Geschlechter. Performance / Pathos / Politik: Das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Autorinnen 9783964564078

Die elf Beiträge dieses Bandes belegen, dass Frauen gerade auf dem Gebiet des lateinamerikanischen Theaters Bedeutendes

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German Pages 248 [246] Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Einleitung
Vorhang auf für die großen Damen des lateinamerikanischen Theaters
Die besondere Bedeutung und Rezeption des Theaters von Frauen in Lateinamerika
Auf den Körper geschrieben: Frau, Nation, Gedächtnis
Frivole Geschütze: Diana Raznovichs Akte des Widerstands
Machtspiele und die mexikanische Krise: Das neuere Theater Sabina Bermans
Die Macht der Maskerade
Sprich mit mir! Zur Technik des Monologs
Geschlechterverhältnisse, Macht und Politik in der Dramatik von Frauen in Chile
Theater von Frauen in Brasilien
Theaterfrauen im Andenraum
Mythische Frauenfiguren auf der Bühne: Malinche, Coatlicue, Las vírgenes und La madre patria
Bibliographie
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Geschlechter. Performance / Pathos / Politik: Das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Autorinnen
 9783964564078

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Geschlechter / Performance - Pathos - Politik Heidrun Adler, Kati Röttger (Hrsg.)

THEATER IN LATEINAMERIKA

Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 1

Geschlechter Performance Pathos Politik Das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Autorinnen

Herausgegeben von Heidrun Adler und Kati Röttger

Vervuert • Frankfurt am Main 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Geschlechter, Performance - Pathos - Politik : das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Autorinnen / hrsg. von Heidrun Adler und Kati Röttger. Frankfurt am Main : Vervuert, 1998 (Theater in Lateinamerika; Bd. 1) ISBN 3-89354-321-X

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Almuth Fricke Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung einer Photographie von Sibylle Gfellner Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Kati Röttgen Einleitung

Frank Dauster: Vorhang auf für die großen Damen des

lateinamerikanischen Theaters

Marcela Del Rio: Die besondere Bedeutung und Rezeption des Theaters von Frauen in Lateinamerika Nieves Martínez de Olcoz: Auf den Körper geschrieben:

Frau, Nation, Gedächtnis

Diana Taylor: Frivole Geschütze: Diana Raznovichs Akte des

Widerstands

9

23 43 57 73

Jacqueline E. Bixler: Machtspiele und die mexikanische Krise:

Das neuere Theater Sabina Bermans

89

Kati Röttgen Die Macht der Maskerade

107

Heidrun Adler: Sprich mit mir! Zur Technik des Monologs

131

María de la Luz Hurtado: Geschlechterverhältnisse, Macht

und Politik in der Dramatik von Frauen in Chile

141

Maria Helena Kühner: Theater von Frauen in Brasilien

161

Max Meier: Theaterfrauen im Andenraum

171

Sibylle Gfellner: Mythische Frauenfiguren auf der Bühne:

Malinche, Coatlicue, Las vírgenes und La madre patria

Bibliographie

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Danksagung An erster Stelle möchte ich dem Münchner Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz & Literatur" und insbesondere seiner Sprecherin Frau Professor Dr. Ina Schabert für die zweijährige finanzielle und fachliche Unterstützung meiner Forschungsarbeit danken, von der mit dieser Publikation ein erstes Ergebnis vorliegt. Vor allem den Kollegiatinnen und Kollegiaten danke ich für die vielen motivierenden Diskussionen und kritischen Anregungen, die in dieses Projekt eingeflossen sind. Mein ganz besonderer Dank gilt der ehemaligen Frauenbeauftragten der Universität München, Frau Dr. Hadumod Bußmann, ohne deren persönlichen Einsatz dieses Projekt eine ganz andere Wendung genommen hätte. Schließlich möchte ich auch für die Finanzierung meiner Forschungsarbeit über die Erteilung eines HSP Ii-Stipendiums danken. Die beiden Reisen über den Ozean, die notwendig waren, um Autorinnen, Theatermacherinnen und Forscherinnen begegnen zu können, die mich mit Informationen und Quellenmaterial versorgten, verdanke ich der finanziellen Hilfe des Auswärtigen Amtes in Bonn. Unser gemeinsamer Dank als Herausgeberinnen gilt Almuth Fricke, die mit geduldiger Akribie nicht nur alle Texte gründlich gelesen und korrigiert, sondern deren Entstehung auch mit großem Sachverstand begleitet hat. Ferner danken wir allen, die unsere Arbeit materiell und ideell unterstützt haben. Kati Röttger

Einleitung Was veranlaßt uns, ein Buch über Theater von Frauen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt zu machen, an dem die post-gender-Ära eingeläutet wird? Eine Ära, in der nicht mehr nur auf kulturelle und soziale Konstitution von Geschlechteridentitäten insistiert wird, sondern die darüber hinaus von der Idee der vielfältigen Gleichzeitigkeit flexibler Verkörperungen von gender geprägt ist (Halberstam 1997). Warum, so drängt sich als nächste Frage auf, machen wir dazu noch als deutsche Herausgeberinnen ein Buch über lateinamerikanische Autorinnen? Beschwören wir damit nicht das Problem der Repräsentation geradezu herauf, das die feministische Theoretikerin Gayatri Spivak als Grundproblem postkolonialer Kritik formulierte, indem sie die sogenannten Erste-Welt-Intellektuellen vor einer „confirming construction of the subaltern" (1988: 277) warnte, wenn sie sich in ihren Studien als Repräsentanten (im Sinne von vertreten und darstellen) „marginaler" Gruppen gebärdeten? Womit, so die letzte Frage, erklärt sich schließlich die Beschränkung auf Theater und Drama, zumal die Kulturwissenschaften und die critica cultural inzwischen deutlich gemacht haben, daß die Grenzen zwischen den Medien, zwischen den Genres, zwischen Hochund Populärkultur wenn nicht obsolet, so doch zumindest fliessend geworden sind? Eine Antwort liegt in der Logik des Projekts begründet, in das die vorliegende Publikation eingegliedert ist. Die Dramatik aus Lateinamerika ist in Deutschland (und Europa) im Gegensatz zur weit verbreiteten Prosa bislang so gut wie unbemerkt geblieben. Verlage erklären sich nur zögernd bereit, lateinamerikanische Theaterstücke in ihr Programm aufzunehmen, noch seltener kommen die Stücke auf deutschen Bühnen zur Aufführung. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, hat die Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V. 1993 die Publikationsreihe Moderne Dramatik Lateinamerikas ins Leben gerufen, in der sie mit nationalen Anthologien und jeweils kommentierenden wissenschaftlichen Begleitbänden ausgewählte Theaterstücke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen will.' Als viertes Projekt in 1

Bisher erschienen sind: 1. Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage, Halima Tahán. St. Gallen, Berlin, Säo Paulo 1993. 2. Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. von Heidrun Adler, Víctor Hugo Rascón Banda. Ebd. 1993 und der Begleitband: Materialien zum mexikanischen Theater, hrsg. von Heidrun Adler, Kirsten Nigro. Berlin 1994. 3. Theaterstücke aus Brasilien, hrsg. von Henry Thorau, Sábato Magaldi. Berlin 1996.

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Kati Röttger

dieser Reihe liegt nun diese Publikation vor, die als Begleitband zur Anthologie Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen erscheint. Allerdings weicht sie in gewisser Weise von der Logik des Gesamtprojekts ab, denn sie ist nicht nach dem Aspekt der Nationalität, sondern nach dem des Geschlechts strukturiert: Theater von Frauen. Damit beginnt der kompliziertere Teil der Beantwortung der eingangs suggerierten Fragen. Er überkreuzt sich mit einer Problematik, die mit Begriffen wie „Ausschluß" (Franco 1988: 504) oder „Marginalisierung" (Richard 1993:157) gekennzeichnet wird. Im vorliegenden Fall beziehen sie sich konkret auf die Ausgrenzung oder Ausblendung von (theatralischen) Repräsentationen aus den theoretischen Diskursen, die das Wissen über und die Bedeutung von kulturellen Repräsentationen produzieren. Bis dato fallen insbesondere die theatralischen Werke von Frauen aus Lateinamerika in dreifacher Weise durch die Maschen des diskursiven Netzes der wissenschaftlichen Disziplinen, die sie berücksichtigen sollten oder könnten: Theaterwissenschaft, Lateinamerikanistik und Frauen- bzw. gender-Studien, denn entweder werden kulturelle Repräsentationen von Frauen in Lateinamerika als Theater oder als Theater von Frauen oder als Theater von Frauen aus Lateinamerika innerhalb dieser Forschungsrichtungen jeweils nicht wahrgenommen. Amy Kaminsky bemerkte hinsichtlich der literarischen Produktionen lateinamerikanischer Autorinnen, daß sie zwar in Anthologien präsent2, in der Kritik jedoch abwesend seien (1993: 29). Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Universität Stanford, das Seminar on Feminism and Culture in Latin America, hatte zuvor bereits festgestellt, daß bedeutende kulturelle Repräsentationen von Frauen in Lateinamerika durchaus keine Einzelfälle sind, in der Forschung jedoch kaum oder nur verzerrt dargestellt wurden: The partial and often biased record on women's thought and activity in that cultural region has limited our historical perspectives and our understanding of feminist contributions. For example, Sor Juana Inés de la Cruz has been seen as a unique phenomenon, an iconographic feminist presence, rather than as one of many women 2

Auch dies gilt weniger für das Theater von Frauen. Bislang sind lediglich zwei spanische und eine englischsprachige Anthologie erschienen: Voces en escena, hrsg. von Nora Eidelberg, Maria Mercedes Jaramillo. Medellin 1992 und Dramaturgos latinoamericanas contemporáneas, hrsg. von Elba Andrade, Hilde Cramsie. Madrid 1991, sowie Women writing Women. Anthology of Spanish-American Theatre of the 1980s, hrsg. von Teresa Cajiao, Margarita Vargas. New York 1997.

Einleitung

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involved in a long tradition of engagement in Latin American culture. As recent investigations in women's history show, the activities and achievements of women have not been restricted to the celebrated appearance of rare genius, such as Sor Juana. (1990:1) Während diese These insbesondere auf den Gebieten der Kulturund der Literaturwissenschaften in den letzten acht Jahren immer mehr Modifizierungen erfuhr (Jaramillo 1997; Melhuus, Stelen 1996), werden die theatralischen Aktivitäten der Frauen bis heute weder in den genannten feministischen Studien berücksichtigt noch von der Theaterkritik angemessen gewürdigt, wie insbesondere Marcela Del Rio in ihrem Beitrag zum vorliegenden Buch, Die Bedeutung und Rezeption des Theaters von Frauen in Lateinamerika, kritisch ausführt. Daß Frauen jedoch gerade auf dem Gebiet des Theaters Bedeutendes und Innovatives geleistet haben, wird hier nicht nur von Del Rio belegt, sondern auch von Frank Dauster, der in seinem Beitrag Vorhang auffiir die großen Damen des lateinamerikanischen Theaters die vielfältigen Leistungen großer (Theater-) Autorinnen seit Sor Juana in einem historischen Überblick Revue passieren läßt. Del Rio wie Dauster weisen jedoch beide ausdrücklich darauf hin, daß sie nur die Spitze des Eisbergs erfassen, der von der theaterwissenschaftlichen Forschung bislang im Dunkeln belassen wurde. Ähnlichen Problemen sehen sich auch Maria Helena Kühner in ihrem Länderbeitrag Das Theater von Frauen in Brasilien und Max Meier in seiner Studie über Theaterfrauen im Andenraum ausgesetzt. Beide berichten nicht nur über dramatische Werke, sondern beschreiben darüber hinaus aus theater-soziologischer Perspektive Aufführungstraditionen insbesondere in den ländlichen Regionen, die bisher so gut wie unerforscht geblieben sind. Während Kühner auf ihre Erfahrungen zurückgreifen kann, die sie in langjähriger Arbeit im von ihr initiierten brasilianischen Frauentheaterprojekt ANNA MAGNANI und als Leiterin des DEPARTAMENTO DE ARTES CÈNICAS E AgÄO COMUNITÀRIA DO RIOARTE gesammelt hat, leistet Meier eine akribische Pionierarbeit der Erstellung und Auswertung unterschiedlichster Daten zu den vielfältigen theatralen Aktivitäten von Frauen in dem kulturell so heterogenen Andenraum, der Peru, Bolivien und Ecuador umfaßt. Ähnliche Versuche, der Bedeutung der Theaterarbeit von Frauen in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern gerecht zu werden, sind bisher nur bedingt erfolgt. In der europäischen Theaterwissenschaft sind Untersuchungen zum Theater von Frauen in Lateinamerika (mit Ausnahme von 0stergaard 1992) bisher gänzlich ausgeblieben. Die nordamerikanische Lateinamerikanistik konzentriert sich beinahe ausschließ-

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Kati Röttger

lieh auf die literaturwissenschaftliche Analyse der Dramatik von Frauen aus Lateinamerika, die seit den 70er Jahren sporadisch den Gegenstand einiger Fallstudien vor allem in den Departments for Spanish Literature bildete. (Borman 1978, Cypess 1980) Einen ersten Anstoß zur systematischeren und profunderen Auseinandersetzung mit dem theatralen Schaffen von Frauen hat die von George Woodyard organisierte Conference about Latin American Theatre Today im Frühjahr 1992 an der Universität von Kansas gegeben. Hier wurde ein Viertel der Beiträge genderTheorien und den Werken einzelner hispanoamerikanischer Dramatikerinnen gewidmet (vgl. Nigro 1993), eine Initiative, die 1994 mit dem von Kirsten Nigro und Patricia O'Connor organisierten Symposium A Stage of their Own. On Spanish, Latin American and U.S. Latina Women in the Theatre an der Universität von Cincinnati konsequent fortgesetzt wurde. An den meisten hier vorgestellten Beiträgen fällt auf, daß sie zwar an jüngere nordamerikanische gender-Theorien und poststrukturalistische Konzepte von Subjektivität anschließen, jedoch keinerlei Bezug auf die postkolonialen kritischen feministischen Diskurse nehmen, die Theoretikerinnen wie Trin Mihn Ha (1986), G. Spivak (1987), Chandra Mohanty (1988) und bell hooks (1990) in kritischer Auseinandersetzung mit dem Universalismus des „westlichen Feminismus" bereits entwickelt hatten. Sie fordern die Theoretikerinnen auf, die Geschlechterdifferenz nicht zum allgemeingültigen einzigen Kriterium feministischer Interventionen zu erheben, sondern auch kulturelle Unterschiede zwischen Frauen zu berücksichtigen, und führten Differenzkategorien wie Ethnizität, Klasse, Sexualität, Alter u.a. in die feministische Debatte ein. Diese materialistischen Strategien sowie die Erweiterung der theoretischen Ansätze um soziale, historische und persönliche Positionalitäten (situated knowledges nach Haraway 1990) wirkte sich auch auf die Analyse kultureller Repräsentationen hispanoamerikanischer Frauen in der neueren nordamerikanisch geprägten Frauenforschung aus. Vorreiterin dieser Richtung ist Jean Franco, die mit ihrem zentralen Werk Plotting Women. Gender and Representation in Mexico (1989) eine historische Studie auf der Grundlage der Erkenntnisse von Teresa de Lauretis (1986) und Spivak (1987) über die Kämpfe mexikanischer Frauen um „interpretatorische Macht" geschrieben hat. Aber auch hier bleibt die Theaterarbeit von Frauen ausgeklammert. Auf der anderen Seite haben die Differenzkategorien zwar inzwischen auch Eingang in die feministische Theaterwissenschaft gefunden (Case 1988, 1990), aber das

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Einleitung

Theater der lateinamerikanischen Frauen wird auch hier nicht berücksichtigt.3 Daß hingegen gerade diejenigen Abhandlungen, die sich speziell mit der Theaterproduktion lateinamerikanischer Frauen befassen, immer noch von einer eher universalistischen Tendenz geprägt sind (Milleret 1994, Cypess 1994), ist symptomatisch für den begrifflichen Rahmen, in den lateinamerikanische Theaterproduktionen im allgemeinen eingeordnet werden. Nicht selten bedient man sich westlicher Analysekategorien wie Theater des Absurden, existenzialistisches Theater, Brechtsches Theater (Holzapfel 1970, de Toro 1991), ohne sie vor dem Hintergrund der unterschiedlichen kulturellen Kontexte zu differenzieren; ein Verfahren, das nicht nur von Juan Villegas immer wieder kritisiert wurde (1984, 1986). Auch Theaterpraktiker (Garcia 1983) haben in Opposition zum hegemonialen Gestus der Übertragung europäischer traditioneller Kategorien des Theaters auf die vielfältigen theatralischen Ereignisse in Lateinamerika den performativen Charakter dieser Ereignisse betont, wobei jedoch das Plädoyer für größere Differenzierung nicht die Schmälerung der Bedeutung europäischer westlicher Theaterdiskurse für Lateinamerika mit sich bringt und kein Anspruch auf Authentizität erhoben wird. Einen ersten Versuch, die neuen feministischen kulturkritischen Ansätze zur Analyse lateinamerikanischer theatralischer Produktionen zusammenzuführen, haben Juan Villegas und Diana Taylor 1994 in ihrer Publikation Negotiating Performance. Gender, Sexuality and Theatricality in Latin/o America unternommen.4 Um der theoretischen ,Überfremdung' und dem damit einhergehenden Ausschluß- oder Inkorporationscharakter der traditionellen Analysen zu entkommen, schlägt Villegas hier vor, den herkömmlichen Begriff des Theaters durch „theatralische Diskurse" zu ersetzen, um die Diversität der Theaterformen in Lateinamerika begrifflich zu erfassen, ohne ausschließend zu verfahren. Er definiert den theatralischen Diskurs als

3

Mit Ausnahme von Ketu H. Katrak, die in ihrem Artikel „Decolonizing Culture: Towards a Theory for Postcolonial Women's Texts" über die jamaikanische Theatergruppe SISTREN schreibt, sowie Linda Kintz, die ein Kapitel ihres Buches The Subject's Tragedy. Political Poetics, Feminist Theory, and Drama (1993) d e n D r a m e n

von Rosario Castellanos widmet. 4

Vgl. dazu auch die monographische Ausgabe von GESTOS 9, 17 (1994), Postmodernism and Cultural Criticism: Chicano, Latin American,

Latino Theatres, hrsg. von Anne Cruz, Ana Paula Ferreira.

Luso-Brasilian,

and

U.S.-

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Kati

Röttger

[...] a means of communicating a message by integrating verbal, visual, auditive, body, gestual signs to be performed in front of an audience. The perception of the message is intended to be received visually. The message is ciphered according to codes established by the producer's or receiver's cultural systems. (316) Auch wenn diese theoretische Öffnung sicher noch weiterer Nuancierungen bedarf, ist der Ansatz außerordentlich erhellend, um auch die „theatralischen Diskurse" von Frauen vor dem Hintergrund dieser Begriffsbildung sorgfältiger Analysen zu unterziehen, denn - so meine Hypothese -, daß das Theater von Frauen aus Lateinamerika bisher so wenig beachtet wurde, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß es sich so gut wie immer , abweichend' im Verhältnis zu offiziellen Normen verhalten hat, wie alle folgenden Beiträge aufzeigen. Die oben formulierte neue theaterwissenschaftliche Perspektive ergänzt sich mit (und ist nicht zuletzt auch beeiflußt von) den jüngeren Theorien der lateinamerikanischen Soziologie und der critica cultural. Diese Ansätze, die im Anschluß an die postkoloniale Kritik die Gültigkeit des Begriffs der Modernität für Lateinamerika problematisieren, bieten ebenfalls wichtige Erkenntnisse, um die feministischen Differenztheorien zum Zwecke der Analyse theatralischer Repräsentationen von Frauen in Lateinamerika zu erweitern. Im Zentrum dieser Kritik steht die These, daß imperialistische und koloniale Verhältnisse zwar anfänglich durch Waffengewalt etabliert wurden, bis heute aber in textuellen Repräsentationen weiterwirken. Kolonialismus wird in diesem Sinne als eine diskursive Operation definiert, die auf koloniale Subjekte einwirkt, indem sie sie einem Repräsentationssystem einverleibt: „They are always already written by that system of representation." (Tiffin, Lawson 1994: 3) Diese Operation, so lautet kurz zusammengefaßt die zentrale These, dient der Selbstdefinition der Kolonialmächte. Enrique Dussel z.B. stellt unter dieser Prämisse die radikale These auf, daß die Moderne in Europa mit der Entdeckung Lateinamerikas eingesetzt habe, weil sich die Alte Welt von diesem Moment an gegenüber der „zu entdeckenden" Neuen Welt als Einheit des Wissens und der Macht gebildet habe. (1993) Obwohl die bestehenden Unterschiede zwischen den 25 lateinamerikanischen Staaten nicht übergangen werden dürfen, hat die Geschichte der Kolonisation somit politische und kulturelle Voraussetzungen geschaffen, die bis heute den gesamten Halbkontinent kennzeichnen: „The end of a colony does not signal the end of colonialism." (Taylor 1991:1)

Einleitung

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Eine der zentralen Fragen, die sich für das Theater von Frauen stellt - wie konstruieren die Autorinnen (weibliche) Subjektivität auf der Bühne? - erhält vor diesem Hintergrund eine besondere Komplexität, wie in dem Beitrag Die Macht der Maskerade aufgezeigt wird, denn in den postkolonialen lateinamerikanischen Gesellschaften lassen sich die Dichotomien, die die Repräsentationen des klassischen europäischen Rationalismus prägen, ebensowenig bedingungslos fortschreiben wie deren Kritik durch poststrukturalistische Eingriffe. Aus diesem Grund haben auch diejenigen feministischen Ansätze, welche die Gleichstellung mit ,dem Mann' anstreben, weniger Gültigkeit für die Beschreibung der komplexen Situationen von Frauen in Lateinamerika. Das könnte eine Erklärung dafür sein, daß sich so viele lateinamerikanische Theatermacherinnen dagegen wehren, ihre Arbeiten in einen feministischen Kontext westlicher Prägung einzuordnen (vgl. Andrade 1991, Röttger 1997), vielmehr insistieren die meisten auf einer ,weiblichen' Perspektive, die ,weibliches Schreiben' weniger im Sinne einer écriture féminine favorisiert, als vielmehr als Praxis von Dissidenz, die explizit den weiblichen Körper als Bühne exponiert, der sich jeder fixierenden identifikatorischen Sinnstiftung widersetzt. Diese „Akte des Widerstands", wie sie Diana Taylor in ihrem Beitrag Frivole Geschütze über das Theater von Diana Raznovich nennt, sind in den meisten Fällen an ein klares politisches Engagement gebunden, das Geschlechterpolitik nicht ausschließlich im Interesse der ,Frau' isoliert, sondern im konkreten Kontext gesellschaftspolitischer Anklage thematisiert. Die Verbindung zwischen der Verhandlung von Geschlecht(ern) und von Politik im Theater der Frauen stellen insbesondere Jacqueline E. Bixler in ihrem Aufsatz über Machtspiele und die mexikanische Krise und Maria de la Luz Hurtado in Geschlechterverhältnisse und Politik in der Dramatik chilenischer Theaterautorinnen heraus. Während Bixler paradigmatisch anhand von drei neueren Stücken Sabina Bermans verdeutlicht, wie die Autorin normative Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verdreht, um männlich besetzte Diskurse von Macht und Politik zu zersetzen, zeigt Hurtado in einem Gesamtüberblick der chilenischen Dramatik von Frauen die politisch kämpferische Seite von Theaterautorinnen, die sich bereits seit Beginn dieses Jahrhunderts gegen Unterdrückung - nicht nur der Rechte von Frauen, sondern aller gesellschaftlich Benachteiligten oder Marginalisierten - aussprechen. Daß wir im Titel der vorliegenden Publikation den Begriff Geschlecht anstelle des Begriffs gender führen, der sich als analytische Kategorie zur Erklärung der kulturellen Produktion heterosexuellen Begehrens, der psychoanalytischen Produktion individueller Identität,

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von Machtasymmetrien im sozialen Leben wie auch von Strukturen der Wahrnehmung in der feministischen Forschung durchgesetzt hat, bedeutet keine Reminiszenz an eine essentialistische Auffassung von Geschlechteridentität.5 Vielmehr hoffen wir, mit diesem Begriff dem oben angedeuteten geschlechter-politischen Charakter der Theaterstücke und den Strategien gerecht zu werden, die die Theatermacherinnen für die Bühne entwickeln, um weiblich konnotierte Macht gegen männlich konnotierten Machtanspruch in einem Wechselbad der Zeichen und Identitäten als „Widerstand gegen die normativen herrschenden Repräsentationen aus einer diskursiven Position kultureller Subversivität heraus" (Richard 1993: 39) buchstäblich auszuspielen. Auf welche Weise die Dramatikerinnen derartige Strategien weiblicher Macht als subversive Insistenz auf den Körper im Gegenzug zu offiziellen diskursiven Repräsentationen des „Anderen" in ihren Theaterstücken aufrufen, führt insbesondere Nieves Martinez de Olcoz in ihrem Beitrag Auf den Körper geschrieben: Frau, Nation, Gedächtnis aus. Ihr Projekt läßt sich mit Jean Franco als eines beschreiben, das mittels der Kategorie „Körper des Schmerzes" (Scarry 1985) subversive Mythologien ausmacht, mit denen eine sich explizit weiblich gebärdende Dramatik männlich zentrierte nationale Allegorien zu untergraben versucht. Anhand einer neue Perspektiven eröffnenden Analyse von Sabina Bermans Muerte subita und Griselda Gambaros Antigona furiosa zeigt sie, wie in diesen Stücken der „Körper des Schmerzes" von den Dramatikerinnen als Bild eingesetzt wird, um die Stereotypisierungen, die den „epics of nationhood that constitute the Latin American canon" (Franco 1992: 75) in der Analogisierung von Frau-Körper-Nation inhärent sind, aufzubrechen, indem sie den weiblichen Körper gegen seine kolonialisierende Metaphorisierung für sich reklamieren. Der Kategorie „Körper des Schmerzes" haftet ein gewisses Pathos an, das vielen theatralischen Produktionen der hier verhandelten Theatermacherinnen im affirmativen Sinne gemeinsam ist. Im Herkunftswörterbuch als Begriff für „Leidenschaft, [...] übertriebene Gefühlsäußerung" definiert, der „aus dem gr. pathös ,Leid, Leiden, Schmerz; Unglück; Leidenschaft' entlehnt" ist (1963: 496), läßt sich Pathos in Erweiterung des Begriffs „Exzess", den Ashcroft (1994) zur besonderen Kennzeichnung angloamerikanischer postkolonialer Diskurse einführte, in mancherlei Hinsicht auf das postkoloniale Theater lateinamerikanischer Autorinnen übertragen. „Excess performs the function of shoul5

Vgl. dazu Kaminskys Ausführungen über die Problematik der Übersetzung des Begriffs gender ins Spanische in ihrem Kapitel „Translating Gender" (1993)

Einleitung

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dering a space for oneself in the world", so Ashcroft. (1994: 33) Der Überschuß, die Ausschreitung, Ausschweifung, die Übertreibung, die mit „Exzess" gleichzusetzen ist, bezeichnet den postkolonialen Gestus der Aneignung des kulturellen und symbolischen surplus als Antwort auf die postkoloniale Leiderfahrung des Ausschlusses, der Ausblendung, der Identitätslosigkeit bis hin zum existentiellen Verschwinden. Pathos hingegen meint Exzessivität nicht nur als Aneignung des surplus, sondern die aktive Übertreibung, die gerade dem Theater zueigen ist: als Pathos der Insistenz auf Existenz, einer Insistenz auf Verkörperung und Repräsentation im symbolischen Sinne, die das „Verschwundene", „Ausgeblendete" nicht als Suche nach identischer, sondern als Behauptung potentieller (supplementärer) politischer (und weiblicher) Subjektivität be,deutet'. 6 Ashcroft beschreibt die Strategie des Exzesses als Mimikry der Aneignung und hybriden Durchkreuzung der Bilder vom Anderen: The selective mimikry of appropriation [...] reflects the system itself, and with it the hope of resurrecting some seamless and unproblematic cultural identity [...] post-colonial ,ontology' itself is located in the excess of hybridity. [...] Each [excess of] répétition and insistence [...] rewrites itself in the palimpsest of being. (39f.) Als deutlichstes Beispiel dafür, wie dieses Verfahren als Strategie des Pathos im Theater der lateinamerikanischen Autorinnen zur Anwendung kommt, ließe sich hier Diana Raznovichs Theaterstück Konzert des Schweigens anführen, dem Diana Taylor im vorliegenden Band eine ausführliche Analyse widmet. Denn die Protagonistin dieses Ein-FrauStückes stellt ihren Körper auf exzessive, schmerzliche Weise aus und bringt darüber hinaus das Pathos der hybriden Aneignung buchstäblich auf die Bühne, indem sie Beethovens Pathétique überspielt, d.h. nicht die Töne der Melodie klingen hier, sondern ihr Körper wird in ihrer Rolle als Pianistin, deren Klavier schweigt, zum Instrument, dessen Töne ihre Worte sind. Das Pathos des Körpers als Exzess an Körperlichkeit könnte der performativen Zurschaustellung des Körpers als Zuviel an Schmerz, Gefühl, Existenz, Materialität im flüchtigen Augenblick der Aufführung als brisantes Konzept zugrundeliegen. Die Tatsache, daß die Bühnenrepräsentation eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Präsenz des Körpers einfordert, intensiviert sich insbesondere in der vielfach im Theater der

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Vgl. dazu auch Kaminsky (1993: 24f) und ihr Konzept der „Präsenz".

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Frauen angewandten Technik des Monologs oder der One-Woman-Shozv, mittels derer die Schauspielerin das Publikum unerbittlich zur Aufmerksamkeit zwingt. Sprich mit mir! betitelt Heidrun Adler im vorliegenden Band entsprechend ihren Beitrag zur Technik des Monologs, der dessen besondere Funktion in den theatralischen Diskursen lateinamerikanischer Autorinnen erhellt. Das vorliegende Buch klingt mit Sibylle Gfellners Aufsatz über Theaterproduktionen von den performance-Künstlerinnen Jesusa Rodríguez und Astrid Hadad und den Autorinnen Carmen Boullosa und Inés Stranger aus. Das Thema Mythische Frauenfiguren auf der Bühne. Malinche, Coatlicue, Las vírgenes und La madre patria bildet den Schwerpunkt ihrer Untersuchung, die sich mit der Synchretisierung präkolumbianischer mythologischer Elemente, ikonographischer Bildtradition und moderner Ästhetik in den Aufführungen befaßt. Wie bereits erwähnt, weichen die Theaterstücke und -produktionen der Theatermacherinnen nicht selten vom klassischen Begriff des Theaters ab. Ob der Begriff performance zur Bezeichnung ihrer Produktionen geeigneter ist, muß ebenfalls in Frage gestellt werden, wie Diana Taylor bereits in aller Ausführlichkeit darlegte. (1994: l l f . ) Dieser Begriff ist ähnlich wie gender im lateinamerikanischen Kontext schon deshalb problematisch, weil es kein spanisches Äquivalent gibt. Insofern ist oben zitierter Vorschlag von Juan Villegas zur Erweiterung des Theaterbegriffs durch das Konzept des theatralischen Diskurses oder der Theatralität grundsätzlich eher in Erwägung zu ziehen. Für die genauere Bestimmung der hier verhandelten Theaterproduktionen schließe ich mich jedoch den Argumenten Taylors an, die insbesondere die aktive Bedeutung des Begriffs performance hervorhebt: Theatricality, I agree with Villegas, may be the closest approximation to performance available in Spanish, but [...] the term performance, and especially the verb performing, allow for agency, which opens the way for resistence and opposite spectacles. (14) Inwieweit aktives Handeln und Widerstand in den Theaterarbeiten zum Tragen kommen, das macht die Chronologie der Beiträge besonders deutlich. Darüber hinaus aber erfaßt performance mehr als „theatralische Diskurse" das Bewußtsein über und das Spiel mit der Performativität von Geschlechter,identitäten', das alle hier angeführten Theaterbeispiele prägt. Auch auf diese (gender-)kritische Potenz des Begriffs machte Taylor bereits aufmerksam: „Performance, seen as a deconstructivist strategy in much feminist theory, enabled us to look at

Einleitung

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theatre in a way that critiqued its own Staging." (14) Daß im postkolonialen Theater lateinamerikanischer Autorinnen die Kritik an traditionellen binären Geschlechtermustern unlöslich mit der Kritik an traditionellen Repräsentationsmustern des Theaters verbunden ist, erweist die Lektüre diese Bandes ebenfalls, auch wenn die hier geleisteten Auseinandersetzungen nicht zuletzt wegen der Neuigkeit des Feldes, das sie eröffnen, mehr Fragen aufwerfen mögen als Antworten bereithalten. Geschlechter/ Performance, Pathos, Politik: Die Abbildung auf der Titelseite dieser Publikation bringt den mit diesen Begriffen verbundenen kritischen, spielerischen und widerständigen Gestus der hier behandelten Theaterarbeiten allegorisch auf den Punkt. Insofern handelt es sich in gewisser Weise um ein symptomatisches Bild. Indem Sibylle Gfellner es in ihrem Beitrag beschreibt, beginnt und beschließt es vorliegende Publikation gleichermaßen: Astrid Hadad „betritt die Bühne als eine Art Lebensbaum, dessen Blüten Fotografien mexikanischer und nordamerikanischer Politiker darstellen und an denen Barbiepuppen hängen. Ihr Dekolleté setzt sich aus Dutzenden von Brüsten zusammen. Sie repräsentiert, wie die Künstlerin in ihrer Conférence erklärt, la madre patria, an der alle saugen, ohne etwas dafür zu geben. Sie ist die vergessene, mißhandelte Mutter, der Coatlicue in Jesusa Rodríguez' Darstellung nicht unähnlich. Auf dem Kopf trägt Hadad einen überdimensionalen Hut mit dem Unabhängigkeitsengel, der aber durch die Auslandsschulden aus dem Gleichgewicht gekommen ist. [...] Die am Galgen hängenden Barbie- und Kenpuppen stellen das mexikanische Volk dar, dem nichts anderes übrig bleibt, als den Freitod zu wählen, da die Politiker und Wirtschaftsbosse das Land ruiniert haben. Sie zeigt, daß der Traum vom Aufstieg in die erste Welt und in die Modernität zerbrochen ist. [...] Ihre One-Women-Show [La Multimamada, 1996] schreckt vor keinem Tabu zurück." Kati Röttger Literaturverzeichnis Andrade, Elba; Cramsie, Hilde (Hrsg.): Dramaturgas latinomericanas contemporáneas. Madrid 1991. Ashcroft, Bill: „Excess. Post-colonialism and the verandahs of meaning", in DeScribing Empire (Tiffin, Lawson 1994), S. 33-44.

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Kati Röttger

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Vorhang auf für die großen Damen des lateinamerikanischen Theaters Die hispanoamerikanischen Frauen waren wie in anderen kreativen, intellektuellen und sozialen Bereichen auch am Theater lange Zeit von jeder sinnvollen Mitarbeit ausgeschlossen. Zu den üblichen Hindernissen, die zur traditionalistisch orientierten, männlich dominierten Gesellschaft gehören, kam die Aura des Skandalösen, die das Theater in den Augen engstirniger Moralisten schon immer suspekt erscheinen ließ. Und doch hat es Ausnahmen gegeben. In den meisten Fällen dem breiten Publikum kaum bekannt, haben einige Theaterautorinnen erfolgreich gegen die gesellschaftlichen Barrieren ankämpfen können. An erster Stelle ist die mexikanische Nonne Sor Juana Inés de la Cruz (1647?1695) zu nennen, deren ungewöhnliche intellektuelle Kraft als Lyrikerin und Dramatikerin den Rationalismus des 18. Jahrhunderts vorwegnimmt, die die literarischen Strömungen des kolonialen Mexiko in ihrer Arbeit vereinte und gelegentlich sogar Entwicklungen unserer heutigen Zeit vorausahnen ließ. Ihr Leben lang mußte sie gegen gewaltige Hindernisse ankämpfen - gegen die allgemeine geschlechtsspezifische Diskriminierung, gegen ihre eigene Illegitimität, ganz zu schweigen vom rigiden Autoritarismus kirchlicher Würdenträger - und überragte doch andere Intellektuelle der Kolonialzeit durch ihre Kreativität und ihre unermüdliche Neugier, mit der sie alle Aspekte ihrer Umwelt erforschte. Sie stand nicht ganz allein; im 18. Jahrhundert schrieb Sor Juana María (Josefa de Azaña y Llano, 1696-1748) wie ihre geistige Vorfahrin Hrosvitha - die außergewöhnlichste aller Autorinnen - coloquios für die Schwestern ihres Konvents in einem Stil, der an das populäre Theater des 16. Jahrhunderts erinnert. Und in den folgenden Jahrhunderten gab es viele, die - wenn auch meist nur mit bescheidenem, auf ihre unmittelbare Umgebung beschränkten Erfolg - versuchten, ein lebendiges Theater zu schaffen. Nennen wir nur die Puertorikanerinnen Carmen Hernández Araujo (1832-1877), die zwischen 1846 und 1863 eine comedia de costumbres und eine Reihe romantisch-historischer Stücke schrieb, von denen keines je aufgeführt wurde, und Mariana Bibiana Benitez (17831875), die mit neunundsechzig Jahren das Kriminalstück La cruz del Morro (1852) veröffentlichte, die Peruanerin Clorinda Matto de Turner (1852-1909) oder die Mexikanerin Isabel Prieto de Landázuri.1 1

Die Werke von Autorinnen wie Carmen Pérez Rodríguez (1828-1898) und Mercedes González de Moscoso (1860-1911) aus Ecuador; Vicenta Laparra de Cerda (1834-1905) aus Guatemala; Carmen Bocello (18507-1882) aus Puerto Rico haben kaum Beachtung gefunden.

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Alle Theaterautoren und -autorinnen des 19. Jahrhunderts verblassen vor einer der großen Gestalten des modernen spanischsprachigen Theaters, vor Getrudis Gömez de Avellaneda (Kuba 1814-1873), deren von stürmischer Leidenschaft geprägtes persönliches Leben sich in ihren Theaterstücken niederschlug. Sie kam 1836 nach Spanien, ging 1860 nach Kuba zurück und ließ sich 1864 endgültig in Spanien nieder. Ihr Werk ist wie ihr Leben von Charakterstärke und Entschlossenheit geprägt. Ähnlich wie George Sand, die sie sehr verehrte, wollte sie ihr Leben nach ihren eigenen Regeln gestalten. Ihre Porträts starker weiblicher Figuren, die für sich das Recht beanspruchen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, lassen autobiographische Züge erkennen. Diese rebellische Grundhaltung zieht sich durch ihr gesamtes Werk und war der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Ihre Leoncia (1840) zum Beispiel wurde in Spanien mehrmals inszeniert, blieb in der Kolonie Kuba jedoch über fünfzig Jahre lang verboten. Und trotz ihres künstlerischen Formats war Gömez de Avellaneda für die Königliche Akademie unannehmbar; man verweigerte ihr die Aufnahme. Ihr romantischer Stil ist gemäßigt und eklektisch; durch Natürlichkeit gelingt es ihr, die für große Teile des romantischen Theaters typischen Übertreibungen und bombastischen Dialoge zu vermeiden. Ihre große Leistung liegt vor allem in der soliden Konstruktion ihrer Stücke und deren psychologischer Durchdringung. Das gilt besonders für die weiblichen Figuren, die zur Selbstbestimmung entschlossen sind. Eindrucksvoll ist nicht die Handlung, sondern die Leidenschaft, von der ihre Figuren getrieben werden. Sie warf den für die Romantik typischen rhetorischen Ballast über Bord, verzichtete auf emotionale Reaktionen, die zu Klischees verkommen waren, und schrieb statt dessen Werke von psychologischer Tiefe. Sie schuf tragische Figuren, die auf der Suche nach authentischem Selbstausdruck immer wieder gegen soziale Dogmen und Tabus verstoßen. Sie betonen die Freiheit des menschlichen Geistes und unterstreichen ihre eigene Integrität. Baltasar (1858), eine Version der biblischen Begegnung zwischen Nebukadnezar und Daniel, kann fast als psychologische Studie im modernen Sinne gelten, deren Protagonist an Camus' Caligula erinnert. Er verkörpert den (damals) modernen Menschen mit seiner Melancholie und Vereinzelung, ein Opfer dessen, was man mal del siglo2 nennt. Alfonso Munio, ein historisches Drama, wurde 1844 uraufgeführt und 1869 in einer überarbeiteten Version unter dem veränderten Titel Munio Alfonso veröffentlicht. Statt das in jener Epoche so beliebte blinde Morden um der Ehre willen auf die Bühne zu bringen, analysiert das Stück eine tragische Liebesgeschichte am Hof Alfons VII., um den 2

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grundsätzlichen Konflikt zwischen Konventionen und Liebe sichtbar zu machen. Das Stück ist eine Studie über den Stolz - ein starker Mann wird durch seinen Mangel an Verständnis zerstört - und über die Verantwortung, die in der Freiheit liegt, den Lebenspartner selbst zu wählen, wie es die Autorin in ihrem Leben außerhalb des Theaters getan hat. In einer Zeit, die diese Qualitäten wenig schätzte, ist es bewundernswert, ein moralisches Problem mit so viel psychologischem Scharfblick und so authentischen Emotionen dargestellt zu finden. Nicht alle der Stücke, die Gómez de Avellaneda zwischen 1846 und 1858 meist mit großem Erfolg auf die Bühne brachte, beschäftigen sich mit derart gewichtigen Problemen. Diese vielseitige Autorin hatte auch ein Talent für leichte Komödien wie La hija del rey René (1855) oder El millonario y la maleta. Ihre beste Komödie ist sicherlich La hija de las flores o todos están locos (1852), ein reizendes Stück voller Verwicklungen und unerwarteter Wendungen im Stil Lope de Vegas, dessen Hauptfigur, von unbekannten Eltern geboren, zwischen Blumen gefunden wird etc.. Das wichtigste Thema ihres Theaters wird jedoch in Stücken wie Los tres amores (1858) behandelt: das Thema der Frau, die gegen alle Widerstände darauf besteht, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der große Entwicklungsschub des lateinamerikanischen Theaters gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bot Autorinnen jedoch nur wenig Chancen. Erst in den 30er Jahren änderte sich das Bild, und in Mexiko traten mehrere interessante Frauen auf den Plan. Selbst keine Autorin, aber dennoch eine wichtige Gestalt für das Theater war Antonieta Rivas Mercado (1898-1932), die verschiedene Projekte finanzierte und einen privaten Salon als Proben- und Vorführraum zur Verfügung stellte. Maria Luisa Ocampo gehörte von Jugend an zur experimentellen GRUPPE DER SIEBEN und später zu ULISES und ORIENTACIÓN.

Ihre ersten Stücke setzten sich vor allem mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinander, ihre späteren Stücke behandelten ländliche Themen. Fast alle wurden in den 20er und 30er Jahren aufgeführt. Als ihr bestes Theaterstück kann Al otro día (1955) gelten, eine konventionellrealistische Darstellung einer ländlichen Familie in ihrem Kampf gegen die Naturgewalten. Bemerkenswert ist, daß sie bereits vor Brecht ein episches Theater schrieb; sie gab damit der mexikanischen Bühne entscheidende innovative Anstöße. Clementina Otero, eine hervorragende Schauspielerin, und Virginia Fábregas unterstützten verschiedene Gruppen in künstlerischer und finanzieller Hinsicht, die ohne sie wohl kaum hätten überleben können. Concepción Sada inszenierte zwischen 1935 und 1942 mehrere Komödien, die der Form nach eher konventionell waren, aber feministische Themen zum Inhalt hatten; Magdalena Mon-

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dragón versuchte mit mäßigem Erfolg, ein lyrisch-poetisches Theater zu schaffen, das sie für die Darstellung spezifisch weiblicher Themen und Vorstellungen für angemessen hielt. Die Probleme vieler Theaterautorinnen und -autoren jener Zeit faßt Margarita Mendoza López so zusammen: Man darf nicht vergessen, daß der größte Teil der Werke und A u t o r e n d e r COMEDIA MEXICANA u n d d e r GRUPPE DER SIEBEN d a s

spanische Vorbild vor Augen hatten, was den Aufbau der Werke und die Behandlung der Personen betrifft.3

Erst mit der Generation der Mitte der 20er Jahre unseres Jahrhunderts geborenen Theaterautoren gewannen Frauen einen größeren quantitativen und qualitativen Einfluß auf das hispanoamerikanische Theater. In Mexiko schuf Luisa Josefina Hernández (1928) ein beachtliches Bühnenwerk. Ihre ersten Stücke behandeln auf orthodox-realistische Weise die Frustrationen des Lebens in der Provinz und gehen dabei besonders auf die Schwierigkeiten der Frauen ein, die versuchen, ihre geistige und emotionale Unabhängigkeit zu erlangen. Später experimentierte Hernández mit einer ganzen Bandbreite dramatischer Formen. In einem der besten frühen Werke, Los frutos caídos (1956), steht Celia, eine gebildete, emanzipierte Frau der Mittelklasse, hilflos der unerschütterlich konservativen, männlich dominierten Gesellschaft gegenüber, in der sie ihre Familie erhalten muß. Arpas blancas (1959) ist eine psychologische Studie über junge Frauen in der traditionellen mexikanischen Gesellschaft. Das interessanteste ihrer Frühwerke ist Los huéspedes reales (1957), eine eindringliche Studie über das Inzestproblem, das Hernández mit beispielhafter Präzision und mit Hilfe einer eigenwilligen, dem klassischen Agon verwandten Form behandelt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung von Figuren im Augenblick einer durch frühere Handlungen heraufbeschworenen Krise. Vom Elektra-Thema inspiriert, zeigt Los huéspedes reales eine Familie, in der eine eifersüchtige, dominante Mutter versucht, die enge Bindung zwischen ihrem schwachen Ehemann und ihrer Tochter Cecilia zu zerstören, indem sie die Tochter mit einem oberflächlichen, dummen Mann verheiratet. Die Folge ist, daß die wahre Natur der Beziehung zwischen Vater und Tochter bloßgelegt wird. Unfähig, irgendeine Lösung zu akzeptieren, begeht der Vater Selbstmord und läßt Cecilia und ihre Mutter vor einem Scherbenhaufen zurück. 3

Margarita Mendoza López, in Usigli en el teatro, hrsg. von Ramón Layera. Mexiko 1995, S. 63-84.

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In anderen Stücken geht Hernández noch weiter in ihren Angriffen auf die Heuchelei der herrschenden Gesellschaft, sie bezieht marginalisierte Gruppen ein und überschreitet gleichzeitig die Grenzen des Realismus. In La paz ficticia (i960), das die Verfolgung des Yaqui-Volkes während der Diktatur von Porfirio Díaz zum Thema hat, experimentiert sie mit sozialkritischen Inhalten und Formen des epischen Theaters. In Escándalo en Puerto Santo (1962) nimmt sie auf äußerst komische Weise die Heuchelei der herrschenden Elite in einer abgeschiedenen Stadt aufs Korn, während Historia de un anillo (1967) Korruption und Bigotterie in der Provinz angreift. La fiesta del mulato (1966) beruht - wie viele dieser Stücke - auf einer wahren Begebenheit, einem Prozeß aus der Kolonialzeit gegen einen Mulatten, der eine Goldmine entdeckte, davon ausging, das Gold gehöre ihm, und zur Feier seines neuen Wohlstands ein großes Fest veranstaltete. Bestürzt erfährt er, daß unbekannte reiche Herren aus der Hauptstadt die Besitzer der Mine sind und daß die Kolonialbehörden sein Fest als Aufruf zur Rebellion ansehen. Schlimmer noch, die Inquisition beschuldigt ihn, er sei von unreiner Rasse und darum schlecht, bis ihn schließlich ein mitfühlender Mönch rettet. Das Stück ist kurz, weist in seiner Mischung aus theatralischen Elementen und satirischen Attacken auf korrupte zivile Behörden und kirchliche Hierarchien jedoch eine ungewöhnliche Dichte auf. Gleichzeitig drängt Hernández in nicht-realistische Dimensionen vor. Los duendes (1963) ist zwischen absurdem Theater und Märchen anzusiedeln, ein in hohem Maße visuelles Stück, in dem es mehr um ein Wechselspiel zwischen verschiedenen Stimmungen als um eine stringente Handlung geht. Danza del urogallo múltiple (1971) spiegelt ein wachsendes Interesse an rituellen Strukturen wider. Seine im wesentlichen epische Form zeigt die Suche nach einer möglicherweise religiösen Antwort auf soziale Probleme. Eine ähnliche religiöse Orientierung zeigt sich in dem scheinbar schlichten La pavana de Aranzazú (veröffentlicht 1975), einer jedoch sehr komplexen Darstellung menschlicher und göttlicher Liebe. In Theaterstücken wie El amigo secreto (veröffentlicht erst 1990) ging Hernández der Frage nach, wie die nicht-materielle Welt auf die materielle Welt Einfluß nimmt. In vielen späteren Werken konzentrierte sie sich auf das didaktische Theater für Studenten und das Thema der mythischen Geburt ihrer Nation. Popol Vuh (1966) stützt sich auf folkloristische Elemente und Maya-Tradition, und Quetzalcóatl (1968) behandelt auf höchst theatralische, nicht-realistische Weise das indianische Erbe Mexikos. Mit Hilfe der Imagination und viel Sinn für Humor geht Hernández dabei erfolgreich den Fallstricken der literarischen Archäologie' aus dem Weg. Ihr Theater ist ungewöhnlich vielseitig, handelt in seinem Kern

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jedoch immer wieder von der Spannung zwischen sozialer Dynamik und individueller Freiheit sowie der Notwendigkeit, diese Spannung in unserem Leben wahrzunehmen und anzuerkennen. Sie ist einem Theater verpflichtet, das in dem Bemühen, ein neues Bewußtsein zu schaffen, soziale Ungerechtigkeiten thematisiert und mit einer Vielzahl dramatischer Idiome experimentiert. Elena Garro (1920) ist heute vor allem als Schriftstellerin bekannt. Ihre ersten Erfolge als Theaterautorin feierte sie mit Un hogar sólido, einer Reihe von Einaktern, die 1958 veröffentlicht wurden; einige waren schon 1957 von der Gruppe POESÍA EN VOZ ALTA aufgeführt worden. In einer ,logischen Unlogik' nähern sie sich einerseits Ionesco und haben andererseits durch die Integration mexikanischer Überlieferungen einen starken regionalen Bezug. Un hogar sólido zeigt die Hinwendung der Mexikaner zu dem in ihrem Leben immer gegenwärtigen Tod: das „solide Heim" ist eine Grabstätte, in der mehrere Generationen zusammenleben". Das Stück hat sowohl komische als auch schreckliche Aspekte. Wie in ihrem Roman Recuerdos del porvenir entsteht durch einen ungewöhnlichen Umgang mit der Zeit das Gefühl von Gleichzeitigkeit und Ineinanderfließen. Viele ihrer Stücke setzen sich auf vieldeutige Weise mit Illusionen auseinander. Los pilares de Doña Blanca (1957) ist eine poetische Fabel, ja, fast ein Märchen, das von einer vornehmen Dame und ihrem Schloß erzählt. Um sie werben ihr Freier Rubi, vier Ritter, die sich einer idealen Verehrung ohne jede Hoffnung verschrieben haben, und der Ritter Alazán, der die Sache direkter und gewalttätiger angeht, was möglicherweise diese bezaubernde Welt zerstören wird. In El rey mago (1958) sieht diese Illusion anders aus: Stolz auf sein ,männliches' Verbrechen, weist ein Gefangener das Angebot eines Kindes, ihn zu befreien, zurück, um später festzustellen, daß jenes Angebot ihm eine reale Chance geboten hätte, er aber nun dazu verdammt ist, seine harte Strafe zu verbüßen, weil seine maskulinen, gewaltorientierten Werte ihm mehr bedeuteten als ein illusionäres Ideal. Andarse por las ramas (1957) setzt eine populäre Redensart in Szene: Die einsame, verzweifelte Titina steht ihrem gefühllosen, einfältigen Ehemann und dem idealen Liebhaber gegenüber, der sich aber als ebenso unsensibel erweist wie der Ehemann und Titina schließlich verläßt. In fast allen diesen Werken steht der Konflikt zwischen täglichem Leben und einer anderen Realität im Mittelpunkt; geben die Figuren ihre äußere Realität auf, um in die ideale Welt der Illusion einzutreten, werden sie entweder durch diesen Schritt geopfert oder sehen ihre Illusion zerstört. Fast immer herrscht ein Ton bitterer Desillusion vor. So auch in Los perros (1967), einer schmerzlichen Studie über die Gewalt gegen Frauen auf dem Lande, aber selbst hier

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wird die alles erfassende Angst auf eine mythisch-ritualisierte Ebene erhoben. Zu Garros späteren Stücken, die diese Themen schärfer, wenn auch stets mythisch überhöht angehen, gehört La mudanza (1958), ein auf den ersten Blick realistisches Porträt einer alternden Frau, deren Welt durch ihre zynische und verräterische Familie zerstört wird. Die Verwandten sind Vertreter einer Realität, in der die wehrlose Lola nicht länger existieren kann. La señora en su balcón (1959), das zu Garros besten Stücken zählt, verdeutlicht auf mehreren Zeitebenen die sich über mehrere Jahrzehnte hinweg vollziehende Desillusionierung der Protagonistin. Wie Lola entscheidet sich Clara angesichts des unwiderruflichen Verlusts ihrer Träume, Selbsmord zu begehen. Auch in realistischen Werken wie El árbol (1967) beruht die Vision des siegreichen Bösen auf einer mythischen Sicht der Welt. Garro hat auch längere Werke geschrieben, darunter Felipe Ángeles (1978), ein dramatisches Porträt des Generals, der zum intellektuellen und moralischen Gewissen der mexikanischen Revolution wurde. Ángeles' Verrat, der Scheinprozeß, die bereits im Vorfeld geplante Verurteilung und Hinrichtung durch politische Kräfte, die mehr an ihrer persönlicher Macht interessiert sind als an der Wiederherstellung des sozialen Gefüges, werden auf intellektueller Ebene analysiert, wobei manche Frage über den rätselhaften Ángeles offenbleibt. Garro beschäftigt sich häufig mit unüberwindlichen Schwierigkeiten auf der Suche nach Wahrheit, der historischen wie jeder anderen. So setzt sie La dama boba (1963) von Lope de Vega als Stück innerhalb ihres Stückes mit dem gleichen Titel ein, um die Kluft zwischen den in der Stadt geborenen Schauspielern und der nicht weniger intelligenten, aber an andere Denkweisen gewöhnten indianischen Bevölkerung zu verdeutlichen. Das Stück zerpflückt auf vergnügliche, aber auch bitterböse Weise Vorstellungen von theatralischer Realität und möglicher Wahrheitsfindung. Der Häuptling der Indios entführt einen Schauspieler, weil er glaubt, er sei Lehrer und könnte den Dorfbewohnern das Lesen und Schreiben beibringen; vielleicht handelt es sich aber auch um einen eigennützigen Betrug. Weder wir noch die Schauspieler werden es je erfahren. Rosario Castellanos (1925-1974) gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert. Bekannt wurde sie zunächst als Romanautorin. Bereits in ihren ersten Publikationen befaßte sie sich in überzeugender Weise mit den Problemen der Frauen in einer männlich dominierten Welt und mit der Isolation und Entfremdung der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas. Im Laufe der Zeit wurden ihre Inhalte und ihre ätzend-kritischen Analysen immer persönlicher. Trotz der Erfolge von Garro und Hernández ist Castellanos

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bis heute die bekanntere Theaterautorin, was sie vor allem El eterno femenino verdankt, einem ausgesprochen feministischen Stück, das 1976 uraufgeführt wurde. Kirsten Nigro beschreibt den von diesem Stück ausgehenden Reiz: El eterno femenino erschien in einem Schlüsselmoment, als die persönliche feministische Denkweise von Castellanos mit dem breiten Strom des neuen mexikanischen Feminismus zusammenkam. Es ist darum kein Zufall, daß dieses Stück viele jener Themen ansprach, die damals aktuell waren: die Unterdrückung im Schlafzimmer und in der Familie, der dringende Wunsch der Frauen, in wichtigen Entscheidungen selbst eine Stimme zu haben usw. 4 Mit einer Reihe metatheatralischer Träume parodiert Castellanos das gesamte Spektrum rigide fixierter Rollen für mexikanische Frauen, nimmt dabei auch viele herausragende Gestalten der mexikanischen Geschichte aufs Korn und problematisiert die Frage nach der Rolle der Frauen in der mexikanischen Gesellschaft angesichts stereotyper, aber vieldeutiger Rollenvorgaben. Ihr Stück ist eine geistreiche, witzige, aber auch scharf zugespitzte Kritik. Maruxa Vilalta (1931), die in Spanien geboren wurde, aber seit ihrer Kindheit in Mexiko lebt, schrieb in den letzten fünfunddreißig Jahren zahlreiche Romane und Theaterstücke mit ausgeprägt sozialen Themen. Desorientados (1960) widmet sich einem in seiner Entstehungszeit verwurzelten Thema der desillusionierten Jugend und den Versuchungen ihrer Orientierungslosigkeit. Un país feliz(1964) beschreibt mit beachtlicher psychologischer Tiefe das Leben in einer Diktatur. El 9 (1965) stellt eine unerbittliche, bewegende expressionistische Vision der Entmenschlichung in einer zunehmend industrialiserten und mechanisierten Welt dar, und Cuestión de narices (1966) ist eine ein wenig manierierte, bittere Farce über die Sinnlosigkeit des Krieges und die Nichtigkeit seiner Ursachen. Vilaltas bekanntestes Stück ist Esta noche juntos, amándonos tanto (1970), eine teils expressionistische, teils absurde Parabel der modernen Menschheit. Im Mittelpunkt stehen Personen, die Freude nur im Leid anderer Menschen finden können. Vor dem Hintergrund der institutionalisierten Gewalt porträtiert Vilalta zwei auf totale Brutalität reduzierte Charaktere, die von Haß, Egoismus und Mißtrauen beherrscht werden. Nada como el piso 16, von der Kritikervereinigung zum besten Stück des 4

Kirsten Nigro: „Inventions and Transgressions: A Fractured Narrative in Feminist Theatre in Mexico", in Negotiating Performance, hrsg. von Diana Taylor und Juan Villegas. Durham, London 1994, S. 137-158.

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Jahres 1975 gewählt, ist eine Parabel der Macht und Dominanz, ein Angriff auf den Sadomasochismus all jener, die im Kampf um Reichtum und Macht Erniedrigung und Demütigung hinnehmen müssen. Historia de él (1978) prangert die Verherrlichung der politischen Macht an und die Korruption, mit der sie zwangsläufig verbunden zu sein scheint, ein Mißstand, der zum Lieblingsthema mexikanischer Schriftsteller geworden ist. Una mujer, dos hombres y un balazo (1981) ist eine Sammlung kurzer Parodien verschiedener dramatischer Stile, die durch eine im Theater angesiedelte Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Aus demselben Jahr stammt Pequeña historia de horror, eine Gruselgeschichte mit Augenzwinkern über eine Gruppe psychisch labiler Figuren, von denen einer als Massenmörder sein Unwesen treibt. Ihre ästhetische Neugier zeigt die Autorin mit einem totalen Richtungswandel, den sie mit dem 1990 erschienenen Stück Una voz en el desierto vollzieht, einer detaillierten, sorgfältig recherchierten Lebensgeschichte des Heiligen Hieronymus. Ebenfalls in Spanien geboren und in Mexiko aktiv war die fast unbekannte María Luisa Algarra (1916-1957), die zur Generation von Luisa Josefina Hernández, Emilio Carballido, Sergio Magaña u.a. gehörte. Judith, ihr erstes Stück, erschien auf Katalanisch und wurde in Spanien (1936?) uraufgeführt; La primavera inútil (1947) war eines der ersten mexikanischen Dramen, die sich mit der Frage der Homosexualität auseinandersetzten. Aus dem Jahr 1954 stammen Casandra sowie Los años de prueba, ein mitfühlendes, sorgfältig konstruiertes Jugenddrama. Algarras Anfänge waren viel versprechend, und ihr früher Tod beraubte das mexikanische Theater einer wichtigen Stimme. Margarita Urueta (1918) schrieb avantgardistische Stücke, die meisten für ihr eigenes Theater. Phantasie und die Bereitschaft, mit verschiedenen Stilen und Formen zu experimentieren, charakterisieren ihr Werk. Was Thematik und Technik betraf, stand Urueta dem absurden Theater Frankreichs nahe. Am Río de la Plata waren Theaterautorinnen ebenso die Ausnahme wie in Mexiko. Seibel 5 erwähnt Eva Canel, eine in Spanien geborene und in Argentinien lebende Künstlerin, die zu Beginn des Jahrhunderts als Journalistin und Bühnenautorin wirkte; 1893 wurde in Havanna ihr Stück La mulata gespielt, in Buenos Aires wurden Fuera de la ley (1902) sowie La abuelita und De Herodes a Pilatos (1905) aufgeführt. Canel schuf nicht nur starke Frauenfiguren, ihre scharfen Angriffe auf rassistische und soziale Vorurteile sind faszinierend. 5

Beatriz Seibel: „La mujer: Una marginal en la historia del teatro", in Teatro iberoamericano, hrsg. von María de la Luz Hurtado. Santiago 1992, S. 186-191.

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Zu den herausragenden lateinamerikanischen Autorinnen gehört Alfonsina Storni (1892-1938), deren Werk durch eine skeptische, unabhängige Intelligenz, einen trocken-ironischen Feminismus und ein hartnäckiges, engagiertes Eintreten für die eigene Unabhängkeit gekennzeichnet ist. Nachdem sie als Näherin in einer Hutfabrik gearbeitet hatte, wurde sie mit fünfzehn Jahren Schauspielerin, schloß sich einer fahrenden Theatergruppe an und versuchte später, ihr mageres Einkommen als Sängerin und Revuetänzerin in Bars und Cafés der Provinz aufzustocken. 1910 erhielt sie die Lehrbefugnis und ging zum Städtischen Kindertheater, dessen Direktorin sie später wurde. In dieser Eigenschaft führte sie ihre eigenen Kinderstücke in Parks und auf öffentlichen Plätzen auf, wobei sie selbst Regie führte und ihre Schülerinnen und Schüler als Darsteller einsetzte. Besonders beeindruckend an der Sammlung Teatro infantil sind die imaginative Freiheit der Konzeption und die bewegende Zartheit der Stücke. In den vergnüglichen Farcen und Phantasien, die sich auf die verschiedensten Traditionen wie Pantomime, Fabeln, Puppentheater und andere populäre Quellen stützen, läßt sich auch der Einfluß des zeitgenössischen Films erkennen: In einem Stück tritt Mickey Mouse, in einem anderen Charlie Chaplin auf. Gleiche Einflüsse des Films finden wir, wenn auch auf anderer Ebene, bei Garcia Lorca. 1927 inszenierte Storni selbst El amo del mundo, ein Theaterstück, das man als dramatische Version ihres Gedichts Tú me quieres blanca deutete. Traditionell in der Form und offensichtlich autobiographisch geprägt, stellt es einen Angriff auf die männliche Doppelmoral und die Weigerung der Männer dar, Frauen die gleichen Freiheiten einzuräumen, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Sicherlich lag es an der Thematik, daß das Stück so wenig Erfolg hatte, daß nach drei Tagen weitere Vorführungen abgesagt werden mußten. El amo del mundo ist eine intellektuelle Debatte, und das langsame Tempo gefiel dem an eine ganz andere Art von Theater gewöhnten Publikum von Buenos Aires nicht. Wahrscheinlich war diese Erfahrung auch der Grund dafür, daß ihre anderen Stücke, La debilidad de Mister Dougall (1927) und Dos farsas pirotécnicas

(1931): Cimbelina

en 1900 y pico u n d Polixena y la

cocinerita,

niemals aufgeführt wurden. In einer Mischung aus imaginativer Form und ironischer Vision greifen die Farsas auf ihr gesamtes Werk zurück. Phillips 6 vermutet wichtige Einflüsse von Valle-Inclán, und es gibt deutliche Ähnlichkeiten zu den Kurzstücken von Garcia Lorca (Storni reiste 6

Rachel Phillips: Alfonsina

Storni: From Poetess to Poet. L o n d o n 1975. U n d María

Salgado: „Reflejos de espacios cóncavos: El teatro clásico en las Farsas pirotécnicas de Alfonsina Storni", in LATR 30,1 (Fall 1996), S. 21-32.

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1930 und 1932 nach Europa) und zur Tradition des Puppentheaters. Cimbelina en 1900 y pico (1931) erinnert mit seiner komischen Form und seinem ernsten Inhalt lebhaft an die Farcen von Aurelio Ferretti. Die besondere Mischung von Ernsthaftigkeit und scheinbarer Frivolität drängt auch Vergleiche mit den Kurzstücken des Mexikaners Salvador Novo auf, den Storni bei einem Besuch in Buenos Aires kennengelernt haben könnte. Aber Stornis Werke sind alles andere als Derivate; Ähnlichkeiten mit anderen Zeitströmungen können die ironische Kraft, die von Stornis Theater ausgeht und als ihre ureigene Schöpfung gelten kann, nicht erklären. In Anspielung auf Shakespeares Cymbeline rächt sich die zu Unrecht beschuldigte Ehefrau mit Hilfe ihres Mannes an dem Verleumder, statt das vom Ehrenkodex verlangte Todesurteil hinzunehmen. Das sechs Akte, Epilog und Prolog umfassende Stück hat eine komplizierte Handlung, fasziniert jedoch in seiner ungewöhnlichen Konzeption und ausgefeilten Bühnentechnik. Beim Prolog ist die Bühne geteilt, die eine Hälfte stellt das Jahr 1500, die andere das Jahr 1900 dar. Die Schauspieler treten durch ein riesiges Buch mit Shakespeares Werken auf die Bühne. Später erscheint auf rätselhafte Weise eine riesige Hand und überreicht Maria Elena einen Revolver. Eine „Person aus dem Zuschauerraum" spielt eine Warteszene, während die Hauptfiguren nicht auf der Bühne sind, und als Héctor wiederkehrt, bringt er zwei Krankenschwestern mit, die eine weitere Figur zusammenlöten. Das Stück weist jedoch nicht nur surrealistische Elemente auf, sondern ist auch bemerkenswert metatheatralisch, und alle Charaktere haben Doppelrollen. Am Ende sind sie vom machismo befreit und können nicht mehr zum Originaltext zurückkehren, durch den sie auf die Bühne gekommen waren. Den Epilog spricht Maria Elena wie im traditionellen Paso oder Finale der Stücke des Goldenen Zeitalters. Polixena y la cocinerita, das niemals aufgeführt wurde, ist die Adaption einer Episode aus Hekabe von Euripides. Im ersten Teil sehen wir ein Mädchen, das seine Familie verließ, um die Welt zu sehen, und dann als Küchenmädchen sein Brot verdient. Der brutale Sohn des Hauses, in dem sie arbeitet, verfolgt sie mit Anträgen. Im zweiten Teil spielt sie Polyxenes Opfertod nach dem griechischen Original und nimmt sich dabei selbst das Leben. Neben dem Angriff auf männliche Brutalität ist die starke Ironie des Stückes bemerkenswert: die Familie der jungen Frau ist wohlhabend, ihre Erniedrigung war also ganz unnötig. Auf der Suche nach einem sinnvolleren Leben spielte sie eine Rolle, um am Ende nur Elend zu finden. Das Stück endet mit einem äußerst sonderbaren Epilog zwischen Euripides und einem sprechenden Fisch. Insgesamt ist das Stück eindrucksvoll und stark, und es ist bedauerlich, das es fast unbekannt geblieben ist.

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Erst mit der nach dem Zweiten Weltkrieg auftretenden Generation gelang es den Dramatikerinnen, ihre Position zu festigen. Als herausragende Gestalt dieser Generation muß an erster Stelle Griselda Gambaro (1928) genannt werden, die eine bemerkenswerte, außergewöhnlich produktive Karriere machte und bereits mit ihren ersten Stücken eine beachtliche künstlerische Debatte auslöste. Sie wurden vom INSTITUTO TORCUATO DI TELLA aufgeführt, das vom konservativen Teil der Theaterkritik als Stätte inakzeptabler avantgardistischer Tendenzen gebrandmarkt wurde. Wegen ihrer nicht-realistischen Strukturen und ihrer brutalen, mehrdeutigen verbalen Codes fand sich Gambaro rasch in eine lautstarke Debatte über die Tugenden des Realismus und die Nachteile des absurden Theaters verstrickt, wobei ihre Kritiker nicht erkannten, daß sie, ebenso wie zahlreiche andere Autoren ihrer Generation, hauptsächlich von Discepolos grotesco beeinflußt war. Gambaros vorherrschende Themen sind die Perversion der Macht und die Unterdrückung des Individuums durch die Gesellschaft; selbst Gewinner müssen letztlich verlieren. Ihre Charaktere irren durch eine Welt, der es an schützenden Regeln mangelt; aller Würde und Kraft zur Selbstbestimmung beraubt, scheinen sie nicht einmal mehr zu verstehen, was mit ihnen vor sich geht. Und doch sind sie in höchstem Maße individualisiert, so daß sie nicht zu Stereotypen verkommen. Ein effektvoller Einsatz kontrastierender Kommunikationscodes sorgt dafür, daß Text und Handlung einander häufig unversöhnlich gegenüberstehen; Quäler und Gequälte tauschen immer wieder die Rollen. Las paredes (1963) zeigt einen jungen Mann, der aus unbekanntem Grund in einem bequemen Zimmer gefangengehalten wird. Im Laufe der Zeit wird das Zimmer immer kleiner und kahler, und der junge Mann verroht zusehends, bis ihm nicht nur die Bequemlichkeit und Freiheit, sondern auch der Wille zu reagieren abhanden gekommen ist: Als die Tür endlich offensteht, ist er unfähig, seine Zelle zu verlassen. El desatino (1965) ist ein berunruhigendes Porträt eines Mannes, der durch Egoismus und Gleichgültigkeit der Menschen in seiner Umgebung zum Tode verdammt ist. Ein rätselhafter Metallgegenstand lähmt ihn, er könnte für seine Abhängigkeit von einer Familie stehen, die seine Not einfach ignoriert und ihn mit Vorwürfen quält, könnte aber auch eine mehrdeutige sexuelle Obsession symbolisieren. In jedem Fall erduldet der junge Mann stillschweigend seine eigene Zerstörung, weist die Freundschaft eines Fremden zurück und verfällt, wie fast alle Opfer in Gambaros Stücken, in einen passiv duldenden Infantilismus. Los siameses(1970) ist ein komplexes, auf mehreren Ebenen angelegtes Werk. Die Zwillinge, offenbar durch eine Operation voneinander getrennt, aber emotional eng verbunden, stehen wie Kain

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und Abel für die beiden Seiten in jedem Menschen. Es bleibt aber unklar, ob sie wirklich Zwillinge sind; durch widersprüchliche verbale und körperliche Signale wird diese im Titel des Stücks vorgegebene Situation in Frage gestellt. Bei der Uraufführung wurden Schauspieler gewählt, die sich äußerlich kaum ähnlich sahen, während die beiden bizarren Polizisten so geschminkt waren, daß sie an Groucho und Chico Marx erinnerten - ein weiteres Beispiel für die komplexe Vieldeutigkeit, die Gambaros Theater so provokativ und die Bestimmung spezifischer Bedeutungsebenen so schwierig macht. In El campo (1968) ist das Leben ein riesiges korruptes und korrumpierendes Konzentrationslager, dessen Insassen darauf beharren, die Schuld für ihr Leid ganz auf sich zu nehmen, wobei sie nicht zu verstehen scheinen, wo sie gelandet sind. Selbst als Martin und Emma gehen dürfen, werden sie von namenlosen Inquisitoren verfolgt, die das wenige an Würde und Lebenswillen, das ihnen noch geblieben ist, zunichte machen. Tief verwurzelt in historischen Überlegungen zu Phänomenen dieser Art, entspringt das Stück wie viele andere Stücke von Gambaro dem absurden Theater. Die detaillierten Charakterisierungen sowie die schreckliche Logik, die allem Geschehen zugrunde liegen, verleihen dem Begriff ,absurd' aber eine neue Dimension. Selbst in kurzen Stücken wie Decir sí (1981) öffnet sich durch Rollentausch und kontrastierende Codes eine andere, sehr erschreckende Welt. In einer Inszenierung war der gequälte und selbst andere quälende Kunde wie Groucho Marx geschminkt, ein deutlicher Hinweise auf die Willkür einer sinnentleerten Welt, in der Tragödie und Komödie eins geworden sind. Natürlich hat all das einen Bezugspunkt in der sogenannten realen Welt, in der Gambaro selbst gezwungen war, vor dem Terror der Militärs, die unliebsame Menschen folterten, ermordeten und verschwinden ließen, ins Exil zu flüchten. Gambaro ist in höchstem Maße produktiv. Allein in den 70er Jahren schrieb sie fünfzehn Theaterstücke, die teilweise erst sehr viel später uraufgeführt wurden, so z.B. Nosferatu, das 1970 fertiggestellt wurde, aber erst 1985 auf die Bühne kam. Ihre Werke sind nicht so stark auf ein Thema fixiert, wie man es auf den ersten Blick vermuten könnte. Obgleich sie im strengen Sinne keine feministische Autorin ist, deren Stücke sich in erster Linie mit der Rolle der Frauen befassen, ist eine starke feministische Unterströmung spürbar. El desposamiento (1981) oder Información para extranjeros (1973) thematisieren eindringlich die moralische und körperliche Erniedrigung von Frauen im sexuellen Kontext. Nosferatu ist eine makabre Vision von Vampiren, die von der Gesellschaft, dem wahren Vampir, unterdrückt werden. Nada que ver (1972) wurde als Paraphrase von Mary Shelleys Frankenstein charak-

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terisiert, da auch hier die künstlich erschaffenen Monster viel weniger monströs erscheinen als ihre Schöpfer; Real envido (1983) ist eine Märchenparodie. Antígona furiosa (1986) kleidet das klassische Thema in ein modernes Gewand, wobei der halluzinatorische Ton eine Atmosphäre von Schuld und Grausamkeit schafft, so daß sich unter der äußeren Aufmachung die gleiche unerbittliche Vision verbirgt. 1996 wurde das bereits in den 70er Jahren geschriebene Stück Dar la vuelta in Puebla, Mexiko, uraufgeführt. Das originelle Bühnenbild zitierte Karikaturen, Comics und Popfilme. Trotz neuer Formen kehrten auch hier die gleichen Elemente wieder: Gewalt, schwarzer Humor und grundsätzlich ein Mangel an Mitgefühl. Mit der zwar verständlichen Neigung, sie als politische Allegorien zu deuten, leistet die Kritik Gambaros Theaterstücken einen Bärendienst. Sie sind so eindringlich, aber unspezifisch angelegt und bieten eine so viel breitere, universelle Vision, daß sie über konkrete argentinische Verhältnisse weit hinausweisen. Gambaros Stücke wirken auf einer ganzen Reihe von Ebenen; es ist unmöglich, sie als der Tradition Artauds verpflichtet, als politisch oder absurd zu bezeichnen oder sie mit irgendeinem anderen gängigen Etikett zu versehen, weil sie längst über alle diese Kategorien hinausgewachsen sind. Ebenso falsch wäre es, Gambaro als Feministin zu kategorisieren. In ihrem Theater werden alle auf die eine oder andere Weise als Opfer dargestellt. Darüber hinaus ist Gambaro eine äußerst innovative Dramatikerin. Información para extranjeros, 1973 geschrieben, aber erst 1987 veröffentlicht, experimentierte damals bereits auf phantasievolle Weise mit theatralischem Raum und dramatischer Struktur. Es spielt in einer Reihe von Räumen, in die das zuvor in kleine Gruppen unterteilte Publikum nach und nach geführt wird, so daß die verschiedenen Gruppen die von Brutalität geprägten Szenen mit Ausnahme der ersten und letzten nicht in der gleichen Reihenfolge sehen. Auf diese Weise wird das Publikum emotional in eine unmittelbare, beunruhigende Konfrontation mit Gewalt und Grausamkeit hineingezwungen. Es ist offensichtlich, daß Gambaro hier die Rolle der argentinischen Öffentlichkeit und deren Manipulation durch die Regierung während der im Schmutzigen Krieg von 1976-1983 kulminierenden Militärdiktatur thematisierte. Solche Stücke wurden natürlich verboten, und so verbarg sie in La malasangre (1982) ihre Darstellung einer Diktatur hinter einer historischen Erzählung. Und Del sol naciente (1984) spielt im feudalen Japan, obwohl der destruktive Machtkampf die argentinische Situation widerspiegelt. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Notwendigkeit zur Verschlüsselung Gambaro dazu brachte, eine Reihe von Stücken zu

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schreiben, deren vieldeutige Botschaft ihr Werk bereichert, ohne den realen gesellschaftlichen Bezug zu verschleiern. In Chile gibt es in der von uns betrachteten Zeit mehrere interessante Autorinnen. Gabriela Roepke (1920) gehört zu der Generation, die das chilenische Theater in den 40er Jahren wiederbelebte. Sie studierte Theaterwissenschaft an der Sorbonne und in den USA, wo sie auch viele Jahre lebte und lehrte. Ihre Stücke sind psychologische Studien, die häusliche Dramen, Kriminalfälle und das Leben in der Provinz zu Anfang unseres Jahrhunderts thematisieren: Los culpables (1955); La telaraña (1958); Juego silencioso (1959). Ihre Stücke faszinieren durch die allmähliche Bloßlegung der wahren Charaktere mehrerer Individuen, die in einer spannungsgeladenen Situation agieren. Darüber hinaus schrieb Roepke Stücke für Kinder und amüsante Farcen, die ihren feinen Sinn für Humor und sanfte poetische Stimmungen beweisen. Zu den besten Werken dieser Art gehören Los peligros de la buena literatura (1957) und Una mariposa blanca (1957), eine komische, komplexe poetische Vignette über unsere Tendenz, in einer tristen Alltagswelt unsere Träume aus den Augen zu verlieren. Als Opernversion ist das Stück in New York aufgeführt worden. Das Werk von María Asunción Requena (1916-1986) ist in erster Linie historischen und sozialen Themen gewidmet. In Fuerte Bulnes (1955) porträtierte sie die Nöte und Verlassenheitsgefühle der Kolonisten im äußersten Süden Chiles im letzten Jahrhundert sowie ihre Beziehungen zu den Ureinwohnern; Pan caliente (1958) behandelt die Armut in einem abgeschiedenen Dorf. El camino más largo (1959) ist, wie viele Werke dieser Generation, stark feministisch geprägt, es zeigt, mit welcher Ignoranz und altmodischen Engstirnigkeit die erste praktizierende Arztin Chiles zu kämpfen hatte. Zu Requenas bekanntesten Werken zählt Ayayema (1964), in dem die Not der Alacalufe-Indios sowie die Bemühungen eines ihrer Vertreter beschrieben werden, sein Volk aus dem Elend herauszuführen. Requenas Stücke haben eine kraftvolle dramatische Dynamik, unbestreitbar ist jedoch ihre Tendenz, die soziale Botschaft allzu stark in den Vordergrund treten zu lassen. 1972 brachte Requena unter dem Titel Homo chilensis ein Musical heraus, eine humorvolle Satire über männliche Eigenheiten, die auf der Bühne beachtliche Erfolge erzielte. Im gleichen Jahr kam Chiloé, cielos cubiertos zur Uraufführung, vermutlich ihr beliebtestes Stück, das auf Elemente des Volkstheaters zurückgreift, um das Leben der Menschen darzustellen, die in großer Abgeschiedenheit auf jener großen Insel im Süden Chiles siedeln. Die vielseitigste chilenische Autorin ist Isidora Aguirre (1919). Nach traditionell-realistischen Anfängen kam sie über das Musical zu einem

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engagierten Theater, das seine Hauptaufgabe darin sieht, Mißstände anzuprangern, und ernsthafte Fragen über das Gleichgewicht von Form und Inhalt aufwirft. Ihre ersten Werke, zum Beispiel Carolina (1957), w u r d e n v o m TEATRO EXPERIMENTAL DE LA UNIVERSIDAD DE CHILE,

eine der führenden Institutionen im chilenischen Theater der 50er und 60er Jahre, uraufgeführt. Dos más dos son cinco (1957) konfrontiert Mittelklasse und Proletariat, und Las pascualas (1957) basiert auf einer Legende von drei Frauen, die aus Liebe zu demselben Mann ihr Leben lassen. Das Jahr 1960 brachte Isidora Aguirre beachtlichen Erfolg auf einem unerwarteten Gebiet: dem Musical. La pérgola de las flores wurde einer der größten Erfolge im chilenischen Theater. Es spielt im Santiago der 20er Jahre und kombiniert Phantasie mit schwarzem Humor, volkstümliches Ambiente mit sozialen Subthemen. Diese Mischung wiederholte Aguirre in La dama del canasto (1965). Maggi ante el espejo (1968) basiert auf einer phantasievollen, komplizierten Verzahnung verschiedener Ebenen der Realität. In Población Esperanza (1959), das sie gemeinsam mit dem Romanautor Manuel Rojas schrieb, geht es um das Elend der Armen; ein technisch ausgefeilteres Stück. Später widmete sie sich überwiegend sozialen Themen und stellte dabei ein System in Frage, das die Gesellschaft in Ausgebeutete und Ausbeuter teilt. Großen Erfolg hatte sie mit Los papeleros (1965), einem der ersten chilenischen Stücke, das sich der Techniken des epischen Theaters ä la Brecht bediente. Es zeigt das Leben von Menschen, die auf den riesigen Müllhalden leben und sich mehr schlecht als recht von dem Verkauf der Dinge ernähren, die sie dort finden - ein Thema, das auch von anderen lateinamerikanischen Dramatikern aufgegriffen wurde. Das Stück hat eine beachtliche, wenn auch etwas vordergründige Aussagekraft. Mit Los que van quedando en el camino (1969) unternahm Aguirre den Versuch, das Bauernmassaker des Jahres 1934 zum Gegenstand des politischen Theaters zu machen. Auch für die Probleme der indianischen Bevölkerung Chiles interessiert sie sich; in Lautaro (1982) geht es um das Bemühen der Mapuche, sich in die chilenische Gesellschaft zu integrieren, dabei aber ihre Traditionen zu bewahren. In der Art des epischen Theaters wird eine historische Episode aus der Zeit der Eroberung Chiles durch die Spanier gezeigt. Zwar steht der Widerstand des Mapuche-Helden Lautaro im Vordergrund, die Dialektik von Unterdrückern und Unterdrückten macht jedoch die aktuelle Relevanz des Stückes deutlich. Ähnlich geht Aguirre mit El retablo de Yumbel (Premio Casa de las Américas 1987) um. Sie verbindet metatheatralische Elemente und solche des epischen und des dokumentarischen Theaters miteinander. Damit gelingt es ihr, jede politische Polemik zu vermeiden. Das

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Martyrium des Heiligen Sebastian, des Schutzheiligen von Yumbel, und die blutigen Ereignisse während des Militärputsches von 1973 - das Stück trägt den Titel des Platzes, an dem sechs Jahre nach dem Putsch die Überreste von neunzehn von den Militärs verschleppten Oppositionsführern gefunden wurden - werden als parallele Ereignisse auf die Bühne gebracht. Nur wenige Theaterautorinnen Lateinamerikas sind von der Literaturgeschichte beachtet worden. In Peru erhielt Elena Portocarrero 1965 für La corcova, eine Adaption der commedia dell'arte, den Nationalen Theaterpreis. Hoy no, mañana tampoco (1965) mischt traditionelle Farce mit Metatheater und erinnert an Garcia Lorca. In Venezuela brachte Ida Gramcko mit Maria Lionza und anderen Stücken populäre Mythen in stimmungsvollen, lyrischen Schauspielen auf die Bühne. Und wie sie spezialisierte sich auch Elizabeth Schön auf ein poetisches Theater, das sich gelegentlich dem französischen absurden Theater annähert. Intervalo (1959) behandelt die Verschiebung der Realität; Melisa y el yo (1934) kritisiert die moderne Technologiegläubigkeit, und Lo importante es que nos miramos beschreibt, wie so viele Werke dieser Generation, die Begegnung zweier einsamer Individuen. In Kolumbien ist Fanny Buitrago (1945) für ihr ausgezeichnetes Stück El hombre de paja bekannt geworden. In der Form realistisch, ist es mit wichtigen symbolischen Subtexten versetzt und geht der Frage nach, wen die Schuld an der verhängnisvollen Violencia und der allgemeinen Gewalttätigkeit unseres Jahrhunderts trifft. In Paraguay markierte in den 40er Jahren die Publikation 400 fahre Theater in Paraguay von Josefina Plá den Beginn einer neuen Entwicklung des Theaters, das seit 1864/65, dem großen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien, brachgelegen hatte. Josefina Plá (1909) schrieb Lyrik, Erzählungen, Essays. Ihr dramatisches Werk umfaßt mehr als 40 Stücke; drei davon schrieb sie zusammen mit Roque Centurión Miranda: Episodios chaqueños (1932), Un sobre blanco (1942), in beiden geht es um den Chaco-Krieg, und Aquí no ha pasado nada (1945), das eine Lanze für uneheliche Kinder bricht. Ihr eindrucksvollstes Stück ist Fiesta en el rio (1967), solide gebaut diskutiert es mit schönen Dialogen, die ohne Pathos und ohne Aggressionen auskommen, das ewige Thema Mann und Frau. Als Schauplatz wählt sie ein Dorf, in dem nach alter Sitte die Mädchen, die sich vor der Ehe der Liebe hingeben, bestraft werden. Verrät sie ihren Liebsten, wird er ebenfalls bestraft, bekennt er sich selbst, sind beide frei. Weder der eine noch der andere Ausgang des „Festes am Fluß" sind je vorgekommen. Plá verfällt hier nicht der Versuchung, ein bitteres Plädoyer gegen brutalen machismo zu entwickeln. Sie zeigt viel-

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mehr, wieweit Frauen für ihre Rolle als Opfer mitverantwortlich sind. Das Ende ihres Dramas spiegelt eine Denkweise, eine Toleranz und Weisheit wider, die 1967 diesseits und jenseits des Atlantik in Fragen des Geschlechterkonflikts kaum auf dem Theater gezeigt wurden. Zwei Thesen führt Pia vor. Die eine kennen wir: Wenn Frauen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, hören sie auf, Opfer zu sein. Die andere ist interessanter und lautet als bewundernswert klar formulierte Botschaft des Stückes: Wenn Männer, vor die Wahl zwischen machismo und Liebe gestellt, die Liebe wählen würden, gäbe es weniger Tragödien auf dem Theater der Welt. Obwohl Josefina Pia mit ihren Stücken und Essays zum Theater die entscheidende Arbeit leistete, um dem Theater Paraguays einen Platz in der Theatergeschichte Lateinamerikas zu sichern, ist sie wie manche ihrer Kolleginnen von der Theaterkritik übersehen worden. In Literaturgeschichten wird Miranda als Autor der drei gemeinsam geschriebenen Stücke aufgeführt und Pia nur nebenbei erwähnt. Die in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts geborenen Dramatikerinnen leisteten wichtige Beiträge zum lateinamerikanischen Theater. Viele von ihnen zählen zu den Besten ihrer Generation. Wo ihre Vorgängerinnen noch gezwungen waren, innerhalb der Beschränkungen kommerzieller Bühnen zu arbeiten, konnten sie die dramatische Form tatkräftig erneuern; gleichzeitig haben sie einen großen Anteil an der Lockerung inhaltlicher Restriktionen. Ihnen ist es zu verdanken, daß die Türen des Theaters für die heute dort mit beachtlichem Erfolg aktiven Frauen offenstehen. Deutsch von Elisabeth Müller

Literaturverzeichnis Layera, Ramón (Hrsg.): Usigli en el teatro. Mexiko 1995. Nigro, Kirsten: „Inventions and Transgressions: A Fractured Narrative in Feminist Theatre in Mexico", in Negotiating Performance, hrsg. von Diana Taylor und Juan Villegas, Durham, London 1994, S. 137-158. Phillips,Rachel: Alfonsina Storni: From Poetess to Poet. London 1975.

Salgado, María: „Reflejos de espacios cóncavos: El teatro clásico en las Farsas pirotécnicas de Alfonsina Storni", in LATR 30,1 (Fall 1996), S. 21-32. Seibel,Beatriz: „La mujer: Una marginal en la historia del teatro", in Teatro iberoamericano, hrsg. von María de la Luz Hurtado. Santiago 1992, S. 1986-191.

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Frank Dauster (1925), B.A., M.A. an der Rutgers University, Promotion an der Yale University. Emeritierter Professor der Rutgers University. Publikationen: Breve historia de la poesía mexicana. 1956; Ensayos sobre poesía mexicana. 1963; Historia del teatro hispanoamericano, siglo XIX y XX. 1966; 2a. ed. 1973; Xavier Villaurrutia. 1971; Ensayos sobre teatro hispanoamericano. 1975; The Double Stand. 1987; Perfil generacional del teatro hispanoamericano (1894-1924). 1993; Teatro hispanoamericano: Tres piezas. (Hrsg.) 1965; Literatura de Hispanoamérica. 1970 (Hrsg. mit Luis Leal); Nueve dramaturgos hispanoamericanos. (Hrsg. mit Leon Lyday und George Woodyard) 1979; En un acto. (Hrsg. mit Leon Lyday) 1974; Tres dramaturgos rioplatenses. (Hrsg. mit Leon Lyday, George Woodyard) 1983; Perspectives on contemporary Spanish American Theatre. 1996.

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Die besondere Bedeutung und Rezeption des Theaters von Frauen in Lateinamerika Die zeitgenössische Kritik hat oft darauf hingewiesen, daß die kritische Bewertung lateinamerikanischer Theatertexte anhand nicht lateinamerikanischer theoretischer Modelle1 negative Auswirkungen hat. Noch problematischer wird diese Tatsache, wenn es sich um Theatertexte handelt, die von Frauen geschrieben wurden. Zur Marginalität gegenüber europäisch orientierten ästhetischen Maßstäben kommt die Marginalität gegenüber einem männlich bestimmten hegemonialen Geschlechterdiskurs hinzu. Dies setzt nicht nur die Bedeutung der Theaterstücke, sondern aller ästhetischen Arbeiten von Frauen herab. Stücke von Frauen werden danach bewertet, ob sie den Theorien eines auf patriarchalischen Prinzipien basierenden Diskurses entsprechen oder nicht. Werke, die nicht mit dem Weltbild dieses die Arbeiten von Männern privilegierenden Diskurses übereinstimmen, werden von der Kritik aus dem Kanon ausgeschlossen. Diese Problematik stellt sich sowohl, wenn man das von einer Frau geschaffene Werk analysiert, als auch a priori, wenn man versuchen will, das Phänomen des Schreibens überhaupt zu verstehen. Es ist noch nicht genügend darauf hingewiesen worden, daß sich lateinamerikanische Theaterautorinnen, bevor sie den kreativen Schreibprozeß beginnen, mit vorherrschenden theoretischen Modellen auseinandersetzen müssen, sei es, daß sie diese für sich akzeptieren, sie zurückweisen oder versuchen, sie zu erneuern. Es steht außer Zweifel, daß sich entweder die Übernahme oder die Ablehnung dieser theoretischen Modelle in ihren Texten niederschlägt, indem sie die Theorie bestätigen oder modifizieren. Daher muß notwendigerweise zunächst die Frage nach der Besonderheit der Arbeit von Frauen im lateinamerikanischen Theater gestellt werden. Vorliegender Beitrag möchte diese Notwendigkeit aufzeigen, damit sich die Kritik - sei sie feministisch oder nicht - dessen bewußt wird, sich dieses Forschungsobjekts annimmt und die Geschichte des lateinamerikanischen Theaters um die Analyse der besonderen Bedeutung der Arbeit von Frauen bereichert, die bis heute nicht nur ignoriert, sondern auch beiseite geschoben wird. Für die Theatertexte von Frauen könnte man geltend machen, was Juan Villegas (1986: 57) ganz allgemein in bezug auf das hispanoamerikanische Theater anführt:

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Juan Villegas: „La especificidad del discurso crítico sobre el teatro hispanoamericano", in GESTOS 1,2 (Nov. 1986), S. 57.

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Mein Interesse besteht darin, die Beschränkungen, Deformationen und negativen Auswirkungen aufzuzeigen, die die ausschließliche oder überwiegende Verwendung von Theorien, die weder auf dem hispanoamerikanischen kritischen Diskurs noch auf hispanoamerikanischen Theatertexten basieren, für die Lektüre und Geschichte des hispanoamerikanischen Theaters hervorbringen. Obwohl alle Texte, die in marginalen Kulturen produziert werden, durch die undifferenzierte Projektion von kulturellen, ästhetischen und ideologischen Codes anderer kultureller Räume deformiert werden können, sind die Folgen der unangemessenen Anwendung dieser Theorien im lateinamerikanischen Theater am deutlichsten erkennbar. (1986: 57) Die Analyse und Historisierung der Arbeiten von Dramatikerinnen vergangener Jahrhunderte und auch der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts gestaltet sich schwierig, weil es kaum Informationen über diese Autorinnen gibt. Fast als sollte der Eindruck erweckt werden, daß die Beteiligung von Frauen an der Theatergeschichte nicht völlig ignoriert wird, werden in Enzyklopädien und Theatergeschichten Lateinamerikas ab und zu einige wenige Namen von Autorinnen ausgegraben. Dennoch läßt sich sagen, daß viele Frauen die dramaturgischen Modelle des theoretischen Rahmens und des männlichen Theaterdiskurses akzeptierten, obwohl sie sich sonst gegen die Unterdrückung der Frau auflehnten - als wollten sie beweisen, daß sie diese Art zu schreiben beherrschen. Das ist beispielsweise im 17. Jahrhundert bei Sor Juana Inés de la Cruz der Fall und in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts bei der Kubanerin Gertrudis Gómez de Avellaneda sowie der Peruanerin Clorinda Matto de Turner. Eine Gruppe mexikanischer Schriftstellerinnen und Fachfrauen rief 1934 die Vereinigung ATENEO MEXICANO DE MUJERES ins Leben, u m

eine literarische Zeitschrift herauszugeben, eine Frauenuniversität und einen Verlag zu gründen. Zu den bis 1948 dokumentierten kulturellen Aktivitäten des ATENEO gehörten Vorträge, Konzerte, Ausstellungen, Radioprogramme und vieles mehr. Alle ihre Vorhaben sind realisiert worden; die Aktivität des Künstlerinnenvereins ist bis 1948 dokumentiert. Unter den Mitgliedern waren Amalia González Caballero de Castillo Ledón, Präsidentin des ATENEO und Gründerin von LA COMEDIA MEXICANA, die, bevor sie Kulturreferentin im Erziehungsministerium wurde, verschiedene diplomatische Ämter innehatte; Arlette (Pseudonym von María Aurelia Reyes), die nicht nur Theatertexte, sondern auch Lyrik und Romane schrieb; María Luisa Ocampo, Autorin von El corrido de Juan Saavedra, wovon noch die Rede sein wird; Concepción Sada, die

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zahlreiche Theaterstücke schrieb und die in ihrer Eigenschaft als Leiterin der SECCIÓN DEL TEATRO, dem heutigen INSTITUTO NACIONAL DE BELLAS ARTES, die Theaterbewegung Mexikos lenkte; und schließlich Elena Álvarez, Autorin der Revolutionsdramen Muerte por hambre und Un diálogo doloroso. Für die Zeit der 20er und 30er Jahre sind u.a. zu nennen: Anita Brenner, Julia Nava de Ruisánchez, María Enriqueta (Camarillo), Catalina D'Erzell und Margarita Ureta, eine Dramatikerin mit beeindruckender Laufbahn, die zu den Avantgardisten gezählt werden kann. Mitte dieses Jahrhunderts verfaßten nicht nur viele lateinamerikanische Theaterautorinnen, sondern auch Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen Theaterstücke. Die meisten dieser Werke sind heute schwer auffindbar. Zu diesen Autorinnen gehört neben der Kubanerin Theresa Casuso die Chilenin Isidora Aguirre. Zwischen 1944 und 1954 wurden die Stücke La primavera inútil, Casandra, Los años de prueba der nach Mexiko geflohenen Spanierin María Luisa Algarra inszeniert. Luisa Carnés, ebenfalls Spanierin, die in Mexiko Zuflucht fand, verfaßte das Theaterstück Vendedores de miedo. Ein Meilenstein in der argentinischen Theatergeschichte ist das Werk Los siameses von Griselda Gambaro. Die argentinische Lyrikerin Alfonsina Storni hat auch bemerkenswerte Theatertexte geschrieben, wie z.B. El amo del mundo und Dos farsas pirotécnicas. Gleichfalls als Lyrikerin bekannter, schrieb die Uruguayerin Juana de Ibarbourou 1945 Los sueños de Natacha für das Theater. Im brasilianischen Theater ragt Dinah Silveira de Queiroz mit O oitavo dia hervor. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts schrieb die Mexikanerin Rosario Castellanos neben ihrem Romanwerk zwei Bühnentexte, Salomé y Judit (1957) und El eterno femenino (1975). Ihre Theaterstücke sind deshalb so interessant, weil sie den Beginn und das Ende ihrer literarischen Produktion kennzeichnen. Elena Garro, deren Werke in den 50er Jahren aufgeführt und publiziert wurden, brachte den Surrealismus ins mexikanische Theater ein, während Luisa Josefina Hernández als erste Brechtsche Techniken anwandte. Die Aufzählung beende ich mit der kolumbianischen Schriftstellerin Albalucía Ángel, Autorin der Stücke Siete lunas y un espejo und La manzana de piedra, einer Theaterversion ihres Romans Misiá Señora. Seit den 70er Jahren vervielfältigt sich die weibliche Stimme im lateinamerikanischen Theater so sehr, daß eine Liste der Dramatikerinnen die Grenzen dieses Essays sprengen würde. Trotzdem darf nicht unerwähnt bleiben, daß in vielen amerikanischen Ländern Frauen nicht nur eine Vorreiterrolle spielten, sondern auch in vielen Fällen das Theater erneuerten. Das ATENEO MEXICANO DE MUJERES ist bis heute eine der wenigen Gruppenerfahrungen lateinamerikanischer Dramatikerinnen, denn im

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allgemeinen arbeiten Autorinnen eher für sich allein. Dies sieht man an ihren Biographien und Autobiographien. Vor allem bei den nicht zeitgenössischen Autorinnen fällt auf, daß ihre Arbeiten anders als die ihrer männlichen Kollegen nicht durch einen direkten (literarischen) Einfluß oder durch eine persönliche Beziehung zu anderen Autoren oder Autorinnen angeregt worden sind. Ihr Werk war Produkt einer Kombination zweier Faktoren: der Lebensumstände und der Intertextualität. Zieht man ihre Isolation in Betracht, so zeigt sich, daß die Autorinnen vergangener Jahrhunderte den männlichen Theaterdiskurs gemäß der Lektüre verarbeiteten, die ihnen zugänglichen war. Es wäre aber falsch zu glauben, daß die Übernahme eines theoretischen Modells immer auf die spätere Bestätigung des Modells hinauslief, oder daß eine rebellische Haltung immer zu einem neuartigen Text führte. Es ist nicht schwierig, Beispiele dafür zu finden, daß sogar die vollständige Übernahme von theoretischen Modellen zur Entstehung neuartiger Texte geführt hat. Aber es gibt auch Texte, die haargenau den vorgegebenen theoretischen Modellen folgen, obwohl sie von Dramatikerinnen geschrieben wurden, die eine auflehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft einnahmen. Als Schriftstellerinnen wollten sie ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, Werke zu schaffen, die sich mit den männlichen theoretischen Anforderungen messen konnten. Daher lassen sich in den Werken nicht zeitgenössischer Autorinnen viele intertextuelle Referenzen finden. Und daraus läßt sich schließen, daß diese Frauen bemüht waren, ihr kulturelles Wissen zu zeigen und sich in der stilistischen Strömung ihrer Zeit zu verorten. Wenn man aber Anthologien und Theatergeschichten sowohl des modernen als auch des historischen lateinamerikanischen Theaters und der einzelnen lateinamerikanischen Länder durchsieht, muß man feststellen, daß in den Anthologien Theaterstücke und in den Theatergeschichten Untersuchungen und Daten über dramatische Texte und Aufführungstexte2 von Autorinnen fehlen. Dies gilt sogar für Theaterstücke, die bei ihrer Aufführung vom Publikum und von der Presse anerkennend rezipiert wurden. Falls Werke von Autorinnen erwähnt werden, dann werden sie meistens nicht in die entsprechende ästhetische Bewegung eingeordnet, sondern des Geschlechts der Autorin wegen in einem gesonderten Kapitel aufgenommen, das dadurch einem textuellen Ghetto gleichkommt. Ich zitiere hier nur einige Beispiele. Die Anthologie El 2

Ich benutze die Terminologie von Fernando de Toro und spreche von dramatischem Text, wenn ich mich auf den geschriebenen Text beziehe, und von Aufführungstext, wenn ich mich auf die Theateraufführung beziehe, wozu nicht nur die linguistischen, sondern auch alle szenischen Codes gehören. F. de Toro: Semiötica del teatro. Del texto a la puesta en escena. Buenos Aires 1987.

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teatro hispanoamericano en el siglo XX 3 besteht aus 14 Texten in zwei Bänden, die alle von Männern verfaßt wurden. Alle Autoren, die Solórzano erwähnt, sind zwischen 1909 und 1931 geboren. Bedeutet dies, daß es in jener Zeitspanne keine einzige Frau gab, die es wert gewesen wäre, erwähnt zu werden? Sich selbst hat er natürlich aufgenommen! Ein anderes Beispiel ist die Reihe Teatro contemporáneo, erschienen bei Aguilar. Diese nach Ländern zusammengestellten Anthologien sollten besser „Teatro masculino contemporáneo" (zeitgenössisches männliches Theater) heißen. Denn in keinem taucht ein von einer Frau geschriebenes Stück auf. Ist es zu glauben, daß es in keinem der Länder Nord- und Südamerikas sowie Europas in unserer Zeit - es handelt sich um Anthologien des zeitgenössischen Theaters - ein einziges von einer Frau geschriebenes Theaterstück gibt, das Erwähnung finden könnte? Ortega y Gasset erklärte seiner Zeit, daß das Ich nicht vollständig ist, wenn es nicht seine sozialen, politischen, kulturellen, ethnischen, ökonomischen usw. Bedingungen einbezieht. Deswegen gibt es Fragen, die eine Frau, die schreibt und die die kulturellen Zustände, in denen sie lebt, analysiert, nicht umgehen kann. Dazu gehören: Was kann der Grund für solch eine Marginalisierung sein? Wie ist es möglich, sie zu beheben? Soll ich den Modellen des männlichen theoretischen Diskurses folgen oder soll ich versuchen, einen eigenen theoretischen Rahmen zu schaffen? Die Antwort, die jede Autorin auf diese und ähnliche Fragen gibt, wird mit Sicherheit die Art und Weise bestimmen, wie sie den Akt des Schreibens und dessen Gestaltung angeht. Hier wende ich mich von den hypothetischen Fragestellungen ab, um zu versuchen, die verschiedenen möglichen Antworten darzustellen. Da es die Antworten sind, die unterschiedliche Haltungen erzeugen und den kreativen Prozeß kennzeichnen, hilft diese Vorgehensweise, die Besonderheit der weiblichen Theaterarbeit zu umreißen. Mein Ausgangspunkt ist die Thematik der Theaterstücke, da die Themen, die eine Autorin interessieren, sich von denen, die einen Autor interessieren, unterscheiden können. Obwohl es vor allem Autoren gab, die rebellische Protagonistinnen wie die Antigone von Sophokles oder die Nora von Ibsen geschaffen haben, könnte man annehmen, daß Autorinnen die Thematik der Theaterstücke von Männern unvollständig finden. Schließlich kann ein Mann nicht über die Lebensumstände einer Frau aus der Perspektive einer Frau schreiben. Eine mögliche Antwort auf eine solche Überlegung könnte sein, daß die Autorin aus ihrer weiblichen Perspektive heraus jene Beschränkungen analysiert, die die Gesellschaft den Frauen auferlegt. Darum wird ihr Theaterdiskurs von der Haltung gekennzeichnet 3

Carlos Solórzano: Teatro en el siglo XX. Mexiko, Argentinien 1964.

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sein, die sie diesen Beschränkungen gegenüber einnimmt. Eine solche Haltung kann die vollständige oder teilweise Akzeptanz oder die vollständige oder teilweise Auflehnung gegen diese Einschränkungen sein. Wie dem auch sei, der Text, der aus ihrer Haltung entsteht, kann als spezifisch weiblicher Theaterdiskurs verstanden werden, da weder die Rebellion noch die Akzeptanz gegenüber den Lebensumständen einer Frau von einer männlichen Autorenstimme vereinnahmbar ist. Als Beispiele für diese speziellen Facetten des weiblichen Theaterdiskurses lassen sich die Texte El eterno femenino der Mexikanerin Rosario Castellanos4 und Solas en su madriguera der Argentinierin Cristina Escofet5 heranziehen. Die Art der Auflehnung ist bei beiden Autorinnen unterschiedlich. Castellanos akzeptiert ihre weibliche Identität und rebelliert gegen die Beschränkungen, die einer Frau durch ihr soziales Umfeld auferlegt werden. Escofet dagegen stellt ihre weibliche Identität in Frage und lehnt sich nicht nur gegen ihr soziales Umfeld auf, sondern auch gegen ihre eigene körperliche Geographie. Ich wußte auf unmittelbare Weise, daß das Wort nicht immer nennt, was es meint. [...] Mich nannten sie wie einen Mann, aber ich war eine Frau. Später verstand ich, daß ich mit einem schwachen Geschlecht und einem starken Mißtrauen geboren war. War ich denn wirklich ein Mädchen? [...] Mein Name war doch nur ein Etikett, eine verbale Tätowierung und schlimmer noch, mein Name war ein Wort, wie jedes andere auch, und mit Sicherheit versteckte es mehr als eine Bedeutung [...] Fataler Zusammenbruch. Ich befand mich nicht nur in totaler Unwissenheit über meine körperliche Geographie und ihren Ursprung, sondern auch im Mißtrauen gegenüber dem, was mich mit allem Bestehenden verband: das Wort. (1993: 9) In den Theatertexten beider Schriftstellerinnen fällt die Selbstbeobachtung ihrer indivuellen Erfahrung in einem ihnen feindlichen sozialen Kontext auf, gegen den sie sich auflehnen. In beiden Texten findet sich der Ansatz, eigene theoretische Modelle zu erstellen. Die kubistische Gestaltung der grotesken Figuren, die in El eterno femenino im Schönheitssalon vorüberziehen, ist mit der satirisch verfremdeten Figur der Schauspielerin verwandt, die in Solas en su madriguera für ihr Radioprogramm 4

Rosario Castellanos: El eterno femenino. Mexiko, Argentinien 1975.

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Cristina Escofet: Teatro completo. Volumen I: Té de tías.; Solas en su madriguera; Nunca usarás medias de seda; Ritos de corazón; Señoritas en concierto. Buenos Aires 1993.

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probt. Beide Texte entmystifizieren außerdem gesellschaftliche Institutionen und zeigen die Absicht, weibliche und männliche Lebensumstände neu zu gestalten. MEROLICO Meine Damen und Herren, sehr verehrtes Publikum, treten Sie ein, treten Sie ein, das außergewöhnlichste Phänomen der Welt zu bestaunen: die Frau, die sich aus Ungehorsam in eine Schlange verwandelt hat! Meine Dame, zeigen Sie dieses Beispiel Ihrer Tochter, um sie zu lehren, fügsam zu sein. Junge Frau, treten Sie ein, um sich in diesem Ganzkörperspiegel zu betrachten. Verehrtes Publikum: Dies ist ein Schauspiel für die ganze Familie, ein von den Behörden empfohlenes Schauspiel, sowohl von den geistlichen als auch von den weltlichen. Ein Schauspiel, in dem sich die Unterhaltung und die Lehre der heiligen moralischen Prinzipien verbinden. Amüsieren Sie sich und zeigen Sie Vaterlandsliebe, indem Sie helfen, die allerheiligsten Traditionen, von denen unser Wesen zehrt, zu bewahren. Für einen Peso schauen Sie genau hin! Für einen Peso bekommen Sie alles! Gesunde Unterhaltung und sicheren Schutz vor exotischen Ideen. (Castellanos 1975: 72f.) Es ist offensichtlich, daß Castellanos einen potentiellen Zuhörer aus dem Volk kreiert, an den sich ihre Botschaft richtet. Auch darin gleichen sich Castellanos und Escofet. Wenn die Sprecherin des Monologs in Solas en su madriguera in die Rolle des Senor Eduardo Motta am Tag seiner Graduierung in der , Universität der Ehe' schlüpft, dann ironisiert der Text die „hochheiligen Traditionen", die auch Castellanos beschreibt: Da ich den Akt des Mannseins ausübe, werde ich dieses kleine Gespräch mit einer Frage an meine Geschlechtsgenossen beginnen: Wieviele von Euch sind bereit, einen kleinen Wochenendausflug mit Eurer Frau zu machen? Keiner? Schwerer Fehler. Die Ehefrau ist kein Mantel, den man in den Schrank hängen kann, wenn man mit lüsternen, leichtfertigen Frauen ausgeht. Und sie? Werden sie so bleiben, wie sie sind, ergeben, während sie vom Kleiderschrank aus zusehen, wie die Motten die scheußlichen Anzüge ihrer Männer zerfressen? Sehr gut, ich muß berechnend und pünktlich sein. Ein Typ, der so vorgeht, verdient den Namen des gehörnten Ehemannes. Ich kenne sie im Überfluß, diese Charmeure, die am Tag der Hochzeit mit den Armen wie mit Windmühlenflügeln wedeln und wie Papageien wiederholen: „Du wirst ein Dienstmädchen haben, meine Liebe, du wirst ein Dienstmädchen haben", und später sitzen sie da, die Ärmsten, wie die Dul-

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cineas von der Nadel und vom Faden und unterdrücken das Niesen, damit die Herren ruhig schlafen können. (Escofet 1993: 79) Weitere Themen, die eine Besonderheit des weiblichen Theaterdiskurses sein können, sind die Mutterschaft, eine ausschließlich weibliche Erfahrung, und das Bild des Mannes aus der Perspektive der Frau. Innerhalb dieses Themenbereichs gibt es unzählige Unterthemen, wie das der Akzeptanz oder der Auflehnung gegenüber der „Unterwürfigkeit" und „Fügsamkeit", die von der Frau erwartet werden, die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit, der männlichen Herrschaft im Haus zu entkommen, die Ohnmacht gegenüber der brutalen Kraft des Mannes und viele andere Themen mehr. Solche Themen wurden im lateinamerikanischen Theater von Autorinnen verschiedener Epochen bearbeitet: von Sor Juana Inés de la Cruz im 17. Jahrhundert bis zu Autorinnen im 20. Jahrhundert. In vielen Fällen erneuern diese Texte den Stil ihrer Epoche oder nehmen zukünftige Entwicklungen vorweg. Dies wird aber bis heute nicht anerkannt. Dafür lassen sich neben anderen Beispielen zwei mexikanische Autorinnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nennen: Maria Luisa Ocampo mit El corrido de Juan Saavedra (1934) und Magdalena Mondragón mit La sirena que llevaba el mar (aufgeführt 1951). El corrido de Juan Saavedra von Ocampo gehört mit einem Protagonisten, der Emiliano Zapata repräsentiert, zum mexikanischen Revolutionstheater. Allerdings ist die Figur des Revolutionsführes nicht historisch-mimetisch nachgezeichnet, sondern idealisiert. In einer klassisch aristotelisch ausgerichteten Epoche bricht Maria Luisa Ocampo mit dem Kanon und nimmt Bertolt Brecht vorweg, indem sie ihren Text mit all den Merkmalen versieht, mit denen der deutsche Autor im Kleinen Organon sein eigenes Theater als episch kennzeichnen wird. Es ist aber unmöglich, von theoretischer Intertextualität zwischen beiden Autoren zu sprechen. Maria Luisas Text von 1929 entstand nämlich vor den theoretischen Essays Brechts, die zwischen 1930 und 1933 publiziert wurden, und vor dem Kleinen Organon für das Theater von 1948, in dem Brecht die Umrisse seines epischen Theaters und die Abgrenzung vom aristotelischen entwickelte. Als Ocampos Stück 1943 aufgeführt wurde, waren die frühen Texte Brechts noch nicht nach Mexiko gelangt und auch noch nicht ins Spanische übersetzt. 6 Der Text von Maria Luisa Ocampo weist 6

Die erste spanische Publikation, die die Unterschiede zwischen dem epischen und dem aristotelischen Theater, wie sie von Brecht in seinen verschiedenen Notizen und Aufsätzen entworfen wurden, nachzeichnete, erschien 1959 in Buenos Aires,

nämlich: Siegfried Melchinger: Bertolt Brecht. El teatro desde Bernhard

Bertolt Brecht. Buenos Aires 1959.

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ohne Einschränkung dieselben Wesenszüge auf, mit denen man insbesondere die Lehrstücke von Brecht beschreiben könnte: a. Diegese in abgeschlossenen Episoden, in denen jedes Motiv innerhalb eines jeden Bildes einer selbständigen Entwicklung folgt. Den Hintergrund der Handlung in El corrido de Juan Saavedra bestimmt die Entwicklung des Krieges, der in derselben Art und Weise beschrieben wird wie beispielsweise in Brechts Mutter Courage. Anders als im aristotelischen Theater steht nicht die Entwicklung eines einzelnen Konfliktes im Mittelpunkt, dessen Intrige sich bis zur Auflösung auf einen Höhepunkt zu bewegt. Die strukturelle Unabhängigkeit zwischen den Bildern ist im Werk von Ocampo sogar größer als in Mutter Courage, wo innerhalb der allgemeinen Diegese der Tod der Söhne im Krieg der Klimax eines eigenständigen Konfliktes nahekommt. b. Einführung einer Erzählstimme: Der Sänger-Erzähler kündigt an, was sich ereignet hat oder ereignen wird. c. Verwendung einer Umgangssprache, die an ein volkstümliches Publikum gerichtet ist. d. Unterbrechungen der Handlung durch Lieder und Tänze. e. revolutionäre Ideologie: In jedem Bild wird eine Form sozialer Ungerechtigkeit angeklagt. Juan Saavedra lehnt sich gegen die Ungerechtigkeit auf, indem er sich auf die Seite der Unterdrückten und gegen den Machtmißbrauch stellt. f. die Absicht, aus dem Zuschauer einen Beobachter zu machen: Die Aktivität des Beobachters wird angeregt. Er wird bei der Präsentation eines Weltbildes, das sein Bewußtsein gegenüber der Handlung weckt, gezwungen, Entscheidungen zu treffen. g. didaktische Absicht: Durch die Einführung eines Subtextes soll der Zuschauer soziales Bewußtsein entwickeln und dazu befähigt werden, in seinem Umfeld die Ungerechtigkeiten aufzudecken, denen er unterworfen ist. Auch wenn Ocampo weder einen theoretischen Diskurs über ihr Theater schreibt noch von der Distanzierung des Zuschauers von den Figuren spricht, wie das Brecht tut, so produziert doch die Gesamtheit dieser Chrakteristika dieselbe Wirkung, nämlich einen Bruch im Mitleid des Zuschauers und die Aufhebung der Katharsis. Es ist ganz außergewöhnlich, daß zu derselben Zeit, in der Brecht seine Texte schreibt, in Mexiko eine Art von Theater entsteht, die dem Brechtschen Theater so sehr ähnlich ist, ohne daß es möglich wäre, eine Form von Intertextualität festzustellen. Der spezielle Unterschied zwischen den Werken von Brecht und Ocampo ist, daß Brecht sich an die Arbeiterklasse im allgemeinen (nicht nur an die deutsche) wendet. Die folkloristischen Elemente im Theater von Maria Luisa Ocampo dagegen scheinen sich mehr

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an ein speziell mexikanisches Publikum zu richten als an eine universelle proletarische Klasse. Der dramatische Text La sirena que llevaba el mar von Mondragön wurde 1945 geschrieben und 1950 - d.h. im selben Jahr wie Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco -, dem Geburtsjahr des absurden Theaters aufgeführt. 1959 bringt Ionesco Die Nashörner auf die Bühne. Von dem Stück La sirena que llevaba el mar läßt sich sagen, daß es die Allegorie von Ionesco vorweggenommen hat. Wie sich Ionescos Theater nicht ohne Existentialismus und Surrealismus erklären läßt, kann Mondragöns Theater nicht ohne den mexikanischen Kontext, ohne die magische indianische Welt verstanden werden. Nicht nur die Unterschiede, sondern auch die Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten weisen auf die Besonderheiten des weiblichen und des männlichen Diskurses hin. In Die Nashörner widersteht der Protagonist Bérenger, anders als seine Umgebung, die sich mit dem Virus des Faschismus infiziert, der daraus folgenden Verwandlung in ein Nashorn. Der Virus kann als die Akzeptanz einer jeden Form von Totalitarismus verstanden werden, der aus den verschiedenen Völkern eine homogene Masse macht. Bérengers Widerstand ist eine Auflehnung gegen dieses Zur-Masse-Werden des Menschen und ein Aufschrei der Unabhängigkeit. Wie häßlich ich bin! Elend über den, der seine eigene Art bewahren will! Erfährt plötzlich auf. Nun gut! Ich verteidige mich gegen alle Welt! Mein Gewehr! Mein Gewehr! Gegen alle Welt werde ich mich verteidigen, gegen alle Welt. Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben müssen bis zum Ende! Ich kapituliere nicht! 7 Wenn Bérenger als einziger in einer Menge von Nashörnern verbliebener Mensch - hier vertreten durch einen Mann - ein letztes Mal aufschreit, dann verhält es sich damit wie mit dem Bild von Nereidas Verwandlung in eine Sirene in Mondragöns Stück. Beides ist Ausdruck einer Auflehnung, die allerdings durch gegensätzliche Handlungen zustandekommt: Bérenger wird nicht verwandelt, und er wünscht es sich auch nicht. Nereida dagegen beginnt sich zu verwandeln und akzeptiert die Verwandlung, die allerdings unvollständig bleibt. Nereidas Wunsch, sich in eine Sirene zu verwandeln, repräsentiert ihre Auflehnung gegen die Ehe und zugleich ihr Bestreben, das vom Mann ersehnte weibliche Ideal zu verkörpern.

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Eugène Ionesco: Die Nashörner. Frankfurt/Main 1996, S. 110.

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Auch die Resultate beider Handlungen verhalten sich spiegelverkehrt zueinander: Bérenger triumphiert in seinem Wunsch, sich nicht zu verwandeln, während Nereidas Versuch, sich zu verwandeln, scheitert. Im Text von Ionesco übertragen die Nashörner ihre Irrationalität. Der Gesang der Sirenen, die Nereida zur Verwandlung einladen, ist dagegen ein Aufruf zur Rebellion gegen die konformistische und unterwürfige Rolle, die die patriarchalische Gesellschaft der Frau hegemonial auferlegt. [...] Sie wollen einfach nicht verstehen, daß ich keine Frau mehr bin, daß ich eine Sirene bin und daß sich nach und nach die Verwandlung in mir vollzieht. In einigen Tagen werde ich mich im Meer für immer verlieren. JOSÉ Würdest du fähig sein, mich zu verlassen? N E R E I D A E S ist eine Kraft, stärker als ich. In den Nächten rufen mich die Sirenen. Hör doch, erlauschst du sie nicht? JOSÉ Ich höre gar nichts. Jetzt haben auch schon deine Füße phosphoreszierende Farben. N E R E I D A Und mein ganzer Körper. Sieh nur meine Beine. NEREIDA

[...]

JOSÉ Immer schon wollte ich eine Sirene sehen... aber ich will nicht, daß es sich dabei um meine Frau handelt. (1951: 28) Diese letzte Äußerung des Ehemannes ist der Schlüssel zum Verständnis von Nereidas Umwandlung. In Bérengers Umfeld bedeutet die Verwandlung aller Personen die Akzeptanz des sozialen Strebertums. Nereida aber möchte die vom Mann erträumte Weiblichkeit verkörpern. Wie das Mädchen in der Erzählung von Maeterlinck, das auszieht, den blauen Vogel zu suchen, ohne zu sehen, daß sie ihn in einem Käfig in ihrem eigenen Zuhause hat, sucht der Mann nach der idealen Frau außerhalb der Ehe. Das bedeutet, die Aussage des Stückes von Mondragón ist spezifisch weiblich. Sie entsteht unmittelbar aus der Sichtweise, die die Frau auf ihre Ehe im besonderen und auf die patriarchalische Gesellschaft im allgemeinen hat, sowie aus der Situation, die sie dazu bringt, sich trotz ihrer Versuche, sich aufzulehnen, der Diktatur des Ehemannes zu unterwerfen. Dagegen ist die Aussage des Stückes von Ionesco nicht spezifisch männlich, da Bérenger jedes menschliche Wesen repräsentieren kann, egal ob Mann oder Frau, das sich weigert, in einer verrückt gewordenen Gesellschaft zu resignieren. Bezüglich des historischen Rahmens und der Rezeption zeigt sich in beiden Texten eine intertextuelle ästhetische Beziehung zum Surrealismus. Jedoch taucht die Thematik der Verwandlung eines Menschen zum

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Zwecke der Darstellung von Widerstand in La sirena que llevaba el mar fünfzehn Jahre früher auf als bei Ionesco. Es drängt sich also die Frage auf: Wurde Magdalena Mondragön für die Erneuerung der Dramatik anerkannt? An dieser Stelle bietet es sich an, zu Juan Villegas Einteilung der Theaterkritik in vier Gruppen überzugehen. Demnach gibt es folgende Formen des kritischen Diskurses: a. hegemonial, b. verdrängt, c. marginal, d. unterdrückt.8 Diese Einteilung basiert auf einer ideologischen historisierten Beziehung. So entspricht der hegemoniale kritische Diskurs der „kulturell dominanten diskursiven Praktik der Macht innerhalb einer sozialen Formation". (1988: 108) Zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verliert der verdrängte kritische Diskurs seine Gültigkeit wegen eines Wechsels im sozialen System. Ein Beispiel dafür ist der sozialistische Realismus, dessen Kanonizität in der Sowjetunion und in den sozialistischen Blockstaaten bei der Auflösung der Sowjetunion und der Demokratisierung der neuen Nationen verdrängt wurde. Diese beiden ersten Kategorien hängen folglich direkt von der Macht ab, die in der Lage ist, kanonbildend zu wirken. Die Marginalität eines kritischen Diskurses dagegen hängt nicht so stark von ihrem Sender, zum Beispiel vom Theaterautor und von der Marginalität der möglichen Empfänger ab, an die sich sowohl der dramatische Text als auch der Kritiker richtet. Die Unterdrückung eines kritischen Diskurses schließlich ist deutlich ideologisch bedingt. Er wird in den Bereichen der Politik, der Moral oder der Ästhetik wegen seiner von den hegemonialen Codes abweichenden Konzepte für verboten erklärt. Paradox ist, daß die diskursive Praxis der vier Kategorien den weiblichen Theaterdiskurs in marginalen Schubladen mit aufgezwungenem oder falschem Etikett abgelegt, wenn nicht gar vergessen hat. Daß das Theater von Frauen vom kritischen Diskurs nicht anerkannt wird, hängt wahrscheinlich mit der ideologischen diskursiven Praxis der Kritik zusammen. Dort bündeln sich die Machtstrukturen zwischen den sozialen Gruppen, wobei das männliche Kollektiv als herrschend und das weibliche als beherrscht zu verstehen ist. Nur deshalb ist nachvollziehbar, warum der Kritiker Armando de Maria y Campos einen modernen und die Theaterästhetik erneuernden Text wie den von Maria Luisa Ocampo als eine „lebendige Ansammlung von Kriegsfolklore"9 abgewertet hat, obwohl sich das Stück mit den Ungerechtigkeiten auseinan8

Juan Villegas: Ideología y discurso crítico sobre el teatro de España y América Minneapolis 1988, S. 108.

9

Armando de María y Campos: El teatro de género dramático en la Mexicana. Mexiko 1957, S. 229.

Latina.

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dersetzt, die sich während der mexikanischen Revolution zugetragen haben. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß - will man Antworten auf die Problematik der Besonderheit und der Rezeption der Theaterarbeit von Frauen finden - zuerst folgende Fragen gestellt werden müssen: Wie erkennt man die Besonderheit des weiblichen Theaterdiskurses und wie ist sie zu bewerten? Wenn man dem zustimmt, daß der Kanon seine historischen Bedingungen aufnimmt, warum sind dann die Thematik, die Interessen und der theoretische Rahmen von Texten, die von Frauen geschrieben werden, nicht kanonisch? Wird die postmoderne Kritik fähig sein, die Rolle zu würdigen, die der weibliche Theaterdiskurs im lateinamerikanischen Theater gespielt hat? Um Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, müssen wir alle Diskurse vom Anfang an befragen. Deutsch von Marion Alexandra Herz Literaturverzeichnis Castellanos, Rosario : El eterno femenino. Mexiko, Argentinien 1975. Escofet, Cristina: Teatro completo. Volumen I: Té de tías; Solas en su Madriguera; Nunca usarás medias de seda; Ritos de corazón; Señoritas en concierto. Buenos Aires 1993. María y Campos, Armando de: El teatro de género dramático en la Revolución Mexicana. Mexiko 1957, S. 229. Villegas, Juan: Ideología y discurso crítico sobre el teatro de España y América Latina. Minneapolis 1988, S. 108. Marcela Del Río, mexikanische Schriftstellerin, Regisseurin, Malerin. Dr. phil. der University of California in Irvine, USA. M.A. für hispanische Literatur und Geschichte an der Universidad Nacional Autónoma de México. Professorin an der ESCUELA TEATRAL DE BELLAS ARTES u n d d e r ESCUELA DE ESCRITORES DE LA SOCIEDAD GENERAL DE ESCRITORES DE MÉXICO, die sie m i t g e g r ü n d e t h a t . Seit 1990

Professorin an der University of Florida in Orlando. Publikationen: Proceso a Faubritten (Roman). Mexiko 1976; La cripta del espejo (Roman). Mexiko 1988; Perfil del Teatro de la Revolución Mexicana. New York, Frankfurt, Wien, Paris, Bern 1993 (2. Auflage Mexiko 1997). Theater: (u.a.) El pulpo - Tragedia de los hermanos Kennedy (Premio Juan Ruiz de Alarcón'). Mexiko 1970; De camino al concierto (Premio Internacional ,Cesar', Los Angeles) 1984; Tlacaélel; Miralina; Claudia y Arnot; Entre hermanos; Año nuevo, vida nueva; Fraude a la tierra. Mexiko 1957-1964. Lyrik: Homenaje a Remedios Varo. (Premio ,Letras de Oro', USA) 1993; Trece cielos. (Premio ,Olímpico') México 1970; Temps en paroles 1960-1983 (zweisprachige Ausgabe, Paris).

Nieves Martínez de Olcoz

Auf den Körper geschrieben: Frau, Nation, Gedächtnis In den letzten zwanzig Jahren vollzog sich auf der lateinamerikanischen Bühne ein bedeutender Wandel der Repräsentationsweisen, der nicht zuletzt von dem - sehr politisch geprägten - Theater ausgelöst wurde, das Frauen geschrieben u n d gemacht haben. U m dieses besondere Phänomen in der lateinamerikanischen Dramatik vom Ende des 20. Jahrh u n d e r t s näher zu bestimmen, möchte ich die Kategorie Körper des Schmerzes einführen. 1 Bestimmungsmerkmale dieser Kategorie der Repräsentation sind: eine Position des weiblichen Schreibens, die den Rahmen der Textualität festsetzt; die Wahl des Körpers der Frau als Figur der Repräsentation u n d als Ort der Allegorisierung dessen, was in der Kultur ausgehandelt wird; die Gewalt in der Repräsentation dieses Körpers als Moment der Bezeichnung eines dunklen Körpers, einer Art Schatten, bzw. eines Körpers des Schweigens, den der klassische Körper der Kultur f ü r seine eigene Definition u n d Existenz benötigt. 2 Die besondere Bedeutung der Verbindung zwischen der weiblichen Position des Schreibens u n d der Wahl einer Repräsentationsmetapher, die unter demselben Zeichen steht, besteht darin, daß diese V e r b i n d u n g es ermöglicht, mittels autobiographischer Transzendenz eine Revision der Artikulationspositionen (posiciones enunciativas) einzufordern u n d den Artikulationsgestus in einem sozialen Kommunikationspakt neu zu formulieren. Schließlich seien auch noch die besonderen Episteme unseres fin de siécle u n d der performative Charakter ihrer Codes als Bestandteile der Kategorie Körper des Schmerzes genannt. Die Dramatik der Frauen tritt in die vielleicht umstrittenste kulturelle Debatte der Postmodernität ein: die Debatte über die verschiedenen Arten der Subjektivierung des Menschen und, ganz konkret, über die Technologien der Macht, denen dieser Prozeß der Subjektivierung unterliegt. 3 Als Narrativ (relato) ist das weibliche Subjekt eng mit einer weiteren Kategorie verbunden: der des nationalen Subjekts. Beide, das weibli1

Das Echo auf Elaine Scarrys The Body ofPain (1985) ist für die Auseinandersetzung mit d e m Konzept der Repräsentation in der Dramatik v o n Frauen in den achtziger Jahren v o n wesentlicher Bedeutung gewesen.

2

Für das Vokabular und die Kategorien der Kulturtheorie verweise ich auf die kanonische Studie v o n Peter Stallybrass und Allan White (1986).

3

Die im Verlauf des vorliegenden Essays skizzierte Theorie der Repräsentation gründet sich auf das Denken Michel Foucaults und auf die post-foucaultsche Dialektik der gender-studies, die vor allem mit den N a m e n v o n Judith Butler und Teresa de Laurentis verbunden ist.

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che wie das nationale Subjekt, werden über die genealogische Forschung konstruiert, die Michel Foucault begründet hat, d.h. über die Infragestellung der politischen Verhältnisse, die das als Ursprung und Ursache von Identität bezeichnen, was eigentlich nichts weiter als der Effekt der diskursiven Praxis derjenigen Kräfte und Institutionen ist, die das Zentrum der Artikulationen besetzen. Es geht deshalb darum, die Produktionsweisen (der Subjektivität) ebenso aufzudecken wie die Strategien, die angewandt werden, um die Positionen der Artikulation zu verschieben, und zwar im Sinne einer Kultur der Verschiebung (cultura del desplazamiento), die neue und legitimere Formationen hervorzubringen vermag. Dabei gehe ich von folgender Prämisse aus: In den Narrativen der Identität teilen die Kategorien Frau und Nation eine gemeinsame materielle Grundlage der Repräsentationen: das Gedächtnis des Körpers. Die Dramatik von Frauen, von Mittelamerika bis zum Cono Sur, stellt beiden Kategorien am Ende dieses Jahrhunderts ihr Theater zur Verfügung, um Anspruch auf den Prozeß der Repräsentation des Gedächtnisses des Körpers zu erheben. Dies sind die verschiedenen Kapitel der Geschichte von Frau und Nation am Ende unseres Jahrhunderts, auf den Körper geschrieben. Die Stimme ihres Herrn Die Autorinnen, von denen hier die Rede sein wird und die als sogenannte „Endzeit"-Generation über die unmittelbare Gegenwart der Postdiktatur und über die Unantastbarkeit des estado continuista4 schreiben, vermeiden das Plakative, beanspruchen aber - in Verteidigung der Intersubjektivität -, die Stimme eines neuen kollektiven Projekts zu sein. Alle diese Autorinnen sprechen aus sehr soliden kulturellen Positionen heraus. Sie sind mit Universitäten, Medien oder Publikationsorganen verbunden oder bekleiden leitende Positionen im Geschäftsleben und im Kulturbetrieb. Im allgemeinen wird ihre Stellung als „integrierte Randposition" bewertet bzw. selbst so von ihnen eingeschätzt; eine Randposition, die, ihrer Andersartigkeit immer bewußt, nie aufhört, eine solche zu sein, und die erlaubt, sich abweichend zu verhalten; ein schwieriges Alibi für die Kombination von Subjektivität und Solidarität. Denn die Herrschaftsformen sind in ihrer Entwicklung steckengeblieben, und das große Imaginationsrepertoire der 60er Jahre hat seine Funktionalität eingebüßt. Die Stimmen des Patriarchen und des Guerillakämpfers kommen in den neuen Abhandlungen über das Vaterland nicht mehr vor. 5 4

Der Staat, der im demokratischen Übergangsprozeß nach der Diktatur an alten undemokratischen Praktiken festhält. (Anm. d. Übers.)

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Meine kulturpolitische Argumentation schulde ich Josefina Ludmer (1988).

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Die Staatsepik des 19. Jahrhunderts und der revolutionäre Diskurs der 60er Jahre haben einen Zyklus vollendet und müssen sich nun in die demokratische Utopie der 80er Jahre einschreiben.6 In dieser Apologie der Krise stehen Namen wie die der Mexikanerinnen Sabina Berman, Carmen Boullosa oder Maruxa Vilalta, der Argentinierinnen Griselda Gambaro oder Diana Raznovich, der Chilenin Isidora Aguirre, der Puertorikanerinnen Teresa Marichal und Myrna Casas für die Suche nach einem Narrativ der Identität, das klar definierte Merkmale aufweist: bürgerlich, dazugehörig, mächtig. Es geht hier um die Besetzung eines Diskurses kultureller Legitimität und Autorität auf der Basis des Prinzips der Dazugehörigkeit, das eben nicht ausschließend verfährt. Die neuen Inszenierungen suchen die Erlösung des fragmentierten politischen Körpers nicht über seine weitere Zerstückelung, sondern über seine schwierige Wiedereinschreibung (reescritura). Die junge Mexikanerin Sabina Berman bietet eines der intelligentesten und klarsten Beispiele der neuesten Dramatik von Frauen auf dem Weg der Eroberung neuer Repräsentationsweisen. Die Stücke von Berman veranschaulichen geradezu die einzelnen Etappen der rhetorischen Bewegung der reescritura. Bermans bekanntes Stück El suplicio del placer (1984-87)7 nimmt für die Bühne der 80er Jahre in der Verknüpfung von rhetorischem und sexuellem Genus eine gewisse Modellfunktion ein und eröffnet damit eine Debatte, der sich in Argentinien Diana Raznovich anschließt und deren Höhepunkt in Mexiko mit dem Kabarett von Jesusa Rodriguez und ihrer Gruppe DIVAS erreicht wird. 1991 erscheint die zweite Version eines weiteren Stückes von Berman, Muerte subita, mit dem die Autorin ein weiteres entscheidendes Argument in die Auseinandersetzung über die Macht des Diskurses einbringt.8 6

Vgl. dazu Nelly Richard (1994) und ihre strategische Einschätzung der lateinamerikanischen Funktion des anderen und peripheren Wesens auf dem Spielbrett unseres Jahrhunderts. Ebenso George Yúdice (mit Jean Franco und Juan Flores, 1992): „Rethinking democracy outside of the terms set by the grand récit of modernity is an enterprise many Latin American social movements see as necessary." (7)

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„Quälende Leidenschaft", in Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. von Heidrun Adler und Víctor Hugo Rascón Banda, Berlin 1993, S. 167-190.

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An dieser Stelle sei kurz der Handlungsablauf des Stückes zusammengefaßt: Andrés hat mit seinem Erstlingsroman einen schnellen Erfolg erzielt. Er lebt zusammen mit Gloria in einem Abbruchhaus in Mexiko-City. Sie sind ein vollkommen ungleiches Paar, aus intellektueller (Überlegenheit von Andrés) und aus ökonomischer Sicht (Geld und Establishment auf der Seite Glorias). Während Andrés vergeblich versucht, einen zweiten Roman zu schreiben, bekommt er Besuch von Odiseo, einer bedrohlichen Figur mit nicht ganz deutlicher Verbindung zu Andrés (Anspielungen lassen auf Homosexualität schließen). Er ist ein dunkles Tier, ge-

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Muerte súbita ist ein Stück über Macht und Entweihung, über die Gewalt von Veränderungen, über das Gesetz, das in den Körper eingeschrieben ist, eine radikale Infragestellung illegitimer und ausschließender Positionen der Artikulation. Im Mittelpunkt des Stückes stehen die Besessenheit vom Schreibprozeß und die Rolle, die verschiedene symbolische Identitäten darin spielen können. In dem Dreieck der Rollenverteilung des Stückes ist Gloria die einzige weibliche Figur, eine Frau im Umbruch, ein Schmetterling ohne Bösartigkeit, deren wirkliche Geschichte andere Stücke zu schreiben haben. Gloria hat den Mut zur Entscheidung, zum unmittelbaren Aufgeben ihres weiblichen Charmes und zur Fortsetzung gewisser Etiketten weiblichen Schreibens, die den Handlungsablauf auf entscheidende Weise bestimmen können: ihre Beherrschung der Genres der Alltäglichkeit, ihre Macht über das Universum der Häuslichkeit, ihre distanzierende Maske der Frivolität, ihre Erfahrungen mit der Intimität, eine einladende Sicherheit, von der sie sich auch losmachen kann, und ihre imbewußte - wie eine zweite Haut wirkende - Sensibilität für die drohende Klaustrophobie des reduktionistischen Stigmas, das wie ein System von Worten funktioniert. Gloria wird zu einer verfremdeten Figur - objektiviert in der physischen Realität von Andrés, immer dann gebremst, wenn sein Diskurs beginnt - um zu einem Schlüssel zu werden, zur Waffe der Infiltration des dunklen Verfolgers Odiseo in die Welt des Schriftstellers (beinahe eines Llosaschen Schreibers). Die Transaktion zwischen den semantischen Universen beider Männer wird sich über den Körper Glorias vollziehen, ein Schlachtfeld der Verhandlung von Differenzen: Frau-Grenze, Brücke, Schlüssel, Riß in einer perversen Artikulation. Gloria ist Mittlerfigur, ein authentisches Gebiet, das niemandem gehört und das zwischen den zwei miteinander im Streit liegenden semantischen Welten liegt, die von Andrés und Odiseo verkörpert werden. Andrés hat sich in das Zentrum kultureller Artikulationen gedrängt, denn er will ein Teil des orthodoxen Kulturkörpers sein. Gloria dient - dank ihrer Klassenzugehörigkeit - als Ausweis und Garantie dieses status quo. Sie ist die Gefährtin, die den Zugang zu den höheren Kreisen der Führerschaft und Entscheidungsgewalt ermöglicht. Der Preis, den der Autor für seinen walttätig und strahlend, von dem Andrés mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung auf seltsame Weise abhängig ist. Im Verlauf des ersten Aktes entzieht Odiseo dem Schriftsteller immer mehr Grundlagen seines Lebens, angefangen bei Gloria. Dabei nimmt er allmählich den gesamten Bühnenraum ein und zerstört schließlich das Romanmanuskript und markiert Andrés' Körper. Er läßt ihn im Zustand äußerster Nacktheit und Verletzbarkeit zurück, jetzt, kraft des vorangegangenen Rituals an einem Punkt größter Ehrlichkeit und authentischen Schreibens.

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Platzwechsel zu zahlen hat, ist der reelle Verlust der legitimen Repräsentationsweisen, ohne die literarische Autonomie und kreativer Prozeß nicht möglich sind. Diese Zwitterposition klagt die schwarze Stimme des Odiseo an. Odiseo ist die Bedrohung dieser liminalen Welt, das corpus delicti, ohne das das kulturelle Zentrum keinen Bestand hätte und zu dem es zurückzukehren gilt, um sich zu erneuern oder zu sterben. Die großbürgerliche Gloria und die Randexistenz Odiseo gehen eine Art Bündnis oder Komplizenschaft ein, in einem Akt des Widerstands gegen den klassischen Kulturkörper, der sie instrumentalisiert und in den Andrés auf illegitime Weise eindringen möchte. Beide sind groteske Körper, derer sich die großen kulturellen Formationen für ihre Repräsentationen bedienen, um sie auszulöschen oder mit ihnen zu paktieren. Das Stück nimmt das Zusammentreffen der drei Figuren zum Anlaß, den Sinn des Paktes zu ändern. Mit Odiseo kann Gloria durch die diskreteste Entweihung zum Infiltrationsgebiet werden. Durch Gloria wiederum wird der Körper von Andrés - zentripetal und inklusiv berührt bzw. buchstäblich markiert, eben über die Entweihung des ausgeschlossenen Körpers. Ihre Strategie folgt der Devise Macht oder Entweihung (poder o profanación) ganz nach Luis Cernudas Alternative von Wunsch oder Wirklichkeit, und sie funktioniert: zwei Geschichten für einen kurzen Moment in einem Konzept vereint (Kopulation statt Separation), die ihre Differenzen gleichzeitig erhalten und fesseln, sie quasi mit der poetischen Gerechtigkeit des Konsenses zu einer körperlichen Einheit führen. Es ist die Gleichzeitigkeit von Gedächtnis und Konstruktion, die von Gloria und Odiseo auf dem schwarzen Untergrund von Andrés ausgetragen wird, eine Konstruktion, die buchstäblich auf dem plötzlichen Tod (muerte súbita) des Autors errichtet wird. Bevor der vernarbte Körper von Andrés gefunden wird, verläßt Gloria die Bühne mit einer neuen Inschrift, für ein authentischeres Schreiben, für eine legitimere Repräsentationsweise. Aber vor ihrem Abgang ist die Kollaboration dieses irritierenden und gleichzeitig prototypischen weiblichen Charakters notwendig gewesen, um den allgemeinen Ruin der Repräsentationen herbeizuführen. Ihre Vereinigung mit Odiseo hat die Tür für das Ritual der Verschiebung geöffnet, für das notwendige Zerbrechen des Körpers, für eine gewisse performative Gewalt, die es möglich macht, einen eigenen linguistischen Raum zu erobern, der zwar einzigartig und definitorisch ist, aber von anderen geteilt werden kann. 9 Ihr Körper ist für die Opferung des heiligen Textes notwendig gewesen, aber sie hat sich nicht erlauben können, sich an 9

Zu Gewalt und performance vgl. Sue-Ellen Case und Janelle Reinelt (1991).

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einer reescritura zu beteiligen. Berman ist es gelungen, in der wenig flexiblen Rollenverteilung des mexikanischen narrativen Codes dem Zuschauer den mühsamen Weg der Frau von der Imagination in die Geschichte zu zeigen. Indem Berman einen Blick zurück auf das Ideal der Nation wirft, um zu entdecken, daß es erdichtet oder durch die Faszination für die Ökonomie der Häuslichkeit mit der Familienromanze verschworen ist, begeht sie die Sünde des Orpheus. Aber die Frau hat jetzt die Möglichkeit der Erkenntnis; die Möglichkeit, das Wissen des Anderen kennenzulernen und zu revidieren, und zwar in der Dienerrolle der Transkription. Dies geschieht in Entre Villa y una mujer desnuda (1992)10. Adrián und Gina tragen hier einen harten Rhetorikwettstreit aus. In ihrer Beziehung voller Manipulationen und Täuschungen hüllt Adrián Ginas Körper in eine zwischen dem Morbiden und Karikaturesken angesiedelte diskursive Umarmung, die ihre Bewegungsfreiheit auf der Bühne einschränkt. In den Fallen der Sprache verliert Gina ihre Stimme, und Adrián nimmt ihren Körper. In den Intervallen dieses Melodramas der Erinnerung leidet Gina unter einer weiteren tödlichen Stille: Sie transkribiert die Verlagskopie eines Manuskripts, eine fiktive Biographie Pancho Villas aus der Feder von Adrián. Sie ist als Abhandlung über das Vaterland geschrieben, die den gefallenen und verratenen Imaginationen der 60er Jahre entspringt. Ginas Geliebter hat etwas mit dem Revolutionshelden gemeinsam, was Paul de Man (1981) „autobiography as defacement" nennen würde, einen der Dynamik des Textes inhärenten Widerspruch: Das Subjekt schreibt und schreibt gleichzeitig sich selbst, weil es mit seiner Erzählung all den diskursiven Formationen zu entrinnen versucht, die es als Subjekt definieren. Aber das rhetorische Netz des Textes verstrickt es wieder in ein neues Diskursmodell, hält ihm einen anderen Spiegel der Erkenntnis vor, dessen Repräsentationsmöglichkeiten genauso fehlerhaft sind und der eine geschlossene oder totale Erzählung genauso wenig zu leisten vermag. Die Transkriptorin lernt die nationale Autobiographie Mexikos gründlich kennen. Sie bekommt sie direkt in ihrem eigenen Wohnzimmer in einem witzigen, von Berman geschaffenen Metatheater vor Augen geführt. Gina macht eine regelrechte Katharsis der Sprache durch, wird Stück für Stück mit der Erneuerung des Identitätsdiskurses konfrontiert, und zwar nicht als Genre oder Schreibmodus, sondern - ganz im Sinne de Mans - als eine Art Lektüre oder Auffassung des Subjekts 10 ,/Pancho Villa oder die nackte Frau", deutsch von Elisabeth Müller, in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, hrsg. von Heidrun Adler und Kati Röttger. Frankfurt/Main 1998, S. 251-298.

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mittels der referentiellen Angst der fiktionalen Figur. Mit Villa stirbt eine Figur des Diskurses auf der Bühne, ein nationaler Mythos, ein Narrativ der Identität, zusammen mit ihrer Sprachpolitik. Wie Foucault in seinem Werk Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin11 darlegt, läßt sich Individualität nicht als reiner Ursprung denken, verhüllt, verzerrt oder unterdrückt durch die sozialen und historischen Verhältnisse. Vielmehr sind diese Verhältnisse in Villa der eigentliche Stoff der Entstehung (formación) der Individualität. Berman nimmt hier die Handlung von Muerte súbita wieder auf, um sie zu erweitern: Der homogene und hegemoniale kulturelle Diskurs muß bis zu seinem Äußersten gehen, um den Randbereich wieder in die Definition seines Zentrums einzugliedern. In beiden Werken Bermans handelt es sich um den messianischen Prozeß einer perfekt allegorisierten Kultur. Villa ist die Stimme einer Revolution, deren politische Ziele verfälscht, brüchig und orientierungslos geworden sind, Symbol so vieler nationaler Narrative, die für den kulturellen Diskurs jedoch nicht mehr als Garanten funktionieren. Adrián ist nichts weiter als der entautorisierte Informant in dieser polemischen Zurschaustellung von Spiegelfechtereien und Mißerfolgen, die die institutionelle rhetorische Oberfläche aufbrechen läßt - die Glocke des Schweigens des PRI -, indem sie die Aporien der Revolution anklagt, d.h. die zahlreichen ausgeschlossenen Gruppen, die das „Wir" der Revolution zum Projekt des modernen Staates erst gar nicht zugelassen hat. In gewisser Weise greift die - weibliche, negative, transgressive Transkription, die verantwortete Darstellung, die Gina schließlich in einem Theater der Hindernisse, dessen Gegenstand die Sprache ist, aus Adriáns Text herstellt, direkt das Archiv des Geschlechts und der Nation an. Zugleich wird eine neue Archäologie des Wissens gefordert, die die Referenten der großen Narrative zerstören soll, um ihre totalisierenden Interpretationsmaschinen mit Hilfe einer Neubewertung des Subjekts zu desartikulieren (daher die dramaturgische Insistenz auf Autobiographien und Lebensgeschichten), eines Subjekts, das seine Wahl aus der Vielfalt heraus trifft, das in erster Linie ein Leser ist und das zu einer neuen, rückblickenden Fiktion fähig ist. Den Körper vergißt man nicht Diese Position der Artikulation vollzieht den Akt der reescritura mit dem schwierigen Erbe des von der Avantgarde angestrebten, aber nicht 11

Michel Foucault: Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Mikrophysik der Macht. Berlin 1976; siehe auch Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main 1976.

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geleisteten Ausgleichs zwischen literarischer Autonomie und sozialer Kommunikation. Dieser Ausgleich soll jetzt erzielt werden. Auf die historische Krise der Botschaften erfolgt eine literarische Antwort, indem die avantgardistische Entdeckung des bleibenden Bildes (imagen perdurable) als Grundlage des Schreibens wieder aufgegriffen wird. 12 Die Macht des transzendenten Bildes, das die Referenten zu zerstören vermag, bildet das Fundament für die Konstruktion eines Raumes der Stimme und des Dialogs, allerdings eines gebrochenen Raumes, in dem sich so viele Lesarten verwirklichen lassen, wie es Blicke gibt, die in das Spiel einsehen. Es handelt sich um eine neukantianische Position, eine andere Ethik des Schreibens, die sich dem Text und seinem Prozeß verpflichtet fühlt und die für die Genealogie des Textes anstatt für die historischnationale Genealogie und ihre Diskurse einsteht. Das theatralische Bild, das die Autorinnen entwerfen, bietet die Möglichkeit der Integration des von der Avantgarde vernachlässigten Widerspruchs zwischen Individuum und Solidarität in das Schreiben, und zwar mittels der Pluralität der Subjektivitäten. Es ist die Konstruktion eines Raumes voller Angebote; eines Zeichens, das offen ist für Interpretation, für die Wahl des Lesers, für die Möglichkeit der Zusammenarbeit, für gemeinsame Perspektiven, für Stellungnahmen ohne den Verlust der freien Verfügung über die eigene Subjektivität. Hinter dieser Haltung liegt die Erkenntnis der Fähigkeit, auf die Metaphysik der Macht dauerhaft und wirksam reagieren zu können, einer Fähigkeit, die das Konzept der Kollektivität im Sinne von Globalisierung verabschiedet, dafür aber auf den öffentlichen Schauplätzen der Kommunikation den Dialog mit der Differenz inszeniert, sofern die Differenz gegeben ist. Genau das leisten die lateinamerikanischen Dramatikerinnen und Erzählerinnen am Ende dieses Jahrhunderts, ohne aber die Errungenschaften des weiblichen Schreibens aufzugeben: die Beherrschung von Genres der Alltäglichkeit (Briefe, Tagebücher, Oralität und Erinnerung, Kulturen des Körpers) im Sinne eines literarischen Widerstands, sowie die Aufwertung des Frauenkörpers, seiner Stigmata und Mythologien als Embleme des Schreibens.13 12

Es geht darum, der Spur der avantgardistischen Entwicklung durch und für ein bleibendes Bild zu folgen: An der Geschichte interessiert nur, was nötig ist, um an der Verwandlung teilzuhaben. Zum Wahrnehmensspektrum der Avantgarde und der Deduktion des engagierten Subjekts von diesem erkenntnistheoretischen Erbe aus siehe Vicky Unruh (1994, Kap. 4).

13

Daher die Bedeutung des hagiographischen Diskurses und der Mystik, in den Elegien von Isidora Aguirre oder Lumperica von Damiela Eltit.

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Der Körper des Schmerzes ist das „bleibende Bild", das das weibliche Schreiben heute in Lateinamerika prägt. Die damit v e r b u n d e n e Gewalt in der Repräsentation, die das corpus selectum charakterisiert, ist für die Schriftstellerinnen nicht nur ein Motiv, u m die Auslöschung des grotesken Körpers durch das Zentrum der Kultur u n d die männliche Position der Artikulation 1 4 anzuklagen, sondern auch, u m das „Darüberhinaus" zu formulieren, d.h. das Ritual des Ausschlusses durch Vergewaltigung, Feminisierung oder Sodomisierung des Körpers als metaphorisches Mittel zu beschreiben, u m die Rhetorik der Macht zu entlarven. Gleichzeitig ist der Körper des Schmerzes f ü r die hier behandelten A u t o r i n n e n der Körper, den das Gesetz schreibt, sowie darüber hinaus u n d in erster Linie die Möglichkeit, ein neues Bündnis auszuhandeln, eine andere Bezeichnung des „Wir", die Zentrum u n d Peripherie verbindet. Diese Sozialutopie setzt eine gewisse Revision des Marxismus voraus, d e n n sie ist nicht mit d e r F o r d e r u n g v e r k n ü p f t , d a s Z e n t r u m d u r c h die Peripherie zu verdrängen, vielmehr geht es u m die Eroberung eines weiteren diskursiven Raumes mittels der Integration anderer Körper u n d Stimmen in das Panoptikum der Kultur; d a r u m also, das Sichtbare u n d Artikulierbare zu reorganisieren, i n d e m d u r c h das Schreiben ein Z u g a n g z u m Z e n t r u m der Artikulation geschaffen w i r d . Charakteristisch f ü r das Schreiben der Frauen ist in dieser Hinsicht die Eroberung der Repräsentation ihres linguistischen Raumes, die notwendig ü b e r eine Form der Gewalt erfolgen m u ß , u m d e n Einschluß zu erzwingen, der die Identität einer Kultur garantiert. In Argentinien beginnt Griselda Gambaro in d e n 80er Jahren eine Offensive der Erinnerung gegen Schweigen u n d Unsichtbarkeit. Im argentinischen Theater des punto final [des „Schlußpunktes", d.h. der Amnestie nach der Diktatur; d. Übers.] erzielt Gambaro mit zwei kurzen Stücken die größte Wirkung der Dramatik von Frauen, i n d e m sie die Verschränkung der dramatischen Muster der Narrative v o n Frau u n d Nation nutzt, u m die Komplizenhaftigkeit zwischen d e m Repertoire des (sexuellen u n d rhetorischen) Geschlechts u n d der Geschichte aufzuzeigen. Der besondere Kunstgriff der Dramatik v o n Frauen in dieser Zeit besteht darin, sich über einen Gestus der politischen Identität als schreibende Frau zu definieren, der eine perfekte Allegorie für die Nation sein kann, w e n n er sie als Frage der Zugehörigkeit repräsentiert. Der Erwerb v o n Zeichen der Identität bedeutet hier einen performativen Akt, der 14

Wie z.B. der sogenannte Diktatorenroman oder das zeitgenössische Theater von Plinio Marcos und Egon Wolff, um die in diesem Zusammenhang wichtigsten Autoren aus Brasilien und Chile zu nennen.

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von einer gewissen Gewalt geprägt ist, sowie eine Repräsentation, die unvorhergesehen kommt und im Inneren der Kultur improvisiert wird. Mit Diana Raznovichs Worten gesprochen: Das Vaterland der Schriftstellerin ist ihr Geschlecht, denn, wie Diana Taylor mit großer Klarsicht ergänzt: Es gibt keine Nation ohne Geschlecht und keinen Körper ohne Nationalität. (1994: 275) Wenn also ein weiblicher Mythos, der entsprechend kontextualisiert, umgeschrieben oder neu orientiert ist, einen Frauenkörper zurückgewinnen kann, dann kann der weibliche Mythos auch ein nationaler Mythos sein. Wenn es gelingt, diesen Mythos neu zu erzählen, werden die Bedingungen für die Möglichkeit gegeben sein, die Nation neu zu schreiben. Auf diese Weise entsteht Griselda Gambaros Antigona furiosa (1986). Antigona furiosa handelt von der demokratischen Revision, mit der zwischen 1983 und 1986 in Argentinien versucht wurde, die Gewaltsamkeiten des militärischen, autokratischen Prozesses, die mit dem Putsch 1976 einsetzten, zu überwinden. Gegenstand des Dramas ist die Justiz als Grundlage des staatlichen Bündnisses. Antigona furiosa läßt sich als kurzes, aber komplexes Thesenstück über Akte des Ausschlusses und Einschlusses, über die Legalität des Anderen bezeichnen, das mit großer Intensität die Forderung nach Gerechtigkeit stellt, die offiziell ihren punto final mit dem Amnestiegesetz von 1987 finden sollte. Hinter den Fragen und Forderungen des Stückes verbirgt sich eine doppelte Struktur, die Gambaro in die Lage versetzt, die unmittelbare Vergangenheit ebenso zu repräsentieren wie die aktuelle Gegenwart: Folter und Gerechtigkeit, Erinnerung und Nation. Gambaro beginnt damit, daß sie Antigone über sich selbst erzählen läßt. Die Geschichte einer Frau, die das Vorbild einer Bürgerin ist und Schlüssel zu einem Bündnis der Loyalität gegenüber dem Bruder; einer Frau, die im proceso (der argentinischen Diktatur der 80er Jahre) den Verschwundenen beerdigt, seinem Tod eine Grabstätte gibt, seinen Körper birgt, indem sie ihm Sichtbarkeit verschafft. Bis hierher funktioniert der Mythos. Korrigiert werden muß jedoch seine Unergiebigkeit oder auch die Falle, die er eigentlich stellt; Gambaro erfindet einen anderen Tod für Antigone. Der Herrschaftsbereich des Mythos öffnet sich, denn das Archiv ist nicht starr, vielmehr ist es ein Organ der Erinnerung, ein unmittelbares Theater, wirksame Textualität der Rede als Ereignis: ANTIGONE singt vor sich hin, setzt die Blumenkrone auf: Ich habe mich vermählt. Verdreht auf merkwürdige Weise den Hals, den Körper wie

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hängend, aufgehängt. Der Tod ist gekommen, als Gattin, als Mutter, als Schwester... (214) Griselda Gambaro erweckt Antigone langsam, aber sicher aus ihrer traditionellen, schlafwandlerischen Reise in die Höhle, die sie lebendig begraben soll, die sie der Sichtbarkeit entziehen soll, genau das, was sie ihrem Bruder ersparen wollte und wogegen sie bis zum Ende mit der ganzen Erinnerung ihres Körpers gekämpft hat. Nur der Staat hat das Wort, er nimmt es ihr. Er ist, indem er tötet. Antigone, Tochter väterlicher Irrtümer, mütterlichen Suizids, exiliert aus der Stadt der Gebildeten, um ein neues historisches Bewußtsein zu erlangen, Führerin des blinden Vaters, des Bettlerkönigs, Terrain der Unschuld wie der Schuld, kann keine Erzählung über die Zerstörung sein, sondern über den Diskurs, der die Zerstörung und die Trauer wiederbringt, um die Geschichte fortzusetzen. Mit Gambaro steht Antigone nicht mehr für das Sinngefängnis des eingemauerten Bewußtseins, sondern für die wahre Kontinuität des Bürgerkriegs, den moralischen Triumph über den Herrn des Todes. Sie ist der Triumph über das Opfer Ophelias, die Entscheidung Hamlets, sie ist die Auflehnung, die das corpus delicti sichtbar macht, den sonoren Körper des politischen Geheimnisses: Wird der Hohn enden? ... Ich weise diese Schale voller Mitleid zurück, die der Grausamkeit als Tarnung dient. Sie leert sie langsam aus. Den Mund feucht von meinem eigenen Speichel, werde ich meinem Tod entgegensehen. Stolz, Haimon, werde ich meinem Tod entgegensehen... Ich bin geboren, um die Liebe zu teilen, nicht den Haß. Lange Pause Aber der Haß gebietet. Wütend Der Rest ist Schweigen! Sie tötet sich. Voller Wut. (217) Der Schluß von Antigona furiosa stellt die äußerste Exposition des Körpers des Schmerzes dar, die Enteignung der Sprache und die Gewalt, die am Wort des Anderen verübt wird. Eine Gewalt der Repräsentation, die ihre eigene Sichtbarkeit einfordert. 15 Der Körper von Antigone ist endlich, was Judith Butler einen „Körper von Gewicht" (1995) nennen würde. Antigone ist dieser Herrschaft des Macht-Wissens entkommen, die sich berufen fühlt, die Materialität eines Körpers mittels der Materialisierung in der definitorischen Praxis auszulöschen, um ihn auszuschließen und das zu verhindern, was Butler definiert als den „[...] Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, 15

Siehe Armstrong und Tennenhouse (1989) zu dieser Art von textueller Poetik.

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den wir Materie nennen." (Buttler 1995: 31) Der auf diese Weise ausgeschlossene Körper wird unbewohnbar, im wahrsten Sinne des Wortes desubstantiviert, „[...] ein Bereich verworfener Wesen [...], die noch nicht ,Subjekte' sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben." (Butler 1995: 23) Das ist der von Gambaro geschriebene Körper des Schmerzes. Antigone tritt „mit ihrem eigenen Speichel" in den historischen Diskurs ein. Die Legitimation ihrer Erzählung und ihrer Repräsentation erfordert eine intelligente Strategie jenseits komplizierter Kandidaturen weiblicher Erzähl-Figuren als nationale Banner. 1 6 Auf die Wut Antigones zu setzen, brachte das Risiko der erneuten Dämonisierung der Medusen und Medeas mit sich, die Gefahr eines neuerlichen Ausschlusses aus dem Szenarium, denn das kulturelle Bündnis läßt das Bild des Monsters nun einmal nicht zu. Gambaro verbindet die Wut oder die Energie, die in der Frau zur Aktion gebündelte Leidenschaft - deren „So-Sein-Müssen" oder deren allererstes Narrativ sonst immer die Erotik der Passivität ist 17 mit der traditionellen Zelebrierung ihrer Verfügbarkeit für Blicke.18 Gambaro führt lieber in die Irre, betritt die Bühne ungesehen, unbemerkt und vermeidet, daß der Mechanismus der Dämonisierung erneut in Gang gesetzt wird, indem sie zu Beginn des Stückes etwas vorführt, worauf der Zuschauer in gewisser Weise vorbereitet ist, was sogar seinen traditionellen Erwartungen entspricht: mütterliche Bedingungslosigkeit und weibliche Solidarität, immun gegen die Grausamkeit des ebenso genannten Theaters. Gambaro nutzt die mythische Konnotation des Weiblichen - als Verbindungselement, Mittlerin, Grenze von und zum Anderen - für die Gestaltung ihrer Protagonistin und errichtet ein komplexes Artefakt, das den gefolterten Körper Antigones als transgressiven (cuerpo transgresor) inszeniert, als einen Körper, der in der Lage ist, den illegitimen Körper des Anderen auszulösen, dessen Ausschluß zu verweigern und dessen Recht auf Einschluß sicher zu stellen. Mit Hilfe Brechtscher narrativer Techniken ruft die Dramatikerin einen Staat auf die Bühne, der den Körper herstellt und entmündigt. Sie 16

Wie sie in den großen lateinamerikanischen Romanen in den Figuren der Maria, Celia Valdes oder Ürsula aus Hundert Jahre Einsamkeit als Embleme nationaler Imagination, Banner einer kulturellen Repräsentation verhandelt werden, bzw. als Medeas, Malinches und Antigones in zahlreichen Theaterstücken seit der historischen Avantgarde bis in die 70er Jahre.

17

Bei dieser Anspielung ist es unumgänglich, Carmen Boullosa in Erinnerung zu bringen (Propusieron a Maria, 1987).

18

So würde die spanische Dichterin und Philologin Marta Fuentes (1995) diesen Habitus der Weiblichkeit bezeichnen.

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nutzt den proxemischen Raum, d.h. den Kommunikationsraum, den Raum des Zeichens zwischen Schauspieler und Schauspieler, zwischen Schauspieler und Figur, zwischen Schauspieler und Zuschauer, auf komplexe Weise aus, um ein Ritual der Gerechtigkeit als mimetische Darstellung auf die Bühne zu bringen; einen Akt der Gerechtigkeit, der in den politischen Darstellungen jenseits der Theaterbühne unerledigt geblieben ist, weil der argentinische postdiktatorische Staat nicht in der Lage ist, ihn zu vollziehen. Gegenstand der episch-wissenschaftlichen Rezeption dieses Aktes ist der Körper der Frau, der um seine soziale Existenz und um seine Position im Bündnis kämpft. Er weigert sich, das Gesetz mit seinem Körper oder mit dem Körper des Anderen zu schreiben. Diese Weigerung, Antigones Körper dem Gesetz zur Verfügung zu stellen, macht ihn zum Körper des Schmerzes, zum Körper ohne Stimme. Der Brechtsche Verfremdungseffekt konfrontiert den Betrachter mit jedem einzelnen Schritt dieses Prozesses der De-Objektivierung und der Kontraktion zu einer Zeit des Körpers, des Wortes und der Welt. Mit der letzten Entscheidung Antigones gelingt es Gambaro, das Ritual der Macht umzudrehen, das, wie Elaine Scarry (1985: 45) erläutert, immer auf der Distanz zum Körper basiert - wie die Folter, die die Übersetzung des Schmerzes in Macht mit Hilfe der Transformation des Körpers in Stimme sucht. Antigone, Emblem des Staatspaktes, wird als Subjekt ihres eigenen Körpers nicht mehr gespalten werden können, da sie auf nachdrückliche Weise durch eben die Gewalt präsent ist, die sie in die Unsichtbarkeit verbannen sollte, unter mythischem Verschluß gehalten im schwarzen Archiv der Nation. In einem anderen Stück aus den 80er Jahren kann Gambaro bereits ganz direkt die Fortsetzung dieser Art von Infiltration präsentieren, indem sie die Ihren als „Wiederaufgetauchte" (aparecidos) in einem Kraftakt der Erinnerung über die einfache und bequeme Lösung des punto final hinaus durch den Versuch magnetisiert, einen Körper für sie zu finden. In Del sol naciente sieht man deshalb in einer Apotheose den Triumphzug der Antigonen und ihrer Begrabenen auf der Plaza de Mayo. Sie singen aus vollem Hals, die Hymne auf den Lippen, und schreiten unerbittlich auf das Haus des Tyrannen zu. Es ist der Aufruf zur Demokratie, mit Körpern, die sich auf der Erde und nicht unter ihr befinden. Über die Relevanz des Corpus der subalternen Schriften gibt - wie in allen Fällen - die Konjunktur der Geschichte den Ausschlag. Es sind die Veränderungen, Krisen und Modernisierungen des lateinamerikanischen Staates am Ende dieses Jahrhunderts, die legitime Repräsenta-

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tionsweisen verlangen und eine neue Architektur der Zeit. Die Literatur der 80er Jahre stellt sich in Lateinamerika dem schwierigen Erbe der Postdiktaturen: als Literatur des Schmerzes, der Krankheit und der Ermüdungserscheinungen in der Repräsentation. Die Intensität der epistemologischen Krise am Ende des 20. Jahrhunderts ist genau das Motiv, das die Autorinnen dieser Zeit dazu treibt, die Trauer oder die Sehnsucht nach anderen Zeiten in einer Periode kultureller Agonie zu überwinden 19 und nicht nur aus der Enge eines diskursiven Raumes zu fliehen, sondern ihn auch neu zu gestalten und zu rekonstruieren. Es ist hauptsächlich ein intelligentes Schreiben, das die Gewalt, die der Vollzug eines anderen Diskurses erfordert, in die Strategie der listigen Infiltration verkehrt. Es trägt die Verantwortung für Werke von höchster literarischer Qualität, die die rhetorische Fähigkeit besitzen, aus dem die Repräsentationen des weiblichen Schreibens bedrängenden Sinngefängnis auszubrechen und den von der Kultur vorgeschriebenen kranken Körper zu akzeptieren, um ihn zu praktizieren.20 Ihr Gestus der politischen Identität ist seinerseits eine perfekte Allegorie der nationalen Identität, denn er äußert sich als Frage der Zugehörigkeit, bei der der Erwerb von Zeichen der Identität einen performativen Akt bedeutet, der nicht frei von einer gewissen symbolischen Gewalt ist. Es handelt sich hier um die Inszenierung der Stimme als entscheidende 19

Dies gilt z.B. für die Neoavantgarden wie Ciarice Lispector und Elena Garro, deren Arbeiten ich mit einer wichtigen Einschränkung als Genealogie dieser Art des Schreibens untersuchen würde. Sie übernehmen von der Avantgarde die Ausweitung der Repräsentationen, leiden aber gleichzeitig unter der Individualität, die ihr Schreiben isoliert. Beide Autorinnen arbeiten Strategien aus, um zu neuen Universen der Repräsentation aufzubrechen, doch der Unterschied zu den heutigen Schriftstellerinnen liegt darin, daß ihre rhetorischen Strategien keine Rückkoppelung an die politische Praxis vornehmen, wenngleich es ihnen gelingt, die diskursiven Referenzen neu zu bestimmen. Sie eröffnen Fluchtwege ohne Rückkehr, die auf eine Rhetorik der Trauer oder der Sehnsucht antworten. Erzählungen von verlorenen Objekten bei Lispector und dramatische Trauer bei Garro in einem Theater, in dem das Proszenium ein dunkler Grund von enteigneten Stimmen ist und der Körper als Verlust oder unmögliche Abwesenheit präsent ist. Der große Unterschied zwischen den Schriftstellerinnen der 80er Jahre und ihren Vorgängerinnen besteht darin, daß sie den Projektionsgestus des privaten Raums im weiblichen Schreiben in der Öffentlichkeit weitergeführt haben.

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Ich möchte zusätzlich betonen, daß der performative Akt das passive Erbe in gewisser Weise in den Diskurs eingliedert. Das erfordert, von der Rolle des Rezipienten, des Widerständigen oder Überlebenden zu der des Schöpfers überzugehen; vom Lumpenproletariat zu „lumperica", um mit Eltit zu sprechen, von der Penetration zur Quälenden Leidenschaft von Berman und von der Verdunkelung des geheimen Körpers zu der „wütenden" Antigone von Griselda Gambaro.

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referientielle Textualität im Theater der Sprache. Die im vorliegenden Beitrag behandelten Werke signalisieren eine gewisse Abkehr vom Wort - als Verb hin zu einer symbolischen Signatur des Bildes als Piktogramm, das für eigene Schlüsse des Lesers offen ist. Diese besondere Eigenart des Schreibens wird aber nur in der Performance der enunziativen Position aktiv, die im Leser/Zuschauer das Gefühl der Notwendigkeit dieser individuellen Geste hervorrufen muß. Ohne behaupten zu wollen, daß die lateinamerikanischen Kulturen homogen sind, glaube ich doch, daß die Kategorie des Körpers des Schmerzes als Metapher der Repräsentation die vielleicht bedeutendsten dramatischen Werke, die in der Geschichte des lateinamerikanischen Theaters von Frauen geschrieben wurden, verbinden könnte. Der Verdienst dieser Werke und ihres Theaters liegt darin, die Enge und Beschränkung des diskursiven Raumes, über den sie für ihre literarischen Tätigkeiten verfügen, dafür genutzt zu haben, nicht nur das Wort zu einem vielfältigen Mittel erhoben zu haben, sondern auch die Möglichkeiten des Sprech-Theaters um das Gebiet des neuen kulturellen Konsenses erweitert zu haben. Mit der Dramatik von Frauen in Lateinamerika gegen Ende dieses Jahrhunderts verändert sich in der Ökonomie der Repräsentation etwas ganz Entscheidendes. Die Geschichte des Schweigens über die Identität der Frau, des Körpers unterhalb der Nation, erscheint jetzt von Stimmen, Geräuschen und Geflechten der Postmoderne bevölkert; jetzt Geschichten eines Schweigens, das nicht mehr tötet. Der Rest ist Avantgarde. Deutsch von Luis Ruby und Kati Röttger

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Nieves Martínez de Olcoz (1966, Madrid), Schauspielerin, Regisseurin. M.A. in Spanischer Philologie der Universidad Complutense, Madrid (1989). Promotion (Madrid 1996). M.A der University of Kansas, M.A. und Ph.D. Yale University. Exchange Scholar an der University of Harvard (1995-96). Publikationen: Desde el agua hacia afuera: literatura, vanguardia y representación en América Latina (Editorial Complutense, in Vorbereitung); Dramaturgia femenina y fin del siglo (Colección Teatro, Universidad de Alcalá de Henares, in Vorbereitung).

Diana Taylor

Frivole Geschütze

Diana Raznovichs Akte des Widerstands Diana Raznovichs steile Laufbahn als Dramatikerin begann 1967 in Buenos Aires, als bereits ihr erstes Bühnenstück einen Theaterwettbewerb gewann. Ihr Werk zeichnet sich durch Humor, Intelligenz und unerschütterlichen Widerstand gegen einengende soziale Systeme aus, egal, ob es sich um autoritäre Militärdiktaturen, um ökonomische Zwangssysteme oder um die viel subtileren, aber dennoch restriktiven Systeme geschlechtlicher und sexueller Mechanismen handelt. In allen Arbeiten zeigt sie, wie die verschiedenen Systeme miteinander verknüpft sind - wie sie Begehren wecken und manipulieren, während sie gleichzeitig die begehrenden Körper definieren, positionieren und kontrollieren. Durch den steten Druck der Sozialisation werden Identitäten geformt und Körper in gesellschaftlich akzeptable Formen gepreßt. Raznovichs Theaterstücke zeigen nicht nur eine Kultur der Reproduktion (in Anlehnung an den Marxschen Begriff des Warenfetisch), sondern auch Kultur als Reproduktion, als eine begehrende Maschine, die eine Serie von Wiederholungen und Verkörperungen ohne Original generiert (in etwa mit Baudrillards Konzept des ,Hyperrealen' vergleichbar)1. Als Theaterautorin und Karikaturistin nutzt sie die ihr zur Verfügung stehenden Kunstsysteme, um die Einschränkungen, die von der Gesellschaft auferlegt werden, zu kritisieren und zu überschreiten; ganz beträchtliche Einschränkungen, um es gelinde auszudrücken, für eine Frau, die in der Zeit des Schmutzigen Krieges (1976-83) groß geworden ist, einer Zeit, in der die Militärjunta 30 000 Argentinier ,verschwinden' ließ. Bereits mit ihrer zweiten Theaterarbeit Plaza hay una sola, einem Performance-Stück, das aus acht verschiedenen Szenen besteht, die simultan in einem öffentlichen Park gespielt werden, während das Publikum sich frei zwischen den Spielstätten bewegen kann und dabei einer Folge von Situationen begegnet (einer Person, die gerade Selbstmord begehen will; einer anderen, die von einer Seifenkiste herab eine Rede hält und so fort), hat sich Raznovich traditionellen theatralen Normen widersetzt. Sie verwarf den schwerfälligen, realistischen Stil, der unter ihren Kollegen so beliebt war. Ihr Sinn für Humor und ihre Vorliebe für Störungen, Umkehrungen und für das Unerwartete begannen sowohl ihre Arbeit als Karikaturistin wie auch als Theaterautorin zu formen. Doch wiederholte Todesdrohungen der Streitkräfte zögerten ihre Karriere als Dramatikerin hinaus und zwangen Raznovich 1975, kurz bevor 1

Vgl. Jean Baudrillard: Simulations. New York 1983.

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der Militärputsch den Schmutzigen Krieg auslöste, ins Exil zu gehen. Sie lebte und arbeitete fortan in Spanien, wo sie an einem unabhängigen Theaterinstitut Dramaturgie lehrte, bis sie 1981 nach Argentinien zurückkehrte, um an Teatro Abierto teilzunehmen. Teatro Abierto brachte Dramatiker, Regisseure, Schauspieler und Bühnentechniker zusammen, die alle auf der schwarzen Liste standen und um ihre Sicherheit fürchten mußten, um einen Zyklus von Einaktern zu produzieren, der deutlich machen sollte, daß sich die argentinischen Künstler den Taktiken der Diktatur, die sie zum Schweigen bringen wollte, nicht gebeugt hatten. Wie konnte sie sich einem so bedeutenden Akt gemeinsamen Widerstandes entziehen? Doch selbst bei diesem solidarischen Akt widersetzte sie sich noch oppositionellen Normen ,akzeptablen' Widerstandes, denn einige der anderen, politisch engagierten Theaterautoren fanden ihren Beitrag, das einaktige EinFrauen-Stück Desconcierto2, für den offenen und als Wettbewerb ausgetragenen Theaterzyklus unangemessen. Während es schon immer Raznovichs Absicht war (und ist), herauszufordern und Grenzen zu überschreiten, geschah dies doch nicht immer auf eine Art, die ihre eindeutig politisch motivierten Kollegen verstehen oder schätzen konnten. Wer würde sich schon im Kontext von Zensur und dem allgemeinen Stillschweigen während des Schmutzigen Krieges für ein Stück interessieren, in dem es einer Pianistin nicht gelingt, ihrem Instrument Töne zu entlocken? Raznovich wurde gebeten, das Stück zurückzuziehen und einanderes einzureichen; sie weigerte sich.3 Die Militärs reagierten gewalttätig und steckten an dem Abend, als Konzert des Schweigens uraufgeführt wurde, das TEATRO PICADERO in Brand.4 Teatro Abierto zog in ein anderes Etablissement um und führte unter dem wachsenden Druck der Regierung und mit zunehmender Unterstützung durch das Publikum weiterhin seine Produktionen auf. Doch manche Kollegen „meinten, ich sei frivol. Ich faßte das als Kompliment auf. Meine Einstellung und mein Stil erfuhren keinerlei Billigung, und ich fand das wunderbar transgressiv." 5 Konzert des Schweigens, alles andere als frivol, zeigt eine Gesellschaft, die in den Entwurf nationaler Fiktionen verstrickt ist, Fiktionen, die letztlich alle Teile der Bevölkerimg zu schweigenden Mittätern machen. 2

3 4

5

„Konzert des Schweigens", dt. von Ilse Schliessmann, in Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage und Halima Tahán. Berlin 1993, S. 183-192. Interview Diana Raznovich - Diana Taylor. Dartmouth College, Sept. 1994. Juana A. Arancibia und Zulema Mirkin: „Introducción", in Teatro argentino durante el proceso. Buenos Aires 1992, S. 21. Interview Diana Raznovich - Diana Taylor. Buenos Aires 1994.

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Die Pianistin Irene della Porta wird von ihrem Manager großzügig dafür bezahlt, Beethovens Pathétique auf einem Flügel zu spielen, der keinen Ton erzeugt. Das Publikum kauft Konzertkarten, um Irene dabei zuzusehen, wie sie dem Nichts Töne entlockt. „Da ihr und auch dem Publikum klar ist, daß man die Beethoven-Sonate nicht hören kann, sind sie in der Lage, dieses ,andere' Konzert entstehen zu lassen, dieses nichtexistente Konzert, auf das sie sich auf geheimnisvolle Weise geeinigt haben" heißt es in der Bühnenanweisung.6 Am Ende des Stückes gewinnt das Piano wie durch ein Wunder seine Stimme zurück. Doch nach so vielen stummen Konzerten weiß Irene della Porta nicht mehr, wie man ,wirkliche' Musik macht. Unempfindlich gewordene Finger produzieren harte, dissonante Töne. Schockiert und durch ihr ultimatives Versagen als Künstlerin am Boden zerstört, ist ihre Freude übergroß, als der Flügel erneut verstummt. Oberflächlich ist Konzert des Schweigens eine Kritik an den argentinischen Künstlern wie auch an ihrem Publikum, die bereit waren, sich den durch die Militärdiktatur aufgezwungenen Zensurbedingungen anzupassen, und sich gleichzeitig selbst einredeten, daß sie sich in Wirklichkeit an bedeutungsvoller Kommunikation beteiligten. Was den einzelnen Zuschauer Abend für Abend in das Theater zieht, ist nicht zuletzt Teil der gemeinschaftlichen Komplizenschaft, die sie als ,Widerstand' interpretieren können. Obwohl sie keinerlei Töne produzieren, scheint die Überlegung zu sein, widersetzen sich die Zuschauer allein durch ihre stumme Präsenz denen, die ihnen Zensur und Selbstzensur auferlegen. 7 Die Vorstellung, daß öffentliche Präsenz bei einem Theaterereignis ein Akt des Widerstandes ist, lag zumindest teilweise dem Projekt Teatro Abierto selbst zugrunde. Der Umstand, daß Tausende Menschen sich zusammenfanden, um Theaterstücke ,bajo vigilancia' (unter Observation) zu sehen, wurde von den Militärs, wie auch von der Bevölkerung insgesamt, als oppositionelle Bewegung gewertet.

6

7

Es ist interessant anzumerken, daß Verstummen und öffentliches Schweigen während des Schmutzigen Krieges sowohl als Komplizenschaft mit dem System wie auch als Widerstandsakt interpretiert wurden. Einerseits ermöglichten diejenigen, die sich nicht deutlich gegen die Brutalität der Regierung aussprachen, eine Fortführung der kriminellen Praktiken: Entführung, Verschwindenlassen, Foltern. Andererseits wurde das Nicht-Sprechen auch als heroischer Akt gegen das System angesehen, das Konformität forderte, so wie das Schweigen als Widerstand gegen den Folterer angesehen wird. Diesen Begriff verwendet Miguel Ángel Giella, um Teatro Abierto in seiner Unters u c h u n g / A n t h o l o g i e Teatro Abierto, 1981: Teatro argentino

Aires 1991, zu beschreiben.

bajo vigilancia.

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Konzert des Schweigens scheint sich jedoch an jene Argentinier zu richten, die zu Mittätern der Diktatur wurden und deren Passivität angesichts der Brutalität der Regierung eine neue soziale Ordnung, eine Kultur des Terrors, ermöglichte. Die ,Show', weit von jeder oppositionellen Wirkung entfernt, wird von den Machthabern selbst produziert. Durch ihre Anwesenheit und die Bereitschaft, Teil der Vorstellung zu werden, tragen die Zuschauer zur Herstellung einer neuen Gemeinschaft bei, einer Gemeinschaft, die auf Fiktionen gründet. Doch die Zuschauer erkennen ihre eigene Rolle innerhalb des Szenarios nicht. Sie sind ihrer eigenen Situation gegenüber blind und denken, daß das Drama (das sich ihnen offenbar ebenso entzieht, wie die Töne des Pianos sich für Irene verflüchtigen) ganz woanders stattfindet. Doch genau dieses Schweigen und Verdrängen war es, worum es im Schmutzigen Krieg eigentlich ging. Der performative Prozeß gemeinschaftlicher Verbindung/Verblendung, wie er von Raznovich dargestellt wird, deutet auf zwei Formen geschlechtlicher Gewalt hin. Auf der einen Ebene ist,Weiblichkeit' eine Performanz, die Irene täglich immer wieder neu verkörpert. In einem tiefausgeschnittenen, enganliegenden, roten Abendkleid und mit Juwelen behängt, wird sie zum ,Anderen', für dessen Show das Publikum zahlt. Sie spricht sogar von sich selbst in der dritten Person, als Irene della Porta, als ein kulturelles Erzeugnis, das seiner eigenen Verdinglichung und Erniedrigung zugestimmt hat, weil sie einige handfeste Vorteile daraus ziehen kann: „Unabsehbar lange, behagliche Jahre für Irene della Porta in schweigenden Konzerten" (186). Raznovich zeigt Geschlechtsidentität als Performanz, angelehnt an die von Judith Butler entwickelten theoretischen Überlegungen: Geschlechtsidentität ist ein Akt, der immer wieder aktualisiert und geprobt werden muß. So wie ein Bühnenskript zwar den einzelnen Schauspieler, der es benutzt, überlebt, aber gleichzeitig nach individuellen Darstellern verlangt, um immer wieder neu als Realität aktualisiert und reproduziert zu werden.8 Es gibt für Frauen im Patriarchat nur wenige Rollen, die irgendeine Art von Sichtbarkeit versprechen, der ,Star' ist eine davon. Jedoch verkörpert der (weibliche) ,Star', wie Irene ausdrücklich bemerkt, das Be8

Judith Butler: „Performative Acts and Gender Construction", in Performing Feminism: Feminist Critical Theory and Theatre, hrsg. von Sue-Ellen Case. Baltimore 1990, S. 277. : Gender Trouble. N e w York 1990, und Bodies That Matter. N e w York 1993.

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gehren der männlichen Zuschauer. Es ist ,die Frau' als Projektion patriarchaler Phantasien, die auf der Bühne vorgeführt wird. Sie erkennt sich selbst nicht mehr im Spiegel, es gibt kein,Selbst', das zu erkennen wäre. Auf einer anderen Ebene ist das von der Junta realisierte Projekt der Gemeinschaftsbildung ebenfalls geschlechtlich markiert. Von Anfang an machte die Junta klar, daß der Staatsentwurf untrennbar mit einem Entwurf der Geschlechterordnung verknüpft ist. In ihrer ersten Verlautbarung, die am 24. März 1976, dem Tag des Militärputsches, in der Zeitung La Nación veröffentlicht wurde, erklärt sich die Junta selbst zur ,obersten Instanz der Nation', bereit, ,das Machtvakuum', das durch Argentiniens konstitutionelle Präsidentin, Peróns Witwe ,Isabelita', verkörpert wurde, auszufüllen. In ihrer Anstrengung, die schwachen', trägen, argentinischen Massen in ein authentisches nationales Wesen' umzuformen, unternahm die Junta alles, um die giftigen (oder subversiven) Elemente aus dem sozialen „Körper" zu entfernen. Der Krieg wurde in den Furchen des „Mutterlandes" gefochten, in den blutigen Eingeweiden von Mutter Patria. Er war daher transgressiv, verborgen und schmutzig. Das mütterliche Bild von Patria war gleichzeitig die Rechtfertigung für und der physische Ort von gewalttätiger politischer Auseinandersetzung. Der Begriff Patria, der von padre oder Vater abzuleiten ist, bedeutet im Spanischen nicht Vaterland, sondern steht eher für die Vorstellung eines durch patriarchale Ordnung geprägten Mutterlandes. Hinter dem mütterlichen Bild, auf das sich das Militär beruft, steht jedoch keine Frau. Dennoch dient das weibliche Bild (patria, Irene della Porta) im Prozeß der Gemeinschaftsbildung einer realen Funktion, indem es all jene miteinander verbindet, die sich ihm zugehörig und loyal verbunden fühlen. Das , Weibliche' ist für die Machthaber allerdings nur so lange nützlich, wie es ein Vorstellungsbild ohne wirkliche Handlungsmacht bleibt. Als solches, gibt ,sie' (,die Frau') den Zuschauern ihre Identität. Genauso wie die Militärs den „wahren" Argentinier kraft seiner Loyalität gegenüber dem Mutterland (und damit auch gegenüber den Militärs als Verteidiger des Mutterlandes) bestimmen konnten, so bilden auch die Fans von Irene della Porta aufgrund ihrer Beziehung zu ihr eine Gruppe (eine ,imaginierte Gemeinschaft' in Benedict Andersons Worten 9 ): „Wer bin ich? Wer sind Sie?" (187). Das Wesen dieser Gemeinschaftsbildung ist strukturell zirkulär; das weibliche Bild ist eine Schöpfung der patriarchalen Ordnung, aber ,ihrem' Schoß entspringt wiederum das nationale Selbstbildnis. So gibt auch Irene della Porta offen zu, daß sie das Geschöpf ihrer Fans ist: „[...] die einen wie die 9

Benedict Anderson: Imagined Communities. London 1983. [Dt.: Die Erfindung Nation. Frankfurt/Main, New York 1991/1996.]

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anderen haben durch ihre rührende Anwesenheit das aus mir gemacht, was ich heute bin. Aber ... wer bin ich?" (185). Und doch verhilft ihre schwache, eingeübte ,Identität' dem Publikum zu einer Einheit. Auch wenn ,die Frau' im Bild von Patria aufgeht und verschwindet, läßt Raznovich nicht zu, daß das Publikum die dem Diskurs der Gemeinschaftsbildung eingeschriebene misogyne Gewalt übersieht. Ihre Figur verdeutlicht, daß es auch die Zur-Schau-Stellung öffentlicher Erniedrigung, die Irene della Porta allabendlich darbietet, ist, die das Publikum in das Theater zieht. Themen wie kollektive Mittäterschaft, das Zum-Schweigen-Bringen und Entmündigen werden am ausgestellten und gedemütigten Körper ,der Frau' verdeutlicht: Was ist es, was Sie von mir wollen? Sie öffnet ganz plötzlich ihr Kleid und zieht sich nach und nach bis auf die Unterwäsche aus. [...] Wissen Sie jetzt mehr über diese Irene della Porta als vorher? So, wie ich jetzt vor Ihnen stehe, nackt bis auf die Haut? Was ist der Erfolg? Ist es, weil ich nackt vor Ihnen stehe? Was ist eine nackte Frau? Nichts weiter als Haut und Knochen mit einer verletzlichen Öffnung. (187) Als Feministin verstand Diana Raznovich einen Aspekt der kulturellen Produktion von Gemeinschaft und Schweigen, den andere Dramatiker zwar herzustellen, aber nicht zu erkennen in der Lage waren - daß der gesellschaftliche Pakt zwischen den Machthabern und dem mitwissenden Publikum (sowohl im militärischen Diskurs wie in der ,Kunst') auf dem Körper ,der Frau' ausgehandelt wird. Das Publikum sucht in ihren Körperspalten und -Öffnungen nach seiner Identität und sucht auf ihrer nackten Haut nach ,Wahrheit'. Ihr Körper hat die Funktion eines Textes, in dem das Schicksal der Gemeinschaft festgeschrieben steht. Konzert des Schweigens steht paradoxerweise zugleich für das Scheitern und für die Macht von Kunst im Kontext des Schmutzigen Krieges. Das Stück zeigt Irene della Portas Körper eher als ausgestellten denn als nackten, und die grotesken Töne, die das Piano hervorbringt, widersetzen sich der Ästhetisierung von Gewalt und der Kommerzialisierung von Kultur, selbst wenn Raznovich sie darstellt. Raznovich diskreditiert die Fetischisierung, während Irene della Porta ihr erliegt. Ihr Theaterstück ist ein Werk ,engagierter Kunst', obwohl es die fehlende Existenz einer solchen beklagt. Theodor Adorno bemerkte in den späten 60er Jahren: „[...] das engagierte Kunstwerk entzaubert jenes, das nichts will, denn da sein, als Fetisch, als müßige Spielerei solcher, welche die drohende Sintflut gern verschliefen; gar als höchst politisches

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Apolitisches." 10 Raznovich macht deutlich, daß nicht-engagierte, eskapistische Kunst in Zeiten sozialer Katastrophen dazu beiträgt, eine Kultur des Terrors zu errichten und zu festigen, in der die Menschen letztlich ihre Fähigkeit zu echter Einsicht verlieren. Selbst wenn die Einschränkungen plötzlich aufgehoben werden und das Piano auf wunderbare Weise seine Stimme wiedergewinnt, wären die, die an der Herstellung der Fiktion beteiligt waren, nicht in der Lage, echte Kommunikation wieder aufzunehmen. Diana Raznovichs Widerstand gegen die Beschränkungen, die von der oppositionellen ,Linken' aufgestellt wurden, war mehr als nur eine Frage ihres persönlichen dramatischen Stils. Als Feministin nahm sie Anstoß an dem, was sie als das typisch männliche Wesen des Teatro Abierto ansah und was sich nicht nur durch den Inhalt der fast ausschließlich von Männern geschriebenen und inszenierten Theaterstücke manifestierte, sondern mehr noch in der Entscheidung, Teatro Abierto nach dem Brand des PICADERO im TABARÌS auf die Bühne zu bringen. Wie schon zuvor, begann Teatro Abierto zeitig, um 18:30 Uhr. Später am Abend setzte das TABARÌS sein gewohntes Programm fort: mit frauenfeindlichen Witzen aufgepeppte Varietéeinlagen spärlich bekleideter Revuetänzerinnen. Als sich die am Teatro Abierto beteiligten Frauen darüber beschwerten, daß ihr politisch progressives' und oppositionelles Theaterereignis an diesem Ort aufgeführt wurde, überstimmte man sie. Die Hypothese war, daß das Teatro Abierto den Ort,unterwandern' und ihm eine neue Bedeutung verleihen würde. Doch statt den Ort weiblicher Erniedrigung zu untergraben, beschloß Teatro Abierto, ihn zur Sicherung des eigenen Überlebens und Fortbestandes zu benutzen. Die Militärs, die das Varieté häufig wegen seines regulären Programms aufsuchten, würden einen Ort, den sie mit ihrem eigenen Vergnügen assoziierten, wohl nicht so einfach zerstören. Die Strategie, politische Inhalte hinter oder mit Hilfe des Kontextes weiblicher sexueller Ausbeutung zu schützen, war in dieser Zeit nichts Neues.11 Natürlich war die 10

11

Theodor W. Adorno: „Engagement", in Noten zur Literatur III, Frankfurt/Main 1969, S. 109. Der angesehene Filmemacher Adolfo Aristarain, der 1981 bei Time for Revenge Regie führte, gesteht, dasselbe getan zu haben. Er drehte lange unnötige Sexszenen für seinen Film, erklärt er in einem Interview Annette Insdorf, „so daß die Zensurbehörde fünf Tage damit zubrachte, nicht die politischen oder ideologischen, sondern die sexuellen Aspekte zu prüfen. Alles, was man dann von mir verlangte, war, einige Bildkader am Ende mancher Szenen, wie etwa am Ende eines Striptease, zu schneiden. Es schadete den Szenen nicht, da ich sie ja länger gemacht hatte, als ich sie brauchte." Zit. nach Annette Insdorf: „Time for Revenge: A Discussion with Adolfo Aristarain", in Cinéaste 1983, S. 16-17.

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Folge davon, daß geschlechtliche Diskriminierung und sexuelle Ausbeutung von Frauen niemals Gegenstand einer kritischen Analyse werden konnten, da die Vermittlung der politischen Botschaft von dieser fortbestehenden Ausbeutung abhängig war. Damit schuf Teatro Abierto eine Situation, in der die Theaterbesucher, darauf gefaßt, eine Kritik an ihrer repressiven Gesellschaft vorzufinden, an Postern halbnackter Frauen vorbeigehen mußten, um in das Theater zu gelangen. Das Nebeneinanderstellen von politischem Ereignis und halbnacktem weiblichem Körper reproduzierte die visuellen Strategien, wie sie auch in promilitärischen Zeitschriften (wie etwa Gente) Verwendung fanden, wo Überschriften zu grauenhaften Geschehnissen des Schmutzigen Krieges vor dem Hintergrund weiblicher Körper in Bikinis abgedruckt wurden, die die Hälfte der Titelbilder schmückten. Wieder einmal wurde die Frau zum reinen Körper reduziert und dieser als Stätte gewalttätiger und politischer Konflikte in den Hintergrund gedrängt. Das weibliche Subjekt konnte keinen Anspruch auf politische Teilhabe oder auf nichtdiskriminierende Repräsentation erheben: es diente als Schauplatz, auf dem die Kämpfe und Auseinandersetzungen zwischen Männern, den politisch Handlungsfähigen, stattfinden konnten. Der politische Kampf war für eine feministische Dramatikerin während des Schmutzigen Krieges in Argentinien weitaus problematischer als jede antimilitärische Haltung, so gefährlich und heldenhaft diese selbst auch war. Er bedeutete, es nicht nur mit dem Regime, sondern mit dem argentinischen Imaginären aufzunehmen, dem imaginierten Gemeinschaftsgefühl, das sich ,das argentinische Wesen' als Auseinandersetzung zwischen Männern vorstellt, als einen Kampf, der mit und über das ,Weibliche' geführt wird (sei es der symbolische Körper der patria, des Mutterlandes, Irene della Portas oder der physische Körper einer Frau). Und dies bedeutete, es mit den progressiven' Autoren der ,Opposition' aufzunehmen, die selbst die Konstruktion nationaler Identität als auf weibliche Zerstörung gründend darstellten (wie in den Werken von Ricardo Monti oder Eduardo Pavlovsky). Diese linke Kritik am Militär teilte mit dem Militär dessen misogyne Grundhaltung. In der Auseinandersetzung um Definition und Aneignung ,authentischer', nationaler Identität kämpften sowohl die Militärs wie auch die Progressiven darum, die ,maskuline' Position einzunehmen, während sie die ,Andere' entmannten, verweiblichten und an den Rand drängten. Selbst Theaterstücke, die als Kritik eines männlichen Intellektuellen am machismo des männlichen Militärs gemeint waren (wie Montis La cortina de abalorios), machten noch vom nackten Körper einer Frau Gebrauch, um die Einwände auszudrücken und das Publikum zu fesseln.

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Es ist ein Beispiel für die ironische Umkehrung, die Diana Raznovich so schätzt, daß, als der Schmutzige Krieg beendet, das Militär mehr oder weniger zur Einsicht gebracht war und die Machthaber gewechselt hatten, sie immer noch mehr als genug Gründe hatte, sich zu widersetzen und zu lachen. Anders als einige bedeutende argentinische Dramatiker, die die Schattenseiten der Militärdiktatur erkennen und benennen konnten, die aber nicht verstanden, daß das Zwangssystem selbst geändert werden mußte (und nicht nur die Führungsriege), hatte Raznovich gerade damit begonnen, über Themen der Geschlechteridentität und Sexualität zu schreiben, die den meisten ihrer Kollegen total entgangen waren. Ihre bemerkenswerten Theaterstücke Jardín de otoño,12 Casa Matriz13 und De atrás hacia adelante erkunden die feministische These, daß Begehren durch die Wirtschaftssysteme, die es scheinbar nur repräsentieren, erst geschaffen wird (etwa durch das Fernsehen in Jardín), daß Geschlecht und Sexualität performativ sind und daß Subjektivität gesellschaftlich konstruiert ist. Frauen werden nicht als Frauen geboren, wie Simone de Beauvoir bereits vor vielen Jahren bemerkte, sie werden durch den Prozeß der Sozialisation zu Frauen gemacht. So wie Irene della Porta ein Produkt des patriarchalen Systems war, das sowohl wirtschaftlich wie auch politisch von ihrer Fähigkeit profitierte, ein Spektakel aus ihrer Erniedrigung zu machen, so gilt dies gleichfalls für verschiedene andere gesellschaftlich geschätzte Rollen - die ,Mutter' liefert dabei vielleicht das einleuchtendste Beispiel. Casa Matriz, ein abendfüllender Einakter, zeigt eine dreißigjährige ,Tochter' Bárbara, die sich bei einer auf diese Dienstleistung spezialisierten Agentur eine ,Mutter' mietet. Die zwei Frauen proben eine Reihe hochtheatralischer und überaus komischer Rollen. Diese reichen von der traditionellen leidgeprüften Mutter, die in weiten Teilen der lateinamerikanischen Literatur so populär ist, bis zu der berufstätigen Mutter, die um die Welt jettet; von der kalten, abweisenden Mutter zur transgressiven, die mit ihrer Tochter um deren lesbische Freundin konkurriert. Jede ,Mutter' ruft natürlich eine andere ,Tochter' hervor, und Bárbara unterläuft eine Reihe von Verwandlungen, indem sie schmollt, Befriedigung fordert, weint, um Liebe bettelt und der Ersatzmutter befiehlt, ihr ihr Geld zurückzugeben. Mutterschaft, die so lange als eine natürliche Gegebenheit essentialisiert wurde, die einzig und allein die Existenz der Frauen in Lateinamerika rechtfertigt, wird nun nicht nur als patriarchales, sondern auch als wirtschaftliches Konstrukt entlarvt. Als beispielsweise die ,Ersatz'12

Herbstzeitlose, dt. von Gerd-Rainer Prothmann. Frankfurt/Main 1987.

13

Casa Matriz, dt. von Sonja Kübler. Frankfurt/Main 1991.

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Mutter gebeten wird, die Rolle der , schwer leidgeprüften Mutter' zu spielen, bekennt sie, daß dies die Rolle sei, die am häufigsten von ihr verlangt wird: „Alle, aber auch absolut alle haben es nötig, mich in der traurigsten Unterwerfung und Knechtschaft zu sehen."(52) Wie schon in Konzert des Schweigens ist die Darstellung weiblicher Unterwerfung nach wie vor ein Bestseller. Doch die überwältigende Leistung des Dramas ist in der performativen Distanz zu finden, die Raznovich zwischen der Verkörperung und dem abwesenden Signifikat, das man als ,das Reale' annimmt, herstellt. Denn selbst ,das Reale' wird durch die hochtheatralische Natur der Äußerungen destabilisiert. Als die ,Ersatzmutter' einen Weinkrampf samt ,echter' Tränen vorspielt, fordert sie ihre ,Tochter' auf, sie zu berühren: „Einen tragischeren Effekt können Sie nicht verlangen. Ich bin die leidende Mutter par excellence. Ganz in Schwarz, putzend, weinend [...] Sehen Sie nur diese Tränenflut!"(58) Dadurch verleiht die Idee des ,Realen' der Repräsentation ihr Gewicht - und nicht umgekehrt. Das heißt, das Schauspiel repräsentiert' nicht das Reale wie in der aristotelischen Logik. Vielmehr wird das ,Reale' durch die ständigen Verkörperungen produziert. Damit deutet auch die , Ersatzmutter' auf die konstruierte Qualität der ,realen' Mutter hin, der Frau, deren Ansprüche hinsichtlich Identität und Sichtbarkeit von ihrer Fähigkeit, eine schnelle Verwandlungskünstlerin zu sein (alles mögliche für alle Menschen zu sein), abhängt. Die Rolle der Mutterschaft, die von Raznovich so klar dekonstruiert wird, ist insofern bedeutsam, als sie die Sichtbarkeit argentinischer Frauen - von Evita (der ,Mutter' des argentinischen Heimatlandes) bis zu den Müttern auf der Plaza de Mayo - sowohl stark eingeschränkt wie auch ermöglicht hat. Als Frauen hatten sie keinerlei Anspruch auf Macht oder Wiedergutmachung, aber als Mütter, symbolische oder politische, starteten sie die sichtbarsten, von Frauen angeführten politischen Bewegungen ihrer Zeit. Nur als Mütter fanden sie einen Weg, sich so zu äußern, daß ihre Mitbürger sie hören konnten. Aber die Realität ist in der Aktion selbst begründet - Evita hatte keine Kinder; die Madres, die in ihrem eigenen Leben den Tod ihrer Kinder akzeptieren mußten, nahmen für sich in Anspruch, die Mütter aller Verschwundenen zu sein. Und in der sehr öffentlichen Abgeschiedenheit der Mietagentur bezahlt Bárbara die ,Ersatzmutter' dafür, echten Ärger und echte Tränen zu zeigen. Nirgends steht die komplizierte Beziehung zwischen dem ,Akt' und dem ,Realen', zwischen dem Performativen und dem sogenannten N a türlichen' stärker im Zentrum als in Diana Raznovichs De atrás para adelante. Von der Struktur her konventionell als dreiaktige Komödie angelegt, handelt dieses Stück von einem wohlhabenden jüdischen Ge-

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schäftsmann, Simon Goldberg, der harten Zeiten entgegensieht, als sein Bad- und Installationsbetrieb bankrott macht. Alle sind schrecklich aufgeregt - seine junge Ehefrau, seine verheiratete Tochter, sein Schwiegersohn -, als das Geschäft und das Vermögen allem Anschein nach den Bach hinunter geht. Simon, der Realität aus dieser Nähe nicht ertragen kann, bricht mit einer (Schein-)Ohnmacht zusammen. Mariana, die Tochter, besteht darauf, Javier, ihren reichen Bruder, anzurufen, den Simon vor zehn Jahren aus dem Haus warf, nachdem er ihn mit Marianas Verlobtem im Bett erwischt hatte. Hilfe kommt, aber wie so oft bei Raznovich, nicht so, daß man es auf den ersten Blick erkennen oder wie man es erwarten würde. Die reizende Dolly, beziehungsweise Javier, ein(e) Transsexuelle(r), tritt auf, der/die nun eine hinreißende und liebende Frau mit Ehemann und drei Töchtern ist. Dolly rettet das Geschäft, indem sie die Argentinier davon überzeugt, daß sie ein Faible für farbiges Toilettenpapier haben (und daß ihre Hintern nichts Geringeres verdienen). Aber sie hat mehr Probleme damit, ihren homophoben Vater davon zu überzeugen, daß sie seine Liebe und seine Unterstützung verdient - als sein/e transsexuelle/r Sohn/Tochter Dolly und nicht als die Dolly, von der Simon glaubt, sie sei Javiers Ehefrau, und die er zu vergöttern bereit ist. Es ist offensichtlich, daß die Problematik, die hier angesprochen wird, über die Idee von Geschlechtsidentität als performativem Akt, wie sie in Konzert des Schweigens und Casa Matriz aufgezeigt wurde, weit hinausreicht. Geschlechtsidentität ist natürlich auch hier noch performativ, noch immer ein ,Akt', den der Körper mit der Zeit und im Verlauf gründlicher Sozialisation auszuführen erlernt. Doch die Figur des Transsexuellen stellt die Vorstellung, daß das (biologische) Geschlecht eine stabile Markierung sei, in Frage. Welches Geschlecht hat Javier /Dolly? Wie fangen wir es an, über sexuelle Differenz nachzudenken oder gar sexuelle Differenz zu definieren? Liegt die ,Differenz' in den reproduktiven Geschlechtsorganen (damit würde Javier ,sterben', wenn Dolly ins Leben tritt)? Oder liegt sie in den Hormonen? Oder in der DNS? Wie kann man in einem System, daß den Frauen ihre Subjektivität verweigert, über Geschlechterdifferenz nachdenken? Sind Frauen (wie im Schmutzigen Krieg) nichts anderes als der ,Feind' oder das ,gefährliche' Andere in einem binären System, das auf der sexuellen Zweiteilung gegründet ist, Teil einer Mann-Frau-Dza/efchTc, so wie es Denkerinnen wie Simone de Beauvoir vorgeschlagen haben? Oder sind Frauen, wie es die Figur der Irene della Porta nahelegt, einfach eine Projektion männlicher Phantasien und Verbote in einem geschlossenen System, dessen einziger Referent männlich ist, ein monologisches System oder eine singuläre phallische Ordnung, die die Existenz eines Anderen komplett negiert?

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Wenn dem so ist, dann sind weibliche Subjekte für immer sprachlich absent und unrepräsentierbar. Signalisiert diese Absenz die Grenzen diskursiver Formationen selbst und deutet sie vielleicht die Möglichkeit einer verhandelbaren Existenz zwischen den Diskursen, an den Rändern und in den Spalten an? Oder stellt sie die materielle Existenz realer historischer Wesen in Frage, eingebunden in diskursive Formationen, die sie auslöschen? Wenn Subjektivität durch den Eintritt in die Kultur hergestellt wird, so wie es Theoretikerinnen und Theoretiker wie de Beauvoir, Foucault, de Lauretis und Butler formuliert haben,14 dann ist sie geschlechtlich gebunden und, um genauer zu sein, von der monologischen männlichen Position her geschlechtlich bestimmt in einem geschlossenen System der Selbstbezüglichkeit. Es handelt sich hier um viele verschiedene Absenzen, die diskursive Absenz des ,Weiblichen' im männlichen Imaginären; die Absenz realer, historischer Frauen in agierenden Rollen in Argentinien; die Absenz der materiellen Körper von Frauen, die auf Dauer von der politischen Landkarte,entfernt' wurden. Das Verschwinden Javiers kehrt das System, das Frauen als sprachlich und tätig handelnde Subjekte auslöscht, um. Dolly wird sichtbar und damit auch die scheinbare kulturelle Unmöglichkeit: ein Mann, der in einer von Männern geprägten Gesellschaft wie Argentinien sozialisiert wurde, entscheidet sich in der Tat dafür, eine ,Frau' zu werden. Geschlecht ist keine statistische Gegebenheit. Javier wird immer ein Teil von Dolly bleiben, so wie vielleicht auch Dolly schon immer ein Teil Javiers war. Sexuelle und geschlechtliche Identität ist nicht einfach eine Frage des entweder - oder: machen sie ihr Kreuzchen hinter Mann oder Frau. Wie sagt Mariana, nachdem sie und Dolly in ihrer alten Schachtel mit Kostümen gestöbert und einige ihrer Kinderspiele wiederholt hatten: „Ich glaube, es gibt drei von uns: Mariana, Javier und Dolly." Es existiert kein unveränderliches ,Reales', das eine Reihe von Aktionen erzeugt, aber eine Reihe von Aktionen, die das ,Reale' hervorbringen. Es sind diese Performanzen, inklusive solcher linguistischer Performanzen, auf die sich J.L. Austin bezieht, wenn er über Sprechakte schreibt, die greifbare Veränderungen hervorrufen.15 Soziale Systeme erlauben, daß nur zwei akzeptable Formen von Geschlechtsidentität wahrgenommen werden können, und daß diese auf vielfältige Weise als dominant (männlich) oder untergeordnet (weiblich) markiert werden. Sprache (in diesem Fall also Spanisch) ordnet allen Substantiven ebenfalls ein 14

Michel Foucault: Sexualität, und Wahrheit I. Frankfurt/Main 1977. : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. F r a n k f u r t / M a i n 1976. Vgl. ebenfalls Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Reinbek/Hamburg 1951.

15

J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972.

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Geschlecht (Genus) zu und hebt ebenfalls das Nachgeordnete im Dominanten auf. Die Geschwister Mariana und Javier werden „Los hermanos Goldberg", die Goldberg-Brüder, genannt, eine Benennung, die die Unterschiede zwischen den beiden ausradiert. Nun ist jedoch der Mann Javier hinter der Frau Dolly verschwunden, und alle sichtbaren Spuren seiner Präsenz in ihr wurden ausgelöscht, wie die Bezeichnung „Goldberg-Brüder" die Präsenz Marianas auslöscht. (Im Deutschen: Geschwister, was beide neutralisiert. Anm. d. Hrg.) Mittels einer ganzen Ordnung von Systemen werden Identitäten zum Verschwinden und zum Wiedererscheinen gebracht - seien es politische und linguistische Auslöschungen oder Systeme, die die angemessene Verkörperung von Geschlechtsidentität und Sexualität diktieren. Angemessen. Vielleicht faßt dieses Wort den normalisierenden Code zulässigen Verhaltens zusammen, gegen den Diana Raznovich so heftig ankämpft. Die Militärjunta stellte Regeln zur Regulierung angemessenen Verhaltens auf und setzte sie durch; die Opposition diktierte die Bedingungen angemessenen Widerstandes. Die Gesellschaft verlangt, daß die Bürger ihrem sozialen und biologischen Geschlecht entsprechend angemessen handeln. Ökonomische Systeme - Fernsehen, Werbung und so weiter - sagen uns, was sich verkauft und was nicht, welche kulturellen Produkte auf den Markt kommen können und welche ausgeschlossen werden (das ist keine Zensur, es ist nur marktgerechtes Verhalten). Und wie aus dem Angemessenen das Normalisierte wird, hat mit Begehren und Wunschökonomie zu tun. Eine der Herausforderungen, denen sich autoritäre Regime stellen müssen, besteht darin, der Bevölkerung beizubringen, den Wunsch nach einem unbestimmten, höheren Gut (wie beispielsweise die nationale Einheit oder die leidenschaftliche Verteidigung des Mutterlandes) zu entwickeln, so daß sie konkrete Einschränkungen ihrer Bürgerrechte (etwa den Verlust persönlicher Freiheitsrechte wie das Wahlrecht, das Demonstrationsund Versammlungsrecht oder das Streikrecht usw.) zu akzeptieren bereit sind. Diejenigen, die sich den angedeuteten Begehrensstrukturen widersetzen, ,verschwinden' figurativ oder sprichwörtlich als Bürger. Kapitalistische ökonomische Systeme schaffen nicht nur Wünsche und Begehren und erfüllen sie, indem sie die begehrte Ware zur Verfügung stellen, sondern löschen, wie Marx zeigte, die menschliche Arbeitsleistung, die in die Produktion ging, aus. Der Arbeiter verschwindet und läßt nur das Objekt zurück, dessen Wert nicht in seinem Produktionswert, sondern in seinem Tauschwert liegt. Geschlechtliche und sexuelle Identitäten werden unter ähnlichen ökonomischen Bedingungen produziert und reproduziert. Der Mann hat die Position des Produzenten und Konsumenten inne, während der Wert der Frau in ihrem

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Tauschwert liegt. Als Star verkörpert sie die männlichen Phantasien zum gegenseitigen Nutzen von Produzent und Konsument. Als die ideale Mutter führt sie ihren Akt der Versklavung vor, einen Akt, der, wie Raznovich erkennt, eine große Nachfrage hat. Die Wirksamkeit dieser Verkörperungen ist natürlich von ihrer Naturalisierung abhängig, das heißt, von der Bereitschaft der Menschen, sie sowohl als normativ wie auch als begehrenswert anzusehen. Diejenigen, denen es nicht gelingt, an der Attraktivität dieses sozial konstruierten Begehrens teilzuhaben, verschwinden ebenfalls in irgendwelchen anderen Kategorien, die den ,Abweichlern' und ,Geschlechtsverwirrten' vorbehalten sind. Und was ist gewalttätiger, scheint Diana Raznovich in ihren Werken zu fragen: die selbstauferlegte Gewalt desjenigen, der versucht, sich in angemessene Normen zu zwängen? Oder die fremdinduzierte Gewalt (vom Verschwindenlassen bis hin zur Ächtung), die jene heimsucht, denen es nicht gelingt, den Erwartungen zu entsprechen? Es gibt verschiedene Arten von Gewalt, verschiedene Arten der Unterdrückung. Eine Dramatikerin wie Diana Raznovich, die die gegenseitigen Verbindungslinien zwischen verschiedenen Arten systemischer Gewalt erkennt, hat sich mit ihren Werken ihren Weg selbst freigeschaufelt, abweichend, transgressiv und überhaupt nicht angemessen. Deutsch von Silvia Bauer

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: „Engagement", in Noten zur Literatur III, Frankfurt/Main, S. 109. Anderson, Benedict: Imagined Communities. London 1983. Dt. Die Erfindung der Nation. FrankfurtA^ain, New York 1991/1996. Arancibia, Juana A.; Mirkin, Zulema: „Introducción", in Teatro Argentino durante el proceso. Buenos Aires 1992, S. 21. Austin, J. L.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972. Baudrillard, Jean: Simulations. New York 1983. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Reinbek/Hamburg 1951. [Orig. Le deuxième sexe. Paris 1949] Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main 1991. [Orig: Gender Trouble. New York 1990]. : Körper von Gewicht. Berlin 1995. [Orig. Bodies That Matter. New York 1993]. : „Performative Acts and Gender Construction", in Performing Feminism: Feminist Critical Theory and Theatre, hrsg. von Sue-Ellen Case. Baltimore 1990, S. 277. Foucault, Michel: Geschichte der Sexualität. Band 1, Frankfurt/Main 1977. : Überwachen und Strafen. Die Geschichte der Gefängnisse. Frankfurt/Main 1976. [Orig. Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975].

Frivole Geschütze: Diana Raznovich

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: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/Main 1977. [Orig. Histoire de la sexualité, I: La volonté de savoir. Paris 1976]. Giella, Miguel Ángel: Teatro Abierto, 1981: Teatro Argentino bajo vigilancia. Buenos Aires 1991. Insdorf, Anette: „Time for Revenge: A Discussion with Adolfo Aristarain", in Cinéaste 1983, S. 16-17. Raznovich, Diana: Herbstzeitlose, dt. von Gerd-Rainer Prothmann, Frankfurt/Main 1989. : Casa Matriz, dt. von Sonja Kübler. Frankfurt/Main 1991. : „Konzert des Schweigens", dt. von Ilse Schliessmann, in Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage und Halima Tahán. Berlin, St. Gallen, Säo Paulo 1993, S. 183-192.

Diana Taylor, Professorin und Chair of Performance Studies an der University of New York. Publikationen: Theatre of Crisis: Drama and politics in Latin America. New York 1993 (Best Book Award by New England Council on Latin American Studies); Disappearing Acts: Spectacles of Gender and Nationalism in Argentina's ,Dirty War'. New York 1997; (Hrsg.) Negotiating Performance: Gender, Sexuality and Theatricality in Latin/o America. New York 1994; (Hrsg.) The Politics of Motherhood: Activists from Left to Right. University Press of New England 1997; drei Bände mit Essays zu lateinamerikanischen, latino und spanischen Theaterautoren.

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Machtspiele und die mexikanische Krise Das neuere Theater Sabina Bermans

Mexikos Dramatikerinnen haben eine Fülle postmoderner Stücke geschrieben, die die erhabensten Helden, Ikonen und Institutionen der Nation parodieren, lächerlich machen oder auf andere Art attackieren. In ihrer Untersuchung zur Politik der Postmoderne erklärt Linda Hutcheon dieses Phänomen damit, daß die Frauen in der nationalen Politik zu den Randfiguren zählen und durch eine Kritik an der Politik oder an der Politik der Repräsentation nichts zu verlieren haben (1989:102). Carmen Boullosa, Jesusa Rodríguez, Astrid Hadad und Sabina Berman zählen zu Mexikos prominentesten und respektlosesten postmodernen Dramatikerinnen. Jede dieser ,subversiven' Frauen hat sich auf den Bühnen Mexiko Citys einen eigenen unverwechselbaren Namen gemacht, die berühmteste, mutigste, innovativste und kommerziell erfolgreichste aus dieser Gruppe ist jedoch Sabina Berman. Ihre Werke haben eine Reihe angesehener Auszeichnungen erhalten und gelten in der mexikanischen Hauptstadt als ein Markenartikel 1 Berman verwendet unterschiedliche dramatische Formen zur Darstellung intensiver, komplexer und vielschichtiger menschlicher Beziehungen - insbesondere denen zwischen Mann und Frau (siehe Bill, Suplicio del placer und Muerte súbita). In ihrem Bemühen, traditionelle Institutionen und herrschende Ideologien subversiv zu unterlaufen, hinterfragen und postmodernisieren andere ihrer Stücke aus den achtziger Jahren wie Rompecabezas, Herejía und Águila o sol Mexikos offizielle' Geschichte. 2 Ihre jüngsten Stücke - Entre Villa y una mujer desnuda (1993), Krisis (1996) und La grieta (1997) - setzen sich direkt mit Fragen der Macht auseinander und schildern in postmoderner Manier sowohl die zwischen Mann und Frau üblichen als auch die zwischen den einzelnen politischen Kräften stattfindenden Machtspiele. Vorliegende Untersuchung beschäftigt sich vor allem mit Bermans 1

Bermans dramatische Werke: Esta no es una obra de teatro (1979; später unter dem Titel Un actor se prepara); Yankee (1979; auch unter dem Titel Bill); Rompecabezas (1981; Premio Nacional de Teatro); La reacción (1982); Herejía (1983; Premio Nacional de Teatro; ursprünglicher Titel Anatema; später umbenannt und als En el nombre de Dios aufgeführt); Águila o sol (1985); Suplicio del placer (1985; zuerst unter dem Titel El jardín de las delicias); Muerte súbita (1988; zweite Fassung 1991); Entre Villa y una mujer desnuda (1993); El gordo, la pájara y el narco (1994); Krisis (1996); und La grieta (1997). Burgess gibt an, daß Berman 1 9 7 9 , 1 9 8 1 , 1 9 8 2 und 1983 den angesehenen Nationalen Theaterpreis des Nationalinstituts der schönen Künste (INBA) erhalten hat (1996: 68).

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Für mehr Informationen über die Postmodernisierung der „offiziellen" Geschichte Mexikos, siehe den Essay von Bixler in LATR 3 0 , 2 (Spring 1997), S. 45-60.

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Politik der Repräsentation und ihrer Repräsentation der Politik in diesen drei „Machtspielen", die sich alle implizit oder explizit auf Mexikos zunehmend konfliktgeladene politische Situation beziehen, eine Situation, die inzwischen als „La Crisis" bezeichnet wird. Entre Villa, Krisis und La grieta sind alle in den letzten fünf Jahren geschrieben worden, die mexikanische Krise jedoch ist nichts Neues. Sie begann 1968 mit einer Reihe von Massenprotesten, die zu dem denkwürdigen Massaker von Tlatelolco am 2. Oktober des gleichen Jahres führten. Wie der Publizist Enrique Krauze erklärt: „Tlatelolco markierte den Anfang vom Ende des politischen Systems in Mexiko." (1996: 170) Während eines der vielen Proteste, die von Studenten, Arbeitern und Intellektuellen im Vorfeld der von Mexiko ausgerichteten Olympischen Spiele veranstaltet wurden, eröffnete die Armee auf Befehl von Präsident Dlaz Ordaz das Feuer auf Tausende von unbewaffneten Menschen und tötete eine unbestimmte (sprich: zensierte) Zahl von Demonstranten. 1968 markiert nicht nur den Beginn der Krise, sondern auch ein wachsendes Mißtrauen gegenüber dem PRP, der das Land seit Ende der zwanziger Jahre kontrolliert. Die politische wurde zur wirtschaftlichen Krise, als sich das sogenannte „mexikanische Wunder" von Wohlstand und Modernisierung durch einen dramatischen Sturz der Ölpreise und den Verfall des mexikanischen Peso in sein Gegenteil verkehrte. Gerade als sich Mexiko wirtschaftlich wieder zu stabilisieren begann, wurde es durch das verheerende Erdbeben im September 1985 erneut schwer erschüttert, da sich hier das wahre Ausmaß an Korruption und Unfähigkeit der Regierung offenbarte und politisch-soziale Bewegungen an der Basis eine breite Anhängerschaft fanden. 1988 verschärfte sich die politische Krise, als der PRI zu eklatanten Betrugsmanövern griff, um die Wahl von Carlos Salinas de Gortari zum Präsidenten zu sichern. Zu Beginn des Jahres 1994, nach der Unterzeichnung des NAFTA-Abkommens, organisierte eine Gruppe von Indios in der abgelegenen Region von Chiapas einen Aufstand, der in ganz Mexiko starke Unterstützung fand. Mit der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio, der Abwertung des „neuen Peso" und der Flucht des Expräsidenten Carlos Salinas im April des gleichen Jahres war Mexikos politische Stabilität vollends dahin. Wenn sich die Krise auch im Geldbeutel am deutlichsten bemerkbar gemacht hat, so liegen ihre Wurzeln und ihre Lösung dennoch in der Politik. In ihren jüngsten Stücken reagiert Berman in ihrer üblichen ikonoklastischen Art auf die Krise, indem sie die Institution mit der stärksten 3

Partido Revolucionario

Institucional.

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Tradition in Mexiko, den PRI, verspottet und seine Autorität untergräbt. Der PRI ist „die älteste Staatspartei der Welt [...und] diejenige, die die meiste Zeit zur Verfügung hatte, sich zu verändern." (Krauze 1996: 188f.) Angesichts der Tatsache, daß die Partei und die Politik im allgemeinen überwiegend von Männern kontrolliert werden, ist es keine Überraschung, wenn die Zahl männlicher Rollen in diesen Stücken bei weitem größer ist als die weiblicher Rollen. In ihrer Untersuchung zur Macht der Geschlechter-Metaphorik stellen Marit Melhuus und Kristi Anne Stalen fest, daß [...] Macht - el poder - eine für lateinamerikanische Kulturen grundlegende Vorstellung ist, die besondere Konnotationen hat, wenn sie geschlechtsspezifisch verstanden wird. Tatsächlich kann man davon ausgehen, daß die Vorstellungen von Macht an sich bereits geschlechtsspezifisch konnotiert sind, da Macht in vielen Kontexten als ein männliches Vorrecht begriffen wird. (1996:1) Berman untergräbt diese Vorstellung von „Männlichkeit-undMacht", indem sie männliches Verhalten und die extremen Anstrengungen, die manche Männer im Bemühen um Herrschaft - sei sie sexueller oder politischer Natur - unternehmen, vollkommen lächerlich macht. In Entre Villa y una mujer desnuda parodiert Berman vor allem die Spielregeln, die das Verhältnis zwischen Mann und Frau diktieren, und verspottet so zugleich die Regeln, die das politische Verhalten in einer offenkundig patriarchalen Gesellschaft bestimmen. In Krisis geht sie von den Machtspielen zwischenmenschlicher Beziehungen zu denen zeitgenössischer mexikanischer Politik über. Einmal mehr verwendet sie die Mittel der Ironie und Parodie und zerreißt die Partei, die sowohl die politische Szene Mexikos als auch den Großteil des nationalen Lebens in den vergangenen siebzig Jahren beherrscht hat, förmlich in der Luft. Tatsächlich läßt sich der von Berman in Entre Villa dargestellte Geschlechterkampf als Mikroversion der politischen Machtspiele verstehen, die kurze Zeit später in Krisis auftauchen. Im ersten Stück feuert sie Salven des Spotts auf genau den macho ab, den sie später auf nationaler Ebene mit Bomben, Kugeln und Bazookas zerfetzt. In La grieta schließlich bedient sich Berman der Mittel der Farce und des Absurden, um sich über Machtstrukturen lustig zu machen, die unter der Last einer aufgeblähten, korrupten und ineffektiven Politbürokratie zusammenzubrechen drohen. Bermans Entwicklung von der Salonkomödie Entre Villa zur tragikomischen Gewalt und absurden Parodie von Krisis und La grieta

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offenbart ihre Absicht, eine politische Situation auf den Punkt zu bringen, die täglich empörender, gewaltsamer und unhaltbarer wird. Entre Villa y una mujer desnuda ist Bermans bekanntestes und kommerziell erfolgreichstes Stück.4 Die vier Akte dieser Komödie zeigen verschiedene Mann-Frau-Beziehungen, die wiederum dazu dienen, das Verhältnis von Geschlecht und Macht zu betrachten. Ein genauerer Blick auf die zwischen den einzelnen Figuren ausgefochtenen Machtspiele legt nahe, daß der übliche Geschlechterkampf auf nationaler Ebene mit dem Kampf zwischen den erstarrten prisaurios und den Anhängern demokratischer Reformen verbunden wird. In der Ausdehnung des Machtkonzeptes von einer sexuellen auf eine politische Ebene folge ich Melhuus und Stolen, die die These vertreten, daß „die zwischen Mann und Frau herrschenden Ungleichheiten in einem lateinamerikanischen Kontext als repräsentativ für andere Formen von Ungleichheit gesehen werden können."(1996: 2) In ihrer Arbeit zu Politik, Geschlecht und zeitgenössischer mexikanischer Erzählung macht Cynthia Steele ein sehr viel bestimmteres „Verhältnis von sozio-politischer Kritik und Konzepten von Geschlechterrollen und Beziehungen" (1992: 27) aus. Während Entre Villa oberflächlich betrachtet eine vergleichsweise harmlose Parodie auf Verhaltensweisen des machista zu sein scheint, verweist eine genauere Lesart auf eine tiefergehende Kritik an sexueller/politischer Macht und den Mythen, die zum Erhalt und Sichern dieser Macht geund mißbraucht werden. Das gesamte Stück spielt in einem Mittelklasse-Appartement in Mexiko City, wo Gina, eine Frau mittleren Alters, Besuche von ihrem Liebhaber Adrián, ihrer Freundin Andrea und ihrem Angestellten Ismael erhält. Die Beziehung zwischen Gina und Adrián ist intensiv und schwierig. Ihr liegt mehr an einer emotionalen Bindung, sie würde gern mit ihm zusammenleben und ein Kind von ihm haben, aber zunächst gibt sie sich damit zufrieden, mit ihm zu plaudern und Tee zu trinken. Adrián schwört, daß er Gina wirklich braucht, aber das einzige, was er wirklich zu brauchen scheint, ist die körperliche Beziehung. Jedesmal, wenn Gina versucht, den unvermeidlichen Gang ins Schlafzimmer mit einer Tasse Tee hinauszuzögern, verführt Adrián sie mit seiner „labia hipnótica" und schleppt sie ins Bett. Ihre Beziehung erreicht einen 4

Die Bühnenpremiere von Entre Villa 1993 unter der Regie von Berman erhielt als bestes Stück des Jahres Auszeichnungen von El Heraldo und der ASOCIACIÓN DE CRÍTICOS. Die Filmversion unter der Regie von Berman und Isabel Tardan wurde in Mexiko und Puerto Rico ausgezeichnet und als Mexikos Bewerbung um den Oscar eingereicht.

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kritischen Punkt, als Gina ihm ein Ultimatum stellt: entweder Zusammenleben oder endgültige Trennung. Adrián macht die notwendigen Versprechungen, geht mit ihr wie gewöhnlich ins Bett und verschwindet dann ohne Erklärung für drei Monate. Als er mit einem Haufen lahmer Ausreden für seine Abwesenheit endlich wieder auftaucht, sagt ihm Gina, daß sie in Ismael verliebt ist, einen Mann, der zwar sehr viel jünger ist als sie, ihre emotionalen Bedürfnisse jedoch versteht. Während sich Adrián klassisch männlich verhält, ist Ismael ein sensibler Mann der neunziger Jahre. Mit der Sicherheit im Rücken, einen Mann zu haben, der sie wirklich liebt, gelingt es Gina, den sexuellen Avancen und dem einschmeichelnden Wortschwall Adriáns zu widerstehen. Als Adrián noch einmal zurückkehrt, stellt er fest, daß Andrea, Ginas Freundin, sowohl Ginas Appartement als auch ihre Rolle übernommen hat. Andrea dreht nun den Spieß um und verführt ihn, aber Adrián kann jetzt seine angestammte Rolle im Schlafzimmer nicht spielen, angeblich, weil er Gina nicht vergessen kann. Was das Stück bereichert und über die private Ebene hinausweisen läßt, ist das sporadische Auftauchen von Pancho Villa, dem legendären General, der während der Revolution von 1910 Mexikos Revolutionsarmee aus dem Norden angeführt hat. Wie Kirsten Nigro anmerkt, verleihen Villas Auftritte einer Situation, die an sich nicht komisch ist, eine gehörige Portion Humor: Mit seiner stolzgeschwellten Brust, seinen hohen Lederstiefeln, seiner militärischen Aufmachung des norteño und seinem misogynen Geschwätz ist dieser Villa eine übermütige Karikatur des klassischen mexikanischen macho in seiner schlimmsten (und albernsten) Form; wie der historische Villa sollte er tot und begraben sein. (1996: 60) Bermans Villa ist keine aus dem Leben gegriffene Figur, sondern vielmehr der „mythische, vollkommen männliche Villa", der zur mexikanischen Ikone der Männlichkeit und des revolutionären Kampfes geworden ist. (1996: 15) Im gesamten Stück benutzt Adrián diesen Villa sowohl als sein Gewissen als auch als seine Quelle der Inspiration. Er rechtfertigt sein eigenes macho-Gehabe, indem er erklärt, so etwas wie natürliches Verhalten gäbe es gar nicht, und jeder folge den, wie er es nennt, „verinnerlichten Richtlinien" männlichen Verhaltens.5 Adrián 5

Für eine vollständige Diskussion der Geschlechter-Performanz siehe Magnarellis Essay „Masculine Acts/Anxious Encounters", in dem sie vorschlägt, daß Entre

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schreibt ein Buch über Villa, ein Buch, das vorgibt, historisch zu sein. Er spricht darüber jedoch mit einem übermäßigen macho-Vokabular: ADRIÁN Ich habe nicht mit sehr viel Feingefühl geschrieben, und die ganzen sprachlichen Verrenkungen hab ich mir gespart. Ich will die Gewalt der Angelegenheit rüberbringen: mein Buch soll nach Pferd riechen, nach Schweiß und Schießpulver. (268) Das wenige an historischer Autorität, das Buch und Autor noch haben, wird vollends zunichte gemacht, wenn Andrea ihm sagt: „Dein Roman über Villa hat mir übrigens gut gefallen. [...] Ich habe ihn an einem Stand im Vip's gekauft und dort gelesen. Er ist ja nicht sehr lang." (299)6 Bei Villas ersten Auftritten, erst mit einer jungen Frau und dann mit seiner Mutter, zeichnet ihn Berman als einen gewalttätigen Mann, der viele Frauen, aber wenig wahre Gefühle besitzt. Villa inspiriert Adrián, der, wie sein mythischer Mentor, „ataca y huye", verführt und flieht. In einer Folge paralleler Handlungen und Dialoge weigern sich beide Männer, eine dauerhafte Beziehung einzugehen. Als die junge Frau Villa einlädt, über Nacht zu bleiben, erschießt er sie seelenruhig. Schockiert über die Gewalt, fragt Gina Adrián nach einer Erklärung, und der antwortet nur „weil ich jetzt gehen muß." (273) Adrián benutzt den Mythos von Villa zur Stärkung seines eigenen Bildes und um zu rechtfertigen, daß er Gina unterdrückt und sich ihr gegenüber rücksichtslos verhält. Sharon Magnarelli schreibt dazu, Adrián benutze die Sprache auch nicht zum Gespräch, sondern zum Belehren, Verführen, Erobern und Herrschen: „[...] seine Sprache spricht nicht nur von Eroberung, sie ist eine Form der Eroberung." (1996: 63) Im Kontext der jüngsten politischen Geschichte gesehen, enthüllt Entre Villa verblüffende Parallelen zwischen Adriáns Verhalten und dem der politischen Partei, die Mexiko seit Ende der zwanziger Jahre regiert. Für beide ist Männlichkeit eine Form des politischen Diskurses. Wenn Adrián Villa fragt, womit er die Kontrolle über Gina behalten kann, greift sich Villa zwischen die Beine und fragt: „Was heißt womit?" Adrián und der PRI versuchen vergeblich, mit einer Rhetorik, die vorgeblich revolutionär ist, angesichts der aktuellen Wirklichkeit aber ihre Villa Männlichkeit als „Zitat oder erneute Performanz von zuvor autorisierten Performances (literarisiert und eingeschrieben in die historischfiktive Figur Pancho Villas)" (1997: 40) dramatisiert. 6

Vip's ist eine Laden- und Restaurantkette, die eine große Auswahl an Bestsellern, Liebesgeschichten, Lebenshilfebüchern und anderen Neuerscheinungen anbietet.

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Bedeutung verloren hat, an der Macht zu bleiben. Sowohl Adrián als auch die Partei geben vor, sich verändert und Fortschritte gemacht zu haben, obwohl sie sich in Wahrheit überhaupt nicht verändert haben. Schließlich weigern sich beide, alternative Wahrheiten und Wirklichkeiten zu überdenken. Wenn Andrea Adrián anbietet, ihm schriftliches Material über ihren Großvater, Expräsident Plutarco Elias Calles, zu besorgen, weigert sich Adrián auch nur zu erwägen, ein Buch über den Mann zu schreiben, den er für den größten Verräter an der Revolution hält. Mit anderen Worten, er weigert sich, seine Wahrnehmung der offiziellen Geschichte zu verändern, wie sich die Partei hartnäckig geweigert hat, in der Vergangenheit oder in der Zukunft andere historische Möglichkeiten zu erkennen. Bei Villas ersten beiden Auftritten demonstriert und unterstreicht Berman die Männlichkeit und emotionale Rücksichtslosigkeit des Revolutionärs. In den Schlußszenen parodiert sie den mythischen Helden, stutzt ihn zurecht und verspottet ihn. Adrián „erniedrigt sich", wenn Gina ihn zugunsten des weniger „männlichen" Ismael zurückweist, indem er bettelt und klagt. Bei jeder Niederlage seiner sexuellen oder sprachliche Avancen wird Villa von einem Schuß oder einem Messerstich verwundet. Der General feuert seinen Jünger an, in einer Weise aufzutreten, die einem echten macho besser ansteht: „Nicht ausreden lassen, verflucht! Du mußt sie schlagen, sie küssen, sie unterbrechen." (283) Den letzten Stoß versetzt Berman der Männlichkeit von Adrián/ Villa, wenn sie Adrián aus dem Fenster springen läßt, um Selbstmord zu begehen; er vergißt dabei, daß sich Ginas Appartement im Erdgeschoß befindet. An dieser Stelle „sackt [Villa] in sich zusammen. Er ist endlich tot, vor Scham gestorben." (288) Doch dieses Monument des machismo ist noch nicht endgültig tot. Im vierten und letzten Akt, während Adrián im Schlafzimmer mit Andrea zu schlafen versucht, taucht Villa auf, rittlings auf einer riesigen Kanone sitzend, die die ganze Bühne ausfüllt. In dem Augenblick, in dem sie den Höhepunkt erreichen sollten, kippt das Kanonenrohr vornüber, und eine kleine Kanonenkugel rollt heraus. Am Ende sind Villa und alles, wofür er steht, gedemütigt, von Salven des Spotts durchlöchert und der Männlichkeit beraubt. Nigro kommentiert: „Adrián und Villa sind Zielscheiben des Zuschauerspotts, Hanswürste, deren Ego und deren Phallus total geschrumpft sind."(1996: 60) Statt weiterhin alle um sich herum zu beherrschen, werden Adrián und Villa in einer neuen sozialen Revolution, deren Ziel es ist, die generell als machismo bezeichnete Verhaltensweise abzuschaffen, die underdogs sein. Berman macht sich sowohl auf privater als auch auf nationaler Ebene über den machismo lustig, indem sie Villa zum Opfer ihrer postmo-

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dernen Parodie auswählt. Seine geschickte Verflechtung in den Text erlaubt es ihr, Fiktion und Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart und den Kampf von 1910 mit dem aktuellen Kampf gegen Ungerechtigkeit zu verschmelzen. Tatsächlich sind die Machtspiele, die sich auf der Bühne zwischen Mann und Frau abspielen, eine private Version des nationalen politischen Kampfes zwischen denen, die einen Wechsel wollen, und den prisaurios, die in der Tradition erstarrt sind. Villa, macho par excellence und der Mann, der den revolutionären Geist am stärksten verkörpert hat, diente dem PRI als Prototyp des Revolutionärs. Bermans Villa ist jedoch genauso altersschwach und bar jeder Legitimation wie die Partei, die sein Image übernommen hat. Anstelle revolutionärer Reden und scharfer Munition feuert Villa nichts als Unsinn und kleine Kugeln ab. Indem sie Villa seiner Männlichkeit und Macht beraubt, stellt Berman den PRI, der die Revolution institutionalisiert und verzerrt hat, um seine eigene Hegemonie zu erhalten, ebenfalls als impotent dar. Letztlich ist Entre Villa ein „Revolutionsstück", nicht weil es den Mythen der Revolution anhängt, sondern gerade weil es die Mythen und Ikonen in Frage stellt, die der PRI siebzig Jahre lang ge- und mißbraucht hat, um seine absolute Herrschaft über das Land aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. In ihrem Erfolgsstück von 1996, Krisis, greift Berman die Richtlinien des machismo an, die die mexikanische Politik diktieren. Kein anderes Stück hat den PRI derart unverhüllt, aggressiv und heftig attackiert. Trotz des ,K' bezieht sich der Titel explizit auf die herrschende Partei, und das Stück deckt die wahren Wurzeln der Krise auf, die da sind: Vetternwirtschaft, Korruption und ein demokratisches' System, das den wiederholten Wahlsieg einer Partei garantiert, die sich paradoxerweise Partido Revolucionario Institucional nennt. Die Vorlage für Krisis ist ein anderes Berman-Stück aus dem Jahre 1994, eine Farce mit dem Titel El gordo, la päjara y el narco, in der die Triebkräfte von Sex, Drogen und Macht vereint einem tödlichen Finale zustreben. Es erscheint logisch, daß die unglaublichen Ereignisse von 1994, einem Jahr, das Fuentes „das Jahr des gefährlichen Lebens" nennt, Berman dazu inspiriert haben, die vergleichsweise unschuldige Farce El gordo in eine gewalttätige Tragikomödie zu verwandeln, die sich auf die aktuelle mexikanische Politik bezieht. 7 7

In seinem Buch A New Time for Mexico widmet Carlos Fuentes unter dem Titel „Das Jahr des gefährlichen Lebens" den unglaublichen Ereignissen des Jahres 1994 ein ganzes Kapitel; darunter waren „politische Morde in einer Größenordnung, wie man sie in Mexiko seit dem Tod von Älvaro Obregön 1928 nicht

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Der Plot von Krisis ist so kompliziert wie die Politik, die parodiert wird. Das Stück beginnt mit einem kurzen Schwarz-Weiß-Video, in dem fünf reiche Kinder Monopoly spielen. Weil die nörgelnde Haushälterin sie stört, zieht eines der Kinder eine alte, aus der mexikanischen Revolution stammende Pistole und erschießt sie. Dieses Video stellt eine kaum bekannt gewordene Begebenheit der mexikanischen Geschichte nach, bei der die Salinas-Brüder ihre Haushälterin umbrachten. Im Anschluß an das Video beginnt die dramatische Handlung. So wie sie sich einst beim Monopoly abgewechselt haben, regieren die fünf Freunde aus der Kindheit nun abwechselnd das Land. Ihre Kinderfreundschaft und der Mord an der Haushälterin bindet sie aneinander, und die fünf ,Freunde' verbringen nun die Zeit ihres erbarmungslosen Marsches auf die begehrteste „Immobilie", die Präsidentenvilla, mit Lug, Betrug und Mord. Berman untergräbt die Vorstellung einer mexikanischen Demokratie, indem sie die Motive, die die mexikanische Politik steuern, enthüllt und übersteigert; es sind Habgier, Drogen, Sex und Machthunger. Die rasche und übertriebene Handlung des Stückes parodiert vor allem das als el dedazo (Fingerzeig) bekannte Wahlsystem, in dem der aktuelle Präsident seinen Nachfolger dadurch ernennt, daß er mit dem Finger auf ihn deutet. Einer aus der sogenannten „Fünfergruppe" ist der Präsident (Vorbild Carlos Salinas); sein Bruder (alias Raul Salinas) lenkt die politische Szene aus dem Hintergrund heraus. Der dritte Freund (Vorbild Colosio) wartet ungeduldig darauf, daß der Finger endlich auf ihn zeigt, während der vierte damit rechnet, zum Bürgermeister der Hauptstadt ernannt zu werden. Der fünfte Freund ist ironischerweise Professor für Ethik, der heuchlerische Wahlreden für seine Kumpane verfaßt. Als lebenslange Freunde glauben die fünf Männer, sich gewisse Freiheiten herausnehmen zu dürfen, die von politischen Gefälligkeiten bis hin zum Sex mit der ehrgeizigen Frau des Professors reichen. Mit einer starken Prise schwarzen Humors enthüllt Berman ein korruptes und verfallenes System, das von persönlichen Interessen und Loyalitäten regiert wird. Im Bomben- und Kugelhagel sterben alle Figuren, mit Ausnahme des Präsidenten und seines Bruders, der eine Serie von Mordanschlägen anzettelt, um die Kontrolle über die Regierung zu behalten und die Fortsetzung der traditionellen präsidialen Abfolge zu sichern. Obwohl Sex, Drogen und Geld starke Antriebskräfte darstellen, ist Macht das ultimative Ziel. Wie einer der fünf erklärt: „Alles ist Politik gesehen hatte [...], Entführungen, kriminelle Vereinigungen, eine Symbiose von Drogenhandel und Politik, korrupte Gerichtsbarkeit und Inkompetenz, Gerüchte, Komplizenschaft, persönliche Angriffe, Sicherheitslücken..." (1996:118).

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[...] Machtspiel. Alles."(19) In Krisis parodiert Berman das macho-Verhalten, dem Villa und Adrián in Entre Villa frönen, nicht nur, sie hebt es auf eine nationale Ebene. „[...] es ist eine Welt von Machos" (43) läßt sie eine Figur über die Welt der Politik sagen. Adriáns „labia hipnótica" ist nun die „labia sublime" des PRI. Die Partei bedient sich der revolutionären Rhetorik, um die Wähler zu verführen, und verspricht ihnen für ihre Stimmen alles und jedes. Verschiedene, ins Publikum geschmuggelte Schauspieler stellen diese Versprechungen der Kandidaten in Frage: „Ganz unter uns. Wer den Versprechungen der Abgeordneten glaubt, hebe die Hand." (26) Natürlich hebt niemand die Hand. Wie Adrián und Villa attackieren und fliehen die fünf Kumpane, verführen und verlassen und vergessen ihre Versprechen, sobald sie ihre Ziele erreicht haben. Die unauflösliche Verbindung zwischen privater und politischer Handlung legt nahe, daß die mexikanische Krise ebenso politischer wie moralischer Natur ist. So wird beispielsweise der einzige Politiker, der ehrliche Wahlen und demokratische Reformen verspricht, von seinen besten Freunden ermordet. Der Professor für Ethik verbringt seine Zeit mit dem Versuch, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und tötet endlich seine eigene Frau. Gut und Böse selbst sind keine moralischen Kategorien mehr, sondern nur noch entgegengesetzte Enden des politischen Spektrums: „[...] das einzig Gute ist Macht, und das einzig Schlechte ist keine Macht. "(94) Schließlich läßt sich Privates und Politisches nicht mehr trennen, da diese Politik nicht von demokratischen Idealen, sondern von Freundschaften, persönlichen Gefälligkeiten, finanziellen Interessen, Sex und Drogen gelenkt wird. Berman entwirft ein gelungenes Bild der Krise, die von der politischen Partei ausgelöst wurde, die das Land seit siebzig Jahren monopolisiert hat, einer Partei, die vor nichts zurückschrecken würde, um an der Macht zu bleiben und so ,die Kontinuität' zu erhalten. Die Ironie besteht darin, daß das Stück trotz der Übertreibungen und des schwarzen Humors die tatsächlichen Verhältnisse des Landes widerspiegelt.8 Melhuus und Stalen konstatieren, daß „es gerade die Festschreibung eines 8

Obwohl es in Mexiko augenblicklich offiziell keine Zensur gibt, verbrachte Berman dennoch neun frustrierende Monate im Kampf gegen kulturelle Instanzen, bevor sie ein Theater finden konnte, das ihr erlaubte, Krisis aufzuführen. Darüber hinaus mußte sie die Produktion mit ihrem eigenen Geld finanzieren. Schließlich kämpfte sie noch gegen die Presse, die sich weigerte, über das Stück zu berichten. Sie selbst erklärt: „Die Massenmedien verweigerten uns die Öffentlichkeit, die sie normalerweise jedem Theater zugestehen. In diesem Fall war ganz klar, warum. Sie sagten uns, sie wollten keine Probleme mit der Regierung." (Privater Brief, 1997).

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Bildes als ,natürlich' ist, die ihm Kraft verleiht" (1996: 1), eine These, die erklären könnte, weshalb der PRI bis heute an der Macht geblieben ist, ohne daß sich nennenswerter Widerstand geregt hätte.9 Andererseits ist die Verfremdung desselben festgeschriebenen Bildes, in diesem Fall des PRI, in der Lage, das Bild seiner Kraft zu berauben. Indem sie die jüngste Geschichte des PRI parodiert, trägt Berman ihren Teil dazu bei, den Griff der Partei auf das Land zu lockern. In typisch postmoderner Manier zerstört Berman, ohne eine Alternative anzubieten. Sie ist davon überzeugt, daß nur die Zerstörung des Überkommenen Raum für Neues schafft. Gezielte Zerstörung fällt den Mexikanern nicht leicht: „In Mexiko fürchten wir uns, etwas bewußt zu zerstören. Lieber überlassen wir alles dem Zerfall." (Leñero 1996: 281) Während des gesamten Stückes wird die Bühne von einem großen Kasten beherrscht, der am Ende explodiert. Während Villas fallende Kanone die für die Interessen des PRI korrumpierte und manipulierte Revolution von 1910 symbolisiert, stellt die Bombe im Kasten die augenblickliche Krise dar, die unsichtbare und doch latente Revolution, die jeden Moment zu explodieren droht. Das Leben in Mexiko ist ein Machtspiel, egal ob es dabei um Sexualität oder Politik geht. Es ist das gleiche alte Monopoly-Spiel, mit der gleichen Taktik und dem gleichen Kampf zwischen den traditionellen Werten und den Kräften der Demokratie und der Moderne. Genau wie Villa das Wort „Revolution" benutzt hat, um Plünderung, Mord, Vergewaltigung und Zerstörung, (die typisch für die mexikanische Revolution waren,) zu rechtfertigen, benutzt der PRI diese Revolution von 1910, um seine eigene Kontinuität zu rechtfertigen. Aber genau wie Bermans Villa sind die Revolution und die von ihr hervorgebrachte Partei zu erbärmlichen Parodien ihrer selbst degeneriert. Obwohl Adrián seinen mythischen Mentor nie völlig aufgibt, erkennt er dennoch, daß die Revolution in ihrem jetzigen Zustand wertlos ist: „Was haben die ganze Revolution und General Villas Kampf gebracht, wenn seine Enkel heute genauso 9

Als es den Oppositionsparteien am 6. Juli 1997 das erste Mal seit 1929 gelang, die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer zu erzielen, schien sich die mexikanische Politik an einem Wendepunkt zu befinden. In den gleichen Wahlen entriß ein Nicht-PRI-Kandidat, Cuauhtémoc Cárdenas v o m PRD, dem PRI mit einem Wahlergebnis von 47 zu 26% das Bürgermeisteramt von Mexiko City. N a c h seiner Wahl z u m ersten Bürgermeister Mexiko Citys überhaupt versprach Cárdenas: „Niemand wird mehr in Mexiko mit einer H a n d b e w e g u n g allein regieren..." (Time, 44). Cárdenas, der Salinas in den wegen Wahlbetrugs anrüchigen Präsidentschaftswahlen von 1988 unterlegen war, gilt als ernsthafter Herausforderer für die Wahlen im Jahre 2000.

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beschissen dastehen wie er als Kind?" (290) Wenn es denn heute in Mexiko tatsächlich eine Revolution gibt, dann ist es die, die in dem verarmten Staat Chiapas am 1. Januar 1994 begonnen hat. Dieser Schwelbrand einer Volksrevolution kann nicht und wird nicht gelöscht werden, bis sich im politischen System Mexikos nicht wirklich demokratische Änderungen vollzogen haben. Während Krisis den überkommenen PRI auseinandergenommen hat, macht sich Bermans jüngstes Stück La grieta mit den Mitteln der Farce über die korrupte und ineffektive Bürokratie lustig, die die stärkste Stütze der Partei bildet.10 Ausgestattet mit einem stereotypen Bürozimmer als Bühnenbild, einem kleinen Ensemble stümpernder Angestellter, einem entsprechend absurden Dialog und einem metaphorischen Riß in der Decke bezieht Berman mutig Stellung gegen Rhetorik, Konformismus, Korruption und die aktuelle Krise. Auch wenn der PRI nie explizit erwähnt wird, ist dennoch klar, daß das brüchige und einstürzende Gebäude den nahe bevorstehenden und unaufhaltsamen Einsturz von Mexikos politischer Infrastruktur symbolisiert. Das Stück beginnt mit der Ankunft von El und Ella in einem nicht näher bezeichneten Büro, wo sich Licenciado F und seine beiden Lakaien, Empleado 1 und Empleado 2, um sie ,kümmern'. Die Bezeichnung der Figuren, ihr irrationales Verhalten und ihre unsinnigen Dialoge erinnern an eine Reihe absurder Stücke, in denen die Figuren gleichermaßen anonyme Bezeichnungen tragen und gleichermaßen unlogische Handlungen ausführen. El und Ella (Er und Sie), verzweifelt auf der Suche nach Arbeit und bereit, fast alles zu tun, ist von Licenciado F eine Stelle in seinem Büro angeboten worden. Nach ihrer Ankunft müssen sie endlos lange warten, während F, Empleado 1 und Empleado 2 immer wieder durch drei identische Türen, die sich im Hintergrund der Bühne befinden, kommen und gehen. Statt El und Ella ihre Aufgaben zu erklären, lassen die drei Männer sie einfach eine Reihe nicht weiter erklärter Dokumente unterschreiben. Die geläufige Höflichkeitsfloskel „Fühlen Sie sich wie zu Hause" wird zu angsteinflößender Wirklichkeit, als El und Ella am Ende des Tages feststellen, daß man sie allein gelassen und eingeschlossen hat und daß sie auf dem Bürosofa schlafen müssen. Immer, wenn El und Ella den Licenciado F nach Einzelheiten 10

La grieta wurde zuerst im Sommer 1997 im EL FORO DE LA CONCHITA in Mexico City aufgeführt. Unter der Regie von Carlos Hara war das Stück Teil einer „Cinco Dramaturgos Mexicanos" genannten Serie. Die Premiere hätte zu keinem besseren Zeitpunkt stattfinden können; innerhalb von Tagen sah der PRI das eigene Gebäude rissig werden und zusammenstürzen, als er die Macht im Unterhaus der Nationalversammlung und im Bürgermeisteramt von Mexico City verlor.

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ihrer Arbeit fragen, erinnert er sie daran, daß es gewisse „Regeln", „Vorkehrungen", „einleitende Schritte" und eine „etablierte Ordnung" gibt, denen man folgen muß. So wird auch nie irgend etwas erklärt und nie wirklich gearbeitet. Dennoch bedeutet, wie Licenciado F behauptet, „nichts tun, etwas zu tun." (54) Wie Adrián mit seiner „labia hipnótica" und der PRI mit seiner „labia sublime" kontrolliert Licenciado F durch seine Stimme, die wiederholt als „herzlich" und „zeremoniell" beschrieben wird. Er redet sehr viel, sagt aber selten etwas Wichtiges. Statt dessen benutzt er die Sprache dazu, die eigentlichen Themen zu umgehen, indem er immer wieder unwichtige Einzelheiten, wie z.B. Vanilleeis, diskutiert. Die Vorstellung, Rhetorik zur Ablenkung, Verführung und Kontrolle zu benutzen, wird zusätzlich von einem Paar großer Lippen auf einem Fernsehschirm suggeriert, welche die Figuren bei einer Reihe von Körperübungen anleiten. Wie die einschmeichelnde Stimme von Licenciado F, verführen und kontrollieren die großen, sinnlichen Lippen die Figuren, die ihren Anweisungen wie Roboter folgen: „...jeden Tag ein bißchen Gymnastik, und die Fragen erledigen sich von selbst; das Leben ist das Leben ist das Leben..."(13) Das Bühnenbild stellt ein typisches Büro dar: Schreibtisch, Sofa, Aschenbecher, Zimmerpflanze und Fernseher. Das einzig ungewöhnliche ist ein großer Riß in der Decke, „der Riß" aus dem Titel. Im Verlauf des Stückes wird er immer größer, und mehr und mehr Staub rieselt auf die Köpfe der Figuren. Licenciado F ignoriert oder meidet das Problem, bis die Menge an herabfallendem Schutt nicht mehr zu übersehen ist. Die nun folgende Vernehmung der Angestellten enthüllt keineswegs überraschend, daß das Gebäude fehlerhaft gebaut wurde, da er das für das Trägersystem vorgesehene Geld in die eigene Tasche gesteckt hat. Die Autorin hält einen durchgehend temporeichen, mechanischen und oft unlogischen Dialog aufrecht; ein Beispiel ist die Vernehmung des Buchhalters durch Licenciado F: F Erledigen wir den Fall sofort, Doktor. Ihr Neffe, Señor Narváez, hat sie bereits über die Krise informiert, in der wir uns befinden. Was meinen Sie dazu? Der Blinde nimmt seine Brille ab, haucht die Gläser an, säubert sie mit einem Taschentuch und setzt die Brille wieder auf. I feierlich Es wird nicht schneller hell, wenn man früher aufsteht. F Sprechen Sie mir nicht in Rätseln, Doktor. Sie wissen ja gar nicht, wie sehr ich leide, wenn ich meine Angestellten so verstaubt sehe; wenn ich die Verschwendung sehe, die bevorstehende Katastrophe und, vor allem, meine eigene Ohnmacht angesichts der

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Anonymität dieser Kanaille, dieses Jemand, der uns mit einem Schlag ins Elend gestürzt hat. I Morgenstund hat Gold im Mund. (56) Wie die Figuren jeder guten Farce sind diese Schreibtischbürokraten keine Menschen, sondern Maschinen. Licenciado F und seine Angestellten durchlaufen die Rituale des Tages - sie kommen zur Arbeit, sagen „Guten Morgen", essen zu Mittag, sagen „bis morgen" und gehen nach Hause - aber die einzige, wirkliche körperliche Handlung, die auf der Bühne stattfindet, von dem permanenten Kommen und Gehen durch die drei Türen einmal abgesehen, sind die Übungen, die 1 und 2 und später auch El und Ella unter Anleitung des Mundes auf dem Fernsehbildschirm absolvieren. Obwohl die Lippen die Übungsrunde mit den Worten „wir modernisieren uns" beginnen und beenden, legt das „Geschehen" in diesem Büro nahe, daß in Mexikos notorisch aufgeblähter und ineffektiver Bürokratie das genaue Gegenteil passiert. Ist La grieta rein technisch gesehen eine Farce, so zieht das Stück dennoch eine bittere Bilanz der Auswirkungen der aktuellen Krise auf die Möglichkeit der Entwicklung menschlicher Talente und Fähigkeiten. In ihren einleitenden Bemerkungen erklärt Berman, sie wolle zeigen, wie Ohnmacht zu Depression führt und Depression zu Konformismus und dieser wiederum dazu, daß man sich denjenigen anschließt, die man anfänglich verachtet hat, und sich am Ende in einen von ihnen verwandelt (wieviele Freunde sind nicht zu der Sekte übergewechselt, die sie als Jugendliche haßten); was für ein bitterer Prozeß. (2) Weil sie ihre neue Anstellung, wie auch immer sie aussehen mag, behalten wollen, sind El und Ella gezwungen, sich der Büroroutine widerstandslos anzupassen. Obwohl beide offensichtlich begabt und intelligent sind, beschränkt sich die Arbeit von El darauf, einen Stapel Papiere mit dem Namen des Licenciado zu versehen, während von Ella erwartet wird, Notizen ihrer „meetings" anzufertigen. Gegen Ende des ersten Aktes zieht Ella ihr gemustertes Kleid aus und kehrt die einfarbige Innenseite nach außen. Mit dieser einfachen Handlung zeigt sie an, daß sie sich verändert haben und nun zu den „Umgedrehten" gehören, deren Angepaßtheit Berman so beklagt. Der einzige äußere Faktor, der die tägliche Büroroutine und im übertragenen Sinne auch das nationale Leben zu durchbrechen droht, ist der Riß, der immer größer wird, laute Geräusche von sich gibt und

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Staub auf die Angestellten herabregnen läßt. Der Chef möchte jedoch weder von dem Riß hören noch darüber sprechen: „Wenn man den Riß nur ansieht, wird er größer." (55) Statt sich um ihn zu kümmern, was ja einem Eingeständnis des Problems gleichkäme, sucht sich Licenciado F lieber sofort ein Nicht-Problem, das seine Zeit und Aufmerksamkeit beansprucht: El Das beste wäre, das Gebäude evakuieren zu lassen. F Niemals. Das würde bedeuten, wir geben zu, daß wir Angst haben. Ella Und wir haben Angst. F Niemals. Niemals. El Lassen Sie es wenigstens reparieren. F Nicht direkt. Das würde bedeuten, wir geben zu, daß es ein schwerwiegender Fall ist. Und das darf auf keinen Fall passieren: Das Gebäude ist garantiert rißfrei. Beachten Sie ihn nicht. Das ist ein Befehl. Läuft durch den Vorraum, nervös Gut, jetzt ist es notwendig, die Ursache von... verdammt, so viel Staub auf einmal... die Ursache von... verläßt den Raum, energisch der schlechten Verteilung der Schreibtische in den Büros dieses Gebäudes zu untersuchen. (56) Der Riß ist ein deutlicher Verweis auf die gegenwärtige Krise, auf die Licenciado F kurze Zeit später explizit anspielt: „Der augenblickliche Zeitpunkt ist die einmalige Gelegenheit, ja, dieser Zeitpunkt der Krise, dieser Zeitpunkt, den manche sogar übertrieben zerrissen nennen, dieser Zeitpunkt, ja, ist die Gelegenheit für die große Erneuerung der Strukturen für den Fortschritt." (66, meine Hervorhebungen) Der Riß symbolisiert eindeutig die Krise, das Gebäude den PRI, der während der letzten drei Jahrzehnte rasch verfallen ist. Carlos Fuentes beschreibt das Dach der Nation nach zwei Jahrhunderten Herrschaft der Azteken, drei Jahrhunderten der Spanier und etlichen Jahrzehnten der institutionalisierten Revolution und stellt fest, daß „das alte Dach eingestürzt ist und wir ein neues wollen" (1996: 111). Steele benutzt ein ähnliches Bild, wenn sie Mexikos politische Struktur mit einer Pyramide vergleicht, deren Fundament, „der autoritäre, patriarchalische, kapitalistische Staat, 1968 zu bröckeln begann und durch das Erdbeben von 1985 weiter erschüttert wurde" (1992: 27). Auch der Handzettel der Aufführung von La grieta bekräftigt noch einmal die metaphorische Absicht des Stückes: „Was darunterliegt, wird in La grieta durch einen notwendigen Zusammenbruch bloßgelegt, denn alles verschlechtert sich in Abwesenheit,

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verdirbt in den Eingeweiden dieses großen Gebäudes, das die Struktur eines schwachen Systems darstellt." Das Ende des Stückes läßt wenig Hoffnung auf einen Wechsel, der anders aussehen könnte, als daß das ganze „Gebäude" einstürzt. In der Schlußszene ist El deutlich angepaßt; er trägt nun genau so einen grauen Anzug wie 1 und 2. Licenciado F ist hinausgeworfen und durch ein Fenster, das auch als Guillotine dient, geköpft worden. Mit großem Ernst stellt El den Empleados 1, 2 und Ella den „neuen Chef" vor, der niemand anderes ist als der kopflose Licenciado F. Die vorgeschriebene Nicht-Charakterisierung des neuen Vorgesetzten durch El deutet für die Zukunft keinerlei Änderung des Führungsstils an: „...unser neuer Chef ist außergewöhnlich... neu und ist, wie sein Titel schon sagt, unser... Chef." (71) Wenn der abgeschnittene (ohne Fundament?) Kopf von Licenciado F zu sprechen beginnt, stürzt das gesamte Dach ein. Dieses absurde und makabre Ende deutet an, daß jeder „Chef" einfach durch ein Klon ersetzt wird, dessen einziges, ungewöhnliches Merkmal seine Neuheit ist. Der kopflose (ohne Hirn?) Körper, oder der körperlose Kopf, wird weiterhin Macht ausüben, bis das Gebäude vollkommen einstürzt und ihn unter sich begräbt. Im Kontext der mexikanischen Realität vergrößert sich „der Riß" zwischen Realität und Wahn, zwischen Volk und PRI zusehends. Wie Licenciado F fährt die Partei dennoch fort, als sei nichts geschehen, ignoriert den Riß und richtet ihre Aufmerksamkeit auf alles mögliche, nur nicht auf die wahren Probleme. In ihrer eigenen Beschreibung von La grieta macht Berman eine eindeutige Anspielung auf die „Führer" ihres Landes: Reden von müder Rethorik, die in pompösen und unzusammenhängenden Sätzen abschweifen, aber mit dem Gehabe eines Führers vorgetragen werden. Aussagen, die ganz klar nichts mit der gegenwärtigen Realität zu tun haben. Eine Negation des Sprechens über eine offensichtliche, unmittelbare, tödliche Gefahr und zugleich ein Zwang zum Blablabla über alles andere. (2) Wie in Krisis verweist sie auf die dringende Notwendigkeit, das Blablabla zu beenden und über die wirklichen Probleme zu reden, wie schmerzhaft die Themen auch sein mögen. Gleichzeitig deutet sie an, daß der Riß durch Wegsehen nicht verschwinden, sondern größer wird, bis das Dach einstürzt. La grieta ist ein absurdes und dennoch merkwürdig realistisches Porträt des verfallenden PRI. In ihren einleitenden Bemerkungen erklärt Berman: „Wenn es wie absurdes Theater wirkt, ist

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das kein Zufall." (2) Gleichzeitig beschreibt sie das Stück als „dokumentarisches Theater", was unter anderem heißt, daß ihre absurde Sicht der mexikanischen Bürokratie genau wie ihre Sicht des PRI auf paradoxe Art tatsächlich realistisch ist. Berman ist eine Bilderstürmerin, der es Spaß macht, die überkommenen Ikonen der mexikanischen Kultur zu zerstören. In Entre Villa entmystifiziert sie Pancho Villa, das Symbol des machismo und der mexikanischen Revolution par excellence. Anschließend zerstört sie in Krisis das patriarchale und paternalistische Bild des PRI, der die Revolution in den letzten siebzig Jahren im Namen von Wohlstand, Patriotismus und Demokratie verstümmelt und institutionalisiert hat. In ihrem jüngsten Stück, La grieta, attackiert sie die monströse und korrupte Bürokratie, die das Fundament der herrschenden Partei bildet. In allen drei Werken drückt Berman einmal mehr ihr absolutes Mißtrauen gegenüber Institutionen, Ideologien und der vorgeblich „wahren Geschichte" Mexikos aus. Wiederholt benutzt sie die Mittel des schwarzen Humors, der Parodie und der Farce, um die sexuellen, geschichtlichen und politischen Traditionen ihres Landes auf den Kopf zu stellen, zu unterlaufen und zu ironisieren. Gleichzeitig bekräftigt sie in diesen „Machtspielen" die unauflösliche Verbindung zwischen Privatem und Politischem, zwischen machismo und Macht. Villa, der PRI und Licenciado F sind Symbole der Macht, einer Macht, die spezifisch männlich ist und von einer abgenutzten Rhetorik gestützt wird. Mit einem erfrischend anti-institutionellen Theater hat Berman auf ihre eigene, postmoderne Weise auf „la crisis" reagiert. Sie hat der erbärmlichen Farce den Krieg erklärt, die der macho, der PRI und ihre bürokratischen prisaurios täglich aufführen, um die mexikanischen Massen zu verführen und zu beherrschen. Deutsch von Johannes Fischer

Literaturverzeichnis Berman, Sabina: „Entre Villa y una mujer desnuda", in Tres obras. Mexiko 1994, S. 11-85. : „Krisis"in Tramoya, Mexiko (1996). : La grieta. Unveröffentlichtes Manuskript, 1997. Bixler, Jacqueline E.: „The Postmodernization of History in the Theatre of Sabina Berman", in LATR 3 0 , 2 (Spring 1997), S. 45-60. Burgess, Ronald D.: „Bad Girls and Good Boys in Mexican Theatre in the 1990s", in Perspectives on Contemporary Spanish American Theatre, hrsg. von Frank Dauster. Lewisburg 1996, S. 67-76.

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Fuentes, Carlos: A New Time for Mexico. New York 1996. Hutcheon, Linda: The Politics of Postmodernism. London 1989. Krauze, Enrique: Tiempo contado. Mexiko 1996. Leñero, Vicente (Hrsg.): La nueva dramaturgia mexicana. México City 1996. Magnarelli, Sharon: „Masculine Acts/Anxious Encounters: Sabina Berman's Entre Villa y una mujer desnuda", in Intertexts 1,1 (1997), S. 40-50. : „Tea for Two: Performing History and Desire in Sabina Berman's Entre Villa y una mujer desnuda", in LATR 30, 1 (1996), S. 55-74. Medina, Manuel: „La batalla de los sexos: Estrategias de desplazamiento en Entre Villa y una mujer desnuda", in Revista Fuentes Humanísticas 4 , 8 (1994), S. 107-111. Melhuus, Marit; Stalen, Kristi Anne: „Introduction", in Machos, Mistresses, Madonnas. Contesting the Power of Latin American Gender Imagery, hrsg. von Marit Melhuus und Kristi Ann Stolen. London 1996, S. 1-33. : „Mexico: The Young and the Restless", in Time (21. Juli 1997), S. 42-45. Nigro, Kirsten: „Theatre, Women, and Mexican Society: A Few Exemplary Cases", in Perspectives on Contemporary Spanish American Theatre, hrsg. von Frank Dauster. Lewisburg 1996, S. 53-66. Steele, Cynthia: Politics, Gender, and the Mexican Novel. 1968-1988. Austin 1992. Jacqueline E. Bixler, Promotion 1980 an der University of Kansas at Lawrence. Professorin für Spanisch am Virginia Politecnic Institute and State University; liest über lateinamerikanische Literatur und Kultur. Publikationen: Convention and Transgression: The Theatre of Emilio Carbalüdo. Lewisburg 1997. Zahlreiche Essays zum lateinamerikanischen Theater.

„Das Leben in mir hat meinen Namen nicht." (Ciarice Lispector:

(Rosario

Die Passion

nach

G.H.)

„iHay que inventamos!" Castellanos: El eterno femenino)

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Die Macht der Maskerade „Ich finde mich nicht", singt die mexikanische Performance-Künstlerin Astrid Hadad in ihrem Musik-Theater-Kostüm-Spektakel Heavy Nopal1. „Ich suche mich im Wörterbuch, im Telefonbuch, im Wählerverzeichnis, in der östlichen Philosophie, aber ich finde mich nicht." 2 Diese Aussage ist Teil eines Programms, in dem die Künstlerin zusammen mit ihrer Band LOS TARZANES in einem Streifzug durch Musikgattungen wie Bolero, Tango, Rock, Jazz und Heimatschnulze in atemberaubenden Wechseln zahlreiche mexikanische (zumeist weibliche) Stereotypen und Klischeefiguren Revue passieren läßt: Malinche, die virgen, den mexikanischen macho, die Nonne, die geschlagene Frau, die Revolutionärin mit dem Revolver. Selbst vor der Repräsentation einer mexikanischen Agavenlandschaft macht sie nicht halt, die sich in ihrem Rücken auf dem breit nach allen Seiten abstehenden Reifrock entfaltet. Sie bildet die Kulisse für die Darstellung einer „postmodernen Version der Coatlicue", wie die Künstlerin ihre Erscheinung ironisch kommentiert, deren Kostüm sich aus (pseudo-)aztekischem Steinmuster, zwei riesigen (Styropor-)Schlangenköpfen auf den Hüften, einem Cowboyhut auf dem Kopf und einer Gasmaske vor dem Gesicht („eine Vorsichtsmaßnahme gegen den Smog der Hauptstadt") zusammensetzt. Heavy Nopal: ein performatives Panoptikum postmoderner, (post-)feministischer Programmatik? Diese Frage reißt eine Problematik auf, die nicht nur den Einzelfall der Show von Astrid Hadad betrifft, sondern einen großen Teil des Theaters und der Dramatik lateinamerikanischer Autorinnen und dessen Rezeption. Denn die knappe Beschreibung der Show offenbart dramaturgische und thematische Grundfiguren, die geradezu symptomatisch für das Werk vieler Theatermacherinnen sind. Diese Grundfiguren lassen sich folgendermaßen charakterisieren: 1. die Abwesenheit oder Unsichtbarkeit einer zentralen Ich-Figur, hier paraphrasiert in der Kurzformel „ich finde mich nicht". Ähnliche For1

2

Astrid Hadad war mit dieser Show zum Festival THEATER DER W E L T 1 9 9 6 in Dresden eingeladen. Übers, vom Programmzettel zur Aufführung am 7 . 9 . 1 9 9 6 in München, auf die ich mich im folgenden beziehe.

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mein der Dezentralisierung von Subjektivität lassen sich beinahe leitmotivisch in sehr vielen Stücken wiederfinden. Das gilt u.a. für Aura und die elftausend Jungfrauen von Carmen Boullosa, in dem die Stimme des Inneren Monologs des Protagonisten über Tonband verkündet: „Ich [...] weiß nicht mehr, wer ich bin oder wer ich nicht bin. Ach! Sein oder Nichtsein;" 3 für Diana Raznovichs Konzert des Schweigens, in dem die Pianistin/Schauspielerin Irene della Porta das Publikum fragt: „Aber... wer bin ich? Wer? [...] Bin ich es denn selbst? Bin ich es, oder ist die, die nicht spielt, eine andere?" 4 und für die Figur der Sor Juana, die in El eterno femenino von Rosario Castellanos ihre Mitspielerinnen fragt: „Und wenn ich nicht ich bin?" 5 In Verlorene Sachen6 schließlich entfaltet Diana Raznovich das Thema der fehlenden Ich-Identität in einem großen theatralischen Akt der Schauspielerin und Diva Casalia Beltrop, die inmitten unzähliger Gepäckstücke auf einem verlassenen Bahnhof vergeblich darauf wartet, abgeholt zu werden. Irgendwann legt sie ihren grauen Regenmantel ab. Darunter erscheint ein weiterer grauer Regenmantel. So schält sich die Figur wie eine Zwiebel, ihrem Selbst auf endloser Spur. Am Ende läßt die Autorin ihre Figur vollends verschwinden: Casalia Beltrop steigt in einen ihrer Koffer und klappt ihn zu. 7 2. die Vervielfältigung weiblicher Identität in einem Spiel der Maskeraden bis hin zum Cross-Dressing bzw. die Auffächerung einer Vielzahl 3

In Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, hrsg. von Heidrun Adler, Kati Röttger. Frankfurt/Main 1998, S. 156. Orig. „Aura y las once mil vírgenes", in Carmen Boullosa: Teatro herético, Puebla 1987, S. 9-41. Vgl. dazu auch Roselyn Costantino: „Postmodernism and Feminism in Mexican Theatre: Aura y las once mil vírgenes by Carmen Boullosa", in LATR 2 8 , 2 (Spring 1995), S. 55-71, insb. S. 66.

4

In Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage, Halima Tahán. Berlin, St. Gallen, Säo Paulo 1993, S. 183-191, hier S. 185. Orig. „Desconcierto", in Teatro Abierto. Buenos Aires 1981, S. 243.

5

Rosario Castellanos: El eterno femenino. Mexiko 1975, S. 106. Vgl. dazu Ciarice Lispectors Erzählung Die Passion nach G.H... (Berlin 1984), die von dem geradezu verzweifelten Versuch der Ich-Erzählerin handelt, die eigene Identität aufzulösen: „[...] negativ zu sein, ist eine der intensivsten Daseinsformen. Da ich nicht wußte, was Sein war, bedeutete,Nicht-Sein' meine größte Annäherung an die Wahrheit." S. 33.

6

Frankfurt/Main 1989. Orig. Objetos Perdidos (Typoskript). Vgl. dazu auch Kati Röttger: „Subversives Gelächter. Das Theater von Diana Raznovich", in Materialien zum argentinischen Theater, hrsg. von Karl Kohut, Osvaldo Pellettieri. Frankfurt/Main 1998.

7

Vgl. dazu den Monolog von Griselda Gambaro aus dem lahr 1988: „Efectos personales", in Teatro 5. Buenos Aires 1991, S. 5-16.

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von Bildern der Weiblichkeit auf der Bühne. In Aura und die elftausend Jungfrauen z.B. stellt eine einzige Schauspielerin unterschiedliche Typen von vírgenes dar, die Aura zu entjungfern hat; in El eterno femenino sieht die Protagonistin Lupita auf visionäre Weise mehrere Versionen möglicher Lupitas an sich vorbeiziehen, gefolgt von einer Reihe weiblicher Ikonen wie die biblische Eva, Sor Juana und Malinche; in Konzert des Schweigens ruft Irene della Porta in einem fiktiven Dialog mit dem Publikum unterschiedliche weibliche Rollenmuster wie die Stripperin, die Schauspielerin oder den Vamp auf, die sie gleichzeitig spielt. 8 Ähnliche Techniken des Spiels mit Rollen und Identitäten werden in zahlreichen weiteren Stücken angewandt. An dieser Stelle seien exemplarisch nur folgende genannt: In Sieben Bilder im Spiegel von Albalucia Ángel 9 werden literarische und historische Frauenfiguren wie George Sand, Shakespeares Julia, Alice im Wunderland und andere als „kollektive Protagonistin(nen)" auf der Bühne als imaginärem Niemandsland verkörpert 1 0 ; ...y a otra cosa mariposa von Susana Torres Molina 11 inszeniert ein umgekehrtes Rollenspiel der Geschlechter, indem die männlichen Protagonisten des Stückes von Frauen gespielt werden 1 2 ; ähnlich verfährt Sabina Berman in Uno más uno13, wo in einem Spiel der Vertauschung im Laufe des Stückes immer unklarer wird, wer von den beiden Protagonisten den männlichen, wer den weiblichen Part innehat. In Cariño malo von Inés Stranger 14 begeht ein fiktives weibliches Ich in 8

Vgl. ähnliche monologische Techniken provokativer Vorführung stereotyper Weiblichkeitsmuster vor dem Publikum in Griselda Gambaro: El despojamiento. 1974. (Vgl. dazu auch Becky Boling: „From Pin-Ups to Striptease in Gambaro's El despojamiento", in LATR 20, 2 (Spring 1987), S. 59-65, sowie Beatriz Mosquera: En ropa interior, 1991.

9

In Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, a.a.O., S. 203-250. Orig. „Siete lunas y un espejo" (1984), in Voces en Escena, hrsg. von Nora Eidelberg, María Mercedes Jaramillo. Medellín 1991, S. 14-79.

10

Vgl. dazu Lucía Garavito: „Dramaturgia e ideología en Siete lunas y un espejo de Albalucía Ángel", in GESTOS 12,23 (Abril 1997), S. 83-96.

11

In Voces en escena, a.a.O., S. 335-403.

12

Vgl. Laurietz Seda: „El hábito no hace al monje: Travestismo, homosexualidad y lesbianismo en ...y a otra cosa mariposa de Susana Torres Molina", in LATR 30, 2 (Spring 1997), S. 103-114.

13

Sabina Berman: Tres obras. Mexiko 1994, S. 161-185. Das Stück ist der erste Teil der Trilogie El suplicio del placer (1984-1987). Dt. „Quälende Leidenschaft" in: Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. von Heidrun Adler, Victor Hugo Rascón Banda. Berlin 1993, S. 167-190.

14

In Apuntes 101 (Primavera 1990/Verano 1991), S. 17-24.

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dreifacher Typisierung einen rituellen imaginären Mord am untreuen Geliebten, um mit dem Klischeebild weiblichen Verhaltens zu brechen; in El juego von Mariela Romero 15 inszenieren Ana I und Ana II als weibliche Doppelfigur einen aggressiven Schlagabtausch von Unterwerfung und Macht 16 - und in Romeros neuerem Stück Warten auf den Italiener17 verbringen vier Frauen die Zeit des Wartens auf den „echten Mann", den sie extra aus Italien importieren, um sich an den Wochenenden abwechselnd von ihm verwöhnen zu lassen, u.a. damit, einander weibliche Klischeerollen (wie die Rumbatänzerin) vorzuspielen. 3. schließlich das Spiel mit mehreren Ebenen und Arten der Repräsentation durch die Auflösung gattungs- und medienspezifischer Grenzen und die Vermischung von z.B. Formen des realistischen Theaters mit denen des Varietés, Soaps, Reklame, Film, rituellen Handlungen oder musikalischen Einlagen etc., das für alle oben genannten Stücke konstitutiv ist. Über Unterschiede Diese und andere Charakteristika sind in jüngerer Zeit von der Kritik nicht selten zum Anlaß genommen worden, für das zeitgenössische Theater von Frauen in Lateinamerika Postmodernität unter feministischen Vorzeichen zu proklamieren. Das Stück Aura und die elftausend Jungfrauen zeigt Costantino zufolge z.B. „[...] how the author's dramatic technique reveáis a feminist attitude and a post-modern visión of Mexico as it faces the twenty-first Century" (Costantino 1995: 55), indem es „[...] confusion in the characters about themselves, their identities, their desires" (66) erzeugt. Auch Sabina Berman wird „as a postmodernist par excellence" 18 bezeichnet, nicht nur, weil sie in ihrem Stück Entre Villa y una mujer desnuda19 die Wahrheit der Repräsentation von Geschichte in Frage stellt:

15

Caracas 1977.

16

Vgl. dazu Kati Röttger: „Schreiben die Frauen Lateinamerikas ein anderes Theater?" in Theater im Schutt der Systeme, hrsg. von Kati Röttger, Martin RoederZerndt. Frankfurt/Main 1997, S. 145-161.

Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, a.a.O., S. 159-202. Orig. Esperando al italiano. Caracas 1988.

17

18

Vgl. Jacqueline Eyring Bixler: „The Postmodernization of History in the Theatre of Sabina Berman", in LATR 30, 2 (Spring 1997), S. 45-60, hier S. 56.

19

Dt. „Pancho Villa oder die nackte Frau", in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, a.a.O., S. 251-298. Orig. Entre Villa y una mujer desnuda", in Tres obras, a.a.O., S. 11-85.

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Through contradiction and distortion, Berman bares the multifaceted, narrative, and thereby fictitious nature of all historical ,truths' without offering anything in their place other than postmodern representation of these so-called ,histories'. (Bixler 1997: 57) Sharon Magnarelli stellt in bezug auf dasselbe Stück in Anlehnung an die postfeministische Theorie Judith Butlers darüber hinaus fest: What is apparent is that all characters perform historically endorsed, ritualized, and more important, engendered social roles, roles delineated by other narratives, but roles that again may well be imitations without origins.20 Schon 1991 beobachtete Catherine Larson21 insbesondere im Theater lateinamerikanischer Autorinnen die häufige Anwendung des Mittels des „game-playing" (85) mit theatralischen Referenzebenen und mit (Geschlechter-)Identitäten. Aber wird man den Intentionen der Stücke gerecht, wenn man diese Techniken als Indiz für den postmodernen feministischen Charakter dieser Stücke wertet? Kirsten Nigro hat ihn 1993 gleichsam programmatisch für die Dramatik lateinamerikanischer Autorinnen anvisiert. Mit der Begründung, daß die poststrukturalistische feministische Theorie ein Instrumentarium bereithält, das ohne Begriffe der Zentralität, Kontinuität und Finalität auskommt, hält sie diesen Ansatz für besonders geeignet, „die Stimme der Frau in die Geschichte des lateinamerikanischen Theaters einzuschreiben". Dabei hebt sie hervor: Dank der feministischen Theorien, die sich auf den Poststrukturalismus gestützt haben, um eine Krise der Fundamente [klarer binärer Oppositionen und essentialistischer Konzepte der Subjektivität] herbeizuführen, ist es nicht mehr möglich, so einfach und unschuldig über das zu sprechen, was Mann- oder Frausein bedeutet. Die Geschlechterforschung (englisch: gender-studies) hat gezeigt, bis zu welchem Punkt unser Geschlecht - männlich oder weiblich - eine 20

Sharon Magnarelli: „Tea for Two: Performing History and Desire in Sabina Berman's Entre Villa y una mujer desnuda", in LATR 30, 1 (Fall 1996), S. 55-73, hier, S. 61.

21

Catherine Larson: „Playwrights of Passage. Women and Game-Playing on the Stage", in Latin American Literary Review 19, 38 (july-dec. 1991), S. 77-89. Vgl. dazu auch: Jacqueline Eyring Bixler: „Games and Reality on Latin American Stage", in Latin American Literary Review 12 (1989), S. 22-32.

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soziale Konstruktion ist, etwas, das teilweise hergestellt und nicht von vornherein gegeben ist, etwas Zufälliges und nicht Ewiges.22 Dagegen möchte ich behaupten: Im Kontext des Theaters von Frauen in Lateinamerika hat nicht erst die gender-Forschung gezeigt, inwieweit sich (Geschlechter-)Identitäten aus wiederholten performativen Akten konstituieren und nicht einfach naturgegeben sind. Daß viele Stücke mittels der oben genannten Techniken auf das Verfahren der Herstellung von Identitäten aufmerksam machen oder damit spielen, muß nicht unbedingt Resultat einer postmodernen Perspektive sein. Das heißt nicht, daß ich die Bedeutung der gender-Kategorie und der Theoreme des Poststrukturalimus für die Analyse der theatralischen Produktionen lateinamerikanischer Autorinnen in Frage stelle; im Gegenteil, die oben zitierten präzisen Lektüren einzelner Werke tragen entscheidend dazu bei, die komplexen theatralischen Strukturen in ihrer Korrelation zu den Repräsentationsweisen von Geschlechterrollen bzw. (De-)Konstruktionen von Identitäten zu erhellen. Aber diese im f e s t lichen' Kontext hervorgebrachten Theorien können meines Erachtens für die Analyse von theatralischen Repräsentationen in lateinamerikanischen Gesellschaften nur fruchtbar gemacht werden, wenn auch (kulturelle, soziale, ethnische und andere) Differenzen berücksichtigt werden, auf die postkoloniale („Third VJorldist") feministische Kritikerinnen seit geraumer Zeit aufmerksam machen: [...] the institutionalization of a discourse of postmodernism has spawned an approach to difference that ironically erases the distinctiveness and relationality of difference itself. Typically, postmodern theorists either internalize difference so that the individual is herself seen as fragmented' and contradictory' (thus disregarding the distinctions that exist between different kinds of people), or they attempt to , subvert' difference by showing that , difference' is

22

Kirsten Nigro: „Textualidad, historia y subjetividad: Género y género", in LATR 26, 2 (Spring 1993), S. 17-24, hier S. 19f. (Übers. K.R.). 1994 veröffentlichte Kirsten Nigro den Aufsatz „Inventions and Transgressions: A Fractured Narrative on Feminist Theatre in Mexico" (Taylor, Villegas 1994, S. 137-158), in dem sie neben Boullosas Propusieron a María Castellanos El eterno femenino und Bermans Uno más uno ausführlich analysiert und in dessen Schlußteil sie unter dem Motto „Isn't there a third way for those who belong to the Third World?" die Differenz zwischen mexikanischem Feminismus und nordamerikanischer feministischer Theorieproduktion problematisiert, sie jedoch für die Analyse der Stücke nicht fruchtbar macht.

Die Macht der Maskerade

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merely a discursive illusion (thus leaving no way to contend with the fact that people experience themselves as different from each other). In either case, postmoderns reinscribe, albeit unintentionally, a kind of universalizing sameness (we are all marginal now!) that their celebration of,difference' had tried so hard to avoid.23 Ähnliche Bedenken sind von postkolonialen lateinamerikanischen Kritikern gegen eine postmodern verschleierte hegemoniale Vereinnahmung lateinamerikanischer Diskurse für ein Projekt der Dezentralisierung geäußert worden, das spezifisch historische Prozesse der (Neo-)Kolonialisierung und ihre Auswirkungen auf die lateinamerikanischen Gesellschaften sowie damit zusammenhängende Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Entwicklung gesonderter (Gegen-)Konzepte von Identitäten nicht berücksichtigt.24 Diese Problematik ist meines Erachtens bisher bis auf einige Ausnahmen 25 zu wenig in die Analyse des Theaters von Frauen in Lateinamerika eingeflossen. Im folgenden möchte ich daher ein besonderes Differenzverhältnis diskutieren, das, so meine These, in vielen Theaterstücken den Subtext der oben angedeuteten Verhandlungen über Geschlechterrollen und -identitäten bildet: die Differenz zwischen feministischen Repräsentationen von Weiblichkeit in „peripheren" und hegemonialen Kontexten, in postkolonialen und kolonialen Diskursen. Blick-Wechsel Wie ist dieses Differenzverhältnis zu verstehen? Eine bedeutende Prämisse des poststrukturalistischen Feminismus ließe sich in den 23

Paula M.L. Moya: „Postmodernism, Realism, and the Politics of Identity", in Feminist Genealogies, Colonial Legacies, Democratic Futures, hrsg. v o n M. Jacqui Alex-

ander, Chandra Talpade Mohanty. New York, London 1997, S. 125-150, hier S. 126. 24

Vgl. hierzu folgende Schriften, in denen diverse Positionen der postkolonialen Kritik in Lateinamerika entfaltet werden: Laura Garcia Moreno: „Situating Knowledges: Latin American Readings of Postmodernism", in diacritics 25, 1 (1995) S. 63-80. The Postmodern Debate in Latin America, hrsg. von John Beverly, José Oviedo in boundary 2, 2 0 , 3 (1993). Postmodernism: Center and Periphery, hrsg. v o n Desiderio N a v a r r o in South Atlantic Quarterly 9 2 , 3 (1993). On Edge: The Crisis of Contemporary

Latin American Culture, hrsg. von George Yüdice, Jean Franco, Juan Flores. Minneapolis 1992. 25

Bahnbrechendes Werk in dieser Hinsicht war Jean Franco: Plotting Women. Gender and Representation in Mexico. New York 1989, das allerdings keine Analyse des theatralischen Schaffens von Frauen liefert. Siehe dazu speziell: Nieves Martinez de Olcoz: „Cuerpo y resistencia en el reciente teatro de Griselda Gambaro", in LATR 28,2 (Spring 1995), S. 7-18.

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Worten zusammenfassen: „The decentered subject implies the dismanteling of the canonical cogito/seif, whose inferior has been traditionally gendered female." (Diamond 1989:1) Eine Folge dieser Prämisse besteht im Versuch der Dekonstruktion des objektivierenden 'wahrheitsstiftenden' Blicks auf ,die Frau als das Andere', der die Voraussetzung für die Konstitution eines erkennenenden, wissenden, männlich geprägten Subjekts bildet.26 Wenn in den Theaterstücken lateinamerikanischer Autorinnen dieses hierarchische Blickverhältnis als eines thematisiert wird, das auch in einer postkolonialen Gesellschaft wirksam ist, dann wird es immer als performatives Verhältnis dargestellt: In einem doppelten Verfahren wird der von der westlichen Epistemologie geprägte Blick auf ,die Frau als Objekt der Repräsentation' in Konkurrenz zum kolonialisierenden Blick des weißen, westlichen Subjekts auf das ,periphere Andere' gesetzt. Salman Rushdie kommentierte dieses kolonial geprägte Blickverhältnis einmal bündig mit den Worten: „Sie haben die Macht der Beschreibung, und wir sind den Bildern unterworfen, die sie sich von uns machen."27 Die doppelte Positionierung erlaubt es, naturalisierende Geschlechterzuschreibungen und die scheinbar natürliche Hierarchie der Geschlechterdifferenz zu entkräften. Denn im Angesicht der (definitorischen) Macht kolonialer Diskurse kann es weder ,natürliche' noch authentische Identitäten geben, da sie im Spiegel der Eroberungsgeschichte gebrochen sind, als „Bild in Anführungszeichen".28 Die Theaterstücke nun zitieren genau diese Anführungszeichen und setzen in der daraus resultierenden Maskerade vielfältiger Identitäten' Zwischenräume des Spiels frei, in denen das »authentische Ich' verschwindet („ich finde mich nicht"), um sich in weiblicher Wider ständigkeit neu zu erfinden. Ein Beispiel: Kirsten Nigro zufolge zeigt Rosario Castellanos in El eterno femenino, „...wie sich das Geschlecht genauso wie die szenische Figur aus Kleidung, Schminke, Kinesis, der Schauspielmethode und der Rolle, die so vielen Frauen mittels eines scripts auferlegt wurde, das sie nicht selbst geschrieben haben, zusammensetzt." (Nigro 1993: 20) Nigro leitet daraus ab, daß Castellanos die soziale Konstruiertheit des Geschlechts im Sinne der gender-Theorie bloßlegt, übersieht dabei aber, daß Castellanos in ihrem Stück explizit den Zusammenhang zur oben skizzierten postkolonialen Problematik herstellt. So läßt Castellanos eine 26

Vgl. dazu insbesondere Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt/Main 1980. Orig. Speculum de l'autre femme. Paris 1974.

27

Süddeutsche Zeitung vom 14.11.1997, S. 16.

28

Die Passion nach G.H., S. 32.

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ihrer Figuren, die feministischen Parolen der 70er Jahre zitierend, einen „dritten Weg" für die lateinamerikanischen Frauen aus dem Dilemma der Position ,der Frau als Objekt der Repräsentation' formulieren: LUPITA Rekapitulieren wir. Es gibt mehrere Optionen. Erstens: die Traditionen verteidigen und modernisieren, klar, um sie auf die Höhe der Zeit zu bringen. SEÑORA 1 Ja, ja, bravo, bravissimo! LUPITA Zweitens: mit der Vergangenheit brechen, wie es unsere blonden Cousinen, unsere guten Nachbarinnen, vorgeführt haben. SEÑORA 3 Yankies, go home! [...] SEÑORA 4 Gibt es keinen dritten Weg für die Dritte Welt, zu der wir gehören? [...] SEÑORA 5 Der dritte Weg muß den Kern des Problems treffen [...] Es genügt nicht, die Modelle nachzuahmen, die man uns auferlegt und die eine Antwort auf andere Verhältnisse sind als unsere. Es genügt nicht einmal, zu entdecken, wer wir sind. Wir müssen uns selbst erfinden!29 ¡Hay que inventarnos! „Wir müssen uns selbst erfinden!" - mit dieser Forderung ließe sich ein Großteil der hier diskutierten Theaterstücke überschreiben, die in der (theater-)spielerischen Vervielfältigung von Identitäten' auf der Bühne die Verweigerung der Erfüllung der Rolle des/der authentischen Anderen, wie sie die hegemonialen Diskurse vorsehen, betreiben. Diese Verweigerung findet auf verschiedenen Ebenen der (Durchkreuzung von) Repräsentation mittels eines Spiels des Verstecken-Zeigens einer möglichen Ich-Position statt, einem Spiel, das jede eindeutige, lineare Identifikation des Zuschauers mit einer Figur, aber auch mit einer Figur unterbindet. Neben der prismatischen Vervielfältigung eines potentiellen Ich mit vielen verschiedenen Bezeichnungen durch das Spiel selbst (wie in El eterno femenino) kann die Strategie auch darin bestehen, durch die Inkongruenz von Sprechen und Handeln der Agierenden eine lineare Subjekt-Objekt-Beziehung nicht zuzulassen, so daß der Beobachter/Zuschauer in eine labyrinthische Irre geführt wird (wie in Griselda Gambaros El Campo). Diese nicht-mimetischen Verfahren sind Bestandteil eines acting back30 (im doppelten Sinn von schau29

El eterno femenino

30

V g l . z u m Begriff des writing back: The Empire Writes Back. Theory and Practice in

a.a.O., S. 193f.

Post-Colonial Literatures, hrsg. von Bill Ashcroft, Gareth Griffiths, Helen Tiffin.

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spielen und handeln) als ein Moment des „postkolonialen" Widerstands gegen koloniale Einschreibungen, der nicht erst mit der postmodernen Auflösung zentralistischer Erkenntnismodelle und Machtverhältnisse einsetzte, sondern zum Zeitpunkt der Kolonialisierung selbst (CastroKlarén 1995: 45). Aus dieser Perspektive ließe sich fragen, ob tatsächlich die genderstudies ausschlaggebend dafür waren, daß „[...] Rosario Castellanos eine der ersten war, die nicht nur darauf bestanden hat, [daß unser Geschlecht eine soziale Konstruktion ist,] sondern auch den Bezug zur theatralischen Metaphorik gesehen hat." (Nigro 1993: 19f.) Denn schon vor Castellanos gab es bereits Alfonsina Storni mit ihren Farsas pirotécnicas31, Elena Garro u.a. mit La senora en el balcón (1959), Marcela Del Rio mit Miralina (1962) 32 und nicht zu vergessen Sor Juana Inés de la Cruz mit u.a. Los empenos de una casa, um nur einige zu nennen, die mit metatheatralischen Techniken, Mitteln der Verfremdung und/oder der Vervielfältigung ihrer Figuren aufgezeigt haben, inwieweit Bilder vermeintlich natürlicher oder authentischer Weiblichkeit bzw. Geschlechteridentität ein Resultat kultureller Konstruktionen sind. „Die geheime Kunst der Unsichtbarkeit" Astrid Hadad führt in ihrer Show besonders plausibel vor, daß die Frage der Geschlechterdifferenz im Falle der lateinamerikanischen Dramatikerinnen nicht losgelöst von der Frage der kulturellen Differenzen unter den Vorzeichen der postkolonialen Theorie betrachtet werden kann. Ihr Auftritt ließe sich als acting back par excellence bezeichen, denn ihre Show ist in erster Linie darauf angelegt, das Blickverhältnis zwischen dem betrachtenden Subjekt und dem betrachteten Objekt auf der Ebene des theatralischen Ereignisses selbst, das von diesem Blickverhältnis konstituiert ist, zu durchbrechen, um den männlichen Blick auf das ,weibliche Andere' und den ,weißen' Blick auf das ,exotische Andere' ineinander zu überführen. Dabei arbeitet sie mit dem Mittel des „[...] countergaze that turns the discriminatory look [...] back on itself." (Bhabha 1990: 190) Dies gelingt ihr zum einen durch extreme Brüche in der übertrieben klischeehaft dargebrachten Ikonographie mexikanischer Exotik, wie im New York 1989. 31

Alfonsina Storni: Dos farsas pirotécnicas: Polixena y la cocinerita; Cimbelina en 1900 y pico. Buenos Aires 1931, S. 123-168. Dt. „Polyxene und das Küchenmädchen", in: Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen a.a.O., S. 12-42.

32

Vgl. dazu auch Marcela Del Ríos Manifest Por un teatro relativista (1965), in dem sie die Bedeutung der Maskerade für die Darstellung vervielfältigter Figuren betont.

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bereits zitierten Bild der Coatlicue oder im Bild der mit riesigen weißen Lilien ausgestatteten Jungfrau, die sich mit Hilfe eines Bartes und eines Cowboyhuts im schnellen Wechsel in den mexikanischen macho verwandelt, der sie umwirbt. Gegen Ende liefert sie das Bild der Exotin schlechthin als Sambatänzerin mit zwei riesigen grellbunten PapierAnanas auf dem Kopf. Viel mehr noch erreicht die Künstlerin diese Wirkung aber mit ihren (im vorliegenden Fall englisch gesprochenen) unablässigen ironisch-pädagogischen Bemerkungen an das (deutsche) Publikum, mit denen sie ihr eigenes Spektakel kommentiert. Sie konstruiert darin dieselbe wir/ihr-Dichotomie („we Mexicans - you Europeans"), die den kolonialen Diskurs bedingt, kehrt sie jedoch um: Sie diktiert ,dem Europäer' seine Vorstellungen von der ,echten Mexikanerin' gleichsam, um ihn dann darüber aufzuklären, wie konstruiert diese Vorstellungen sind. Damit führt sie dem Zuschauer seine Machtposition als Produzent des Wissens über den Anderen direkt vor Augen („I am a museum of pop-culture Walking"), unterwandert sie jedoch zugleich, indem sie sich dem Zugriff dieses Machtwissens entzieht. „Ich finde mich nicht" wäre in dieser Lesart die letzte Konsequenz der Strategie des „countergaze" im Sinne einer „secret art of the invisibleness", die Bhabha (1990:190) in vielen postkolonialen Texten ausmacht. Wie die Funktion der „geheimen Kunst der Unsichtbarkeit" im postkolonialen Theater der Frauen genau zu verstehen ist, auch das erläutert Astrid Hadad selbst in ihrer Show. Damit ,wir' Zuschauer nämlich den tieferen Sinn ihres Liedes „Ich finde mich nicht" auch richtig verstehen, so erläutert sie vor dessen Beginn, will sie uns eine Kurzfassung der mexikanischen Geschichte von Tezcatlipoca (dem Magier der Nacht und des dampfenden Spiegels) und von Quetzalcöatl (der gefederten Schlange) erzählen: „Tetzcal will Quetzal aus dem Reich der Götter vertreiben. Um das zu erreichen, gibt er Quetzal einen Spiegel. Dieser erschreckt vor seinem Bild im Spiegel so sehr, daß er flieht und nicht mehr zurückkehrt." Die ausführliche Fassung dieser Legende sowie deren von Hadad transportierter postkolonialer kritischer Subtext lassen sich bei Carlos Fuentes nachlesen. 33 Er folgert aus dieser Legende, daß sie „[...] die Spannung [...] zwischen Sein und Werden [...], zwischen Identität und Anonymität [...] illustriere." (22) Damit spricht er das Problem der Repräsentation im Sinne von Verkörperung, Darstellung an, mit dem sich nicht nur Hadad auf so widerständige Weise befaßt, sondern auch die 33

Carlos Fuentes: „De Quetzalcöatl a Pepsicóatl", in Tiempo mexicano. Mexiko 1971, S. 17-42.

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anderen hier erwähnten Theatermacherinnen. Repäsentierbar ist nämlich nur, was sich dem Begehren nach (Wieder-)Erkennbarkeit nicht widersetzt. Quetzalcóatl hingegen hat sich mit seiner Flucht der Repräsentierbarkeit entzogen. Denn der Spiegel etabliert das Verhältnis zwischen blickendem Subjekt und erblicktem Objekt: ein Verhältnis, das eine lineare Kausalität, eine Referenzialität herstellt, die sich in der analogen Gegenüberstellung von Ich und Du manifestiert. Durch die Grenze, die Trennlinie, welche die Spiegelfläche bildet, bleiben die beiden Pole voneinander geschieden. Gerade über diese Grenze, die der fiktiven Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum gleichkommt, konstituiert sich die (illusionäre) Identität des Ich über das Abbild des Du. Quetzalcóatls „Zeit und sein Raum," so Fuentes, „[...] verweigern sich einer linearen Illusion." (18) Die Flucht bedeutet Fuentes zufolge Identitätsverweigerung. Allerdings, so folgert Fuentes weiter, wurde das leere Spiegelbild seit der Conquista von Cortés besetzt. Denn die Azteken hielten ihn für ihren heimkehrenden Quetzalcóatl, dessen Rückkehr sie immer noch erwarteten. Anstatt die Rolle des Quetzal anzunehmen, machte Cortés ,die Fremden' zu seinem Spiegelbild, indem er ihnen „die Maske des Christus überstülpte" (22), so daß es „[...] Mexiko nicht gelang, sich in seiner eigenen Maske zu erkennen." (25)34. Der Spiegel, den Cortés vorhielt, repräsentierte eben nicht dasselbe, sondern das ganz Andere, das sich den Mexikanern als Abbild bot, das ihres nicht war. Der sogenannte Vater der postkolonialen Theorie, der Psychoanalytiker und politische Theoretiker Frantz Fanon, hat die Auswirkungen der Autorität der definitorischen Kolonialmacht auf die Konstitution der Identität des kolonialisierten Anderen ähnlich beschrieben. Er war einer der ersten, der in Peau noire, masques blancs (1952) und Les damnés de la terre (1961) die Prämisse des westeuropäischen erkenntnistheoretischen Denkens, zusammengefaßt in der Kurzformel ,das Andere garantiert dem Selbst die Wahrheit seiner Identität', in einen Zusammenhang mit der Geschichte der Kolonisation brachte. Diese Prämisse, so behauptete er, sei ein ideologisches Konstrukt, das dazu diene, eine imperialistische Definition des Selbst zu konsolidieren. Seine Kritik an dieser Prämisse richtete sich explizit gegen die Theorie Freuds. Denn auch die psychoanalytische Version der Subjektkonstitution führe das bereits bei Hegel angelegte Prinzip von Negation und Inkorporation weiter fort, werde allerdings auf die Ebene des Unbewußten verlegt. Dies käme einer erneuten Legitimation der Konstruktion eines Anderen gleich, das auf 34

Übers, der Zitate: K.R.

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die Funktion reduziert sei, Subjektivität zu garantieren. Die gleiche Kritik formulierte er an der Lacanschen Spiegeltheorie, in der der Spiegel eine Relation zwischen Innenwelt und Umwelt etabliere, in welcher das koloniale Andere im übertragenen Sinne lediglich der narzistischen Selbstreflexion des „imperialistischen Subjekts" diene. Diese Selbstreflexion besteht in der Aufforderung zur Identifikation mit dem blickenden Subjekt. Damit das Subjekt dadurch aber nicht seinen Status als Selbst verlieren würde, erginge an das Andere die paradoxe doppelte Aufforderung: Sei wie ich!, aber auch: Sei nicht wie ich! Oder: Sei mimetisch identisch! und: Sei ganz anders! Vor diesem Hintergrund fragt Homi Bhabha, inwieweit Mimesis eine Möglichkeit wäre, die vorgeschriebene Identifikation zu unterwandern.35 Fanon schlägt die Mimesis vor, die jede Form von Identifikation verweigert. Bhabha entwickelt dieses Konzept „subalterner Subversion" als „secret art of invisibleness" unter dem Begriff der Mimikry weiter. Er betont ebenfalls die Bedeutung des Blickverhältnisses für die Konstitution von Identität und erklärt: „This image of human identity and, indeed, human identity as image - both familiar frames of mirrors of selfhood that speak from deep within Western culture - are inscribed in the sign of resemblence." (1990:192) Mit Ähnlichkeit ist hier ein analoges Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikator im bilateraler Raum symbolischen Bewußtseins gemeint, das im übertragenen Sinn der vierten Wand bedarf, um Identität herzustellen, denn „authenticity of identity comes to be reflected in the glassy metaphysics of the mirror and its mimetic or realistic narratives." (1990: 191) Nur der Entzug des gesuchten „Bildes im Spiegel" kann das mimetische Verlangen durchkreuzen und den Weg der Identifikation versperren: To see a missing person is to transgress [...] the subject's transitive demand for a direct object of self-reflection [...]; the ,1' in the position of mastery is, at that same time, the place of its absence, its representation. What we witness is the alienation of the eye with the sound of the signifier as the desire (to look/to be looked at) emerges and is erased. (1990:190) Das Theater der Frauen in Lateinamerika schafft Orte, an denen diese Art der „subalternen Subversion" besonders wirksam ist; nicht 35

H o m i Bhabha: „Of Mimikry and Man", in The Location ofCulture. S. 85-92.

N e w York 1994,

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nur, weil die Bühne par excellence eine vierte Wand evoziert und deshalb für das Spiel auf oder mit dieser spektakulären' Grenze prädestiniert zu sein scheint, sondern auch, weil die Verweigerung oder Unterwanderung der Identifikation mit den Mitteln der nicht-mimetischen Imitation, der Mimikry, der Maskerade, hinter der das Ich verschwindet, für so viele Werke charakteristisch ist, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Griselda Gambaros frühe Werke z.B. beschwören zwar den Effekt der Illusionsbühne, lassen aber die vierte Wand nur scheinbar intakt. Sie erzeugen den Anschein von Substanz einer Figur, indem sie sie „[...] als eine [nur] konstruierte Identität oder als eine performative Leistung [zeigen], der das gesellschaftliche Publikum, einschließlich der [Figuren] selbst Glauben schenkt" (Butler 1991: 207). Die (fiktive) Trennungslinie zwischen Bühne und Publikum - den Luxus der Anwesenheit freiwilliger Beobachter von performativen Akten - nutzt sie in ihren Stücken, um Identitäten ins Spiel zu bringen, die zwar tun, hinter denen aber kein Täter auszumachen ist. Vor allem in Das Lager36 macht sie statt dessen die Regulierungsmechanismen der Macht zum unsichtbaren Protagonisten und führt die Produktion einer fiktiven Kohärenz als notwendiges Ingredient eines entpersonifizierten Machtsystems in all seinen Grausamkeiten wie eine pathologische Folter bildlich vor. Denn die Figuren, die sich auf der Bühne bewegen, sind alle keine Täter, sondern verkörpern zitierend die Forderung nach dem „sei wie ich! sei ganz anders" eines unsichtbaren (Macht-)Zentrums. Franco spielt die Rolle des „imperialistischen Subjekts" in dessen pervertiertester Verkleidung, der SSUniform. Martin spielt den Intellektuellen, der in einem psychologischen Konvertierungsprozeß die Rolle des Kollaborateurs eingeschrieben bekommt. Emma ist die perfekte Imitation des ganz Anderen. Ihr Verhältnis zur Macht wird direkt über die Zeichen auf ihrem Körper symbolisiert: ihre Wunden auf der Haut, ihr Juckreiz, ihr Brandmal zeigen, „wie die Schranke des Körpers, seine Haut [...] systematisch durch Tabus und Überschreitungen bezeichnet wird" (Butler 1991: 194). Daß Martin ebenfalls in diesem Kreislauf gefangen ist, offenbart der Schluß des Stückes: auch ihm wird ein Zeichen in die Haut gebrannt. „Was will der Mann?" Macht es vor diesem Hintergrund überhaupt noch Sinn, nach Geschlechterdifferenz im Theater der Frauen in Lateinamerika zu fragen? Mit Fanon und anderen (Bhabha 1990, Richard 1993, Kaminsky 1993) 36

München (o.J.). Orig. „El campo", in dies.: Teatro 4. Buenos Aires 1990.

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argumentiert, ist es gerade der oben explizierte (post-)koloniale Kontext, der diese Frage sinnvoll erscheinen läßt. Denn überlegte Freud noch: „Was will das Weib?", um ihr, deren Sexualität er metaphorisch als „dunklen Kontinent" umschrieb 37 , in der symbolischen Ordnung die Stelle des Sinnträgers einzuräumen, des schweigenden Bildes, (über) das (sich) der Mann mittels der Herrschaft der Sprache definiert, übersetzt Fanon Freud im Hinblick auf das Funktionieren des kolonialen Diskurses in die Frage „was will der Mann?" (Bhabha 1990: 185), um die Wirkung des kolonialen Diskurses explizit als Entmannung zu konfigurieren. (Fuss 1995) Das heißt: Mag die Geschlechterdifferenz auch im „phallogozentrischen" Sinne in den postkolonialen Gesellschaften wirksam sein, so ist sie doch auch als verfremdete Differenz rezipierbar, in der der Mann lediglich die Rolle „des Mannes" spielt. „Was will der Mann?" ist daher auch die Frage, die immer wieder von den Dramatikerinnen gestellt wird. Vielfach zitieren sie die „Männlichkeit" des Mannes, um sie letztlich durch die Parodie seiner Potenz zu verneinen. Die Macht der Bezeichnung eines ,weiblichen Anderen', um (männliche) Identität zu konstituieren, wird der ,männlichen' Position somit abgesprochen, wie exemplarisch Rosario Castellanos in El eterno femenino anhand einer Persiflage des paradiesischen Paares Adam und Eva mit ,weiblicher' Widerständigkeit vorführt: ADAM Und daß du mir nicht vergißt: du heißt Eva. Wiederhole: Eva. EVA Warum? A D A M verwirrt und, natürlich, erzürnt Was meinst du mit warum? Solche Fragen stellt keine anständige Frau. Gehorche, und damit hat sich's. EVA Ich sehe den Grund nicht. ADAM der ihn auch nicht sieht. Um dies zu verbergen Du willst nur das Gegenteil behaupten, dich interessant machen. Warum folgst du nicht dem Beispiel der anderen? Sieh mal. Macht vor, was er sagt. Du heißt Baum. B-a-u-m. Und du, Ameise. A-m-e-i-s-e. [...] EVA Ich höre keine Antwort. ADAM Das ist genau, was du lernen sollst. Nicht zu antworten.

[...]

EVA Und mit wem redest du dann?

37

Sigmund Freud: „Die Weiblichkeit", in ders: Gesammelte Werke, Bd. XV, hrsg. von Anna Freud et al. Frankfurt/Main 1940, S. 119-145.

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ADAM Ich rede nicht mit, sondern für [...] Und du sollst dir endlich ein für allemal merken, daß dein Zustand rein zufällig ist. EVA Genau wie deiner. ADAM Oh nein! Ich bin notwendig. Ohne mich könnte Gott weder erkannt, noch verehrt, noch befolgt werden. EVA Du kannst mir nicht absprechen, daß dein Gott, von dem du redest (und den ich nie gesehen habe), eitel ist: Er braucht einen Spiegel!

[...]

ADAM Also, wiederhole, was ich dich gelehrt habe. Wie heißt du? EVA Wie nennst du mich? ADAM Eva. EVA Gut. Das ist das Pseudonym, mit dem ich in die Geschichte eingehen werde. Aber meinen wahren Namen, mit dem ich mich nenne, den werde ich niemandem sagen, am wenigsten dir. 38 Castellanos zitiert die christliche Urszene des Ausschlusses von Weiblichkeit aus dem System von Sprache und der Repräsentation, aber entstellt sie zugleich, indem sie die männlich konnotierte Autorität der Erkenntnis bricht, sie für die Eva ihrer Erzählung nicht gelten läßt. Diese zieht sich hinter das Bild, das man(n) sich von ihr macht, zurück. Sie weicht einer Parade weiblicher Maskeraden auf der Bühne, die allesamt Frauenrollen vorführen, die „irgendwie" nicht passen: die historischen Frauenfiguren ebensowenig wie die „Braut" Lupita, die „Hausfrau" Lupita, das „Medienereignis" Lupita und andere mehr. Diese Rollen stehen zur Verfügung, u m sie sich anzueignen und wieder abzulegen, denn eigene kann es nicht geben. „¡Hay que inventarnos!" Wie die erwähnten Theaterstücke zeigen, wird der ,fremde' Blick, werden die ,fremden' Diskurse nicht als von Außen der Gesellschaft auferlegte diskutiert, sondern als solche, die als performative Kraft von Innen wirken. Sie machen deutlich, daß es im Kontext einer Gesellschaft, die von der Gewalt der Akkulturalisation geprägt ist, eine naturalisierte Performanz der Weiblichkeit kaum geben kann. Die Gewalt der Akkulturalisation, die sich in der Gewalt der Repräsentation des Anderen fortsetzt, verursacht einen Riß im Spiegel, eine Lücke, einen Zwischenraum, in dem sich vor der Kulisse der Entmannung eine widerständige Weiblichkeit artikuliert, die sich nicht benennen lassen will. Diese ,weibliche' Strategie des Widerstands betreibt eine empfindliche Störung der

38 Übers.: K.R. Orig. a.a.O., S. 75-77.

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, w e i ß e n ' D i s k u r s e , m ä n n l i c h e r ' E r o b e r u n g weiblichen o d e r kolonialen Territoriums. Sabina B e r m a n z.B. n i m m t es in ihren Stücken m i t d e n p s y c h o a n a lytischen Diskursen d e r Konstruktion m ä n n l i c h e r Subjektivität auf, u m sie z u u n t e r l a u f e n . 3 9 Ihre T h e a t e r s t ü c k e d u r c h b r e c h e n d a s L a c a n s c h e , G e s e t z d e s P h a l l u s ' , i n d e m sie d e n P h a l l u s als Signifikanten u n d als G a r a n t d e r Geschlechterdifferenz, w i e er v o n L a c a n in s e i n e m E n t w u r f d e r „heterosexuellen K o m ö d i e " v o n Phallus haben (symbolisches Subjekt d e r B e g i e r d e ) u n d Phallus sein (symbolisches Objekt d e r B e g i e r d e ) aufgerufen w i r d , z u Fall b r i n g t . 4 0 Diese O p e r a t i o n führt sie e x e m p l a r i s c h in i h r e m S t ü c k Uno más uncfl1 a u s . P r o t a g o n i s t d e s S t ü c k e s ist ein S c h n u r r b a r t , S y m b o l für Männlichkeit schlechthin. D a s b e s o n d e r e a n d i e s e m Schurrbart ist, daß er z w i s c h e n d e r weiblichen Figur Ella u n d d e r 39

Vgl. dazu auch den Vortrag (ohne Titel), den sie anläßlich des Symposiums „A stage of their own. On Spanish, Latin American and U.S. Latina Women in the Theatre" 1994 in Cincinnati gehalten hat. Er ist als Erzählung in drei Akten konzipiert, in deren Mittelpunkt Esperanza und eine Pistole stehen. Esperanza will schon als Kind eine Pistole, aber - so heißt es im ersten Akt - „Die Pistole ist Sache der Männer." Dritte Szene des zweiten Akts: „Freuds Knochen liegen in einem Grab in London, aber seine Person ist das Resümee zivilisierter Intelligenz der westlichen Welt [...] ,Laß die Pistolen', sagt Freud. Die Pistole ist ein Penis, und die Mädchen haben keinen Penis; es ist besser, wenn Esperanza das akzeptiert: sie hat keinen Penis." (S. 2 des Typoskripts. Übers. K.R.)

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Die strukturale psychoanalytische Forschung nach Lacan hat einen Zusammenhang zwischen der Spiegelmetapher und der Vergewisserung über die illusionäre Ganzheitlichkeit eines männlichen Ich zu belegen versucht. In seinem 1936 verfaßten Aufsatz „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion", (in Schriften I. Weinheim, Berlin 1991, S. 61-70) entwarf Lacan eine Theorie der imaginären Dimension menschlicher Subjektivität. Kurz zusammengefaßt lautet diese Theorie: Der Spiegel reflektiert im frühkindlichen Stadium der unkoordinierten Bewegung ein Bild imaginärer Ganzheit, das die Voraussetzung für den Eintritt des Ich in die symbolische Ordnung (d.h. die durch Sprache strukturierten Denk- und Bedeutungssysteme) darstellt. Dieses Szenario folgt heterosexuellen Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Lacan der Freudschen Theorie der Kastrationsdrohung entlehnt. Freud bringt den Blick in einen direkten Zusammenhang mit der Entdeckung des Geschlechtsunterschieds, denn er ist es, der den Verlust des Penis beim Mädchen wahrnimmt. Die dadurch in Gang gesetzte Vorstellbarkeit des eigenen Penisverlustes beim Jungen äußert sich in der Angst vor der Kastration. Das Geschlechterverhältnis wird demnach dem Primat des Phallus unterworfen, der als Garant einer defizitären weiblichen Geschlechtsidentität funktioniert. „Der Blick soll bei Freud also dort über die Eindeutigkeit von Geschlechtsidentität entscheiden, wo ihm das Nichts, das Unsichtbare entgegenschlägt." (Öhlschläger 1996: 22)

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1994 aufgenommen in ihre Trilogie El suplicio del placer.

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männlichen Figur El ausgetauscht wird. Bis auf die Bezeichnungen El und Ella sind beide nicht durch besondere (geschlechtliche) Kodierungen voneinander unterschieden: „Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich" (169), das Haar kurz und mahagonirot gefärbt, schlank, schön und anziehend, weiße Seidenhose und dazugehörige Hemdbluse. Beim gemeinsamen Morgentee entspinnt sich ein Streit über den Schnurrbart: ER Jetzt weiß ich, was so seltsam an dir ist. Du trägst deinen Schnauzbart nicht. SIE Meinen Schnauzbart? Natürlich trage ich meinen Schnauzbart nicht. Meinen Schnauzbart, den trägst du nämlich. (169) Im Laufe des Gesprächs erweist sich nicht nur, daß der Schnauzbart das geschlechtlich zunächst ,neutrale' Paar je nach Aneignung des ,Requisits' eindeutig in eine heterosexuelle Rollenverteilung einzuorden scheint, sondern auch, daß der Schnauzbart für El (der ihn sich während der letzten nächtlichen Party von Ella ausgeliehen hatte, ohne sich an diesem Morgen daran zu erinnern) die Rechtfertigung für einen männlichen Eroberungsfeldzug war, der ihm nun von Ella in Erinnerung gerufen wird: SIE DU wolltest die Dunkelhaarige am Nebentisch auf dich aufmerksam machen und hast mich gebeten, ihn dir zu borgen. Du hast sie beim Abendessen gesehen, und da sie allein war, wolltest du sie ansprechen. (170) Über die Nacherzählung seines Feldzugs wird Sie zur sprechenden Instanz, die Ihn in die Geschichte einschreibt. Gleichzeitig verläßt sie auch wieder diese Position, indem sie seinen Part in der Geschichte nachstellt: „Sie setzt ihren Bericht fort, wobei sie seinen Part übernimmt und er die Dunkelhaarige spielt." (172) Damit führt Berman einen weiteren Bruch der gerade aufgerufenen männlichen Performanz herbei, der dadurch noch weiter verstärkt wird und irritierend wirkt, daß sie in der Rolle der den erobernden Mann spielenden Frau keinen Schnurrbart trägt. Die schließlich von beiden nachgespielte und gleichzeitig in diesem Moment aber auch erst hervorgerufene sexuelle Annäherung zwischen Ihm/der Dunkelhaarigen und Ihr/dem Mann, die auch noch von immer wiederkehrenden Reflexionen über die Beziehung zwischen Ihm und Ihr unterbrochen wird, verspricht zunächst zu einem phallischen Höhepunkt zu führen, wobei sich wiederum die Rollen verkehren:

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Er macht ihr vor, wie er die Dunkelhaarige liebkost hat. Sie sieht ihm zu. Ah, meine Hände auf ihrer glatten Haut [...] Ich ließ sie meine Brust küssen [...] Ich schob ihr Gesicht nach unten. Meine Hose, sagte ich, öffne sie mir mit den Zähnen. [...] Meinen Schwanz. Nimm ihn. Pack das Vögelchen, mein Kind! (176) Die männliche Erfüllung (der Begierde/der Geschichte) fällt jedoch jäh in sich zusammen: Die Beleuchtung wechselt und vermittelt jetzt den Eindruck eines traumhaften Geschehens. Sie kniet nieder. Sie rutscht auf Knien und rudert mit den Armen in der Luft, als wäre sie blind. SIE wie ein kleines Mädchen Wo ist das Vögelchen? Wo ist meine Nachtigall? Ich bin es leid, sie im Dunkeln zu suchen. (176) Der Phallus, Signifikant männlicher illusionärer Identität, wird hier zur Leerstelle. Der Eine, das die Geschlechter trennende Prinzip, wird buchstäblich ausgeblendet, die Blickherrschaft wird negiert, wodurch die Geschlechterpositionen in Bewegung gesetzt werden. Durch diesen Akt der Entmannung ist es möglich, daß Sie sich am Ende ironischerweise erneut in einer,männlichen' Position befindet: ER Nein, es gibt keinen Mann, der mir besser gefällt als du. Du bist unwiderstehlich mit deinem Schnauzbart. Leg ihn an. Er klebt ihn ihr selbst an, streichelt ihren Schnurrbart. (177) Ähnliche Geschlechtermaskeraden, die über die ,Konfiguration der Entmannung' Positionen ,weiblicher' Macht zeitweilig freisetzen, lassen sich in vielen weiteren Stücken beobachten42, so bei Gambaro, die in Das Unding43 die klassische Geschichte männlicher sexueller Initiation als große Katastrophe inszeniert, die nicht zum ,kleinen Tod', sondern zur großen Erstarrung führt; oder bei Diana Raznovich, die in Unter der Gürtellinie44 die „heterosexuelle Komödie" der Geschlechterdifferenz zur heterosexuellen Groteske verzerrt: Der wenig einsatzbereite Penis des 42

Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Jacqueline Bixler, in dem sie u.a. beschreibt, inwiefern Pancho Villa oder die nackte Frau eine Fortschreibung der Ge-

schichte männlicher Impotenz auch auf historischer Ebene darstellt. 43

Veröffentlicht in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen. A.a.O. S. 39-86. Orig. „El desatino" (1967) in dies.: Teatro 4. Buenos Aires 1990.

44

Veröffentlicht ebd., S. 325-374. Orig.: De la cintura para abajo (1991).

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Ehemannes, der mit seiner Frau immer nur anläßlich des Geburtstags seiner Mutter schläft und dabei an nichts anderes als eine große Geburtstagstorte denkt, soll endlich funktionstüchtig gemacht werden. Das Paar gerät in die Hände eines Sexualtherapeuten. Er verschreibt ihnen eine Sado-Maso-Kur, die den Mann in die Rolle des unterdrückerischen macho, die Frau in die der lateinamerikanischen chingada versetzt. Einmal von den Medien entdeckt, wird die Sado-Maso-Kur als Szenario erfüllter ehelicher Sexualität vermarktet und zum großen kommerziellen Erfolg. Die Fotografen reißen sich um authentische Bilder der SchlafzimmerSchlacht. Auch Unter der Gürtellinie untergräbt die Herrschaft des (kolonialisierenden) Blicks auf theatralischer Ebene. Es überführt den Zuschauerblick seiner voyeuristischen Intention, indem es ihn um das groteske Kameraauge des nordamerikanischen Fotografen verlängert, der „authentischen südamerikanischen Schmerz" und „grausamen, bluttriefenden Sadismus" in Folter-Handlungen vor die Linse bekommen will, ein Szenario, das auf der Bühne mit viel roter Schminke und „stimulierender Marschmusik" künstlich hergestellt wird. Der Blickbruch mit Hilfe der Konfrontation unterschiedlicher Arten hyperbolischer Repräsentation auf theatralischer Ebene wird auf narrativer Ebene ebenfalls als Unterbrechung phallischer Erfüllung des Begehrens nach einer linear strukturierten Geschichte fortgesetzt. Spätestens zum Schluß des Stückes wird klar, daß die Inszenierung männlicher Potenz und Macht buchstäblich zu ,nichts' geführt hat. Am Ende sieht die Szene im Schlafzimmer genauso aus wie zu Anfang: Er schnarcht, und sie ißt verzweifelt ihre trockenen Beruhigungskekse. Auch in diesem Stück wird die Psychoanalyse und ihre Theorie der Konstruktion männlicher Subjektivität zwar anzitiert, aber im Kontext des Stückes und der Gesellschaft, in der es spielt, entkräftet, ja geradezu für ungültig erklärt. Als der Ehemann in der ersten Szene des Stückes zwischen Ehefrau und Mutter (die herbeigeeilt war, um das Schlafzimmer-Fiasko zu begutachten) schnarcht, erklärt die Ehefrau: Hier gibt es keinen Symbolgehalt. Freud wurde aus dem Bett geschmissen. Nicht einmal Euripides hätte ohne eine Spur von Schuldgefühl neben seiner Mutter geschnarcht! [...] Ich weiß, es fehlt nicht mehr viel bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, aber ich hätte nie gedacht, daß es möglich wäre, alles mit einem Federstrich zu zerstören! Lacan hat ausgedient. (350)

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Die Wiedergabe von Diskursen in diesen Theaterstücken, die sich als logozentrische und buchstäblich auch als „phallische" gebärden, läuft letztlich auf eine anti-mimetische Störung dieser Diskurse hinaus, und zwar durch die Verweigerung oder Durchkreuzung eines definitorischen, linearen Blickverhältnisses auf symbolischer, narrativer und theatralischer Ebene. Da der männliche wahrheitsstiftende Blick auf ,die Frau als das Andere', wie er für die westliche Erkenntnistheorie und die Ordnung von Repräsentation konstitutiv ist, im postkolonialen Kontext der hier diskutierten Theaterproduktionen gleichzeitig als ,entmännlichter' Blick eines Schein-Subjekts thematisiert wird, das seine (männliche) Subjekthaftigkeit nur zitiert, setzen die Theaterstücke Zwischenräume frei, in denen fixierte Geschlechterrollen beweglich werden oder zumindest als konstruierte vorgeführt werden. In diesen Zwischenräumen äußert sich eine weibliche Widerständigkeit, die sich dem fixierten Bild ,der Frau' entzieht und statt dessen eine Vielzahl von Positionen (auch männlicher) für sich verfügbar macht. Das Spiel mit der Grenze ^wischen' Bühne und Publikum widerruft die fiktive Trennlinie ,zwischen' Wirklichkeit und Repräsentation, ,zwischen' blickendem Subjekt und erblicktem Objekt, die Bühne als Spiegel des (zu-)schauenden Ichs wird zerschlagen. Dieses Verfahren widersetzt sich dem „phallischen" Begehren nach Identität, nach Herrschaft des Wissens, nach mimetischer Analogie von Signifikant und Signifikat, von Wirklichkeit und Repräsentation, von Frau und ,Bild'. Statt dessen wird die Macht der Maskerade aufgerufen, die sich der Macht des definitorischen, kolonialisierenden Blicks entzieht; ein Entzug, der (weibliche) Subjektivität behauptet, die vielfältig ist, ohne einen Namen, immer wieder neu zu erfinden, aber existent im Sinne von Lispectors Worten: „[...] das Leben in mir hat meinen Namen nicht."

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Kati Röttger (1958), Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Promotion an der Freien Universität Berlin, Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Mitbegründerin der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.; 1995-1997 Postdoktorandin im Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz und Literatur" an der Universität München.

Schreibe einen Monolog, und du reduzierst die Kosten auf ein Minimum: Autor, Darsteller, Bühnenbild, Regie, alles in einer Person. Du brauchst nur noch den Beleuchter. Thomas Bernhard

Heidrun Adler

Sprich mit mir!

Zur Technik des Monologs Der Monolog ist die älteste und die modernste Konvention des Theaters. Er hat eine ununterbrochene Tradition als selbständige dramatische Form vom antiken Prolog bis zur One-Man-Show auf der Bühne und im Fernsehen. Bei Otto Ludwig lesen wir, der Monolog sei das eigentlich Dramaturgische1. Aber worauf beruht seine dramaturgische Kraft? Beim Sprechen stellen wir unabhängig vom Inhalt unserer Rede einen zwischenmenschlichen Bezug her. Wir tauschen, ohne uns direkt darüber klar zu sein, unsere Vorstellung von uns selbst aus und erwarten eine Bestätigung oder eine Ablehnung dieser Vorstellung.2 Das heißt, unsere existentielle und soziale Identität wird in jedem Gespräch unausgesprochen geprüft. Im Monolog, wenn wir den Dialog in die Phantasie versetzen, mit Halluzinationen sprechen, mit einem fiktiven Gegenüber, das eine andere Position der eigenen Person darstellen mag, wird die Wirklichkeit hypostasiert, als Freund oder Feind betrachtet. Auch hier geht es unabhängig vom Inhalt des Gesprächs darum, Anhaltspunkte für eine Selbstdefinition zu erhalten. Im Drama vollzieht sich dieser Prozeß der Selbstdefinition, ihrer Bestätigung oder Entwertung vor aller Augen. Ich betone, vor aller Augen, denn die Sichtbarkeit ist das Wesen der Gattung. Auf dem Theater spielt sich ein ständiger Wechsel vom Sichtbaren zum Imaginären ab, vom Imaginären zum Sichtbaren. Wer hinausgeht, verschwindet nicht in der Garderobe, sondern in der Phantasie des Zuschauers. Hinter Türen, Fenstern etc. befinden sich nicht die Rückseiten der Kulissen, sondern andere Räume, Landschaften. Sichtbare Gestalten auf der Bühne lassen imaginäre Szenen außerhalb des Bühnenraums entstehen, reale Fakten können mit Hilfe von Lichteffekten, Geräuschen und anderen, die Phantasie des Publikums manipulierenden Mitteln aufgehoben werden. Das ist ein dieser Gattung spezifischer Modus ästhetischer Fiktion. Der Monolog nun wird ganz und gar von der Dialektik von sichtbarer und 1

Otto Ludwig: Werke. Berlin, Leipzig o.J., S. 374.

2

Peter Wazlawick: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien 1972, S. 83.

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Heidrun Adler

imaginärer Gegenwart bestimmt. Er erreicht eine Auflösung des sichtbaren Raums und der logischen Kontinuität der Zeit allein mit dem (von einem guten Schauspieler) vorgetragenen Wort. Die dramatis persona steht allein da und wendet sich an die zum Partner hypostasierte Wirklichkeit, der sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Ihr soziales Umfeld wird als Ganzes gegenwärtig. Wenn zwei oder mehrere Personen auf der Bühne agieren, ist der gesellschaftliche Kontext, der ihrer Rede zugrunde liegt, stets gleichzeitig Funktion ihrer jeweils besonderen Interaktion, des jeweils besonderen Spiels der Selbstdarstellung oder Ablehnung in der verbalen Kommunikation über ein Thema.3 Nur im Monolog wird das ungeteilte Allgemeine zum Partner. Darüber hinaus können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in beliebiger Folge und aus jeweils subjektivem Blickwinkel betrachtet in einem Bühnenauftritt zusammengedrängt werden. Autoren von Theatermonologen nutzten diese phantastischen Möglichkeiten einer nicht-linearen Erzählweise, lange bevor der moderne Roman sie für sich entdeckte. Dieses komprimierte Ganze erhält die Kraft jener Wirklichkeit eines realen Gegenübers, das unsere Figur akzeptiert oder sie verwirft.4 Darin liegt die einzigartige theatralische Kraft des Monologs. Im klassischen Drama wurde die Konvention des Planungs- und Enthüllungsmonologs, das Beiseitesprechen, dann als Mittel eingesetzt, wenn die Situation eine Offenlegung der Motive, Emotionen und Meinungen erschwerte. Im 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, ist die Neigung zum Monologisieren im europäischen und auch im nordamerikanischen Drama in erster Linie eine Manifestation gestörter Kommunikation, Isolation, Entfremdung des Individuums. Weil eine Kommunikation schwierig oder unmöglich wird, die zwischenmenschlichen Beziehungen verfallen, verfällt auch der Dialog im modernen Drama. Die Figuren neigen dazu, sich in Erinnerungen und Wunschvorstellungen zu verlieren, sich abzukapseln, aneinander vorbeizureden, zu monologisieren. In Lateinamerika aber, wo von zehn beliebig aus verschiedenen Ländern zusammengetragenen Theaterstücken der letzten zwanzig Jahre mindestens drei, wenn nicht mehr, Monologe sind, suchen die Figuren die Kommunikation. Wir finden hier keinen Rück3

Ebd., S. 88.

4

Peter von Matt: „Der Monolog", in Beiträge zur Poetik des Dramas, hrsg. von Werner Keller. Darmstadt 1976, S. 71-90. Am Beispiel des Monologs des Figaro in Beaumarchais' Le mariage de Figaro zeigt von Matt, wie dem allein auf der Bühne sprechenden Figaro das gesamte gesellschaftliche Umfeld gegenübersteht, während die mit einer oder mehreren Personen agierende Figur sich nur mit den jeweiligen Partnern (Suzanne; der Graf etc.) auseinandersetzen muß.

Zur Technik des Monologs

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zug in sich selbst, schlimmstenfalls Resignation, nachdem alle Versuche, aus der Vereinzelung herauszukommen, wieder mit den anderen in Beziehung zu treten, gescheitert sind. Der Monolog ist hier eine Aufforderung zum Gespräch: „Sprich mit mir! Ich flehe dich an!" Korrekterweise müßten wir von Monodramen sprechen, aber die Mehrzahl dieser Stücke stellt klar heraus, daß es in ihnen in erster Linie um das Monologisieren geht, um die theatralische Wirkung des Alleinsprechens auf der Bühne. In welcher Weise sich die Autorinnen des modernen lateinamerikanischen Theaters dieses Genres bedienen, soll hier an einigen Beispielen gezeigt werden. Die große Zahl der untersuchten Monologe läßt sich in vier Grundtypen einteilen: 1. Das Gespräch mit einem oder mehreren nicht auf der Bühne sichtbaren Partnern, deren Stimmen wir hören. In La mujer ancla (Die Moderatorin). Puerto Rico 1994, von Alina Marrero agiert die Journalistin Rosa am Telephon, im Dialog durch die Wand mit ihrem Nachbarn oder mit sich selbst. Sie ist allein in ihrem Appartement, wenige Stunden, bevor bekanntgegeben wird, ob sie oder ihr männlicher Kollege zum Chefredakteur ernannt wird, und unmittelbar nachdem sie erfahren hat, daß man ihr den Mann vorgezogen hat. Sie evoziert die einzelnen Akteure ihres Dramas, die sie allesamt verachtet, mit denen sie ringt, die sie vermutlich auch bezwingen würde, wäre da nicht die gesichtslose Macht, die Gesellschaft. Dagegen ist sie machtlos. Ihre Angst, man könnte sich gegen sie entscheiden, wird zur existentiellen Angst. Ihr Leben steht auf dem Spiel. Sie flüchtet sich in aggressive Träume, in denen ihr Konkurrent stirbt, alle Welt ihre Leistung anerkennt und auch belohnt. Tagtraum und Drogen als Metapher des Selbstbetrugs. Ein aussichtsloser Kampf, in dem sie unterliegt. Doch noch im Untergang bäumt Rosa sich auf: Rosa del Prado Campo, nichts als eine Benennung des Körpers. Von heute an werde ich jeden Abend Kerzen vor meinem Spiegelbild anzünden, angesichts der einzigen Göttin, an die ich glaube, werde ich um Kraft beten. Ich werde über mich selbst siegen. Keiner wird mir den Preis wegnehmen!5

„Die Moderatorin", in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen,

Heidrun Adler und Kati Röttger. Frankfurt/Main 1998, S. 375-406.

hrsg. von

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Heidrun

Adler

„Sprache ist die Quintessenz von Handlung", heißt es bei Langer6, und obwohl der Monolog von Handlung begleitet sein kann, in unserem Beispiel ist es die Vorbereitung der Moderatorin auf ihren Auftritt, ist seine vorherrschende Eigenschaft die Verwandlung von Spielzeit in Erzählzeit. Wir erleben in der ersten Szene des Stücks nahezu simultan das ganze Leben der Protagonistin, die psychischen Folgen der aktuellen Anspannung, Szenen aus ihrer Kindheit, ihr Verhältnis zu Männern, ihre Situation im Sender und die Projektion ihrer durch alle anderen Partner frustrierten Liebe auf eine Puppe, vielleicht das Kind, die Familie, die sie ihrer Karriere geopfert hat. In der zweiten Szene, am selben Ort, dem Appartement der Protagonistin, ,sehen' wir sie in der demütigenden Show im Sender, zu Hause unter Drogen, vor der Gleichgültigkeit ihrer Mutter, in zukünftigen Situationen, in denen sie souverän die Niederlage ihres Lebens camoufliert und großzügig in einen Sieg verwandelt. Die Form des Monologs erlaubt den unmittelbaren Transfer dieses Textes in andere kulturelle Kontexte; ein Vergleich mit anderen puertorikanischen Stücken läßt vermuten, daß die Darstellung der Situation dieser Frau in Dialogen kaum über den lokalen Bereich hinaus von Bedeutung wäre.7 Der Monolog hingegen besetzt die evozierten Bilder mit den Details des Umfelds des Zuschauers und transportiert auf diese Weise genau das, was die Autorin zeigen will: den Teufelskreis, in dem eine ehrgeizige Frau in einer von männlichen Codizes beherrschten Welt gefangen ist, egal welcher Nation diese Welt ist. 2. Der Dialog mit dem Publikum, wobei diesem eine konkrete Rolle zugewiesen wird. In dem Stück En ropa interior, Argentinien 1991, von Beatriz Mosquera ,diskutiert' die Figur, die Autorin als Schauspielerin, mit ihrem Publikum über das Wesen einer Theaterrolle, über Bühnen- und Regieanweisungen, über das Leben und über die Rolle der Frau darin, wobei sie ständig zwischen Autorin und ihrer Rolle wechselt, vom Hundertsten zum Tausendsten kommt. Ihr Spott über Restriktionen oder miserable soziale Zustände verhindern allerdings nicht, daß sie ihre Welt bejaht, sich im Sinne Northrop Fryes8 von ihr akzeptiert fühlt, sich den Umständen anpaßt, auf gar keinen Fall aus dieser Welt fliehen möchte. 6

Susanne Langer: Feeling and Form. New York 1957, S. 307.

7

siehe dazu Jury M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/Main 1973, S. 385.

8

In Analyse der Literaturkritik, Stuttgart 1964, definiert Frye zwei literarische Grundkategorien, das Tragische und das Komische; im einen Fall wird der Protagonist aus der Gesellschaft ausgeschlossen, im anderen in sie aufgenommen. S. 40-57.

Zur Technik des Monologs

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Ändern würde sie sie gern. Und immer wieder, selbst im größten Lamento, fordert sie ihr Publikum auf, sich am Gespräch zu beteiligen: „Gibt es gar keine Fragen...?" Die Beziehung zwischen Autor und Publikum, die Griselda Gambaro generell als eine dialektische Beziehung zwischen Exhibitionist und Voyeur 9 beschreibt, stellt Mosquera hier wortwörtlich her: Sie selbst, Autorin und Schauspielerin in einer Person, steht allein und im Unterrock da und spricht zu ihrem Publikum darüber, wie man sich fühlt, wenn man allein auf der Bühne steht, nämlich einerseits: Hier sind wir nun [...] Ich... und Sie. [...] Diese Begegnungen liebe ich, wenn ich mein Ego wie ein Pfauenrad entfalten kann, und alle anderen mir aufmerksam zusehen und sich keine Schattierung meines Gefieders entgehen lassen. (1) Andererseits steht man da „wie im Unterrock", das heißt: quasi nackt. Die Frau auf der Bühne inszeniert sich selbst. Sie gewinnt mit dem Monolog die Kontrolle über Zeit und Raum, das heißt, die Macht, Wahrheit und Lüge, Traum und Wirklichkeit zu manipulieren. Sie spricht im Monolog aber auch ohne jegliche , Verkleidung' von sich selbst. In Desconcierto (Konzert des Schweigens), Argentinien 1981, von Diana Raznovich spielt eine Pianistin über Jahre vor vollem Saal Beethovens Pathétique auf einem Flügel, der keine Töne von sich gibt. Diese Tonlosigkeit gewinnt die Eigenschaft des Gestus, die Künstlerin ist unter dem Druck der Militärdiktatur verstummt. Der Monolog weist aber weit über die aktuelle politische Situation hinaus auf die Tatsache, daß Frauen in einer patriarchalischen Umwelt schweigen und das breite Publikum dies beklatscht. Über die Selbstbeschränkung zu sprechen, wird buchstäblich zur Entkleidungsszene. Wie Beatriz Mosquera steht die Protagonistin schließlich fast nackt vor ihrem Publikum: Ihre Körperlichkeit stellt sich als kulturell bedingte ,Bedeutung' dar. Die Frau, die ihre Stimme erhebt, ist sich bewußt, daß sie nur mit äußerster Subjektivität vorgehen kann, um an Vorurteilen zu rütteln, sich gegen Repressionen zur Wehr zu setzen. Und diese Subjektivität, so zeigt der Monolog, hat stets etwas Zweideutiges: sie ist einerseits Offenheit/Nacktheit; andererseits ist sie ein erotisches Spiel mit dem Publikum: Was ist es, was Sie von mir wollen? [...] Wollen sie mich noch veniger bekleidet sehen? [...] Wissen Sie jetzt mehr über (mich)? So, 9

Griselda Gambaro: „Algunas consideraciones sobre la mujer y la literatura", in Revista Iberoamericana, 132-133 (julio-dic. 1985), S. 472.

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wie ich jetzt vor Ihnen stehe, nackt bis auf die Haut? [...] Habe ich Erfolg, wenn ich mich ausziehe?10 Sie ist das Wissen um die Manipulierbarkeit vor allem des männlichen Zuschauers. Souverän führen Raznovich und Mosquera die tradierte Rolle der Frau ad absurdum. Übertroffen werden sie nur von den Performance-Künstlerinnen wie Astrid Hadad, Jesusa Rodriguez oder der Nordamerikanerin Carolee Schneeman, die in Interior Scroll (1975) nackt auf der Bühne steht und ihren Text von einer Rolle abliest, die sie sich zwischen den Beinen hervorzieht. 3. Das Gespräch mit imaginären Stimmen, Halluzinationen, stummen Partnern auf der Bühne, personifizierten Gegenständen etc. Dies ist die häufigste Form des Monologs. Die Figuren benutzen die fiktiven Partner, um von sich selbst zu berichten, in direkter, schlichter Weise: „Dies tat ich... Jenes ist mir passiert..."; oder indem sie uns kommentierend und agierend durch ihre Geschichte führen. Facettenreicher spielt Beatriz Mosquera in Violeta Parra y sus voces, Argentinien 1986, mit verschiedenen Möglichkeiten dieser Monologform, wo, wie der Titel schon sagt, Violeta Parra mit verschiedenen Stimmen über ihr Leben spricht. Die Stimmen haben eine Erzählerfunktion, sie tragen Fakten vor, Kommentare aus Zeitungen, Berichte von Zeugen. Sie bilden den familiären und sozialen Kontext, mit dem die Figur sich auseinandersetzt, in direkter Abwehr, im gedankenvollen Selbstgespräch oder ans Publikum gewandt. Der Monolog ist hier von keiner Handlung begleitet, er ist Selbstkritik, Rechtfertigung und Erklärung im nachhinein, eine laute Reflexion, die zu dem Ergebnis kommt, daß man die gesellschaftlich programmierten Schuldgefühle mit eigenen Argumenten aufarbeiten und die männlich bestimmten Moralvorstellungen aufbrechen muß, um den Vorurteilen der Öffentlichkeit begegnen und schließlich seinen Frieden mit der Welt machen zu können: Da sind wir nun, Sie und ich, hier sind wir, auf diesem Fest der Stimmen und Erinnerungen. Wir können uns die Hand reichen und weitermachen. Zusammen! [...] Und wir singen, weil wir am Leben sind. Danke. (78)

10

„Konzert des Schweigens", in Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage und Halima Tahän. Berlin, St. Gallen, Säo Paulo 1990, S. 183-192; S. 187.

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Marcela Del Rio läßt in De Camino al concierto, Mexiko 1989, ihre Figur, einen Geiger, auf dem Totenbett sein Leben erzählen. Er spricht mit seiner Frau, wendet sich ans Publikum, an einen Freund u n d andere Personen u n d breitet auf diese Weise seinen Werdegang als Künstler vor uns aus. Seine Gegenwart (das ist der Augenblick vor einem Konzert, in d e m er sich anzieht, auf die Pianistin wartet, die ihn begleiten soll) u n d seine Vergangenheit (das ist seine Ausbildungszeit, sein entbehrungsreiches Leben bis z u m internationalen Erfolg) fließen ineinander. Erst am Ende wird klar, daß er, ein in aller Welt bekannter Künstler, in seiner Heimat, auf d e m Weg ins Konzert einen Autounfall hatte, total ausgeraubt w u r d e u n d n u n als unidentifizierte Leiche im Leichenschauhaus liegt. Mit den Möglichkeiten des Monologs, durch Zeit u n d Raum zu wechseln, wird hier eine massive Anklage gegen die konkreten Umstände des Kunstbetriebs in Mexiko geführt u n d gegen die mexikanische Öffentlichkeit, die den Einzelnen zur Selbstverleugnung zwingen, ihm das Äußerste abverlangen und ihm den Lohn dafür schuldig bleiben. In El despojamiento, Argentinien 1974, von Griselda Gambaro wird eine Frau, die zu einem Vorstellungsgespräch in ein Büro kommt, von einem stummen Angestellten systematisch geplündert. Gambaro stellt hier mit aller Deutlichkeit die entscheidenden Faktoren heraus, die ihrer Meinung nach die Rolle der Frau in ihrem sozialen Kontext bestimmen: männliche Gewalt u n d freiwillige Unterwerfung. 1. Der Mann, mit dem die Frau verabredet ist, läßt sie ohne Erklärung oder Entschuldigung warten. 2. Ein Mann nimmt der Frau nacheinander die Tasche, Kleidungsstücke, Tisch und Stuhl weg. 3. Die Frau protestiert u n d fügt sich sofort. Erklärungen u n d Entschuldigungen, die der Mann schuldig bleibt, formuliert sie sich selbst. 4. Die Frau gibt schließlich freiwillig alles her; sie wägt ab, was wichtiger ist: ihr Stolz, ihre Würde oder der Job, den sie durch ihre Unterwerfung zu bekommen hofft. 5. Sie sucht die Schuld an ihrer Situation bei sich selbst u n d n i m m t sie als unumgänglich an: Der Bursche kommt auf sie zu und will ihr den Rock herunterreißen. Was tun Sie da? Verschwinden Sie! Sie wehrt sich. [...] Der Bursche deutet ungerührt auf ihren Rock. Hören Sie auf, mir die Sachen vom Leib zu reißen! [...] Können Sie nicht d a r u m bitten? Für w e n halten Sie mich? Sie könnten freundlicher sein! ...könnten ...taktvoller sein. [...] Ich gebe Ihnen ja, was Sie wollen! Jeder arbeitet auf seine Weise... [...] Ich nehme an, so ist es eben... schneller, effektiver. Hier, ich gebe ihn ja. Sie zieht den Rock aus und reicht ihn dem Burschen. Sehen Sie? Wir sind Freunde. Warum verärgern Sie mich, wenn m a n mit etwas Freundlichkeit viel besser zusammenarbeitet? (179)

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Anders als in Konzert des Schweigens verläuft diese erzwungene Entkleidung parallel zur seelischen Entblößung. Die Frau gibt immer mehr von sich preis. Wenn sie zu Anfang noch behauptet, sie wisse, wo die Grenzen sind, die kein Mann überschreiten darf, haucht sie am Ende, als Persönlichkeit vollkommen vernichtet, nur noch: „Pepe...", Hilfe suchend bei dem Mann, von dem sie berichtet hatte, daß er sie ausbeutet und schlägt. Paradox? Nein, die ,kanonisierte' Mann-Frau-Situation ist für sie jenem hilflosen Ausgeliefertsein unbedingt vorzuziehen - auch hier zeigt Gambaro die Mittäterschaft des Opfers. Der zermürbende Kampf zwischen Selbstbewußtsein und erwartetem Rollenverhalten die Monologform unterstreicht, daß dies ein Kampf mit sich selbst ist endet mit der totalen Aufgabe des Selbstbewußtseins. 4. Der innere Monolog als Selbstanalyse im Gespräch mit einem imaginären Gegenüber. In Nashira, oscura luz, Argentinien 1991, von Cristina Bosco spricht eine Frau mit einem imaginären Gast, dabei läßt sie vor ihm das typische' Leben einer Frau in Argentinien Revue passieren. Hier dient der Monolog dazu, Erinnerungen aufzuarbeiten und die eigene Wahrheit zu finden. In lockeren Assoziationen, Anspielungen auf das politische Umfeld und der gesellschaftlichen Farce: „Ich hoffe, ich langweile Sie nicht..."; „Entschuldigen Sie, daß ich so auf Sie einrede..." wird die subjektive Position dieser Frau gesucht. Ihr Leben besteht aus lauter fehlgeschlagenen Beziehungen. Aufbegehren und Anpassung wechseln einander ab. Sie schickt sich in die Umstände, rechtfertigt das eigene Verhalten, rückt die Fakten zurecht und verfällt immer wieder dem Selbstbetrug. Diese Frau ist dazu erzogen worden, den Fehler bei sich selbst zu suchen, wenn sie mit der Gesellschaft in Konflikt gerät. Aber agiert sie konform mit den ihr vorgegebenen Normen, spürt sie, daß sie nicht sie selbst ist, sondern ein angelerntes Rollenverhalten zeigt. Ihre Identität wird immer in Beziehung auf den Mann definiert. Und ihre Rolle innerhalb dieser Beziehung ist a priori die des schuldigen Opfers, da männliche Codizes die Wertskala des weiblichen Bewußtseins bestimmen. Überraschend ist, daß dieses Motiv sich durch die Stücke aller lateinamerikanischen Autorinnen zieht. In Fefu y sus amigas, New York 1977, von der Kubanerin Maria Irene Fornes wird es besonders kraß im Monolog der Julia, einem erzwungenen Glaubensbekenntnis, formuliert: Der Mensch ist männlichen Geschlechts [...] Alles auf der Welt ist für ihn, den Mann. [...] Damit er sie beherrscht [...] Und die Frau ist

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bösartig. Sie ist kein menschliches Wesen. [...] Ihre sexuellen Gefühle wirken bis in den Tod, und sie nimmt sie mit ins Jenseits, wo sie dem Himmel Verderben bringen. Dann wird sie in die Hölle verwiesen, wo sie vielleicht durch Leiden von diesen Gefühlen erlöst wird und ihr gestattet wird, in Gestalt eines Mannes auf die Erde zurückzukehren. 11 Das sprechende Subjekt ist in der Lage, den Teufelskreis des traditionellen Rollenverständnisses zu durchbrechen und die eigene Identität zu finden. In der Regel scheitern diese Versuche jedoch. Aber allein durch das Benennen der Dinge verändern sich diese. Das kann soweit gehen wie Griselda Gambaro es in El nombre, Argentinien 1974, zeigt. Sie führt uns eine alte Dienerin vor, der man in jeder neuen Anstellung einen neuen Namen gab und die darüber den Verstand verlor. Im Monolog versucht hier das Subjekt, den Prozeß wieder umzukehren und mit Hilfe der sprachlichen Realität, der Erzählung des gelebten Lebens, dem Aussprechen des eigenen Namens auch die eigene Existenz zu manifestieren. MARÍA Die Señora fragte ganz freundlich: „Wie heißt du?" Ich zögerte einen Augenblick, murmelte wie der Fluß, und sie erschrak. Sie wollte einen richtigen Namen, wie die Leute ihn haben. Da dachte ich nach und, um ihr einen Gefallen zu tun, suchte ich den schönsten Namen aus: Eleonora. [...] Und sie sagte: „Nein, ich bitte dich, darf ich dich Maria nennen? Das ist dein Name. Maria." Und es klang beinahe gut, wie sie es sagte. Maria. Aber ich wollte nicht. [...] Ich wollte nicht einmal den Namen Eleonora. Ich hab ihn ihr überlassen. Diesen nimmt mir keiner weg. Sie wiegt sich und summt vor sich hin, doch plötzlich öffnet sie den Mund, und aus dem Summen wird ein langer, unendlicher Schrei. (160) Die wenigen hier angeführten Beispiele demonstrieren bereits, daß die allein auf der Bühne agierende Figur mit Hilfe der Phantasie des Zuschauers in der Lage ist, uns ihren geschlossenen Lebensraum zu vergegenwärtigen, durch Zeit und Raum zu reisen und Identität zu klären und auch zu verändern. Der Monolog bietet sich also geradezu als Darstellungsform an, um jene weibliche Subjektivität zu zeigen, um die im Konflikt der Geschlechter gerungen wird: Frauen nehmen sich das Wort, geben sich selbst eine Stimme, zeigen sich allein auf der Bühne und fordern über die eigene Formulierung ihrer Gedanken und Gefühle 11

„Freundinnen", in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen. A.a.O., S. 87-136.

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auf zum Dialog. Der Monolog eine theatrale Realisation von genderstudies?

Literaturverzeichnis Bosco, Cristina: Nashira, oscura Zuz. Buenos Aires 1991. Del Rio, Marcela: De Camino al concierto. Mexiko 1984. Fornes, Maria Irene: „Freundinnen", in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen (Adler, Röttger 1998), S. 87-137. [Orig. „Fefu y sus amigas", in Wordplay. An Anthology of New American Drama. New York 1980, S. 5-41, und in Teatro: 5 autores cubanos. OLLANTAY Press, Vol. I. New York 1995, S. 1-60.] Gambaro, Griselda: „El despojamiento" (1974), in Teatro abierto. Buenos Aires 1981, S. 170-181. : „El nombre" (1974), in Teatro abierto. Buenos Aires 1982, S. 154-160. Marrero, Alina: „Die Moderatorin", in Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, (Adler, Röttger 1998), S. 375-406. [Orig. La mujer ancla, San Juan de Puerto Rico 1994.] Mosquera, Beatriz: En ropa interior. Typoskript 1991. : „Violeta Parra y sus voces", in dies.: Teatro. Buenos Aires 1990, S. 61-78. Raznovich, Diana: „Konzert des Schweigens", in Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage, und Halima Tahän. Berlin, St. Gallen, Säo Paulo 1993, S. 183192. [ Orig.: „Deskoncierto", in Teatro abierto. Buenos Aires 1981, S. 243-246.] Cohn, Ruby: „Outward Bound Soliloquies", in Journal of Modern Literature (6. Febr. 1977), S. 17-38. Frieden, Ken: Genius and Monolog. New York 1985. Frye, Northrop: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart 1964. Gambaro, Griselda: „Algunas consideraciones sobre la mujer y la literatura", in Revista Iberoamericana 132-133 (julio-dic. 1985), S. 472. Geis, Deborah R.: Postmodern Theatric[k]s. University of Michigan Press 1995. Langer, Susanne: Feeling and Form. New York 1957. Lotman, Jury, M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/Main 1973. Ludwig, Otto: Werke. Berlin/Leipzig o.J. Matt, Peter von: „Der Monolog", in Beiträge zur Poetik des Dramas, hrsg. von Werner Keller. Darmstadt 1976, S. 71-90. Wazlawick, Peter: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien 1972. Heidrun Adler (1939), Promotion an der Universität Hamburg, Hispanistik und Geschichte. Publikationen: Politisches Theater in Lateinamerika. Berlin 1982; Theater in Lateinamerika. Ein Handbuch. (Hrsg.) Berlin 1991; Theaterstücke aus Mexiko. (Hrsg. mit Victor Hugo Rascón Banda) Berlin 1993; Materialien zum Theater in Mexiko. (Hrsg. mit Kirsten Nigro) Berlin 1994; Aufsätze zu Lyrik, Roman und Theater Lateinamerikas.

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Geschlechterverhältnisse, Macht und Politik in der Dramatik von Frauen in Chile Nicht nur in der westlichen Welt, auch in den präkolumbianischen Kulturen Amerikas war die Politik immer schon ein Terrain, das Männer besetzt hielten, in den hiesigen Kulturen vor allem durch die direkte Verbindung zwischen Politik, Krieg und Eroberung. Trotzdem genossen Frauen damals in Bereichen der sozialen Praxis auch Macht und Ansehen, wie zum Beispiel in der Religion mit ihren Ritualen und Zeremonien, in der Kunst des Heilens sowie auch in der Produktion von Gebrauchsgütern und Handelswaren. Während zum Beispiel die Kultur der Mapuche-Indianer uns noch eine große Anzahl von Heldinnen und Helden überliefert hat, ist es eher schwierig, vor Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Spaniern und später den chilenischen Mestizen Namen von Frauen zu finden, die in die Geschichte eingegangen sind oder soziale Anerkennung erfahren haben. Die vier Jahrhunderte der spanischen Kolonisation bedeuteten eine kompromißlos männliche Herrschaft in Politik wie Verwaltung. Alle Regierungsgeschäfte lagen in den Händen der spanischen Gesandten, die im allgemeinen allein, ohne ihre Ehefrauen oder Töchter nach Amerika kamen. Deshalb entstanden hier keine Höfe oder Gruppierungen, die sich in der Machthabung abwechselten. Alles war auf Gehorsam und Adaption ausgerichtet, nicht auf den direkten Machtvollzug. Die familiären und ökonomischen Institutionen, die die Spanier einrichteten, basierten auf männlicher Vorherrschaft, denn sie überließen den spanischen Bevollmächtigten den Grund und Boden, der dann an die Erstgeborenen in männlicher Linie weitervererbt wurde. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlangte Unabhängigkeit von Spanien änderte nichts an der Situation der Frau. Nachdem die Männer das Land im bewaffneten Kampf befreit hatten, waren sie es, die anschließend die Regierungsgeschäfte übernahmen. Den ideologischen Rückhalt für die Kämpfe und gleichzeitig den Impuls zur Modernisierung der amerikanischen Staaten gaben die Ideen der Aufklärung, womit den Männern erneut ein Instrument in die Hand gegeben wurde, das ihre Machtposition sicherte: der Logos. Denn Frauen waren aus den öffentlichen Bildungsinstitutionen (Schulen, Universitäten, Medien) ausgeschlossen. Wenn wir vor diesem Hintergrund von der Position der Frau in der politischen Ordnung sprechen, muß ihr Eintritt in die Öffentlichkeit mit der Infragestellung der männlichen Privilegien und Monopole gleichgesetzt werden. Das gilt auch für ihre Ansätze zur Reorganisation, Veränderung und Kritik der sozialen Verhältnisse wie der Institutionen. Aus dieser Perspektive trifft das, was im folgenden über die Dramatik der Frauen in Chile gesagt wird, in vielen Punkten auch auf die Dramatik

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von Frauen in anderen Ländern Amerikas zu, wenn sie in einem ähnlichen soziokulturellen und ideologischen Kontext entstanden ist. Ein Raum der Grenzen und Schranken: das Private In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand die politische Aktivität der Dramatikerinnen und Schriftstellerinnen hauptsächlich darin, Räume und Arbeitsbereiche für sich zu schaffen, in denen sie Anerkennung fanden. Allerdings waren diese Dramatikerinnen nicht im strengen Sinne professionell tätig wie ihre männlichen Kollegen.1 Für sie waren Drama und Theater je eine von vielen verschiedenen kulturellen Aktivitäten, die speziell Frauen in jener Zeit ausübten, um einen Beitrag zur kulturellen Entwicklung des Landes zu leisten. Als Journalistinnen, Schriftstellerinnen ganz unterschiedlicher Gattungen (Essay, Erzählung, Roman, Schauspiel, Literatur für Kinder), Organisatorinnen und Leiterinnen von kulturellen und sozialen Institutionen kümmerten sie sich hauptsächlich um die Unterstützung der Armen und Bedürftigen. Darüber hinaus engagierten sich viele Autorinnen vor allem im ersten Viertel des Jahrhunderts auch für die erstarkenden Mittelschicht-Bewegungen, die das kulturelle und politische Leben des Landes erschütterten, indem sie zum ersten Mal die Macht der Oligarchie und Aristokratie aus dem Gleichgewicht brachten. Viele Schriftstellerinnen stellten ihre Anhängerschaft unter anderem dadurch unter Beweis, daß sie - wie damals üblich - ein Pseudonym wählten, das ihre häufig aristokratische Herkunft verschleierte und ihre Zugehörigkeit zur Mittelklasse suggerierte.2 Das zentrale Thema in den Werken der Autorinnen war das Leid an und der Konflikt mit der Rolle, die die Gesellschaft ihnen als Frauen auferlegte, insbesondere innerhalb der Ehe. Die dramatische Situation der Stücke, die der realistisch-psychologischen Strömung angehörten, war in den meisten Fällen die des tiefen Unglücks und der Verlassenheit der Frauen, deren Männer ihr Leben in der Öffentlichkeit führten (Politik, Männerclubs, Sport, Partys, Geliebte), während die Frauen allein zu Hause bleiben und, nicht selten sogar ohne Garantie einer ökonomischen Unterstützung oder Sicherheit, die Kinder versorgen mußten. In El voto femenino von Roxane (Elvira Santa Cruz Ossa), uraufgeführt 1919, fordert die Protagonistin in aller Öffentlichkeit eine eigene Stimme oder zumindest Meinungsfreiheit angesichts dieser Situation: Sie entflieht der Stadt mit ihrem Geliebten, der im Unterschied zu ihrem 1

Vgl. María de la Luz Hurtado: „Itinerario: la mujer en el teatro chileno", in Apuntes 108 (1995), S. 95-107.

2

Benjamín Rojas; Patricia Pinto (Hrsg.): Escritoras chilenas. Teatro y ensayo. Santiago de Chile 1994.

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Ehemann über menschliche, intellektuelle und emotionale Qualitäten verfügt. Die selbstbestimmte Wahl eines Lebenspartners war den Frauen bis dahin ebenso untersagt wie das bürgerliche Wahlrecht - und galt entsprechend als radikaler Schritt. Im Stück allerdings versteht der Ehemann die Botschaft und versucht, seine Frau zurückzuerobern, indem er sowohl seine Beziehung zu ihr als auch ihrer beider Beziehung zum öffentlichen und privaten Raum neu definiert. Der Titel des Stückes spielt parallel dazu auf das vieldiskutierte Thema des Wahlrecht für Frauen an, womit sich die Autorin den Forderungen der weltweiten Sufragetten-Bewegung anschließt. Auch die politischen Institutionen, die die Frauen bis dahin ausgeschlossen hatten, müssen sich verändern, wenn sie eine Rebellion vermeiden wollen, so lautet die Aussage. Das Stück kündigt an, daß die Frauenemanzipation kommt und daß die Männer gut daran täten, Notiz von ihr zu nehmen. Das bedeutet, Wege der Verständigung zu eröffnen, bei der notwendigen Neudefinition der Machtverhältnisse nicht auf Konfrontationskurs zu gehen und Entscheidungen für die Gesellschaft zu treffen, die das Verhältnis zwischen Männern und Frauen modifizieren. Die transgressive Lösung des Konflikts im Stück stellt eine Ausnahme dar. Die anderen beiden Stücke der Autorin (La familia busquillas, 1918 und La marcha fúnebre, 1920) beziehen eine ganz entgegengesetzte Position: die Aufopferung aller persönlichen Bedürfnisse und außerehelichen Freiheiten der Frau zugunsten des Familienlebens, das durch die Kinder (Söhne oder Brüder) repräsentiert wird. Die Frau wird zur tragischen Heldin, die einzige, die die Kraft aufbringt, gegen den durch Dekadenz, Abstieg und Lieblosigkeit der männlichen Welt bedingten Zerfall der Institutionen und Sitten anzugehen. Den gleichen Konflikt und die gleiche Lösung liefern die Stücke von Patricia Morgan (Búscame entre las estrellas und La tarde llega callada, 1945), in denen der weibliche Verzicht auf persönliches Glück wie eine Liebeserklärung an die Gesellschaft erscheint, von der sie dafür überhöht wird. In Nina (1939) von Gloria Moreno ändert sich diese Konstellation. Die junge Ehefrau unterdrückt ihre Freiheits- und Emanzipationsimpulse zugunsten eines auferlegten Identifikationsmodells nicht selbst, sondern wird in dieses Modell hineingepreßt. Eine andere Frau, ihre Schwiegermutter, leitet sie dazu an, indem sie sie mit einer Philosophie der Unterwerfung indoktriniert, die von Generation zu Generation überliefert worden sei. Nachdem Doña Herminia Nina geraten hat, „[...] zu verschweigen, was man weiß, nicht zu hören, was man sagt und zu ersticken, was man fühlt", meint sie zum Schuß des Stücks: „Das Glück besteht darin, sich damit abfinden

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zu können, nicht glücklich zu sein."3 Was hier festgestellt wird, ist die Unterdrückung von Lebensentwürfen autonomer Frauen und das Gefühl des Unglücks als Ergebnis weiblicher Konditioniertheit in unserer Gesellschaft. Das Drama teilt nicht mit den anderen bislang vorgestellten Stücken die Forderung nach weiblichem Altruismus, vielmehr macht es die sinnlose Unterwerfung erkennbar und ruft zur Untergrabung dieser Ordnung auf. Wegen der großen Schwierigkeit, Brüche in einer traditionalistischen Gesellschaft zu formulieren, erlangen einige eher konfuse Stücke vor dem Hintergrund der Analyse der Geschlechterverhältnisse einen besonderen Status, weil sie radikale Thesen vertreten. Das ist z.B. bei dem Stück La Quintrala (1935) von Magdalena Petit der Fall. Es basiert auf der Geschichte der Catalina Lisperguer, die in Anlehnung an den Parasiten Quintrai 4 , der sogar in der Lage ist, große Bäume zu ersticken, den Spitznamen La Quintrala bekam: Sie tötete, um das Leben zu bewältigen. La Quintrala ist inzwischen als Legende in die chilenische Mythologie eingegangen. Sie war eine Mestizin von hoher Abstammung, die in der Kolonialzeit lebte, der schlimmsten Verbrechen und Grausamkeiten angeklagt wurde und wegen ihrer ungezügelten Sexualität und ihrer Ruchlosigkeit von sich reden machte. Magdalena Petit konzentriert sich in ihrem Stück auf die Jugend der Quintrala, in der sie aufgrund ihres schrankenlosen Wesens versuchte, andere Beziehungen einzugehen und die vorgeschriebenen Regeln der Geschlechterverhältnisse neu zu bestimmen. Durch die permanenten Zusammenstöße mit den etablierten (patriarchalen, klerikalen und juristischen) Autoritäten und der spanischen Krone bleibt ihr nur ein Ausweg für ihre Rebellion: der Weg des Bösen. Der Pakt mit den bösen Mächten bietet die einzige Unterstützung, um das in dieser starren Welt als moralisch qualifizierte Verhalten zu durchbrechen. Wer dieses Thema wesentlich radikaler behandelt, indem sie die Botschaft in die Sprache ihres Textes legt, ist María Asunción Requena in El camino más largo (1958). Sie läßt eine Pionierin des Menschenrechtskampfes in Chile wiederauferstehen, die Ärztin Ernestina Pérez, die erste Frau, der es Ende des 19. Jahrhunderts gelungen war, in die Medizinische Fakultät der Universidad de Chile aufgenommen zu werden. Das Stück konzentriert sich auf den Kampf der jungen Ernestina, den sie gegen ihre Familie, die Kirche, ihre Kollegen und die Verlobten, die ihre Familie ihr immer wieder anschleppte, auszufechten hatte, um ihrer Berufung zu folgen. Ihre einzigen Stützen sind die Armen, einschließlich 3 4

Gloria Moreno: Nina. Santiago 1940ß, S. 111. Rotschimmel; Anm. d. Übers.

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der Bedienten ihrer Familie, sowie die neue Generation, die von ihrer Nichte repräsentiert wird. Sie ist gezwungen, in größter Abgeschiedenheit und Armut zu leben, und entscheidet sich für die Forschung und eine Berufspraxis zugunsten der Bedürftigsten. Das zweite herausragende Merkmal des Stücks ist der Gegensatz zwischen Beruf und Gefühlsleben. Endlich anerkannt und aufgrund ihrer Fähigkeiten erfolgreich und vermögend, aber immer noch jung, nimmt sie am luxuriösen gesellschaftlichen Leben teil, wozu sie ihr Geliebter, ein aufstrebender Schriftsteller, verleitet. Aber er ist nicht konsequent. Er bittet sie, ihren Beruf aufzugeben und ihn zu heiraten. Als er sie der Gefühlskälte, mit anderen Worten, mangelnder Weiblichkeit beschuldigt, erwidert sie, daß die Auferlegung immer wieder desselben Musters sie gezwungen habe, im permanenten Verteidigungszustand zu leben, und daß sie deshalb nicht in der Lage sei, sich gehen zu lassen, nicht einmal für die Liebe, aus Angst, erobert und verraten zu werden.5 Aus Liebe innerlich zerrissen, sieht sie keine andere Möglichkeit, ihren Beruf und ihr soziales Engagement weiterzuverfolgen, als auf ein Leben in der Ehe zu verzichten und damit auch auf Mutterschaft. Ich kann meine Arbeit nicht einfach so aufgeben, ... in einem Atemzug. Ich habe noch so viel vor... Erinnerst du dich nicht an unsere Gespräche darüber? Ich möchte, daß man der Frau, die am Verkaufstisch arbeitet, eine Stunde gibt, damit sie sich ausruht. Mir schlägt das Gewissen, wenn ich sie Stunde um Stunde auf den Beinen sehe... ich muß etwas für sie tun, sonst werden sie alle krank. [...] ROBERTO Ich habe nie gesagt, daß du nicht Recht hättest. Aber du sollst dich auch um mich kümmern. Schlägt dein Gewissen bei mir nicht?6 ERNESTINA

Wieder einmal wird von der Frau heroischer Verzicht verlangt. Aber Requenas Antwort darauf unterscheidet sich von der aus den 20er 5

6

Ernestina: „Es ist nicht so, daß ich hart sein will, Rosa Eulalia. Sie waren es, meine Brüder, der alte Doktor Aguirre, die Professoren, die Kommilitonen, hier wie in Frankreich und Deutschland. [...] Alle zusammen scheinen eine einzige Person zu sein, für alle gilt dasselbe Muster, zuallererst für meinen ach so lieben und ach so strengen Vater. Alle haben ihren Part gespielt und mich gezwungen, so zu sein... wie du sagst, wachsam... keine Schwäche zu zeigen. Darum hast du mich so viele Male mit Roberto diskutieren sehen. Er ist stark und wenn ich nur ein Moment der Schwäche zeigte... Wer weiß, was geschehen würde." Zitat aus. M. Asunción Requena: El camino más largo Santiago 1958, S. 49. (Übers. Kati Röttger.) Ebd., S. 53.

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und 30er Jahren: Sie votiert für den Verzicht auf die Ehe zugunsten des öffentlichen Lebens und des Kampfes für die Verbesserung der Lebens umstände von Arbeitern und Bewohnern der Mietskasernen. Dieses Thema bestimmt auch ihre späteren Stücke. Schon in Ayayema (1964) und insbesondere in Chiloe, cielos cubiertos (1971) widersetzen sich die jungen Protagonistinnen der funktionalisierten Liebe und der Ehe aus materiellem Sicherheitsstreben, um sich für andere Alternativen einzusetzen, im ersten Stück für die ethnische Zugehörigkeit und im zweiten für den Tod, angeregt von mythischen Phantasien: was bleibt, ist ein Brautschleier, der von den Wellen des Meeres davongetragen wird. Nation und ethnische Minderheiten Im Theater der bedeutendsten chilenischen Autorinnen, Maria Asuncion Requena und Isidora Aguirre, das in den 50er Jahren erscheint, ist parallel zu den künstlerischen und politischen Bewegungen, die in den 60er Jahren ihren Höhepunkt erreichen, eine fortschreitende Auseinandersetzung mit den sozialpolitischen Problemen des Landes und Lateinamerikas zu beobachten. Wenn wir z.B. das erste aufgeführte Stück von Requena, Fuerte Bulnes (1955) mit Ayayema (1964) vergleichen, sehen wir, daß beide im äußersten Süden Chiles spielen. Wie in El Camino mäs largo interessiert sich Requena für Personen in äußersten Konfliktsituationen oder für extrem angespannte Situationen, für Protagonisten, die mit einer besonderen Kraft und einem Charisma ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, Widerständen positiv zu begegnen. Fuerte Bulnes zeigt die ersten chilenischen Kolonisatoren in Aysen, ein für die Siedlung höchst ungeeignetes und ungastliches Gebiet. Nationalistische Ideale, die vom Fortschreiten der chilenischen Unabhängigkeit genährt werden, treiben die Menschen dazu, ihre Kolonisierungsabsichten durchzusetzen. Hunger, Kälte, Plagen und Krankheiten setzen ihnen zu und auch die Indios, die das Gebiet bewohnen. Die Flucht eines Soldaten mit der Tochter eines Kaziken verstärkt die Feindseligkeiten der Indios, aber der Chef der Kompagnie verlangt unter Berufung auf seinen Rang Gehorsam vom Kaziken, der vormals im chilenischen Heer gedient hatte. Dieses Problem kommt zu den Anstrengungen der Kolonisten hinzu, eine Feuersbrunst zu verhindern, die das Fort bedroht, und sie bitten die Indios dringend, es ihnen nachzutun: „Was haben sie sich gedacht? Daß sie in einem fremden Land zu Besuch sind? An die Arbeit!"? Die Tendenz, die Indios aus dem Süden Chiles zu nationalisieren, indem sie mit ihren Mitbürgern gemeinsame Sache zum Wohl der Allge7

M. Asunción Requena: Fuerte Bulnes. Santiago 1997, S. 195.

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meinheit machen, wird im Epilog des Stücks erhärtet: Der mit der Indianerin geflüchtete Soldat beschließt, mit ihr in dieser Gegend zu bleiben, allein, um Chile zu ihrem Vaterland und zur Oberhoheit zu machen. Sie korrespondiert mit der Hauptströmung der dramatischen Literatur gegen Ende des 19. Jahrhunderts und unterscheidet sich diametral von der Position, die Requena selbst in Ayayema bezieht, wo sie einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem Indio und dem Chilenen oder Weißen herstellt. Ein weißer Unteroffizier, der an einem verlassenen Hafen in der Gegend stationiert ist, versucht der Erniedrigung des Indiostammes Selknam, seiner Unterdrückung, Ausbeutung und Ausrottung durch die Weißen, ein Ende zu setzen. Aber gegen die extreme Brutalität der Wolfsjäger kommt er nicht an, und die Indios (auch die Frau, die er liebt) gehen ins Meer. Der Unteroffizier hat den MapucheNamen Lautaro angenommen, ein Held der Legenden des Volkes über die Ruhmestaten gegen die Spanier. Das Stück endet mit einem Versprechen: LAUTARO Wo immer sich ein Indio befindet, stellt ihm ein Weißer nach. Aber solange ein Indio hierbleibt, solange ein Indio noch in Los Canales atmet, bleibe ich. Und ich werde über seine Hütte und über sein Kanu wachen. Er wendet sich dem Strand zu und hebt beide Arme. Hier bin ich! ... Hier werde ich warten! Kommt zurück... Freunde... Brüder...! Kommt zurück! Der Wind weht mit aller Macht. Lautaro widersteht seinen heftigen Stößen. Das Feuer lodert in der leeren Indio-Hütte.8 Obwohl es in den 60er Jahren üblich war, daß der politische Kampf innerhalb der Nation sowohl die Rechtsansprüche der Frauen als auch der ethnischen Minderheiten seiner eigenen Logik unterwarf, ohne dem Anspruch auf eine eigene Stimme nachzugeben, behandelte Requena beide Aspekte auf kämpferische und resolute Weise, wie El Camino mäs largo und Ayayema deutlich gemacht haben. Requena teilt mit Aguirre auch die ambivalente Faszination für das magische Denken der Frauen aus den indianischen und den bäuerlich mestizischen traditionellen Kulturen. Die Phantasien dieser Frauen treiben sie in das tragische Schicksal des Todes, aber sie erlauben ihnen auch den flüchtigen Genuß des Gefühls und der Illusion der Liebe, die ihnen von ihrer ärmlichen und sterilen Umgebung ebenso verweigert wird wie von ihren unterjochten oder abwesenden Ehemännern. In Las Pascualas (1957) bringt Aguirre einen Magnetiseur mit einer überwälti8

M. Asunciön Requena: Ayayema. A.a.O., S. 116.

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genden erotischen Ausstrahlung auf die Bühne, der in einer magischen Nacht von drei Frauen beschworen wird: Mutter, Tante und Nichte. Die drei beginnen nacheinander ein Liebesverhältnis mit diesem Mann, der etwas von einem Prinzen der Finsternis hat, und alle drei enden in Fieberwahn und schließlich im Tod. In Chiloé, cielos cubiertos (1971) polarisiert Requena die Übertragung und den Glauben lokaler Legenden in einem Synkretismus christlicher und indigener Religionen. Eine junge Frau, arm und durch die wirtschaftlich begründete Migration der Mäner entwurzelt, lebt angesichts der Lieblosigkeit der Welt ihre Gefühle und Illusionen mit einem mythischen Wesen aus, mit dem sie ein Liebesverhältnis eingeht. Sie bittet eine Hexe um Hilfe und nimmt an magischen Ritualen teil, um aus ihrer bevorstehenden Heirat mit einem Mann aus dem Dorf entbunden zu werden. Schließlich gibt sie sich dem jungen Mann ihrer Träume im Meer hin, in derselben Nacht, in der ihre Hochzeit nach katholischer Zeremonie vollzogen wird. Aus diesem Stück spricht dieselbe Auflehnung der Autorin gegen die Unterdrückung der Träume und der weiblichen Sensibilität wie schon in ihrem Stück aus dem Jahr 1958. Allerdings entschied sich Pérez für die Modernität und nicht für das Archaische. Jetzt, in Chiloé, cielos cubiertos gibt es Gemeindeverteter, die ein Dorf reorganisieren und sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Sie prophezeien bessere Zeiten und Perspektiven für das Land und berufen sich auf eine nationale Volksbewegung sowie auf die Schaffung neuer Arbeitsbereiche mit größerer technischer Ausstattung und mehr Kapital. Wir befinden uns in der Zeit der sozialistischen Regierimg der UNIDAD POPULAR. Requena zeigt ihr gegenüber einen gewissen Optimismus, indem sie selbstbewußte Personen mit einer modernen Einstellung zu Protagonisten ihres Stückes macht, die sich für die Entwicklung von Chiloé einsetzen wollen und erlauben, daß die Männer mit ihren Frauen zusammen ein Familienleben führen, anstatt sie mit ihren Erinnerungen und mythischen Träumen wie Penelope im ewigen Zustand des Wartens allein zu lassen. Armut und sozio-ökonomische Randexistenz: Aufstand oder Subversion Die 60er Jahre sind von der nationalen und internationalen Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit, der wachsenden Kluft zwischen den industrialisierten und den sogenannten unterentwickelten Ländern bestimmt und von der Armut und Marginalisierung großer sozialer Gruppen. Die Aufmerksamkeit richtet sich in Lateinamerika auf die Bewohner der Elendsviertel, die unter miserabelsten Bedingungen leben, ohne vom Sozialstaat zu profitieren, der inzwischen ein Netz der Für-

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sorge entwickelt hat, durch dessen Maschen sie fallen. Wer sind diese Menschen? Wie leben sie, welche Beziehungen haben sie untereinander, welche zum Rest der Gesellschaft? Woran glauben sie, wie lieben sie, wie erziehen sie ihre Kinder, welchen Weg gehen die Jugendlichen? Das größte Anliegen der Dramatik jener Zeit, einschließlich der Dramatik der Frauen, bestand darin, den Schleier vor der Situation dieser Gruppen zu entfernen, der sie vor dem Blick der etablierten Gesellschaft verborgen hatte. Die Autorinnen beziehen Position, indem sie sich mit den Eigenarten und Interessen dieser Gruppen identifizieren. Sie treten, soziologisch gesprochen, in ihre Lebensformen ein, in ihre Möglichkeiten und Grenzen des Überlebens. La pérgola de las flores von Isidora Aguirre wird in der Inszenierung vom T E A T R O DE L A U N I V E R S I D A D C A T Ó L I C A 1960 der größte Theatererfolg bis in die 90er Jahre. Diese musikalische Komödie, mit Musik von Francisco Flores del Campo, basiert auf der wahren Geschichte eines sozialen Kampfes, der sich zu Beginn des Jahrhunderts in Santiago ereignete. Sie knüpft an die Tradition des saínete und der spanischen zarzuela an, ironisiert auf kostumbristische Manier die Imitation der französischen Sitten sowie die Frivolität der aristokratischen Schicht und der Regierung und verherrlicht die Authentizität, Gerissenheit und Vitalität des Volkes. Modernisierungpläne für die Hauptstadt führen zur Schließung des Blumenmarktes, woraufhin sich die dort arbeitenden Bauern zum Kampf gegen die städtischen Autoritäten organisieren. Eine junge Bäuerin, die erst vor kurzem in die Stadt gekommen ist, verbindet sich mit den Aristokraten und den Mächtigen, aber am Ende entscheidet sie sich für ihre eigenen Leute. Inzwischen gelingt es den Blumenverkäufern, ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Aus den oppositionellen Begriffspaaren Tradition/Modernität, bäuerlich chilenische Verwurzelung/französisierte Aristokratie und Volk/Regierung geht der erste Begriff hier immer als Sieger hervor. Auch bei widerstreitenden Interessen zwischen beiden Sektoren kann ein Einverständnis erzielt werden. Das bedeutet die Anerkennung unterschiedlicher sozialer Gruppierungen mit konkurrierenden Interessen durch Dialog und Unterhandlung als Mittel zur Konfliktlösung. Auf diese Weise erscheinen die armen Bevölkerungsgruppen kulturell gesehen als diejenigen, die auf legitimste Weise das Konzept der Nation repräsentieren, weil sich die Mehrheit der Chilenen mit ihrer Sprache und ihren Werten identifizieren kann. Eine andere, wesentlich kritischere und rebellischere Strömung, die nicht so sehr bestimmte Werte zu erhalten sucht, sondern herrschende Zustände in Frage stellt und auf Veränderung drängt, rekrutiert ihre Protagonisten aus den Außenseitern der Gesellschaft, jenen, die keine feste Arbeit haben, die in Wellblechhütten leben, die keinerlei Zugang zu

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staatlicher Versorgung haben, sondern sogar eher vom Staat verfolgt werden. Población esperanza von Isidora Aguirre und Manuel Rojas (1959) und Pan caliente von M. A. Requena (1967) haben ihren scharfen, untersuchenden Blick auf die Bewohner der Elendsviertel von Santiago gemeinsam. Die Erfahrung der Armut in allen ihren Dimensionen wie Hunger, Kälte, Unsicherheit, Krankheit, Müdigkeit, Verfall, Verbrechen, Gewalt, fehlende Macht und ihre Folgen für die Träume und Gedanken wird in beiden Stücken durch einen regelrechten Figurenfries betrachtet. Starke Symbole, wie die Allgegenwart des stinkenden Kadavers eines toten Nachbarn, der nicht begraben werden kann, in Pan caliente, bestimmen die Sprache der Stücke. Die große Frage, ob die Bewohner der Elendsviertel unter diesen miserablen Umständen ihre unerträgliche Situation selbst verändern können, wird von beiden Autorinnen unterschiedlich beantwortet. Requena appelliert an die Solidarität, an das Mitleid und an die Organisationskraft der Bewohner, die sich schließlich zusammenschließen, um den Traum eines Jungen zu retten, der das reinste und beste in ihnen verkörpert; eine Lösung, die ganz im Kontext des Höhepunkts der populären Bewegung der christlich-demokratischen Regierung stand. Aguirre hingegen beschließt ihr Stück - vor dem Hintergrund der rechten Regierung unter Alessandri - mit dem gewaltsamen Tod eines jungen, liebenswerten Straftäters, der die Möglichkeit des Wiedereintritts in die Gesellschaft repräsentierte. Für Aguirre befindet sich die Kultur der Armen in einem circulus vitiosus von Dekadenz und Gewalt, aus dem man aus eigener Kraft nicht entkommen kann. Sie appelliert daher an den Rest der Gesellschaft, die strukturellen Bedingungen zu verändern, die die Armut hervorbringen. Es ist der Beginn einer politischen Stellungnahme auf dem Theater als Plattform einer größeren gesellschaftlichen Umwälzung. In Los papeleros (1963) führt Aguirre eine weitere für das Spannungsfeld der Situation der Armen grundlegende Figur ein: den Kapitalisten und Besitzer der Produktionsgüter. Er tritt als Antagonist der Besitzlosen auf - in diesem Fall derjenigen, die den Abfall einsammeln und wiederverwerten. Am Ende des Stückes steht der Aufruf zur Subversion, zum Abbrennen der Elendshütten, mit denen sie vom Besitzer betrogen werden, um die Konfrontationsebene zu ändern und mehr Druck auszuüben. Die Härte der Konfrontation veranlaßt Aguirre, den psychologischen Realismus gegen den Expressionimus und Formen der Brechtschen Epik zu ersetzen. Bilder einer absurden Poetik, wie die Suppe aus Schuhen, die sich Lumpensammler kochen, gehen gepaart mit Verfremdungstechniken, die zur glasklaren Diagnose der Wirklichkeit, der Konflikte und Lösungswege führen.

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Besonders auffallend an diesen Stücken, die zwischen 1958 und 1968 von Dramatikerinnen über die Situation der Armen und die Einforderung ihrer Rechte verfaßt wurden, ist, daß die protagonistische Funktion der Figur, die zur Vereinigung, zur Organisierung und zur Selbstüberwindung aufruft, immer Frauen zugeteilt wird. Die Frau ist diejenige, die die anderen mobilisiert, die besten Lösungen findet und die das größte Durchhaltevermögen besitzt. Obwohl sie immer wieder ihre anstrengende Arbeit aufnehmen muß, um ihre Familie über Wasser zu halten (die Männer sind im allgemeinen eher faul, vergnügungs- und streitsüchtig), läßt sie den Kopf nicht hängen. Meistens hat ihre Kraft ein zentrales Motiv: die Liebe und die Mutterschaft. Señora Inés in Pan caliente und Guatona Romilla in Los papeleros sind Figuren von großer dramatischer Kraft und charismatischer Ausstrahlung, die in der Lage sind, die Welt auf den Kopf zu stellen und den Mächtigen und Ausbeutern entgegenzutreten, um ihre Kinder zu beschützen und ihnen Wege für die Zukunft zu eröffnen. Der revolutionäre Kampf und ihre Märtyrer: Überschneidungen zwischen heute und gestern (1970 -1990) Die Tendenz, die Protagonisten ihrer Stücke und ihre Lebenswelt in bezug auf kulturelle und ethnische Elemente, auf Geschlechterrollen und auf die sozio-ökonomischen Lebensbedingungen möglichst wiedererkennbar darzustellen, führte dazu, daß die Dramatik der Frauen in Chile in jenen Jahren weder Elemente des rituellen Machtspiels wie in Jean Genets Die Zofen aufwies, noch absurdistische Tendenzen, wie sie von vielen lateinamerikanischen Dramatikerinnen (z.B. der Venezolanerin Mariela Romero in El juego (1976), oder von Griselda Gambaro in fast allen ihrer Stücke) damals entwickelt wurden. Die diese Stücke beherrschende Herr/Knecht-Dialektik zeigt die sadomasochistische Logik der Macht in einer Zeit auf, in der die diktatorischen Regime in Lateinamerika rasant zunehmen. Aus der Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen innerhalb spezifischer und wiedererkennbarer Kontexte entwickelt Isidora Aguirre seit 1969 eine besonders einflußreiche Strömung: das dynamische Spiel mit den Überschneidungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der chilenischen Geschichte, um die aktuellen sozialpolitischen Probleme auf die Bühne zu bringen. Gleichzeitig arbeitet sie enger mit den sozialen und politischen Bewegungen zusammen, was sich immer mehr in ihren Werken widerspiegelt, indem sie z.B. deren Erfahrungen und Forderungen darlegt. So benutzt sie in Los que van quedando en el camino (1969) einen Satz des gerade im Guerillakampf umgekommenen Che Guevara als Titel, um mit ihm zusammen auch anderer im revolutionären Kampf Gefallener zu gedenken:

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der Bauern aus einem Gebiet im südlichen Chile, Ranquil 1933. Lautaro (1981), mit dem Untertitel Epopeya del pueblo mapuche, schreibt sie auf die Bitte eines Mapuche-Freundes hin, „sie im Kampf von heute zu unterstützen." 9 In ähnlicher Weise kam Retablo de Yumbel (1985) zustande: Aguirre wurde von einer Theatergruppe aus Concepción gebeten, ein Stück in Erinnerung und Gedenken an die dort Internierten / V e r schwundenen zu schreiben. Alle diese Stücke, zu denen noch Bolívar y Miranda (1982) und Historia de fin de siglo (1988) gehören, spielen in Kriegs- oder Revolutionsmomenten in Lateinamerika: der Krieg gegen die spanische Conquista in Lautaro, die Unabhängigkeitskriege in Bolívar y Miranda, der chilenische Bürgerkrieg von 1891 in Historias de fin de siglo, der bewaffnete Kampf 1933 zwischen der Armee und chilenischen Siedlern in Los que van quedando en el camino. Das einzige außerhalb des amerikanischen Kontextes angesiedelte Stück ist Retablo de Yumbel, das vom Kampf zwischen dem römischen Imperium und den Christen handelt. Keines widmet sich aktuellen Themen, und dennoch erhellen sie die virulente Problematik des revolutionären Kampfes und seiner Unterdrückung in der Zeit, in der die Stücke verfaßt wurden. Die Parallelen sind nicht so explizit 10 ; das Heldentum, Ideale und der Mythos der Guerilla, die Revolutionäre und Märtyrer der Vergangenheit werden überhöht und als Beispiel für die Kämpfe von heute dargestellt. Auf diese Weise nimmt die Autorin in allen ihren Stücken Partei für diejenigen, die in ihren Augen die edle Sache repräsentieren: die Unterdrückten, die Geschändeten, die Ausgebeuteten, das heißt alle diejenigen, die gegen die etablierte Macht rebellieren und versuchen, eine neue Ordnung zu schaffen, die Freiheit, bessere Lebensbedingungen und Gerechtigkeit garantiert. Aguirre hängt bedingungslos einer utopischen Weltanschauung an, die ihre Wurzeln im Marxismus hat, demzufolge der Klassenkampf und die bewaffnete Lösung der Klassenkonflikte als notwendige Stufen des historischen Fortschritts gelten. Aber insbesondere in den Stücken, die

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Isidora Aguirre: „Lautaro", in Teatro chileno contemporáneo. Antología. Madrid 1992, S. 110. In Los que van quedando en el camino lautet das Leitmotiv „heute wie gestern, gestern wie heute". Retablo de Yumbel seinerseits beginnt mit den Worten: „Es handelt sich um eine Vorstellung/die die grausame Geschichte/vom Jüngling Sebastian erzählt:/Sie ist wahr und nicht erlogen/es wird nicht gestraft, obwohl betrogen./An dieser Stelle sei betont/in dieser Welt sind wir gewohnt/daß der Verbrecher frei ausgeht/und der Unschuldige um Gnade fleht." In Isidora Aguirre: El retablo de Yumbel. Concepción 1987, S. 15. Isidora Aguirre: Los que van quedando en el camino. Santiago 1970. (Übers. Kati Röttger.)

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sie in den 80er Jahren, während der chilenischen Diktatur, geschrieben hat, setzt sie sich auch mit den Schmerzen und Brüchen auseinander, die die Bruderkriege auslösen. Der Kern ihrer Stücke liegt in der dramatischen Opposition zwischen einem Protagonisten und seinem Antagonisten, die vor einer unvermeidlichen bewaffneten Konfrontation stehen; einem Krieg zwischen zwei Männern, die Führungspositionen in einer Bewegung innehaben und die trotz tiefer brüderlicher Gefühle füreinander auf entgegengesetzten Seiten des Kampfes stehen. Gewöhnlich gewinnt der eine Macht über den anderen und damit über dessen Leben. Wenn der Geliebte - meistens für eine kollektive oder öffentliche Sache gestorben ist, wird der Triumph zum Schmerz über den Verlust des Freundes. Das ist zum Beispiel bei Lautaro der Fall, der den Tod seines symbolischen Vaters, des Conquistadors Valdivia, plant und vorbereitet. Schließlich gibt in Retablo de Yumbel derjenige den Auftrag, Sebastián zu foltern und zu töten, der ihm alle Vorzüge gewährt hatte: der Herrscher Dioclesiano. Und auch die Internierten/Verschwundenen von Yumbel wurden von Leuten ihrer eigenen Klasse und aus ihrem eigenen Ort gefoltert und getötet. Historias de fin de siglo schließlich erinnert an den grausamsten Bürgerkrieg in Chile, in dem Ende des 19. Jahrhunderts Väter gegen Söhne, Liebespaare untereinander, Nachbarn gegen Freunde kämpften und der mit dem Tod des Präsidenten der Republik beendet wurde - wie im Falle Allendes. Wie das Privatleben und die persönlichen Gefühle von großen (immer männlichen) Führerpersönlichkeiten für die kollektive Sache geopfert werden, wird auch die Liebe zwischen Mann und Frau zugunsten des Kampfes auf den zweiten Platz verwiesen. Wenn der Mann im Kampf stirbt, bleibt die Geliebte allein zurück, mit der nicht mehr zu heilenden Wunde, ihr Leben nicht mit ihm verbringen zu können. Dieser Verzicht wird durch die Freude ausgeglichen, ein höheres Ideal mit ihm geteilt zu haben oder einen religiösen Glauben. So gelobt das Paar in Los que van quedando en el camino einander als wichtigstes Ziel, gewissermaßen als Symbol ihres Liebesverhältnisses, die Eroberung eines fremden Gebiets. Darin besteht ihre Ehe. LORENZA sich auf das Gebiet beziehend, das sie mit ihren Brüdern einnehmen will Schon schlagen wir Wurzeln, das ist die Liebe, die uns gemäß ist. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Hochzeitsdatum. ROGELIO Ist gut, Lorenza, ich verstehe, wir beide sind mit diesem Streit um die Erde verheiratet, und nicht einmal mit einem Beil kann man uns trennen!

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Nach der Schlacht, in der ihr Geliebter fällt, wird Lorenza von dem bereits toten Rogelio getröstet: LORENZA Und da lag er wie ein Heiligenbild, mit seiner Freude und seiner Revolution auf den Lippen ...! Seine Revolution, die das schönste für ihn war, weil er so an sie geglaubt hat! Ihre Stimme zittert. Ich weiß nicht, wie sein Tod war, noch wo, noch wann ... ich weiß nur, daß sie ihn getötet haben, ihn, der die Sonne war, die mich wärmte... ROGELIO Der Tod existiert nicht, Lorenza, wenn einer ein Ideal für die Ewigkeit hat. Er lächelt Hat man dir das nie gesagt?11 Der Weg zu sich selbst Nachdem der soziale Kampf drei Jahrzehnte lang im Mittelpunkt stand und nach der Krise der globalen Utopiemodelle kehren die Autoren und Theatermacher in den 90er Jahren zu sich selbst zurück, denn mit dem Ende der Militärdiktaturen haben die politischen Probleme an Dringlichkeit verloren. Es ist die Zeit der Selbstreflexion, der Neusituierung der Kunst in der Gesellschaft, der Auseinandersetzung mit Identität und mit eigenen Lebensprojekten. Die Vielfalt kultureller Ausrichtungen, der sexuellen Bestimmungen, der Fragen zur Geschlechterdifferenz rückt nun in den Vordergrund, nachdem sie in den Jahren der politischen Aktionen in den Privatbereich gedrängt worden war. Bedeutende Veränderungen haben in den Beziehungen der Menschen untereinander stattgefunden, insbesondere hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung der Frau und der persönlichen Lebensvorstellungen. Im Mittelpunkt steht nun die Frage nach den Entstehungsbedingungen, der Krisenhaftigkeit und der Definition von Subjektivität. Entsprechend haben die Erforschung des Unbewußten, die Psychoanalyse, der Mythos und eine recht hermetische Symbolik Konjunktur. Für das Theater von Frauen gilt die interessante Feststellung, daß eine neue Auseinandersetzung mit dem Thema der Beziehung zwischen den Geschlechtern stattfindet, um der Unzufriedenheit und Kritik an den neuen Beziehungsmodellen Ausdruck zu verleihen, die für die sogenannte befreite post-70er Generation Gültigkeit haben. Die Chilenin Inés M. Stranger und die Mexikanerin Sabina Berman liefern mit Cariño malo (1990) und mit Entre Villa y una mujer desnuda (1994) Beispiele für diese These. Beide Stücke spielen in einem Intellektuellenmilieu. Protagonistinnen sind Frauen, die ökonomisch einigermaßen unabhängig sind und jeweils in 11

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Beziehung zu einem Mann leben, der ihnen das Gefühl von Unsicherheit und Abhängigkeit vermittelt. Beide Frauen haben mit einem Mann zu tun, der in der Öffentlichkeit als Intellektueller und Kämpfer für große Ideen auftritt, der sich im Privatleben jedoch als untreuer macho erweist. Er beherrscht die Frauen mit Verführungsmechanismen, die gleichzeitig intellektueller wie erotischer Art sind, denn sie besitzen sowohl eine außerordentliche Eloquenz, eine Macht der Worte, mit der sie die Frauen betören, als auch eine große sexuelle Anziehungskraft. Es sind die Männer, die bestimmen, wann und wie geliebt wird, und die Frauen gehorchen unter dem Deckmantel der Freiheit in der Liebe und der weiblichen Autonomie. Beide Protagonistinnen stellen sich unter der Beziehung zu ihrem männlichen Partner jeweils viel mehr vor als er, der mit macho-Gehabe die uralte Trennung zwischen dem öffentlichen (männlichen) Raum und dem privaten (weiblichen) Raum aufrechterhält, in dem er kommt und geht, wann es ihm gefällt, während die Frau auf ihn wartet, im outfit und emotional immer bereit. Die Frauen wollen dieses Beziehungsmodell jedoch verändern, dafür muß er allerdings sein Selbstbild und seine Bedürfnisse ändern. „Eine neue Liebe erfinden", schlägt Victoria in Cariño malo vor, „ohne die Nostalgie unserer Mütter." 1 2 Zu diesem Zweck vollzieht sie ein Austreibungsritual, um den Geliebten symbolisch zu töten, der sie unterdrückt, verlassen und mit seiner Lieblosigkeit erniedrigt hat, der sich dem politischen Kampf draußen mehr gewidmet hat als ihr, der mehr ein sie war als ein wir. — Weder verzeihen noch vergessen. Habe ich an einer Hauswand gelesen - er lächelt - klingt gut, klingt sehr gut. — Willst du wohl schweigen! - schreit sie. Und er antwortet ruhig, kaut die Wörter - Weder verzeihen noch vergessen, das sage ich nicht über uns. Was hast du? Das sage ich über sie! — Sie, sie, wer sind sie? Seit wann sie und wir? - Und sie nimmt sein Gesicht zwischen ihre Hände [...] Ich weiß nichts. Ich wußte nie etwas von diesem Krieg. — Trotzdem, du bist von uns. — Ich bin von keinem uns... ich bin nur mit dir. 13 Hier wird die Forderung nach einer Liebe erhoben, die keine Räume teilt, keine phallozentrische Liebe, sondern eine totale Liebe, die nicht angeblich höheren oder gerechteren Angelegenheiten geopfert wird. Inés M. Stranger: „Cariño malo", in Revista Apuntes 101 (1990), S. 19.