gesichtsausdruck und ihr scharfer Verstand erinnern an den mexikanischen Präsidenten Plutarco Elias Calles. Sollte diese

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Ähnlichkeit von einem Leser oder einer Leserin so verstanden werden, als sei sie unattraktiv, wird er oder sie gebeten, sich die Fotos des hübschen Plutarco noch einmal genauer anzusehen. Ihr Äußeres strahlt sehr viel Charme aus, und sie besitzt eine amüsante Neigung zur Ironie. Außerdem ist Andrea die ideale Verbündetefür jedes Unternehmen, das Energie und Entschlossenheit verlangt. Ismael ist ein gut gebauter junger Mann. In Ginas Nähe stottert er und seufzt, kann die Blicke nicht von ihr lassen, während er im Umgang mit jedem anderen eine zuweilen fast unverschämte Ungezwungenheit an den Tag legt. Er trägt verwaschene Jeans und Turnschuhe; im linken Ohr steckt ein silberner Ohrring. Pancho Villa ist der Typ aus dem mexikanischen Film der 50er, 60er und 70er Jahre, ein Mann mit starkem Hang zu Gewalttätigkeit und Sentimentalität. Zeit der Handlung: 1993; Ort der Handlung: Eine Wohnung in Colonia Condesa, Mexiko-Stadt. 1. Ein Wohnzimmer: großes Fenster, ein Sofa, ein Couchtischchen, ein Hocker, die Wohnungstür und zwei Verbindungstüren zu Küche und Schlafzimmer. 2. Ein Schlafzimmer. 3. Der Eingang eines mehrstöckigen Wohnhauses. I 1 Andrea und Gina sitzen im Wohnzimmer und trinken Tee. GLNA Alle zwei, drei Wochen. ANDREA Zwei, drei Wochen? GLNA Oder vier Tage. ANDREA

Ah ja.

GlNA Er ruft an, bevor er kommt. ANDREA Oh, wie aufmerksam. GLNA zündet sich eine lange, schwarze Zigarette an Er sagt: Ich bin einen Block von deiner Wohnung entfernt. Kann ich dich sehen? Oder: Ich bin in der Uni, ich muß dich sehen. Oder: Ich bin in der Telefonzelle bei dir an der Ecke, darf ich kommen? Er darf immer kommen. ANDREA

A h ja.

GLNA Ich öffne ihm die Tür - es ist eine Art Ritual. Ich öffne ihm die Tür, er bleibt auf der Schwelle stehen und sieht mich an. Er sieht mich an... Dann beugt er sich zu mir und küßt mich... berührt ihre Lippen. ANDREA Du ihn nicht.

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GlNA Nein. Ich brauche immer einen Augenblick, oder zwei oder drei, bevor irgend etwas... irgend etwas, bevor die Gefühle aus der Erinnerung aufsteigen. Dann fahre ich ihm mit der Hand durch das Haar und... erst dann öffnen sie sich. ANDREA Öffnen sie sich... ? GlNA Die Lippen. Sahne... ich hab die Sahne vergessen. Sie geht mit ihrer Tasse in die Küche hinaus. ANDREA Die Lippen... Welche? Es klingelt an der Tür. 2 Gina öffnet die Tür. Es ist Adrián, er lehnt mit der Schulter am Türrahmen und trägt seinen beigefarbenen, recht abgetragenen Lieblings-Trenchcoat. Sie sehen sich an. Adrián faßt Gina um die Taille und küßt sie auf den Mund, während er sie zum Schlafzimmer führt. Es vergeht ein Augenblick, zwei, drei, bevor sie ihre rechte Hand zu seinem grauen Haarschopf führt und darin eintaucht. Vor der Schlafzimmertür nimmt er sie auf seine Arme und trägt sie über die Schwelle. 3 ANDREA während Gina mit dem Sahnekännchen aus der Küche zurückkehrt Und ohne größere Umschweife... Sie deutet mit einer Geste an, daß sie zusammen schlafen. Das nenne ich einen Mann ohne Umschweife. Aber du sagst doch, im Bett wäre er das weniger... Oder mehr... wie sagtest du? GINA Nein, im Bett ist er... ach Gott... gießt die Sahne aus fünfzehn Zentimetern Höhe langsam in Andreas Tasse Im Bett ist er... ANDREA Mmmm! Mmmm! Gut meint die Sahne danke. GINA Großartig, Andrea. Im Bett ist er großartig. ANDREA Wo ist dann das Problem...? GlNA Wenn er kommt. ANDREA Na klar, wenn er kommt. GlNA Nein, wenn er hierher in meine Wohnung kommt. ANDREA Ach so, wenn er hierher in deine Wohnung kommt. GlNA Naja, bevor wir zusammen schlafen... beginnt dieser alberne Kampf. Er versucht mich sofort ins Bett zu kriegen, und ich versuche ihn ins Wohnzimmer zu kriegen, damit wir zusammen Tee trinken. ANDREA Willst du ihn heiraten...

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GINA Heiraten, ihn? Nein, nein. Lacht Nein. Ernst Nein. ANDREA Weil er schon verheiratet ist? GINA Nein. Auch wenn er es nicht wäre. Ehrlich nicht. ANDREA Wenn du ihn nicht heiraten willst, wieso willst du dann mit ihm im Wohnzimmer sitzen? GINA Ich will mit ihm Tee trinken. Mist, ich habe den Tee vergessen. Sie geht mit dem Tablett und dem Teeservice in die Küche. ANDREA nachdem sie an ihrer Tasse genippt hat Wieso nimmt sie das ganze Tablett wieder mit? Die Frau ist ziemlich nervös. Draußen klingelt ein Telefon. 4 Gina betritt telefonierend den Raum. GINA Wo bist du? Hier am Flughafen? Fliegst du ab oder bist du angekommen? ANDREA geht in die Küche, um Gina zu holen Gina...? GINA Ich hab einen Termin beim Notar, aber komm ruhig. Komm. Komm. In einer dreiviertel Stunde bist du hier? Ja, ich auch. Ich auch. Ja. Sie hängt ein. Bleibt stehen und holt mehrmals tief Luft. Es klingelt an der Wohnungstür. 5 Gina geht die Tür öffnen. Es ist Adrian. Er lehnt mit der Schulter am Türrahmen. Er trägt einen Trenchcoat und hat seinen Koffer neben sich abgestellt. Er sieht sie lange unverwandt an. In seinem Ausdruck liegt etwas Hilfloses. ADRIAN leise, ernst Darf ich...? GINA Bitte. ADRIAN Sicher? GINA Ja. ADRIAN Wenn du eines Tages nein sagst, du darfst nicht, nicht mehr, dann sterbe ich. GINA Und wenn du mich nicht mehr anrufst, dann sterbe ich. ADRIAN Nein, ich sterbe. GINA Ist gut: Wenn du mich nicht anrufst, dann stirb. ADRIAN Ist gut. Er legt die Arme um Ginas Taille und küßt sie auf den Mund. Küssend bewegen sie sich rückwärts auf die Schlafzimmertür zu. Kurze Pause, dann führt sie die rechte Hand an seinen Kopf. Vor der

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Schwelle nimmt er sie auf die Arme, doch Gitta entsinnt sich ihrer Vorsätze und springt auf den Boden zurück. GlNA Warte. Laß uns einen Tee trinken. ADRIAN Einen was? GlNA Ich habe dich seit einem Monat nicht gesehen, verdammt... ADRIAN Deshalb. GlNA Deshalb. Sie macht sich los und geht in die Küche Also los, erzähle. ADRIAN hängt seinen Mantel in der Garderobe auf Was soll ich erzählen? Ich habe dir gesagt, ich war in Toronto. Habe ich dir das nicht gesagt? Ich habe dir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, vor einem Monat. Und ich war einen Monat weg. Ich habe Vorlesungen gehalten. Eine Reihe. GlNA Über? ADRIAN Über? Die Geschichte der Mexikanischen Revolution. Was macht der Tee? GlNA ist aus der Küche zurückgekommen Das Wasser braucht eine Weile, bis es kocht. ADRIAN Ach ja? GlNA setzt sich auf das Sofa Toronto im Süden Kanadas. An der Grenze zu den Vereinigten Staaten. ADRIAN Wo die Niagarafälle sind. GlNA Sieh mal einer an. Und da interessiert man sich für die Mexikanische Revolution. ADRIAN Gina, ich muß... dich spüren... ich will, daß du mich berührst... GlNA Komm, jetzt setz dich erst mal. Können wir nicht mal ganz normal miteinander reden? Adrián zögert. Dann will er sich zu ihr auf das Sofa setzen, aber indem Gina die Beine ausstreckt, nimmt sie den ganzen Platz für sich allein in Anspruch. Adrián setzt sich resigniert auf einen Hocker. Und wie fandest du sie, die Niagarafälle? ADRIAN Es sind eindrucksvolle Wasserfälle. Ja, das ist das richtige Wort: Eindrucksvoll. Jede Sekunde stürzt da das Wasser tonnenweise runter... GINA unterbricht ihn Ich kenne sie. Ich war mit Julián dort, vor zehn Jahren. ADRIAN ärgerlich Mit Julián... Und, war's schön? Schweigen. Das Gespräch ist verebbt. Adrián beugt sich zu ihr und sucht ihre Lippen, um sie zu küssen Ich bin verrückt nach dir, verrückt nach

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dir. Ich hab nichts anderes mehr im Kopf. Ein Wasserkessel pfeift. Gina eilt in die Küche hinaus. Wo gehst du hin? GINA Der Tee! Wollten wir nicht Tee trinken? Aus der Küche Bist du mit Villa weitergekommen? ADRIAN Die Monographie über Villa. Ja. Geht voran. Tatsache ist, daß ich die Aufzeichnungen über Villa überallhin mitnehme. Ich bin in einer Redaktionssitzung der Zeitung und male heimlich kleine nordmexikanische Hüte auf meinen Notizblock. Sogar im Schlaf denke ich an Villa. Aber, um ehrlich zu sein, würde ich mich jetzt gern mal von Don Pancho Villa erholen, wenn es dir nichts ausmacht. Das heißt, mit dem Aufbau des Buches habe ich schon begonnen. Das ist das schwierigste. Ich würde gern... wie soll ich sagen... schon obenauf sitzen, auf dem Thema. Genau genommen würde ich gern schon mit dem Zentaur in Richtung mexikanische Hauptstadt reiten. Villa, gefolgt von der Division des Nordens. Ein Heer, das bis in die Hauptstadt vordringt. Ein zerlumptes Heer, das zerlumpte Volk im Sturm auf die Stadt der Paläste. Eine halbverhungerte Meute, die bei den feinen Herren, bei dieser Bande von Politikern und Betrügern einfällt und sich ihren Teil holt... Naja, geschrieben wird es besser klingen, als ich es erzählen kann. Aber laß uns von etwas anderem reden. Obwohl, geschrieben klingt es auch nicht viel besser. Ich habe nicht mit sehr viel Feingefühl geschrieben, und die ganzen sprachlichen Verrenkungen hab ich mir gespart. Ich will die Gewalt der Angelegenheit rüberbringen: mein Buch soll nach Pferd riechen, nach Schweiß und Schießpulver. Was macht der Tee? GINA ist aus der Küche zurück und hat auf dem Sofa Platz genommen Er zieht. ADRIAN Er z i e h t . Faszinierend. GINA Wie geht es Marta? Betretenes Schweigen. ADRIAN nachdem er sich geräuspert hat Ich habe sie nicht gesehen. Ich meine, seit vier Wochen habe ich die beiden nicht gesehen. Ich war in Toronto, wie ich dir bereits sagte. Freundlicher Es geht ihnen gut. Verzeih mir. Gestern habe ich mit Marta telefoniert, die Kleine hat geschlafen, aber ich nehme an, daß es ihr auch gut geht. Heute abend werde ich sie sehen. Gina, ich weiß nicht, warum du das Gespräch auf meine Tochter und ihre Mutter bringst. Das... ist mir unangenehm.

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GlNA Weil Marta mich angerufen hat. ADRIAN Sie hat dich angerufen? GlNA Du hast ihr im April keinen Unterhalt für das Kind gezahlt. ADRIAN Ja, ich weiß, aber da muß sie dich doch nicht hineinziehen... Wie geht es deinem Sohn? GlNA Gut. Er wollte erst in den Ferien kommen, hat es sich dann aber anders überlegt und ist in Boston geblieben, um für die Prüfungen zu lernen. ADRIAN Gina, ich lebe nicht mehr mit dieser Frau zusammen. Das sind Sachen, die der Vergangenheit angehören. Ruinen der Vergangenheit. Das glaubst du mir doch, oder? GlNA Ich glaube dir alles. ADRIAN Da bist du schlecht beraten. Ich bin ein ganz unzuverlässiger Mensch. Was ich am meisten liebe, verlasse ich. Ich weiß nicht warum... Du weißt, daß ich zwei gescheiterte Ehen hinter mir habe. Aber du willst es nicht wahrhaben. Du willst mich ändern. Dabei wäre es einfacher, mich durch einen anderen zu ersetzen. GlNA Was sagst du zu den Wahlen in Oaxaca? ADRIAN Das nennst du eine ganz normale Unterhaltung? GlNA Das nenne ich eine lockere Unterhaltung. ADRIAN In Oaxaca sind die Urnen gewaltsam geöffnet worden. Es gab Schießereien auf der Straße und vier Tote. GlNA Dann erzähl mir was von deinen Schülern. ADRIAN Nein. GlNA Oder laß mich dir von meiner Firma erzählen. ADRIAN Nein. Deine Arbeit interessiert mich nicht. Schon gar nicht, weil du eine ausländische Firma bei uns aufziehst und damit dein Fähnchen in den neoliberalen Wind hängst, der dieses Land kaputt macht. GlNA Wir geben den Leuten Arbeit. ADRIAN Nein, ihr versklavt sie. Es wird doch einen Grund haben, daß deine Geschäftspartnerin... wie heißt sie noch? GlNA Andrea Elias. ADRIAN Elias Calles. Enkelin des Hauptverräters an der Revolution. GlNA Wenn du sie kennen würdest... ADRIAN Würde ich sie umbringen. Genauso wie ich ihren Großvater zwanzigmal in meinem Buch umbringen werde.

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GlNA besänftigend Adrián, es ging uns doch darum, eine ganz natürliche Unterhaltung zu führen. ADRIAN Nein. GlNA Doch. ADRIAN in einem plötzlichen Ausbruch Nein, nein, nein. Es gibt nichts, was menschlich und gleichzeitig natürlich wäre. Wir sind die einzige Tierart, die über ein Gedächtnis verfügt und somit über eine Geschichte, also eine Ansammlung von Gewohnheiten. Seit etwa 8000 Jahren haben wir Gewohnheiten angehäuft. Ergo: natürlich im Sinne von Natur ist unmöglich. Natürlich im Sinne von verinnerlichten Regeln ist nicht nur möglich, sondern leider Gottes so gut wie unvermeidlich. GlNA Du bist unmöglich. ADRIAN Und begehre dich. GlNA schnell, ihm ins Wort fallend Und ich begehre dich auch. ADRIAN Na dann... ? GlNA Können wir uns weiter gegenseitig begehren, uns in aller Ruhe begehren... ADRIAN Ich begehre dich schon seit Stunden, vier im Flugzeug und eine im Taxi... GlNA In aller Ruhe. Bevor... ADRIAN Bevor was? GlNA Bevor wir das Verlangen töten wie die Tiere. ADRIAN Willst du mich erziehen? GlNA ja. ADRIAN A c h so.

GlNA Merkst du nicht, daß wir uns bereits lieben? ADRIAN Ernsthaft? GlNA Indem wir reden, uns ansehen, uns aus der Distanz begehren, lieben wir uns bereits. ADRIAN Weißt du, die Liebe aus der Distanz... GlNA Möchtest du jetzt eine Tasse Tee? ADRIAN Gina... weißt du, Liebe aus der Distanz praktiziere ich seit heute morgen um neun Uhr mit dir, seit ich aufgewacht bin und hier er deutet auf seinen Kopf hier aufsein Herz und hier aufsein Geschlecht an dich denken mußte. Ich komme zum Flughafen und, bevor ich einsteigen kann, muß ich für die elektronische Kontrolle meinen Kof-

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fer abstellen, meine Schlüssel und den Gürtel mit der großen Schnalle ablegen, und während ich das alles tue, merke ich, wie ich schon dabei bin, mich in deinem Schlafzimmer auszuziehen... Und im Flugzeug war es so, als ob das ganze Flugzeug... ich sitze in der letzten Reihe und spüre plötzlich, wie das ganze Flugzeug, der ganze Jumbo, zu meinem riesigen Verlangen wird... und der Himmel, in den ich eindringe und eindringe und eindringe, das warst du, du und noch mal du... fünf Stunden lang ohne Zwischenstop... die Wolken hoch oben waren das Weiß in deinen Augen und die Sierra Madre unter mir deine geöffneten Schenkel... geht rückwärts auf die Schlafzimmertür zu Und wenn du mir jetzt nicht erlaubst, dich zu berühren, dann werde ich krank oder für immer verrückt. GlNA Großer Gott, nimmst du den Mund voll. Geht zum Schlafzimmer und fangt dabei an, sich auszuziehen... ADRIAN folgt ihr Nein, nein, nein. Mund, Mund, deiner, deiner, mein Schatz. Beide gehen ins Schlafzimmer hinaus. 6 Pancho Villa betritt mit argwöhnischer Miene die Bühne. Er hat einen Patronengürtel mit Revolver über der Schulter hängen. Eine wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gekleidete Frau erscheint mit einem blankgeputzten Metalltablett, auf dem sich das Teeservice befindet. FRAU Setzt Euch, mein General. Hier seid Ihr zu Hause. VILLA seine Umgebung betrachtend Ach, zum Teufel. FRAU geht auf die Knie, um das Tablett auf dem Couchtischchen abzustellen Ich schenk Euch erstmal eine Tasse Tee ein. Es ist Lindenblütentee. Oder möchtet Ihr lieber Kaffee? VILLA setzt sich ihr gegenüber Eigentlich ja. Ich möchte lieber Kaffee. FRAU Lindenblütentee ist gut für die Nerven, mein General. Er beruhigt sie, und man denkt nur noch an das Gute. Hinten wird ein breites Bett auf die Bühne geschoben, an dessen Kopfteil Gina und Adrián lehnen. VILLA Vorsichtshalber. Sonst schlaffen meine Nerven ganz und gar ab... und dann kriegt Ihr mich nicht mal mit Schießpulver raus aus Eurer Wohnung. FRAU Aber mein General, wer will denn, daß Ihr geht? VILLA Ihr seid sehr hübsch.

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ADRIAN Sie war eine schöne Frau. VILLA Sehr höflich. Sehr fein Tochter aus gutem Hause, wie man zu sagen pflegt. Bei Euch überkommt mich sogar die Lust auf ein Nickerchen. GINA Dann hat der General den Lindenblütentee ausgetrunken. ADRIAN Nein, das konnte er nicht. Er tat nur so, als würde er ihn trinken. Er aß oder trank nie etwas, was sein Leibwächter nicht vorgekostet und überlebt hätte. Denn man hatte häufiger versucht, ihn zu vergiften Er tat nur so, als würde er trinken, um Zeit zu gewinnen. GINA leise Gib mir die Gummibärchen. Adrián bedient sich selbst aus der Tüte und gibt sie an Gina weiter. ADRIAN mit dem Gummibärchen im Mund Ja, er wollte nur Zeit gewinnen, nichts überstürzen... GINA Zeit, wofür? ADRIAN Zeit, um die Frau zu betrachten, ihren Anblick ganz genüßlich in sich aufzunehmen und ihr Lebewohl zu sagen. Denn diese Frau würde nicht die seine werden. Jedenfalls nicht so, wie all die anderen Frauen, die der General hatte. GINA Dreihundert hatte er. ADRIAN Die Zahlen verlieren sich im Mythischen. VILLA Ihr seid wirklich verteufelt hübsch. ADRIAN Sie war tatsächlich bildhübsch. VILLA Ihr seid verteufelt schön, was für ein verfluchtes Glück. FRAU Trinkt Euren Tee, mein General. GINA Und dann schläft er in ihren Armen ein. FRAU Und dann schlaft Ihr in meinen Armen ein. VILLA General Villa schläft nur in den Armen der Berge und der offenen Nacht. Aber das sage ich nicht, um Euch zu kränken. Verdammt, Ihr seid wirklich verteufelt schön... aber eine Konterrevolutionärin. Euer Vater dient als General bei Elias Calles, Epigmeo Saldívar Saldaña heißt er, dieser Schuft, nicht wahr? GINA Na und? Was hat das mit ihr zu tun? Sie ist sie. VILLA Man sieht Euch an, daß Ihr immer in weichen Betten geschlafen habt. Und ich habe noch nicht mal die Ehre, Euch Angst zu machen. Ihr malt Euch wohl schon aus, wie ich morgens an Euerm Busen aufwache. Stimmts? FRAU Darf ich Euch noch einen Tee einschenken, mein General, Lindenblütentee. Sie streckt den Arm nach seiner Tasse aus.

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Villa reicht sie ihr und sieht sie scharfan. Mit der freien Hand zieht er die Pistole und erschießt die Frau. Gina bleibt vor Schreck der Mund offen. Villa bläst den Rauch vom Pistolenlauf. Adrián steht vom Bett auf, während Villa sich vom Sofa erhebt. Während des folgenden Dialogs zieht Gina sich an, dabei sind ihre Bewegungen auf sonderbare Weise synchron mit denen von Adrián. Unterdessen geht Villa zu der Frau, nimmt ihr die Ohrringe ab und schließt ihr die Augen, danach legt er den Patronengürtel an und macht sich bereit zu gehen. GINA Was ist passiert? Wieso hat er sie umgebracht? ADRIAN Weil ich jetzt gehen muß. GINA Wieso? ADRIAN Weil ich gehen muß. GINA Bleib doch über Nacht da. ADRIAN Ich muß los. GINA Wir können zusammen abendessen und dann gehst du. ADRIAN ... GINA DU kannst auch hier arbeiten. ADRIAN Ich hab nichts mit. GINA Dann bring was mit, nächstes Mal. Ich bestehe nicht darauf, daß du über Nacht dableibst, ich möchte nur, daß du länger bleibst, Adrián. Bleib noch zum Abendessen. ADRIAN Ich kann nicht, ich kann nicht. Ich kann nicht. GINA Schick mir dein Manuskript für die Reinschrift. ADRIAN Ich kann nicht. Villa setzt sich den Hut auf, während Adrián sich sein Sakko über die Schulter hängt. GINA Immer geht er, verdammt. VILLA Flucht oder Angriff. Das ist das Schicksal des Machos, Compañera. Es klingelt an der Wohnungstür, Villa und Adrián schrecken gleichzeitig zusammen. Beide fliehen: Villa verläßt die Bühne, Adrián geht ins Wohnzimmer. 7 Gina zieht einen japanischen Morgenrock über und geht an die Tür. Es ist Ismael, er trägt eine Marinejacke und Jeans. GINA Ismael, wie geht es dir? Komm, komm rein. Das ist Ismael, Adrián. Ein Freund meines Sohnes.

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ADRIAN Sehr erfreut. GlNA Er arbeitet bei mir im Laden. Er zeichnet Würfel für mich. ADRIAN Würfel zeichnet er, wie interessant. GlNA Diese Bauklötze für kleine Kinder, du weißt schon. ADRIAN Sicher. GlNA Er zeichnet sie für unsere Firma. ADRIAN Sag bloß! Sie zeichnen also Würfel. Gratuliere. Herzlichen Glückwunsch. GlNA Und das ist Adrián Pineda, mein... ähm, ein äh... Ismael hüstelt. ISMAEL Sehr erfreut. GlNA ... guter Freund, Adrián Pineda. ISMAEL Ah, du schreibst doch in LA JORNADA, nicht? Oder in ESTO. Oder wo? ADRIAN In LA JORNADA. GlNA Zeig uns deine neuen Würfel, Ismael. Du wirst sehen, was für hübsche Sachen dieser junge Mann zustande bringt. ADRIAN Ich ruf dich an, ja? GlNA Warte einen Augenblick. Adrian Nein. GlNA Einen Augenblick. Adrián verschränkt die Arme vor der Brust und wartet exakt einen Augenblick. ADRIAN Ich ruf dich an. Er küßt sie auf den Mund. Geht. Gina schließt wütend die Tür hinter Adrián. Dann stolpert sie über seinen Koffer. Er klingelt, um seinen Koffer zu holen, sie öffnet und schiebt den Koffer unfreundlich mit dem Fuß aus der Tür. Dann schließt sie sie wieder. Sie wird traurig. Mit einem Fußtritt schaltet sie das Radio ein, bei Ginas Gerät ist das so vorgesehen; es erklingt ein romantischer Bolero. Gina läßt sich auf das Sofa fallen. Sie bleibt in ihrem seidenen Morgenrock, ungekämmt, reglos, matt und abwesend auf dem Sofa sitzen. Ismael beobachtet sie mehrere Minuten voller Hingabe. Es vergeht eine Weile, dann läßt Gina einen sehr tiefen Seufzer hören. Ismael hüstelt. Gina dreht sich überrascht nach ihm um, denn sie hatte ihn vergessen. GlNA matt, melancholisch, melodramatisch Ismael. ISMAEL J-ja? GlNA Ismael, komm zu mir... ISMAEL Ja.

Pancho Villa oder die nackte Frau GINA ... und zeig mir deine Würfel. Ismael kniet sich neben den Couchtisch auszupacken. Es wird langsam dunkel.

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und beginnt

seine

Würfel

II 1 Es ist noch dunkel. Gina sitzt in ihrem japanischen Morgenrock an der Schreibmaschine und blättert in einem Heft von Adrián. Gina tippt auf der Schreibmaschine Nacht... die nächtliche Bühne wird schwach beleuchtet GINA Vollmond... ein runder Mond wird heruntergelassen... nacht. Doña Micaela Arango, eine alte Frau mit einem mexikanischen Schultertuch erscheint. Sie trägt eine Schmuckschatulle und bleibt regungslos stehen. Gina gießt sich Tequila ein. Villa kommt und bleibt ebenfalls unbeweglich stehen. Wenn Gina ihre Arbeit wieder aufnimmt, kommt Leben in Villa und Doña Micaela. In dieser Szene muß Villa mehrmals über die Sofalehne springen wie über Hindernisse im Gelände. MICAELA wirft die Schmuckstücke über die Schulter Ohrringe mit Glasperlen. VILLA fängt den Schmuck auf Mit Opalen. MICAELA Ein Ring mit einem... VILLA Tigerauge, Mama. In den Ohrringen sind Rubine... MICAELA DU liebst mich nicht, mein Sohn. In achtzehn Jahren habe ich dich fünfmal gesehen. VILLA Siebenmal, Mütterchen. MICAELA Fünfmal. VILLA Sieben. MICAELA Fünf. VILLA Sieben. MICAELA Fünfmal und Schluß. VILLA Schon gut, Mütterchen: sieben... ich meine fünfmal. Gina zündet sich eine Zigarette an. Villa sieht sich besorgt um. Was, zum Teufel... ? Gina bläst den Rauch in Villas Richtung. Ah, der Rauch vom Schlachtfeld zieht bis hierher. Bezieht sich auf das Klappern der Schreibmaschine Da, dieses Knattern: das verfluchte Maschinengewehr... Na, gefallen Sie Euch, Mütterchen?

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MICAELA Was glaubst du, soll ich mit diesen Reichtümern anfangen? Mich damit behängen und in der Stadt herumspazieren, damit alle sehen, daß mein Sohn ein Räuber ist? VILLA Ein Revolutionär, Mutter. MICAELA DU kommst mich nur besuchen, wenn es gerade auf dem Weg zu einer Schlacht oder einer anderen deiner Untaten liegt. VILLA Fangt Ihr schon wieder an, mit mir zu schimpfen... MICAELA Da, dieser Silberohrring. Es klebt ein Tropfen Blut dran. Und da, dein Gold, Panchito. Dein Mütterchen ist arm, aber ehrlich. VILLA Oho, was für ein Kerl mein Muttchen ist! MICAELA Nein, eine Frau, die geboren hat, weiter nichts. VILLA Schnauze, ihr Schweine. Meine Mutter spricht. MICAELA Was führst du nur für ein Leben, mein Sohn, immer den Tod auf den Fersen. Wer stopft dir die Socken? Wer kümmert sich um deinen Poncho? Und wenn du Zahnweh hast, wem erzählst du das? VILLA Nun, ich habe da eine Reihe Señoritas, die mich lieben... MICAELA Aber nicht eine ist mit dir vor Gott und der Kirche verheiratet. VILLA Na klar. Fünf sind mit mir vor Gott und der Kirche verheiratet. MICAELA Jesus Christus! Bekreuzigt sich Die Namen! VILLA Was meint Ihr, Mütterchen? MICAELA Ich will die Namen und Adressen dieses Weibervolks und all deiner Geliebten. Der von jetzt und der von früher. VILLA Was wollt Ihr, Mütterchen? GINA Ach, entschuldige. Entschuldige, entschuldige, entschuldige. Sie dreht die Walze zurück und streicht den Text: Doña Micaela setzt sich und nimmt wieder die ergebene Haltung von vorher an, als würde die Zeit zurückgedreht. Gina schreibt weiter. MICAELA Jesus Christus! Bekreuzigt sich Was, Pancho?! Das ist so gut wie keine. Wenn es fünf sind, bringt keine dich vors Standesamt, mein Sohn. Ist keine da, die dich Nacht für Nacht bewachen könnte. Keine, in deren Armen du eines Tages wirst sterben können... VILLA Weint nicht, Mama, sonst bricht es auch mir das... Er beginnt zu weinen, greift nach Ginas Tequilaflasche und trinkt. Gina nimmt ihm die Flasche ab und trinkt unter Tränen ebenfalls. Ohne sich bemerkbar zu machen, erscheint Ismael im Türrahmen der Küche. Er ordnet einen Strauß roter Rosen in einer Vase.

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MICAELA nachdem sie sich die Tränen abgewischt hat Und wieviele Enkel hab ich? VILLA Viele. MICAELA Wieviele? VILLA Naja, so... in Wahrheit? Vielleicht hundert... hundert, ja. Tut mir leid, daß ich die genaue Zahl nicht weiß. Aber eins kann ich Euch sagen: es ist schon ein ganzes Völkchen. Er kniet neben ihr nieder Seid mir nicht böse, Mütterchen. Ihr wißt doch, daß ich diese schmutzigen, blutigen Wege gehe, weil die Welt so verdammt schlecht ist. MICAELA Und wie lange willst du noch als Kriegsheld durch die Gegend ziehen? VILLA Bis wir sämtliche Konterrevolutionäre an den Glockentürmen der Kathedrale aufgehängt haben. Besonders diesen General Elias Calles, den, an den Eiern. Und dann... MICAELA Und dann? VILLA Naja... eben bis wir's geschafft haben, daß die Welt schön und gut ist. MICAELA unter Tränen Uuuuhu, Pancho... ein hoffnungsloser Fall. Mach keine Dummheiten. VILLA Ich mach eben keine großen Umstände, ist nicht meine Art. MICAELA Du sollst keine Dummheiten machen. VILLA Gebt mir Euern Segen, Mutter, ich muß jetzt los. MICAELA Gar nichts geb ich dir. Geh zuerst zum Priester und beichte, dann kannst du wiederkommen. VILLA Ich bitte Euch, Mütterchen. Als Kind habt Ihr mir kaum was zu essen gegeben. Heute bitte ich Euch nur um Euern Segen. Doña Micaela nähert die rechte Hand dem Kopf ihres Sohnes, um ihn zu segnen. Gina zieht das Blatt aus der Schreibmaschine und legt ein neues ein, währenddessen stehen Doña Micaela und Villa still. Ohne sich bemerkbar zu machen, setzt sich Andrea neben das große Fenster. Als Gina wieder zu tippen beginnt, kehrt Leben in Doña Micaela und Villa zurück. MICAELA Nichts geb ich dir und Schluß. VILLA Schaut, Mütterchen, Doña Micaela, um zu beichten würde ich mindestens acht Tage brauchen, und Ihr hört doch, daß da draußen der Krieg auf mich wartet. Außerdem müßtet Ihr mir einen Priester mit einem sehr großen Herzen besorgen, einem noch größeren Her-

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zen als dem meinen, dem ich alles erzählen kann, was der Herr mir zu tun erlaubt hat. GlNA liest vom Blatt, was zur gleichen Zeit auf der Bühne geschieht: Die Alte hielt ihre zitternde Hand über den Kopf ihres Sohnes... zog sie jedoch sogleich wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. MICAELA während sie rückwärts von der Bühne abgeht Nein, mein Sohn. Einem Mörder kann ich nicht meinen Segen geben. VILLA Dann eben nicht. Ist auch nur Gewohnheit. Gehn wir! Er geht hinaus. Man sieht ihn von Ferne dreimal in die Luft schießen. Gina trinkt ihr Glas Tequila in einem Zug leer. 2 ANDREA Wahnsinn! Das ist einfach Wahnsinn! Ehrlich, diese Idee, meinen Opa an seinen allerehrwürdigsten Körperteilen mitten auf dem Zöcalo hängen zu wollen, it leaves me perplexed, darling, perplexed. Aber letztlich ist es typisch; für einen Historiker ist das typisch: Er lebt in der Vergangenheit. GlNA Du nimmst das zu persönlich. Ismael bringt die Vase mit den Rosen herein und zieht sich in den Hintergrund zurück. Ein Blitz leuchtet auf. ANDREA Es gibt ein Gewitter. Nein, wieso sollte ich es persönlich nehmen? Wenn ich könnte, würde ich mit ihm machen, was Don Plutarco mit den kritischsten, verbohrtesten und einflußreichsten Intellektuellen tat. Einen hat er zum Beispiel als Botschafter in die Tschechoslowakei geschickt. Jetzt hör mal auf, ja? Du hast die Flasche schon dreiviertel leer. GlNA Sie war aber schon angebrochen. Gut, politisch bist du mit ihm nicht einig, das ist ja in Ordnung. Aber als Autor... ANDREA Oh ja, als Autor beeindruckt er mich mit seiner... seiner... GlNA Ausdrucksweise. ANDREA Nein, nein, seiner... Orthographie. Faszinierend, wie er die Punkte und Kommas setzt. Sehr männlich, findest du nicht? Wieder ein Wetterleuchten. GlNA Was sind das für Rosen? ANDREA Hat er dir mitgebracht... deutet auf Ismael, der am Fenster steht und ihnen den Rücken zuwendet.

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ISMAEL dreht sich um Weißt du, für mich ist die Sache eindeutig: Entweder du kannst mit diesem Typen zusammenleben oder du machst mit ihm Schluß. GlNA Wovon redest du? Ich lebe durchaus glücklich und sehr zufrieden allein. ISMAEL Ich rede von deinen schlaflosen Nächten, von den Tagen, an denen du nicht ins Geschäft kommst, davon, daß du in letzter Zeit nichts Besseres zu tun hast, als diesem Typen sein Zeug abzuschreiben; ich rede davon, daß du trinkst als wolltest du wer weiß wo landen Ein weiterer Blitz Ich verstehe das nicht. Wenn zwei, ähm, sich lieben, dann... ANDREA Das ist eine Vereinbarung zwischen Erwachsenen, Ismael. Sie sehen sich und haben Spaß miteinander, im übrigen lebt jeder sein Leben, fertig. Laßt uns nicht von Ginas Intimleben reden, sondern lieber die Unterlagen der Firma durchsehen. ISMAEL Gina, du mußt ihn dir vorknöpfen und verlangen, daß er sich entscheidet: alles oder nichts. ANDREA Du sollst aufhören, von ihm zu reden. Wir beide schaffen es noch, diese Frau unglücklich zu machen. GlNA Nein, nein, redet nur weiter, selbst wenn es nichts Gutes ist, redet weiter von ihm. ISMAEL Sieh mal, wenn ich er wäre, und du zu mir kämst und zum Beispiel sagen würdest... GlNA und ANDREA Ausgeschlossen. ANDREA Gina kann nicht zu ihm gehen. ISMAEL Warum nicht? GlNA Das ist ein Teil unserer Vereinbarung. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die hinter den Männern herlaufen. Sie überallhin verfolgen und sie überfallen... nein, zu dieser Sorte Frauen gehöre ich nicht. Sieh mal, was würdest du denn sagen, wenn du zu Hause wärst und an deinen Würfeln arbeitest und ich mitten in der Nacht zu dir käme, dich bei der Arbeit stören und plötzlich damit konfrontieren würde, daß ich dich heiraten will? ANDREA mahnend Heiraten? GINA Wenn ich mit diesem Strauß roter Rosen ankäme... und zu dir sagen würde: Ismael, mach mir ein Kind. ISMAEL Di-diesem...? Ich... würde dich... äh...

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ANDREA Gina, du hast schon ein Kind, und seine Studiengebühren in Havard kosten dich ein Vermögen. ISMAEL Ich wäre von der Idee begeistert, dir ein Kind zu machen. Ich wäre von deinem Vorschlag begeistert. Wie könnte ich dir was ausschlagen, dich einengen und Verbote aufstellen, ich meine, wenn ich dich liebe. Die Liebe will alles... sie will von Dauer sein, sonst ist es keine Liebe. Wenn sie nicht ewig dauern will, ist es eine unaufrichtige Liebe. Außerdem... GINA zu Andrea Hör dir das an, dieser Bursche nimmt kein Blatt vor den Mund... ANDREA Absolut nicht. So eine Überraschung, Ismael. Was für hochtrabende Ideen. Laß hören, Ismael bring's raus. Sprich dich aus. GINA Na los, sprich dich aus. Ohne Hemmungen. ANDREA Hopp, was raus will, muß raus. ISMAEL Naja... im Grunde wollen wir Männer doch nur das eine, daß jemand kommt und unsere ganze blödsinnige Abwehr über den Haufen wirft, daß jemand uns überfällt und uns nimmt; uns von uns selbst befreit. Also, das ist jedenfalls meine Erfahrung. ANDREA Na schön, aber du hast überhaupt keine Erfahrung, Ismael. Gina steht auf, geht zur Wohnungstür und tauscht am Garderobenschrank den Morgenmantel gegen einen Regenmantel und ein Paar hochhackige Schuhe ein. Was machst du, Gina? GINA Ich gehe, ihm seine ganze blödsinnige Abwehr über den Haufen werfen. ANDREA Jetzt? Warte. GINA Ich gehe zu ihm. ANDREA Wir wollten doch heute gemeinsam die Rechnungen durchsehen. Ruf ihn wenigstens vorher an und sag ihm Bescheid, daß du kommst. ISMAEL Nein, es geht darum, ihn ohne Vorwarnung zu erwischen. ANDREA Du hältst jetzt mal den Mund. Gina, rechne damit, daß er sich ärgert, weil du unangemeldet kommst. Rechne damit, daß er böse wird. Rechne damit, daß er jemanden... daß er böse wird. Gina bleibt reglos stehen. ISMAEL Daß er böse wird? Worüber? Wenn er böse wird, dann schmeißt du ihm die Rosen mitten ins Gesicht und sagst ihm für immer Lebewohl. Und gehst. Wie eine echte Dame.

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GINA Das ist es, das gefällt mir. Ich sag ihm für immer Lebewohl und dreh mich auf dem Absatz um... mit theatralischem Gesichtsausdruck Wie eine Prinzessin, und dann... bring ich mich um. ANDREA Sehr gut, aber mach's morgen. Gina nimmt die Rosen aus der Vase und sieht zur Wohnungstür. Mach das morgen. Zieh dich wenigstens an. GINA Wozu? Wenn man mich doch nachher wieder auszieht. Sie marschiert teils majestätisch, teils unsicher auf die Wohnungstür zu. Sie wankt einen Schritt zurück und setzt dann von neuem nach vorn an. Ich nehme ein Taxi. Ein Wetterleuchten erhellt ihren Abgang. Dunkelheit. ANDREA Der Strom ist weg. ISMAEL Hier waren doch irgendwo Kerzen. 3 Eingangstür eines Wohnhauses. Regen. Gina drückt den Klingelknopf. STIMME in der Gegensprechanlage Ja, wer ist da? GINA Ich. Schweigen Hörst du mich, Adrian? Ich bin's. Adrián...? Hörst du mich nicht? Ich hör den Summer nicht ... Drückt gegen die Tür. Adrián? Der Summer zum Öffnen funktioniert nicht, Adrián. Die Tür wird geöffnet. Adrián tritt heraus und schließt die Tür hinter sich. Leidenschaftlich: Adrián, mach mir ein Kind. Adrián spannt einen Regenschirm auf. Gina versteht die Geste nicht. Willst du mich nicht nach oben bitten? Schweigen. ADRIAN Ich kann nicht. Oben... oben ist, eine andere, oh Gott. Eine andere Frau. GINA Marta. ADRIAN Wie bitte? GINA Marta, deine Frau? ADRIAN Wer? GINA Deine erste Frau. ADRIAN Nein, nein. Nein. GINA Werdann? ADRIAN Das ist vollkommen belanglos. Ich schwör dir, es ist belanglos. GINA Sag es mir. ADRIAN Sie hat keinen Namen, sie existiert nicht. GINA ...mitten ins Gesicht und sagst ihm für immer...

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ADRIAN Was? GINA ...Lebewohl: Hast du gehört? Es ist aus, für immer. Sie holt mit dem Blumenstrauß nach ihm aus, aber er weicht zurück Sie verliert das Gleichgewicht und stürzt zu Boden; aufstehend Scheiße, mein Absatz. Adrian bückt sich, um ihn aufzuheben. Finger weg und stehenbleiben, du Schwein. ADRIAN Dein Gesicht, Gina. Du hast dich im Gesicht verletzt. Gina tastet sich das Gesicht ab. In ihrem Gesicht sind fünf Blutspuren. Nein, es waren nur deine von den Dornen blutigen Finger... GINA ES ist nur Blut, Adrián. Na warte, bleib stehen, du Schwein. Adrián gehorcht und bleibt ruhig unter seinem Schirm stehen, während Gina sich vor ihm aufbaut und den Schlag bemißt. Sie wirft ihm die Rosen ins Gesicht, dreht sich um und entfernt sich hinkend im Regen. Wetterleuchten erhellt ihren Abgang. 4 Die Wohnung. Ismael und Andrea bei Kerzenlicht. Ismael schaut auf seine Armbanduhr. Andrea sieht auf ihre Armbanduhr. ANDREA Nun... sie übernachtet bei ihm. Na komm. ISMAEL Dann hätte sie angerufen, um uns Bescheid zu sagen. ANDREA Die Leidenschaft ist mit ihr durchgegangen. ISMAEL Sie hätte bestimmt angerufen. Wieviel Zeit nimmt schon so ein Telefonat in Anspruch. Eine Minute. Andrea betrachtet ihn mit zärtlicher Ironie. Vielleicht müssen wir zum Roten Kreuz gehen... ANDREA Morgen wissen wir mehr. Sind die Decken hier im Schrank? ISMAEL Ja. ANDREA Ich nehme die Kerze mit. ISMAEL Ich rufe auf jeden Fall mal beim Roten Kreuz an. ANDREA Küßchen. Ab. Ismael geht in die Küche. Er telefoniert. ISMAEL Entschuldigung, Señorita, die Nummer vom Roten Kreuz. 39511, danke. Ich möchte eine Suchmeldung aufgeben... Ja danke... Ich möchte eine Suchmeldung aufgeben. Ja danke. Gina Benitez. Seit drei Tagen, ich meine drei Stunden.

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In der Dunkelheit öffnet sich die Tür. Gina tritt ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Sie stößt an ein Möbelstück, so daß ein Teller klappernd zu Boden fällt. Der Strom kehrt zurück. Ismael kommt mit dem kabellosen Telefon aus der Küche. GINA Scheiße. Ihr Make-up ist verschmiert, sie ist triefnass und hat wirres Haar Was siehst du mich so an? ISMAEL Was ist dir passiert? GINA Nichts. Das Leben ist mir passiert. Ich bin im Regen nach Hause gelaufen. Ist das deiner Erfahrung nach schlecht? Ich habe mich nicht umgebracht, ich bin hier, und du kannst jetzt gehn. Besser gesagt: Geh jetzt, ja? ISMAEL Warum nimmst du nicht ein heißes Bad und legst dich dann schlafen. Gina reißt ihm das Telefon aus der Hand, läßt sich auf das Sofa fallen und wählt eine Nummer. GINA Julián? Mein kleiner Julián. Mami. So, du findest es scheußlich, daß es bei dir drei Uhr morgens ist? Also, hier ist es noch später, nämlich vier. Wer ist bei dir? Ich höre da eine Stimme. Welche Margaret? Margaret wie? Délawer? Nein. Deláwer. Ja Deláwer, das sagt mir was. Deláwer. Deláwer. Na gut. Und was macht ihr? Ach so, Trigonometrie. Und den Rest der Nacht werdet ihr also mit Trigonometrie verbringen, du und Margaret Delawer? Wieso lügst du mich an, Julián? Wieso müßt ihr Männer immer lügen? Dein Vater hat mich nie angelogen. Sie sieht den Hörer an: Julián hat eingehängt. Sie hängt auch ein und bleibt reglos sitzen. Er hat mich nie angelogen, glaube ich. Zu Ismael, der zu ihr geht, um ihr einen Cognac anzubieten. Du solltest doch längst weg sein, oder? Sie steht auf und schaltet mit einem Fußtritt das Radio ein. ISMAEL Es müßte mal repariert werden. GINA Nein, es ist so. Es ertönt der Bolero .Desdichadamente' von Rafael Hernández. Erfüllt von den schmerzlichen Klängen des Bolero überläßt Gina sich ihrem Liebeskummer, bis sie Ismael wieder bemerkt, der sie die ganze Zeit ansieht. Zunächst ist ihr das peinlich. Dann sieht sie den jungen Mann noch einmal aufmerksam an. Ohne die Augen von ihm zu wenden, streift sie den Regenmantel ab. Ismael strafft sich. Dann trinkt er seinen Cognac in einem

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Zug aus und geht auf sie zu. Sie beginnen langsam und zärtlich, aber ungeschickt miteinander zu tanzen: Ismael kann keinen Bolero tanzen. Du kannst nicht führen. ISMAEL Führe du mich. Sie tanzen weiter. Ihre Körper entspannen sich allmählich und werden vertrauter miteinander.

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In der Dunkelheit betritt Adrián mit einer roten Rose in der Hand den Raum. Er kommt näher. Er bleibt stehen und sieht das tanzende Paar an. Gina bemerkt ihn schließlich, tanzt aber weiter. ADRIAN Laß uns allein, Isaac. Ismael sucht Ginas Blicke. Gina löst sich von ihm. Laß uns allein, Isaac. Ismael geht zur Wohnungstür, während Adrian auf Gina zugeht. Der Bolero desdichadamente' geht zu Ende. Adrián umfaßt Gina und zieht sie an sich, ein zweiter Bolero erklingt: ,Una y otra vez' von Rodolfo Mendiolea. Zunächst reagiert Gina nicht auf Adriáns Annäherungsversuch, doch schließlich legt sie die Arme um ihn. Sie tanzen. Ismael, der sie heimlich beobachtet hat, geht lautlos davon. Adrián und Gina tanzen bezaubernd schön. Mit einemmal sehen sie aus wie ein professionelles Tänzerpaar aus der Music-Hall. Sie tanzen auf das Schlafzimmer zu, doch in der Tür drängt Adrián sich an Gina, nimmt ihre Arme und streckt sie in die Höhe, öffnet den Reißverschluß an seiner Hose, hebt ein Bein von Gina und will in sie eindringen. Von der Bolero-Musik begleitet, entfesselt sich ein wilder, erbitterter Kampf zwischen den beiden. Schließlich macht Gina sich los, läuft zum Radio und bringt es mit einem Fußtritt zum Schweigen. Lange Pause. Also gut. Was willst du? Sag mir, was genau du willst? GINA Ich will... ich will... jede Nacht... bei dir schlafen. Ich will jeden Morgen neben dir aufwachen. Ich will mit dir frühstücken. Ich will, daß du jeden Tag zum Essen kommst. Ich will mit dir in Urlaub fahren. Ich will ein Wochenendhaus auf dem Land. Ich will, daß du mit meinem Sohn Ferngespräche führst, daß ihr über Männersachen redet, daß ich dir einen Tee bringe, während du mit meinem Sohn ernste Gespräche führst. Ich will, daß du mit Marta Schluß machst, ich meine formal, daß du dich endlich von ihr scheiden läßt. Ich will ein goldenes Kettchen mit meinem Namen. Ich will endlich die Disziplin aufbringen, jeden Morgen eine Runde zu laufen. Ich will aufhören zu rauchen. Ich will, daß du mich nach Ciudad Juárez beglei-

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test, um das Grundstück für die Firma auszusuchen. Ich will noch ein Haus, am Meer. Und ich will neben dir aufwachen. Jeden Morgen die Augen öffnen und dich sehen. Ich will dich sehen, die Augen schließen und in Frieden einschlafen. Und ich will, daß du mich in zwanzig Jahren... in die Arme nimmst... und zu mir sagst: Das Leben ist schön. ADRIAN Und du wolltest ein Kind von mir. GINA Stimmt. ADRIAN ist gut. GINA Und ich will nicht vergessen, was ich will, weil ich den Kopf voll habe von dem, was du oder Julián oder Andrea oder all die anderen wollen. ADRIAN Ist gut. Laß die Pille weg. GINA Was? ADRIAN Ich denke, du willst ein Kind von mir. GINA Ach so, mir ein Kind machen, das ist einfach. Aber da du alles andere, worum ich dich bitte, sowieso nicht willst. ADRIAN Ich habe gesagt: Ist gut. Ist gut. Ist gut. Er geht auf sie zu. Ich will... mit dir leben. Das ist wahr. Das Leben mit dir ist schön. Er küßt sie behutsam. Sie streicheln sich Es wird ein Kind mit großen, wachen Augen sein. Es wird langsam dunkel.

III 1 Die Wohnung. Nachmittags. Während der Szene wird die Beleuchtung fast unmerklich immer röter. Gina öffnet die Wohnungstür. Es ist Adrián, er lehnt mit der Schulter am Türrahmen und hat eine Zigarette im Mund. Er setzt zu sprechen an, doch stattdessen hustet er. GINA Bist du erkältet? ADRIAN Etwas. GINA Dann hör auf zu rauchen. Seit wann rauchst du? ADRIAN Seit zwei Wochen. Er sieht sich nach einem Aschenbecher um. GINA Vergrab sie. ADRIAN Was? GINA Du sollst die Kippe im Blumentopf vergraben. Sie nimmt ihm die Zigarette aus dem Mund und geht ins Treppenhaus, wo sie sie in einem

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Blumenkübel vergräbt. Adrián will seinen Mantel ausziehen. Nein, warte. Behalte ihn an. ADRIAN Soll ich? GINA Du sollst. Laß uns einen Kaffee trinken gehen. Adrián überlegt. Dann geht er zum Sofa und setzt sich hin. ADRIAN Ich habe drei Monate nichts von mir hören lassen. Lange Pause Das ist eine lange Zeit. Aber es ist auch sehr kurz, wenn du weißt, was ich meine. Ich weiß, daß du dein Leben ohne mich lebst, daß es hier nicht ums Brauchen geht: du brauchst mich nicht. Und ich dich auch nicht. Unser Verhältnis existiert abseits von allem anderen. Es ist eine Zugabe, ein Geschenk des Lebens an uns beide. Unser Verhältnis ist in gewisser Weise nicht von dieser Welt. Es findet einen Zentimeter, eine Minute außerhalb von Raum und Zeit statt. Deshalb sind drei Monate viel und nichts. Denn erst gestern, erst gestern bin ich aus dieser Tür hier gegangen. Erst gestern habe ich mich aus deinem Körper zurückgezogen. Gina bleibt stehen. Ich habe gearbeitet: an der Uni, an zwei, drei schwierigen Leitartikeln für die Zeitung. Ich habe das Buchmanuskript noch mal durchgesehen und zum Verlag gebracht. Er wartet auf irgendeine Reaktion von Gina... Nichts. Das Buch über Villa. Ich hab es zum Verlag gebracht. Gina reagiert nicht. Und ich bin nach Juchitán gefahren, um über den Wahlbetrug zu berichten, und... Naja. GINA Drei Monate. Zwölf Wochen. Hundertzwanzig Tage. Vergiß die Tage: hundertzwanzig Nächte. ADRIAN Du lehnst da an der Wand im rötlichen Licht der untergehenden Sonne... und siehst aus, wie eine griechische ... Gina löst sich mit einem Ruck von der Wand und geht zum Sofa. Priesterin. GINA Es ist drei Monate her, daß du angerufen hast, um mir zu sagen, daß du hierher unterwegs bist. Es war am Tag, nachdem wir so viele gemeinsame Beschlüsse gefaßt haben. Du hast gesagt, du müßtest dringend mit mir reden. Wie sagtest du... ernsthaft mit mir reden? Nein, entscheidend, das ist das Wort, das du benutzt hast, ein entscheidendes Gespräch mit mir führen. Ich habe den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Gelogen: Ich habe bis zum nächsten Morgen auf dich gewartet. ADRIAN Weißt du, es war... du wirst es mir nicht glauben. GINA Natürlich.

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ADRIAN Was ganz Unglaubliches. Ich war unterwegs hierher. Ungefähr da, wo die Bahngleise fast parallel zur Straße verlaufen, du weißt schon. Naja, es war unwahrscheinlich viel Verkehr, man kam kaum von der Stelle, nur millimeterweise ging es vorwärts. Und ich mit dieser wahnsinnigen Erektion, die ich immer bekomme... dieser wahnsinnigen Erektion, die ich immer bekomme, wenn ich auf dem Weg zu dir bin. Ich sah mich nach den Gleisen um und sah einen Mann mit einem Strohhut, der neben dem Bahngleis ging. Dann kam der Zug... der Zug kam angerast, und ich sah, plötzlich sah ich den Kopf dieses Mannes durch die Luft fliegen; es war nur ein ganz kurzer Moment: Der Kopf flog, und als die Wagen worbeiratterten, konnte ich den Mann nicht mehr sehen. Ich hab mich am Lenkrad festgeklammert, als wäre mir der Teufel persönlich begegnet. Als der Zug vorbei war... war der Mann verschwunden. Dann wußte ich überhaupt nichts mehr, auch nicht mehr, wohin ich fuhr, ich glaubte halluziniert zu haben. Ich habe versucht, vom Ring abzufahren und an die Stelle bei den Schienen zu kommen, wo der Kopf liegen mußte und die Leiche. Ich bin nie angekommen. In Bondojito habe ich mich heillos verfahren. Pause. So war es. GlNA Und die übrigen hundertneunzehn Tage? ADRIAN Tja... Ich schwör dir, ich weiß es nicht. Ich nahm diesen Vorfall am Stadtring als schlechtes Omen. Ich bekam Angst. Du weißt doch, ich bin abergläubisch. GlNA Das höre ich zum ersten Mal. ADRIAN Na gut, ich bin's aber tatsächlich. Die nächsten Tage und Wochen... hab ich wie ein Besessener gearbeitet. Ich weiß nicht, ich hatte das Gefühl, ich müßte bald sterben. Ich hatte diese sonderbare Gewißheit, daß ich bald sterben würde... Und vorher wollte ich noch das Buch fertig schreiben. Ich habe es auch fertig geschrieben und zum Verlag gebracht. Er wartet auf ihre Reaktion, die ausbleibt. Aber, ehrlich, ich weiß es nicht, ich weiß nicht, was da passiert ist. Und schließlich hättest du mich ja auch anrufen können. GlNA Wir haben eine Vereinbarung. ADRIAN Du hättest dich nicht dran zu halten brauchen. GlNA Einmal habe ich mich nicht dran gehalten, und das bereue ich heute noch.

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ADRIAN geht bis ans Ende des Zimmers, sammelt sich, um mit seinen Erklärungen fortzufahren Es ist wirklich merkwürdig: Wenn ich an dich denke, fallen mir nur deine Hände, dein Mund, deine Brüste, deine Beine oder irgendein anderer Körperteil ein. Und erst wenn du vor mir stehst, vereint sich alles zu einer bestimmten Person, die atmet und denkt, die lebendig ist... Es macht mir Angst, zu wissen, daß du getrennt von mir existierst. Gina bricht in Tränen aus und flüchtet vor Scham ins Schlafzimmer. GlNA Komm mir nicht nach! ADRIAN Gehst du Tee kochen? Nein, nein, das glaube ich nicht. Adrián setzt sich auf das Sofa. Etwas drückt ihn. Er sucht und findet unter dem Sitzkissen einen Würfel und ein Herz aus Holz. Mein Gott, wie kindisch. Er schiebt den Würfel und das Herz rasch unter den Sitz und täuscht Gelassenheit vor, Gina kommt zurück. GlNA Adrián, sieh mal... ADRIAN Das mit unserem Kind. GlNA Nein. Das war nur eine verrückte Idee. ADRIAN Überhaupt nicht. Wieso? Ich habe schon mit Marta, meiner Frau, geredet. GlNA Ich weiß, wie sie heißt. ADRIAN Sie hat gesagt, sie hätte keine Probleme damit. Sie hat gesagt, daß wir ruhig ein Kind haben könnten. GlNA gedemütigt Sie... sie hätte keine Probleme damit... mit einem Kind, das ich bekommen würde. Das kann ich mir vorstellen. Ich wußte nicht, daß du so ein enges Verhältnis zu Marta hast, ich meine, immer noch. ADRIAN Wir sind Freunde. Weiter nichts. Ich erzähl dir nur, daß ich es ihr gesagt habe, damit du weißt, daß meine Absichten ernst sind. Sie sind ernst. Jedenfalls das mit dem Kind. Alles andere wollte ich mit dir besprechen, in Ruhe, Punkt für Punkt mit dir bereden. Mit dem Wochenendhaus auf dem Land bin ich einverstanden, aber... GINA Adrián, jetzt laß mich mal was sagen. ADRIAN Setz dich hin. GlNA Nein, ich will nicht. ADRIAN Na schön, dann bleib stehen, es ist deine Wohnung. GINA Adrián, komm... komm... komm bitte nicht mehr hierher. Ich möchte auch nicht mehr..., daß du mich anrufst.

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ADRIAN Heißt das... ich soll nicht mehr... ? GlNA Kommen, nicht... mehr. Nicht... mehr. ADRIAN hysterisch Na, das ist ja fein, ich soll nicht mehr... Ist gut, ich komme nicht mehr. Einverstanden, nicht mehr. Sehr erfreut, dich kennengelernt zu haben. Ich komme nicht mehr, nicht mehr. Okay! Vollkommen aufgebracht über das ,nicht mehr' öffnet Adrián die Wohnungstür und will gehen. Doch trifft er dort auf Pancho Villa, der ihn erwartet hat. VILLA Sachte, sachte, mein guter Pineda. Ganz ruhig, ganz gemütlich. Wozu wollen Sie die Weiber, wenn nicht für's Gemüt? ADRIAN kehrt zu Gina zurück Es tut mir leid, daß ich mich drei Monate lang nicht gemeldet habe, aber... Es läßt sich alles wieder einrenken. GINA Nein. ADRIAN Alles. GINA Nein! VILLA Es sieht zwar nicht so aus, aber sie gibt schon nach. Klimpern Sie nur weiter auf ihren Saiten, immer ein kleines bißchen mehr und auf einmal singt sie... ADRIAN versucht sie zu berühren. Sie weicht aus und nimmt fünf Meter Abstand Verdammt noch mal: Du hast immer zu allem Ja und Amen gesagt. Und jetzt heißt es plötzlich nein, nein und noch mal nein. Ich soll nicht mehr zu dir kommen. Du willst kein Kind von mir. Ich darf dir noch nicht mal was Nettes sagen. Dich anfassen schon gar nicht. Laß mich vorbei, verflucht. GINA Adrián... ich bin verliebt. Lange Pause. VILLA Undankbares Luder... Er dreht sich um. Er hat einen Dolch im Rücken stecken. ADRIAN General. VILLA Es ist nichts. Nur so ein verdammtes Messer, ich zieh es mir gleich raus. Er macht Verrenkungen, um den Dolch zu erreichen. ADRIAN Wie bitte, ich glaub ich hab nicht richtig gehört. Du bist was? GINA Verliebt. ADRIAN Ich bitte dich, in deinem Alter, eine solche Ausdrucksweise. Verliebt. Kannst du mir das bitte erläutern? GINA Es ist ganz einfach: Ich bin verliebt.

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ADRIAN Definiere mir bitte den Begriff verliebt. Definiere ihn mir funktional. GlNA Das ist ganz einfach. ADRIAN Ist es überhaupt nicht. Ganze Bibliotheken kann man mit Werken über diesen Geisteszustand füllen, von Piaton bis Freud und die Postfreudianer, über Kierkegaard und Marcuse. Verliebt. Vielleicht meinst du sexuell erregt. Es gelingt Villa, sich den Dolch aus dem Rücken zu ziehen. Adrian fährt mit größerer Selbstsicherheit fort. Vielleicht empfindest du für jemanden eine gewisse sexuelle Neugier. Verliebt: das ist dummes Zeug, Gina. Ich erwarte eine funktionale Begriffsdefinition von dir. GINA ... ADRIAN In wen? GINA ... VILLA Mal sehn, ob sie sich zeigen, die Hurensöhne. ADRIAN In diesen kleinen Idioten mit dem Ohrring, wieso frage ich überhaupt. Dieses tuberkulöse, schwule Jungchen. Hesekiel? GINA Ismael. Ein Schuß. Villa fährt hoch und dreht sich um die eigene Achse. Er ist am oberen Unterarm von einer Kugel getroffen worden. VILLA Scheiße. Und ich hier mutterseelenallein... Während er sein Halstuch abnimmt, um sich den Arm zu verbinden, blickt er sich ängstlich um. ADRIAN Na schön, laß uns das ganze noch mal mit kühlem Kopf analysieren, ja? Ich lasse drei Monate nichts von mir hören, und du lachst dir einen Bengel im Alter deines Sohnes an. GINA Älter. ADRIAN Ein Jahr älter. Willst du ihn unterhalten? GlNA Nein, wieso sollte ich? Villa beginnt seine Pistole zu laden. ADRIAN Wird er deinem Sohn die Uni bezahlen? GlNA Wir haben getrennte Kassen. Außerdem würdest du dich wundern, wieviel er verdient. Mehr als du. ADRIAN Ach so, sein Chef zahlt ihm ein gutes Gehalt. Ich meine natürlich seine Chefin. GINA Es geht nicht um Geld. ADRIAN Willst du ihm das Gehalt erhöhen? Oder ihn vielleicht gleich zum Teilhaber machen?

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GlNA Wir haben getrennte Kassen, hast du nicht gehört? ADRIAN Sicher, schließlich wollt ihr ja nicht heiraten... Gina lächelt... VILLA Wasser, ich brauche Wasser. Er geht in die Küche Und Sie, weiter so, Hauptmann, geben Sie's ihr. ADRIAN Na schön, und was hat das mit uns zu tun? Ich sag es noch mal: Das besondere an unserem Verhältnis ist ja, daß es außerhalb des normalen Lebens stattfindet. Des normalen Lebens oder Sterbens. Wir befinden uns jenseits. Nur Du und ich, sonst nichts. Du und ich. Er ist mir egal. Also, wenn du ihn liebst... ich akzeptiere das. Villa kommt aus der Küche und wird von einem weiteren Schuß getroffen. VILLA Verfluchte Esel, Scheißkerle. Jetzt schießen Sie schon auf die eigenen Leute. ADRIAN Ich kann sie zu nichts zwingen, General. Sie ist eine intelligente Frau und steht auf eigenen Füßen. Womit soll ich sie zwingen? VILLA Was heißt womit? Faßt sich zwischen die Beine Mit Gefühl. ADRIAN Naja, das versuche ich, aber... VILLA Wieso wollen Sie die Alte teilen. Niemals. Weder die Stute noch die Knarre. ADRIAN Genau aus dem Grund haben Sie die Macht verloren, weil Sie zu stur sind, um zu verhandeln. VILLA Im Gegenteil, Freundchen. Mit diesen feinen Pinkeln wird nicht verhandelt, die zwingt man oder erschießt sie. Wenn man denen den kleinen Finger reicht, nehmen sie die ganze Hand. GlNA Ich will's dir lieber gleich sagen. VILLA Jetzt kommt's. ADRIAN Was denn noch? VILLA Nicht ausreden lassen, verflucht. Sie müssen sie schlagen, sie küssen, sie unterbrechen, ihr sagen: Oh du Miststück, wie schön du bist, wenn du dich ärgerst. ADRIAN Oh du Miststück, wie schön du... GlNA Wir ziehen zusammen. Villa wird von einem dritten Schuß getroffen. ADRIAN reißt die Augen auf ihr zieht zusammen? Hier? GlNA Ja. ADRIAN Ahm... ist gut. Ist gut, laß uns...

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VILLA Ist gut? Schüttelt ihn Ist gut, du Idiot? Na, dann war's das für mich... Er bewegt sich mühsam und sichtlich unter den Verletzungen leidend auf die Wohnungs tür zu. GlNA Was wolltest du sagen? ADRIAN hin und her zwischen Gina und Villa Wir könnten uns woanders treffen. Ich bin nicht eifersüchtig. Villa wird von einem weiteren Schuß getroffen. VILLA Au...! GlNA entschieden Nein. Noch ein Schuß. ADRIAN Warum nicht? Ich mach es Dir leicht. GlNA Weil ich bis über beide Ohren verliebt bin. Der nächste Schuß streckt Villa nieder. Pause. Der total durchlöcherte Villa steht mühsam vom Boden auf. ADRIAN Ist er hier? GlNA Wer? ADRIAN Im Schlafzimmer und hört alles mit? GlNA Wer? VILLA Komm schon raus, du Mistkerl, ich weiß, daß du da bist. GlNA Es ist niemand da. Villa geht ins Schlafzimmer. Auch Adrián geht auf das Schlafzimmer zu, aber Gina verstellt ihm den Weg. Er schiebt sie zur Seite und geht hinein. Villa zerrt Ismael aus dem Schlafzimmer und tritt erbarmungslos auf ihn ein. Dann öffnet er die Wohnungstür und wirft ihn hinaus. Adrián kehrt ins Wohnzimmer zurück. Es ist niemand da. Wie kommst du darauf? VILLA Erledigt. ADRIAN Danke. Er geht im Wohnzimmer auf und ab, räumt auf und richtet wieder her, was in Unordnung geraten ist. GINA öffnet die Wohnungstür Adrián... bist du im Auto gekommen? ADRIAN Es steht direkt gegenüber. Ich gehe ja schon. Setz dich. Bitte setz dich. Ich schwör dir, daß ich schon so gut wie weg bin. Ich will dich nur noch ein einziges Mal ansehen. Ein, zwei Augenblicke, und wenn es sein muß, zum letzten Mal. Gina schließt die Tür und lehnt sich mit dem Rücken daran. Adrián setzt sich auf das Sofa. Villa geht auf Gina zu. Langes Schweigen. Ich will dich nur noch ein einziges Mal ansehen... Die von der untergehenden Sonne rötlich gefärbten Vorhänge werden sanft von der Zugluft bewegt. Dich ansehen.

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Langes Schweigen, nur Villas bedrohlich schwerer Atem ist zu hören. GlNA bekommt Angst Tu es nicht. ADRIAN Tu nicht was? VILLA Ich sehe dich nur an. ADRIAN Es passiert dir nichts, das schwör ich dir. VILLA Ich beobachte nur, wie das Licht langsam dein Gesicht verändert. Du bist immer dieselbe Frau. Auch wenn ich dich durch andere ersetze, immer ist es dieselbe, eine einzige Frau... ADRIAN Weißt du, in diesem Dämmerlicht siehst du... besonders... VILLA Grünaus. ADRIAN Schön aus. Wie eine Statue... VILLA AUS o x y d i e r t e m K u p f e r .

ADRIAN Schön und... VILLA Grün. ADRIAN Und so... VILLA Eine Frau wie jede andere, compañero. Sie werden gehen, und sie wird für den Rest ihres Lebens wie eine Statue an dieser Tür lehnen, hören Sie: an dieser Tür lehnen wie ein Standbild der Erwartung selbst; sie wird hier in ihrer kleinen Welt eingesperrt bleiben und Sie, ja Sie werden andere willige Arme finden. Die gibt es immer. Jüngere, zärtlichere Arme und Augen, die unschuldiger blicken. ADRIAN Gina... du bist meine letzte Liebe... VILLA Unfug! Wir sind verletzt, aber noch nicht tot. ADRIAN Ich werde mich nie wieder so auf jemanden einlassen können. VILLA Sie hören jetzt auf der Stelle mit diesem Blödsinn auf und bringen mich erstmal zum Arzt. GlNA Vielleicht, wenn ich meine Wünsche geäußert hätte... Wenn ich nicht, wie du vorhin sagtest, zu allem Ja und Amen gesagt hätte... Wenn ich dich gebeten hätte, mir zu geben, was ich wirklich brauche, nicht alles auf einmal und in einer Nacht, sondern nach und nach... und dir die Chance gegeben hätte, nach und nach Ja oder Nein dazu zu sagen... Aber... ich hatte Angst vor dir. ADRIAN Angst? Vor mir? GlNA Ich hatte vor allen Männern Angst, die ich geliebt habe. Vor meinem Vater, vor meinem Bruder. Vor Julián. Vor dir. ADRIAN Aber warum?

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GlNA denkt angestrengt nach Weil, ich weiß nicht... weil ihr größer seid als ich. ADRIAN Ach Gina, Gina, Gina. GlNA Zum ersten Mal hab ich Vertrauen zu einem Mann, aber leider bist nicht du es. VILLA Oh, was für ein verdammt qualvoller Todeskampf, Hurensöhne... GINA Nein, Adrián, weine nicht, Adrián. Villa wird von einem weiteren Schuß getroffen. VILLA im Todeskampf Diese Schande! ADRIAN ES sind Tränen des Zorns. Schwer atmend Das darfst du mir nicht antun. Halb erstickt Nicht mir. GINA Adrián, ich möchte dich jetzt wirklich bitten, zu gehen. ADRIAN Das darfst du nicht. Das darfst du nicht. Ich warne dich, du darfst es nicht. VILLA Genauso, compañero, so. ADRIAN Du darfst es nicht, weil... VILLA Los, bring sie um, compañero! Reden können wir später. ADRIAN Du kannst mich nicht behandeln wie diesen Bengel, der... VILLA Mach schon. Er nimmt seine Pistolentasche. Adrián fährt mit der Hand in die Manteltasche, zieht sein Buch wie einen Revolver heraus. Villa zieht die Pistole und schießt, aber sie ist nicht geladen. GINA Was ist das. Das Buch über Villa? ADRIAN

...

GlNA Du hast mir nicht gesagt, daß es schon erschienen ist. Du hast nur erzählt, daß du es zum Verlag gebracht hast, aber nicht, daß es schon herausgekommen ist. Villa läßt sich auf einen Sitz fallen. Adrián reicht Gina das Buch. Ich werde es sehr aufmerksam lesen. ADRIAN vor Groll halb erstickt Du kennst den Text. GlNA Egal. Ich werde es sehr sorgfältig lesen. Schön, nicht? Auf dem Umschlag Villa hoch zu Roß. Villa kommt neugierig näher, um sich zu betrachten. Und auf der Rückseite sitzt du am Schreibtisch. Du siehst sehr interessant aus. Und sehr attraktiv. Der Schrifttyp ist perfekt. Courier 11 Punkte. Wirklich gut zu lesen. ADRIAN Courier super. Adrián entfernt sich. Er geht im Raum auf und ab und betrachtet die in der Abendsonne rot gefärbten Vorhänge. GINA Das freut mich für dich, Adrián. VILLA heimlich zu Adrián Jetzt schaffen wir's.

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ADRIAN kleinlaut Ich hab es dir gewidmet. GINA sehr überrascht Das Buch? Im Ernst? VILLA Sei kein Idiot, verdammt. GINA Ich hätte nie gedacht... ADRIAN Nein, nicht wahr? An dem Tag, als ich dich versetzt habe, hatte ich vor, dich zu fragen, ob wir heiraten wollen. Das hättest du wohl auch nicht gedacht, nicht wahr? GINA Aber Adrián... ADRIAN Was? GINA Ich meine, du bist doch noch verheiratet, Adrián. VILLA richtet sich auf Na und...? ADRIAN Das wollte ich auch regeln. Die Sache ist, daß du in Wirklichkeit nie an mich geglaubt hast. GINA Nun... nein, ich glaube nicht, ich habe nie dran geglaubt. Ich sage dir, ich hätte mir niemals träumen lassen, daß du mir das Buch widmest und jetzt... weiß ich nicht..., was ich davon halten soll und was ich tun soll... Ich hätte nicht gedacht, daß ich für dich so... wichtig bin... Sie setzt sich gerührt neben Adrián. Er legt ihr den Arm um die Schultern. Villa bleibt zwischen den beiden und genießt die Versöhnung des Paares. Gina schlägt das Buch auf und blättert in den ersten Seiten, liest. Dann schüttelt sie den Kopf. Ach so, mit der Hand. Du hast mir die Widmung mit der Hand reingeschrieben! „Für eine geliebte Freundin, die Pancho Villa so leidenschaftlich verehrt wie ich." VILLA Das ist sie verdammt noch mal nicht, du Esel. GINA Nein, Adrián. Jetzt möchte ich dich wirklich bitten, zu verschwinden. VILLA Bringen Sie sie um, Sie haben keine Wahl! ADRIAN Es ist verantwortungslos, sich dermaßen von Trieben überrollen zu lassen. Wir hatten eine wunderschöne, freie Beziehung, da mußt du dich von deinem weiblichen Nestbauinstinkt überrollen lassen und opferst unsere Leidenschaft einem Verhältnis, in dem es ums gemeinsame Badezimmer, Babyfläschchen und Waschpulvergutscheine geht. Du mußtest mich in die Falle locken und dich aufführen ,wie eine richtige Frau'. GINA Deshalb kannst du jetzt gehen, Adrián. VILLA Deshalb bringen Sie sie jetzt eigenhändig um.

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ADRIAN Ist gut, ich laß mich scheiden. Das ist sowieso etwas, was ich schon lange in Angriff nehmen wollte. GlNA Meinetwegen nicht. ADRIAN An dem Tag hatte ich vor, dich zu fragen... GlNA Adrián, geh jetzt bitte. VILLA Adrián, bitte, bring sie jetzt endlich um... Adrian sieht sich befremdet um. Er nimmt von Gina und Villa Abstand und geht nervös und in sich gekehrt im Wohnzimmer auf und ab. GlNA Adrián. VILLA Adrián. Pause. GlNA Adrián, worauf wartest du, Adrián? VILLA Worauf wartest du, Adrián? Pause GlNA Du kannst jetzt gehen, Adrián. VILLA Du kannst ihr jetzt den Hals umdrehen, Adrián. Adrián läuft zum Fenster und springt hinaus. Lange Pause. Gina läuft zum Fenster, schließt es, dreht sich verwundert um. GlNA Ich habe doch immer im Erdgeschoß gewohnt. Villa sackt in sich zusammen. Er ist endlich tot, vor Scham gestorben. Langsam Dunkelheit. IV 1 Nacht. Langsam nimmt die elektrische Beleuchtung der Wohnung an Helligkeit zu. Es klingelt an der Tür. Andrea kommt aus dem Schlafzimmer, geht quer durchs Wohnzimmer, trinkt im Vorbeigehen einen Schluck aus einer Cola-Flasche und öffnet. Adrián lehnt am Türrahmen. Er trägt einen alten, verbeulten Filzhut, einen Pullover ohne Hemd und einen Dreitagebart. ANDREA Du siehst sie... unverwandt an. Dein Atem geht schnell. Du küßt sie. Sie sagt: Warte, setzt dich, ich mach uns einen Tee. ADRIAN Sie hat dir alles erzählt, Andrea... Nicht wahr? ANDREA Andrea Elias, Adrián. Warum nicht. Sie ist meine beste Freundin. ADRIAN ANDREA

Ist sie z u Hause? Nein.

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ADRIAN Sie ist also nicht zurückgekommen, seit ich mit dir telefoniert habe. ANDREA Mach es dir bequem. Sie geht in die Küche.

Verwundert über ihren autoritären Ton gehorcht er, hängt seinen Trenchcoat in die Garderobe. ADRIAN Um wieviel Uhr kommt sie zurück? Er geht zum Fenster und lehnt sich hinaus, doch wird ihm in Erinnerung an seinen mißlungenen Selbstmordversuch übel, und er tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. Erdgeschoß. Wütend Um wieviel Uhr kommt sie zurück? Andrea kommt mit dem Teeservice aus der Küche. Sie stellt das Tablett auf den Couchtisch und kniet sich zum Einschenken auf den Boden. Um wieviel Uhr... ANDREA Sie ist weggefahren und hat mich gebeten, dir nicht zu sagen, wo sie ist, falls du anrufst. ADRIAN

Wieso das?

ANDREA Weil du ihr vor vier Wochen um zwei Uhr morgens die Haustür eingetreten hast, als sie nicht öffnen wollte. ADRIAN Das Teekochen geht bei dir aber schnell. ANDREA Ich habe das Wasser aufgesetzt, als du dich angekündigt hast.

ADRIAN Ich war betrunken. Ich war verzweifelt. Ich mußte einfach mit ihr reden. Mit jemandem... mit jemandem, der mich versteht. ANDREA Zwei Löffel Zucker?

ADRIAN Jemand, der das Glas halbvoll sieht und nicht halbleer. Ich war an dem Abend auf der Beerdigung von Pancho Villa. ANDREA Zwei Löffel Zucker?

ADRIAN Ich meine, es war... Villas Todestag... der Gedenktag an Villas Begräbnis... auf dem Friedhof. Andrea schaufelt Adrián fünf Löffel Zucker in den Tee... Es hat mir das Herz gebrochen, ich mußte Gina einfach sehen. Ist das Lindenblütentee? ANDREA Nein. Schwertlilie. Es ist Schwertlilientee, Adrián. Ist er nicht köstlich? ADRIAN riecht daran Nein. Ich trinke keinen Tee. ANDREA Sag bloß, es ist jemand zum Friedhof gekommen?

ADRIAN Viele. Ungefähr siebenhundert, die ganzen Kinder und Enkel von Villa. Es hat mich zu Tränen gerührt. Sie kamen von überall und dann standen sie da mit ihrer dunklen Haut und diesen türkisblauen, klaren Augen des Zentauren, wie zwei Tropfen Himmelblau,

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reinstes Himmelblau. Es waren auch einige, schon recht alte Witwen von ihm da. Und alle waren ganz still. Villas Kinder, Enkel und Frauen standen nur da und sahen sich das Grab an. Einfaches Volk, die meisten Analphabeten, in Sandalen oder abgetragenen Schuhen. Zum Heulen, wirklich. Was hat die ganze Revolution und Villas Kampf gebracht, wenn seine Enkel heute genauso abgerissen dastehen wie er als Kind? Anderen hat sie was gebracht, die Revolution, denen, die nicht an sein Grab gekommen sind: den Spießbürgern, den sogenannten besseren Leuten, die sich die Hände nicht schmutzig machen. Dieser ganzen Betrügerbande von da oben. ANDREA Er hatte einfach zu viele Kinder, meinst du nicht? Er hat sich wie Unkraut vermehrt. ADRIAN Du weißt nicht, was du da redest. Alle seine Enkel halten sein Andenken in Ehren. Das ist das einzige, was ihr Leben lebenswert macht: die Erinnerung an den Zentauren. ANDREA Sag ich doch, das ist das einzige, was er ihnen hinterlassen hat: sein Andenken. Keine Schulbildung, keinen Beruf. Nur seinen unerreichbaren Schatten. ADRIAN Ein paar illustre Vertreter der Oligarchie haben gesprochen. ANDREA Und dann hast du dich betrunken. ADRIAN Sie haben mir das Herz gebrochen, die Kinder von Villa und, ja, dann bin ich in die ,Guadalupana' in Coyoacän gegangen und habe zwar nicht viel getrunken, aber, da ich sonst nie trinke, war ich sofort betrunken, und dann mußte ich Gina sehen, mit ihr reden. ANDREA Über Villa. ADRIAN Über Villa. Weißt du, daß das Grab leer ist? ANDREA Das von Villa? ADRIAN Ja, manche behaupten, in Wahrheit... ANDREA In Wahrheit...? ADRIAN Wäre er wieder aus dem Grab gestiegen. ANDREA Wie Jesus. ADRIAN Genau, wie Jesus auferstanden und aus der Erde gestiegen, mit all dem Kram behängt und dem Grabstein obendrauf. ANDREA Wie Pipila, der Revolutionsheld. ADRIAN Ja. Und daß er lebt. Daß er als heiliger Pancho Villa durch die Gegend reitet. Na, stimmt ja auch, oder? Mindestens durch unsere Phantasie reitet er und durch unsere Erlösungsträume. Ich weiß

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nicht, warum ich dir das alles erzähle. Ich meine, ich kenne dich doch gar nicht. ANDREA Schon gut. Ich höre dir gern zu. Deine Eloquenz ist hypnotisierend. Dein Roman über Villa hat mir übrigens auch gut gefallen. ADRIAN Ah. ANDREA Ich hab ihn an einem Stand im Schnellrestaurant gekauft und dort gelesen. Er ist ja nicht sehr lang. ADRIAN verärgert Wann sagtest du, kommt sie zurück? ANDREA Sie hat die Stadt verlassen. Das Land verlassen. ADRIAN Das ist nicht wahr. ANDREA Sie hat mir die Wohnung verkauft, mit allem drum und dran. Allem. Adrián geht nervös auf und ab. Er bleibt vor einem Bild stehen, das vorher nicht dort hing. Es ist ein Ölportrait von Plutarco Elias Calles mit Schärpe in den Nationalfarben quer über der Brust. Mein Großvater Plutarco. Einer von den feinen Herren. ADRIAN Hm. Wohin ist sie? ANDREA Sie hat mich gebeten, es dir nicht zu sagen. ADRIAN Ist sie mit diesem kleinen Idioten weggefahren? ANDREA Mit Ismael, ja. ADRIAN Wohin? ANDREA Ich darf es dir nicht sagen. ADRIAN Nach Ciudad Juárez, um das mit der Firma auf die Reihe zu bekommen. ANDREA ... ADRIAN Gut, ich fahre nach Ciudad Juárez und suche die ganze Stadt nach ihr ab. ANDREA Nur ist sie da nicht. Zwar wird in Ciudad Juárez die Firma aufgebaut, aber Gina hat beschlossen, sich ein halbes Jahr aus dem Geschäft zurückzuziehen und ist... weit weg. ADRIAN Wo? ANDREA Hör mal, ich darf es dir nicht sagen. ADRIAN Warum nicht? ANDREA Das sagte ich dir bereits, weil du ihr neulich die Haustür eingetreten hast. ADRIAN Na und? Es war mein gutes Recht zu versuchen, sie für mich zurückzugewinnen. Andrea, ich habe mich geändert. Ich weiß nicht,

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was sie dir über mich erzählt hat, aber ich habe mich inzwischen geändert. Ich brauche sie. ANDREA Okay. ADRIAN Endlich kann ich voller Demut, und ohne mich dessen zu schämen zugeben, daß ich sie brauche. Ich brauche sie. ANDREA Okay. ADRIAN Sag nicht dauernd okay, das ist amerikanisch. Du mußt mir helfen, Andrea. Ich bin verzweifelt. Verlassen. Verloren. Mir gehen die Haare aus. ANDREA Ah, du hattest vorher mehr Haare? ADRIAN Natürlich. Vor zwei Monaten hatte ich noch nicht so tiefe Geheimratsecken. ANDREA Wie furchtbar. ADRIAN Mir tut das Zahnfleisch weh. Es blutet. Ich war beim Zahnarzt, der hat gesagt, das sei psychisch. Mein Körper braucht sie. Meine Seele. Diese Melancholie, diese Sehnsucht nach einem Phantom zermürbt mich. Neulich hab ich allen Ernstes erwogen, mich zur transzendentalen Meditation anzumelden. Zum Mystiker zu werden, in meinem Alter, mit meiner Vergangenheit als dialektischer Materialist. ANDREA Und, hast du's gemacht? ADRIAN Nein. Dieser Guru hat mir nicht gefallen. Er hat mir zuviel gegrinst, wenn du weißt, was ich meine. ANDREA Nein. ADRIAN Ich meine, er kommt aus Indien, einem Land, wo die Leute verhungern, und er grinst... Was gibt es da zu grinsen? Vielleicht weil Indien keine Milch aber die Atombombe hat? Sie haben mir jedenfalls ein Video gezeigt, auf dem der Guru fünfundzwanzig Minuten lang ununterbrochen grinst, daraufhin habe ich dem Leiter die Fresse poliert. ANDREA DU hast den Meditationslehrer geschlagen... ADRIAN Mir ist die Hand ausgerutscht. Egal. Tatsache ist... ANDREA Dir ist es egal, aber dem Lehrer... ADRIAN hebt die Stimme, um sie zu übertönen Tatsache ist... ist, daß... ich immer das Leid der ganzen Welt auf meinen Schultern getragen habe, und jetzt muß ich die Last meines eigenen Schicksals tragen und merke, daß das keineswegs leichter, sondern schwerer ist, weil

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zum spezifischen Gewicht meines Schicksals noch das Wissen hinzukommt, daß es keineswegs unwichtig ist. Du verstehst mich nicht. ANDREA Durchaus. ADRIAN Ach, Quatsch. ANDREA Du willst sagen, daß dir die Mittelmäßigkeit deines Lebens zu schaffen macht.

Adrián geht über diese Interpretation verärgert im Raum auf und ab. ADRIAN Das trifft es nicht. Er setzt sich neben Andrea. Andrea, laß uns vernünftig sein. ANDREA

Okay.

ADRIAN

Aber?

ADRIAN Du weißt so gut wie ich, daß das mit Gina und diesem Bengel nichts werden kann. ANDREA Sieh mal, Adrián. Versteh mich nicht falsch. Ismael ist sicherlich nicht besser als du. Nach dem, was ich von euch beiden weiß, ist er bestimmt in vieler Hinsicht schlechter. Du bist reifer, jedenfalls körperlich, gebildeter - obwohl man sich im Zweifelsfalle fragt, wozu das nützt. Du bist der bessere Liebhaber, du bist als Liebhaber besser ausgestattet... hab ich gehört... naja, du weißt schon... Du bist eben besser im Türeneintreten und im Sich-vom-Balkon-stürzen. Aber... ANDREA Dieser Bengel ist fähig, sich ihr vollkommen hinzugeben. Er ist zur Hingabe fähig. Verstehst du? ADRIAN Der Kerl ist schwul, Andrea. Ich hab einen Riecher dafür. Ehrlich. Schwule Männer, die nicht wissen, daß sie schwul sind, haben so einen eigenartigen Geruch nach Äpfeln. ANDREA Das stimmt, nach Äpfeln. ADRIAN Nicht wahr? ANDREA Aber alle unberührten jungen Männer riechen nach Äpfeln, Adrián.

ADRIAN Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich morgens neben ihr aufwachen will. Ich will mit ihr frühstücken, ihre blöden Ringe um die Augen sehen... Andrea, hör mir zu: Sie braucht mich auch. Sie braucht einen reifen, intelligenten, geistreichen Mann, bei dem sie wachsen kann, oder? Sag du es ihr. Bitte. ANDREA nimmt seine Hände, vertraulich Nein, nein, Adrián. Ich bitte dich, hör auf mit dieser primitiven Art. In Wirklichkeit erträgst du nicht, der Verlierer zu sein. Das ist alles. Verlieren macht trübsinnig.

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ADRIAN Verlieren macht trübsinnig. ANDREA Trübsinnig und traurig. Verlieren ist schlecht für die Gesundheit, aber es gibt eine bestimmte Würde, die einem mitten in der Niederlage zuwächst. Eine gewisse Ehrenhaftigkeit, die man dann hervorbringt. Wenn man verliert oder krank wird, dann offenbart sich dieser Impuls, dieser kosmische Wille, trotz allem weiterzuleben. Dir hat er sich offenbart, als du gegangen bist, dich zur transzendentalen Meditation anzumelden, stimmt das? Aber die Sache hat dich nicht überzeugt. ADRIAN Dieser Guru trug Halsketten und die Haare bis hierher deutet zu den Schultern und eine Rose in der Hand. Eine Rose, das stelle man sich mal vor, eine Rose in der Hand. ANDREA Ja, und du solltest jetzt als erstes aufhören, dich um dein Schicksal zu sorgen und dich darum kümmern. ADRIAN Aufhören mich zu sorgen und mich kümmern... Wie? ANDREA streichelt ihm eine Wange Indem du Vergangenheit Vergangenheit sein läßt. Und dich auf das Jetzt einläßt, Adrián. Sieh nach vorn. Geradeaus. Direkt vor dich. Sie sehen sich lange an... Andrea berührt ihn an den Schultern. ADRIAN Sie sind verspannt. ANDREA Hart wie Stein. Sie massiert ihm die Schultern. Er stöhnt auf. ADRIAN Ich... ANDREA Schhh... Sie massiert ihn weiter. Besser? ADRIAN Besser. ANDREA Gut. Stell dich hin. Die Arme, laß sie hängen. Beide stehen auf. Andrea faßt ihn bei den Händen und schüttelt ihm die Arme aus Locker, locker. Leg die Arme um mich. ADRIAN zögert Ich kenne dich doch gar nicht. ANDREA Ich will dir die Wirbelsäule strecken. Leg die Arme um mich. Er legt die Arme um sie. Sie zieht dreimal an seinen Armen, um ihn zu strecken. Setz dich. Auf das Sofa. Die Hände. Sie setzen sich. Sie massiert ihm die Hände. Er schreit auf. Tief ausatmen. Ausatmen, ausatmen. Das hier sind Schmerzpunkte. Entspann dich. ADRIAN Ehrlich, ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Die Sache mit Gina... mit Villa bin ich auch fertig. Ich hab kein Lebensziel mehr... Es gibt keine lebenden Helden unter uns: Die Revolution ist tot, um es deutlich zu sagen, die von 1910 hat dein Großvater nieder-

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gemacht... Er schreit vor Schmerz auf, weil sie einen bestimmten Punkt berührt... ANDREA Tief ausatmen. Ausatmen, ausatmen. ADRIAN Und die Revolution meiner Generation, die hat gar nicht erst stattgefunden... Ja, es stimmt, mir macht die Mittelmäßigkeit zu schaffen. Es macht mir zu schaffen, wenn ich mich umschaue und sehe, was für eine Bande von Betrügern heute an der Macht ist. Verdammt noch mal, ich weiß nicht, wie ich darauf komme, daß die Welt gerecht sein könnte und nicht dieses Sammelsurium von Nichtigkeiten und Gemeinheiten, mit denen ich mich in meinen Artikeln seit fünfzehn, zwanzig Jahren rumschlage. Ich bin am Ende, Gina. ANDREA Andrea. ADRIAN Andrea. ANDREA schüttelt ihm die Hände aus Du warst ganz schön verspannt, mein Lieber. Pause. ADRIAN Weißt du was? Du siehst dem General Plutarco Elias Calles wirklich ähnlich. ANDREA Warum auch nicht. Ich bin seine Enkelin. ADRIAN Aber in dieser Beleuchtung kommt es stärker zum Vorschein. Da bilden sich seltsame Schatten. Er berührt mit dem Zeigefinger ihr Gesicht Hier um die Augen zum Beispiel, so daß sie schwärzer aussehen. Wie Baldrian. Klein und schwarz, fast blauschwarz, wie seine. Und auf der Oberlippe, besser gesagt, über der Oberlippe liegt ein Schatten, als hättest du ein Schnauzbärtchen wie der General. ANDREA Wirklich? ADRIAN Ein Schnauzbärtchen. Er streicht mit dem Zeigefinger über den vermeintlichen Schnauzbart Sie ist gerührt und küßt ihn auf den Hals. ANDREA Paß auf, Adrián... mal im Ernst. Wieso schreibst du nicht ein Buch über Don Plutarco? ADRIAN Über deinen Großvater? ANDREA küßt ihn zwischen den Sätzen auf den Hals Ich habe sein Privatarchiv, da in meinem Zimmer. Weil ich seine jüngste Enkelin bin und ihn kaum gekannt habe, hab ich es geerbt. ADRIAN Neben einigen anderen Besitztümern nehme ich an. ANDREA Selbstverständlich. Klar. Rückt von ihm ab Was ist? Aus der Küche ist Doña Micaela hereingekommen.

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MICAELA Fertig, Señora. ANDREA Ach, Doña Mica, ich gebe Ihnen Ihr Geld am Dienstag, ja? Ich habe es nicht klein. MICAELA Ja. Kann ich gehn? Geht auf die Wohnungstür zu... ADRIAN Bitte. MICAELA Danke. Geht. ANDREA Um auf das Archiv zurückzukommen. Sie umarmt Adrián Es sind unveröffentlichte Papiere dabei, sehr interessantes Material. Es sind Dokumente dabei, die seinerzeit geheim waren. Das Buch würde einiges aufdecken... ADRIAN Nein. Ich würde deinen Großvater in der Luft zerreißen. Dieser verfluchte, korrupte, durch Vetternwirtschaft hochgekommene Bourgois, der sein Vaterland verkauft hat, dieser Dreckskerl. Nein, ich würde kein gutes Haar an ihm lassen. ANDREA Ich glaube nicht, das ihm das etwas ausmacht. Er ist längst zu Asche zerfallen. Sie geht zum Bücherregal und sucht zwischen den Büchern, holt sein Buch über Villa heraus, schlägt es auf Ich zitiere dich. Ich habe die Stelle mit einem silbernen Lesezeichen und einem gelben Stift markiert. Sie schaltet mit einem Fußtritt das Radio ein. Es ertönt eine Habanera. „Plutarco Elias Calles erwies sich letztlich als der Hauptverräter der Revolution des Volkes von Zapata und Villa." ADRIAN Ja, das steht da. ANDREA SchönerSatz. ADRIAN Und wahr, obwohl gedruckt. ANDREA Beweise es mir. ADRIAN Wie bitte? ANDREA Du sollst es mir beweisen. Ja, ja, du verstehst mich richtig: arbeite das vertrauliche Material von Don Plutarco systematisch durch und beweise es mir, aber schriftlich. ADRIAN Aha. Lacht stumm, während er sie ansieht, geht näher an sie heran, ohne sie aus den Augen zu lassen J a. Das Schnauzbärtchen... ja. Sie küßt ihn flüchtig auf den Mund. Adrián reagiert nicht, weicht aber auch nicht aus. Ja. Sie küßt ihn noch einmal länger. Ein Kanonenrohr erscheint auf der Bühne. Langsam wird die Kanone hereingeschoben. Villa sitzt bleich wie ein Gespenst und von Schüssen durchlöchert rittlings auf dem Rohr... Könnte sein. Warum nicht? Könnte sein.

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Andrea küßt ihn kurz. Abrupt steht er auf und trägt sie ins Schlafzimmer, während die Kanone mit Villa mitten auf der Bühne stehen bleibt. Villa bedient die Handkurbel, um das Teleskoprohr auszufahren. Es ist riesig, beeindruckend lang und reicht quer über die ganze Bühne. Villa brennt die Zündschnur an... feuert ab. Das Kanonenrohr kippt vornüber. Andrea kommt in Ginas japanischem Morgenmantel aus dem Schlafzimmer. Ärgerlich, verwirrt. Eine kleine Kugel plumpst aus dem Kanonenrohr und rollt über den Boden. Sie geht zur Hausbar und gießt zwei Cognac ein. Adriän kommt mit Schuhen und Strümpfen in der Hand ins Wohnzimmer zurück. Pause. Ich... ich... konnte nicht, und ich glaube, ich... ich glaube, ich kann eine ganze Weile nicht geht zur Wohnungstür... aufhören, an sie zu denken. Er geht hinaus. Andrea bleibt, in jeder Hand ein Cognacglas, allein stehen. Dunkelheit.

Inés Margarita Stranger Malinche Deutsch von Veronica Beucker

Malinche

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Inés Margarita Stranger (1957) erhielt an der Universidad Católica in Santiago de Chile eine Ausbildung als Schauspielerin, schrieb Drehbücher für ein pädagogisches Programm des Fernsehens und begann, für das Theater zu schreiben. Ihr erstes Theaterstück Cariño malo (1990) wurde 1991 als chilenischer Beitrag zum Theaterfestival von Cádiz eingeladen. Malinche (1993) machte die Autorin über die Grenzen Chiles hinaus bekannt, und auch dieses Stück erhielt eine Einladung zum Festival von Cádiz. Ausgangspunkt für dieses Stück war der Gedanke, daß die offizielle Geschichtsschreibung immer nur von den großen sozialen Ereignissen berichtet, aber nicht das vermittelt, was die einzelnen Personen erfahren und erleiden. Es sei Aufgabe des Theaters, den Blick auf die Schicksale der Menschen zu richten. Wichtigste Lektüre und Anregung waren für sie u. a. die Schriften von Bartolomé de las Casas, dem Verteidiger der Indios zur Zeit der Eroberung, und das Buch der guatemaltekischen Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchü, in dem diese beschreibt, wie in Guatemala vor allem die Frauen während der anhaltenden Guerillakämpfe zu leiden hatten. Der Krieg, so Inés Margarita Stranger, ist der geheimnisvolle Feind, der nie deutlich sichtbar ist, aber das Leben einer jeden Frau beeinflußt.1 Der Titel des Stückes, Malinche, zieht den Bogen entsprechend weit. Historisch ist Malinche die Übersetzerin von Cortés, die 1520/21, als die Spanier Mexiko eroberten, zwischen den Indianervölkern und den Spaniern vermittelte. Als seine Geliebte brachte sie den ersten Mestizen Mexikaner - zur Welt. Im nationalen mexikanischen Diskurs symbolisiert sie die Erniedrigung der indianischen Bevölkerung und zugleich den Verrat am eigenen Volk. Stranger benutzt ihren Namen, um den historisch-sozialen Kontext der Frauen in Lateinamerika zu evozieren und die Vermittlerrolle zwischen den Kulturen hervorzuheben. Malinche wird in fünf Frauen verkörpert. Die Paradigmen für das unterschiedliche und widersprüchliche Verhalten der Mutter und ihrer vier Töchter hat Stranger dem Buch von Rigoberta Menchü entnommen. Sie symbolisieren die verschiedenen Verhaltensweisen, die Frauen in Zeiten der brutalen Unterdrückung wählen: Sympathisieren mit dem Feind und sexuelle Hingabe, Rückzug in die Religion, Auflehnung und Widerstand an der Seite der »guerrilleros' oder das Festhalten der Ereignisse als Chronistin. Auf der Bühne wird mit wenigen Details ein Raum entworfen, der die Gemeinschaft der Frauen abstrahiert, differenzierende zeitliche und örtliche Angaben im Text bleiben vage und der Phantasie des Publikums Pedro Bravo Elizondo: „Una entrevista con Inés Margarita Stranger y sus personajes femeninos," in LATR 3 0 , 1 (Fall 1996), S. 89-95.

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überlassen. Es ist ein symbolischer Raum, der mit den Elementen Wasser, Feuer, Erde ein Teil des Gestus wird - zur von Männern belagerten weiblichen Sphäre. Der Text ist wie eine Erzählung geschrieben, die verschiedenen Rollen nur mit einem Strich gekennzeichnet. — Sie sind betrunken, ~ Sie feiern das Ende der Schlacht, — Und jetzt wollen sie uns holen,

sagt das Mädchen, sagt die Mutter, sagt die älteste Tochter.

Auf diese Weise, nicht in herausgehobenen Rollen, sondern ,im Chor', wird das individuelle Schicksal der fünf Frauen zum Frauenschicksal schlechthin, das sich im Lauf der Geschichte Lateinamerikas ständig wiederholt. Die Mutter verkörpert die überall und zu allen Zeiten mißbrauchte Frau, wiederholt in der ersten Tochter, die zu vermitteln sucht und dann, wie sie, die Eroberung am eigenen Leib erduldet; die zweite findet Zugang zu den Fremden über deren Religion; die dritte verbündet sich mit dem Widerstand in den Reihen der Eroberer - der einzige Mann, der Zugang zur Gemeinschaft der Frauen erhält, ist der Deserteur, ebenfalls eine emblematische Figur -, der aus Liebe zu den Unterdrückten von der Grausamkeit der Eroberer abrückt; die vierte Tochter, Kind einer Vergewaltigung durch die Eroberer, akzeptiert die Tatsache, daß sie aus zwei verschiedenen Welten stammt, um Zeugnis zu geben: mit dem Wort der Fremden die eigene Kultur festzuhalten. 1993 erhielt Inés Margarita Stranger ein Stipendium, um in Barcelona bei José Sanchis Sinisterra und Joan Casas Dramaturgie, Regie und Schauspiel zu studieren. (Seit dieser Zeit plant sie ein Stück mit einem Thema aus dem Spanischen Bürgerkrieg). 1995 wurde mit großem Erfolg am Theater der Universidad Católica ihre Adaption von Hermann Hesses Siddhartha aufgeführt, dargestellt von Schauspielern und lebensgroßen Figuren. In Chile besuchen hauptsächlich junge Leute das Theater. Für dieses Publikum wollte Stranger ein Stück schreiben, das sich mit der Suche nach dem Sinn des Lebens befaßt und hat in Hesses berühmter Erzählung die Vorlage für ihre Theaterversion gefunden. Zur Zeit arbeitet sie an einem Stück, das einen Brauch der chilenischen Mapuche-Indianer, den Raub der Braut vor der Hochzeit (el rapto de la novia) aufgreift. Sie unterrichtet an der Escuela de Teatro der Universidad Católica in Santiago de Chile und leitet einen Kurs für kreatives Schreiben für junge Autoren. Veronica Beucker

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Vorwort Ich habe versucht, in diesem Stück wiederzugeben, was Frauen wie Rigoberta, Fresia, Anacaona oder Marina durch Krieg und Invasion erfahren mußten. Ich habe eine familiäre Situation erdacht, in der die Beziehungen der Figuren zueinander mir erlauben, die einzelnen Personen so zu entwickeln, daß sie, obwohl sie an diesen zuweilen sehr allgemeinen symbolischen Leitlinien entlang konstruiert sind, in einer Zeit und einem Raum leben könnten, die eine Aufführung möglich machen. Eine Familie, die nur aus Frauen besteht, gibt mir die Möglichkeit, eine Vorstellung davon zu vermitteln, was bei der Eroberung Amerikas zerstört wurde: Diese besondere Art, die Welt zu bewohnen, die noch in den Dörfern der Ureinwohner existiert, die getragen wird von Intuition und magischem Denken, einem Lebensgefühl, das man dem Weiblichen zuordnen kann. Im Verlauf des Schreibens wurde ich von den verborgenen und geheimnisvollen Kräften der Erinnerung mitgerissen. Ich entdeckte, daß das Vergangene in die Gegenwart hineinwirkt und daß das, was vor Hunderten von Jahren geschah, sich Tag für Tag wiederholt, daß jener Schmerz und jene Demütigung mir erstaunlich vertraut sind. Die Geschichte Lateinamerikas ist durchzogen von einer unterschwelligen Grausamkeit, die immer wieder hervorbrach und sichtbar wurde, als folge man obsessiv immer nur den alten Spuren. Eine ganz neue Form der Erinnerung überkam mich und zog mich fort in unbekannte, dunkle Bereiche. Ich wehre mich nicht dagegen, obwohl ich Angst habe, denn ich hoffe, in ihnen etwas von der verlorengegangenen Weisheit zu finden. Dieses Stück zu schreiben bedeutete für mich, einem Ritual zu folgen, das mir das Tor zu meinem eigenen Mythos öffnet. Ich weiß, daß dort die Fragen enthalten sind, auf die ich im Laufe meines Lebens eine Antwort finden muß. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich das Leben noch nicht verstehe. Der Text, den der Fremde im Delirium spricht, entstammt einer Schrift von Don Luis de Morales, 1541 Dekan von Cuzco, zitiert im Vorwort von „Bartolomé de las Casas. Obra Indigenista" spanische Ausgabe von José Alcina Franch, Madrid 1985.

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Malinche Personen: Die Mutter - die älteste Tochter - die zweite Tochter - die dritte Tochter - das Mädchen - der Fremde - der Bote Auf der Bühne sollte ein ritueller Raum geschaffen werden, der eine Familie als grundlegende Einheit repräsentiert. In diesem Raum finden die wichtigsten Funktionen des Lebens statt: essen, schlafen, beten, arbeiten, miteinander sprechen, erzählen, träumen, lieben und Kinder aufziehen. Dieser Raum ist gleichsam die symbolische Abstraktion einer Heimstatt. Ein Bereich für das Feuer und die Nahrungsmittel, einer zum Ausruhen, einer zum Wachen und einer für das Zusammensein. Wenn die Schauspielerinnen sich auf Türen oder Fenster beziehen, dann meinen sie damit den Zugang zu diesem Raum. Auf der Bühne sind weder Türen noch Fenster noch Wände zu sehen, sie werden nur durch den Text in der Vorstellung des Zuschauers geweckt. Damit soll eine zeitliche Verschiebung ermöglicht werden, die auch andere Besatzungssituationen evoziert: zur Kriegsbeute zu werden war für uns Frauen schon immer eine der schlimmsten Rollen. Die Szenen fügen sich in einer eher theatralen als realen Folge aneinander. Das heißt, es bedeutet keine Fortsetzung der Handlung, wenn eine Person die Bühne verläßt und sie in der nächsten Szene wieder betritt. Zwischen den Szenen kann viel Zeit vergangen sein. Erster Akt 1. Szene Die Nacht ist ruhig. Das Feuer erhellt die Szene. Auf einer Seite macht das Mädchen seine Hausaufgaben, auf der anderen putzt die Mutter Gemüse. Das Mädchen, etwa fünfzehn Jahre alt, hat weiße Bänder in den Zöpfen. Sie singt ein Lied, das sie aus der Schule kennt. Sie unterbricht sich. Schreibt man das Wort „Sehnsucht" mit „h"? Das weiß ich doch nicht, Kind. Woher soll ich das wissen? Ist ja auch egal... Das „h" hört man sowieso nicht. Man kann es nicht hören? Nein, das „h" ist stumm. Die Mutter hält mit ihrer Arbeit inne. Sie versteht das nicht. Stumm? Gibt es stumme Buchstaben? Das Mädchen lacht. Die Mutter lacht mit ihr. Für mich sind alle Buchstaben stumm.

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Die Mutter senkt den Blick. Das Mädchen schaut sie nicht an, wagt es nicht. Wieder Stille. Die Mutter schürt das Feuer, das Mädchen ordnet seine Hefte. Mutter, ich könnte euch beibringen, euren Namen zu schreiben. Vielleicht. Wenn es so sehr regnet, daß ich nicht zur Schule gehen kann, könnten wir zusammen lernen. Wir legen ein paar Kastanien ins Feuer, und ich erzähle euch von vielen Dingen. Mal seh'n. Die Buchstaben können gute Freundinnen sein, wirklich. Wenn ihr schreiben lernen würdet, dann könntet ihr auch lesen und erfahren, was andere Menschen gedacht haben, Menschen, die vielleicht schon tot sind. Findet ihr das nicht aufregend? Die Mutter lächelt. Du warst schon immer sehr neugierig. Das Mädchen wechselt das Thema. In diesem Winter werden wir Milch haben. Die Ziege wird bald ihr Junges bekommen. Sie kann sich schon gar nicht mehr rühren. Aha. Aber hoffentlich passiert es nicht heute, denn morgen kommen sie vom Dorf hierher, um uns zu prüfen. Wirklich? Sie wollen wissen, ob wir etwas dazugelernt haben. Sie meinen, wir seien langsamer als die Schüler bei ihnen. Was die Leute so reden. Kümmere dich nicht darum. Tu ich auch nicht. Das Mädchen schaut ins Feuer. Heute nacht wird der Mond nicht scheinen. Es regnet immer noch. Man hört den Regen. Dann Pferdegalopp und Hundegebell. Die Angst. Schnell löscht die Mutter das Feuer. Das Mädchen spürt die Gefahr. Die älteste Tochter stürzt herein. Sie sind schon da. Mach keinen Lärm. Die Mutter hält mit beiden Händen einen Stock. Die älteste Tochter nimmt ein Messer. Das Mädchen kauert in einer Ecke auf dem Steinfußboden und weint. Draußen lachen die Reiter. Das Mädchen bedeckt das Gesicht mit den Händen. Die älteste Tochter schreit lautlos. Man hört den Herzschlag der Frauen.

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Sie sind betrunken, sagt das Mädchen. Sie feiern das Ende der Schlacht, sagt die Mutter. Und jetzt wollen sie uns holen, sagt die älteste Tochter. Nein! Das Mädchen hat geschrien. Die draußen haben es gehört. Sie lachen noch lauter. Die älteste Tochter hält ihrer Schwester den Mund zu. Schweig still! Dann Schläge gegen die Tür. Die Schlösser drohen nachzugeben. Plötzlich beginnt die Mutter eine dunkle Litanei. Von fern ist eine Trommel zu hören. Die Kraft der Mutter zieht alle in ihren Bann. Die Töchter zittern. Von draußen ertönt kein Lachen mehr, nur das sich entfernende Pferdegetrappel. Wen Fücha, wen Kuse. Kellumuin, kellunge ta mi pu che. Petu mülei ta mi pu kotüm. Ta mi pu nawe. Kellumuin mai chau. (Vater im Himmel, Heilige Mutter Gottes, hilf uns, hilf unseren Leuten. Noch sind deine Söhne hier und auch deine Töchter, und mit deiner Hilfe möchten wir hier weiterleben. Hilf uns, Vater.) Es ist wieder still. Die Töchter sehen ihre Mutter an und weichen zurück. Die Mutter sagt kein Wort. Im Halbdunkel umarmen sich die Schwestern und flüstern miteinander. Schwester, ich zittere vor Angst. Es ist ja schon gut, ganz ruhig, geh schlafen. Morgen gehst du nicht zur Schule. Die beiden Schwestern schauen die Mutter an. Die Mutter ist der Zeit entrückt. 2. Szene Die älteste Tochter deckt ihre Schwester zu. Das Mädchen schläft. Mutter und Tochter bleiben schweigend sitzen. Draußen regnet es weiter. Die älteste Tochter löst ihren Zopf. Die Mutter beobachtet sie. Was tust du? Ich werde hinausgehen und sie beruhigen. Bleib hier. Warte ab. Sie haben ihre Frauen nicht mitgebracht. Mach's ihnen nicht leicht...Wenn sie dich kriegen, dann nur mit Gewalt. Nein. Ich gehe zu ihnen. Ich ertrag nicht länger das Schnauben der Pferde und die Streifzüge um unser Haus. Die ganze Nacht liege

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ich wach und hoffe, daß sie näher kommen, und wenn ich höre, wie sie an die Türen schlagen, dann kann ich den Wunsch nicht unterdrücken, daß sie sie einschlagen sollen. Die Mutter kommt näher. Die Tochter hat Angst und rückt zur Seite. Mutter, sagt sie sanft unser Geschick ist vorgezeichnet... Wir können uns nicht mehr dagegen auflehnen. Die Mutter wird ärgerlich. Du weißt ja nicht, was du sagst. Wir können nichts anderes tun, als uns verteidigen. Wir haben nur noch eine schwache Erinnerung an das, was wir einst waren, und dennoch ist es das einzige, was uns bleibt. Ihr versteht mich nicht. Ich will fort... In dieser Nacht noch will ich zu ihnen. Den Atem des Verlangens höre ich lieber als meinen Schmerzensschrei. Die Mutter schöpft Verdacht. Du kennst sie? Du bist ihnen schon begegnet? Nein. Aber seit Tagen beobachtet mich der Hauptmann beim Holzsammeln. Hat er dich berührt? Wir haben uns angesehen... Nichts weiter. Und ich habe seine Hände gesehen... ich habe ihre Wärme geahnt, und das Verlangen hat mich wie ein Blitz durchzuckt. Schweig! Ich will nicht hören, was du da sagst. Ich wollte es euch auch nicht sagen, Mutter, aber ich kann es nicht mehr verbergen. Die Tochter ist verwirrt. Die Mutter beobachtet sie. Mutter, denkt nach. Wenn ich mit dem Hauptmann gehe, wird man die anderen Frauen in Ruhe lassen... ich kann das erreichen, das weiß ich. Seine Augen sagen mir, daß er mich liebt. Du willst ihm nur hinterherlaufen. Ich kann nicht anders. Ich kenne kein anderes Verlangen mehr als ihn zu umarmen, ersehne nichts so sehr wie seinen Mund auf dem meinen. Mutter, versteht doch, ich bin nicht mehr ich selbst. Nein, das bist du wirklich nicht. Aber wenn du dich verkaufen willst, dann werden wir unsere Bedingungen aushandeln. Die Mutter geht hinaus.

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Bitte... geht nicht! Die Mutter ruß: Hauptmann! Für den Waffenstillstand gebe ich Ihnen eine Tochter! Sagen Sie Ihren Soldaten, sie sollen zurückweichen! Ich flehe euch an, Mutter, schweigt... Ich bitte nur darum, daß das Mädchen zur Schule gehen darf! Mutter, ich will euch nicht leiden sehen. Immer habe ich euch gehorcht. Immer habe ich eure Strafe akzeptiert. Aber jetzt bin ich unschuldig, denn ich habe nichts dergleichen gesucht. Die Mutter versteht. Die Tochter senkt den Kopf. Die Mutter legt ihr die Hand auf den Kopf. Geh nur, und niemand soll dir etwas antun. Die Tochter geht schnell hinaus. Die Mutter schließt die Tür. Es wird noch schlimmer werden. Sie werden sie alle haben wollen. Und in dieser Nacht schläft sie nicht. 3. Szene Am folgenden Morgen setzt die Mutter die Wache fort. Die zweite Tochter, die bisher noch nicht aufgetreten ist, kommt mit einem Wassereimer herein. Einen Augenblick lang strömt Tageslicht in den Raum. Das Mädchen steht auf. Ich hatte Angst, du würdest nicht zurückkehren... Um diese Zeit ist es so schwierig, über die Felder zu gehen. Schwierig nur für den, der die Wege nicht kennt. Du bist so merkwürdig. Ja. Heute nacht habe ich mich fern von mir selbst gefühlt. Es gab ein Versprechen, das mich beunruhigte. Ich konnte unterscheiden, was bleibt und was sterben muß. Ich verstand auf einmal, daß wir ein Teil des Lichtes sind, des Lichtes, das vom Himmel kommt. Die zweite Schwester nimmt ein Buch aus ihrem Beutel. Schwester, in diesem Buch bewahren sie jene Geheimnisse. Heute nacht, als sie schliefen, konnte ich ihre Truhen öffnen, und ich hab es gestohlen. Ein Buch? Das sind alle Wörter, die sie haben? Das sind alle Wörter. Wirst du mir helfen, sie zu verstehen? Ja. Geh jetzt und wasch dich, denn das Wasser ist ganz frisch. Das Mädchen eilt hinaus. Die zweite Tochter sammelt Brennholz.

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Wo bist du gewesen? Wo hast du die Nacht verbracht? Ich war im Missionshaus. Hast du etwas erreicht? Nur wenig. Sie waren alle zu einer merkwürdigen Zeremonie versammelt. Das Kerzenlicht schien auf das Bild eines nackten Mannes, und man hörte die Stimmen von Frauen, die sangen. Frauen? Konntest du sie sehen? Nein. Sie hatten das Gesicht verhüllt, und sie verbargen auch ihre Hände. Schon kommen neue Kulte auf. Sie dringen in uns ein. Wie können wir ihnen widerstehen? Waren sie hier? Ja. Ist es ihnen gelungen, hier hereinzukommen? Nein. Deine älteste Schwester ist mit ihnen gegangen. Draußen

hört man die Stimme des Mädchens.

harren Mutter und Tochter

Sie singt. Drinnen

ver-

schweigend.

Willst du mir nichts sagen? Nein. Was könnte ich sagen? Du hast recht, was könntest du sagen? Das Mädchen kommt hereingestürzt

Ich habe Schritte gehört. Die drei Frauen

schweigen.

antworten nicht. Erneutes

Treten Sie ein.

Man

und läßt den Mais fallen. hört ein schwaches

Klopfen.

Sie

Klopfen.

Der Bote tritt ein. Die zweite Tochter bewacht die Tür.

Wir haben nichts mehr. Sie haben schon den Mais und die Kartoffeln geholt. Der Bote schaut zu Boden.

Das kann ich sehen. Das Mädchen entschuldigt

sich.

Sehen Sie, ich habe ein bißchen Mais für die Vögel aufgehoben. Ich will sie zähmen. Das ist sehr gut. Du mußt noch viel von uns lernen. Der Bote schaut sich prüfend im Raum um.

Hier werden Sie nichts finden. Woher wissen Sie denn, daß ich etwas suche?

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Sie suchen doch immer etwas. Der Bote nähert sich dem Mädchen. Das Mädchen senkt die Augen. Einer der Männer des Hauptmanns ist verschwunden. Die zweite Tochter tritt hinzu, stellt sich schützend vor ihre Schwester. Hier ist er nicht. Man hat ihn mit einer Ihrer Töchter gesehen. Davon weiß ich nichts. Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen. Der Bote geht. Verstört sammelt das Mädchen den Mais auf. Die zweite Tochter bringt etwas zu essen. Sie essen schweigend. Die Zeit vergeht.

-

4. Szene Mutter, bitte laß uns ein. Das Mädchen stürzt zur Tür und öffnet sie. Die dritte Tochter tritt ein, geht auf die Mutter zu. Sie ist schmutzig und heruntergekommen. Wir brauchen eure Hilfe. Der Fremde tritt ein; alle schauen ihn an. Er ist an einer Seite verletzt, er blutet. Er hat Fieber und ist erfüllt von Visionen. Er spricht im Delirium. Die Frauen verstehen nicht, was er sagt. Ich glaube, es muß Las Indias geben, damit wir nicht ins Paradies kommen. Er bricht zusammen. Du bringst den Feind in unser Haus. Er ist anders. Warum? Er hat den Hauptmann verlassen, er will den seinen nicht mehr folgen. Das ändert aber nichts. Mutter, helft uns doch; er wird sterben. Die Mutter rührt sich nicht. Die Töchter versuchen, dem Fremden zu helfen. Die zweite Tochter spricht mit ihrer Schwester. Sie suchen euch. Sie haben dich mit ihm gesehen. Das Mädchen hat Angst. Der Fremde hat den Blick der Toten. Der Bote war hier. Ja? ... er sagte, er wolle uns warnen. Er sagte, einer von den... Die Mutter befiehlt: Hilf deinen Schwestern.

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Das Mädchen schweigt. Mutter, niemand gewährt uns Schutz. Alle unsere Freunde haben uns verlassen. Und wie können wir euch vertrauen? Niemand weiß, auf welcher Seite ihr steht. Im Delirium spricht der Fremde in seiner Sprache. In jener Provinz und in den Dörfern, die Eure Majestät bevölkert hat, haben die meisten Untertanen blutgierige und auch gemästete Hunde bei den besagten Indianern ... Der Fremde steht auf. Er will sich von den Visionen befreien. Er schreit. Aber bis jetzt hat man unter ihnen ein großes Blutbad angerichtet, und es scheint eher aus Grausamkeit zu sein als zur Strafe... Seit Tagen schon hat er diese Alpträume. Wir können nicht weiterziehen. Mutter, ich bitte euch! Ich weiß, daß ihr ihn retten könnt. Und die besagten wilden Hunde verhalten sich so, daß sie auf der Straße oder auf dem Feld oder anderenorts die Indios angreifen und verletzen, und halb im Spaß und halb ernst werfen sie sie nieder und verletzt und fast hingemetzelt bleiben sie liegen. Der Fremde weint. Die dritte Tochter tröstet ihn. Und mit den Worten: ich wollte es nicht tun oder ich habe es nicht gesehen, täuscht man... Beruhige dich. Wir sind im Haus meiner Mutter. Langsam erholt er sich. Er schaut die Mutter aufmerksam an. Entschuldigen Sie. Er trocknet sich die Hände und begrüßt die Mutter. Erst zögert sie, dann erwidert sie seinen Gruß. Er überlegt, wie er sich auszudrücken habe. Er spricht langsam. Nicht aus Mangel an Respekt nähere ich mich Ihnen mit leeren Händen. Lassen Sie's gut sein, das sind keine Zeiten für Geschenke. Ich bin fern von meiner Heimat, und ich hab alles verloren. Schon gut, schon gut. Der Fremde weint wieder. Ich habe zugelassen, daß meine Sachen in der Hölle verbrennen. Sorge dafür, daß er einschläft. Wird ihn das heilen? Ich weiß es nicht. Die Götter, die ihn quälen, kenne ich nicht.

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Die Mutter sucht einige Kräuter und beginnt, sie auf einem Stein zu zerreiben. Ihr werdet hier bleiben, bis es ihm besser geht, und dann müßt ihr fortgehen. Danke. Bring Wasser, wir müssen seine Wunden waschen. Die zweite Tochter sucht ein Gefäß. Kann ich dich begleiten? Nein. Wenn du den Lehrer siehst, sag' ihm, daß ich nicht zur Schule kommen kann. Die zweite Tochter geht hinaus.

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5. Szene Die Mutter bereitet die Medizin vor. Das Mädchen hilft ihr. Mama... Ja? Ich möchte euch nur sagen, daß ihr nicht versuchen sollt, die Dinge vor mir zu verbergen... Die Mutter sagt nichts. Sie legt die Wunden des Fremden frei und behandelt ihn. Der Dialog mit dem Mädchen ist stockend. Die Bedrohungen werden mit jedem Tag mehr... sie lassen uns schon nicht mehr schlafen. Als ich klein war, schien es mir, als sei der Krieg weit entfernt. Es gab Momente, in denen ich ihn vergaß. Als du ein Kind warst, hatten wir einen Waffenstillstand. Auch die Kriege langweilen am Ende: die Feinde kennen sich, sie leben zusammen, sie wollen schon gar nicht mehr kämpfen. Und jetzt? Jetzt kommen andere Soldaten. Alles hat wieder von vorn angefangen. Wie damals, als ihr jung ward? Ja, wie damals, als sie zum ersten Mal kamen. Waren es damals viele? Ja. Pause. Der Fremde schreit. Die dritte Tochter ist an seiner Seite. Ist mein Vater mit ihnen gekommen? Die Mutter antwortet nicht.

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Sorge dafür, daß er einschläft, sagt sie zu der dritten Tochter. Das Mädchen folgt der Mutter. Ihr habt keinen Grund, es zu leugnen. Immer schon wußte ich, daß mein Vater nicht der meiner Schwestern war. Ihr habt mich nicht wie sie behandelt. Manchmal hattet ihr Angst vor mir... Oft habt ihr mich lange angesehen. Deine Augen sind nicht wie die meinen. Du trägst das Zeichen der Abwesenheit. Das Mädchen tritt näher zur Mutter. Es möchte sie umarmen, weiß aber nicht wie. Die zweite Tochter kommt sehr erregt hinzu. Alle unsere Tiere sind tot. Das Mädchen läuft hinaus. Wie? Man hat sie geköpft. Sie sehen sich an und wissen nicht, was sie tun sollen. Es ist unsere Schuld; sie wissen schon, daß wir hier sind. Die zweite Tochter zeigt ihre blutigen Hände. Das Mädchen kommt weinend zurück. Auch meine Ziege ist tot. Sie haben ihr den Bauch aufgeschlitzt und ihre Jungen weggenommen. Beruhige dich. Wir können nichts mehr machen. Sie hatte die Augen geöffnet... Augen voller Tränen... Zum Weinen bleibt jetzt keine Zeit. Die Mutter schickt sich an hinauszugehen. Sie nimmt ein paar Arbeitsutensilien. Die beiden älteren Töchter folgen ihr. Bleib hier und bewache den Fremden. Laß ihn auf keinen Fall hinausgehen. Hier kann ihn niemand sehen. Sie gehen. Das Mädchen bleibt allein. Sie nimmt ein Messer und stößt es in den Boden. Die Zeit vergeht. Das Mädchen bleibt an der Seite des Fremden sitzen. Sie schaut ihn an, während er schläft. Seine Gesichtszüge und seine Gesten sind ihr unbekannt. Sie erschrickt, als er stöhnt. 6. Szene Schwester. Es ist die älteste Tochter. Sie trägt neue Kleider. Sie hat eine andere Frisur. Bist du allein? Ja.

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Ich muß mit unserer Mutter sprechen. Sie kommt bald zurück. Ich weiß, daß meine Schwester einen der Männer des Hauptmanns mitgebracht hat und daß er in unserem Haus lebt. Das Mädchen will nicht antworten. Hier kann er nicht bleiben Ich weiß nichts. Ich hab' niemand etwas getan. Das weiß ich doch, Schwesterchen... aber das hier ist ein Krieg, und ein Soldat kann dem Krieg nicht entkommen. Verstehst du? Nein. Das nennt man Verrat... Sie sind von weit her gekommen, um gemeinsam zu kämpfen... Sie dürfen einander nicht verlassen. Er ist nicht der erste Soldat, der zum Feind überläuft. Die älteste Tochter unterbricht sich. Die Mutter und die Schwestern kehren zurück. Was machst du hier? Wie kannst du es wagen, unser Haus zu betreten? Die älteste Tochter wendet sich an die Mutter. Mutter, ich wollte mit euch sprechen. Mutter, sagt ihr, daß sie gehen soll. Sie hat uns nichts zu sagen. Wir wissen doch, auf welcher Seite sie steht. Die Schwestern umkreisen die älteste Tochter. Laßt mich, laßt mich doch in Ruhe. Sie umkreisen sie immer schneller, immer drohender. Die Mutter setzt sich ermattet hin. Laßt sie. Sie halten inne. Mit einem Schrei fällt die älteste Tochter zu Boden. Die Schwestern entfernen sich. Die älteste Tochter steht auf und ordnet ihre Kleider. Mutter, ich habe mit dem Hauptmann gesprochen, aber mehr kann ich nicht tun, wenn ihr mir nicht helft. Er sagt, ihr dürft Deserteuren keinen Schutz bieten, ihr dürft nicht auf diese Weise den Aufstand unterstützen. Ich habe in meinem Haus nur den Gefährten meiner Tochter empfangen. Die älteste Tochter schaut die dritte Tochter an.

Inés Margarita

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Stranger

Aber begreift ihr es denn nicht? Diesen Mann aufzunehmen, ist gefährlich... Ein Krieg ist immer gefährlich. Aber der Hauptmann muß ihn fangen. Er hat an Autorität verloren, seine Soldaten lachen schon über ihn. Niemand sagt etwas. Dieser Mann ist ein Verräter. Er nutzt euch nur aus. Wie kannst du es wagen, von Verrat zu sprechen. Du schläfst mit dem Mann, der deine Familie quält. Weil meine Familie einen Feigling beschützt. Die beiden Schwestern schlagen sich. Der Mutter und der zweiten Tochter gelingt es, sie zu trennen. Hört auf, euch zu schlagen. Ihr müßt beide euren eigenen Weg gehen. Wir werden unsere Entscheidungen treffen. Die dritte Tochter versucht, ihre Wut im Zaum zu halten. Die älteste Tochter weint. Ihr wollt mich nicht verstehen; ich bin hergekommen, um euch zu sagen, daß ihr keine Ruhe haben werdet, solange der Flüchtige in diesem Haus weilt... Die Mutter nähert sich ihr. Ich wollte es euch nur sagen, Mutter. Nun hast du es getan. Geh in Frieden. Die älteste Tochter verhüllt sich und geht. Sie verabschiedet sich mit einem Blick von ihren Schwestern. Wir hätten niemals hierher kommen sollen. Morgen früh, noch vor Morgengrauen, werden wir fortgehen. Macht euch keine Sorgen. Ihr werdet bleiben. Es ist nicht der erste Fremde, der unser Herz kennenlernt. Zweiter Akt Einige Monate sind vergangen. Allmählich wird das Eingeschlossensein bedrückend. Die Stimmung wird durch kleine Feindseligkeiten belastet. Die Handlung setzt an einem Tag in den frühen Abendstunden wieder ein.

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7. Szene In einer Ecke, etwas abseits von der Familie, sitzt schweigend der Fremde. Das Mädchen schreibt in ein altes Heft. Die Mutter und die dritte Tochter wärmen sich am Feuer. Plötzlich konzentrieren sich alle Blicke auf das Mädchen, das auf den Fremden zugeht. Das Mädchen hält ihm das Heft hin. Ob Sie vielleicht das, was ich geschrieben habe, verbessern könnten... Ich weiß nicht, was falsch ist. Der Fremde zögert, er lächelt und nimmt das Heft. Er liest mit Mühe. Das Mädchen wartet auf die Antwort. Für mich ist das so in Ordnung. Ich verstehe nicht viel davon. In meinem Land war ich Handwerker. Ich verstehe. Das Mädchen bleibt bei ihm stehen. Ist es wahr, daß Ihre Heimat auf der anderen Seite des Meeres ist? Ja, das ist wahr. Und warum wollten Sie von so weit hierher kommen? Ich weiß nicht..., sie haben so viel erzählt... Was haben sie denn von diesem Land erzählt? Traurig antwortet der Fremde: Dinge, die eher märchenhaft als wirklich waren. Die dritte Tochter unterbricht: Belästige ihn doch nicht mit deinen Fragen. Die Kleine beginnt zu singen; die dritte Tochter geht ungeduldig im Haus umher. Hör doch mit dem Singen auf. Merkst du nicht, daß du störst? Nein, das merke ich nicht. Laß sie doch. Sie ist noch ein Kind. Das Mädchen fühlt sich eingesperrt. Dieser Tag nimmt kein Ende. Draußen hört man Schritte. Alle schauen auf die zweite Tochter, die hereinkommt. Mit etwas Abstand folgt ihr die älteste Tochter, schmutzig, mit wirrem Haar. Die zweite Tochter erklärt der Mutter. Ich fand sie am Fluß. Der Hauptmann hat sie seinen Soldaten überlassen. Der Fremde schreit, er kann seine Wut nicht verbergen. Die Mutter schaut ihn an.

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Es ist besser, wenn Sie uns jetzt allein lassen. Der Fremde geht wortlos hinaus. Die älteste Tochter tritt ein. Sie geht langsam, mit gesenktem Blick.

Ich möchte euch sagen... Die Mutter schaut sie an und versteht.

Du brauchst mir nichts zu erklären Die älteste Tochter küßt der Mutter die Hand.

Wenn ihr könntet... Sag gar nichts. Es wird gut für uns sein, wenn ein Kind in unserem Haus herumläuft. Das Mädchen weiß nicht, was es tun soll, es weint. Die dritte Tochter streckt scheu die Arme nach ihrer Schwester aus.

Wir hätten alle ein besseres Schicksal verdient. Die älteste Tochter seufzt, sie ist zu traurig, um zu weinen. Ihre Schwestern und die Mutter kümmern sich um sie.

Mutter, gibt es an mir etwas, was Euch bekannt vorkommt? Dein ganzer Körper erinnert mich an den meinen. Die Schwestern entkleiden die soeben Angekommene, baden und parfiimieren sie mit langsamen Bewegungen, in einer alten, vertrauten Zeremonie. Sie gehen sehr vorsichtig mit ihr um, haben Angst, die Wunden zu vertiefen. Die älteste Tochter überläßt sich ihnen ganz, nimmt sich selbst kaum wahr.

Mein Mund ist nicht mein Mund. Meine Hände sind nicht meine Hände. Ich bin stumpf für den Schmerz und stumpf für die Lust. Schweig. Mein Körper ist gestorben. Dieser Körper ist nur noch eine Ahnung. Sei ruhig. Du wirst dich wohl fühlen. Dieser Körper bildet die Grenze. Dieser Körper nimmt den Keim auf von allen Feinden, dieser Körper enthält das Blut all derer, die die meinen waren. Die zweite Tochter hält ihr die Stirn.

Ruh dich aus, und nach und nach wirst du alles vergessen. Die älteste Tochter verharrt in ihrer Entrücktheit.

Dieser Körper hat keine Grenzen. Er erstreckt sich über unser Land und faßt Wurzeln in der Zukunft. Dieser Körper keimt, trotz meines Schmerzes. Ich lebe nur noch für die Rasse, die in mir stirbt.

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Die Schwestern trocknen sie ab, kleiden sie in saubere Gewänder. Die älteste Tochter schreit: Ich hatte Gelegenheit, den Teufel kennenzulernen, er galoppierte auf einem Pferd, das im Lauf Funken schlug. Die Mutter deckt sie zu. Nimm sie mit und bleib bei ihr, bis sie eingeschlafen ist. Die zweite Tochter begleitet ihre Schwester. Das Mädchen bleibt bei der Mutter. Die dritte Tochter geht hinaus, um den Fremden zu holen. Die Mutter verbrennt die Kleidung der ältesten Tochter, ruft die Ahnen an. Die brennenden Kleidungsstücke erhellen den Raum. Das Mädchen setzt sich und wartet auf das Verlöschen des Feuers. 8. Szene Draußen, beim Holzhacken, läßt der Fremde seine Wut und seine Hilflosigkeit heraus. Vielleicht war es die Kälte dieser Einsamkeiten, vielleicht auch die eisige Luft, die uns, als wir über die Sierra kamen, zusätzlich die natürlichen Folgen des Krieges spüren ließ. Wann nur ist seine Seele so hart geworden, und wann wurde der, den ich meinen Freund glaubte, zur Bestie. Die dritte Tochter tritt an seine Seite. Komm rein, man könnte dich sehen. Und wenn schon. Sie werden dich umbringen. Und welchen Sinn hat es, hier eingesperrt zu bleiben und deine Familie in Gefahr zu bringen, um mein Leben zu retten? Unser Leben. Wir sind doch die ganze Zeit glücklich gewesen. Ja. Und während du und ich glücklich waren, haben meine Brüder, meine Freunde, und alle die, mit denen ich dieses Abenteuer begann, ihre Reise in die Hölle angetreten. Daran kannst du doch nichts ändern. Du bist nicht für ihr Leben verantwortlich. Doch, das bin ich. Erst jetzt begreife ich das. Alle aus unserem Reich sind wir verantwortlich. Unsere Schuld hat begonnen, als wir in dieses Land kamen. Wir glaubten, die Welt in unserer Hand zu haben, und wurden von diesem Wahnsinn verschlungen. Wem geben wir jetzt Rechenschaft? Wem berichten wir von dem, was wir getan haben?

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Stranger

Du hast doch nichts Schlechtes getan. Ich habe aber auch nichts Gutes getan. Ich wollte arbeiten, um eine neue Welt aufzubauen, und nun ist mir klar geworden, daß ich für den Teufel gearbeitet habe. Ich verstehe dich nicht. Einige von uns haben den Verstand verloren, und ich habe nichts getan, um das zu verhindern. Dafür habe ich mein Dorf nicht verlassen. Nicht, um mich wie ein Feigling zu benehmen und mein Leben und meine Ideale zu verlieren. Von welchen Idealen sprichst du? Eine Besetzung hat doch kein anderes Ideal als den Tod. Diese Besetzung hab' ich nicht gewollt. Ich suchte eine neue Art zu leben. Und hast du die nicht gefunden? Der Fremde schaut ihr in die Augen. Doch, ich hatte das Glück, dir zu begegnen. Was ist es dann? Gerade das ändert mein Schicksal. Wenn ich dich geliebt habe, so muß ich dich auch verteidigen. Ich kann nicht länger bei dir leben. Du gehst. Ja. Der Fremde will erklären, sie überzeugen. Es gibt unter den meinen viele, die gutherzig sind und nicht wissen, was an den Fronten vor sich geht. Die muß ich finden. Und wozu? Bleib bei uns. Wenn du kämpfen willst, laß uns mit den Meinen ziehen. Nein. Ich kann die Waffen nicht gegen meine eigenen Leute erheben. Ich werde erklären, erzählen, überzeugen... Glaubst du denn wirklich, eine Verständigung sei möglich. Der Fremde schaut ihr in die Augen. Haben wir beide uns denn nicht verstanden? Doch... Die dritte Tochter unterdrückt ihre Tränen. Auch die, die danach kommen, werden sich gut verstehen. Sie umarmen sich, ein letztes Mal. Der Fremde verläßt sie ohne ein Wort.

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9. Szene Die dritte Tochter betritt das Haus. Die Familie schläft. Plötzlich hört man die Pferde und die Rufe der Reiter. Das ganze Haus erzittert. Die Angst ist stärker als beim ersten Mal. Die Mutter und die älteste Tochter greifen nach irgendwelchen Geräten, um sich zu verteidigen. Diesmal werden sie hereinkommen. Bleib hier bei mir. Die zweite Tochter beschützt das Mädchen. Die Mutter geht durch das Haus. Die dritte Tochter ist müde und setzt sich hin. Sucht ihn nicht, Mutter, er ist fortgegangen. Die Reiter umgeben das Haus. Die Frauen schreien, um sich Mut zu machen. Der Lärm wird immer lauter. Dann ist es plötzlich still. Sie bleiben wachsam. Sie horchen. Man hört die Stimme des Boten rufen. Der Bote tritt ein. Die älteste Tochter will ihn schlagen. Die zweite Tochter hält sie zurück. Man hat den Deserteur gefangen. Die dritte Tochter bezähmt ihren Schmerz, sie schweigt. Die Mutter spricht für sie. Also wird man uns in Ruhe lassen. Ihr Hauptmann hat, was er wollte. Der Hauptmann hat mich gebeten, Ihnen den Rat zu geben, diesen Ort zu verlassen. Warum? Er meint, dieses Stück Land sei nicht schlecht für eine Siedlung. Es gibt Wasser hier, und es ist sonnig. Das ist immer unser Land gewesen. Dann wird es das eben nicht mehr sein. Hier sind meine Eltern und meine Großeltern beerdigt. Gute Frau, verstehen Sie doch. Es gibt nichts, was uns daran hindern kann, das Haus anzuzünden und alles zu zerstören Die Mutter schweigt. Das Mädchen erhebt die Stimme. Sagen Sie ihrem Hauptmann, daß wir gehen und daß wir froh sind, wenn wir ihn niemals wiedersehen. Gut. So werde ich es ihm sagen. Der Bote geht. Das Mädchen fühlt sich für die Entscheidung verantwortlich.

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Wir werden dieses verwünschte Land verlassen und in die Berge gehen. Wir werden ein neues Leben anfangen. Es wird einen Ort geben, wo diese Leute nicht hinkommen. Das Mädchen beginnt, alles auseinander zu nehmen. Die Mutter spricht mit der zweiten Tochter, die untätig bleibt. Komm schon. Bring deine Sachen. Nimm das, was du am dringendsten brauchst. Ich werde nicht mit euch gehen. Ich werde in der Missionsstation bleiben. Was sagst du da? Ich möchte abseits von allem leben, möchte meine Bestimmung einzig darin finden, Gott zu dienen. Ich möchte ein Leben führen, in dem alles einen Sinn hat. Und was meinst du, wie wir bisher gelebt haben? Haben wir nicht jeden Morgen, wenn wir aufgestanden sind, zum Himmel empor geblickt und der Erde für ihre Früchte gedankt? Haben wir nicht unsere Gaben und unsere Opfer dargebracht? Ja, aber wir kannten den wahren Gott nicht. Und wie kannst du so sicher sein? Kannst du mir das erklären? Sie kann dir nichts erklären. Sie ist ihrem Gott verfallen, wie ich dem Hauptmann. Siehst du nicht die freudige Erwartung in ihrem Gesicht? Wir können Gott nicht nach den Taten der Menschen beurteilen. Und weshalb nicht? Die Truppen haben gerade diesen deinen Gott angerufen, als sie uns bedrohten. Hör zu, sie hat recht. Dieser Gott, den du jetzt erwählst, hat viel Elend über uns gebracht. Aber auch große Freude. Und es gibt ein ewiges Leben. Ein übersinnliches Leben jenseits der Zyklen von Sonne und Mond, jenseits vom Tun und Treiben auf der Erde. Du weinst. Nur für diesen Moment wurde ich geboren, in dem ich euch sagen kann, was wirklich Bedeutung hat. Denn ich bin eine Frau, und das ist kein Hindernis für meine heilige Bestimmung. Tochter, fühlst du dich gut? Ich bitte meinen Gott um seine Hilfe, denn um das zu sagen, was ich fühle, brauche ich Worte, die nicht die meinen sind, weil eine

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Stimme nicht ausreicht, um diese Stille zu durchbrechen. Und ich brauche eine ruhige Stimme, um Zugang zu dem großen Mysterium zu haben. Hört... Gott hat einen sanften und freundlichen Blick. Dieser Gott, der in dich gefahren ist, ist nicht der Gott der Vorväter... Ich verlasse die Götter der Vorväter. Was wir geglaubt haben, ist nur der Schatten dieses neuen Glaubens, der besagt, daß es dort im Himmel einen Vater gibt, der nicht straft, sondern uns liebt und beschützt. Denn der, für den ihr so leidet, der, um den ihr so viel weint, ist nicht jener Erdengott, der euch verlassen hat, sondern der, der in den Tiefen eurer Herzen wohnt. Die Mutter beginnt zu murmeln und hört nicht mehr, was ihre Tochter sagt. Beide Stimmen ertönen gleichzeitig. Der Bühnenraum öffnet sich, fällt auseinander. Das Haus hört auf zu existieren. Die Handlungen werden willkürlich, das Gesetz, das die Welt zusammenhielt, geht verloren. Während die Mutter spricht, nimmt sie Abschied vom Leben. Eine neue Ordnung durchdringt alles, und vielleicht ist es eine neue Form des Wahnsinns. Wir wissen, wen wir anrufen müssen, wir wissen, wem wir das Leben verdanken. Wir brauchen kein anderes Wissen. (Inchin kimniein ta in kimün. Ka kimniein chumnechi ta i manumael. Duamlain kakeche ni kimün.) Das Gebet der Mutter wird immer dunkler und unverständlicher. Die Mutter kehrt zu ihrer Sprache zurück und spricht mit der Stimme der Vorväter. Dann herrscht Stille. Die Mutter überläßt sich dem Tod. Die Töchter umgeben sie und wehklagen. Die Beerdigungszeremonie beginnt. Es entsteht eine große Prozession, ein wenig heidnisch, ein wenig christlich. Das Mädchen nimmt Abschied von seinem Land. Vom Land meiner Kindheit ist nichts geblieben. Der Krieg ist wie das Meer über die Felder gekommen und hat den Bach mit sich fortgerissen, in dem ich mit meinen Schwestern gebadet habe. Meine Mutter entfernt sich in der Zeit. Mir bleibt nur die Erinnerung und diese Schrift, die ich von meinem Vater geerbt habe, um die Erinnerung vor dem Vergessen zu bewahren. Ich werde die Sprache meines Vaters sprechen, um zu berichten, was ich gesehen habe. Ich werde die Geschichte meiner Mutter aufschreiben, damit alle von der Frau erfahren, die sie einst war.

Diana Raznovich Kämpfe unter der Gürtellinie De la cintura para abajo

Deutsch von Sybille Martin

Unter der Gürtellinie

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Diana Raznovich (1945) ist eine der profiliertesten zeitgenössischen Dramatikerinnen Lateinamerikas1, mit großem internationalen Renommee. Die meisten ihrer über zwanzig Theaterstücke2 sind u.a. in den USA, Italien, Australien und auch Deutschland übersetzt und aufgeführt worden.3 Als Kind deutsch-jüdischer Exilanten in Buenos Aires geboren, bezeichnet sie sich selbst als heimatlose Irrfahrerin, eine Vagabundin nicht nur im Leben, sondern auch im Denken. Raznovich schreibt neben Theaterstücken auch Drehbücher, Romane, Gedichte und ist erfolgreiche Cartoonistin. Der ätzende Humor ihrer Zeichnungen findet sich in ihren Stücken wieder. Mit treffsicherem Witz und Zynismus legt sie verschleierte Funktionsweisen von Machtsystemen bloß, die im alltäglichen Leben den Anschein von Unvermeidbarkeit oder geradezu Natürlichkeit erwecken: politische, gesellschaftliche und ökonomische Systeme ebenso wie das System der Geschlechterbeziehungen, die traditionellen Definitionen der Rollen von Mann und Frau. Die Unterwanderung von Klischees, die Zersetzimg der ,Normalität' und jeder ,Macht der Gewohnheit' sind Themen, die sich leitmotivisch wiederholen: sei es in Herbstzeitlose das Kidnapping eines Serienstars durch zwei Frauen; sei es die Mutterliebe als Verkaufsprodukt in Casa Matriz oder in Raznovichs jüngstem Stück De aträs para adelante die Geschlechtsumwandlung des Javier Goldberg in Dolly Goldberg. Raznovichs Grenzüberschreitungen machen nie vor dem Medium Theater selbst halt. So wie sie die Geschlechtergrenzen in ihren Stücken auflöst oder attackiert, so verwischt sie die Grenze zwischen Kunst und 1

Vgl. Nora Glickman: „Parodia y desmitificación del rol femenino en el teatro de Diana Raznovich", in LATR 2 8 , 1 (Fall 1994), S. 89-100. Diana Taylor: „Frivole Geschütze. Diana Raznovichs Akte des Widerstands", im Begleitband zu vorliegender Anthologie: Geschlechter/Performance Pathos, Politik. Das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Dramatikerinnen, hrsg. von Heidrun Adler und Kati Röttger, Frankfurt/M. 1998, S. 67-80. Kati Röttger: „Subversives Gelächter. Das Theater von Diana R a z n o v i c h " , in Materialien zum argentinischen Theater, hrsg. von Karl Kohut und Osvaldo Pellettieri. F r a n k f u r t / M . 1998.

2

Vgl. folgende Auswahl: El buscapiés (1968), Plaza hay una sola (1968), El guardagente (1971), Texas en carretilla (1972), El contratiempo (1973), Marcelo el mecánico (1974), Noches blancas (1981), Desconcierto (1981), Jardín de otoño (1983), Casa Matriz (1988), Paraíso (1988), Efectos personales (1989), Descubrimientos y otros viajes (1990), De la cintura para abajo (1994), De atrás hasta adelante (1996).

3

Folgende Stücke liegen in deutscher Übersetzung vor: Casa Matriz (1991); Weiße Federn, schwarze Federn (1982); Persönliche Sachen (1989); Herbstzeitlose (1983), (alle beim S. Fischer Verlag erschienen) und Konzert des Schweigens, in Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage und Halima Tahán. Berlin 1993, S. 183-192.

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Diana Raznovich

Leben, Fiktion und Wirklichkeit, Schein und Sein. Jedes ihrer Stücke könnte man in gewisser Weise als Wanderung durch verschiedene Ebenen der Repräsentation bezeichnen, um die „Gesellschaft des Spektakels" (Guy Debord) zu evozieren und zu kritisieren. Das zeigt sie bereits meisterhaft in ihrem Einakter Konzert des Schweigens, in dem die Pianistin statt eines Klavierkonzerts eine seelische Peepshow veranstaltet, da ihr Konzertflügel schweigt. Auch Kämpfe unter der Gürtellinie (1993) thematisiert die Theatralität der Gesellschaft, diesmal aber nicht auf dem Repräsentationsfeld ,Frau', sondern im ehelichen Schlafzimmer. Denn dieser intimste Ort des Bürgertums wird zum öffentlichen Schauplatz, zum Austragungsort sexueller Differenz schlechthin gemacht, um die beiden,heiligsten Kühe' der modernen Gesellschaft, das Inzesttabu und die Heterosexualität in einer Sado-Maso-Komödie zu entweihen. Mit einem genialen Streich gelingt es Raznovich in diesem Stück zu zeigen, wie die »Ökonomie der Begierde' in der Korrelation von Markt, Macht, Medien und Geschlechterpolitik funktioniert, indem sie dem konventionellen Ehepaar mit seinen traditionellen Schlafzimmerproblemen eine ambivalente Mutterfigur zur Seite stellt, die nicht nur mütterlich, sondern auch machtbesessen und mediensüchtig ist. Gerade weil sie die Rolle der verklärten und verkitschten4 Klischeemutter zu überzeugend spielt („Er [der Sohn] hat gelitten ...deshalb bin ich hier."), wirkt sie wie eine verfremdete Kunstfigur. Denn die Mutter, die gleichzeitig Bestsellerautorin ist, beutet ihre mütterlichen Gefühle direkt für den kommerziellen Erfolg aus: je ,echter' sie als Mutter ist, umso besser kann sie diesen Stoff für ihre Romane verwerten. „Das Leben imitiert die Kunst. Hervorragendes Material für meinen Bestseller!" lautet denn auch ihre Devise. Durch das Mittel des eigenen ,fremden Blicks' der Figur auf die ,Authentizität' ihrer Mutterrolle schafft Raznovich einen Verfremdungseffekt, mit dem sie Mutterschaft als performativen Akt demonstriert. Dieser Effekt wird weder durch rationales Kalkül in der Spielweise, noch durch epische Distanz erreicht, sondern wird gerade durch die pathetische Ladung und den sentimentalen Überschwang erzielt, mit dem die Mutter ihre Rolle spielt, um sie als glaubwürdig zu verkaufen. Dieselbe Strategie des Schreibens der eigenen Erfolgsgeschichte wendet sie auf ihren Sohn an. Ihm, der zum großen Leid seiner Ehefrau immer nur zum Geburtstag seiner Mutter mit ihr schläft und dabei an nichts anderes als an eine große Geburtstagstorte denkt, erteilt sie 4

Vgl. dazu Renate Möhrmann: Verklärt, Verkitscht, Vergessen. Die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart 1996.

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buchstäblich eine Lektion über Geschlechterdifferenz „unter der Gürtellinie", um endlich, in seinem vierzigsten Lebensjahr, einen Richtigen' Mann aus ihm zu machen. Voraussetzung aber ist die Trennung von der Mutter, denn, so wissen wir bereits seit Freud, das Inzesttabu naturalisiert erst das männliche sexuelle Handeln. Was die Mutter ihrem erwachsenen Sohn in ihrem Aufklärungsunterricht anhand „lustiger Zeichnungen" über die geschlechtliche ,Natur' von Mann und Frau vorführt, gerät im Stück geradezu zu einer Lektion in postfeministischer Theorie. Denn die ständige Präsenz und der Einsatz unterschiedlicher Medien - wie der Diaprojektor, um die Zeichnungen auf die Leinwand zu werfen, die Journalisten und Fotografen, die aus der sado-masochistischen Sexualtherapie des Ehepaars ein öffentliches Spektakel machen, wie schließlich auch die fortwährenden Anspielungen auf die Brauchbarkeit aller Ereignisse für die Bestsellerromane der Mutter schärfen den Blick für die Performativität der Geschlechterrollen. Die Leser/Zuschauer bekommen direkt vorgeführt, wie diese Rollen über das Einüben des Unterschieds hergestellt, durch ihre ständige Wiederholung als glaubwürdig naturalisiert und als solche von den Medien reproduziert werden. Das Stück läßt sich gewissermaßen als komödiantische Beweisführung dafür lesen, daß gender ein diskursives Mittel sein kann, anhand dessen das ,natürliche Geschlecht' hergestellt wird, und zwar als Effekt von Macht, Institutionen und Praktiken, die seine Bedeutung erst konstituieren. Daß aber selbst die performative Gewalt nichts daran ändert, daß „Geschlechterstereotypen als ontologische Orte verstanden werden müssen, die auf fundamentale Weise unbewohnbar sind" 5 , zeigt Raznovich in aller Deutlichkeit noch einmal am Schluß des Stücks, an dem ,er' im Ehebett neben seiner Frau wieder genauso schnarcht wie zu Beginn ... Kati Röttger

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Zitiert nach Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991.

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Kämpfe unter der Gürtellinie Personen: Eleonora (37), schön und üppig - Antonio (40), Eleonoras Mann, einfältig und ruhig - Paulina (60), Antonios Mutter, sehr attraktiv und energisch - Troncoso (30), Sexualtherapeut für Sadomasochismus, stämmig Fotograf, Nordamerikaner, groß und blond - Maskenbildner in, Nordamerikanerin, Assistentin des Fotografen. Schlafzimmer eines Paares aus dem gehobenen Mittelstand im Stil von Innenarchitekturmagazinen. Das Bett befindet sich in der Mitte der Bühne und steht auf einem kleinen Podium. Auf beiden Nachttischen stehen identische Lampen. In die rechte Wand ist ein zweistöckiger Einbauschrank eingelassen. Auf einem Kleiderständer Bademäntel, daneben ein Lehnstuhl. An einer der Seitenwände eine Spiegelkommode. Die Schlafzimmertapete harmoniert mit Steppdecke, Bettbezügen und Lampenschirmen. Vom Schlafzimmer führt eine Seitentür zum Badezimmer. Die andere Tür führt in die restliche Wohnung. Es handelt sich um eine Wohnung im zehnten Stock eines Gebäudes in der Avenida Libertador in einem teuren Viertel in Buenos Aires. Da die Personen einer Gesellschaftsschicht angehören, die auf ihren Status achtet, sollte es Details im Zimmer geben, die darauf hinweisen; vielleicht auch nur einen gewissen Grad an Luxus. Antonio schläft auf der rechten Seite des Bettes, auf seinem Nachttisch steht ein großes Foto von der lächelnden Paulina. Links, auf Eleonoras Seite, steht ein Foto von ihr, Antonio und ihrem Sohn Javier. Das ganze Zimmer ist mit grauem Teppichboden ausgelegt. Grau, lila und rotviolett sind die vorherrschenden Farbtöne.

Erster Akt Zwei Uhr nachts, Eleonora und Antonio sind im Bett. Sie trägt ein hübsches neues Nachthemd, hat sich aufgesetzt und sieht pathetisch zur Decke. Antonio neben ihr schläft tief. Sie seufzt, er schnarcht im Duett. Ihre Nachttischlampe ist an, seine aus. ELEONORA Schnarche nicht. Sie sieht ihn traurig an, dem Weinen nahe. ANTONIO schläft fest, spricht im Traum: Ich schnarche nicht. ELEONORA wartet einen Augenblick, dann beginnt in der drückenden Stille der Nacht erneut das Duett aus ihren Seufzern und Schnarchern Du schnarchst! Er antwortet nicht und schnarcht weiter. Da beschließt sie zu handeln. Sie dreht barsch seinen Kopf in eine andere Position, damit er mit dem Schnarchen aufhört, was kurzfristig Wirkung zeigt. Sie ist zufrieden mit

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ihrem Werk. Kurz darauf schnarcht er wieder. Diesmal lauter und mit zwei kombinierten Lauten, auf die sie mit einem Seufzer antwortet, der sich in eine Art spitzen Schrei verwandelt. Die klangvolle Kombination ist: zwei Schnarcher, ein Schrei, zwei Schnarcher, ein Schrei. Während dieses „Kammerkonzerts" öffnet sie verzweifelt ihre Nachttischschublade und holt eine riesige Kekspackung heraus. Dabei macht sie übermäßig laute Geräusche. Wenn sie endlich begreift, daß sie Antonio damit nicht wecken wird, schreit sie: Ich teile dir mit, daß du noch immer schnarchst! ANTONIO Das sind keine Schnarcher, Eleonora. Er schnarcht weiter im Doppeltakt. Sie stößt einen verzweifelten, schrillen Schrei aus. ELEONORA Dieselben Schnarcher wie jede Nacht. Sie bringen mich zur Verzweiflung, Schatz! Wie kannst du das abstreiten? Das sind die glorreichen Schnarcher, die ich geheiratet habe. Sie stopft gierig Kekse in sich hinein. Er schnarcht. Sie schreit so spitz, daß er kurz aufwacht. ANTONIO sanftmütig und geduldig, ohne die Augen zu öffnen Mein Liebling, ich schnarche nicht, ich habe noch nie im Leben geschnarcht. Er schnarcht weiter. ELEONORA ißt ihre Kekse in einer Geschwindigkeit, die ihre Fähigkeit zu schlucken übersteigt, sie erstickt fast daran. Mit vollem Mund, in einem verzweifelten Ausbruch stammelt sie weinend: Wie kannst du behaupten, daß du nie geschnarcht hast? Und was, bitte, ist das hier? Antonio! Antonio! Immer lauterwerdend, wobei sie Kekskrümel über die Bettdecke spuckt. ANTONIO Das sind die Laute meiner Seele. Dieser Satz bewegt ihn so sehr, daß er sich aufsetzt. Er öffnet leutselig die Augen und sieht eine erstickende, weinende und verstörte Eleonora vor sich. ELEONORA Kannst du deine Seele nicht darum bitten, freundlicher zu sein, harmonischer zu klingen? ANTONIO akzeptiert bereitwillig Ich werde es versuchen. Er legt sich hin, sie sieht sprachlos zu, wie er wieder einschläft und nach kurzer Zeit zu schnarchen beginnt. ELEONORA schreit aufgebracht: Du schnarchst noch immer!!! ANTONIO setzt sich ruhig auf, öffnet die Augen und sagt ganz natürlich: Liebste, du weckst mich auf, das habe ich nicht verdient. Ich träume so schön. ELEONORA Erzähl es mir. ANTONIO Morgen. Ich kann nicht träumen und dir gleichzeitig davon erzählen.

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ELEONORA unerbittlich Erzähl mir deinen Traum, Antonio. ANTONIO bereitwillig Er fing gerade an, interessant zu werden. Laß mich herausfinden, wie es weitergeht. ELEONORA Erzähl, Antonio, erzähl es mir. Ißt nervös Kekse. ANTONIO sanft, leutselig, romantisch Es war ein phantastischer Traum. Er spielte in der Wertpapierabteilung der Staatsbank, wo an einem schwebenden Tisch ein weißhaariger Mann mit Namen Geldverkehr saß. Ich trat in Begleitung zweier krummbeiniger Angestellter ein. ELEONORA Was hast du betreten, Liebster? ANTONIO ruft begeistert Ich betrat ein Podium vor einer Anzeigetafel, deren Daten sich verschieben ließen, und ich veränderte sie in abgabenfreie Namenspapiere. Pause, eindringlich Freie, Eleonora, freie!!! Mit wachsender Begeisterung sieht er sie fest an Freie!!! ELEONORA interessiert Wer war frei, Antonio? ANTONIO logisch Die Namenspapiere. Sie kaut, schluckt und sieht ihn an, wobei sie versucht, den tieferen Sinn zu begreifen, der ihr entgangen ist. Beide sind ganz ernsthaft, als sprächen sie tatsächlich über ein bedeutendes Thema. ELEONORA Und dann? ANTONIO Dann gingen zwei andere Angestellte hinaus. ELEONORA Krummbeinige? ANTONIO Einarmige. Pause Mir wurde klar, daß sie eine Erklärung von mir erwarteten. So etwas wie eine Frage. Das war nicht leicht, was hättest du sie denn an meiner Stelle gefragt? ELEONORA Nach den Namen. ANTONIO Das habe ich geträumt, aber es war nicht die angemessene Frage. ELEONORA Und was hast du sie gefragt? ANTONIO poetisch Übertragbar oder nicht übertragbar? Und sie antworteten im Duett, aber mit sehr unterschiedlichen Stimmen ruft: Mittelfristig nicht übertragbar. Und dann war mir alles ganz klar. ELEONORA Was war dir ganz klar? ANTONIO Ich weiß es nicht, weil du mich geweckt hast. ELEONORA wieder dem Weinen nahe Willst du einen Keks? ANTONIO Wie kannst du mir einen banalen Keks antragen, wenn du die Laute meiner Seele unterbrichst? Du solltest dich zumindest entschuldigen. Wie kannst du so rücksichtslos sein? Bist du dir im kla-

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ren über die Größe dessen, was ich geträumt habe? Ist dir klar, daß du alles zerstört hast? ELEONORA Und du, hast du bemerkt, daß ich ein neues Nachthemd anhabe, Antonio? ANTONIO Das ist mir ziemlich egal. ELEONORA Das ist das einzige, was dir dazu einfällt? Sieh es dir an. Ich habe es nur für dich gekauft. ANTONIO schaut sich das Nachthemd an, kann aber nichts Besonderes daran finden War es sehr teuer? ELEONORA Sündhaft teuer, ein Wahnsinn. Ich kaufe immer teurere Nachthemden. Und du? Nichts! ANTONIO Versuch doch, die billigsten zu kaufen. Vielleicht zeigen die Wirkung. Vielleicht ziehen die teuren bei mir nicht. ELEONORA Antonio, wir müssen miteinander reden. ANTONIO Wir reden doch. ELEONORA Wir müssen über etwas Bestimmtes reden. ANTONIO Wir reden doch über etwas Bestimmtes. ELEONORA Ich meine ein bestimmtes Thema, mein Schatz. Sie gibt Antonio einen Keks. ANTONIO Wenn es dir nichts ausmacht, ziehe ich es vor zu träumen. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Einen Traum, der sich in der Wertpapierabteilung der Staatsbank abspielt, wo an einem schwebenden Tisch ein weißhaariger Mann mit Namen Geldverkehr sitzt, hat man nicht jede Nacht! ELEONORA Mich aber schon. Ich bin etwas, das du jede Nacht hast. ANTONIO Du bist meine Frau. ELEONORA Du sagst das, als würdest du sagen: Du bist meine Spritze. ANTONIO Spritzen tun weh, du nicht. ELEONORA Ich tu dir nicht mal weh, nicht mal das! Sie steckt Antonio noch einen Keks in den Mund. ANTONIO freundlich Wenn es dich nicht stört, meine Liebe, versuche ich, wieder in die Wertpapierabteilung der Staatsbank einzutauchen, wo an einem schwebenden Tisch ein weißhaariger Mann namens Geldverkehr sitzt. Er dreht sich um und schläft ein. Nach kurzer Zeit beginnt er wieder mit seinen Doppelschnarchern und sie mit ihren Seufzern. Schließlich springt sie aus dem Bett und geht nervös im Zimmer auf und ab

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wie eine Löwin im Käfig, die verzweifelt den Ausgang sucht. Dabei ißt sie ihre Kekse. ELEONORA explodiert Merkst du gar nicht, daß wir ein ernstes Problem haben? Merkst du gar nicht, daß uns unsere Nächte davonrennen? Merkst du gar nicht, daß in diesem Zimmer nie etwas passiert? Sie schüttelt ihn Wie lange passiert schon nichts? Antonio, was schätzt du, wie lange ist nichts passiert? ANTONIO setzt sich zur Selbstverteidigung im Bett auf Na ja, am Geburtstag meiner Mutter haben wir uns geliebt. Erinnerst du dich etwa nicht? ELEONORA Vor elf Monaten! ANTONIO Na gut, und Mama hat in knapp einem Monat wieder Geburtstag. Du kannst dich also langsam vorbereiten...! ELEONORA Liebster, ich bin siebenunddreißig Jahre alt, und du bist vierzig. Mit einem Durchschnitt von einem Mal pro Jahr... werden wir uns in zwanzig Jahren, wenn ich siebenundfünfzig bin und du sechzig, nur zwanzig weitere Male geliebt haben. ANTONIO Ist doch nicht schlecht. Weitere zwanzig Male. Das ist eine wunderbare und gesicherte... Zukunftsperspektive. ELEONORA Was? ANTONIO Na gut... wir sind nicht gerade maßlos, aber wir versagen uns auch nichts. Er ist aufrichtig überzeugt von dieser Auffassung. ELEONORA läuft wütend und fassungslos auf und ab Was soll das heißen, wir versagen uns nichts? Wir lieben uns einmal im Jahr und immer zum Geburtstag deiner Mama, und du sagst mir, wir versagen uns nichts? Verzweifelte Pause Was wird denn passieren, wenn deine Mama stirbt? ANTONIO ausgesprochen abergläubisch Wie kannst du so was sagen? Erschüttert Jetzt willst du schon meine Mama umbringen! Steht auf Meine Mutter! Meine einzige Mutter!!! Diese so gütige und sanftmütige Frau, so liebevoll und behutsam, so entzückend und reizend! Meine Mutter! Was hast du gegen sie? Welch finstere Gedanken verbergen sich hinter deinen boshaften Worten? Er geht wieder ins Bett und deckt sich zu Deshalb weckst du mich? Darum holst du mich abrupt aus der Wertpapierabteilung der Staatsbank, wo an einem schwebenden Tisch ein weißhaariger Mann namens Geldverkehr sitzt? Er ist offensichtlich verzweifelt Was wird geschehen, wenn meine Mama stirbt? Zur Decke Mein Gott, hast DU ihr diese Frage einge-

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Diana Raznovich geben? Breitet pathetisch die Arme aus W a r u m konfrontiert sie mich mit j e n e m g r a u s a m e n Augenblick, in d e m DU, oh Herr, sie mir entreißen wirst? Er kniet vor dem Bett nieder. Eleonora beobachtete ihn von einem Sesselchen aus. W a r u m gerade jetzt das Sterben einer mutigen, rüstigen Frau erwähnen, die u m diese Zeit allein und unberührt zu Hause in ihrem Bett schläft? Worauf beziehen sich die sexuellen Anspielungen meiner Gattin?

ELEONORA bewahrt jetzt eine gewisse Ruhe Weil wir uns nur einmal im Jahr lieben, mein Schatz, und zwar immer z u m Geburtstag deiner M a m a ; ist es da nicht angebracht, uns zu fragen, was geschehen wird, wenn deine Mama stirbt? ANTONIO Schon wieder, hörst D U sie, mein Gott, wieder hat sie den Tod meiner Mutter beschworen. ELEONORA Ich beschwöre nicht den Tod deiner Mutter, Antonio, ich beschwöre die Liebe. Schreit: Ich will mit dir schlafen!!! ANTONIO in Panik Jetzt? Entschlossen zieht sie sich schnell den Bademantel und das Nachthemd aus und steht nackt mit dem Rücken zum Publikum vor ihrem Mann. ELEONORA Natürlich, warum nicht jetzt? ANTONIO stülpt sich das Kopfkissen über das Gesicht, um sie nicht sehen zu müssen I m N a m e n m e i n e r Mutter, im N a m e n m e i n e r heiligen Mutter, zieh dich wieder an!!! ELEONORA Warum? Steht immer noch nackt vor ihm. ANTONIO lugt hervor, findet bestätigt, daß sie noch immer nackt ist, bedeckt sich das Gesicht wieder mit dem Kissen, läßt es dann sinken und sagt ruhig: Weil meine Mutter heute nicht Geburtstag hat. ELEONORA Und was hat das damit zu tun? Können wir nicht mal mit dieser Scheintradition brechen, die du uns seit unserer Hochzeit aufzwingst? ANTONIO Scheintradition? Meine Mutter? Meine Mutter ist eine Scheintradition? Nein. Das lasse ich nicht zu. Zuerst holt sie mich abrupt aus der W e r t p a p i e r a b t e i l u n g der Staatsbank, u m mir ein paar obszöne Kekse anzubieten, dann möchte sie unbedingt über etwas reden, b e s c h w ö r t den T o d meiner Mutter, zieht sich aus u n d beschuldigt mich steif und nackt, einer Scheintradition anzuhängen!!! Zieh dir wenigstens was an, wenn du über sie sprichst!!!

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ELEONORA zieht das Nachthemd, den Bademantel, eine Mütze, ein paar Stiefel und Handschuhe an und bindet sich einen Schal um Na gut. Darf ich jetzt über deine Mutter reden? ANTONIO sieht sie wortlos an, nimmt das Telefon und wählt die Nummer seiner Mutter Hallo, Mama, ich bin's. Nicht Mario, nein... Mario ist in Bogotá... Erinnerst du dich nicht, daß wir ihn zum Flughafen gebracht haben? Ich bin's, Antonio, dein anderer Sohn, Mama. Pause Ich wollte... ich wollte nur wissen, wie es dir geht. Ich vermute, du schläfst, aber... körperlich, meine ich... Du hast keinerlei Anzeichen von Gleichgewichtsstörungen? Schwindel? Jucken? Herzjagen? Pause. Er nickt Müde, nur müde. Ist das eine normale Müdigkeit? Oder ist das eine tödliche Müdigkeit? Pause Schlaf nicht ein Mama, antworte mir! ELEONORA reißt ihm den Hörer aus der Hand Hallo Paulina? Verblüfft Sie schnarcht, sie schnarcht genau wie du. Sie lauscht. Es sind regelmäßige Schnarchtöne zu vernehmen, auf die sie mit einem Schrei reagiert. Das wiederholt sich zweimal, bis Antonio seiner Frau den Hörer wegnimmt und ruft: ANTONIO Mama, entschuldige, daß ich dich wecke, aber ich muß genau wissen, was du träumst. Was du träumst Mama, ja, erzähl es mir. Er lauscht, nickt und legt mit erleichtertem Gesichtsausdruck auf Sie natürlich auch, sie träumte auch, daß sie in die Wertpapierabteilung der Staatsbank kam, wo ein weißhaariger Mann namens Geldverkehr an einem schwebenden Tisch sitzt. ELEONORA bekommt Angst, zieht sich noch mehr an, vielleicht einen Mantel Das kann nicht sein. ANTONIO Es ist zuviel des Zufalls, ungeheuerlich. Wir haben in einer Nacht denselben Traum geträumt, meine Mutter und ich. Das ist ein schlechtes Zeichen. In unserem Geist ist etwas zerbrochen. Und weswegen? Weil du das Heiligste Scheintradition genannt und unvorsichtigerweise den Tod meiner Mutter beschworen hast. ELEONORA Ich wollte nicht den Tod deiner Mutter beschwören, sondern deine Liebe. ANTONIO Komm her und leg dich hin. ELEONORA legt sich mit allen Kleidern einschließlich Stiefeln ins Bett Ich habe Angst. ANTONIO Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.

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E LEONORA Niemand träumt dasselbe. Wie kannst du das wissen? Wir können nicht alle Menschen anrufen und fragen, was sie träumen. Vielleicht gibt es über hundert Menschen, die die Wertpapierabteilung der Staatsbank betreten, in der an einem schwebenden Tisch ein weißhaariger Mann namens Geldverkehr sitzt. ELEONORA Machen wir die Probe aufs Exempel. Schlaf und träum was anderes. A N T O N I O Iß Kekse, das macht mich schläfrig und beruhigt mich. Eleonora ißt übertrieben laut Kekse, was die gewünschte Wirkung hat. Sie betrachtet Antonio, der schläft und schnarcht. Dann entsteht das Duett: zwei Schnarcher, ein Schrei von Eleonora. Zwei Schnarcher, ein Schrei. Bis sie ihn weckt. ELEONORA schüttelt ihn. Er wacht auf. Was hast du geträumt? A N T O N I O weiß es ganz genau Von der Notaufnahme eines uralten Krankenhauses im Norden. ELEONORA Welchem Norden? Es gibt viele Norden. A N T O N I O In meinem Traum gab es nur einen, es kam eine verzweifelte Menschenmenge mit Näpfen herein und bat mich um weißen Reis. Ich hatte nur Naturreis. Die Frau mit dem Tropf in der Hand verschüttete den Inhalt, der sich augenblicklich in eine Zeitschrift mit großer Auflage verwandelte. ELEONORA Was noch? A N T O N I O Ich fragte nach dir. Aber die Frau mit dem Tropf und die Menge mit den Näpfen zogen sich zurück. Auf einem Meer verstreuter Asche blieb ein blauer, unbequemer Stuhl zurück, und eine zarte Feuchtigkeit, die zwanzig Minuten in der Luft hing. Jetzt ruf sie an und frag sie, was sie in diesem Augenblick träumt. ELEONORA wählt sofort die Nummer ihrer Schwiegermutter Entschuldige, Paulina, daß wir Sie heute nacht so oft stören, aber im Augenblick... Was... träumen Sie gerade? Pause Macht nichts, wenn es länger dauert. Ich höre Ihnen zu. Sie lauscht Danke. Sie legt auf Die Notaufnahme eines uralten Krankenhauses im Norden. Es kommt eine verzweifelte Menschenmenge mit Näpfen herein und bittet sie um weißen Reis, aber sie hat nur Naturreis. Die Frau mit dem Tropf in der Hand verschüttet den Inhalt, der sich sofort in eine Zeitschrift mit hoher Auflage verwandelt. Sie fragt nach mir, aber die Friu mit ANTONIO

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dem Tropf und die Menge mit den Näpfen ziehen sich zurück. In einem Meer verstreuter Asche bleibt ein blauer, unbequemer Stuhl zurück. Und eine zarte Feuchtigkeit, die zwanzig Minuten in der Luft schwebt. Das träumte deine Mutter, Antonio. Und sag mir nicht, daß fünfzig Prozent der Weltbevölkerung im Moment denselben Traum hat. ANTONIO in Panik Mit ihr geschieht etwas sehr Schlimmes. Er wählt die Nummer seiner Mutter Komm her, Mama. Er legt auf. Einen Augenblick später betritt Paulina das Zimmer. Sie ist sorgfältig angezogen, geschminkt, verführerisch und strahlend. Das ist verblüffend, da sie gerade noch geschlafen hat. PAULINA Ja, mein Lieber. Was brauchst du? ELEONORA sprachlos Aber... wie... wie konnte sie? ANTONIO Mama... was für ein Glück, daß du da bist... Sie sinkt in seine ausgestreckten Arme. PAULINA ihn abküssend Mein Sohn, mein Söhnchen... was ist passiert? Hat dir jemand was getan? ELEONORA Aber wie... wie konnte sie so schnell hier sein? PAULINA Ich bin seine Mutter, das erklärt alles. ELEONORA Sie ist seine Mutter, aber sie wohnt zehn Häuserblocks von hier entfernt. Sie lag zu Hause in ihrem Bett und schlief, und kaum hatte er gesagt, komm her, war sie schon hier... PAULINA sieht Eleonora geduldig an Und was überrascht dich so daran, Eleonora? ELEONORA Mich überrascht die Zeit... die Geschwindigkeit... PAULINA Aber was willst du? Eine reale Zeit? Hast du nicht bemerkt, daß die Realität zwischen dieser Mutter und diesem Sohn nicht existiert? ELEONORA Nein? PAULINA Auf gar keinen Fall. In unserer Beziehung hat die Realität nie eine Rolle gespielt. ELEONORA Ja, aber zwischen Ihrem und meinem Haus liegt eine reale Zeit, Señora. PAULINA Du siehst, daß das nicht stimmt. Es gibt sie nicht. Er sagte, Mama, komm her, und augenblicklich war ich hier. Irgendein Philosoph hat diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Wir werden in einen Traktat eingehen. Dachte Einstein an uns, als er von der Krümmung

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des Raums sprach? Erzähl uns nichts von der Zeit, Eleonora. Die Zeit ist eine Konvention wie jede andere. Wie der Raum. ELEONORA Aber real ist, daß Sie aufstehen, das Nachthemd ausziehen, sich anziehen, schminken, die Wohnung verlassen und zehn Häuserblocks weit gehen müssen. Das ist reale Distanz und greifbare Zeit. PAULINA Aber zwischen meinem Herzen und dem meines Sohnes gilt diese reale Distanz und diese greifbare Zeit gar nichts. ANTONIO Wie gut meine Mutter sich ausdrücken kann! Du bist eine große Rednerin!!! PAULINA Das wußte ich schon immer, aber ich ziehe es vor, Bestseller zu schreiben. Damit verdient man mehr als mit Reden. ANTONIO umarmt sie Mama... Ich will nicht, daß du stirbst... Die Leser deiner Bestseller brauchen dich!!! PAULINA Was für ein Einfall! Wieso sollte ich ausgerechnet jetzt sterben, wo sich mein letztes Buch so gut verkauft? ANTONIO Also, Mama, Geld ist nicht alles. PAULINA sprachlos Wenn ein Hemdenfabrikant wie mein Sohn sagt, daß Geld nicht alles sei, dann geschieht in diesem Haus etwas Furchtbares!!! ELEONORA Antonio hat Panik gekriegt. Deshalb haben wir Sie aus dem Bett geholt. ANTONIO Fühlst du dich wirklich gesund, Mama? Läßt ihr keine Zeit zu antworten Machst du jeden Tag deine Gymnastik? Hältst du dich an deine Diät? Kaust du jeden Bissen vierunddreißig Mal? Ist dein Urin klar? Wann hast du das letzte Mal ein EKG machen lassen? Wann hat man das letzte Mal deine Blase untersucht? Und der Hexenschuß? Und die Arthritis? Und deine Arteriosklerose ist ja auch nicht von nichts gekommen. Du leidest doch nicht heimlich an Rheuma oder Altersasthma? Du verschweigst mir doch keine Lungenentzündung? PAULINA Allmählich beginne ich mich schlecht zu fühlen. ELEONORA Ich auch. ANTONIO Seht ihr? Seht ihr? Du hast den Tod beschworen. Nehmt ihr nicht seinen typischen Geruch wahr, sein finsteres endgültiges Lächeln? Paulina lächelt schwach, Eleonora auch.

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PAULINA Bis vor wenigen Sekunden war ich vollkommen gesund! Jetzt tut mir meine linke Schulter weh. ELEONORA Bitte, Paulina, verlassen Sie uns nicht. Bringen Sie uns wenigstens nicht um Ihren Geburtstag. PAULINA Meinen Geburtstag? ELEONORA In diesem Haus ist Ihr Geburtstag die Säule der Erotik!!! PAULINA Jetzt tut mir auch die rechte Schulter weh. ANTONIO Das ist schlecht, das ist sehr schlecht! Man sieht schon, wie sich die Pupillen erweitern. Er untersucht die Augen seiner Mutter. Ein gelber Punkt! PAULINA Gelb, mir wird schwindlig... beunruhigt Ich weiß nicht, ob ich meinen Geburtstag noch erlebe... ELEONORA Tun Sie mir das nicht an, Paulina. Verzweifelt Ein Monat ist gar nichts, und für uns ist er existentiell. PAULINA Was geschieht an meinem Geburtstag? ANTONIO Eine Scheintradition, wie die todbringenden Zungen der Nacht behaupten. Dabei zeigt er auf seine Frau. Paulina sieht sie verständnislos an. ELEONORA Die todbringenden Zungen der Nacht bin ich. Ein Spitzname, ein zärtlicher Spitzname für mich von Ihrem Sohn. Anfangs nannte er mich Mimi oder Miau Miau. Jetzt nennt er mich die todbringenden Zungen der Nacht. PAULINA Ein hervorragender Titel für einen Bestseller. Den werde ich mir aufschreiben. Mein Sohn hat eine große Vorstellungskraft, obwohl er Hemden herstellt. Sie öffnet ihre Tasche und notiert den Titel. Und warum nennt er dich auf so zärtliche Weise? ELEONORA Genaugenommen, weil ich fürchte, daß uns die Geburtstage ausgehen. ANTONIO Schon wieder eine Blasphemie!!! Er sinkt auf die Knie Ich bitte dich, deine Todesklagen zu unterbrechen!!! Du hast sie schon krank gemacht. Du hast schon diesen gelben Punkt auf dem Hintergrund ihrer Augen verursacht. PAULINA Wie gut sich mein Sohn ausdrücken kann! Wie er sich behauptet. Das werde ich auch für meinen nächsten Bestseller notieren. Sie holt ihr Notizbuch hervor und notiert Jetzt fehlt nur noch, daß ihr mir verratet, was an meinem Geburtstag passiert, und die Nacht ist

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gerettet. Die komplette Schlußsequenz habe ich schon, sie endet mit meinem Tod. ANTONIO Siehst du? Sie ist entschlossen!!! Und das alles nur, weil die todbringenden Zungen der Nacht das, was frisches Fleisch war, in ein M a s s e n g r a b geschleudert haben. Aber nicht m e i n e M u t t e r ! Nimm mir sonstwas weg, aber nimm mir nicht meine Mutter. Er hebt Paulina hoch. Paulina fühlt sich wie eine Heldin und verhält sich entsprechend. PAULINA Wie stark er ist... Hast du das gesehen? Antonio schreitet wie ein Held mit seiner Mutter auf dem Arm umher. Eleonora sieht ihnen resigniert zu. Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, was an meinem Geburtstag passiert. ANTONIO Hör nicht auf sie, Mutter. Tod, weiche von ihr! Weiche in deine vertrauten Gefilde zurück!!! Mit seiner Mutter im Arm fordert er Eleonora heraus. ELEONORA W e n n Sie nicht älter werden würden, geschähe in diesem Zimmer gar nichts. PAULINA Wie nichts? ELEONORA Nichts. Selbst Javier wäre nicht geboren, Señora, wenn Sie nicht älter werden würden. Nur an Ihren Geburtstagen geschieht etwas zwischen Antonio und mir. PAULINA Aber... will sie damit sagen, daß ich dich anrege? ANTONIO nickt Mutter, das ist eine bescheidene Ehrung, die ich dir jedes Jahr zukommen lasse. PAULINA etwas besorgt Und das restliche Jahr? ELEONORA Nichts. PAULINA Nicht mal eine Liebkosung, keine Zärtlichkeit, kein Orgasmus? ELEONORA Nichts!!! Antonio sieht seine Mutter an, sie betrachtet ihn enttäuscht. PAULINA Und du fragst mich, ob ich krank sei? Laß mich runter, Antonio, ich ziehe festen Boden unter den Füßen vor. Antonio setzt sie ab. Das ist nichts für einen Bestseller, Antonio. Würde ich aus deinem Privatleben erzählen, ließe er sich nicht verkaufen. Ißt der J u n g e richtig? ELEONORA Er frißt wie ein Löwe.

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PAULINA untersucht seine Augen Ich sehe einen grünen Punkt, mein gelber Punkt ist also Normalzustand. Zu Eleonora Und du, bist du nett zu ihm? ANTONIO Überhaupt nicht. ELEONORA Reizend. Jeden Tag kaufe ich mir ein neues Nachthemd. W e n n m a n dazu zählt, daß ich den Wahnsinn begangen habe, mit siebzehn Jahren zu heiraten, sind das in zwanzig Jahren Ehe dreihundertfünf Nachthemden pro Jahr, dann können Sie sich ja meine B e m ü h u n g e n , ihm zu gefallen, ausrechnen!!! Sie öffnet den Wandschrank und beginnt stürmisch, Hunderte von Nachthemden herauszuzerren, die sie über das Bett, über Antonio, seine Mutter und sich selbst verteilt Wie Sie sehen, an Nachthemden zum Ausziehen hat es uns nie gefehlt. PAULINA Aber, Kind, offensichtlich stellen sich erotische Gefühle bei ihm nicht durch Nachthemden ein. ELEONORA Er behauptet das Gegenteil. ANTONIO Ich mag Nachthemden. Sie bescheren mir ausgiebige Träume. Die drei sind in Nachthemden verwickelt. Paulina findet interessant, was ihr Sohn sagt. PAULINA Gewiß, unter so vielen Nachthemden kann man ausgiebig träumen... Sie zieht sich aus und ganz schnell ein Nachthemd an Wenn es euch nichts ausmacht, ich träume gern ausgiebig. Sie setzt sich in die Mitte des Ehebettes. ELEONORA sieht sie bestürzt an Aber... ANTONIO Sie m u ß ausgiebig träumen, wie ich. Was willst du? Daß sie in ihre W o h n u n g zurückkehrt? Findest du das nicht herzlos? Auch er legt sich ins Bett, neben seine Mutter. Eleonora zieht wütend ihre ganze Montur aus, schlüpft in ein wunderschönes Nachthemd und legt sich ebenfalls ins Bett. Die drei liegen unter dem riesigen Wirrwarr von Nachthemden, Paulina in der Mitte. PAULINA Das hier ist wirklich für einen Bestseller geeignet. Er wäre am ersten Tag vergriffen. Ich weiß, was ich sage! Ich kenne meine Leser. Wir haben eine Szene ohne Symbolgehalt geschaffen. Meine Leser hassen Szenen mit Symbolgehalt! Sie mögen die Dinge dreister. Und das hier ist tatsächlich dreist. Die Frau zur Linken, der M a n n zur Rechten u n d seine Mutter wie eine Göttin mitten im Bett. W a s passiert, ist unwichtig! Auf die Wirkung k o m m t es an! Jetzt hat es

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einen Sinn, daß ihr mich aus meinem Bett geholt habt, als ich gerade Marschall Tito umarmte. ANTONIO Wen hast du umarmt, Mama? PAULINA Tito ist ein entzückender Marschall. Aber ihr seid zwei. Und ihr schlaft nur an meinem Geburtstag miteinander, darf ich euch umarmen? Sie legt beiden einen Arm um die Schultern Das ist eine hochspannende Szene! Unschuldig wie ein Spiegel. Verworren und provokativ wie Piatons Gastmahl. Ich glaube, ich kann euch heilen. Ich schlafe und träume ausgiebig. Ich schnarche wie eine Heilige in der Morgendämmerung. Feiern wir zusammen unsere Freiheit. ELEONORA

W e l c h e Freiheit?

PAULINA Ist dir das zu wenig Freiheit, ein ehrliches Produkt der Demokratie, zivilisierte Menschen im Bett, ohne etwas zu tun. Ich bin Bestsellerautorin, ich pflege keine Nachthemden zu kaufen. Schau dir meinen Engel an, wie er schläft, jetzt träumt er ausgiebig. Antonio schnarcht selig im Doppeltakt. Eleonora holt eine riesige Keksdose hervor, knabbert lustlos an einem Keks, bietet ihrerSchwiegermutter an. ELEONORA Ich hätte nie geglaubt, daß es so weit kommen würde. PAULINA Ich, ganz ehrlich gesagt, auch nicht. ELEONORA Zwanzig Jahre lang habe ich nur zu Ihrem Geburtstag Liebe gemacht. Aber dies übersteigt die Grenzen der Huldigung. Nun sitzen Sie schon mitten in unserem Bett! PAULINA Das stimmt, das Leben imitiert die Kunst. Hervorragendes Material für meinen nächsten Bestseller. ELEONORA Hier gibt es keinen Symbolgehalt. Freud wurde aus dem Bett geschmissen. Nicht einmal Euripides hätte ohne eine Spur von Schuldgefühl neben seiner Mutter geschnarcht! Aber Antonio, sehen Sie ihn an, schläft ganz entspannt! Er hat Frau und Mutter neben sich im Bett und träumt von der Wertpapierabteilung der Staatsbank, wo an einem schwebenden Tisch ein weißhaariger Mann mit Namen Geldverkehr sitzt! Ich weiß, es fehlt nicht mehr viel bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, aber ich hätte nie gedacht, daß es möglich wäre, alles mit einem Federstrich zu zerstören! Lacan hat ausgedient. Es hat keinen Sinn mehr, daß Ödipus sich am Ende der Tragödie die Augen aussticht.

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Stimmt, wie modern wir sind! Und das, obwohl wir in Buenos Aires leben. Stell dir Antonio und mich in New York vor, da wäre bestimmt schon was passiert... Ich meine, zwischen euch beiden. ELEONORA Noch einen Monat bis zu Ihrem Geburtstag. PAULINA SO eine raffinierte Huldigung, und ich so weit weg von allem. Ihr hättet mich darüber informieren müssen. Mir ist jedesmal aufgefallen, daß ihr zu spät zu meinem Geburtstagsessen gekommen seid, aber ich hätte nie gedacht, daß es deshalb war. E L E O N O R A Drehen Sie seinen Kopf nach links. Zwei Schubser und ein heftiger Stoß. So hört er eine Weile auf zu schnarchen. Paulina gehorcht, löst aber einen phantastischen Schnarcher aus, der fast ein wortreiches Murmeln ist. A N T O N I O diskutiert im Traum mit jemandem Ich produziere Hemden, keine Dünen, Dünen produziert der Herrgott. Aber in der Dünenproduktion werden Sie kein besseres Hemd finden. Soll ich Ihnen einen Witz erzählen? Er handelt von meiner Mutter. PAULINA Ich bin ihm ständig gegenwärtig. Er ist ein großartiger Sohn. A N T O N I O Nun, es war so, daß meine Mutter völlig nackt in meinem Bett lag und ich meinen Kopf unter dem Kissen versteckte. E L E O N O R A Schubsen Sie ihn noch mal, Sie werden einsehen, daß wir uns diesen Witz nicht anhören können! Sie hält sich den Kopf mit dem Kissen zu. Paulina schüttelt Antonios Kopf, als handle es sich um ein altes Radio, bei dem sich durch Schütteln ein anderer Sender einstellt. Nachdem Antonio seine Haltung geändert hat, träumt er etwas anderes und murmelt laut: A N T O N I O Meine Mutter schrieb einen Pornobestseller mit großer Auflage. Sie war Besitzerin zweier riesiger weißer Brüste, die waren bei den Männern niederer Natur in Buenos Aires und Montevideo sehr beliebt, aber sie wollte ihre Produkte nach Kolumbien verkaufen. Zentralamerika ist ein großer Markt, ein Geschäftsmarkt, und der Verleger meiner nackten Mutter... E L E O N O R A Den Kopf, Paulina, den Kopf! Dann lieber sein Schnarchen! Schütteln sie ihn in die entgegengesetzte Richtung, nach Norden!!! Paulina dreht Antonios Kopf grob herum, der wacht aber keineswegs auf. PAULINA Er hat schon immer wie ein Stein geschlafen. Die Welt könnte untergehen, der dritte Weltkrieg ausbrechen, und mein Baby würde nichts mitbekommen. Ist er nicht ein Engelchen? PAULINA

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ELEONORA Können Sie mir Ihre literarischen Momente nicht ersparen? Ich verstehe, daß Sie ein warmherziges Verhältnis zueinander haben. Aber verstehen Sie auch meine Lage. Ich bin verheiratet, ich k o m m e aus einer bescheidenen Familie. Ich habe einen achtzehnjährigen Sohn. Sagt Ihnen das gar nichts? PAULINA Ich kenne dein Leben sehr genau. Und jetzt werde ich es in meinem nächsten Bestseller verarbeiten. Und frag mich nicht, wie ich in dieses Bett gekommen bin. Mein Sohn hat mich angerufen. Er hat gelitten, ich sah es deutlich. Deshalb bin ich hier. ELEONORA Sie sahen es deutlich? PAULINA Ich schloß die Augen, bereit, mich zurückzuhalten. Ich sagte mir, sie sind ein Ehepaar, und in die Angelegenheit von Ehepaaren mischt m a n sich nicht ein. Aber als ich die Augen schloß, sah ich meinen Antonio wie auf einer in allen Regenbogenfarben schillernden Fotografie, und ich konnte nicht umhin, ihn zu beschützen. Antonio schnarcht in unterschiedlichen Tonlagen vom Tonband. PAULINA Also ihr schlaft nur... an meinem Geburtstag miteinander? ELEONORA Ich denke dabei an ihn, er denkt nur an eine riesige Torte mit Kerzen. Das ist das einzige, was ihn stimuliert. PAULINA Aber auf diese Art... wie konntet ihr einen Sohn zeugen? ELEONORA Das war ein Wunderwerk Gottes. Natürlich als Geburtstagsgeschenk, Paulina! PAULINA Nun... das ist eine große Ehre... Kokett und stolz Zu Recht sieht er mir so ähnlich. Sie lacht. Eleonora findet das nicht witzig, und Paulina wird wieder ernst. ELEONORA stößt einen unbeherrschten Schrei in Antonios Richtung aus: Schnarch nicht! Springt aus dem Bett und dreht Antonios Kopf hin und her. Die Schnarcher vom Band heben an, bis sie den Raum ausfüllen. Danach wird es still, was Eleonora siegreich dankt. Sie läßt Antonios Kopf brüsk auf das Kopfkissen fallen Jetzt wirst du uns eine Zeitlang in Ruhe lassen. Damit sie und ich uns offen aussprechen können. Sie setzt sich in den Lehnstuhl und schaut ihre Schwiegermutter an. Wie Sie verstehen werden, Paulina, ist diese Situation unhaltbar. PAULINA ES ist jammerschade. ELEONORA Ihr Sohn hat keine Ahnung von Sex. Daß wir Javier bekommen haben, war reiner Zufall, und dabei dachte er an Ihre Geburtstagstorte.

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PAULINA Waren die Kerzen an oder aus? ELEONORA Nach diesen Details habe ich ihn nie gefragt, aus Angst, er wird abgelenkt, und nicht einmal an diesem Tag passiert was. PAULINA Ich verstehe deine Verzweiflung... das restliche Jahr über. ELEONORA SO ist es, die Nächte sind sehr lang. Und das Jahr hat 365 Nächte. Mit anderen Worten, mir bleiben 364 schlaflose Nächte. PAULINA Und was tust du dann? ELEONORA Ich esse Kekse. Ich kenne schon alle Sorten. Ich esse Kekse, während Antonio schnarcht. Das ist ein guter Trennungsgrund nach zwanzig Jahren. PAULINA Tu das nicht. Ich werde euch helfen. ELEONORA Wie? PAULINA Es ist Zeit, sich der Realität zu stellen. ELEONORA Aber wie? PAULINA Es ist Zeit, Antonio die Wahrheit zu sagen. ELEONORA Welche Wahrheit, Señora? PAULINA Ich habe Antonio streng autoritär erzogen. Als mein Mann starb, schwor ich, ihm bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr nichts von Sexualität zu erzählen. Vielleicht hat ihm der Vater gefehlt, aber ganz gewiß keine Ohrfeige zur rechten Zeit. ELEONORA Na gut, aber Antonio ist vierzig. PAULINA Deshalb... glaube ich, daß ich ihn darüber unterrichten sollte, woher die Kinder kommen. Was Mann und Frau tun, wenn sie allein sind. Als Javier geboren wurde, war ich beruhigt, denn ich glaubte, er hätte es auf eigene Faust herausgefunden. Aber heute muß ich erfahren, daß er seinen eigenen Sohn unbewußt gezeugt hat und dabei an eine Geburtstagstorte dachte. ELEONORA unwillig Ihre Geburtstagstorte, Paulina! PAULINA Natürlich, wenn es wenigstens deine gewesen wäre... wären die Dinge weniger gravierend. Aber nein. Ich werde es nicht zulassen, daß diese Ehe zerbricht. Ich werde meinem Sohn die notwendige Aufklärung zukommen lassen. ELEONORA Endlich!!! Brauchen Sie eine Tafel? Farbige Kreide, anatomische Lehrbücher? PAULINA Selbstverständlich. Ich werde ihm großen Kummer bereiten. Er wird seine Unschuld verlieren. ELEONORA Er ist vierzig Jahre alt!!!

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PAULINA Ich gebe zu, die Aufklärung kommt nicht gerade früh, aber ich glaube, sie kommt rechtzeitig. ELEONORA Soll ich ihn wecken? Soll ich Sie beide allein lassen? PAULINA Jetzt geht das nicht, das läßt sich nicht improvisieren. ELEONORA Werden noch einmal vierzig Jahre vergehen? PAULINA Laß mir zwei Tage, meine Liebe. Ich muß mich gründlich vorbereiten, aktuelles Unterrichtsmaterial besorgen. Wenn ich meinem Sohn schon Schweinereien erzählen muß... sollen es wenigstens wissenschaftlich fundierte Schweinereien sein! Eleonora sieht sie sprachlos an. Antonios Schnarchen wird lauter. Paulina schüttelt besorgt den Kopf. Die Lichter erlöschen. Zweiter Akt Zwei Nächte später im selben Zimmer. An der Wand über dem Kopfende des Bettes hängt eine Leinwand. Antonio trägt einen Anzug mit Weste und sieht wie ein fleißiger Schüler aus. Er hat Gel im Haar und sehr blank geputzte Schuhe. Seine Mutter hat sich einen Lehrerinnenkittel umgebunden und hält einen Zeigestock in der Hand. Im Halbdunkel sehen wir die ersten Bilder eines Diavortrags mit dem Titel AUFKLÄRUNGSUNTERRICHT FÜR ANTONIO. Dieser Vortrag wurde von Paulina speziell für ihren Sohn entworfen und besteht aus Fotos und selbstangefertigten humorvollen Zeichnungen. Diese sind naiv, zärtlich und amüsant. Die Szene hat weder etwas Verletzendes noch Pornographisches, da sie ja dazu dient, einem sechsjährigen Kind den Ursprung des Lebens und den sexuellen Akt zu vermitteln. Paulinas Stimme ist aus dem off von einer den Diavortrag begleitenden Tonbandaufnahme zu hören, obgleich sie und Antonio auf der Bühne lebhaft Randbemerkungen und Kommentare liefern. Sie weist mit dem Stock auf das, was sie auf den Dias für zeigenswert hält. Es beginnt mit: Antonio als Baby (Foto). PAULINA Stimme von Tonband Einmal, als du noch klein warst, hast du mich gefragt, woher die Babys kommen. Sehr niedliche Zeichnung eines Storches mit einem Baby im Schnabel. Ich antwortete dir sogleich, daß dich ein wunderschöner Storch zu meinem Geburtstag aus Paris gebracht hätte. Zeichnung einer Katze, die ein Junges im Maul trägt.

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Als du etwas größer warst, erzählte ich dir, daß du zu meinem Geburtstag von einer schwarzen Katze gebracht worden seist, die dich im Maul trug... Zeichnung der lächerlichen Tante Canwna mit einem Baby als Geschenkpaket. Später erzählte ich dir auch, daß es in Wirklichkeit deine Tante Carmona gewesen sei, die dich auf der Straße gefunden hatte und als Geburtstagsgeschenk mitbrachte. Zeichnung eines Geldbündels, in dem ein Baby steckt. Bei anderer Gelegenheit erzählte ich dir, daß ich dich unter dem Haufen Geld gefunden hätte, den ich für meinen ersten Bestseller zum Geburtstag erhalten hatte. Torte mit Kerzen und einem Baby als Verzierung. Ein andermal erzählte ich dir, daß du als Geburtstagstorten-Deko gekommen bist. Foto von Paulina, die die Hände vors Gesicht hält. Ich schäme mich, Antonio. Foto von Paulina rot angemalt. Wie du siehst, werde ich rot. Foto von dem untröstlich in einer Ecke weinenden Antonio. Gegenwart. Erster Entwurf seines tränenüberströmten, verzweifelten Gesichts. Es wirkt wie eine Tragödienmaske. Ich weiß, daß ich dir damit weh tun werde. Antonio und seine Mutter in Umarmung. Aber, mein Sohn... du bist schon vierzig Jahre alt, und das ist ein gutes Durchschnittsalter, um endlich etwas zu erfahren. Dir hat Gott oder das Schicksal zufällig einen Sohn beschert. Aber der Mensch ist ein Tier mit Bewußtsein. Und in ein solches werde ich dich heute verwandeln. Foto von einem lesenden Gorilla. ANTONIO unterbricht jäh den Vortrag Warte Mama, Warte. Er setzt sich vor die Leinwand aufs Bett, die Arme ausgebreitet Ich will kein Tier mit Bewußtsein sein! PAULINA Das sind wir alle. ANTONIO Ich will ein unschuldiger Mensch bleiben. PAULINA Niemand ist das.

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ANTONIO Ein Grund mehr dafür, daß jemand als einziges lebendiges Exemplar einer ausgestorbenen Rasse herumläuft. PAULINA Deine Ehe geht kaputt. Wir müssen etwas tun. Verabschiede dich würdevoll von deiner Unschuld. ANTONIO Leb wohl, meine Unschuld. Ich überlasse dir meinen Storch und das Porträt meiner Tante. Und ich überlasse dir die Huldigung, die ich meiner Mutter zollte. Leb wohl, meine Unschuld. Ich überlasse dir die ewig entzündeten Kerzen, und die Katze, die mich in ihrem Maul brachte, als ich geboren wurde. Leb wohl, meine Unschuld. Er wird ernst und setzt ein tragisches Gesicht auf Ich bin bereit, Mama. Du kannst mich in ein Tier mit Bewußtsein verwandeln. Die Geschichte verlangt es. Das 20. Jahrhundert fordert es. Ich bin bereit, mich dem Leben zu stellen. Er spaziert mit militärischem Stechschritt über das Bett Vorwärts, Marsch! Eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei... Der Vortrag läuft weiter. Sie nehmen ihre Plätze wieder ein: scherzhafte Zeichnung eines Mannes, einer Frau und eines Kindes. Alle drei nackt. PAULINA Stimme aus dem off Mein Sohn, jetzt ist der Augenblick gekommen, dir zu sagen, daß Kinder von Erwachsenen gemacht werden. Dia von einem Jugendlichen (Javier) Das soll heißen, Eleonora und du haben Javier gemacht. Foto von Eleonora und Antonio Und daß du... Altes Foto von Paulina und einem Herrn. ... von deinem Papa und mir gemacht wurdest. Das heutige, ausgesprochen verwirrte Gesicht Antonios. Ich weiß, daß dich diese Enthüllung sehr überrascht. Scherzhafte Zeichnung einer dicken und sympathischen nackten Frau. Eine Zeichnung gleichen Stils von einem dickbäuchigen und kahlköpfigen Männlein. Aber im Alter von 40 Jahren wird es Zeit zu erfahren, daß einer der beiden Erwachsenen eine Frau sein sollte, und der andere ein Mann. Beide halten sich an der Hand und sehen sich an. Dieser Mann und diese Frau fühlen sich zueinander hingezogen. Das nennt man Begehren. Dieselben Personen sitzen zusammen in der Badewanne.

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Wenn du beide in eine Wanne setzt, Antonio, dann wirst du sofort etwas Auffälliges bemerken. Das Männlein spielt mit einem kleinen Boot. Was fällt dir auf, Antonio? Die Frau seift sich den Kopf ein. Was fällt dir auf, Antonio? ANTONIO lebhaft Daß sie abnehmen sollte. PAULINA lebhaft Und was noch, mein Lieber? Das Männlein hält ihr das Boot hin. ANTONIO Daß er ein Boot in der Hand hat. PAULINA im off Alles, was du bemerkt hast, ist richtig. Glückwunsch. Du bist ein ausgezeichneter Beobachter. Aber das Wesentliche hast du nicht bemerkt. Die gezeichneten Figuren stehen nun nackt und zufrieden da. Daß die beiden nicht gleich sind. ANTONIO lebhaft Das stimmt, er ist kahlköpfig und sie nicht. Die nackten Personen zeigen einander in einer spitzbübischen Geste gegenseitig auf die Brust. PAULINA im off Als erstes wirst du bemerken, daß der Mann eine flache Brust hat. Die Frau hingegen hat zwei runde Wölbungen. Diese Wölbungen haben viele Namen. Einige nennen sie Titten, andere Busen, Brust oder Brüste. Zeichnung der kleinen Figuren, die schamhaft ihr Geschlecht betrachten. Nun schau etwas weiter nach unten, Antonio. Du siehst, daß zwischen dem Mann und der Frau von der Taille abwärts ein großer Unterschied besteht. Großaufnahme derselben Zeichnung von der Taille abwärts. Ihm hängt etwas zwischen den Beinen. Sie hingegen hat dort einen Schlitz. Das, was dem Mann zwischen den Beinen hängt, hat auch viele Namen: Schwanz, Pimmel, Penis oder Rute. Einige nennen es auch ganz drollig Piepmatz. Du kannst es nennen, wie es dir am besten gefällt, aber das Wichtigste ist, Antonio, daß du es benutzt. Komische Zeichnung von Männlein und Weiblein, die einander streicheln. Sie tanzen auf dem Bett und küssen sich. Der Schlitz zwischen den Beinen der Frau heißt Pflaume, Müschi, Möse oder Vagina. Wenn die beiden spielen und sich näherkommen, wird der Piepmatz des Mannes hart und ihre Muschi wird feucht.

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Es folgen Positionen, die scherzhaft das Kamasutra ins Gedächtnis rufen. Sie drehen Pirouetten. Sie wiegen sich. Sie hüpfen über eine Blumenwiese und vereinigen sich schließlich. Jetzt ist es soweit, sich zu lieben. Sie wissen das, aber sie zögern es hinaus. Bis sie nicht mehr können und sich vereinigen. Er steckt den Piepmatz in die Möse, und sie bewegen sich erregt hin und her. Schnellere Abfolge der Dias von Männlein und Weiblein in wirklich extravaganten, gymnastischen und kunstfertigen Kamasutra-Positionen.. Das hat auch viele Namen: den Beischlaf vollziehen, vögeln, Liebe machen. Es ist etwas sehr Vergnügliches, das einen Höhepunkt hat, bei dem man einen Strudel unvergeßlicher Empfindungen verspürt, berauscht von der eigenen Glückseligkeit, ursprüngliches körperliches Verlangen, auch Orgasmus genannt. Männlein und Weiblein stöhnen. Das Männlein knabbert am Ohr des Weibleins. Beim Orgasmus bäumen sich der Mann und die Frau auf, sie stöhnen, nennen sich gegenseitig beim Namen, beißen sich in die Ohren, und auf dem plötzlichen Gipfel spritzt er eine zähe, weiße Flüssigkeit ab, die sie in ihrem Innern aufnimmt. Die Flüssigkeit heißt Samen. Die beiden sinken erschöpft nieder und schlafen ein. Die beiden sind glücklich. Jetzt schlafen sie. Also, Antonio, so bist du entstanden. Die Lichtergehen an. Antonio sieht seine Mutter verwirrt an. ANTONIO Und mein Sohn? PAULINA Alle. ANTONIO Aber ich habe nie so viel gemacht! P A U L I N A D U hast es getan, während du an etwas anderes dachtest. A N T O N I O Ich dachte an eine riesige Geburtstagstorte. P A U L I N A Jetzt weißt du alles. Du bist ein Mann, mein Sohn. Und so solltest du dich auch verhalten. Laß dich umarmen in diesem bewegenden Augenblick, in dem dein Gesicht sich für immer verändert hat. Antonio berührt besorgt sein Gesicht. Du bist jetzt nicht mehr unschuldig. Los, stell dich dem Leben. Ich werde deine Frau hereinholen. Wiederhole du inzwischen deine Lektion, damit du nichts vergißt.

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Paulina geht hinaus. Antonio bleibt nachdenklich zurück. Er greift sich an die flache Brust. Zeigt distanziert auf seine Genitalien. Eine sehr sinnliche und verführerische Eleonora tritt ein. ANTONIO Und meine Mama? ELEONORA Sie ist gegangen, mein Liebster. Wir sind allein. Die Welt gehört uns. Sie hat mir gesagt, daß du ein ausgezeichneter Schüler warst, daß du jetzt alles weißt, daß sich dein Gesicht verändert hat. Daß deine Haut anders leuchtet. Sie küßt ihn auf den Mund. Ich warte darauf, daß du mir deine Kenntnisse zeigst. ANTONIO Der Mann hat eine flache Brust. Die Frau hingegen hat zwei runde Wölbungen. Eleonora ist sexy und bereit. Er ist steif und pädagogisch, wiederholt wie ein braver Schüler. Die können wir Titten nennen, wenn wir wollen. Ihr mißfällt das Wort. ELEONORA wütend Titten? Wie kannst du meinen... wunderbaren Busen Titten nennen? ANTONIO Du kannst sie nennen, wie du willst: Busen, Titten, Brüste oder Brust. ELEONORA versucht, ihr erotisches Gefühl wiederzuerlangen Was hat dir deine Mama noch beigebracht? ANTONIO Stell dir nur vor, von der Taille abwärts siehst du einen großen Unterschied, er hängt zwischen meinen Beinen: die Rute. ELEONORA Rute und Titten? Das hat dir deine Mutter beigebracht? ANTONIO Das, und wenn dem Mann die Rute steif wird, steckt er sie in den Schlitz, und dabei tanzen sie, oder gehen in die Badewanne, oder sie beißen sich ins Ohr, und das beste ist... ist, wenn er wiederholt schnell der Mann und die Frau sich vereinigen, das ist etwas Vergnügliches und hat einen Höhepunkt, bei dem man einen Strudel unvergeßlicher Empfindungen verspürt, berauscht von der eigenen Glückseligkeit, ursprüngliches körperliches Verlangen, auch Orgasmus genannt. Hast du schon mal davon gehört? ELEONORA Und was hat dir deine Mutter noch beigebracht? ANTONIO Daß ich nicht aus dem Maul einer Katze stamme, Liebste. ELEONORA Das ist wirklich wichtig. Gehen wir ins Bett? ANTONIO Willst du mir nicht gratulieren?... Weil ich meine Lektion so gut gelernt habe... meine ich.

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ELEONORA Also, ich gratuliere dir zu gegebener Zeit. Du hast erst das theoretische Examen bestanden. Jetzt fehlt noch der praktische Teil. ANTONIO Nein, von der Praxis hat sie mir nichts gezeigt. Ich kenne nur die Theorie. ELEONORA Aber mit der Theorie können wir zur Praxis übergehen. ANTONIO Nein, Eleonora, ich habe nur den theoretischen Teil gelernt. ELEONORA Aber das eine ist die Ergänzung des anderen. ANTONIO Nein, Eleonora, ich sage dir, das stimmt nicht. Hier sind meine Notizen: Brust liest Piepmatz, Brüste, Rute, zähe Flüssigkeit, sie beißen sich in die Ohren, sein Pimmel wird hart. ELEONORA treibt ihn in die Enge, er weicht zurück Der praktische Teil, Antonio. ANTONIO panisch Es gab keinen praktischen Teil, ganz sicher nicht. Es waren sehr pädagogische Zeichnungen. Willst du, daß ich dir mehr erzähle? Jetzt bin ich ein Tier mit Bewußtsein. ELEONORA Na gut. ANTONIO Ich bin kein unschuldiger Mensch mehr. ELEONORA Fangen wir an. ANTONIO Ich bin nicht vom Storch gebracht worden. ELEONORA Ich sagte, fangen wir an! ANTONIO Wir? ELEONORA Sonst ist niemand weiter in diesem Zimmer. ANTONIO Wir bewußten Tiere tun das nicht. ELEONORA Antonio... jetzt weißt du doch, wie es geht. ANTONIO Theoretisch wissen wir bewußten Tiere alles. ELEONORA Und praktisch? ANTONIO Praktisch setzten wir uns in den Wandschrank. Er setzt sich in den Wandschrank. ELEONORA versucht verweifelt, die Schranktür zu öffnen. Sie schlägt dagegen Antonio... komm raus, Antonio, komm raus... ANTONIO von drinnen Wir Tiere mit Bewußtsein amüsieren uns gern. ELEONORA Antonio, es tut nicht weh. Es passiert dir nichts. ANTONIO Ruf meine Mama an. ELEONORA Deine Mama? Aber deine Mama ist doch gerade gegangen. Hör zu, Antonio, das letzte, was ich jetzt hm würde, ist, deine Mutter anzurufen!!! ANTONIO Wir Tiere mit Bewußtsein mögen Mamas.

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ELEONORA Jetzt reicht es mit Mama. Sie nimmt das Telefon und sucht das Telefonbuch Sexualkunde. Sexualtherapie, Sexualwahn, Freier Sex, Sexualtherapeut. Das ist es, Sexualtherapeut. Ich werde einen Sexualtherapeuten anrufen. Sie wählt die Nummer Hallo... mit dem Sexualtherapeuten...? Hören Sie, wecken Sie ihn, denn es handelt sich um einen Notfall. Mein Mann sitzt im Wandschrank. Vorhang Zwei Tage später in demselben Zimmer. Eleonora und Antonio warten ungeduldig auf den Sexualtherapeuten. ANTONIO Warum müssen wir einen Typ aus dem Telefonbuch konsultieren, wir haben doch so viele Freunde, die uns einen Sexualtherapeuten mit gewissem Ruf empfehlen könnten. ELEONORA Und die Schande, und die Schmach? Willst du, daß ich meiner Freundin Mariana von unserem lustvollen Privatleben erzähle? Morgen würden uns alle unsere Freunde auslachen. ANTONIO Das wäre mir lieber, als mich in die Hände eines Fremden zu begeben. ELEONORA Und ich ziehe es vor, mich einem Fremden anzuvertrauen. ANTONIO Warum gehen wir nicht in seine Sprechstunde? ELEONORA Er sagte, er möchte lieber den Raum sehen. ANTONIO Welchen Raum? ELEONORA Den Raum, in dem der Akt geschieht. ANTONIO Soll das heißen, daß es vielleicht etwas Besonderes... in diesem Zimmer gibt, ja? ELEONORA Der Fachmann zieht es vor, persönlich zu erscheinen. ANTONIO Warum benutzt du so einen sterilen Begriff? ELEONORA Das waren seine Worte. Der Fachmann zieht es vor, persönlich zu erscheinen. ANTONIO Schon die Vorstellung von seiner Anwesenheit ertrage ich nicht. ELEONORA Gewöhne dich langsam daran, denn er ist gleich da. ANTONIO Bestell ihn ab. Ruf ihn an, wir versuchen uns zu vereinigen, ohne daß der Fachmann persönlich erscheint. Er zieht seine Hose aus. ELEONORA Du bist grob, unsensibel und dreist! ANTONIO Und der Fachmann, was ist der? ELEONORA Sexualtherapeut. Ein Mann der Wissenschaft.

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ANTONIO Auch ein Grobian. Es klingelt. ELEONORA Ich bitte dich, zieh deine Hose wieder an. Und benimm dich anständig. Sie öffnet. Ein kräftiger Mann, wie ein Polizist in Motorradkleidung, tritt ein. Sein Aussehen ist äußerst militaristisch, er hat einen harten Gesichtsausdruck. Er kann raumfüllend auftreten, als wäre er es gewöhnt, größere Schwierigkeiten zu beheben. Seine bloße Anwesenheit ist beängstigend. Die beiden weichen zurück. THERAPEUT Hier werden meine Dienste benötigt? ELEONORA verwirrt Nein, mein Herr... Das muß ein Irrtum sein. ANTONIO befremdet Wir haben einen Sexualtherapeuten erwartet. THERAPEUT Das bin ich. Bestürzung. Eleonora und Antonio sehen sich verzweifelt an. Was ist los? ELEONORA Nun, wir haben einen anderen Typ erwartet. Ich meine... intellektuell, mit Brille, hager, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, eine Art Psychologe oder Psychiater. THERAPEUT Haben Sie keinen Sexualtherapeuten bestellt? ELEONORA Doch, aus dem Telefonbuch. ANTONIO Du hast die Nummer der Polizei gewählt. THERAPEUT Sie hat meine Nummer gewählt. Sexualtherapeut. Er holt seinen Ausweis heraus. ELEONORA liest Ja, es stimmt. Der Ausweis bestätigt es. Sie zeigt ihn Antonio. ANTONIO Soll ich mich etwa in die Hände eines Ausweises begeben? Soll ich mich einem gewissen Saturino Troncoso anvertrauen? THERAPEUT Sie vergeuden meine kostbare Zeit. Und meine Zeit ist teuer. Und meine Geduld ist knapp. Kommen wir zur Sache. Also, in diesem Bett funktioniert es nicht? Er wirft sich ungefragt auf das Bett und klopft leicht mit seinem Knüppel darauf. ANTONIO Wer sagt das? ELEONORA Es ist wahr. Einen Sexualtherapeuten können wir nicht anlügen, Antonio. Es funktioniert nicht. ANTONIO Ich werde nicht mit der Polizei darüber reden! ELEONORA Er ist Sexualtherapeut!

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THERAPEUT Staatsbüttel. Wir tun, was wir können. Früher haben wir kommunistische Psychologen gejagt, jetzt jagen wir alles, was da kommt. Die Demokratie hat uns ruiniert. Aber, sagen wir es mal so: viele haben die Sparte gewechselt... Ich, zum Beispiel, quäle Homosexuelle. Das ist ein gutes Fachgebiet, und jetzt fangen schon kranke Leute wie Sie an, mich zu konsultieren. ANTONIO Soll daß heißen, daß die Sexualität Ihr Berufsleben rettet?

ELEONORA Ich brauche ein Aspirin. Ich habe Kopfschmerzen. Dann sind Sie ein Schinder... ich meine... ein Ex-Folterer oder so was ähnliches? THERAPEUT Es gibt keine Beweise. Jetzt habe ich einen Berechtigungsausweis. Ich kann mich frei bewegen, wie es mir gefällt. Finden Sie mich heiter? Er lacht Finden Sie mich losgelöst von Leib und Seele? Er schlägt Purzelbäume Ich habe einen Pornoladen und eine Diskothek für lesbische Frauen eröffnet. Das ist ungefährlich. Aber es rentiert sich. Außerdem verkaufe ich harten Sex. Ich helfe der Bevölkerung, ihre eigenen Hemmungen zu erforschen. Ich habe mich von einem Psychologen, den wir erledigt haben, beraten lassen. ANTONIO Ich begreife nicht, wie uns das passieren konnte. ELEONORA Was meinst du damit?

ANTONIO In den schlimmsten Zeiten waren wir unschuldig! Niemand hat uns gestört. Und jetzt haben wir einen paramilitärischen Polizisten im Bett. ELEONORA Die Geschichte verändert sich.

THERAPEUT Sie versteht das sehr gut. Früher war Sexualität so, jetzt ist sie so. Er öffnet sein Köfferchett voll mit Lederartikeln Wenn Sie harten Sex noch nicht ausprobiert haben, können Sie von Sex gar nicht reden. Sex ist Bestrafung. Kann ich diesen Sessel benutzen? Wie ein Straßenhändler zeigt er ihnen verschiedene Sachen Sexualität fordert einen Herrn und einen Sklaven, einen Peiniger und einen Gepeinigten. Sie fordert einen Tyrannen und einen Untertan. Einen König und einen Vasallen. Einen harten Mann und seine ängstliche Frau, das ist Sexualität, alles andere ist Quatsch. Wer ist der Mann in diesem Haus? ANTONIO hebt mit gewissen Eifer die Hand Ich, mein Herr. THERAPEUT Gut, mein Junge. Gratuliere. Du hast die Schlacht gewonnen. Mann zu sein, ist viel besser als Frau zu sein.

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ANTONIO Finden Sie? THERAPEUT Zweifeln Sie daran? Der Mann ist in allem überlegen. Alle anderen sind unterlegen, das muß Ihnen in den Kopf rein. ANTONIO Nehmen Sie es nicht persönlich. THERAPEUT Das ist das Kostüm des männlichen Gebieters. Er gibt ihm eine Ledermontur wie die seine, Antonio zieht sie begeistert an Jetzt bekommt das Ganze langsam Farbe. ELEONORA Ich glaube, ich habe mich doch geirrt. Entsetzt Das Telefonbuch ist nicht das geeignete Medium, um einen Sexualtherapeuten zu suchen. Da kann ja jeder auftauchen, einer wie Sie. ANTONIO Untergebene! Wertlose! Du vertraust nicht einmal dem Telefonbuch! Schon in seiner Rolle. THERAPEUT Fühlen Sie sich schon besser? Fühlen Sie sich nicht wirklich erhaben? Er holt Ketten heraus. Zu Eleonora Das ist ihr Sklavinnenkostüm, meine Dame. Eine neue Art, Gewalt zu legalisieren. Statt uns zu liquidieren, liquidieren Sie sich untereinander. Sie sind de Sades Frau. Kennen Sie den Marquis de Sade? ELEONORA Ich glaube, ich habe ihn mal auf einer Party gesehen. THERAPEUT Dann legen Sie sich diese Ketten an, und gucken Sie nicht wie eine freie Frau. Befreite ertragen wir nicht. ANTONIO Auch keine, die Kekse essen. Er schwingt die Peitsche Wir werden sie auf dem Grill rösten. ELEONORA Ich weigere mich. THERAPEUT Gut, so fängt die Party an. Die Sklavin weigert sich. Der Gebieter versetzt ihr eine ordentliche Tracht Prügel und zähmt sie. Dann beginnen der Sklavin die Prügel zu gefallen. Und die Lust steigt. ELEONORA Mich schlägt niemand. ANTONIO Wie gut ich mich fühle. Das ist was ganz anderes. Sie sind wirklich ein Mann der Wissenschaft. Wieviel schulde ich Ihnen? THERAPEUT Wir kassieren in Dollar. ANTONIO Das ist eine harte Währung. So ist es richtig. Er holt eine Kassette aus dem Wandschrank Wieviel? THERAPEUT Die Kostüme 700 Dollar, der Besuch 200, die Ketten 1000. ANTONIO Hör zu, was mich deine Ketten kosten, Untergebene!!!

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THERAPEUT Das Köfferchen mit den Folterinstrumenten 900 Dollar. Zusammen mit den Anweisungen macht das rund 4500 Dollar in bar. ANTONIO bezahlt Wollen Sie hierbleiben und zusehen, wie ich sie festbinde? THERAPEUT Das würde ich sehr gern, aber es gibt noch neun andere Paare in der Krise, die meine Dienste benötigen. Es ist ganz einfach. Sie müssen es ihr ordentlich geben. Sie fertigmachen. Das ist die sexuelle Lösung von heute. Wir sind Revolutionäre. Früher waren wir Reaktionäre. Die Zeiten ändern sich, die Individuen nicht. ANTONIO Ich bin sehr zufrieden. ELEONORA Ich werde Sie anzeigen! THERAPEUT Wenn sie sich widersetzt, geben Sie es ihr. Geben Sie nicht nach! ANTONIO Ich werde sie vernichten. Er schwingt die Peitsche Das ist wirklich sexy. Sie wird mich nie mehr belästigen. Aus mit den Keksen. Schluß mit den Nachthemden. Er will sie züchtigen. Sie rennt durch das Zimmer. THERAPEUT Ich kann beruhigt gehen. Ich sehe schon, Sie werden sich vergnügen. Die Sexprobleme dieses Paares sind gelöst. ANTONIO Wenn etwas sein sollte, ruf ich Sie wieder an. Sie sind ein Genie. Sie haben einen Mann aus mir gemacht. THERAPEUT Das ist das faschistische Wunder. ANTONIO Das ist das Wunder der Peitsche. Der Therapeut geht. Sklavin, ich werde dich fertigmachen. ELEONORA ebenfalls mit einer Peitsche und einem Sattel Versuch es nur, du krepierst wie eine Kröte! Es beginnt eine lächerliche Schlacht. Sie wirken wie Dompteur und Löwin und schlagen sich mit allem, was ihnen in die Hände kommt. ANTONIO Harter Sex. Folter. Lust. Knie nieder vor deinem Herrn, Keksfresserin! ELEONORA Ich empfinde überhaupt keine Lust. ANTONIO Weil wir noch nicht beim Äußersten angelangt sind. ELEONORA Glaubst du, daß das was mit Lust zu tun hat? ANTONIO Ich habe 4500 Dollar für all diese erotischen Verkleidungen bezahlt, wir müssen sie benutzen.

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ELEONORA Das stimmt, 4500 Dollar. Wir hätten eine Reise davon machen können. Sie legt sich eine Kette an. ANTONIO Und das sagst du mir jetzt? Komm her, damit ich dich fertigmachen kann, Sklavin. Wieder nehmen sie wütend den Kampf auf. Sie schlagen sich, die Lichter verlöschen langsam, bis es ganz dunkel ist. Vorhang Wenn die Lichter wieder angehen, sehen wir Eleonora und Antonio von oben bis unten verbunden und eingegipst in ihrem Bett. Beide haben ein Gipsbein, das in einer Schlinge hängt, verbundene Köpfe und diverse Körperteile geschient oder auch in Gips. Eleonora ist sichtlich wütend. Antonio versucht sie aufzumuntern, indem er ihr laut die Biographie des Marquis de Sade vorliest. ANTONIO De Sade wurde 1740 geboren. Er trug den Titel eines Marquis und gehörte einer Familie des französischen Hochadels an. E LEONORA Mir tut das Steißbein weh!!! ANTONIO ungerührt Sein Leben umfaßte die gesamte Zeitspanne der Französischen Revolution, er starb in dem Jahr, in dem Napoleon abdankte. Zu Eleonora Das ist wirklich ein interessanter Beleg! De Sade starb, als in Frankreich die Monarchie wieder eingeführt wurde. ELEONORA Wenn du nicht zu lesen aufhörst, sterbe ich. ANTONIO Liebste, wenn wir schon aufgrund unserer Umstände gezwungen sind, eine lange Phase der Genesung in diesem hochheiligen Raum zu verbringen, sollten wir uns zumindest in die Enthüllungen über das Leben unseres Inspirators vertiefen!!! ELEONORA Sie haben mein Bein verdreht eingegipst. ANTONIO Soll ich dir weiter vorlesen? ELEONORA Das ertrage ich nicht. ANTONIO Das ist der Weg, den langen Tunnel, durch den wir hindurch müssen, hinter uns zu lassen. Eingeschlossen. Eingegipst. Bewegungslos. ELEONORA Und obendrein zusammen!!! ANTONIO Das Werk de Sades. Er liest weiter. ELEONORA Ich habe keine Lust, die Zeit damit zu verbringen, das Leben des Marquis de Sade kennenzulernen. ANTONIO Wir sind das lebendige Produkt seiner Lehren!!!

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ELEONORA Dann lies mir lieber aus dem Leben Troncosos vor. Der ist weder Marquis noch Franzose, sondern ein argentinischer Folterknecht und hat viel mehr mit uns zu tun. ANTONIO Er war bloß ein Mitläufer. ELEONORA Wir auch. ANTONIO Das ist Ansichtssache. ELEONORA Der Unterschied ist, daß Troncoso aus dem Land fliehen konnte, sieh uns dagegen an. ANTONIO Er ist der Hohepriester, wir sind seine Untertanen!!! ELEONORA Ich bin nicht bereit, eine solch ungesunde Unterhaltung mit dir zu führen. Ich appelliere an den dir noch verbliebenen Verstand. Wenn wir schon einige Zeit nebeneinander in diesem Bett liegen müssen, hör mit deinem lächerlichen Gehabe auf. ANTONIO Du leistest der hochheiligen Sklaverei gegenüber aktiven Widerstand. ELEONORA Und was willst du? Daß ich mich auspeitschen lasse? ANTONIO Das war die Vereinbarung. ELEONORA DU bist ein ausgezeichneter Schüler. Schmerzvoll Ohhhhü! ANTONIO Das kann man von dir nicht sagen. Ich würde dir höchstens eine Vier geben. Sieh her, wie du mich zugerichtet hast. Du wolltest nicht mal die Ketten anlegen. ELEONORA Erinnere mich bloß nicht an den grenzenlosen Hochmut deines Verlangens. Laß uns von was anderem reden. ANTONIO Und worüber willst du reden? Über den grenzenlosen Stolz, mit dem du mir jeden heiligen Schlag zurückgegeben hast, den ich dir verpaßt habe? ELEONORA Ja. Das Thema gefällt mir. Das versöhnt mich mit mir selbst. ANTONIO Troncosos Methode ist nicht gescheitert. Wir sind gescheitert. ELEONORA teilt lebhaft diese Ansicht Natürlich! ANTONIO Darin sind wir uns einig. ELEONORA Völlig. Jetzt müssen wir an unsere Zukunft denken. ANTONIO Was meinst du damit? ELEONORA Das Scheitern. Wir haben diese Erfahrung zusammen gemacht, aber wir gehen getrennt daraus hervor. Wir sind Fremde, Antonio. Unser Leben ist zerstört. Unsere Körper sind zerstört. Jetzt bleibt uns nur noch, uns von einander zu verabschieden. Es wird ein langer Abschied sein. Wir haben lange Tage des Abschieds vor uns.

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ANTONIO sieht sie traurig an Das ist also das Ende. ELEONORA Ein spektakuläres Ende. ANTONIO Nach zwanzig Jahren... ELEONORA Z w a n z i g Jahre, in denen ich Kekse aß und du ausgiebig geträumt hast. U n d am Geburtstag deiner Mutter haben wir uns geliebt. ANTONIO Jetzt bleibt uns nicht mal m e h r das. Die Kekse schmeckten gut. U n d die Wertpapierabteilung der Staatsbank, w o an einem s c h w e b e n d e n Tisch ein weißhaariger M a n n n a m e n s Geldverkehr saß, hatte auch ihre Reize. ELEONORA Das ist jetzt alles Vergangenheit. ANTONIO Du hast Troncoso bestellt. ELEONORA Aber du hast ihm das Kostüm des siegreichen Machos in Dollar bezahlt. ANTONIO Es ist ein wunderschönes Kostüm. ELEONORA Du hast deinen ganzen Haß entfesselt. ANTONIO Meine Absichten waren im Grunde gut. Du wolltest einen Orgasmus. ELEONORA Und sieh dir an, wie du mich zugerichtet hast!!! ANTONIO Du hast dich nicht gerade zurückgehalten!!! ELEONORA Ich mußte mich schließlich verteidigen! Sie sehen sich wütend an Das ist natürlich. Reiner Selbsterhaltungstrieb. W e n n man mich angreift, verteidige ich mich. ANTONIO Ist es natürlich, daß du mir ein Bein gebrochen hast? Ist das natürlich bei einem Paar? ELEONORA Du hast mir die linke Hand gebrochen. ANTONIO Ich will gar nicht wissen, in wieviele Teile mein Kopf zersprungen ist. Jeden Tag habe ich weniger Einfälle. Und wenn, dann nur kaputte. ELEONORA Wie kann man so weitermachen? Alles ist zu Ende. ANTONIO DU hast die Lust gesucht... und wo sind wir gelandet!!! ELEONORA Ich finde es unwürdig, uns in diesem letzten Augenblick gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Ich ziehe die Trennung vor. Offiziell; in Würde und ohne Rachegelüste. ANTONIO Aber wir sind doch völlig fertig!!! ELEONORA Wir sind jung. Wir können ein neues Leben aufbauen. ANTONIO Willst du wieder heiraten?

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ELEONORA Vielleicht, eines Tages... ANTONIO Troncoso? ELEONORA Red keinen Blödsinn, Antonio. Ich will meinem Sohn in die A u g e n sehen können, ich will ihm sagen können, ich bin deine Mutter. Ich will meinem Leben wieder einen Sinn geben. ANTONIO Ohne mich? ELEONORA Nach all dem... wäre es unmöglich, uns davon zu erholen. ANTONIO Dann ist alles zu Ende. ELEONORA Wir teilen alles auf. Javier bleibt bei mir, und du ziehst vielleicht zu deiner Mama. PAULINA tritt mit mehreren Zeitschriften ein, als hätte sie hinter der Tür gelauscht Das ist eine wunderbare Idee. Jetzt, wo ihr so berühmt seid. Eleonora und Antonio sehen sie verwirrt an. ANTONIO Berühmt? Ich? PAULINA Es gibt keine Zeitschrift, die dir nicht wenigstens ein paar Zeilen widmet. Sie zeigt es ihm. Eleonora wirft einen verstohlenen Blick darauf. Es war sehr gut, den Ärzten zu erzählen, daß deine Brüche erotischen Ursprungs sind. ANTONIO Den Ärzten... der Polizei... und meinem Partner. Allen mußte ich erklären, daß wir keinen Autounfall hatten. PAULINA Das hat dich berühmt gemacht. Jetzt wirst du bewundert. Artikel über Artikel in allen Zeitschriften. Hier bist du auf dem Titelblatt, frisch in Gips gelegt. Und darunter steht: „Der große sadistische Gebieter." ELEONORA eifersüchtig Und ich bin nirgends drauf? PAULINA D o c h , „Die große Sklavin b e i m Anlegen der S c h i e n e n . " Eleonora sieht sich die Zeitschrift an. Ich habe eine Liste mit zwölf Journalisten der wichtigsten Medien angefertigt, die euch interviewen wollen. In der ganzen Stadt wird nur noch von den Ereignissen an diesem heiligen Ort geredet. Wenn wir unser Geschäft verstehen, können wir Millionäre werden. ANTONIO Wir, können wir? Warum sprichst du im Plural? PAULINA Antonio, alles begann mit meiner Geburtstagstorte. Jetzt, wo wir auf dem Gipfel des Erfolges sind, wirst du mich doch nicht ausschließen. ANTONIO deprimiert Jetzt bewundern sie uns also.

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PAULINA Hunderte von krisengeschüttelten Ehepaaren machen Euch schon nach. Ihr seid die Helden des harten Sex; die es gewagt haben, die bis zum Äußersten gegangen sind bis ins Krankenhaus. Und du ganz besonders, mein Sohn, du hast den Mut gehabt, es zu erzählen. ANTONIO noch deprimierter Es ist zu spät, Mama. Es ist zu spät für den Erfolg. Es ist zu spät für die Berühmtheit. Eleonora und ich hatten uns gerade getrennt. ELEONORA reagiert schnell Das hast du richtig ausgedrückt, wir hatten uns getrennt. Das Verb in Vergangenheitsform. ANTONIO Aber sagtest du nicht vor fünf Minuten...? ELEONORA Vor fünf Minuten wußte ich noch nicht, daß wir berühmt sind. PAULINA Ich habe die Nachricht überbracht. Jetzt lasse ich euch allein, ich will euch nicht stören. Aber ich wäre erfreut, wenn ihr mich zu eurer Agentin machen würdet. Niemand kann uns jetzt noch aufhalten. ELEONORA Und Javier? PAULINA Überlaßt Javier ruhig mir. Er ist ein verständiger Junge. Ich werde ihm alles erklären. ELEONORA Ich möchte es meinem Sohn aber selbst erklären. PAULINA Dafür ist später... noch Zeit... Jetzt unterhaltet ihr euch miteinander. Sie geht. ANTONIO Was hätte ich denn deiner Meinung nach sagen sollen? Daß unser Haus eingestürzt ist? Sie wären hingefahren und hätten es intakt vorgefunden. Schließlich habe ich eine Hemdenfabrik. Ich muß meinem Partner doch eine Erklärung geben, damit er die Geschäfte allein weiterführt. Ich mußte ihm sagen, daß ich Gipsurlaub nehmen muß, weil wir jetzt harten Sex praktizieren. ELEONORA Und was meinte er? ANTONIO Er hat mich voller Bewunderung angesehen! ELEONORA erstaunt Ich kann's nicht glauben!! ANTONIO Er kam gerade auf die Unfallstation, als ich eingegipst wurde. Da habe ich ihm in Gegenwart der Ärzte und Krankenschwestern alles erzählt. ELEONORA Und?

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ANTONIO Er bat mich um Troncosos Telefonnummer. Er will seine Frau auch fertigmachen. Er sagte, schon die Vorstellung davon würde ihn verrückt machen. ELEONORA DU bist genial, Antonio. Sie strahlt. ANTONIO Ein ganz normaler Mann. Dein Ex-Mann. ELEONORA Ein Schatz. ANTONIO Wenn du allein mit Javier in diesem Haus wohnst, wirst du dich liebevoll an mich erinnern. Er sieht sie nicht an. ELEONORA Antonio... ANTONIO Schade, daß wir hier noch so viel Zeit gemeinsam verbringen müssen, bevor du dich von mir befreien und deinem Leben einen neuen Sinn geben kannst, wie du vorhin erklärt hast. ELEONORA Mein Leben hat schon wieder einen Sinn. Den hat es bekommen, als du alles erzählt hast. ANTONIO Das verändert die ganze katastrophale Situation? ELEONORA Selbstverständlich. Das stellt alles auf den Kopf. In diesem Augenblick reden da draußen Hunderte von Menschen über uns. ANTONIO Darin sehe ich keinen Vorteil. ELEONORA Mir verschafft das Lust. ANTONIO Was sagen sie von uns? ELEONORA Daß wir in der Welt der Erotik jetzt einen Namen haben. ANTONIO sieht sie an Dir gefällt, daß sie denken... ELEONORA begeistert Das man glaubt, wir würden hier wilde Sexpartys veranstalten, bei denen wir uns gegenseitig erbarmungslos verdreschen, das macht mich richtig an!!! ANTONIO Na gut... dann war es wenigstens zu etwas nütze... ELEONORA Darum haben sie mich im Krankenhaus angesehen, als sei ich eine entweihte Göttin! ANTONIO überrascht So haben sie dich angesehen? ELEONORA nickt stolz Jetzt verstehe ich diese ehrerbietige Haltung in der ganzen Unfallstation!!! ANTONIO Erzähl... ELEONORA In dem stickigen weißen Saal hing so etwas wie eine Atmosphäre mythologischer Bewunderung. Das war ein geradezu rituelles Eingipsen. Auf dem Tisch standen Rosen. Und die Lampen, die das zerlegte Feld meiner Anatomie ausleuchteten, schienen fast bläulich. Alle murmelten ununterbrochen vor sich hin, ohne mitein-

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ander zu reden. Beim Verbandanlegen weinten einige, wobei sie die Tränen zu verbergen suchten, andere zogen sich in eine Ecke zurück und onanierten würdevoll. Ich begriff gar nichts. Jetzt weiß ich, daß sie in mir einen Körper sahen, den die Begierde zerstört hatte, und den sie mit ihren Händen wieder zusammensetzten. Pause. Antonio denkt nach, Eleonora gibt sich der Erinnerung hin. ANTONIO unvermittelt Na schön, zumindest sparen wir uns Ausgaben! Troncosos Dienste waren teuer genug. ELEONORA Eine große Investition, Antonio. Wir haben in unseren erotischen Status investiert. ANTONIO Aber wir haben ihn doch gar nicht genossen. ELEONORA Das ist unwichtig. Auf die Wirkung kommt es an. ANTONIO Und jetzt wirkt es so, als hätten wir es wahnsinnig genossen! ELEONORA Für die Außenwelt sind wir die Könige des perversen Verlangens! Und das verdanke ich dir, Geliebter! Weil du es erzählt hast! ANTONIO Na gut, aber ich verdanke dir, daß du Troncoso angerufen hast. Ich wollte nicht, daß er kommt, weißt du noch? Schon gar nicht einer aus dem Telefonbuch. ELEONORA Wir haben einander ergänzt. Das zeichnet ein Paar doch aus? ANTONIO Letztlich ist es uns gar nicht so teuer zu stehen gekommen! Wir sind mehrere Stufen auf der Prestigeleiter höher gekommen. ELEONORA Wir sollten ein paar Fotos von uns, so eingegipst, machen lassen und sie heimlich als pornographisches Material verkaufen. ANTONIO Weißt du, daß du als Mumie sehr schön bist? ELEONORA Und dir steht dieser Gipskopf wunderbar!!! Sie sehen sich begeistert und glücklich an. Obwohl es sehr unbequem ist, küssen sie sich. Ahhhhü! ANTONIO Kaputt, aber zufrieden!!! ELEONORA Eingegipst, aber berühmt!!! ANTONIO und ELEONORA singen gemeinsam : Was man ist, ist gar nicht wichtig, was man scheint, das ist der Clou, bewundert man mich richtig, egal, was ich auch tu... Es ist schon fast ein Wunder,

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das kann man nicht studieren, der Zeitgeist hilft wie Zunder, dein Image zu polieren!!! Während sie singen, gehen die Lichter aus. Dritter Akt Das Schlafzimmer ist in einen sadomasochistischenTempel verwandelt. Das Bett steht hochkant und dient als Foltergestell. Von der Decke hängen Ketten, an den Wänden sind verschiedene erotische Folterinstrumente befestigt. Alle sehr phantastisch und raffiniert. Draußen kämpfen die Journalisten um Einlaß, aber Paulina, in Lederkleidung, koordiniert den Zutritt. Wenn die Scheinwerfer angehen, sieht man Eleonora im goldgeschuppten Kostüm einer ägyptischen Sklavin an das vertikale Bett gefesselt. Antonio in Ledermontur und mit Peitsche in der Hand täuscht vor, sie körperlich zu züchtigen. Der Fotograf einer nordamerikanischen Zeitschrift fotografiert sie exklusiv. Er ist groß, blond und hat eine übertrieben große Fotoausrüstung bei sich. Die Bühne ist mit Spezialscheinwerfern ausgeleuchtet und wirkt wie ein Fotoset. Eine Maskenbildnerin malt rote Streifen auf Eleonoras Körper, die wie Striemen aussehen sollen. In der Schlafzimmertür diskutiert Paulina mit einem Journalisten. Während dessen posieren Eleonora und Antonio in unterschiedlichen erotischen Positionen für den Fotografen. PAULINA ZU einem Reporter vor der Tür Nein, mein Herr. Das Interview für Ihre Zeitung ist erst in zwei Stunden. REPORTER im off Mir wurde diese Uhrzeit genannt. PAULINA Unmöglich. Jetzt werden sie exklusiv für eine nordamerikanische Zeitschrift fotografiert. REPORTER im off Das stört mich nicht. Ich will nur eine Reportage über sie machen. Ich stelle Fragen. PAULINA Nein, mein Herr. Sie lenken nur ab! Sie haben einen anderen Termin. REPORTER im off Das bringe ich an die Öffentlichkeit!!! PAULINA Was bringen Sie an die Öffentlichkeit? REPORTER im off Daß Sie die Yankeeimperialisten bevorzugt behandeln. Wir sind eine nationale und populäre Zeitschrift für Sadomasochismus. Er drängt. PAULINA Die zahlen aber in Dollar.

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Der Reporter versucht hineinzugelangen. Paulina drückt die Tür zu; eine Kette vor der Tür hindert den Journalisten am Zutritt, während Fotograf und Maskenbildnerin weiterarbeiten. Die Maskenbildnerin färbt Eleonoras Mund rot, als würde sie bluten. FOTOGRAF zu Eleonora Please, Madam, moan!!! Please Madam, moanü! ELEONORA Ich verstehe ihn nicht. FOTOGRAF Please Madam, moanü! Simulate more suffering! ELEONORA Was sagt er, Antonio? ANTONIO Mama, komm her. PAULINA schlägt die Tür zu und geht zu ihnen What do you want, sir? FOTOGRAF I need her to distort! PAULINA übersetzt Er will, daß du dich windest. FOTOGRAF I need a crazy face!!! PAULINA Er will das Gesicht einer Wahnsinnigen!!! Eleonora versucht, die Forderungen zu erfüllen. FOTOGRAF I need to photographe a distroyed body!!! PAULINA Er will einen zerstörten Körper fotografieren!!! FOTOGRAF überzeugend, fordernd, eindringlich As though a big missile had pierced her inners. PAULINA Als hätte eine große Rakete deine Eingeweide durchbohrt, meine Liebe!! ELEONORA Was? ANTONIO schreit Eleonora zu: Als hätte eine große Rakete deine Eingeweide durchbohrt, meine Liebe!!! Er setzt das Gesicht eines Folterers auf und bringt sich in Stellung. FOTOGRAF ZU Eleonora I want you to pretend to be a victim of a huge sexual wartank. PAULINA Übertreibt er nicht ein bißchen? ELEONORA Was will er jetzt? PAULINA Er will, daß du so tust, als wärest du das Opfer eines gigantischen, tödlichen Samen verspritzenden Sexpanzers. ELEONORA Sag ihm, daß ich es versuchen werde. PAULINA zum Fotografen She will try it. FOTOGRAF begeistert Okay!!! Eleonora versucht, den Anforderungen entsprechend zu posieren, sie windet sich, sie winselt. Antonio nimmt die lächerlichen Haltungen eines Folterers ein, die der Fotograf von ihm verlangt. Der Fotograf macht zahlreiche Aufnahmen. Es klopft an der Tür.

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REPORTER im off Für eine nationale sadomasochistische Politik!!! Er hämmert gegen die Tür Für die Erschließung neuer Märkte in der Boulevardpresse!!! Für eine eigene Pornographie!!! Machen Sie auf!!! ANTONIO Kann man diesen Typen nicht wegschaffen? PAULINA Wir dürfen uns nicht mit der Boulevardpresse verfeinden. Man muß beide Fronten versorgen, die nationale und die internationale. ANTONIO Aber ist es unbedingt nötig, daß uns das Trommelfell platzt, wenn die nationale Front vor der Tür steht? PAULINA Er wird sich schon beruhigen!! FOTOGRAFse/fsam besessen von seinen Vorstellungen zu Paulina I need her raving eyes, her tornoff nails, her breasts ripped away at her sex corrupted by metallic sounds!!! PAULINA übersetzt für Eleonora Er will wahnsinnige Augen, überschwenglich rausgerissene Fingernägel, zerquetschte Brüste, dein von metallischen Klängen zerstörtes Geschlechtsteil. ANTONIO verzweifelt Und wie kriegt man das hin? ELEONORA verteidigt sich Meine Augen kann ich wahnsinnig blicken lassen, aber ich werde mir nicht die Fingernägel ausreißen. PAULINA Liebste... für das, was sie uns zahlen, kannst du dir hinterher goldene Nägel kaufen!!! ELEONORA Ich will den Vertrag sehen!!! PAULINA Wir dürfen keine Zeit verlieren. Draußen warten noch so viele andere Medienleute. FOTOGRAF fordernd I've travelled to this unknown and undiscovered country, and we pay Dollars cash to ensure a true southamerican grief!!! PAULINA Er sagt, er sei in dieses unbekannte Land gekommen, und sie zahlen Dollars in bar, um authentischen südamerikanischen Schmerz zu kriegen!!! ANTONIO Bitte, ich bitte dich, zeig diesen authentischen südamerikanischen Schmerz!!! ELEONORA kreischt Ahh! Ahh! Ahh! Ahh! Ahh! Ahh! Ist es authentisch und südamerikanisch genug? FOTOGRAF More, Madam, more!!! Er fotografiert weiter. Sie windet sich, Antonio simuliert, sie zu züchtigen. Er ist endlich zufrieden. Er macht Marschmusik an. Maschinengewehrsalven. Okay, here is our victim of a

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huge sexual war tank! Er geht auf sie zu, als wäre sein Fotoapparat ein Panzer. Er macht Kriegsgeräusche. Violance! Dead! Blood! PAULINA Gewalt! Tod! Blut! Die Maskenbildnerin überzieht Paulina mit rotem Anilin. Der begeisterte Fotograf lacht und fotografiert eifrig die gestellte Folter. FOTOGRAF ZU Antonio I need more sadism man, I need to photograph a cruel body condition. PAULINA Mehr Sadismus, Mann, er will eine grausame, bluttriefende Situation fotografieren. FOTOGRAF Ineed to capture Satan's face killing his own sudden and violent pertubations of towns and nations and peoples and animals and plants. PAULINA Er will Satans Gesicht einfangen beim Entzünden des eigenen Flächenbrands und des gewaltsamen Zerstörens von Städten und Nationen und Völkern und Tieren und Pflanzen. ANTONIO Das kann ich nicht. Der Fotograf betont Antonios Posen. Er setzt ihn auf einen Sessel und steckt ihm eine Peitsche in den Mund, aus dem eine rote Flüssigkeit läuft. Er bittet um mehr akustische Untermalung. Explodierende Raketen und Bomben. Dann macht er unter aktiver Mitarbeit der Maskenbildnerin zahlreiche Aufnahmen. FOTOGRAF Sadistic, sadism, sadist, sadistical... Er lacht. PAULINA Sadistisch, Sadismus, Sadist, sadistisch... Sie lacht. FOTOGRAF... from South America to the rest of the world!!! PAULINA ... aus Südamerika für die ganze Welt!!! FOTOGRAF Fine, you are real and brutal and your actions are really stupid!!! PAULINA Hervorragend, du bist real, brutal, was du tust ist echt stumpfsinnig!!! Antonio bläht sich stolz. FOTOGRAF Now pretend to copulate your slave with fictional odium. PAULINA Jetzt tu so, als würdest du dein Opfer voller Haß vögeln. ANTONIO Das steht auch im Vertrag? FOTOGRAF wütend Keep silent!!! Stop talking!!! I need fictional odium. I bought fictional odium!!! PAULINA Ruhe, hör auf zu reden. Er braucht gespielten Haß. Er hat für gespielten Haß bezahlt!!!

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ELEONORA Der Mann hat recht. Er hat für einen ruchlosen Akt bezahlt, er möchte, daß du so tust, als würdest du mir ein Stück Stacheldraht einführen, das mir die Vagina zerfetzt; er will das Trugbild einer gefälschten Szene von einem südamerikanischen Sadisten mit einer ägyptischen, in Chascomúa geborenen Sklavin exportieren. Er ist von weit hergereist, um ganz direkt den wilden Akt von unterentwickelter Quälerei aufzunehmen, von einem bis an die Zähne mit Ketten bewaffneten Gebieter und einem zu einem Nichts der verlogenen Begierde reduzierten Weib, das sich in diesem Tempel schwängern läßt, wo vorgetäuschter Schmerz verkauft wird, schwärmerisch, ergeben Gib es mir ordentlich, Antonio, aber ohne mich zu berühren. FOTOGRAF Yes, yes, yes... That's what I boughtüü PAULINA Ja, ja, ja, das ist es, was ich bezahlt habe!!! ELEONORA Er will in seinem Gepäck direkte Bilder einer entsetzlich echt nachgestellten Erniedrigung mitnehmen, mit rotem Anilin und volkstümlichen Heulern für die Fernfahrer New Yorks, die sich mit ihren Magazinen einen runterholen. Sie ist glücklich, den Fotografen richtig verstanden zu haben. FOTOGRAF That's true! Erfreut über das Verständnis und die Lenkbarkeit von Eleonora und Antonio und über die pädagogische Ausdrucksweise Eleonoras, die Antonio überzeugt und stimuliert Okay, thanks, it's enough for me. PAULINA bindet Eleonora los Okay, er hat genug. Er ist fertig. Der Fotograf verstaut seine Ausrüstung, die Maskenbildnerin schaltet die Scheinwerfer aus. Beide verabschieden sich per Handschlag und gehen von Paulina an die Tür begleitet hinaus. ANTONIO bedrückt Heute war ein sehr anstrengender Tag, Mama. PAULINA So ist das eben, wenn man Erfolg hat. Euer Nachmittag ist komplett verplant!!! Sie zieht eine Liste hervor Hier die für heute vereinbarten Termine. ANTONIO Ich kann nicht mehr. Er sackt erschöpft zusammen. PAULINA liest ungerührt vor 15 Uhr, Besuch der Präsidentin des Clubs der moralischen Grundregeln für die Ehe. Sie kommt, um euch eine Petition in Form einer Beschwerde zu überreichen. ANTONIO erschöpft Worüber beschwert sich diese Dame?

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Diana Raznovich

ELEONORA Das werden wir schon erfahren, wenn sie uns die Petition vorliest. PAULINA liest weiter um 16 Uhr werden zwei Pseudokrankenschwestern kommen und euch wie Mumien einwickeln. Für ein Riesenposter von euch als Protagonisten in der Zeitschrift WIR LEIDEN. 16.30, Besuch eines Señor Cincciotti, der den Kopf Troncosos verlangt. Er ist schwerer Angriffe auf die Freiheit des Individuums zu Zeiten der Militärdiktatur angeklagt. ANTONIO Aber warum kommen sie damit zu uns? Wir haben Troncosos Kopf nicht. PAULINA Nach einem gelungenen chirurgischen Eingriff hat Troncoso das Land verlassen. Als ihr so berühmt wurdet, sah er sich umzingelt. Er mußte das blühende Geschäft mit dem Sadomasosex aufgeben und nach Chile flüchten, wo Pinochet Arbeit für ihn hat. 17 Uhr, Interview mit dem Juwelier Baumel, der beabsichtigt, mit unserer Genehmigung im großen Stil sadomasochistischen Schmuck aus Gold und Edelsteinen zu produzieren. Um 17.30 Uhr wird man euch in sadomasochistischem Outfit aus schwarzem Leder ein paar Sandwiches bringen, und dabei werdet ihr für das Restaurant DER GROßE EKEL fotografiert, das gerade in der Avenida Corrientes eröffnet wurde. Sie servieren ausschließlich verdorbene Gerichte, die schrecklich gewürzt sind und entsetzlich schmecken, vergammelter Abfall in Form von Mahlzeiten für oral fixierte Masochisten. ELEONORA Und wir sollen diesen Müll probieren? PAULINA beruhigt sie Nur so tun. ELEONORA begeistert Wieviele neue Erfahrungen haben wir entfesselt, Liebster! Alle Menschen mit masochistischen Neigungen können uns dankbar sein! Beide sind gerührt. PAULINA Um 19 Uhr ist euer Arbeitstag zu Ende. Ihr duscht euch und eßt etwas. Dann nehmt ihr ein Beruhigungsmittel und schlaft euch aus, damit ihr für den morgigen Tag fit seid. Der beginnt um fünf Uhr früh mit der Ankunft eines sowjetischen Kameramannes, Spezialist für Filme von simulierten Atomkleinkriegen. Es heißt, daß ihr Szenen aus dem Dritten Weltkrieg darstellt. ELEONORA Gestern waren wir für einen japanischen Film über den Tango den ganzen Tag in einen Käfig eingesperrt und mußten Wilde spielen.

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PAULINA Na ja..., das internationale Geschäft ist wichtig. Übermorgen wird Antonio sich für einen holländischen Pornofilm über den Sadismus in der Pampa als böser Gaucho verkleiden, glücklich und du wirst eine geköpfte Kreolin darstellen. ELEONORA Ich kann nicht mehr! Sie weint. ANTONIO Die Enthauptete ist traurig! Er tröstet sie.

PAULINA versucht, sie im Zaum zu halten Ruhe! Ruhe!!! Vorhang Zwei Uhr nachts, Eleonora und Antonio sind im Bett. Sie trägt ein hübsches neues Nachthemd, hat sich aufgesetzt und sieht pathetisch zur Decke. Antonio neben ihr schläft tief. Sie seufzt, er schnarcht im Duett. Ihre Nachttischlampe ist an, seine aus. ELEONORA Schnarche nicht. Sie sieht ihn traurig an, dem Weinen nahe. ANTONIO schläft fest, spricht im Traum: Ich schnarche nicht. ELEONORA wartet einen Augenblick, dann beginnt in der drückenden Stille der Nacht erneut das Duett aus ihren Seufzern und Schnarchern Du schnarchst! Er antwortet nicht und schnarcht weiter. Da beschließt sie zu handeln. Sie dreht barsch seinen Kopf in eine andere Position, damit er mit dem Schnarchen aufhört, was kurzfristig Wirkung zeigt. Sie ist zufrieden mit ihrem Werk. Kurz darauf schnarcht er wieder. Diesmal lauter und mit zwei kombinierten Lauten, auf die sie mit einem Seufzer antwortet, der sich in eine Art spitzen Schrei verwandelt. Die klangvolle Kombination ist: zwei Schnarcher, ein Schrei, zwei Schnarcher, ein Schrei. Während dieses „Kammerkonzerts" öffnet sie verzweifelt ihre Nachttischschublade und holt eine riesige Kekspackung heraus. Dabei macht sie übermäßig laute Geräusche. Sie begreift endlich, daß sie Antonio damit nicht wecken wird, und schreit: Ich teile dir mit, daß du noch immer schnarchst! ANTONIO Das sind keine Schnarcher, Eleonora. Er schnarcht

weiter im

Doppeltakt. Sie stößt einen verzweifelten, schrillen Schrei aus. ELEONORA Dieselben Schnarcher wie jede Nacht. Sie bringen mich zur Verzweiflung, Schatz! Wie kannst du das abstreiten? Das sind die glorreichen Schnarcher, die ich geheiratet habe. Sie stopft gierig Kekse in sich hinein. Er schnarcht. Sie schreit so spitz, daß er kurz aufwacht. ANTONIO sanftmütig und geduldig, ohne die Augen zu öffnen Mein Liebling, ich schnarche nicht, ich habe noch nie im Leben geschnarcht. Er schnarcht weiter.

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ELEONORA ißt ihre Kekse in einer Geschwindigkeit, die ihre Fähigkeit zu schlucken übersteigt, ein paar Sekunden erstickt sie fast daran. Mit vollem Mund, in einem verzweifelten Ausbruch weinend: Wie kannst du behaupten, daß du nie geschnarcht hast? Und was, bitte, ist das hier? Antonio! Antonio! Immer lauter, wobei sie Kekskrümel über die Bettdecke spuckt. ANTONIO Das sind die Laute meiner Seele. Dieser Satz bewegt ihn so sehr, daß er sich aufsetzt. Er öffnet leutselig die Augen und sieht eine erstickende, weinende und verstörte Eleonora vor sich. ELEONORA Kannst du deine Seele nicht darum bitten, freundlicher zu sein, harmonischer zu klingen? ANTONIO akzeptiert bereitwillig Ich werde es versuchen. Er legt sich hin, sie sieht sprachlos zu, wie er wieder einschläft und nach kurzer Zeit zu schnarchen beginnt. ELEONORA schreit aufgebracht: Du schnarchst noch immer!!! ANTONIO setzt sich ruhig auf, öffnet die Augen und sagt ganz natürlich: Liebste, du weckst mich auf, das habe ich nicht verdient. Ich träume so schön. ELEONORA Erzähl es mir. ANTONIO Morgen. Ich kann nicht träumen und dir gleichzeitig davon erzählen. ELEONORA unerbittlich Erzähl mir deinen Traum, Antonio. ANTONIO bereitwillig Er fing gerade an, interessant zu werden. Laß mich herausfinden, wie es weitergeht. ELEONORA Erzähl, Antonio, erzähl es mir. Vorhang

Alina Marrero Die Moderatorin La mujer ancla Komiktragödie eines Profis

Deutsch von Almuth Fricke

Die Moderatorin

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Alina Marrero, 1953 in Puerto Rico geboren, ist im umfassenden Sinne eine Theatermacherin. Nach ihrem Studium des Theaters an der Universität von Puerto Rico, einer Ausbildung in Gesang und Ballett sowie Geigen- und Saxophonunterricht und einem Auslandsjahr in London, arbeitete sie zunächst als Schauspielerin. In den folgenden Jahren war sie Regisseurin entwarf Kostüme und Bühnenbilder, produzierte Theater und war Drehbuchautorin für Hörfunk, Film und Fernsehen. Ihre Arbeit in den verschiedenen Bereichen des Theaters wurde mehrfach ausgezeichnet. In den 80er Jahren schrieb sie ihre ersten Stücke für das Kindertheater, La ciudad fantästica und Popeye ett Puerto Rico. 1982 entstand Un hijo, das vom Fernsehen ausgestrahlt und prämiert wurde. 1985 wurde eine bearbeitete Fassung des Stückes unter dem Titel Culpable o inocente, la flor se fue en abril anläßlich eines Festivals neuinszeniert. Das Stück handelt von der Debatte um die Todesstrafe, die in Puerto Rico eingeführt werden soll, und von der Situation puertorikanischer Emigranten in Florida. 1987 entstand El critico, ein satirischer und gesellschaftskritischer Monolog eines homosexuellen Theaterkritikers, der sein persönliches Scheitern und seinen Haß dazu einsetzt, die Karriere anderer zu zerstören. Das Stück erhielt 1989 den Preis des ATHENÄUMS von Puerto Rico. Als Pendant zu El critico schrieb Alina Marrero 1994 La mujer ancla, Die Moderatorin. Beide Stücke wurden 1995 unter dem Titel Vecinos (Nachbarn) anläßlich des FESTIVAL PUERTORIQUENO DE TEATRO erstaufgeführt und erhielten den Preis des Puertorikanischen Kulturinstituts. Regie führte Dean Zayas, bei dem Alina Marrero in den 70er Jahren studiert hatte. Zur Zeit bereitet die Autorin eine Anthologie des lateinamerikanischen Theaters der Romantik vor. Die Moderatorin ist wie auch die früheren Stücke eine bissige Satire auf die puertorikanische Mittelschicht, die Alina Marrero als den „Schinken im Sandwich" bezeichnet. Zielscheibe ihres Spotts und schwarzen Humors ist in diesem Monolog die Welt der Medien, die sie aus eigener Erfahrung kennt. Sie schrieb ihn für eine Schauspielerin, die wie sie selbst eine Zeitlang als Nachrichtensprecherin gearbeitet hatte. Viele Anekdoten aus der Welt der Medien und der Politik in Puerto Rico sind in dem Stück wiederzufinden. So die Geschichte von den Senatoren, die in einer Anti-Drogenkampagne vor versammelter Presse ihre Urinprobe abgaben. Einer dieser Senatoren lud gleich das ganze Kamerateam in sein Badezimmer ein, um am nächsten Tag auf der ersten Seite der größten puertorikanischen Tageszeitung mit seinem Glasröhrchen zu posieren. Für Alina Marrero ist dies nur ein Beispiel des götico-tropical, das den Tenor ihrer grotesken „Komiktragödie" bestimmt. Neben publicityund machthungrigen Politikern und einer Medien- und Arbeitswelt, in der Mobbing zur Tagesordnung gehört, greift die Autorin in ihrem

Alina Marrero

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Stück mit Konsumsucht, Sex, Abtreibung, homosexueller Liebe, Aids und Drogenkonsum die ganze Palette der gesellschaftlich brisanten Themen auf. Gerade in einem Land wie Puerto Rico, das durch seinen Status als assoziierter Bundesstaat der USA im Spannungsfeld zwischen spanisch-katholischer Tradition und Amerikanisierung der Arbeits- und Medienwelt lebt, birgt das Stück ungeheuer viel Zündstoff, und es überrascht nicht, daß die Inszenierung heftige Reaktionen, von begeistertem Applaus bis zu schärfster Kritik, auslöste. Das kulturelle Nebeneinander findet auch seinen Niederschlag in der sprachlichen Gestaltung und der Vermischung von puertorikanischen Regionalismen, Neologismen aus der Medienwelt und Anglizismen. An ihren Figuren interessiert Alina Marrero nicht so sehr die Psychologie, sie will vielmehr den einzelnen Menschen in einem kurzen Augenblick seines Lebens darstellen und zeigen, wie das Tragische auch komische Züge annehmen kann. Ihr ist wichtig, daß die Schauspieler zu ihren Figuren auf Distanz gehen, wie auch zu ihrem eigenen Leben, und die Fähigkeit kultivieren, über sich selbst zu lachen. In Rosa del Prado Campos stellt Marrero die personifizierte Spannung zwischen Lateinamerika und den USA auf die Bühne, die zugleich als Paradigma des Geschlechterkampfes im Berufsleben gedeutet werden kann. Rosa will Chefmoderatorin werden; ihr männlicher Kollege wird es - mit den üblichen fadenscheinigen Argumenten: „... du bist ja eigentlich besser, aber ein Mann..." Wie wird sie damit fertig? Marrero wählt den Monolog, um ein Bild von Rosas Leben auszubreiten, in dem Enttäuschungen dieser Art die verschiedenen Stationen ihrer Entwicklung markieren. Über das Telephon = Kommunikation sucht sie Beistand, vergeblich. Auch zu ihr gelangen nur die falschen' Gespräche, das heißt, sie muß ihr Problem allein lösen. Akzeptiert sie die Zurücksetzung, dann akzeptiert sie die Demütigung, daß sie als Frau dem Mann nicht gleichberechtigt ist. Setzt sie sich zur Wehr - als Kind stahl sie den Preis, den man ihr verweigert hatte -, dann akzeptiert sie den männlichen Diskurs, sprich Konkurrenzkampf mit allen Mitteln, auf Kosten ihrer weiblichen Identität. In jedem Fall ist sie die Verliererin.1 Almuth Fricke

Hier bietet sich als Gegensatz Anligona furiosa von Griselda Gambaro an in der Interpretation von Nieves Martinez de Olcoz: „Auf den Körper geschrieben: Frau, Nation, Gedächtnis" in Geschlechter/Performance, Pathos, Politik. Frankfurt/M. 1998, der diese Anthologie begleitende Kommentarband. S. 51-64.

Die Moderatorin

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Eine einzige Revolution in einer einzigen Person wird dazu beitragen, das Schicksal des Landes zu wenden, und sie wird dazu beitragen, das Schicksal der Menschheit zu wenden! Daisaku Ikeda

Die Moderatorin Hinweis an den Regisseur und die Schauspielerin: Es handelt sich nicht um ein psychologisches Drama, ganz im Gegenteil, es ist eine schwarze Komödie. Sie sollten diesen Hinweis sehr ernst nehmen, besonders in den Szenen mit der Puppe. Sollten Kürzungen notwendig sein, müßte mit den Puppenszenen begonnen werden. Die Stimme des Trainers könnte von irgendeinem Gegenstand herkommen, der plötzlich zu sprechen beginnt, oder auch von einem beispielsweise als Laptop, Bild, Tür oder Wand verkleideten Schauspieler. Nur das Ende ist dramatisch. Rosa del Prado Campos, bekannte Sprecherin einer Fernsehnachrichtensendung, lebt in einer renovierten Altbauwohnung in der Altstadt von San Juan. Einige Tiffanylampen, ein Spiegel und eine Barbiepuppe (Erinnerung an die Kindheit) sind in der Einrichtung der Wohnung neben weiteren Elementen hervorzuheben, die der Regisseur für die von seiner Inszenierung beabsichtigten Effekte fiir notwendig erachtet. Das Stück beginnt am Morgen eines Wochentages, doch es passiert nicht das, was in diesem Leben normalerweise an irgendeinem Tag der Woche passiert. An diesem Morgen hat Rosa beschlossen, etwas länger zuhause zu bleiben, bevor sie die Wohnung verläßt. Die Stille wird lautstark von „Schwanensee" unterbrochen. ROSA Felix! Felix! Felix! FELIX Stimme Was ist los, Rosa? ROSA Stell' die Musik leiser, der Arzt hat mir Ruhe verordnet, und zünde ein Räucherstäbchen an, der Shitgeruch ist ziemlich heavy um diese Uhrzeit. Bleib cool, Alter, sonst kommt noch die Polizei. FELIX Stimme Zum Teufel mit ihr. ROSA Wer zum Teufel gehen wird, bist du! FELIX Stimme Meine Sache! ROSA Ein rücksichtsloser und schlechter Mensch, diese Tunte. Er weiß es, er weiß doch, wie wichtig die Sache heute abend für mich ist. Logisch, daß nicht er zur Chefmoderatorin einer Nachrichtensendung ernannt wird, ist hart. Aus zwei Gründen! Weil er niemals moderat sein wird und noch viel weniger eine Frau. Ruhig, Rosa ruhig, du darfst dich nicht eine Minute aufregen. Der Arzt hat gesagt, du seist am Rand eines Zusammenbruchs, und du solltest auf

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ihn hören, denn es ist ziemlich viel, was er kassiert, und soviel verdienst auch du nicht, meine Liebe. Wenn die Leute nur wüßten, wie schlecht Fernsehsprecher bezahlt werden. Deshalb muß frau sich auch jeden Tag abrackern, um die erste Schlagzeile zu bringen. Und wie frau verarscht wird. Nicht draußen, nein, im Sender, wo die Kollegen alles dransetzen, einen zu übertrumpfen, davon kann ich ein Lied singen! Aber ich habe gelernt. Logisch, daß ich daraus gelernt habe. Seit man mir das erste Mal das Rohmaterial geklaut hat. Das war eine Enttäuschung. Es wäre die beste Meldung gewesen, nicht des Tages, des Jahres! ...naja, das ist unser täglich Brot. Und dann diese Blanquita. Blanquita! Die ist die Schlimmste von allen! Mit dieser alten Beißzange muß man sich gut stellen, sie ist die Sekretärin der Abteilung und wenn die ihre Tage kriegt und uns auf dem Kieker hat, läßt sie uns erst fünfzehn Minuten, bevor wir auf Sendung gehen, die Beiträge schneiden. Das hat sie mit einer Neuen gemacht, die seit letztem Jahr bei uns ist, und die Arme mußte völlig zerzaust und ohne Make-up auf Sendung. Aber nicht mit mir! Mir haben sie einmal das Rohmaterial geklaut, aber wie eine Frittenbudenverkäuferin aus Boca de Cangrejos auf Sendung gehen, das würde ich niemals! Sie zeigt den Mittelfinger Der ist für dich, Blanquita. Das Telefon klingelt. Rosa nimmt ab. Hello! Blanquita!! Nice! Weißt du, daß ich gerade an dich gedacht habe... Nur Gutes, mein Mädchen, an das Glück, das wir mit dir gehabt haben... aber sag schon, altes Haus, schieß' los... Nein!!... Taucht mein Rohmaterial wirklich nirgendwo auf? Und wer hat es bemerkt? ... Ironisch Ach was, Ramón Luis! Was für ein guter Kollege! Wie er sich um mich sorgt. Man sollte nicht meinen, daß wir beide heute abend für den gleichen Posten antreten! Nein, ich habe es nicht, du weißt, daß das nicht korrekt wäre, und ich halte mich immer an die Regeln... Blanquita, ich weiß echt nicht, was mit dem Rohmaterial passiert sein könnte, vielleicht habe ich es verlegt, nichts zu machen, ich muß nochmal in den Sender kommen. Aber der Chef hat es mir erlaubt! Du weißt, daß ich immer korrekt bin... danke, danke, ich weiß, daß ich auf dich zählen kann... Wirklich? ... Was du nicht sagst! Und was sagte der erste Geschäftsführer dazu? Oh, Blanquita, ich bin gerührt... Danke, meine Liebe, ich danke dir für all deine Hilfe... Nein, ich weiß doch, daß du mich für die Fähigste hältst, aber du

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mußt dich nicht für mich verwenden... Die Sekretärin des ersten Geschäftsführers? ... Toll! Das ist viel! Eine Sekretärin ist eben eine Sekretärin, sie ist immer die einflußreichste Person in einem Büro. Aber was sage ich das dir als Sekretärin, du mußt es wissen! Wenn ich dich nicht hätte!... Nein, nein, Schätzchen, du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken, das ist meine aufrichtige Meinung. Doch, es ist wahr! ... Mädchen, mach dir deshalb keine Sorgen, ich kann schweigen wie ein Grab! Du weißt, daß man dort niemandem trauen kann. Aber wem sage ich das? Ich gebe dir mein Pfadfinder-Ehrenwort... Nein, ich war nie Pfadfinderin, aber das klingt nach unantastbarer Ehre... Ach, du warst Pfadfinderin. Das merkt man dir an... Ja, ja, Blanquita, wir Frauen müssen zusammenhalten. Hör zu, ich glaube, und das nicht weil es hier um mich geht, daß eine Chefmoderatorin immer interessant ist. Sie gewinnt Sympathien und bringt den Sender ins Gespräch. Außerdem sind wir der einzige Sender, der keine Chefmoderatorin hat, Blanquita, das ist schon ein starkes Stück... Sieh mal, glaubst du wirklich, daß ich es werde? ... Ehrlich! Ja, ja, ich weiß, daß ich die Favoritin bin, aber ich werde nervös, weil es vor laufender Kamera sein wird. Ich bin diese Woche fünf Mal zum Psychologen gegangen... Ja, das mit dem Hauptgeschäftsführer erleichtert mich, aber wer weiß... Ach, mein Gott! Wenn wir nur beide gewinnen könnten. Ramón Luis wird sich an die Entscheidung halten müssen, die getroffen wird... Mir tut es sehr leid. Mir tut es sehr leid für ihn, aber was soll ich machen, so ist das Leben. Süße, ich mache Schluß, du bist bestimmt ziemlich busy! Wir sehen uns dort... Ja, meine Liebe, es sei dir nicht vergessen, wir lieben dich doch alle... Nein, nein, du wirst schon sehen, daß das Rohmaterial auftaucht, sobald ich meinen Fuß in den Sender setze, keine Sorge... Ciao. Sie legt den Hörer auf.

Daß das auftauchen wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche, ich habe es nämlich. Tja, die halten mich für blöd. Na sicher, als würde ich das Rohmaterial für eine Nachricht wie diese in den Händen von diesen Schlangen lassen, die mit mir arbeiten, klar doch. Sieh einmal an, dieser Ramón Luis wühlt in meinen Sachen! Aber das werde ich mit ihm regeln, sobald ich heute Abend ernannt worden bin, und mir ist es egal, wenn er blöd guckt. Spießer! Warte

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nur, bis ich Chefin bin, dann wird sich in dieser Nachrichtenredaktion einiges verändern! Ach! Wie dumm von mir! Ich hab vergessen, nach Mario zu fragen, statt dessen hab ich mich ins Gespräch mit dieser dummen Kuh verwickeln lassen. Ich muß unbedingt mit Mario sprechen, der ist über alles auf dem laufenden! Mario hat immer seine Finger in allem. Der überzeugt ein Känguruh, sich eine Louis-Vuitton-Tasche zu kaufen. Der ist aalglatt, da kann ich ein Lied von singen. Nichts zu machen! Ich muß da noch mal anrufen. Sie ruft beim Sender an.

Blanquita, Baby, ich bin es noch mal. Entschuldige, daß ich dich so oft störe, aber ist der zweite Chef da... Wie, welcher zweite Chef? Der Vizedirektor, Mario, wer sonst! ... Nein... Mist, ich muß unbedingt mit ihm sprechen. Liebes, tu mir den Gefallen und sag ihm, falls er anruft oder auftaucht, daß er mich zuhause zurückrufen soll, wahrscheinlich werde ich nicht da sein, weil ich noch zum Friseur will, um mich schön machen zu lassen, ich meine, noch schöner, schön bin ich ja schon... Nein, Blanqui, mein Handy ist kaputt, ausgerechnet, wenn ich es so nötig brauche. Hör zu, Blanqui. Gib mir die Handynummer von Mario... Nein, ich habe sie, aber dann brauche ich sie nicht zu suchen... Es ist kaputt? Ich verstehe, die Nummer soll geändert werden... Nein, Blanqui, das Handy vom ersten Geschäftsführer möchte ich nicht anrufen, auch wenn die beiden oft zusammenstecken. Tu mir doch den kleinen Gefallen und sag ihm, wenn er kommt oder anruft, daß er mich zuhause zurückruft, ich bin noch ein Weilchen da, und falls er mich nicht mehr antrifft, soll er mir eine Nachricht hinterlassen. Er soll mir unbedingt eine Nachricht hinterlassen! Ja, Mario gehört doch zu denen, die nie eine Nachricht hinterlassen, der Anrufbeantworter macht dann nur tüt tüt tüt tüt. Warte mal einen Moment, ich bekomme gerade einen Anruf auf der anderen Leitung... Hello! Mario!!! Wo zum Teufel steckst du? Sag bloß, du gehst mit den Leuten Mittag essen, die den Sender kaufen wollen. Junge, was du für ein Glück hast... Texaner? Aber was ist mit der Griechin, die das Geschäft machen wollte? ... Aha, sie hat einen Sender in der Dominikanischen Republik gekauft. Wie schade, eine Frau als Eigentümerin des Senders... Gut, wenn du meinst, daß die Texaner okay sind, dann glaube ich dir das... Bleib

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an der Sache dran, mein Junge, bleib dran, deine Belohnung bekommst du später von mir. Hör mal, wir haben gestern nicht mehr über die Sache mit dem Senat geredet, weil wir soviel am Hals hatten... Ich bin ganz deiner Meinung, Alter. Ich verstehe nicht, warum die Leute so überrascht darüber sind, was im Senat los ist, das ist doch ein alter Hut, und alle wußten davon. Natürlich ist es persönlich! Das heißt nicht, daß ich damit einverstanden bin, aber ich weiß, daß es persönlich ist, und jeder wußte es... Prima, die sollen nur weiter so rummachen, das steigert unsere Einschaltquote! Ich halte es wirklich nicht einen Tag länger aus, immer von dir zu hören: „Scheiße, heute ist keiner gestorben! Wir haben keine Meldung. Wir sind angeschissen!" Aber jetzt sind wir fein raus, Mario, die Senatoren lassen nun die Hosen runter. Es fehlt nicht viel und sie zeigen uns ihren Pippimann... Was, zwei Senatoren haben dir damals ihren Pimmel gezeigt? Das hast du mir nie erzählt. Sag schon, und wie sind sie? ... Sei still! Nenn' um Himmels willen keine Namen, bei diesen gewichtigen Senatoren, das Telefon wird bestimmt abgehört... Warum schon? Ich bin eine öffentliche Figur... Was soll das heißen, öffentlich ohne Zweifel, aber das mit der Figur werden wir noch sehen, du Mistkerl! Ach so, Blanquita ist auf der anderen Leitung, ich muß Schluß machen! Ruf mich an, sobald du etwas weißt. Und wenn jemand nicht dafür ist, bringst du einfach ganz unauffällig alle fünf Minuten das Gespräch auf mich. Ich mach Schluß. Ciao... Tut mir leid, Blanqui, das war Mario, du brauchst ihm nicht mehr meine Nachricht zu hinterlassen... Genau das hat er mir gesagt, ein paar Texaner, aber das spielt keine Rolle. Ich gehe jetzt zu meinem... Gut, ich komme dann vorbei, see you. Ciao. Rosa legt den Hörer auf. Hoffentlich bringt mir der Eigentümerwechsel keine Nachteile. Mit einer Frau hätte ich mich sicherer gefühlt, obwohl Frauen ja manchmal größere Machos sind als Männer. Ich brauche den Posten, ich brauche ihn. Was ich verdiene, reicht noch nicht mal für die Klamotten, die Tauscherei von Kleidern bringt gar nichts. Außerdem will ich mir auch meine Launen leisten, ich hab sie mir verdient. Gut, laß mich wieder positiv werden und dann abzischen. Wem das mit heute Abend wohl eingefallen sein mag? Ausgerechnet Ramón Luis und mich nebeneinander vor die Kamera zu stellen und den Um-

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Alina Marrero schlag zu öffnen, in dem der Name des Siegers sein wird. Das finde ich überhaupt nicht originell! Und danach mit Bankett, Tanz und allem Drum und Dran. Diese Leute sind nicht ganz normal! Aber weil ich sowieso gewinnen werde, soll sich Ramón Luis um den Rest kümmern. Der Ärmste, er wird sich fühlen wie ein Häufchen Scheiße. Das wird hart werden, vor den Augen des ganzen Landes zu verlieren und gleichzeitig Haltung vor der Kamera zu bewahren. Zum Teufel mit ihm. Das ist nicht mein Problem. Zum Glück! Rosa geht aus dem Haus. Bevor sie rausgeht, schaut sie noch mal in den Spiegel, als sei es Teil eines „Routinerituals" Dann will sie gehen, doch sie erinnert sich an ihre Barbiepuppe, die sie trotz deren Alters und wenig attraktiven Äußerem aus krankhaften Gründen als Teil ihrer Wohnungseinrichtung behalten hat. Dina, jetzt wäre Mama fast gegangen, ohne sich von dir zu verabschieden und dir ein Küßchen zu geben. Das verzeihe ich mir nicht. Aber verzeih du mir, mein kleines verwöhntes Mädchen, ohne dich hätte nichts in diesem Leben einen Sinn. Du verzeihst mir, nicht wahr, Baby? Ganz bestimmt? Ich habe einfach zu viele Sorgen. So sind wir Mütter eben! ...so war sie auch... gut, sie war ein bißchen so, ein ganz kleines bißchen... Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, daß es so einmal war, aber ich weiß nicht mehr, wann genau. Paß gut auf das Haus auf und mach niemandem die Tür auf. Ich hab dich lieb. Rosa umarmt und küßt ihre Puppe und schaut noch mal in den Spiegel, dann geht sie sehr schnell ab.

Zeitwechsel. Nachmittag desselben Tages. Leere Bühne. Das Telefon klingelt. Eine Aufnahme von Rosa antwortet mit Eleganz nach einem Präludium von Chopin. STIMME Im Moment kann ich Ihren Anruf leider nicht entgegennehmen. Wenn Sie ein Fax senden wollen, starten Sie Ihr Gerät jetzt. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten, warten Sie bitte auf den Signalton. Ich rufe Sie sobald als möglich zurück. MARIO Stimme Rosa, hier spricht Mario, ich rufe schon zum dritten Mal an. Ich werde es weiter versuchen, weil ich mein Handy nicht dabei habe. Bis später. Rosa kommt zwei Sekunden nach dem Anruf von Mario herein, ohne zu merken, daß er angerufen hat. Das Telefon klingelt. Sie wirft den Aktenkoffer und ihre Handtasche auf den Boden und rennt zum Telefon. Beim

Die Moderatorin

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Aufprall auf den Boden sind ein paar Meldungen, Briefe und andere Papiere aus der Aktentasche gefallen. ROSA Mario! Das ist Mario! Aufgeregt nimmt sie das Telefon ab. Ja bitte! Ihre Stimme verändert sich, wird gekünstelt und kurz angebunden, aber auch erregt und überrascht Mi... guel... Mir geht's besser als je, ich suche gerade den Textmarker... Wofür ich den brauche? Um einen Strich an die Wand zu machen, weil du mich angerufen hast... Ach wirklich, ich klinge kühl und distanziert? Tja, ich weiß nicht warum, du hast mir ja nichts getan, abgesehen davon, daß du mich allein gelassen hast, als... Ja, ich habe die Tiffanylampen noch, und ich denke gar nicht daran, sie dir zurückzugeben. Weggegangen, Platz vergangen, mein Junge... Nein, Miguel, ich werde nicht wieder davon anfangen, ich werde einfach weitermachen. Seit mehr als sechs Monaten habe ich nichts von dir gehört. Du bist noch nicht einmal mitgekommen. Die Scheiße in San Tomas mußte ich ganz allein durchstehen, und du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich alles anstellen mußte, damit die Medien keinen Wind von der Sache bekamen, sonst wäre es ein Riesenaufmacher geworden. Danach habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, aber ich habe dich nicht gefunden. Und jetzt soll ich mit dir reden, als sei alles meine Schuld gewesen. Du willst mich wohl verarschen, honey... Hör mal, Miguel, ich glaube, das ist Zeitverschwendung. Ich will mich jetzt nicht aufregen, davon bekomme ich nur Allergie und dicke Augen und heute abend muß ich... Danke, daß du dich für mich freust... Klar, ich werde heute Chefmoderatorin, ich bin einfach die Beste! Komm zur Sache, Miguel... Was soll das heißen, warum ich dich nicht angerufen habe, damit du mich heute abend begleitest? Schwachkopf! Und deine Tiffanylampen bekommst du nicht zurück! Rosa knallt den Telefonhörer auf und geht mit einer Geste der Verzweiflung zu den Tiffanylampen, umarmt sie, sie zittert. Ihr gehört mir, mir allein und sonst keinem! Dann geht sie zu ihrer Handtasche, die auf dem Boden liegt, ihre Hände zittern unkontrolliert. Sie holt aus der Tasche ein Fläschchen mit Tabletten und ein Döschen mit Kokain, sie greift zunächst zur Droge. Nein, du bist zu teuer und nur für „special occasions". Mit dir werde ich den heutigen Abend feiern. Sie schaut das Fläschchen mit den Tabletten an. Ihr seid dran!

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Alina

Marrero

Rosa holt drei Tabletten heraus, geht zu ihrer Hausbar, schenkt sich einen Whiskey ein und „zieht sie sich rein". Sie holt aus ihrer Handtasche ein Atemspray und leert es in ihren Mund; dann beginnt sie, die Sachen aufzuheben, die aus ihrem Aktenkoffer gefallen waren, und begegnet dem Blick der Puppe. Warum schaust du mich so an? Ich bin eine erwachsene Frau und weiß, was ich tue. Ich würde es niemals wagen, meine Mutter so anzusehen. Sie bückt sich, um ihre Sachen aufzuheben Laß dir von mir sagen, daß ich zu meiner Mama immer aufblicke... ja, es stimmt, jetzt sitze ich gerade auf dem Boden, weil ich das Zeug aufheben muß. Glaube bloß nicht, die Situation sei symbolisch, sie ist es nicht. Warte, bis ich aufstehe, dann siehst du, daß ich größer bin als du. So wie es sein muß! Sie steht auf, aber ist immer noch nicht fertig mit dem Aufräumen Siehst du? Genauso ist meine Mutter, sie ist größer... Übergang aufgrund des Gesagten, dann fährt sie schnell wieder mit dem Aufräumen fort Sie ist einseinundachtzig groß. Sie hatte die Idee, sich fortzupflanzen, ja wirklich, sich fortzupflanzen, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie sie „mit jemandem schläft"...geschweige denn vögelt... kurz gesagt, sie heiratete diesen einmeterfünfundfünfzig Typen und dabei herausgekommen bin ich, genauso groß wie er! Ich habe nichts von ihr mitbekommen... nur daß ich Journalistin geworden bin wie sie. Aber sie war niemals Nachrichtensprecherin im Fernsehen! Irgendwann einmal werde ich dir das Buch vorlesen, das die Gesellschaft der berühmten Persönlichkeiten Amerikas publiziert hat, mit ihren besten Reportagen aus den Zeiten, als sie für EL PLANETA arbeitete. Die Zeitung hieß nämlich genauso wie die von Louise Lane. Weißt du, wer Superman war? Also, deine Großmutter und er sind für die Nachwelt verewigt! Du wirst schon sehen, daß ich es heute abend schaffen werde! Sie verändert sich und wird plötzlich liebevoll Ach Dina, die Sache heute abend ist so wichtig für mich! Sie schaut in den Spiegel und schreit Ich hab eine Falte auf der Stirn bekommen, Dina, alles nur wegen Miguel. Trau' den Männern nie! Kümmere dich um deine Karriere und sei glücklich. Ich könnte nie Ehefrau sein. Und Mutter noch viel weniger! ... Es tut so weh zu merken, daß man weniger als ein Haufen Dreck für jemanden ist, der einem einmal soviel bedeutet hat... Das Telefon klingelt.

Die Moderatorin

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Das ist Miguel, ich werde nicht dran gehen... und wenn es Mario ist? Rosa geht unentschlossen zum Telefon, sie schwankt, ob sie abnehmen soll oder nicht, sie beschließt, erst einmal die Nachricht abzuhören, die gerade aufgesprochen wird. Nach Rosas Ansage. TERESA Stimme, verzweifelt schluchzend Rosa... Rosa... Ich bin's, Teresa, bitte nimm den Hörer ab, ich muß deine Stimme hören... Rosa... Geh ans Telefon, ich kann nicht mehr... Rosa! Sie weint Verzeih mir, ich werde es nie wieder tun. Ich mache, was du willst, aber geh ans Telefon, Rosa... Rosita, du fehlst mir, ich kann nicht ohne dich leben. Ich weiß, daß es nicht angebracht war, über die Frau herzufallen, die dich am Strand angestarrt hat, ich weiß, daß du diese Dinge nicht magst, aber ich schwöre dir, daß ich es nicht wieder tun werde... ich liebe dich einfach zu sehr und mag es nicht, wenn sie dich angaffen... Ros... Rosa stoppt die Aufnahme und schaut die Puppe an. ROSA Traue auch keiner Frau außer deiner Mutter. Ach, Dina! Komm, wir rufen die Omi an. Sie redet weiter, während sie die Nummer ihrer Mutter wählt Wir müssen sichergehen, daß sie mich heute abend sieht, statt sich zum Schreiben einzuschließen. Denn deine Großmutter gönnt sich keine Ruhe, Dina. In ihrem Alter und trotzdem weiter so aktiv, sie hat einen Lehrauftrag von der Boston University bekommen und jetzt verbringt sie ihre ganze Zeit mit... Der Anrufbeantworter! Wir werden ihr eine Nachricht hinterlassen... Mamilein, ich bin's, Rosa, ich weiß, du hast eine Romanze mit deinem Computer, geh trotzdem ans Telefon, es ist wichtig für mich... Mama... gut... vergiß nicht, mich heute abend anzusehen, Mamilein, damit du meinen Triumph nicht verpaßt... ich habe dich sehr lieb... Mami, Mami... Das Band hat sich abgestellt. Aber sie hat mich gehört. Oh jeh, ich bin meine Dankesrede nicht noch einmal durchgegangen. Gelassener, aber nicht gemächlich, wendet sich Rosa wieder „ihren Dingen " zu, ordnet das Rohmaterial und geht die Papiere durch. Sie findet ihre Dankesrede und beginnt, sie zu lesen. Plötzlich muß sie offensichtlich ganz dringend zur Toilette und rennt mit der Rede in der Hand raus. Das Telefon klingelt. Es antwortet die Aufnahme mit Rosas Stimme. FELIX Stimme Komm schon, du alte Schlampe! Du Flittchen, antworte mir, ich weiß, daß du da bist. Rosa... Antworte, ich muß ernsthaft mit dir sprechen... Rosa. Rosa! Geh dran, du Schlampe...

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Alina

Matrero

Felix legt auf, spricht aber weiter durch die Wand. Geh an dieses Telefon, ich könnte ja anrufen, um dir ein letztes Adieu zu sagen. Erlaube mir, dir mitzuteilen, daß ich dich in mein Testament aufgenommen habe. ROSA Mensch, Felix, ich habe Durchfall. FELIX DU machst solche Sachen? Ich dachte, Leute wie du müßten nicht aufs Klo. ROSA Geh mir nicht auf den Geist, Felix, ich bin nervös. Während Felix und Rosa miteinander sprechen, klingelt das Telefon. Es läuft die Ansage mit Rosas Stimme. Es ist Mario, aber Rosa bemerkt es erst, als er später seinen Namen sagt. MARIO Stimme Rosa, ich rufe dich an, weil ich die Information bekommen habe, es ist zwar noch nichts offiziell... gut, du weißt ja, daß ich mein Handy nicht dabei habe, ich rufe später noch einmal an. FELIX Nervös? Rosa, du bist im Begriff zu versagen. Was ist nur mit dir los? Kannst du nicht sagen, ich bin im Stress, oder ich bin kurz vor einem Nervenzusammenbruch oder ganz einfach ich bin total am Ende, so wie es eine wirkliche Dame machen würde? ROSA Halt den Mund, es ist Mario! FELIX WO denn, ich bin sofort da?! So scharf, wie der Knabe ist! Vergiß die Kondome nicht, safer sex und Verhütung sind angesagt. Cruz Rigau wird sich an dir eine goldene Nase verdienen. ROSA Er ist am Telefon. FELIX Ach so! Am Telefon besteht keine Ansteckungsgefahr, es drohen weder Pampers noch Aletegläschen. Rosa rennt zum Telefon, doch es ist zu spät. ROSA Tunte! FELIX Ach, wie süß, wie süß, wie süß! Du bist nur neidisch. ROSA Wenn du nicht so herumgeplärrt hättest, hätte ich auch das Telefon gehört und wäre dran gegangen. FELIX Wenn du ans Telefon gehen würdest, müßte ich nicht so brüllen, alte Hexe. ROSA Wenn ich auf dem Klo sitze, kann ich nicht ans Telefon gehen. FELIX Siehst Du! Siehst Du! Jetzt bin ich es wieder, der an allem schuld ist. An der Kriminalität, an der Homosexualität, am Golfkrieg. Nebenbei bemerkt, dem Hussein tut es nicht weh. ROSA Halt die Schnauze!!!!

Die Moderatorin

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Gespannte Stille. Sie wartet, daß Felix wieder spricht, aber er sagt nichts. Sie geht zur Wand und klopft daran, als wäre es eine Tür. Felix. Felix!!!!!!!!!!!!!!! Unerwartet erklingt lautstark Schwanensee. Rosa legt schnell eine SalsaCD auf. Es beginnt ein Wettbewerb zwischen den beiden, wer wohl die Musik am lautesten stellt. Rosa schließt an ihren CD-Player einen Kopfhörer mit einem ziemlich langen Kabel an, mit dem sie sich durch den ganzen Raum bewegen kann. Nachdem sie das gemacht hat, hört man nur noch Schwanensee. Rosa setzt sich den Kopfhörer auf und beginnt, vor dem Hintergrund der Balletmusik Salsa zu singen. Sie tanzt und singt Salsa, während sie sich für das Fest umzieht. Rosa bemerkt nicht, daß die Lautstärke von Schwanensee heruntergestellt wird. Sie hört auch nicht, daß das Telefon klingelt. Man hört die Ansage mit ihrer Stimme. MARIO Stimme Rosa ich bin es noch mal, Mario. Es ist wichtig, daß wir vor der Veranstaltung noch reden. Ich habe mich erkundigt. Es ist offiziell. Du mußt dich darauf vorbereiten. Ramón Luis wird der nächste Chefmoderator der Nachrichtensendung. Es tut mir sehr leid, Rosa. Wir sehen uns gleich. Rosa, die während Marios Anruf die ganze Zeit den Kopfhörer trägt, zieht sich fertig um. (Ob das Umziehen auf oder hinter der Bühne stattfindet, entscheidet die Regie). Danach nimmt sie den Kopfhörer ab und geht zum Spiegel „zum Ritual des letzten Handanlegens". Sie beschließt, daß sie sich liebt. Sie greift zu ihrer Handtasche, nimmt ein Parfüm heraus, hebt ihren Rock hoch und parfümiert sich zwischen den Beinen. ROSA Jaja, man kann nie wissen. Danach will sie rausgehen Verflixt! Ich habe meine Dankesrede im Bad liegenlassen. Sie läuft ins Bad und kommt mit der Rede zurück, sie geht sehr schnell zum Spiegel, um einen letzten Blick hineinzuwerfen, mit der Rede in der Hand schaltet sie die Tiffanylampen aus. Bevor sie die letzte Lampe ausschaltet, hält sie inne. Hier geht die neue Chefmoderatorin! FELIX Stimme Hoffentlich läufst du nicht auf! ROSA Neidische Tunte! FELIX Stimme AlteFotze! Sie schaltet die letzte Tiffanylampe aus, dabei fällt ihre Dankesrede auf den Boden, ohne daß sie es merkt. „Schwanensee"wird immer lauter, während Rosa siegesgewiß abgeht.

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Alina

Matrero

Zeitwechsel. Kurz vor Mitternacht am selben Tag. Rosa betritt pathetisch den Raum, fast wie eine Statue, aber nicht gleichgültig. Sie kann kaum die Tür schließen. Ihre Enttäuschung ist so groß, daß sie wie erstarrt ist, sich ohnmächtig und hilflos fühlt. Beim Eintreten stolpert sie über das Blatt, auf das sie ihre Dankesrede geschrieben hatte. Mit letzter Kraft hebt sie das Blatt vom Boden auf und macht einige Schritte, ohne es zu lesen. Ganz plötzlich und völlig unerwartet stößt sie einen Schrei in die Stille aus. Wir hören keinen Ton, aber sie schreit, sie schreit sehr laut, und wir sehen sie schreien wie in einem Stummfilm, aber in normalem Tempo. Der Schrei bricht in einem Moment hervor, doch, als wäre er immer schon da gewesen, ist es nicht der Beginn des Schreis, sondern es scheint, als hätten wir lediglich die Lautstärke (des Tons, des Heulens, der Hysterie) aufgedreht, wir hören den Schrei gleichzeitig mit der Geste. Dann reißt sie das Papier in Fetzen, und ihre Verzweiflung beginnt einen Tanz der Befreiung. Fast am Ende dieses Tanzes klingelt das Telefon. Rosa hält kurz in ihrer wilden Choreographie inne, aber ihr Atem ist so heftig wie ihre Gemütserregung. Sie geht nicht ans Telefon. Es ist die Mutter. Ihre Stimme klingt distinguiert und sicher, nicht mitfühlend, aber sehr ernst. MAMA Stimme Hier spricht deine Mutter, Rosa, ich habe das lächerliche Magna Cum Laude gesehen, das heute alle von sich gegeben haben. Ich könnte dir jetzt sagen, daß du dich von Anfang an lächerlich gemacht hast, seit du diese Bedingungen akzeptiert hast, und ich habe es dir damals schon gesagt, aber du willst ja nichts davon wissen... ich weiß, daß du mir zuhörst, weil ich die Zeit genau gestoppt habe, die du vom Studio bis zu dir brauchst, und wenn du jetzt nicht ans Telefon gehst, werden wir erst wieder in einer Woche reden können, denn ich habe zuviel zu tun... Auf jeden Fall tut es mir leid. Mach dich nicht fertig. Versuche es noch einmal... aber gib dich nie wieder für so etwas her, so gern du es auch willst! Während Rosa ihrer Mutter zuhört, krabbelt sie auf allen Vieren über den Boden, kauert sich wie ein Fötus in eine Ecke und wiegt sich hin und her, als wäre sie ein autistisches Kind. Am Ende des Minimonologs der Mutter hat Rosa diese Position verlassen und sich zu ihrer Handtasche geschleppt, um ihr „Döschen" zu suchen. Als die Nachricht zu Ende ist, hat Rosa die Droge noch nicht gefunden und leert mit Schwung die Handtasche auf dem Boden aus. Wie ein Hund, der gierig in einer Mülltonne wühlt, findet sie schließlich den Stoff und „kuriert sich" mit Hilfe ihrer langen, gepflegten Fingernägel. Die Droge zeigt sofort Wirkung. Fast auf einen Schlag

Die Moderatorin

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gewinnt Rosa wieder die Fassung. Sie geht zum Spiegel und macht Karateübungen. Damit vergnügt sie sich eine Zeitlang. ROSA Ich bin ein „Power Ranger"! Laß uns kämpfen. Komm schon, laß uns kämpfen. Was ist los? Hast du Angst vor mir? Los, verteidige dich, du Feigling. Warst du nicht diejenige, die die Jungs in die Tasche gesteckt hat? Lächerlich von Anfang an! Du hast die Göttin Mutter gehört weiter Karate ich sollte Sportreporterin sein statt eine verdammte Scheißsprecherin. Die Dinge, die mir passieren, passieren sonst keinem. Rosa fängt hemmungslos an zu lachen. Sie will etwas sagen, aber sie kann nicht vor Lachen. Zum Schluß gelingt es ihr. Man muß lachen, man muß nur über sich selbst lachen können, sonst kann ich gleich Harakiri begehen. Au ja! So dramatisch sterben wie Madame Butterfly, das ist doch in Mode. Allerdings kann ich nicht singen und hasse die Oper... Sie lacht Gut, dann hält sie mich eben für... Gut, soll sie mich doch lächerlich finden wird ernst das ist einfach nicht gerecht, es ist nicht gerecht. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich Lust, mich in einen Samurai zu verwandeln und... Sie beginnt wieder mit den Karatebewegungen, diesmal verwegener, haflerfüllt, aber es gerät zur Parodie... heute abend bin ich wohl zu sehr Japanerin... Malio... liebel Malio, alle Welt zu deinen Füßen sein. Ich gute Flau sein. Malilito, nicht aufstehen, ich dich holen schönen walmen Tee, den kipp' ich dir über, damit du dich verbrennst, du Hurensohn. Du und alle Männer, Arschlöcher seid ihr! Hör nur, was der Geschäftsführer heute abend zu mir gesagt hat: „Rosa du bist sehr kompetent, aber du mußt verstehen, daß diese Leute sehr konservativ sind, und auch wenn es seit einiger Zeit so gehandhabt wird, gefällt es ihnen nicht, daß eine Frau, und auch noch eine schöne Frau, an der Spitze einer Nachrichtensendung steht." Klar, das war nicht genau, was er mir gesagt hat, denn es so auszudrücken, wäre nicht korrekt gewesen, aber man konnte es förmlich riechen. Und ich stand da und mußte mir alles anhören, ohne etwas tun zu können, und dann noch der Andere! Ramón Luis, bei dem ist alles nur Schein, der hat nur so ein kleines Würstchen, laßt Euch das von mir gesagt sein, und dann glotzt er mich noch geil an, als würde ich mich nicht mehr daran erinnern, wie scheiße die Nacht mit ihm war: Gräm dich nicht, Rosita, ich

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Alina Marrero kenne deine Fähigkeiten, du wirst meine rechte Hand sein, Muttchen. Laß dir gesagt sein, Ramón Luis, ich werde dir nichts bemuttern, wenigstens nicht in den nächsten achtundvierzig Stunden. Ich könnte meine Meinung ja ändern, und ich denke nicht daran, länger deprimiert zu sein. Und ich bei alldem mit einem Lächeln von einem Ohr zum anderen. Mit den auf mich gerichteten Kameras. Zum Glück merkte man mir nicht an, wie stinksauer ich war. Wenigstens das habe ich hingekriegt. Darin bin ich gut. Mir macht es echt nichts aus!... So eine Scheiße. Jetzt kommen die Erklärungen. Ich habe doch aller Welt erzählt, daß ich Chefmoderatorin werden würde. Wie lächerlich! Es gibt wirklich kein besseres Wort dafür! Komm, ich brauche noch eine line. Gut, daß ich den Stoff von einem Kumpel bekommen habe, sonst würde ich jetzt die Wände hochgehen. Bei diesem Hungerlohn habe ich noch nicht mal die Knete für Schnee... Und jetzt...! Ich habe eine Stinkwut! Heute wird nicht gespart. Sie zieht sich den Stoff rein... was für ein Leben... dieser Ramón Luis, der ist ja ganz entzückend, aber im Job ist er ein Laumann... der reißt sich nicht den Arsch auf wie ich... wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaube ich, daß ich es hätte kommen sehen müssen... Klar! Ramón Luis kriegt seit einer Woche immer die erste Nachricht. Logisch! Um ihn bekannt zu machen. Und meine Nachrichten kamen an zweiter oder dritter Stelle, auch wenn sie besser waren. Und dann noch die Geschichte, daß er sich um mein Rohmaterial sorgt, und daß ausgerechnet Blanquita mir davon erzählt, die sich sonst nie... Wollte sie mir damit nicht sagen? Wie blöd bin ich nur, er und Mario haben mich reingelegt. Wie blöd von mir! Ich habe es nicht gemerkt. Ich wußte, daß irgend etwas los war, weil neulich die Kamerafrau, die mit mir arbeitete... Aber die ist doch mit ihm zusammen! Sie hat meine Bänder gelöscht, jetzt ist mir alles klar! Aber Mario muß doch alles wissen, Mario weiß alles, was mit den Leuten los ist. Der haben sie bestimmt gesagt, daß ich einmal mit Ramón Luis zusammen war, und die ist hysterisch. Das war an dem Tag, als wir den Typ aufgenommen haben, der sich selbst in Stücke geschnitten hat, genau gegenüber vom Gouverneurspalast. Das Video habe ich doch gesehen! Man konnte alles genau sehen! Er begann damit, sich die Finger abzuschneiden, und dann hat er weitergemacht, und die dumme Ziege hat alles aufgenommen. Unglaublich, wie die Leute

Die Moderatorin

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sich selbst zerstören, um andere fertigzumachen! ... Und was geschieht nun mit mir? Von hier bis zum Rausschmiß fehlt nicht viel. Ja, wenn sie jemanden raushaben wollen, machen sie alles mögliche, sie lassen dich über die Taufe des Hundes von Maga Roselló, der Gouverneursgattin, berichten... Ramón Luis, Chefmoderator! Aber ich habe ihm beigebracht zu sprechen! Die Wahrheit ist, daß sie mich auch zum Unterricht geschickt haben. Ich will gar nicht daran denken! Ich will mich nicht daran erinnern! Ich war so naiv... ja... ich... ich war... ich war... Unterlegt mit etwas Musik, wenn die Regie möchte, hört man Aufnahmen von Rosas Stimme im Gespräch mit ihrem Trainer, aus Zeiten, als sie gerade beim Fernsehen angefangen hatte. TRAINER Die Stimme von unten, Rosa, forciere deine Stimme. ROSA Als Reaktion auf den heißen Sonntagnachmittag... TRAINER Noch einmal von vorne! ROSA Ein bekannter Jockey zog sich Sekunden vor dem Start zum ersten Rennen die Kleider aus... TRAINER Von oben! ROSA Ich kann nicht! Ich krieg das nicht raus. Es gefällt mir überhaupt nicht. TRAINER Du bist ziemlich negativ, Mädchen, so wirst du nie Chefmoderatorin. Ein Schrei von Rosa unterbricht die Aufnahme. ROSA Es reicht!!! Es reicht... es reicht... es reicht... es reicht... bastaRosa schenkt sich einen Drink ein, trinkt ihn in einem Zug aus und zeigt ganz unverblümt ihre Erleichterung, gleich danach stößt sie den Schrei aus, den Tarzan in der Fernsehserie immer von sich gab. Ramón Luis! Me Tarzan, you Jane. In diesem Film bin ich Tarzan. Ich, Rosa! Ich bin der König des Dschungels! FELIX Stimme Fragt nur Teresa! ROSA Hör auf, Gesprächen zuzuhören, die dich nichts angehen, das gehört sich nicht! FELIX Stimme Dann unterlasse gefälligst die Geräuschbelästigung! Rosa stößt einen langgezogenen und lauten Pfiff in seine Richtung aus. So lang, bis ihr die Puste ausgeht und sie auf den Boden fällt. Man hört ein Martinshorn der Feuerwehr. ROSA Das ist bestimmt der Brand, zu dem ich heute abend zur Berichterstattung hingeschickt werden sollte, so, in diesem Aufzug, ich bin

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ja immer verfügbar. Das einzige Feuer, um das ich mich heute abend kümmern werde, ist mein eigenes: mein Allerinnerstes! Davon abgesehen interessiert mich kein anderes Feuer. Soll doch Ramón Luis hingehen, vielleicht verbrennt er ja in Erfüllung seiner Pflicht! Ach! Über das Feuer würde ich liebend gern berichten. Ich werde nicht zulassen, daß es gelöscht wird, damit der Fernsehzuschauer ausgiebig bewundern kann, wie ein Mensch lebendig und bei höchster Hitze verbrennt. Diese Nachricht schneide ich selbst und unterlege sie mit Hintergrundmusik und weine, und all das, weil er mein Freund war. Ich bin gerührt! Ich fühle mich wie neugeboren! Sehr geehrte Fernsehzuschauer, wir haben die traurige Aufgabe, ihnen mitzuteilen, daß heute in den frühen Morgenstunden in Erfüllung seiner Pflicht, eine Eigenschaft, die ihn immer ausgezeichnet hat, und aufgrund derer er zum Chefmoderator des Nachrichtenmagazins berufen wurde, unser Ramón Luis Blanco Nieves ganz und gar verkokelt verstorben ist. Im Namen aller Mitarbeiter dieser Nachrichtensendung, der Leitung und der Angestellten dieses Senders, wünschen wir ihm eine glückliche Reise in die andere Welt, wo ihn Gottvater und der Heilige Petrus schon mit einem Feuerwehrschlauch erwarten. Er ruhe in Frieden! Wir befinden uns auf dem Gelände des Gebäudes, das noch immer Opfer der Flammen ist, die auch das Leben unseres Pressekollegen Ramón Luis Blanco Nieves ausgelöscht haben. Mit uns befindet sich hier seine Kollegin aus der Nachrichtenredaktion, Rosa del Prado Campos, die Augenzeugin des schicksalhaften und unausweichlichen Unfalls wurde. Einige Worte, Rosa, für die Fernsehzuschauer. Ich kann nicht sprechen! Ich bin zutiefst erschüttert... Ich kannte ihn von allen Seiten. Wir praktizierten alle Stellungen. Wir hatten ausgesprochen viel Spaß dabei. Ich bin bestürzt! Mein einziger Trost ist, daß ich seine Stelle einnehmen werde. Ich werde Chefmoderatorin und werde es besser machen als er! Natürlich ihm zur Ehre und Erinnerung. Wie schön ist es zu träumen! Wenn ich Dichterin wäre, würde ich ein Gedicht schreiben und es an die Zeitung schicken. Die Zeitungen haben kein Interesse an Poesie, aber ich bin sicher, daß sie ein Gedicht von mir in Erinnerung an Ramón Luis veröffentlichen würden. Chefmoderatorin schreibt Gedicht für Freund Grillsteak. Ich werde das Radio anstellen, vielleicht verpasse ich sonst die Meldung!

Die Moderatorin

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Geschrei aus der Wohnung von Felix unterbricht sie. Gegenstände und Worte fliegen durch die Luft, prallen gegen die Wand und schlagen auf dem Boden auf FELIX Stimme Alex!! Alex!! ROSA Felix! Felix! Alle Welt weiß, daß du eine hartgesottene Tunte bist. Es ist früher Morgen. Sprich leiser. FELIX Stimme Du hältst die Schnauze b e i m Ficken, und die Abtreibungen macht dir dann Cruz Rigau zum halben Preis, du hast doch gar keine Ahnung von wahrhaft reiner Liebe. Er singt einen Bolero im Merenguerhythmus. ROSA Mein Söhnchen, wenn die Leute wüßten, was für eine arme Sau du bist, dann hätten sie statt Angst vor dir nur Mitleid für dich übrigOhne eine Antwort abzuwarten, stellt Rosa das Radio an. Sie geht einige Sender durch und wählt schließlich einen, wo Salsamusik gespielt wird. Sie läßt sich auf die Musik ein und beginnt zu tanzen. Halt ein, Rosa. Es kann nicht sein, daß Verwirrung und Chaos dich all die ehrenwerten Eigenschaften vergessen lassen, die deine ruhmvolle Journalistenlaufbahn ausgezeichnet haben. W a s hält dich davon ab, die Meldung von Ramón Luis Tod im Radio zu suchen? Erst die Pflicht, dann die Salsa! Das hat noch nie gestimmt. Zuerst kam immer die Salsa, aber in diesem Fall ist es anders. Der Mensch ist ein wunderbarer Mechanismus. Mit genügend Anstrengung b e k o m m t er, was er will. Ich glaube, ich verstehe jetzt die Menschen, die sich wirklich für etwas aufopfern. Das ist neu in meinem Leben! ... W u n dervoll! Ich habe gerade entdeckt, daß das Alter eine Lüge ist. Das Alter gibt es nicht, es existiert nicht, denn m a n lebt nie lang genug, um nicht zum ersten Mal auf eine Sache zu stoßen. Ich fühle mich wie der Schmetterling, kurz bevor die Puppe aufbricht und er dem Leben seine Flügel öffnet! ...so als würde ich viel Scheiße reden. Kaum hat Rosa ihre Suche nach der Todesmeldung im Radio wiederaufgenommen, hören wir einen Bericht aus aktuellem Anlaß. STIMME Wir unterbrechen unser Programm für eine Nachricht aus aktuellem Anlaß. Im Städtischen Krankenhaus verstarb heute der hervorragende Theater- und Fernsehschauspieler Alvaro Alvarez, wie seine Mutter Doña Almendra Martínez, verwitwete Alvarez, soeben diesem Sender mitgeteilt hat. Unvergeßliche Rollen von Martin, wie er liebevoll genannt w u r d e , waren unter anderen König Ödipus,

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Oswald Alving und Hamlet. Martin spielte die Hauptrolle in unzähligen Fernsehserien, die uns zu Tränen gerührt haben und in unserer Erinnerung weiterleben werden, wie z.B. „Die Leidenschaftliche", „Besessen von Leidenschaft", „Im Bann der Leidenschaft", „Ungezügelte Leidenschaft" und „Einfach nur Leidenschaft". Alvaro Martín Alvarez ruhe in Frieden. Rosa schaltet das Radio aus. ROSA So eine Enttäuschung für mich! Aber Felix wird sich freuen. Er beneidet ihn glühend! Was die Schwulen nur für ein Glück haben!... ich für meinen Teil bin auf niemanden neidisch. Die Person ist noch nicht geboren, die ich beneiden würde. Mein Problem ist vielmehr die Gerechtigkeit. Was kann Ramón Luis schon haben, auf das ich neidisch sein könnte? Ich will ihn nur tot sehen, damit Gerechtigkeit geschieht... lacht schallend... jetzt fehlt nur noch, daß Ramón Luis wie ein marshmallow im Lagerfeuer stirbt und Blanquita, die noch nicht mal zwischen einem Fön und einer Schreibmaschine unterscheiden kann, zur Chefmoderatorin ernannt wird. Ja, es wäre nicht das erste Mal, daß mir so etwas passiert... Zwei Sekunden verliert sie sich in Gedanken, doch sofort danach wendet sie sich ihrer Puppe zu... Ich habe dich belogen, weißt du Dina? Ich habe dich die ganzen Jahre über belogen... aber mir scheint, du wirst größer und eines Tages muß ich dir die Wahrheit sagen... Hör mir gut zu, hör aufmerksam zu... Ich habe dich nicht in dem Aufsatzwettbewerb gewonnen... besser gesagt, ich habe gewonnen, aber den Preis hat ein anderes Mädchen bekommen... als sie den versiegelten Umschlag öffneten, um zu erfahren, wer das Mädchen ist, das den Aufsatz geschrieben hat... Ich habe ihn geschrieben! Ich allein, und keiner hat mir dabei geholfen. Ich schrieb ihn eines Abends in meinem Zimmer, als meine Mutter mal wieder zu einem dieser Empfänge gehen mußte, wo sie fast jeden Abend hingeht. Ich versichere Ihnen, daß sie mir nicht geholfen hat, ich habe ihn allein geschrieben. Wenn er Ihnen etwas zu reif für ein kleines Mädchen vorkommt, heißt das nur, daß ich schreiben kann und... nein, tun Sie mir das nicht an... in dem Umschlag steht doch, daß ich es war. Mein Aufsatz hat gewonnen und Sie wußten nicht, wer ich war. Es ist meiner, ich habe gewonnen! Die Puppe gehört mir, mir, mir! Ich rannte mit dir aus dem Club und versteckte mich in einem nahegelegenen Gebüsch, mit meinen Finger-

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nägeln grub ich ein Loch in die Erde, ein sehr sehr tiefes Loch, und dann bin ich abgehauen... Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich werde nichts sagen. Bestrafe mich ein Leben lang, aber ich werde es dir nicht sagen. Dann sollen sie ihr doch eine andere Puppe geben, die gehört mir! Mami, Mamilein, ich habe gewonnen, keiner glaubt mir, daß ich ihn geschrieben habe, sie denken, daß du... Ja Mama, ich schwöre dir, daß ich es war... nein, ich habe nicht in deinen Unterlagen gewühlt, ich habe über die Rechte der Kinder geschrieben, weil... Du mußt mir glauben, Mamilein, ich war es! Warum glaubst du mir nicht? Warum glaubt mir keiner? ... Nein! Ich habe sie weggeschmissen, ich habe sie verbrannt, ich habe sie ins Meer geworfen, sie kaputt gemacht, es gibt sie nicht, sie ist gestorben. Sie verhält sich, als würde sie geohrfeigt. Sie weint. Sie nimmt ihre Puppe und umarmt sie Nichts wird uns trennen, nichts. Unterlegt von etwas Musik hört man wieder die Unterhaltung zwischen Rosa und ihrem Trainer. TRAINER DU mußt mehr von dir da hineingeben, Rosa. Du weißt gar nicht, wieviel junge Dinger gerne diese Chance hätten. Der Sender zahlt dir diese Ausbildung, weil ein großes Potential in dir gesehen wird. ROSA Nein, nein, ich bin Journalistin und nicht Schauspielerin! TRAINER Aber du mußt mit Mikrophon in eine Kamera sprechen und dafür gibt es eine Technik, die man einfach so lange proben muß, bis es sitzt. Übung macht den Meister, Rosa. ROSA Geprobt wird von Schauspielern. TRAINER Auch Journalisten müssen proben. Die Aufnahme wird von Rosas Reaktion unterbrochen. ROSA Nein! Das stimmt nicht, so ist das nicht, auf gar keinen Fall! Ich habe für heute abend wie verrückt geprobt, und es hat nicht geklappt! Nicht weil ich zu wenig geprobt hätte... auch wenn es sein kann... es kann sein, daß ich dann nicht einige Zeilen vergessen hätte... es kann sein, daß ich noch einiges verbessern muß... es kann... stimmen, es kann wahr sein... als ich klein war, noch viel jünger als damals bei dem Wettbewerb im Club, habe ich beim Truthahnrennen in der Schule mitgemacht. Die Welt ist voller Absurditäten! Ganz einfach, man läßt einen Haufen Gören um die Wette rennen, und der Sieger gewinnt einen Truthahn. Wenn der noch lebte, wäre

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es nett, daß das Kind seinen Vogel behalten darf. Aber der Truthahn ist tot, was nützt er ihm noch! So etwas nennt sich Ausbeutung und Mißbrauch von Minderjährigen. Und es ist legal! Es wird in den Schulen dieses Landes praktiziert! Die Eltern des Kindes sollten lieber um die Wette rennen, denn sie sind diejenigen, die keinen Truthahn kaufen müssen, wenn ihr Kind gewinnt. Und sie sind fein raus, denn an diesem Tag futtern alle ihren Truthahn, egal wem nun gedankt wird oder auch nicht. Wenn ich weiter die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt aufzähle, höre ich nicht mehr auf. Tatsache ist, daß ich beim Truthahnrennen lief und erste wurde. Die Geschichte meines Lebens. Immer werde ich erste und bin Nummer eins, aber keiner sieht es. Nicht jeder hat Sehvermögen. Die Sache ist, daß ich erste war und nicht gewonnen habe! Das glauben nicht einmal die, die dabei gewesen sind. Ich lief bei diesem fucking Truthahnrennen mit, war erste und habe nicht gewonnen. Ich wurde nicht disqualifiziert, weil ich gemogelt habe oder so, keineswegs. Ich wurde erste mit allem Recht der Welt. Sie gaben mir ganz einfach nicht den Truthahn. Einige Señoras, die immer sagten, daß sie die Direktorin und ihre Assistentinnen seien, außerdem noch eine Schar von Arschkriecherinnen, alle so hochgewachsen wie der Weiße Riese... Schau an! Es ist, als wären in der Erinnerung diese Señoras blütenweiß... Aber der Weiße Riese ist natürlich wesentlich attraktiver... bei einem Weißen Riesen ist bestimmt alles blütenweiß... und wenn er fünfmal so groß ist wie ein normaler Mann, dann ist nur logisch, daß alles an ihm fünfmal so groß sein muß... groß und weiß. Doch zurück zur Wirklichkeit, ich erlebe in letzter Zeit schon zu viele Enttäuschungen, und mir ist noch nie ein Weißer Riese über den Weg gelaufen. Tatsache ist, daß ich ohne den beschissenen Truthahn nach Hause kam! „Rosita, du bist so ein hübsches und braves Mädchen, sieh mal mein Kindchen, wir haben beschlossen, den Truthahn Margarita zu geben. Eigentlich ist sie ja Vorletzte geworden, aber ihre Eltern sind ganz arm, und wir finden es schade, wenn sie am Donnerstag keinen Truthahn essen können." Aber ich habe doch gewonnen. „Sie ist ganz arm, Rosita, hast du gar kein Mitleid?"Und was zum Teufel geht mich das an? Ich werde das niemals vergessen! Ich gebe mir wirklich große Mühe, um es nicht zu vergessen. Ich denke bewußt jeden Tag daran! Und ich kann es immer noch nicht verstehen! Man

Die Moderatorin

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nennt es Menschlichkeit, Mitleid mit den Armen zu haben. Wer kein Mitleid mit den Armen hat, wird schief angesehen, also heißt es Mitleid haben. Keiner merkt, wieviel Zeit uns das Mitleid kostet, genaugenommen ist das Mitleid steinalt und die Armut ist immer noch nicht von unserem Erdball verschwunden. Alle Politiker schwadronieren über die Armen, sobald sie nur den Mund auftun. Sie wollen die Armut abschaffen, nicht weil es ihnen wichtig wäre, sondern aus ästhetischen Gründen. Nicht weil sie das menschliche Leid erschüttern würde, sondern allein aus dem Grund, daß Armut häßlich macht, ein schlechtes Bild abgibt. Und wenn man sich das ernsthaft überlegt, haben sie verdammt recht. Tatsächlich ist an dieser Geschichte mit der Armut nur problematisch, daß sie überflüssig ist. Die Armut ist eine große Ungerechtigkeit, aber die Gerechtigkeit ist kein Gut und Anrecht der Armen. Was passiert mit Leuten wie mir? Niemand widmet uns Essays oder Vorträge. Niemand ruft Volksbewegungen für uns ins Leben, und es gibt auch keine staatlichen Förderprogramme. Niemand macht Umfragen über den Bevölkerungsanteil der Bürger, die täglich gewinnen, aber deren Preise an andere vergeben werden. Die Irrenhäuser sind voll von uns, und trotz alledem haben wir nicht den Vorrang. Das Unrecht an uns bleibt unbemerkt, doch es lastet schwer... Ich war niemals arm. Ich will sagen, daß ich nicht weiß, was es bedeutet, Hunger zu haben... aber ich kann kämpfen, kämpfen, kämpfen, und ich werde weitermachen! Ich lasse mich nicht kleinkriegen! Ich werde weitermachen, und ich werde es schaffen, und wenn ich es geschafft habe, wird es nie mehr ein Kind in diesem Land geben, welches das Wettrennen gewinnt und nicht den Truthahn bekommt, auch kein Mädchen mehr, das beim Aufsatzwettbewerb im Club siegt und seine Barbiepuppe nicht bekommt. Auch wenn ich mir die hier mitgenommen habe, denn nach der Geschichte mit dem Truthahn, wollte ich nie mehr zulassen, daß mir so etwas noch einmal passiert. Seitdem hasse ich den Thanksgiving Day! Und ich werde dagegen sein, Feste zu feiern, die mit uns nichts zu tun haben. Ich werde meine Identität als Insulanerin wiederfinden. Mit der Karibik unter den Fingernägeln und den Lügen werde ich herumlaufen. Ich werde verdreckten Sand herausschreien. Gelb ist er und von den allmächtigen Tropen vergewaltigt. Ich werde Wachhäuschen verschenken

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Alina Marrero

und erboste Papierdrachen. An die Schuhe, die von den Hochspannungsdrähten baumeln, werde ich Pflastersteine hängen. Oh, wie sehr liebe ich diese Stadt! Jetzt werde ich auch noch poetisch. Eine Schande! Hoffentlich klebt Felix nicht mit dem Ohr an der Wand. Bei soviel Poesie laufe ich Gefahr, meine Persönlichkeit zu verlieren. Das darf nicht sein! Ich weigere mich! Salsa oder Tod! Ich bin der einzige Urwaldmensch mit sieben Vaginas und keine davon ist jungfräulich. Die Moderatorin ist angeeckt! ...das reimt sich gut mit schmachbedeckt... und reimt sich auch mit abgeleckt ...doch heute wurde nicht geschleckt... auch das ein Reim. Dichtung ohne Sex taugt nichts, und heute abend ist es mir nicht gekommen... besser gesagt, ich war selbst daran schuld. Ich rannte raus wie Aschenbrödel, doch den Schuh habe ich nicht verloren. Ach nein! Soviel Gemeinheit zu ertragen, ist nicht gut für die geistige Gesundheit... ich habe Felix das mit Martin noch nicht erzählt. Vielleicht weiß er es ja. Egal! Dann erfährt er es noch einmal, so wird die Information zur Philosophie. Felix! Felix! Lebst du noch? Man hört dich gar nicht. FELIX Stimme Ich halte gerade Andacht. ROSA Was für eine Andacht? FELIX Stimme Meine Gebete zum Heiligen Luis Muñoz Marín, Schutzherr und Märtyrer des Vaterlandes. ROSA Dann bete nur tüchtig weiter, denn Martin ist gestorben. FELIX Stimme Was???? ROSA Martin ist tot. Hör mal, du bist Journalist und erfährst als letzter von den Dingen. Darum steht's um uns, wie es steht. FELIX Stimme Mörderin! Du wolltest mich mit dieser Nachricht umbringen. ROSA Jeder sieht's durch die eigene Brille. FELIX Stimme Schlampe! ROSA Bete nur weiter, Schätzchen, mal sehen, ob das deine schlechte Laune und deinen Erfolg bei den Mackern bessert. FELIX Stimme Ich wußte schon immer, daß ich dir nicht trauen kann. Verräterin! Intrigantin! Aber nicht mit mir! Du gemeine Hexe! Mir am frühen Morgen zu erzählen, daß Martin gestorben ist. Hör mal, wie hast du es erfahren? ROSA Es wurde gerade im Radio gemeldet.

Die Moderatorin

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Man hört ein Martinshorn der Feuerwehr. Rosa entfernt sich von der Wand. Für Sekunden ist sie weit weg, dann schreckt sie plötzlich auf und geht auf die Suche nach ihrem Notizbuch, aber nicht mit derselben Energie wie vorher. Ich sollte mir morgen frei nehmen, aber wenn ich nicht hingehe, merken alle, wie wütend ich bin, und ich darf mir nichts anmerken lassen. Meinen Ärger wird keiner mitbekommen. Ganz bestimmt müssen alle ihren Kommentar dazu abgeben, aber sie werden sich in den Hintern beißen, wenn sie mich sehen, als wäre nichts geschehen. Ich werde nicht mit der Wimper zucken. Morgen werden sie über mich herfallen, aber ich bin stärker als sie. Was juckt es mich! Wie seltsam, daß Felix nichts dazu gesagt hat. Bei dem läuft betimmt irgendeine persönliche Kiste, denn sonst ist er weiß Gott neugierig und klatschsüchtig. Der ist bestimmt voll stoned. Dann viel Spaß beim Trip, Hauptsache, er läßt mich in Ruhe. Ich mag Shit nicht sonderlich, man kriegt einen Bärenhunger, wird paranoid und hat keine Lust mehr, mit irgend jemand zu reden. Besser so, denn sonst würde er jetzt reden wie ein Wasserfall und damit anfangen, Oscar Wilde zu zitieren, und mir ist wirklich nicht nach der geistigen Anstrengung zumute, die ein Gespräch mit einer verbitterten Schwuchtel erfordern würde. Ich muß mich auf mich selbst konzentrieren, denn die kommende Zeit wird heftig werden. Also, ganz relaxed, damit die negativen Gedanken verschwinden. Alles in allem ist es ja nicht so schlimm. Meine Schande hat nur das ganze Land gesehen, und auf der Welt gibt es Hunderte von Ländern. Hoffentlich schmeißen sie mich nicht raus. Keiner behauptet, daß ich inkompetent sei. Ich habe keinen einzigen ernsthaften Grund, Ramón Luis einen deftigen Tritt in die Eier zu verpassen. Beruhige dich, Rosa! Immer schön positiv bleiben! Es ist nicht deine Schuld, daß es Idioten gibt, die die Mittelmäßigkeit hochhalten. Genau das ist es, Rosa. Darin bist du hervorragend! Wenn die Leute dann wehklagend und betrübt ankommen und dir sagen, daß du den Posten wirklich mehr verdient hättest als er, im Innern aber denken, prima, das geschieht diesem Miststück ganz recht, dann sagst du ihnen... Ich werde es proben, denn Übung macht den Meister. Letztlich hat er doch Recht gehabt: Übung macht den Meister! ... Übung macht den Meister... Übung macht den Meister... Übung macht den Meister... Übung...

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Alina Marrero

Sie wiederholt diesen Spruch so lange, bis ein Übergang geschaffen ist und sie wieder in der Gemütsfassung ist wie vorher... Übung macht den Meister! Danke. Danke. Ich bin ja so dankbar für Ihre Liebe und Bewunderung, aber kommen Sie mir nicht damit, weil es einfach nicht stimmt. Ramón Luis verdient den Posten, deshalb hat er ihn bekommen. Die Entscheidungen des Senders unterliegen den Unternehmensinteressen, zum Besten aller. Ich bin zufrieden. Ehrlich! Ich bin von ganzem Herzen zufrieden. Ramón Luis wird von mir bedingungslos und „füll time" Unterstützung haben. Schon allein die Tatsache, daß Sie an mich als Alternative gedacht haben, ehrt mich sehr. Scheiße! Aber das ist genau das, was ich sagen werde. Um nichts in der Welt werde ich vor irgendwem aus der Haut fahren. Am wenigsten vor Mario. Vor ihm noch weniger, nachdem ich seinen Verrat an mir aufgedeckt habe! Heuchler! Aber an Selbstkontrolle kann es keiner mit mir aufnehmen. Was soll's schon! Mehr Selbstkontrolle als ich hat keiner. Ich werde noch einmal proben, damit ich noch besser werde. Das Telefon klingelt. Ich bin nicht da! Rosas Ansage schaltet sich ein. MARIO Stimme Schätzchen, hier ist Mario. Entschuldige, daß ich dich so spät anrufe, aber ich habe angenommen, daß du nach dem, was passiert ist, sowieso nicht schlafen kannst. Du bist verschwunden, und die Leute fingen an mit ihrem Gerede, das kannst du dir sicher vorstellen. Du warst großartig! Glaub mir, als die Kamera das Closeup von dir gemacht hat, war dir deine Wut im Bauch überhaupt nicht anzumerken. Rosa antwortet aus einem Impuls heraus. ROSA Ich war ja auch gar nicht wütend... nein, Mario, ich war gerade auf der Toilette, ich hatte Dünnpfiff, ich war gerade dabei, die Termine für morgen durchzusehen... Natürlich werde ich hingehen! Was glaubst du denn? Ich bin erwachsen, professionell und selbstbewußt... Auf keinen Fall, ich bin überhaupt nicht beleidigt. Mir geht es besser als je zuvor! ... Ja, und wirklich glücklich. Du weißt doch, daß ich durch und durch professionell bin... Warum sollte ich es mir zu Herzen nehmen, Mario? Wir arbeiten alle für das eine, und das Beste im Leben ist doch, daß morgen wieder ein neuer Tag ist. Auch

Die Moderatorin

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ich werde schon noch an der Reihe sein... Absolut nicht, ich brauche wirklich keine Gesellschaft... Ich brauche niemanden zum Reden. Aber ich bin dir sehr dankbar! ... Ja, Mario, du weißt gar nicht, was ich durch dich alles über Loyalität gelernt habe. Von ganzem Herzen, mein Bester, von ganzem Herzen. Und weil wir gerade über das Herz reden, will ich nicht die Gelegenheit versäumen, dich zum Teufel zu schicken, du alter Aisdifkker. Und wenn du auf die Idee kommst, morgen vor allen anderen irgend eine Bemerkung zu mir zu machen, schneide ich dir die Eier ab! Scheißkerl!! Rosa knallt den Hörer auf und ist sichtlich verstört. Sie atmet heftig, aber sie hat ihre Wut noch unter Kontrolle. Das Telefon klingelt. Rosa schaut es an und geht auf Abstand wie jemand, der sich von seinem Mörder entfernt. Der Anrufbeantworter schaltet sich ein. Es ist Rosas Mutter. Sie klingt freudig erregt, verliert jedoch nicht ihre Vornehmheit. MAMA Stimme Rosa, ich habe gerade einen Aufsatz über die berufstätige Mutter in Puerto Rico für eine meiner Vorlesungen an der Boston University fertiggestellt und ich brauche jemanden, der ihn sich jetzt gleich anhört, also geh schon ans Telefon... Rosa, ich weiß, daß du noch wach bist, wenn du deprimiert bist, kannst du nie schlafen, geh schon ans Telefon... Rosa! ... Gut, dann spreche ich es dir eben auf Band, dann kannst du mich morgen früh, bevor du zum Sender gehst, gleich anrufen und mir deine Meinung dazu sagen. Ein Jahrhundert ist zu Ende, zweitausend Jahre gehen zur Neige. Für viele Dinge müssen noch Lösungen gefunden werden. In Puerto Ri... Rosa stellt die Aufnahme aus. ROSA Ich kann es nicht glauben, das kann ich einfach nicht glauben. Rosa stößt einen kurzen, aber durchdringenden Schrei aus, dann atmet sie tief und sichtbar durch. Man hört Herzgeräusche, danach das Gespräch mit dem Trainer. T R A I N E R Ich weiß, was mit dir los ist, Rosa, es ist das Syndrom aller Anfänger bei den Medien, die noch glauben, sie könnten die Situation ändern. Die Dinge sind seit langem so, wie sie sind. Du wirst schon noch merken, daß du dich daran wirst gewöhnen müssen. Das ist nicht so schlimm, ganz im Gegenteil, du wirst schon sehen. ROSA Weißt du was? Ich habe die Nase voll davon, daß du mit mir wie mit einer dummen Gans sprichst, die nichts in der Birne hat. T R A I N E R S O häßliche Worte im Munde einer Dame.

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Alina

Marrero

ROSA Werde bloß nicht puritanisch, so reden viele kultivierte Leute in unserem Land. Laß dir gesagt sein, daß ich aus einer Journalistenfamilie stamme. Mir kannst du nicht damit kommen und sagen, wie die Dinge liegen, das weiß ich schon lange. TRAINER Sag bloß! ROSA Was du mir beibringen kannst, ist einzig, wie man mich krank macht. TRAINER Jetzt wirst du unsachlich, ich glaube, wir verschieben den Unterricht besser auf morgen. ROSA Du wirst mir bis zum Ende zuhören. Du bist der große Meister der Krankheit, ein Überträger, eine öffentliche Bedrohung. Man sollte dich in Quarantäne schicken. Man sollte dir den Kontakt mit der Umwelt verbieten. TRAINER Komm schon, Mädchen... ROSA Ja, von der Außenwelt abschirmen sollte man dich, so, wie man einen Virus isoliert, um einen Impfstoff zu finden. Du bist ein Überträger und willst mich um jeden Preis anstecken. Und das schlimmste ist, daß du meinst, daß ich die Kranke bin. TRAINER So gefällst du mir, Rosa, du bist... aggressiv. ROSA Das ist alles wie ein hochansteckender Virus, und wir sind höchstem Risiko ausgesetzt. Aber ich habe den Impfstoff! Ich habe ihn! Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich werde nicht vergessen, wer ich bin, noch was ich will. Ich werde nicht aufhören zu träumen. Rosa del Prado Campos wird sich nicht anstecken! TRAINER Rosa del Prado Campos! Du solltest damit anfangen, daß du dir einen anderen Namen zulegst. ROSA Meinen Namen ändern? Was ist mit meinem Namen? TRAINER Und deine Haarfarbe. Eine Chefmoderatorin kann nicht ihr Haar so rot tragen. Was sage ich rot! Orange! ROSA Die Farbe ist das Beste an mir! TRAINER Du könntest dein Haar kastanienbraun tragen. ROSA Wie?! TRAINER DU könntest dich Eugenia nennen. ROSA Auf keinen Fall!! TRAINER Angela! Du könntest Angela heißen. ROSA Rosa! Rosa del Prado Campos! TRAINER Konstanze oder Rachel. Rachel ist sehr ausdrucksstark!

Die Moderatorin

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ROSA Rosa! Ich heiße Rosa! Während der Trainer die Namen aufzählt, hat sich Rosa vor den Spiegel gestellt und hat drumherum viele Kerzen angezündet. Die Aufnahme wird von Name zu Name leiser. Rosa del Prado Campos, nichts als eine Benennung des Körpers. Von heute ab werde ich jeden Abend Kerzen vor meinem Spiegelbild entzünden, angesichts der einzigen Göttin, an die ich glaube, werde ich um Kraft bitten. Ich werde über mich selbst siegen. Keiner wird mir diesen Preis wegnehmen! Man hört ein Martinshorn der Feuerwehr. Dunkelheit

Yolanda Pantin Der Engel und der Vampir La Otredad y el Vampiro

Deutsch von Sybille Martin

Der Engel und der Vampir

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Yolanda Pantin, 1954 in Caracas geboren, versteht sich in erster Linie als Lyrikerin. Zum professionellen Schreiben kam sie während ihres Studiums der Literaturwissenschaft an der UNIVERSIDAD CATÓLICA ANDRÉS BELLO durch den Unterricht bei Hugo Achúgar. Seitdem wirkte sie in verschiedenen Autorengruppen mit: 1978-1981 in der Gruppe CALICANTO unter der Leitung von Antonia Palacios, 1981 gründete sie selbst zusammen mit einigen anderen Lyrikern die Gruppe TRÁFICO, 1989 schließlich den Verlag Fondo Editorial Pequeña Venecia. Neben zwei Erzählungen für Kinder1 hat sie seit jener Zeit mehrere Gedichtbände veröffentlicht, u.a. 1981 Casa de Lobo, 1989 La Canción Fría, 1990 El Cielo de París, 1993 Los Bajos Sentimientos2,1996 in Mexiko El día que conocí a Susan Howe, 1998 in Deutschland Enemiga Mía, antología personal.3 Pantin nennt La Otredad y el Vampiro, ihr einziges bisher verfaßtes Theaterstück4, ein poema desmítico, „entmythologisiertes Gedicht", eine Bezeichnung, die abgesehen von ihrem eindeutigen Verweis auf die Nähe zur Lyrik zunächst mehr Rätsel aufgibt als löst. Denn warum schreibt die Autorin ein Theaterstück, um es Gedicht zu nennen, und was bedeutet in diesem Zusammenhang „entmythologisiert"? Der venezolanische Kritiker Alberto Hernández fand für das Motiv von Pantins Werk die knappe Umschreibung escribir para fundar el otro ausente5, „schreiben, um das nichtvorhandene Andere hervorzurufen". Damit hat er den neuralgischen Punkt ihrer Arbeit genau getroffen, denn ihre Gedichte kommen einer Suche nach Zwischenbereichen gleich, Zwischenbereichen der Sprache, des Raumes und des Seins. Unbewohnbare Orte erfindet sie in Gedichten wie El cielo de Paris, Orte, die nicht dafür geschaffen sind, von Menschen bewohnt zu werden; vielmehr sind es Refugien in einer anderen Welt, wie „der Ort des Todes, oder die Statik der riesigen Gestalt eines Mausoleums."6 Ähnliches gilt 1

1991 Paya, 1994 Ratón y Vampiro en el castillo.

2

1992 bereits unter dem Titel Les Bas Sentiments bei Edition Fourbis in Paris erschienen.

3

Viele ihrer Gedichte wurden in nationale und internationale Anthologien aufge-

nommen. Hiervon eine Auswahl: Poetas Latinoamericanas Contemporáneas. Bogotá 1992; Une autre Anthologie. Paris 1992; Territorio Actual, poesía hispanoamericana de fin de siglo. C a r a c a s 1 9 9 3 ; L'Epreuve des Mots, une anthologie de poètes hispa-

noaméricains. Paris 1996.

4

Ein weiteres Stück, Pasajero de tránsito, ist zur Zeit im Entstehen.

5

In: Revista Ateneo (Caracas) 4 (1997), S. 20.

6

Alberto Márquez: „El oscuro cielo de la perversion", in Revista Ateneo, 4 (1997), S. 19.

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Yolanda

Pantin

für ihre Suche nach Sprache, denn sie versucht, Worte zu finden für das, was einem die Sprache raubt, zu benennen, was keinen Namen hat. Ihre Gedichte werden von Wesen bevölkert, die sich jeder Eindeutigkeit, geschlechtlicher, gesellschaftlicher oder historischer Zuordnung, entziehen: Außenseiter, Einsame, Nachtwesen, Fabelwesen; Wesen, deren Existenzberechtigung in der Poetik liegt, deren Ort die Poetik ist: Ich bestehe auf, sagen wir, den dunklen Teil, auf den Schatten von mir und von der Welt, den ich wahrnehme, weil ich ihn einfach nicht umgehen kann, denn es ist meine Natur, diesen Dingen eine Stimme zu geben, damit ich sie hinter mir lassen kann, damit sie mich nicht mehr belästigen. In diesem trüben, schweren, zwielichtigen Nebel leben meine Phantasmen.7 So sind die Vampire für Pantin keine Fremden, im buchstäblichen Sinne sogar: schon ihr erster Gedichtband, Casa de Lobo, ist voller blutsaugender Fledermäuse. Sie waren Begleiter ihrer Kindheit, lebten unter dem Dach im Hause ihrer Großeltern und bissen den Pferden des Nachts in den Hals. Ihre phantasmatischen Vampire tauchen zuerst in La Canción Fría auf, als Gestalten der Dunkelheit, zusammen mit Mördern und Perversen. Aber erst in La Otredad y el Vampiro erfüllt sich, was sie ihren Gedichten in letzter Instanz abverlangt: die Berührung der Gegensätze, um die trennende Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel, Männlich und Weiblich zu unterwandern, um die Nachtwesen zu erhöhen und die Lichtwesen zu entweihen, weil sie - wie Pantin meint - letztlich aus derselben Quelle stammen. Der gefallene Engel und der menschliche Vampir, la Otredad (blond, licht, der Luft und dem Himmel verbunden) und el Vampiro (dunkel, mörderisch, dem Blut und dem Grab, der schwarzen Erde verbunden), treten als Gegensätze auf, die ihre eigene Ambivalenz schon in sich tragen. Entfaltet wird sie, indem Pantin den beiden Gestalten einen dritten Raum der Begegnung eröffnet, eine Art wesenlosen Ort, einen Raum des Experiments für eine flüchtige gemeinsame Existenz im Jetzt, in dem die vermeintlichen Oppositionen oszillieren können; eine Unmöglichkeit, die im Raum der Poetik, im Theater-Raum, dem unwirklichen, unwirtlichen Ort der temporären Fiktion, für einen Moment möglich wird. Dies ist die besondere Herausforderung des Theaters für die Lyrikerin, darin liegt auch die entmythologisierende Wirkung ihres „Gedichts." Denn Vampiro und Otredad nut7

Interview mit Yolanda Pantin: „Está en mi naturaleza darle voz a las cosas", in Revista Ateneo, 4 (1997), S. 17. Übers, d. Zitats: K.R.

Der Engel und der Vampir

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zen diesen Raum für den kurzen Versuch eines Dialogs, eines „desmythischen" Dialogs zwischen zwei Zwitterwesen. Sie verwirklichen sich auf der Bühne, ohne je wirklich werden zu können. Sollten Schauspieler von Fleisch und Blut dieses poema desmitica spielen, dann müßten sie sich gleichsam entkörpern, sich als Körper in den Raum schreiben, als Körpertextur, als Gedichte aus Körpern, welche die Worte räsonieren lassen ... Worte aus einer anderen Welt. Kati Röttger

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Yolanda Pantin

Vacío. Todo está en calma: El deseo de morir, el deseo de apagar la sed Con furia. Todo respira ceremoniosamente. La memoria Exhala fragancias de un viejo dolor Que aún perdura. Yo sólo observo la belleza que el día Me da para matarla. „Casa das pedras"(aus: La Canción Fría, 1989) Leere. Alles ist ruhig: Der Wunsch zu sterben, der Wunsch den Durst zu löschen Mit Zorn. Alles atmet feierlich. Die Erinnerung Verströmt Wohlgerüche eines alten Schmerzes Der noch fortbesteht. Ich allein beobachte die Schönheit, die der Tag Mir gibt, um sie zu töten. (Übers.: K.R.)

Der Engel und der Vampir

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Der Engel und der Vapir Personen: Anders, ein Junge mit blauen Augen und blondem Haar - Vampir, ein reifer Mann von dunlder Schönheit, elegant und kurzsichtig - Mädchen, gestärktes Kleid, Schleife im Haar. Ein gotisches Zimmer. Ein hohes Fenster. Ein Himmelbett. Ein Kamin. Ein Sofa. Eine Kommode. Ein venezianischer Spiegel, der mit einem schwarzen Tuch verhüllt ist. Ein Tisch, eine Weltkarte, eine Schiefertafel, ein Kandelaber. Wald. Erster Akt Wald. Ein Engel fällt vom Himmel. Es ist Anders in einem weißen Gewand. Beim Fallen steigt eine kleine Staubwolke auf. Anders steht auf, klopft sich die Kleidung ab und schaut verwirrt nach oben. ANDERS gen Himmel Ich finde das nicht komisch, ich werde mich beim Herrn über euch beschweren! Nächtliche Geräusche: Frösche, Grillen, der Ruf einer Eule. Anders sucht etwas im Dickicht Wo sind nur diese heiligen Flügel...? himmelwärts Hört doch, stellt euch nicht dumm... Ich bin's, Anders... Hat einer von euch meine Flügel gesehen? Ein eisiger Wind fegt durch die Baumkronen. Paßt bloß auf, wenn Gott das erfährt..., dann ist was los! Er blickt sich um Was ist das für ein Ort? Das Licht im Wald erlischt. * Licht in Vampirs Haus. Er wühlt in einer Kommodenschublade, findet aber nicht, was er sucht. VAMPIR wühlend Es gibt nichts Schlimmeres als den Tod des Hausdieners. Wieviele Jahre warst du mir zu Diensten, Reifield, du Ordnungsfanatiker, du Hohlkopf? Er greift sich an die Brust Oh, mein Herz! Wühlt weiter Wo kann er sie nur hingelegt haben... himmelwärts Darf man erfahren, wo du meine Brille hingelegt hast? Das Licht erlischt und geht im Wald an. * ANDERS schimpft mit erhobener Faust gen Himmel Engel des Teufels! Apokalyptische Reiter! Donnern ertönt als Antwort. Anders kniet nieder Verzeih mir, Herr! Ich wollte nicht grob werden. Das Licht im Wald erlischt und geht in Vampirs Haus an. *

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VAMPIR hat eine Brille aufgesetzt und liest Zeitung Da ist es: Junger und geschickter Hausdiener gesucht. Vorstellungstermin in den späten Nachtstunden. Er faltet die Zeitung sorgfältig zusammen, nimmt die Brille ab und steckt sie in die Brusttasche seiner makellosen Jacke Nun ja, jetzt heißt es abwarten... Das Licht in Vampirs Haus erlischt und geht im Wald an. * Es hat zu regnen begonnen. Es blitzt und donnert. ANDERS zum Himmel Ich will nur wissen, wer mich geschubst hat... Ich habe euch was gefragt!... Pause, nervös Gebt mir meine Flügel zurück... wie ein Kind Ich bin müde. Das Licht im Wald erlischt und geht in Vampirs Haus an. Anders geht, in der * Dunkelheit verloren, darauf zu. Es regnet in Strömen. Ein Blitz zuckt über Vampirs Haus. Es klopft an der Tür. Vampir öffnet. Die Türangeln kreischen. Vampirs eindrucksvolle Gestalt verdeckt vollständig den schüchternen Anders, der starr vor Angst und Kälte im Türrahmen stehenbleibt. Das Licht des Kandelabers verbreitet eine unheimliche und verführerische Atmosphäre. Im gotischen Halbdunkel lassen sich die Möbel kaum ausmachen. VAMPIR Guten Abend... Kommen Sie herein, ich habe Sie schon erwartet ... blickt hinter Anders Haben Sie Gepäck...? ANDERS Nein... Ich hatte nicht vor, zu reisen... VAMPIR Reisen, wohin? ANDERS Ich meine, ich sah das Licht in Ihrem Haus und kam näher... Ich habe meine Flügel verloren... VAMPIR Welche Flügel?... Mein Freund, das Gewitter hat Sie verwirrt... Mein Name ist Vampir, ich bin der Herr des Hauses. ANDERS ergeben Der Herr ist mein Hirte. VAMPIR erfaßt mitleidig seine Hände Sie zittern ja...! Gewaltiges Donnern ertönt. Ein Blitzstrahl erhellt ein paar Sekunden lang die Bühne. Unwillkürlich umarmt Anders Vampir, als er jedoch bemerkt, was er getan hat, weicht er schnell zurück. ANDERS entsetzt für sich Das letzte Siegel... Sie haben es geöffnet...! VAMPIR Eine höllische Nacht! Lassen Sie mich Ihnen ihr Zimmer zeigen. Er nimmt den Kandelaber und beleuchtet beim Hochheben Anders' Gesicht Ein Hausdiener ist der Schatten seines Herrn. Ach, was sage ich: Er ist sein Spiegel!

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Er schreitet würdevoll ans andere Ende der Bühne und deutet an, ihm zu folgen. Anders faltet flehend die Hände. ANDERS Der Herr läßt seine Geschöpfe nicht im Stich... VAMPIR bleibt stehen und fragt, indigniert über die Schulter zurückblickend Haben Sie etwas gesagt...? ANDERS Nein, ich habe gebetet. II Anders kommt als Hausdiener gekleidet. Die Uniform, die offensichtlich dem vorherigen Diener gehörte, ist ihm zu groß. Unwillkürlich dreht er den Kopf, um zu sehen, ob sich seine Flügel da befinden, wo sie hingehören. Sie sind nicht da. Er schaut sich schnell auf der Bühne um und erkennt den Ort wieder. Vor dem großen, mit einem schwarzen Tuch verhüllten Spiegel bleibt er stehen, hebt einen Zipfel des Stoffs und betrachtet sich. ANDERS Ein Spiegel! Im Himmel gibt es keine Spiegel, es ist verboten, sich anzusehen. Er faßt sich an die Ohren Ich habe mich nicht verändert, in all den Jahren habe ich mich nicht verändert... Er verhüllt den Spiegel wieder und wendet sich dem anderen Ende der Bühne zu. Wo mag der Herr wohl sein? ruft Ist jemand zu Hause? Stille. Auf der Kommode liegt Vampirs Brille. Er setzt sie auf und blickt zum Himmel hoch Ich sehe nichts... Herr, stellst du mich auf die Probe? Stille. Mit aufgesetzter Brille schaut er sich um, ergriffen von seiner Rolle als Hausdiener. Alles dreht sich um mich... Torkelnd und mit vorgestreckten Armen wandert Anders über die Bühne, bis er erneut vor dem Spiegel stehenbleibt, der mit dem schwarzen Tuch verhüllt genauso blind ist wie er. Ich erkenne mich nicht wieder... Ein unauffälliger Schatten, ein leuchtender Spiegel! Das bin ich! Vampir tritt auf, nachlässig gekleidet, betrunken, als käme er von einem Gelage. Er wischt sich den Mund ab und rückt seine Krawatte zurecht. VAMPIR Entschuldigen Sie die Verspätung. Er sieht in die Kulissen Ich hatte einige Geschäfte zu erledigen... ANDERS Um diese Zeit...? Man hört Wolfsgeheul. VAMPIR verzückt Hören Sie! ... Die Kinder der Nacht! ... Ein wunderschönes Konzert. ANDERS Ist der Gesang eines Vogels nicht schöner? Gott erstrahlt im ursprünglichen Licht...!

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VAMPIR für sich Ich liebe die Schatten, die tiefe Dunkelheit. Pause Es gibt nichts, was mir mehr behagt, als mit meinen Gedanken allein zu sein. Sie werden sicher wissen wollen, welche Aufgaben Sie haben. Er sieht Anders starr an Entschuldigung, ist das nicht meine Brille? ANDERS Welche Brille? VAMPIR Die Sie aufhaben, wenn Sie gestatten. ANDERS Ach, ja! Ihre Brille, ich war schon im Begriff, mich daran zu gewöhnen... Ergibt Vampir die Brille. VAMPIR setzt die Brille auf Danke. Jetzt sehe ich besser... bewundernd zu Anders Was für einen reinen Blick Sie haben... Er geht auf ihn zu und berührt ihn zart am Hals Dieser zierliche Hals, die durchscheinende Haut..., wie die eines Neugeborenen. ANDERS Danke...! VAMPIR Mögen Sie Kinder? ANDERS O ja, ich begleite die Kleinen zur Himmelstreppe... sie sind die Lieblinge des Herrn... VAMPIR argwöhnisch Welcher Herr? ANDERS Der allmächtige Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde. VAMPIR macht eine widerwillige Handbewegung, ernst Ich liebe Kinder auch. Rezitierend Ich preise ihre Beinmuskeln, ihre flinken Hälse, ihre Haare, so frisch wie Gras; ihre Augen, die nicht immer hin- und herhüpfen; ihre arglosen und anmutigen Bewegungen, ihre Stimmen voller Angst und anderer Leidenschaften; ihre durchschaubaren Possen, die Art, wie sie die Erwachsenen nachahmen, die Geschmeidigkeit ihrer Körper. Pause, für sich Wer liebt, ist einsam im Herzen der Erde! Er sieht Anders an und nähert sich ihm leidenschaftlich. Sie sind auch ein Kind. Er kämpft mit sich Nein..., ich darf nicht..., ich kann ihm das nicht antun... für sich Wo finde ich einen anderen Hausdiener? Wer wird auf mein Rufen hören? Pause, Übergang, er greift sich an die Brust, als würde er aus einem bösen Traum erwachen. Ah, das Herz tut mir weh. ANDERS wühlt in seinen Taschen Ich habe Aspirin. VAMPIR ohne auf sein Angebot zu achten Es ist ein Geheimnis, und von ihm hängen Ihre Bemühungen in diesem Haus ab: Ich liebe Kinder, ich kann ohne sie nicht leben. ANDERS bewegt Kinder sind die Freude des Hauses.

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VAMPIR Früher hatte ich kein Herzjagen... Als mein Vater noch lebte, war alles anders, jeder nahm sich das, was ihm zustand... Er geht zu Anders und zupft ihm die Ärmel des riesigen Jacketts zurecht Reifield war ein korpulenter Mann, Sie sind zart und zerbrechlich... ANDERS Als ich noch lebte, wusch uns mein Vater die Ohren mit einem Scheuerlappen, das ist eine sehr schöne Erinnerung! Pause Dann passierte das mit dem Kaninchen... III Anders kommt mit einem toten Kaninchen auf die Bühne. ANDERS Das habe ich ganz allein gefangen! Wie würde es Ihnen schmecken? VAMPIR Wenn ich ehrlich sein soll, ich ernähre mich ausschließlich von Blut. ANDERS Blut?... lacht Wie komisch Sie sind! VAMPIR Das ist ein Familienbrauch. ANDERS schaut enttäuscht auf das Kaninchen So eine Verschwendung!... Die meisten Menschen bevorzugen das Fleisch. VAMPIR Sehen Sie! So lernen wir uns langsam kennen... IV Vampir sitzt an einem Tisch, auf dem ein Kuchen, Geschenke und Blumen stehen, eine ausgesprochen kindliche Dekoration. Die Haustür geht auf, und Anders kommt niedergeschlagen herein. ANDERS Es ist zwecklos, sie wollen nicht mitkommen... Sie sagen, sie haben Angst... VAMPIR Sie sind launisch, aber sie werden schon sehen... zuvorkommend zu Anders Möchtest du ein Stück Kuchen? Anders schüttelt den Kopf. Vampir schiebt die Tortenplatte ans andere Ende des Tisches So eine Verschwendung...! Anders betrachtend Du bist wirklich ein merkwürdiger Junge. Komm, setz dich zu mir. ANDERS setzt sich neben Vampir Schade, daß Sie tagsüber nicht da sind. VAMPIR Ja, das ist schade... Er ergreift Anders' Hand Du kannst gehen, wenn du es möchtest, Anders, ich will dich nicht unter Druck setzen. Wer bin ich denn, daß ich einen Jungen zwinge, bei mir zu bleiben! ANDERS Ich möchte nicht gehen, ich möchte bei Ihnen bleiben... Ich möchte Sie nicht allein lassen.

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VAMPIR stolz, läßt Anders Hand los Ich bin nicht allein. ANDERS einlenkend Ich weiß, Sie sind nicht allein..., aber dieses Haus ist sehr groß, wer wird es saubermachen, wer wird es versorgen, das Silber und die Fensterscheiben zum Glänzen bringen, die Türen öffnen und schließen, den Kamin anzünden, Ihren Anzug ausbürsten, Ihre Schuhe putzen? Wer? Pause Außerdem weiß ich nicht, wo ich hin soll... VAMPIR DU kannst nach Hause gehen, ich hab es dir schon gesagt... ANDERS Mein einziges Zuhause ist hier. VAMPIR Übertreibe nicht... ANDERS Ich übertreibe nicht: Ich bin allein auf der Erde. V Der Kamin brennt. Anders liest Vampir DRAKULA von Bram Stoker vor. ANDERS „Bekommen wir denn heute nacht gar nichts?" Der Graf nickte nur. „Ich glaubte ein Stöhnen und ein unterdrücktes Wimmern zu hören wie von einem halberstickten Kind." VAMPIR aufgebracht Woher hast du denn diesen Schund? ANDERS Das ist kein Schund, das ist eine Horrorgeschichte. VAMPIR Das ist Schund! Das ist Blasphemie! Das Zerrbild eines entsetzlichen Dramas! ANDERS Es ist die Geschichte von Drakula; das ist vor langer Zeit passiert. VAMPIR Zum Teufel mit der Geschichte! Vor wem hat die Welt solche Angst? Vor diesem Unglücklichen, der sich nicht einmal im Schlaf erholen kann? Vor diesem Invaliden, der zum eigenen Leben das Leben anderer braucht? Vor diesem zur Finsternis verdammten Schatten? Pause Ein Vampir ist nicht beängstigend, er ist zutiefst zu bedauern. ANDERS Ist ja gut, Herr Vampir, es ist nicht weiter wichtig. VAMPIR Doch, es ist wichtig. Nachher läßt du dich noch beeinflussen. ANDERS Mich beeinflussen? VAMPIR Wirf es ins Feuer, vernichte es. Anders wirft das Buch ins Feuer. Vampir zieht sich wütend ans andere Ende des Zimmers zurück Das hast du absichtlich getan, um mich zu ärgern. Dein Unbewußtes hat dich verraten. ANDERS Mein was?

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VAMPIR Dein Unbewußtes... Ich werde nicht zulassen, daß du mich zerstörst. ANDERS Ich will Sie zerstören? VAMPIR Ja, zerstören, umbringen, in Staub verwandeln. ANDERS Und warum sollte ich so etwas tun? VAMPIR für sich Ich bin nicht der einzige Teufel in diesem Haus. VI Anders, in seine Arbeit vertieft, poliert den Kandelaber blank. Vampir sieht ihm dabei zu. Die Flammen aus dem Kamin verleihen dem Gesicht des Jungen Ausdruck. Vampir geht auf ihn zu. VAMPIR verführerisch Weißt du, daß du sehr schön bist? ANDERS auf seine Arbeit konzentriert Man sollte Äußerlichkeiten nicht so wichtig nehmen. Das einzig Wesentliche ist der Geist. VAMPIR So behandelst du deine Verehrer? ANDERS Sie wissen ganz genau, daß ich Sie liebe. VAMPIR bewegt Zum ersten Mal sagt mir jemand, daß er mich liebt. ANDERS Es ist ein Gebot des Herrn: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Pause. Sieht von seiner Arbeit auf Ich kann Sie nicht leiden sehen. VAMPIR Was sagst du? ANDERS Ich habe gesehen, wie Sie geweint haben. VAMPIR Geweint? ANDERS Neulich nachts... VAMPIR Blödsinn! ANDERS ... Sie schienen ein anderer Vampir zu sein. VAMPIR Laß mich in Ruhe! ANDERS Ich wollte Sie nicht verärgern. Ich war nur besorgt um Sie. VAMPIR Ich will nicht, daß sich irgendwer um mich sorgt. Ich habe Durst. ANDERS Immer haben Sie Durst. Gibt es nichts, was ihn stillt? VII Anders erscheint in einem Pyjama, der ihm wie die Uniform des Majordomus zu groß ist. Er ist zerzaust und verschlafen. Während er noch im Halbschlaf zur Bühnenmitte taumelt, stolpert er über Vampir, der sich gerade mit einem Taschentuch die Hände säubert. ANDERS Warum sind Sie um diese Zeit wach?

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VAMPIR Ich kann nicht schlafen. ANDERS Ich habe ein Wimmern gehört. VAMPIR Ich höre seit Jahren kein Wimmern mehr! ANDERS Jemand hat gejammert. VAMPIR DU hast schlecht geträumt. Pause Was ist los? ANDERS sieht entsetzt Vampirs blutbeschmierten Mund. Sie haben sich die Lippen angemalt! VAMPIR Was fällt dir ein! Er wischt sich den Mund ab Ist es jetzt besser? ANDERS Ja. Ein schwaches Wimmern ist zu vernehmen. ANDERS Hören Sie! VAMPIR Ich höre nichts. Lauscht Du dummer Junge. Das ist der Eschenzweig, der an der Fensterscheibe entlangstreift. Er geht zum Fenster und zieht die Gardinen auf Sieh her. ANDERS Stimmt. Es klingt wie das Weinen eines Kindes. VAMPIR Du hast viel Phantasie. Pause Schreibst du Gedichte? ANDERS Wenn mir danach ist. VAMPIR Hab ich mir doch gedacht. ANDERS Wie spät ist es? VAMPIR ANDERS VAMPIR ANDERS VAMPIR ANDERS

Verdammt! Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Ich habe Ihnen ein Gedicht geschrieben. Laß hören. Der Schatten flieht den Tag. Du bist ein Teufel. seufzt Nein, ich bin ein Engel.

VIII Anders turnt. VAMPIR Wovon ernährst du dich? Von Luft? ANDERS Dieser Ort ist sehr wohltuend. VAMPIR Ich habe dich nie einen einzigen Bissen essen sehen. Anders breitet die Arme aus und atmet tief durch. Ich habe dich was gefragt. ANDERS Was wissen Sie denn, Sie verlassen doch nie Ihr Zimmer! VAMPIR Das stimmt nicht. Nachts verlasse ich es. ANDERS Nachts schlafe ich. Pause Ich verstehe nicht, was in diesem Haus geschieht.

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VAMPIR DU bist nicht hier, u m zu verstehen, du bist hier, u m mir zu dienen.

ANDERS Ich bin hier, weil ich es will. VAMPIR Du bist unverschämt! ANDERS Ich hätte woanders runterfallen können. VAMPIR Runterfallen, runterfallen! Dahergelaufener Teufel! Wen versuchst du mit deinen blauen Augen zu täuschen? Also, wo sind deine Flügel? Was willst du? Mich beschämen? ANDERS Und wessen müßten Sie sich schämen, wenn man fragen darf? VAMPIR Meines Verlangens, meiner nächtlichen Gewohnheiten, eben der Tatsache, daß ich dir jetzt am liebsten die Zähne ins Fleisch hauen würde. Anders weicht erschrocken zurück. IX Vampir sitzt auf dem ungemachten Bett und raucht schweigend. Er blickt zur Decke und bläst Ringe aus Zigarettenrauch. Anders liegt zitternd neben ihm. VAMPIR Hab ich dir weh getan? ANDERS streicht sich über den Hals Ein bißchen... VAMPIR Tut mir sehr leid. Das war nicht meine Absicht. ANDERS weinend Ich komme mir vor wie ein Dummkopf. VAMPIR DU bist nicht dumm, du hast viele gute Eigenschaften. Vampir legt seinen Kopf auf Anders Brust. ANDERS Hörst du etwas? VAMPIR Was für ein schweigsames Herz! ANDERS untröstlich Ich habe kein Herz. VAMPIR Wenn du kein Herz hättest, wärst du tot. Für sich Meins ist so krank...

ANDERS schluchzend Ich hätte es dir vorher sagen sollen... Ich habe dich getäuscht... VAMPIR Fang nicht wieder damit an, Anders! Die Dinge sind, wie sie sind. Alles ist eine Frage der Kommunikation, der Verständigung, des Sich-Kennenlernens. Pause Der Strom deines Blutes ist unergründlich! ANDERS Ich habe kein Herz, aber du bist blind.

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X Jeder auf seiner Seite des Betts beginnen Anders und Vampir, sich anzuziehen; sie fangen mit den Strümpfen an. ANDERS Du hast mir nie erzählt, warum du in jener Nacht geweint hast. VAMPIR Ich erinnere mich nicht... Ich hatte wohl Lust, zu weinen. ANDERS Aha! VAMPIR Ich fühle mich einsam. ANDERS Und ich, was bin ich? Ein Gespenst? VAMPIR Als ich jung war, war es genauso langweilig, ich habe es nur nicht bemerkt. Pause Ich weiß nicht, warum ich in jener Nacht geweint habe. Pause Ich weine immer aus demselben Grund. ANDERS Du bist ein Auserwählter Gottes. VAMPIR Wie kannst du das wissen? ANDERS Ich kenne seine Vorlieben. Du gefällst ihm. VAMPIR Dir werden lange Ohren wachsen. ANDERS heftig für sich Die langen Ohren der Kaninchen im Wald... zu Vampir Ich sage die Wahrheit. Du gefällst ihm. VAMPIR Bah! ANDERS Auch ich bin von ihm auserwählt. VAMPIR Ich fühle mich schwach. ANDERS Ich kann nichts für dich tun. VAMPIR Ich weiß, du mußt es nicht ständig wiederholen. ANDERS Ich fühle mich schuldig. VAMPIR Du gehst mir auf die Nerven mit deiner Schuld. Kein Blut zu haben, ist keine Sünde, es ist eine Tatsache. Das ist alles. ANDERS Ich würde alles für dich tun. VAMPIR Ich will ein Mädchen. ANDERS Ein Mädchen? VAMPIR Ja, ein Mädchen mit langen Zöpfen und rosigen Wangen. Ein Mädchen hüpft seilspringend über die Bühne. Vampirs Blick folgt ihr. ANDERS Das ist eine Sünde. XI In der Bühnenmitte gräbt Vampir ein Loch. VAMPIR Keine Marter ist größer als meine Teilnahmslosigkeit. Ich kann literweise Blut trinken, eisgekühlte Krüge mit der kostbaren Flüssigkeit, und keinerlei Gewissensbisse empfinden, nichts, außer dem Vergnügen, es bekommen zu haben. Wie sich die Geschöpfe hinge-

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ben! Blickt in die Kulissen Es gibt etwas, das uns in diesem grenzenlosen Vertrauen verbindet. Das Herz läßt sich nicht täuschen. Wie oft habe ich mich zurückgezogen! Pause Und ich vergehe noch immer vor Durst. Dein kleiner Körper konnte mich nicht sättigen. Jetzt wirst du schlafen. Anders erscheint. ANDERS Du bist ein Verbrecher! VAMPIR auf frischer Tat ertappt, fährt herum Das ist nicht meine Schuld. ANDERS Was bist du nur für ein widerwärtiges Wesen! VAMPIR Sei nicht ungerecht. ANDERS Ich werde für dich beten. VAMPIR Hör doch! ANDERS Zyniker! Das ist der Eschenzweig. Pause Der Baum, der wie ein Kind weint, erinnerst du dich? VAMPIR Ich bin kein Mörder, ich will nur leben. Eisig Bring das Mädchen her. Er gräbt weiter. Anders geht und kommt mit dem Mädchen auf den Armen zurück. Er legt es in das Loch. Vampir schaufelt Erde auf ihren Körper. Während er die letzte Schaufel Erde darüberwirft Gute Nacht. Entsetzt schaut Anders Vampir zu; dieser dreht sich um Jetzt sind wir nicht mehr zwei, sondern einer. Pause Wenn ich ein Mörder bin, bist du mein Komplize. XII ANDERS Weine nicht! Pause. Schweigen. VAMPIR Ich weine nicht. Pause Verzeih mir. ANDERS Nicht ich muß dir verzeihen. VAMPIR Jetzt glaubst du nicht mehr an mich. ANDERS Kannst du auch mal an etwas anderes denken als nur an dich? VAMPIR Eine schlimmere Hölle ist kaum vorstellbar. ANDERS Gütiger Himmel! Schau mal in den Spiegel! VAMPIR Nein! ANDERS Wovor hast du solche Angst? VAMPIR Als Kind traute ich mich einmal, in den Spiegel zu blicken. Pause Es war nichts zu sehen. Ich weiß nicht, wie ich aussehe. ANDERS zähneknirschend Du bist sehr schön. VAMPIR Das sagt mir mein Herz aber nicht.

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ANDERS Wenn du dich im Spiegel sehen könntest, wüßtest du es... VAMPIR Kannst du dich sehen? ANDERS Gott sei Dank! Ich weiß, daß ich blaue Augen habe. Er enthüllt eine Ecke des Spiegels und betrachtet sich darin, streicht sich über die Stelle, an der Vampir ihn gebissen hat. VAMPIR neugierig Habe ich blaue Augen? ANDERS Es ist keine Narbe zurückgeblieben. VAMPIR Ich bin harmlos, merkst du das nicht? ANDERS schaut in die Kulissen Du hast kein Erbarmen. VAMPIR Mon amour gravement touché. ANDERS Was für eine Sprache sprichst du? VAMPIR Die Wunde ist viel tiefer. ANDERS betrachtet seine Stirn Es ist nichts mehr zu sehen. Pause Findest du, daß ich wie ein Kaninchen aussehe? VAMPIR Nichtsehr. ANDERS Mir ist die Länge meiner Ohren nie sehr aufgefallen. Pause Wir waren auf der Jagd, jeder mit seiner Flinte. Mein Vater hat mich dazu gezwungen, er wollte einen Mann aus mir machen. Pause Ich liebte die Kaninchen, verstehst du? Ich Unglücksrabe! Ich hatte nicht einmal den Schuß gehört, als ich schon langgestreckt dalag, tot: tot und unschuldig. „Ich habe ihn mit einem Kaninchen verwechselt!" schrie mein Vater außer sich in seinem Schmerz. Pause So rechtfertigt man einen Schuß zwischen die Ohren. VAMPIR Was für eine Art, ein Wesen niederzustrecken! ANDERS Es war nicht seine Schuld. VAMPIR Niemand hat schuld, ich bin es leid, dir das zu sagen. ANDERS untröstlich Niemand glaubte ihm das mit dem Kaninchen. VAMPIR Armer Mann. Wie muß er leiden! ANDERS untröstlich Ich bin ein Verbrecher! Schlimmer noch, ich habe aus meinem Vater einen Verbrecher gemacht. Und nur durch meine dumme Angewohnheit, wie ein Verrückter herumzuhüpfen. Ich habe die Kaninchen verjagen wollen, damit mein Vater sie nicht tötet. Niedergeschlagen Und dann tötete er mich... Mein Vater ist unschuldig! VAMPIR Weine nicht. ANDERS Ich weine nicht!

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XIII Vampir sitzt vor einer Schiefertafel, auf die eine Schlange, ein Mädchen und ein Kaninchen gezeichnet sind. Anders zeigt während seines Vortrags mit einem Stock auf die Zeichnungen. ANDERS Das ist das letzte Mal, versprichst du es? VAMPIR Ich verspreche es dir. ANDERS Leere Schwüre sind eine Sünde. VAMPIR Ich schwöre es dir bei meinem Leben. ANDERS Gut, also: Mädchen sind nicht die einzigen Lebewesen, die Blut haben, verstehst du? VAMPIR Ja. ANDERS Es gibt viele Tiere, die Blut haben: kaltes Blut oder warmes Blut, das kommt darauf an. Tiere mit kaltem Blut sind beispielsweise Schlangen und Eidechsen. Magst du Schlangen? VAMPIR Nein. ANDERS Tiere mit warmen Blut nennt man Säugetiere. Warum heißen sie Säugetiere? Weil sie ihre Jungen säugen. Der Mensch ist ein Säugetier. Die Kaninchen auch. VAMPIR Die Kaninchen? ANDERS ungeduldig Das ist nur ein Beispiel. Pause Was ist der Unterschied zwischen einem Kaninchen und einem Mädchen? VAMPIR Weiß ich nicht. ANDERS wissenschaftlich Kaninchen weinen nicht. VAMPIR Aha! ANDERS Das überzeugt dich nicht. VAMPIR Ich weiß nicht, wovon du sprichst. ANDERS Mädchen sind unschuldige Geschöpfe, dazu geschaffen, Mütter anderer Mädchen zu sein. Den Mädchen das Blut auszusaugen ist eine Sünde, ein scheußliches Verbrechen, ein unbegreifliches Verbrechen. Weißt du das nicht? VAMPIR Ich gebe nur meinem Verlangen nach. ANDERS Eben das ist ein Problem. VAMPIR Welches Problem? ANDERS Du bist kein Tier, sondern ein Mensch. VAMPIR Ich bin ein Vampir. ANDERS Du weißt genau, was ich meine! Du bist ein denkendes Wesen, du kannst sprechen und denken. VAMPIR stolz Ich kann auch fliegen.

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ANDERS Laß das. Pause Es gibt einen Unterschied zwischen dir und den Kaninchen. VAMPIR Zwischen mir und den Mädchen. ANDERS Nein, zwischen den Mädchen und den Kaninchen. Du bist wie die Mädchen. Mein Gott, was für ein Durcheinander! Also, fangen wir noch mal an: Einen Mitmenschen zu töten, ist ein Verbrechen. VAMPIR Ich will sie nicht töten, ich will nur ihr Blut. ANDERS Blut ist das Leben. VAMPIR Ich will das Leben der Mädchen, nicht ihren Tod. ANDERS So ein Durcheinander! VAMPIR heftig Ihr Leben!... Das ist das einzige, was ich will. XIV Anders und Vampir sitzen über einen Tisch gebeugt und betrachten, was darauf liegt. ANDERS ungläubig Du hast noch nie ein Kaninchen gesehen? VAMPIR Doch, ich habe schon welche gesehen, aber ich habe sie nicht genau betrachtet. ANDERS In diesem Wald gibt es so viele Kaninchen, daß du sie in Hülle und Fülle töten könntest. Es gibt mehr Kaninchen als Mädchen, ist dir das aufgefallen? VAMPIR Ja. Was für lange Ohren sie haben! ANDERS Du kannst so viele Kaninchen haben, wie du willst, ohne zu riskieren, daß jemand kommt und dir einen Pflock ins Herz rammt. Niemand wird dich für das Töten eines Kaninchens hassen. Alles, was wir mit ihnen tun, bewegt sich strikt innerhalb der geltenden Gesetze. VAMPIR Ich verstehe. Pause Und es gibt keinen Unterschied zwischen dem Blut der Mädchen und dem der Kaninchen? ANDERS Keinen, nur daß es nicht verboten ist, sich letzteres zu holen. VAMPIR ängstlich Wir werden eine Tradition brechen, das ist nicht richtig. Mein Vater wäre nie damit einverstanden. Pause, erschrocken Ich könnte nie ein Kaninchen erkennen! ANDERS Sieh es dir genau an... VAMPIR blickt Anders fest an Ich erkenne nur das, was mir ähnlich ist. Die Kaninchen machen mir Angst. ANDERS Sei kein Feigling! Du benimmst dich wie ein Mädchen. VAMPIR zitternd Ich bin ein Mädchen.

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ANDERS Sei nicht kindisch. VAMPIR Ich erkenne in ihnen meine Unschuld wieder. ANDERS Mein Gott...! Tu es für mich, ich bitte dich darum. VAMPIR Gut. Pause Ich will nicht, daß du mich haßt. ANDERS Ich hasse dich nicht. VAMPIR Ich möchte sein wie du. Vampir und Anders umarmen sich zärtlich. XV Vampir trinkt aus einem Glas. VAMPIR Nicht schlecht. ANDERS Hab ich dir doch gesagt. Du mußt mir vertrauen. Vampir hebt das Glas und betrachtet den Inhalt gegen das Licht. VAMPIR Wie schön! ANDERS Gläser sind bequemer. VAMPIR Stimmt, ist mir nie in den Sinn gekommen. ANDERS Und viel hygienischer. VAMPIR Du bist sehr klug. ANDERS Ich möchte, daß du der beste Vampir der Welt bist. VAMPIR Danke. ANDERS Wenn du Durst hast, brauchst du es mir nur zu sagen. Ich gehe in den Wald, fange ein Kaninchen und fülle das Glas mit seinem Blut. Siehst du, wie einfach das ist? VAMPIR Es tut mir in der Seele weh. ANDERS Wieso weh, Mann! Dafür sind Freunde doch da. VAMPIR Ich werde dir nie danken können, was du für mich tust. ANDERS Ich bringe dir so viele Kaninchen, wie du willst. VAMPIR Ich habe dich nicht verdient. ANDERS Liebst du mich? Vampir schlürft einen Schluck aus seinem Glas. Er lächelt und sieht Anders fest in die Augen. VAMPIR Mit der ganzen Kraft meines Herzens. Ein schreckliches Geräusch ist zu vernehmen, als hätte sich die Erde aufgetan. Mit den Händen an der Brust Mein Herz! Hör nur, wie es schlägt! Ein gleißendes, blaues Licht überflutet die Bühne.

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ANDERS für sich, dem Publikum zugewandt Und der erste Engel posaunte, und es ward ein Hagel und Feuer, mit Blut vermengt. Anders kniet nieder Herr, wie kannst du mir das antun? Absolute Dunkelheit. Zweiter Akt Vampir steht mit dunkler Sonnenbrille und einem Glas in der Hand am Fenster und sieht hinaus. Der brennende Wald ist zu sehen. Vampir zieht die Gardinen zu und nimmt die Brille ab. Das Zimmer liegt im Halbdunkel. VAMPIR ruft Anders! Anders kommt von draußen, bekleidet mit den Resten seiner Hausdieneruniform. Er wirkt erschöpft und ist von oben bis unten mit Staub bedeckt. Er bringt ein totes Kaninchen mit. ANDERS erfreut Ich glaube, ich habe die Stimme des Herrn gehört! VAMPIR ironisch Du meinst wohl seine göttliche Raserei. ANDERS himmelwärts Herr, hast du mich gerufen? VAMPIR sadistisch Er hört dich nicht. ANDERS Das arme Kaninchen ist vor Schreck erstarrt! Vampir reicht Anders sein Glas. VAMPIR Schenke mir ein Glas ein. Anders hält das Kaninchen an den Hinterläufen hoch, den Rücken zum Publikum. ANDERS dreht den Kopf Es war seine Stimme... VAMPIR verdrießlich Was für ein höllischer Lärm! Ich höre ihn noch, er schien aus tiefster Brust zu kommen.... Anders dreht sich um und reicht Vampir das Glas. ANDERS Aus der Tiefe des Himmels... Es wird schwierig sein, noch ein Kaninchen zu fangen... sie haben sich in Staub aufgelöst. Vampir genießt sein Getränk. VAMPIR schlürfend Die Mädchen waren überaus schamhaft. Sie dufteten nach Rosen. ANDERS Diese schreckliche Explosion ereignete sich in einer Sekunde. Pause, überzeugt von dem, was er sagt Gott läßt seine Geschöpfe nicht im Stich! VAMPIR Was für ein grelles Licht! Es hätte mich umbringen können... ANDERS ängstlich Glaubst du, Gott wird mir verzeihen?

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Ich weiß nicht... Was hast du getan, das ihn so verärgert hat? Gottes Barmherzigkeit ist unermeßlich! V A M P I R Das sehe ich schon. Schweigen. A N D E R S lugt durch einen Cardinenspalt hinaus Es ist noch hell. V A M P I R überempfindlich Mein Herz ist ausschließlich auf die Nacht eingestellt. A N D E R S sehnsüchtig Weißt du... Ich vermisse den Himmel, die Engelschöre, die Spaziergänge an den Wolkenrändern... V A M P I R Ich habe Durst. A N D E R S Gottes Liebe nährt die Engel. V A M P I R wütend Ich gehe schlafen. A N D E R S eifrig Laß mich dir das Bett zurechtmachen. V A M P I R ärgerlich Willst du mit mir schlafen? A N D E R S das Bett herrichtend Wie du willst... V A M P I R Früher warst du leidenschaftlicher. A N D E R S Da war ich jünger. Pause Ich kannte dich nicht. V A M P I R D U warst sehr schüchtern. VAMPIR

ANDERS

ANDERS betrachtet einen kräftigen Lichtstrahl, der durch das Fenster hereinfällt Ich hatte Angst vor dir. II Blaues, gleißendes Licht. Vampir erscheint mit Sonnenbrille. Er ist abgemagert, ausgehungert und schlecht angezogen. Er geht ans Fenster und zieht die Gardinen zu. V A M P I R Dieser dumme Anders! Ich habe ihm tausendmal gesagt, er soll die Gardinen zuziehen. Zum Teufel mit ihm! Muß mein Hunger derart sichtbar sein, dem Blick dieses verklemmten Wesens mit seinen blauen Augen ausgesetzt, diesem Engel ohne Flügel, der nicht einmal in den Himmel zurückkehren kann? Er durchsucht das Zimmer Gibt es keinen Tropfen Blut in diesem Haus? Anders tritt ein. Er trägt ein schmutziges und zerrissenes Unterhemd. A N D E R S Was für eine schöne Nacht! Es ist so still... V A M P I R haßerfüllt Das tust du absichtlich. A N D E R S Was? Darf ich nicht sagen, was ich fühle? V A M P I R Nein. ANDERS Na gut. Pause Ich habe nichts gefunden, außer uns gibt es nichts mehr auf der Welt.

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VAMPIR DU brauchst das nicht ständig zu wiederholen, ich weiß schon, daß alle tot sind, die Mädchen und die Kaninchen, die Bäume und die Menschen. ANDERS flüsternd Glaubst du, Gott lebt? VAMPIR irritiert Wenn Gott noch lebt, ändert das auch nichts. Deine Anwesenheit ist mir lästig. ANDERS sehnsüchtig Nachmittags trafen wir uns und sahen zu, wie die Engel vom Himmel fielen. VAMPIR SO ein nutzloser Hals! Du bist ein Blödmann! Du taugst zu gar nichts. ANDERS Der Himmel ist ein höchst gefährlicher Ort. VAMPIR Engel lassen sich nicht von der Sonne bräunen... auch spazieren sie nicht trällernd herum, als wäre nichts! ANDERS Es gab keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Pause Die ungeschicktesten Engel fallen in die Hölle. VAMPIR Ich hab dich satt! ANDERS Der Himmel ist eine riesige und sanfthügelige Wiese ohne Bäume. Das Licht ist intensiv und gleißend. Er öffnet die Gardinen ein wenig Wenn Gott näherkommt, kann er uns blenden. Im Himmel gibt es nichts. Verklärt Der Traum eines Engels ist so leer wie der Himmel. VAMPIR Meine Träume sind schreckliche Katastrophen, reißende Flüsse, Feuermeere. Der Traum eines Vampirs ist aus Blut gemacht. ANDERS engelhaft Der Frieden ist ein Traum Gottes. VAMPIR neugierig Gott erzählt dir seine Träume? ANDERS Nein, er spricht nie darüber. Pause Seine Stimme ist ein Flüstern, man muß ihm sehr nahe kommen, um zu verstehen, was er sagt. VAMPIR Was für ein seltsamer Mann. ANDERS geheimnisvoll Viele Engel, mit denen ich mich unterhalten habe, sagen, daß die Liebe Teufelswerk ist. Wenn Gott sie davon reden hört, verbannt er sie. VAMPIR Mir ist schwindlig. ANDERS Das wird der Hunger sein. VAMPIR Es ist schwierig, mit einem Engel zusammenzuleben. ANDERS Vampire sind ziemlich neurotisch. VAMPIR Glaub das nicht, im Grunde sind wir arme Teufel: schwach und abhängig von anderen. Pause Ich werde ohnmächtig.

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ANDERS Warte! Leg dich hier hin. VAMPIR Liebst du mich? ANDERS Ich würde mein Leben für dich lassen. VAMPIR Das ist nur so dahergesagt, wozu soll mir das Leben eines Geistes nützen? ANDERS Mußt du immer so verletzend sein? VAMPIR Das ist mein Charakter. Mein Vater war genauso, er hat immer bekommen, was er wollte. Sein Leitmotiv war: Dein Blut ist mein Leben. Er war ein direkter Mann ohne Umschweife. Man merkte ihm seinen Durst meilenweit an, er verbarg seine Bedürfnisse nie. ANDERS Soll ich dir ein Wiegenlied singen? VAMPIR Ich bin nicht müde. ANDERS Wer schläft, hat keinen Hunger. VAMPIR Das Leben ist Scheiße. ANDERS Werde nicht ausfallend. VAMPIR Ich bin verwirrt. ANDERS Das Leben ist so, wie du möchtest, daß es sei. VAMPIR Ich möchte meine Hölle mit dir teilen. ANDERS Schließ die Augen. VAMPIR wie ein Kind Auch ich kann lieben. ANDERS Die Welt ist größer als dein Herz, verstehst du? VAMPIR Grausamkeit ist eine Form der Liebe... ANDERS Bei mir ziehen deine Tricks nicht. VAMPIR Ah... schwach Ich erinnere mich an den Lieblingstrick meines Vaters... Er betrachtete konzentriert den Hals des Opfers und flüsterte: leidenschaftlich „Ich lebe in dir und du wirst in mir sterben. Ich liebe dich so sehr!" ANDERS Das beeindruckt mich nicht. VAMPIR Alles muß rein und durchscheinend sein! Pause Die Liebe ist grausam und egoistisch. ANDERS Du hast zu viele Romane gelesen. VAMPIR Die Liebe fordert Opfer. ANDERS für sich Ich habe ihm alles gegeben: Liebe, Zärtlichkeit, Zuneigung, alles, außer dem, was er zum Leben braucht. VAMPIR Es gibt kein Opfer ohne Blut. ANDERS seufzt Was willst du noch?

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VAMPIR für sich Ich kann ihm nichts bieten als meinen Hunger, das schreckliche Leid meines Durstes. ANDERS Ich habe keine Kraft mehr! III Vampir sitzt am Tisch und studiert eine Weltkarte. Anders tritt ein. ANDERS Ich hätte niemals gedacht, daß die Hölle so ausgetüftelt ist. Wozu dienen all diese Türme, Keller, Treppen, die nirgendwohin führen? Pause Hör mal, Vampir, kennst du dich wirklich in diesem ganzen Durcheinander aus? VAMPIR Ich lebe über zweihundert Jahre in diesem Haus, ich wäre ein Dummkopf, wenn ich es nicht kennen würde! Er studiert die Weltkarte Weißt du, wo Auschwitz liegt? ANDERS Nein. Um ehrlich zu sein, die Hölle ist nicht so, wie mir gesagt wurde. Er schaut sich um Wenn du genau hinschaust, ist sie ziemlich klein, es passen nicht viele Leute hinein. VAMPIR spielt mit der Weltkarte Ich hasse Menschenmassen. ANDERS begeistert Machen wir den Kamin an? Ich liebe Kaminfeuer. VAMPIR Mach ihn an, wenn du willst. Er legt die Weltkarte beiseite Die Welt ist nicht größer als mein Herz. Anders macht Feuer im Kamin. Seit einem Monat steht die Sonne im Zenit. ANDERS Ich hab dir doch gesagt, das ist nicht die Sonne. Es ist etwas Schlimmeres. VAMPIR Ich habe Hunger. Das Solospiel einer verstimmten Posaune ist zu hören. ANDERS flüstert ängstlich Der sechste Engel stimmt die Posaune! VAMPIR Ich wußte nicht, daß es im Himmel ein Orchester gibt. ANDERS Das ist kein Orchester, das ist ein göttliches Signal. VAMPIR Ist auch egal, das Licht stört mich. ANDERS Immer hast du schlechte Laune, kannst du nicht einmal lachen? VAMPIR drohend Beklage dich nicht, wenn ich lache... Außerdem, worüber sollte ich lachen? Erneut ertönt das Posaunensolo. ANDERS zum Himmel Wen, glaubt ihr, erschreckt ihr damit? Ich habe keine Angst... und Vampir hat auch keine Angst.

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VAMPIR Ich? W o v o n sprichst du?

ANDERS trotzig Im Himmel wird gefeiert, willst du mit mir tanzen? Vampir und Anders tanzen einträchtig zu dem Posaunensolo. IV Vampir und Anders sitzen vor dem flackernden Kamin und stricken. ANDERS Zwei rechts, eine links VAMPIR Ich hab mich schon verzählt. ANDERS DU hast nicht aufgepaßt, als ich es dir erklärt habe! VAMPIR Ich sterbe vor Durst. ANDERS Versuch dich zu konzentrieren, es ist ganz einfach. VAMPIR Ich habe blutige Visionen von Eingeweiden... ANDERS Eins links, drei rechts. VAMPIR Die Erinnerung an meine erste Liebe quält mich. Ihr Flanellpyjama... ANDERS Fang noch mal an. Du machst alles falsch. VAMPIR Ich habe ihr tagelang den Hof gemacht. Ich flog so hoch, daß man mich kaum noch sehen konnte. Pause Sie starb in meinen Armen. Oh, ihr feuriges Blut! ANDERS empört Das soll ein Schal sein?! VAMPIR sentimental Wie ich die Hälse vermisse, in denen das Leben so verletzlich schlägt! Bernsteinfarbene Hälse, Gefäße, die die köstliche Flüssigkeit beinhalten! Landkarten, auf deren Oberfläche sich die Flüsse ausdehnen, die Ströme sich vervielfältigen! ANDERS Beklage dich nicht, wenn es kälter wird. Pause Morgen werde ich dir das Strümpfestricken beibringen. VAMPIR Ich will ein blutendes Herz! ANDERS Noch einmal: Zwei rechts, eine links. VAMPIR Hab Erbarmen mit mir! ANDERS wirft das Strickzeug hin Nein, mein Herr! Kein Erbarmen! VAMPIR Ich will leben.

ANDERS Du manipulierst mich. VAMPIR Ich flehe dich an.

ANDERS Denk an was anderes. VAMPIR Ich kann nicht. Pause Ich hasse Stricken. ANDERS N a gut, d a n n putzen wir m o r g e n d a s H a u s . VAMPIR N e i n !

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ANDERS VAMPIR ANDERS VAMPIR ANDERS VAMPIR ANDERS VAMPIR

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Wie lange ist schon kein Großputz mehr gemacht worden? Ich will keinen Großputz machen! Man sollte mit einem Minimum an Schicklichkeit leben. Ich habe Durst. Nicht Durst! flehentlich Ein hübsches, samtweiches Wesen. unerbittlich Einen Besen. resigniert Dann stricke ich lieber.

V Das Haus strahlt. Vampir, mit einem Schal um den Hals, putzt die Möbel. Anders spitzt einen Pflock. VAMPIR Schaffe mir diesen Pflock aus den Augen! Er sieht auf die Holzspäne hinab Ich hab es satt, dir zu sagen, daß du die Späne nicht auf den Boden fallen lassen sollst! ANDERS sammelt die Späne ein und versteckt den Pflock Mußt du dir alles so zu Herzen nehmen? Du erinnerst mich an jemand... VAMPIR Wolltest du nicht, daß ich das tue? ANDERS Das lenkt dich von deinem Durst ab. Pause Schau! Ein Staubflöckchen! VAMPIR Wo? ANDERS zeigt nach oben Da! Da! VAMPIR Du machst dich über mich lustig. ANDERS zufrieden Im Himmel gibt es keinen Staub. VAMPIR Das weiß ich. ANDERS Gott ist ein Ordnungsfanatiker, das solltest du sehen. VAMPIR Sieht er mir ähnlich? ANDERS Nein, er ist etwas dicker und hat einen besseren Charakter. Am Wichtigsten ist ihm Disziplin, und daß Ordnung und Respekt herrschen. Wenn alles so ist, lächelt er die ganze Zeit. VAMPIR unwillig Gott leidet keinen Hunger! ANDERS Hör auf, dich zu vergleichen! Gott ist Gott, und du bist du! VAMPIR zeigt nach oben und setzt sich die Sonnenbrille auf Siehst du da oben ein Spinnennetz? ANDERS Ein Besessener! Ich sehe nichts. VAMPIR DU bist blind. Da oben, an der höchsten Stelle. ANDERS Dafür, daß du ein Vampir bist und eine so dunkle Sonnenbrille benutzt, siehst du sehr gut.

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VAMPIR nimmt mutlos die Brille ab Es gibt nur noch die Netze. Auch die Spinnen sind tot. VI Die Gardinen sind zugezogen. Anders schläft. Vampir sitzt in einem Sessel und betrachtet ihn. Ein Lichtstrahl erleuchtet die Bühne. ANDERS wacht auf W o bin ich? Vampir! VAMPIR Hier bin ich. Ergeht zu ihm, setzt sich auf die Bettkante und nimmt seine Hände. ANDERS verwirrt Ich habe geträumt. VAMPIR Engel träumen nicht. ANDERS Gott hat mich bestraft. VAMPIR Gott liebt seine Geschöpfe. ANDERS Ich ertrage seinen Zorn nicht. VAMPIR Rede keinen Unsinn. ANDERS Ich bin nicht vom Himmel gefallen. Gott hat mich gestoßen! VAMPIR Ist schon vorbei, es war nur ein Alptraum. ANDERS Träumen ist schrecklich! VAMPIR zärtlich Armes Kaninchen! Anders weint untröstlich an Vampirs Schulter. ANDERS Ich hasse Kaninchen! VAMPIR ironisch Sag das nicht. Gott kann dich hören! ANDERS Das weiß er schon, glaubst du, ich könnte ihn täuschen? Er kennt meinen Haß, er hat ihn verurteilt. Pause Diese blöden Tiere, d u m m e Kaninchen! Wären sie nicht gewesen, hätte ich sie nicht so geliebt, hätte ich nicht ihr Fell, ihre zarten Ohren, ihre Hinterläufe so bewundert, die rauh sind bei der Berührung und w e i c h in der Erinnerung; ihre flauschigen Schwänze, ihre zarte Ängstlichkeit, wäre ich noch zu Hause bei meinem Vater. Ich hätte Kinder, die wie ich Kaninchen lieben und die Wälder, in denen sie leben. Pause Wären sie nicht gewesen, hätte mein Vater nicht den Verstand verloren, und der Tag würde auf die Nacht folgen, einer nach dem anderen, und es gäbe nichts zu beklagen, nichts zu entschuldigen. Niedergeschlagen Ich habe meinen Vater mehr geliebt als die Kaninchen. Flüsternd Der schlaue Kerl... VAMPIR Du lästerst Gott!

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ANDERS Verzeih mir, Herr! Pause Vater, du warst zu streng. Ich nahm deine Strafe ohne Widerrede entgegen. Ich bin in deine Hölle gegangen. Ich war nicht schuld. VAMPIR Ich glaube, du übertreibst, Kaninchen zu hassen, kann keine so schwere Sünde sein. ANDERS Gott ist unendlich gerecht. VAMPIR ZU Gott Gott, tu diesem Geschöpf den Gefallen und verzeihe ihm. Schweigen. ANDERS Er hört dich nicht. VAMPIR Natürlich hört er mich, er denkt darüber nach. ANDERS Mein Vater haßt mich. VAMPIR Bring nicht alles durcheinander. ANDERS Das Gefängnis meines Vaters ist weiß und eiskalt. VAMPIR Vergib dir, Anders! ANDERS Wer bin ich denn, daß ich mir vergeben kann? VAMPIR Jemand, den Gott aus seinem Schoß vertrieben hat. Pause vergebe dir.

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ANDERS Danke, Vampir, du bist das einzige Wesen, das mich versteht. VII Vampir liegt kraftlos in seinem Bett. Er ist buchstäblich tot vor Durst. Anders sitzt zu seinen Füßen und wirkt mutlos. Das Haus ist wieder schmutzig und sehr verstaubt. ANDERS Du mußt dir mehr Mühe geben. VAMPIR Ich kann nicht mehr. ANDERS verzweifelt Doch, du kannst. Er kämmt Vampir Wer aufgibt, dem stürzt das H a u s über dem Kopf zusammen. Er nimmt ein feuchtes Tuch aus einer Schale und befeuchtet Vampir damit die rissigen Lippen. Fühlst du dich besser? VAMPIR Wasser löscht meinen Durst nicht. ANDERS Es ist schön heute. VAMPIR Das tröstet mich auch nicht. ANDERS Ich habe deinen Anzug aufgebürstet und deine Schuhe geputzt. VAMPIR Wohin gehen wir? ANDERS traurig für sich Nirgendwohin..., wir werden nirgendwohin gehen, es gibt keinen Ort m e h r auf der Welt, wohin wir gehen

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könnten. Zu Vampir Ich will nur, daß du dich gut fühlst, elegant, vornehm, wie ein schöner Vampir. VAMPIR richtet sich mühsam auf Ist gut, hilf mir, Anders. In einem feierlichen Akt hilft Anders ihm, sich anzuziehen, für Kleidungsstück.

Kleidungsstück

ANDERS Schau mich an. Ich bin dein Spiegel. Vampir geht zum Spiegel und enthüllt ihn vollständig. Anders holt den Pßock, den er versteckt hatte. VAMPIR beim Enthüllen des Spiegels Lieben heißt, in die Dunkelheit des Anderen einzutreten. Pause. Er sieht Anders an Ist es schon Zeit? Es ertönt wieder das Posaunensolo, diesmal mit gestimmtem Instrument. ANDERS mit dem Pflock in der Hand Ja, es ist Zeit. Für sich, direkt zum Publikum Der siebte Engel spielte Posaune, und als er sein Gefäß ausschüttete, war eine große Stimme aus d e m Himmelstempel, v o m Thron Gottes, zu vernehmen: Es ist vollbracht. VIII Ein rötlicher Schimmer, der aus dem Spiegel zu kommen scheint, erhellt die Bühne. Vampir steht vor dem flackernden Spiegel, der sein Bild nicht zurückwirft. VAMPIR Anders, schau dieses Feuer. Geh zum Fenster. N i m m aus mein e m Glas den Schluck, der die Zeit, diese unerschütterliche Zeit beschleunigt. Fürchte dich nicht. Ich habe genug gelitten. Ich fürchte den Schmerz nicht mehr. Ich bin mein Spiegelbild und vor ihm sättige ich mich mit Erbarmen, mit Zärtlichkeit. Ich wünsche das Unmögliche. Das Feuer, das du betrachtest, leuchtet und ist ewig. Ich bin der Mann, der nachts wacht und den es, hungrig nach dir, nach e i n e m nicht existierenden Körper verlangt. Schau, die Welt geht unter. Ich habe nicht gelebt. Ich bin der Traum, das unverständliche Wort. Die Liebe hat dich dazu verdammt, einen Schatten aus mir zu machen, deine Wahrheit. In deinen Augen ist Liebe, in mir ist das Schicksal, das zornig seine Bronzetüren verschlossen hat. ANDERS geht zu Vampir und legt ihm die Hand auf die Schulter Herr, ich bin bei dir. VAMPIR Ich will schlafen. ANDERS Ja, gehen wir schlafen. Er zieht die Gardinen wieder zu. Das Zimmer liegt im Halbdunkel.

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Yolanda Pantin

VAMPIR Ich habe Angst. ANDERS hält Vampir wie eine Pietä im Schoß Ruh dich aus! IX An einem Ende der Bühne steht Anders mit dem blutbeschmierten Pflock in der Hand und betrachtet die Landschaft. Die Unermeßlichkeit überwältigt ihn. Alles ist leer, tot. ANDERS Herr, du hast mich verlassen. Deine Liebe erbarmt sich meiner nicht. Wen werde ich lieben auf dieser toten Welt? Ich bin der Ausdruck deiner Liebe, die äußerste Einsamkeit dessen, der alles hingibt. Laß mich nicht allein. Pause Auch ich habe Angst.