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German Pages 219 [216] Year 2019
Kati Röttger Kollektives Theater als Spiegel lateinamerikanischer Identität La Candelaria und das neue kolumbianische Theater
Editionen der Iberoamericana Reihe III Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 42
Kati Röttger
Kollektives Theater als Spiegel lateinamerikanischer Identität La Candelaria und das neue kolumbianische Theater
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1992
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kati Röttgen Kollektives Theater als Spiegel lateinamerikanischer Identität: La Candelaria und das neue kolumbianische Theater / Kati Röttger. Frankfurt am Main: Vervuert, 1992 (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 42) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss. ISBN 3-89354-842-4 NE: Editionen der Iberoamericana / 03
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1992 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany
Meinen drei Männern
7
INHALT Einleitung
11
TEIL 1: DAS NEUE KOLUMBIANISCHE THEATER: Soziokulturelle Voraussetzungen, Entstehungsgeschichte, Theorie und Methode
21
I. 1. 2. 3.
Die Theaterentwicklung in Kolumbien und ihre soziokulturellen Voraussetzungen Erste Spuren einer Theaterentwicklung Provinzialismus und Regionalismus Marginale und plagiatorische Theaterschöpfungen
23 25 27 28
3.1.
Theatralische Formen der mestizischen Volkskultur
28
3.2.
Das Theater der städtischen Oberschicht nach der Unabhängigkeit
30
II.
Die Entstehungsgeschichte des Nuevo Teatro Colombiano 1940 - 1969 Das Dilemma der Künstler und Intellektuellen: eine Voraussetzung des neuen Theaters Die Vorläufer des modernen Theaters in Kolumbien Das Theater der 50er Jahre: Erste Professionalisierungstendenzen
1. 2. 3.
37 37 40 41
3.1.
Anspruch und Wirklichkeit beim Beginn des modernen Theaters
44
3.2.
Das moderne Theater in Bogotá am Beispiel der Gruppe El Buho
45
4. 5.
Erste Nationalisierungstendenzen: Enrique Buenaventura und das TEC Das Theater der 60er Jahre: Erste Politisierungstendenzen
47 49
5.1.
Das Universitätstheater
51
5.2.
La Casa de la Cultura
54
5.3.
Das Teatro Experimental de Cali
56
6. 7.
Die Gründung unabhängiger Theatergruppen in Bogotá Die Gründung der Corporación Colombiana de Teatro (CCT) als Geburtsstunde des Neuen Kolumbianischen Theaters
58
III. 1. 2.
Theorie, Methode und Praxis des Nuevo Teatro Colombiano Das NTC am Schnittpunkt zwischen Kunst und Politik Die Ausgangslage des NTC: ein Widerspruch zwischen künstlerischem Anspruch und theaterstruktureller Mangelsituation
63 64
2.1.
Die Prozeßhaftigkeit des neuen Theaters
70
3.
Creación Colectiva als Weg einer neuen Theaterschöpfung
72
60
69
8
3.1.
Besondere Merkmale der kolumbianischen Creación Colectiva
76
3.1.1. Creación Colectiva als Grundlage für die Schaffung nationaler Dramatik und Ästhetik
78
3.1.2. Die Interaktion zwischen Bühne und Publikum
79
3.1.3. Buenaventuras Esquema de un método de Creación Colectiva
82
3.1.4. Die Themen der frühen Stücke des NTC
86
3.2.
Das Prinzip des Gruppentheaters als Stmkturelement des NTC
88
3.3.
Ein neuer Begriff von Professionalität
89
4.
Die Krise des N T C und die Ö f f n u n g des k o l u m b i a n i s c h e n Theaters
92
4.1.
Neue Wege des kolumbianischen Theaters in den 80er Jahren
95
T E I L 2: LA CANDELARIA:
Geschichte, Stücke und Arbeitsmethode
I.
a l s L e r n p r o z e ß bei d e r
Creación
Colectiva
101
Entwicklung
der nationalen Dramatik
103
1.
Die T h e a t e r g r u p p e als Ort des L e r n e n s
104
2.
D e r P r o z e ß der Creación
105
2.1.
Das Leitmotiv der Stücke: Geschichte als Prozeß
2.2.
Die Funktion des theatralischen Bildes
110
2.3.
Die Erstellung theatralischer Bilder durch die Improvisationen der Schauspieler
111
Colectiva
106
2.3.1. Ein Improvisationsbeispiel
112
2.4.
Das Problem der Erlangung von Komplexität am Beispiel der ersten beiden Produktionenl 15
II.
Guadalupe
años
sin
cuenta:
kollektiver
Entstehungsprozeß,
Stück und A u f f ü h r u n g
119
1.
Die Entstehung des Stücks
120
1.1.
Die Bestimmung und Untersuchung des Themas
121
1.2.
Suche nach theatralischen Bildern und einer Struktur des Stücks auf der Grundlage von Improvisationen
122
1.2.1. Die Funktion des Direktors
125 125
1.3.
Dialoge und Szenenmontage
2.
Fabel und Figuren des S t ü c k s
126
2.1.
Kurze Zusammenfassung des Handlungsablaufs
127
2.2.
Die Struktur des Stücks
129
2.2.1. Die spiegelbildliche Konstruktion der Fabel
130
2.3.
132
Die Funktion der Figuren in der Fabel
2.3.1. Die Figur als línea argumental
134
2.3.2. Die Schwierigkeit, komplexe Figuren zu erstellen
137
9
3.
D i e bildliche Gestalt d e r A u f f ü h r u n g
139
3.1.
Der leere Bühnenraum
140
3.2.
Die erste Szene: ein Appell an die Urteilskraft der Zuschauer
140
3.2.1. Beschreibunbg der Szene La reconstrucción
141
3.2.2. Ein Musterfall epischen Theaters
144
3.3.
Der Gestus als Grundelement des theatralischen Bildes
147
3.4.
Die ironische Verfremdung als Stilmittel bei der Darstellung der Figuren
151
3.4.1. Die realistische Darstellung des pueblo: Affirmation der Kluft zwischen formalem 3.5. 3.6.
und realem Kolumbien
154
Die Musik als volkstümliches episches Element der Aufführung
155
Die wichtigsten ästhetischen Merkmale des Theaters von La Candelaria in der ersten Periode ihrer Theaterarbeit
4.
156
D i e f ü n f t e C r e a c i ó n Colectiva Golpe
de Suerte-, d e r G l ü c k s t r e f f e r
als Krisenfall III.
158
D i e z w e i t e P e r i o d e d e r T h e a t e r a r b e i t v o n La N e u e W e g e d e r Creación
1.
Diálogo
del Rebusque:
Candelaria:
Colectiva
162
ein k o l u m b i a n i s c h e r D i a l o g m i t d e r s p a n i s c h e n
Vergangenheit
163
2.
T r i l o g i e v o n d e r E r o b e r u n g d e r N e u e n W e l t : d a s P r o j e k t Conquista
174
3.
La tras Escena
175
3.1.
Ein Mitspieler wird Regisseur: Schwierigkeiten und Auswirkungen auf die Produktion
176
3.2.
La tras Escena als Spiegel einer zersplitterten Wirklichkeit
178
3.2.1. Die Conquista in Geschichte und Gegenwart
179
3.2.2. Der Antagonismus von Wunsch und Wirklichkeit
181
3.2.3. Der TheaterTaum als Spiegel
185
3.2.4. Das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Politik
187
3.2.5. Unvereinbare Gegensätze in der kulturellen Konfiguration
189
3.2.6. Die Zweiteilung der Form
192
3.2.7. Die Darstellungsweisen der Figuren
193
4.
V o m theatralischen Bild z u m T h e a t e r als Spiegelbild
197
5.
N e u e s t e E n t w i c k l u n g e n : Die A u f l ö s u n g v o n Zeit u n d R a u m
201
Literaturverzeichnis I (Veröffentlichungen und Manuskripte mit B e z u g auf das k o l u m b i a n i s c h e T h e a t e r )
207
Literaturverzeichnis
216
II
Einleitung
Zur Vorbereitung meiner Theaterreise nach Kolumbien im Frühjahr 1984 standen mir Heidrun Adlers Buch Politisches Theater in Lateinamerika und der Katalog zum HORIZONTE - Festival 1982 1 zur Verfügung. Weitere deutschsprachige Literatur, in der das kolumbianische Theater auch nur erwähnt wird, konnte ich zu jener Zeit in der Bundesrepublik nicht finden. Während die lateinamerikanische Prosa schon weitgehend Verbreitung gefunden hatte und auch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen an bundesdeutschen Universitäten geworden war, gelangte die Rezeption des lateinamerikanischen Theaters kaum über süd- oder bestenfalls nordamerikanische Grenzen hinaus. Das lateinamerikanische Theater als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand fand in der Bundesrepublik genausowenig Beachtung wie das reichhaltige Repertoire von Stücken aus den südamerikanischen Ländern. Nicht zuletzt der Mangel an Beachtung und Information war für mich ein Grund, das Theater in Kolumbien vor Ort zu erforschen und für die deutsche Theaterwissenschaft zu erschließen. Inzwischen, sieben Jahre später, sind kleine Fortschritte zu verzeichnen. Erste wissenschaftliche Untersuchungen über iberoamerikanische Theaterströmungen sind erschienen, 2 auch zwei bundesdeutsche Magisterarbeiten über das Theater in Kolumbien. 3
H. Adler: Politisches Theater in Lateinamerika, 1982 Katalog zum HORIZONTE-Festival Lateinamerika, Berliner Festspiele GmbH. 1982 B. Panse: Entwicklungstendenzen im modernen perunanischen Theater (1950-1980), Diss. Freie Universität Berlin, 1981. (Diese Dissertation lag erst einige Jahre später zur Einsicht vor.) S. Möller-Zeidler: Sozialkritisches Volkstheater in Brasilien in den 70er Jahren. Eine Untersuchung unabhängiger Theaterarbeit in einer Phase der politischen Repression, Diss. Freie Universität Berlin, 1986 M. Gareis: Das Theaterstück "Rasga Coracao" von Oduvaldo Vianna Filho und die brasilianische Diskussion über Volkskultur und Nationalkultur, Magislerarbeit Freie Universität Berlin, 1986 M. Bartolomei Guercovich: Tradition und Modernität im argentinischen Theater (1880-1930): Die Grotesken von Armando Discépulo, Diss. Freie Universität Berlin, 1987 M. Meier: Cultura Populär und das moderne Theater in Peru, Magislerarbeit Freie Universität Berlin, 1991 S. Schwarz: El Nuevo Teatro Colombiano: Thematik - Ästhetik - Neue Tendenzen, Magislerarbeit Ludwig Maximilian-Universität München, 1987
12
Dank der "Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika", die 1987 in Stuttgart gegründet wurde und in der Theaterwissenschaftler, Lateinamerikanisten und Übersetzer zusammenarbeiten, sind bereits einige lateinamerikanische Stücke übersetzt, publiziert und a u f g e f ü h r t worden. 1 Im Juni 1991 organisierte die Gesellschaft ein Symposium mit dem Titel Das lateinamerikanische Theater im Blickpunkt der deutschen Forschung in Berlin, auf dem zum ersten Mal ein Austausch zwischen lateinamerikanischen Theaterspezialisten und deutschen Theaterwissenschaftlem sowie Lateinamerikanisten stattfand, der als Anregung zur interdisziplinären Forschung über lateinamerikanisches Theater an deutschen Universitäten dienen sollte. Mit vorliegender Arbeit will ich einen Beitrag leisten, um das Spektrum dessen, was heute allgemein als Welttheater bezeichnet wird, zu erweitem, die hiesige Kenntnis über das Theater in Lateinamerika zu vergrößern sowie die besonderen Q u a l i t ä t e n und E i g e n a r t e n des k o l u m b i a n i s c h e n T h e a t e r s h e r a u s z u h e b e n . Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist das Neue Kolumbianische Theater (NTC) und insbesondere die kolumbianische Theatergruppe La Candelaria. Bei der Erforschung und Eingrenzung dieses Gegenstands haben sich - abgesehen von dem Mangel an Material - einige Schwierigkeiten ergeben, die symptomatisch für die Probleme des kulturellen Dialogs zwischen Lateinamerika und Europa sind und sich aus der Tatsache ableiten, daß "Lateinamerika als Utopie Europas seinerseits Europa in eine lateinamerikanische Utopie verwandelte." 2 Seit der Conquista ist die Neue Welt entweder marginalisiert oder paradiesisches Ziel europäischer Sehnsüchte gewesen. Als Opfer eines Irrtums, den Kolumbus beging, als er Amerika Las Indias nannte, weil er sich an seinem ursprünglichen Reiseziel Indien w ä h n t e , hat die Wirklichkeit Lateinamerikas k a u m E i n g a n g in das europäische Bewußtsein gefunden. 3 Umgekehrt ist die Kulturgeschichte Lateinamerikas von dem Streben der einheim i s c h e n Eliten g e p r ä g t , den e u r o p ä i s c h e n N o r m e n k a n o n u n d e u r o p ä i s c h e A. Fricke: Theorie und Praxis des Neuen Kolumbianischen Thealers: Untersuchung zu Ästhetik und Methode des zeitgenössischen Theaters in Kolumbien anhand von zwei Beispielen der Thealerarbeit von "La Candelaria", Magisterarbeit Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1990 Beide Arbeiten sind teilweise auf der Grundlage des Materials, das ich aus Kolumbien mitbrachte, zustandegekommen. Sie liefern erste Beschreibungen des Neuen Kolumbianischen Theaters und der Arbeit der Theatergruppe La Candelaria, wobei Schwarz mehr die Organisationsstruktur der kolumbianischen Theaterbewegung und das Repertoire La Candelarias in den Vordergrund stellt und Fricke sich auf die Zusammenfassung der theoretischen Grundgedanken des Neuen Kolumbianischen Theaters sowie die Beschreibung von zwei Stücken der Theatergruppe konzentriert 1
vergl. die 1989 herausgegebene Broschüre der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.
2
C. Fuentes: »Europa und Lateinamerika« in: L'80, Heft 22, Mai 1982: 9
3
vergl. dazu C. Lévi-Strauss: Die traurigen Tropen, 1978:63ff
13
Kulturmodelle auf die eigenen Länder zu übertragen, Europa zu importieren. Diese Problematik macht es für einen europäischen Beobachter nahezu unmöglich, die 'echte' lateinamerikanische Wirklichkeit wahrzunehmen, fern von europäischen Maßstäben. Meine erste Begegnung mit dem kolumbianischen Theater verlief genau auf diesen Irrwegen der verkehrten Erwartungen an eine verheißungsvolle ferne Kultur. Die Anregung zur Beschäftigung mit dem kolumbianischen Theater erhielt ich 1982 auf dem lateinamerikanischen Horizonte-Festival in Berlin. Dort sah ich unter anderem die kolumbianische Theatergruppe La Candelaria mit ihrem Stück Guadalupe años sin cuenta. Was mich faszinierte, war nicht nur die visuelle Kraft dieses T h e a t e r s , die D y n a m i k des B ü h n e n s p e k t a k e l s , die O f f e n h e i t und Professionalität des Spiels, sondern auch die Tatsache, daß die Gruppe das Stück in kollektiver Arbeit geschrieben und inszeniert hatte und eine eigenständige Alternative zum europäischen und nordamerikanischen Dramenrepertoire suchte . Außer der deutschsprachigen zog ich auch spanischsprachige Literatur heran, um mehr Informationen über La Candelaria zu erhalten. 1 Ein vielversprechendes Bild des kolumbianischen Theaters zeichnete sich in diesen Publikationen ab: Ich erfuhr, daß La Candelaria einen Teil des Nuevo Teatro Colombiano, des Neuen Kolumbianischen Theaters ausmache, eine Theaterbewegung, die 1969 ins Leben gerufen wurde und große Erfolge erzielte. In Abkehrung von den europäischen und nordamerikanischen Theatervorbildem, welche die kolumbianische Theaterlandschaft in der Vergangenheit bestimmt hatten, proklamiert sie den Aufbau eines nationalen Theaters, das aus der aktuellen Lebenssituation der kolumbianischen Bevölkerungsmehrheit erwächst und auf diese Bezug nimmt. Sie entwickelte eine Methode der Creación Colectiva, welche die maßgebliche Arbeitsgrundlage für die Theatergruppen des neuen Theaters bildet. Dank der besonderen Organisationsform der Bewegung in einer gewerkschaftsähnlichen Korporation, der Corporación Colombiana
u.a. folgende Publikationen: G. Luzuriaga: Popular Theaire for social change, 1978 ders.: »La generación del sesenta y el teatro« in: Alegro, No. 16, 1976 F. Garzón Céspedes: »El teatro latinoamericano de creación colectiva» in: Laiin (LATR), No. 9, 1976
American
ders.: »La Opera Bufa del TEC« in: Conjuntó, No. 38,1983 E. Márceles Daconte: El método de creación colectiva en el teatro colombiano, in: LATR, 1977 S. Gutiérrez: Teatro Popular y cambio social en America Latina, 1979
Theaire
Review
14
de Teatro (CCT), hat sie nicht nur eine beachtliche Anzahl von Mitgliedern, sondern auch Vorbildcharakter für andere lateinamerikanische Theater erlangt. 1 Mit der Erwartung, eine blühende Theaterlandschaft vorzufinden, in der La Candelaria kein Einzelphänomen sei, kam ich in Kolumbien an und wurde bald enttäuscht. Meine Informationen waren zwar nicht falsch, aber sie erwiesen sich als übertrieben und überholt. Sie bezogen sich auf die Blütezeit des Nuevo Teatro Colombiano in den Jahren 1971 bis 1976. Danach verwandelte sich der Ruf, den sich die Theaterbewegung damals geschaffen hatte, in einen Mythos. Ich stellte fest, daß die Bewegung sich gespalten hatte und die meisten professionellen Theatergruppen sich wieder der Inszenierung europäischer oder nordamerikanischer Stücke zugewandt hatten. Der CCT waren hauptsächlich Amateur- oder halbprofessionelle Gruppen angeschlossen. Das Teatro Experimental de Cali (TEC) und La Candelaria waren als einzige professionelle im Verband verblieben. Das TEC galt als "das bedeutendste Kollektivtheater in Lateinamerika." 2 Enrique Buenaventura, der Direktor des TEC, war bereits seit den 60er Jahren ein vielbeachteter Dramatiker, Autor von häufig gespielten Stücken wie A la diestra de diös padre und Los papeles del infierno,3 Gleichzeitig ist er Regisseur und Theatertheoretiker, der Kopf des Nuevo Teatro Colombiano, sein Initiator. Das TEC befand sich jedoch zur Zeit meines Aufenthalts in einer tiefen Krise, von der es sich bis heute nicht erholt hat. Seine damalige Produktion La granfarsa de las equivocaciones wurde nach wenigen Aufführungen wieder abgesetzt. Viele Schauspieler verließen damals die Gruppe, die meisten verbliebenen waren wegen gruppeninterner Schwierigkeiten nicht sehr zugänglich für Fragen. Auf diese Weise war es unmöglich, Einblick in die Theaterpraxis des TEC zu bekommen. Diese Erfahrungen waren sehr ernüchternd. Sie warnten mich davor, den Mythos zu perpetuieren, der von lateinamerikanischer Seite aus Trotz gegen Europa und von westlicher Seite aus Unkenntnis oder Angst vor dem Verlust der lateinamerikanischen Utopie aufrechterhalten wird. Sie zwangen mich schließlich dazu, meine falschen Erwartungen aufzugeben, die Haltung der Fragenden und Beobachtenden einzunehmen, ohne Maßstäbe, die vor Ort keine Gültigkeit haben, um auf diese Weise die besonderen Arbeitsbedingungen, das besondere kulturelle, soziale und politische Umfeld des Theaters kennenzulernen und die Probleme, das 1
Z.B für das neue Theater in Perú (vergl. Meier 1991) und die neuen Theatergruppen in Nicaragua und Honduras. Siehe dazu: F. Garzón Céspedes: El teatro latinoamericano de creación colectiva, 1978 und E. Jaén: »1950-1987: Un alentador despegue« in: Escenarios de dos mundos. Inventario teatral de Iberoamérica, Bd. 3,1989
2
Adler 1982: 147
3
E. Buenaventura: Teatro, 1977
15
Selbstverständnis, die Funktion und die Gestalt des Theaters vor dem Hintergrund der Gesamtheit dieser Einflüsse zu erklären. Während meines ersten Aufenthalts von März bis November 1984 besuchte ich möglichst viele Theatergruppen im ganzen Land, sah mir ihre Aufführungen und teilweise ihre Proben an, machte Interviews mit Regisseuren, Schauspielern und Theaterkritikern, 1 sammelte Informationsmaterial aus Bibliotheken und aus Archiven einzelner Theatergruppen, um eine möglichst umfassende Übersicht über die Theaterbewegung zu erlangen. Diese Art der Vorgehensweise war nicht problemlos. Erstens kostete die Suche und Aufarbeitung des schriftlichen Quellenmaterials unverhältnismäßig viel Zeit. Bis auf zwei nordamerikanische Dissertationen und eine kolumbianische theatersoziologische Studie standen mir keine Darstellungen zur Verfügung, die eine Übersicht über das NTC boten; 2 der größte Teil des Materials bestand aus fotokopierten Manuskripten und Stücken, oft undatierten Zeitungsartikeln, die ich in den Archiven fand, sowie einigen Broschüren. Meine wichtigste Arbeit bestand zunächst darin, das Material zu ordnen und zu systematisieren. Nicht immer ist es mir gelungen, die Herkunft der Artikel herauszufinden, sie wurden in den Fußnoten vorliegender Arbeit mit der Bezeichnung "ohne weitere Angaben" versehen. Neben dem schriftlichen Dokumentationsmaterial dienten mir Interviews als wichtige Informationsquelle. Dabei stieß ich auf ein zweites Problem: Die Aufspaltung der Theaterbewegung hatte zu einer Art Frontenbildung zwischen den Vertretern des Nuevo Teatro und denen des sogenannten teatro universal geführt, wodurch die Einschätzungen des kolumbianischen Theaters sehr stark von der Verteidigung des jeweiligen Standpunkts gefärbt waren. Informationen, die ich von der einen Seite erhielt, wurden von der anderen oft bestritten. Dadurch kostete es viel Zeit, zu einer einigermaßen adäquaten Einschätzung der realen Probleme des kolumbianischen Theaters zu gelangen. Aus den vorab geschilderten Erfahrungen ergeben sich die Ziele vorliegender Arbeit: Erstens soll eine erste deutschsprachige problemorientierte Aufarbeitung des NTC geleistet werden, um die Theaterarbeit in Kolumbien und ihre Bedingungen zu erhellen. Sozio-kulturelle Voraussetzungen, Methode, Entstehungsgeschichte, vergl. die Auflistung der perönlichen Interviews im Literaturverzeichnis R. Ovadia Andrade: El Nuevo Teatro en Colombia , Diss. Univ. of California. 1982 P. Gonzales: El Nuevo Teatro Colombiano: 1955-1980, Diss. Univ. of Texas, 1981 Beide beschränken sich auf die Darstellung der Höhepunkte des NTC ohne die besonderen Schwierigkeiten der Theaterbewegung zu problematisieren. R. Gonzalo Arcila: Nuevo Teatro en Colombia: Actividad creadora- Politica cultural, 1983
16
Blütezeit und Krise der Bewegung sollen dabei ebenso beleuchtet werden wie die besondere Theorie des NTC. Zweitens will ich zeigen, inwieweit sich die Prämissen des NTC, und zwar insbesondere die Entwicklung einer nationalen Dramatik unter den Bedingungen der Creación Colectiva, in die Theaterarbeit umsetzen lassen. Da La Candelaria die einzige kolumbianische Theatergruppe ist, die bis heute auf professionelle Weise erfolgreich und kontinuierlich nach den Prinzipien der Creación Colectiva arbeitet, konzentriere ich mich auf die Darstellung und Analyse ihrer Theaterproduktionen. 1 Dabei ist es mir ein besonderes Anliegen, die Arbeit der Theatergruppe vom Etikett des "politischen Volkstheaters" zu befreien, welches "Klassenkampf' 2 zum zentralen Thema hat und die "aufklärerische Erziehung zum kritischen, selbständigen Denken" 3 zum Ziel erklärt. Das Theater La Candelarias ist zwar politisch, aber es hat weder die Absicht, Volksmassen aufzuklären, noch zum revolutionären Handeln aufzurufen. Da es den Anspruch hat, kolumbianische Realität auf die Bühne zu bringen, kann es sich in einem Land, wo Repression und Gewalt jeden Lebensbereich unerbittlich bestimmen, politischen Themen nicht entziehen. Aber für die Gruppe ist Theater kein Erziehungsmittel. Vielmehr will sie ein Theater machen, das zur Schaffung eines Selbstbildes der breiten kolumbianischen Bevölkerung beiträgt. Dazu tritt sie in kritische Distanz zur kolumbianischen Führungselite. Sie will ein Bewußtsein für die Scheinhaftigkeit der demokratischen Werte wecken, welche die Elite nach außen vertritt und zeigt im Gegensatz dazu die Wirklichkeit des kolumbianischen Alltags. Gleichzeitig strebt La Candelaria in ihrer heute 20jährigen kollektiven Arbeitspraxis kontinuierlich nach ästhetischer Erneuerung und künstlerischer Weiterentwicklung. Vorliegende Arbeit soll zeigen, daß La Candelaria auf kompromißlose Weise künstlerisch und politisch zugleich ist.
1
Während meines zweiten Aufenthalts in Kolumbien von April bis Juni 198S habe ich mich daher ausschließlich mit La Candelaria beschäftigt und die Zeit vor allem genutzt, um Videoaufzeichnungen von den laufenden Produktionen zu machen. Folgende Aufführungen von La Candelaria habe ich auf Videobändern festgelegt 1. Guadalupe anos sin cuenta 2. El Didlogo del
Rebusque
3. La tras Escena 4. Corre, Corre
Carigüeta
Infolge der Konzentration auf diesen Themenschwerpunkt kann in vorliegender Arbeit die Auseinandersetzung mit der cultura populär der vielen k o l u m b i a n i s c h e n Amateurtheatergruppen, d i e s o charakteristisch für die kolumbianische Theaterlandschaft sind, nicht geleistet werden. Zweifelsohne wäre dies ein geeignetes Thema für eine eigene Untersuchung. 2
siehe Adler 1982: 147
3
ebd.: 144
1 7
Aus den genannten Zielen ergibt sich folgender Aufbau: Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Teilen. Teil 1 befaßt sich mit der Darstellung des NTC und seines soziokulturellen Umfelds, Teil 2 umfaßt die Beschreibung und Analyse des theatralischen Entwicklungsprozesses von La Candelaria. Das erste Kapitel stellt in sehr gedrängter Form die politischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen für die Theaterentwicklung in Kolumbien dar. Ein kurzer Blick auf die Theatergeschichte zeigt, wie sich entlang der sozialen Scheidelinie zwischen dem Kolumbien des pueblo und dem Kolumbien des Establishments kulturhistorisch einerseits ein amateurhaftes, an Europa orientiertes Theater der städtischen Elite und anderseits ein marginales Volkstheater auf dem Lande abzeichnet. Das zweite Kapitel verfolgt die Entstehungsgeschichte des NTC vom Beginn des professionellen modernen Theaters in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des NTC im Jahr 1969. Anhand der Entstehungsgeschichte werden die wesentlichen Grundlagen für das Selbstverständnis des NTC herausgeschält: Professionalisierung, Nationalisierung, Politisierung und Unabhängigkeit. Gleichzeitig wird ein Bewußtseinswandel derkolumbianischen Theatermacher im Hinblick auf ihre Position innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft, ihre Abwendung von der Kultur des Establishments und die Hinwendung zur Kultur der kolumbianischen Bevölkerungsmehrheit konstatiert und damit einhergend die Notwendigkeit für die Theatermacher, einen Kulturbegriff zu entwickeln, der die Kluft zwischen europäisierter Kultur und marginaler Kultur überbrückt. Dieser neue Kulturberiff spezifiziert die Idee vom neuen Theater. Im dritten Kapitel wird dargelegt, wie die Idee vom neuen Theater theoretisch und praktisch untermauert ist. Nach der Bestimmung des politischen Standorts des neuen Theaters wird Enrique Buenaventuras Konzept für ein nationales kolumbianisches Theater erläutert. In einer ersten Systematisierung und Ordnung der verschiedenen Gedanken Buenaventuras über Selbstverständnis und Gestalt des NTC werden folgende wesentliche Grundsteine des NTC herausgearbeitet: der Primat der Gruppe, ein Begriff nationaler Dramatik, der vom theatralischen Text und nicht vom literarischen ausgeht, eine lebendige Interaktion mit dem Publikum und die Creación Colectiva als Basis für ein Theater, das sich dem künstlerischen Experiment verschreibt. Um die besonderen Merkmale der kolumbianischen kollektiven Theaterbewegung im Gegensatz zu vergleichbaren europäischen Theatergruppen zu bestimmen, wird eine allgemeine Herleitung der Anwendung des Kollektivbegriffs im Theater vorgenommen.
18
Schließlich werden in Kürze die wichtigsten Stücke aus der Blütezeit des NTC von 1971 bis 1976 vorgestellt, gefolgt von der Erläuterung der Gründe für die einsetzende Krise des NTC. Es wird festgestellt, daß die Spaltung des kolumbianischen Theaters schließlich insgesamt zu einer Öffnung führte, die sowohl eine größere Varietät der kolumbianischen Theaterlandschaft als auch eine Umorientierung des NTC im Hinblick auf eine Erweiterung seiner Themen um die Problematik der kulturellen Identität herbeiführte. Insgesamt werden in der Entwicklung des NTC zwei Perioden beobachtet: von 1971-1979 die Periode der politischen Standortbestimmung, ab 1980 die Periode der kulturellen Standortbestimmung des neuen Theaters in bezug auf die Frage nach seinem nationalen Stellenwert. Teil 1 der vorliegenden Arbeit dient als Hintergrund für Teil 2, da die Entwicklung der Theaterarbeit von La Candelaria nur im Kontext der Problematik des NTC nachzuvollziehen ist. Der Entwicklungsprozeß der Gruppe spiegelt sich im Entwicklungsprozeß des NTC wieder. Auch bei La Candelaria lassen sich zwei Perioden unterscheiden: Ich nenne sie die Periode der 'strengen Form' von Creación Colectiva (1971-1979) und die der 'offenen Form' von Creación Colectiva (ab 1980). Im ersten Kapitel von Teil 2 wird zunächst die Grundidee La Candelarias von Creación Colectiva als Lernprozeß ausgeführt. Im zweiten und dritten Kapitel wird je eine Aufführung zur Analyse herangezogen, um die besonderen Merkmale aufzuzeigen, welche jeweils für die erste und die zweite Periode der Theaterarbeit charakteristisch sind. Für die erste Periode habe ich Guadalupe años sin cuenta aus dem Jahr 1975 ausgewählt, für die zweite Periode La tras Escena aus dem Jahr 1984. Anhand der beiden Aufführungsanalysen und kurzen Beschreibungen der wichtigsten weiteren Produktionen wird der Entwick- lungsprozeß der Gruppe als Lernprozeß der Creación Colectiva aufgezeigt. Er vollzieht sich in bezug auf folgende Aspekte: Die theatralischen Figuren entwickeln sich von schematischen, prototypischen zu komplexen; die sozio-politische Thematik der früheren Stücke wird um kulturanthropologische und literarische Elemente in den späteren erweitert; die epischen, verfremdenden, visuellen gestalterischen Mittel der Aufführungen aus der ersten Periode werden in der zweiten schließlich um barocke ergänzt. Der Beschreibung und Analyse dieses Prozesses liegt die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Creación Colectiva im Hinblick auf die nationale Dramatik im Sinne des NTC zugrunde. Die verschiedenen Erarbeitungsweisen der genannten Aufführungen - die gemeinschaftliche Autorschaft der Gruppe bei Guadalupe años sin cuenta und die individuelle Autorschaft und Regie eines Schauspielers der Gruppe bei La tras Escena - werden in einen unmittelbaren
1 9
Zusammenhang mit der jeweiligen Gestalt der Aufführung gestellt, um schließlich zu der Feststellung zu gelangen, daß die gemeinschaftliche Autorschaft nach Buenaventuras Modell der Creación Colectiva zu inhaltlichen Schematismen führt und das Experiment der individuellen Autorschaft dazu verholfen hat, den Schematismus zu überwinden ohne die Idee der Creación Colectiva aufzugeben. Dies wird als besondere Leistung hervorgehoben. Viele Fragen zum kolumbianischen Theater sind unbeantwortet geblieben und bieten sich zur tiefergehenden Untersuchung an, so wie z.B. die Frage nach volkstümlichen kolumbianischen theatralischen Ausdrucksformen und ihre Anwendung im gegenwärtigen kolumbianischen Theater, die Theatergeschichte seit der Conquista bis zum Beginn des modernen Theaters, die Frage nach der Zusammensetzung des Publikums, die Analyse barocker Theaterelemente im kolumbianischen Gegenwartstheater u.a.m. Obwohl die Auseinandersetzung mit den Einflüssen des Brechtschen Theatermodells auf das NTC naheliegt, da sich Buenaventura direkt auf Brecht beruft, ist sie in vorliegender Arbeit nicht geleistet worden. Erstens liegt bereits eine hervorragende nordamerikanische Untersuchung zu diesem Thema vor, 1 und zweitens ziele ich darauf ab, das NTC und die Arbeit von La Candelaria aus dem kolumbianischen Kontext heraus zu erklären. Wenn sich die kolumbianischen Theatermacher des Theatermodells von Brecht bedienen, um das Selbstverständnis und die Funktion ihres Theaters zu bestimmen, braucht dies nicht notwendig zu bedeuten, daß sie aufgrund dieses Einflusses ein episches Theater proklamieren. Mindestens ebenso überlegenswert erscheint mir die Frage, ob die epische Gestalt des Neuen Theaters nicht vielmehrt eine genuine Fortentwicklung des epischen Charakters der kolumbianischen Volkskultur darstellt. Zum Abschluß möchte ich mich für die Unterstützung beim Zustandekommen des vorliegenden Buches bedanken: beim DAAD für die Finanzierung meines ersten Forschungsaufenthalts in Kolumbien, bei der Freien Universität Berlin für die zweijährige finanzielle Unterstützung meines Dissertationsvorhabens im Rahmen des Nachwuchsförderungsgesetzes, bei meinen Eltern, insbesondere bei meinem Vater für die großzügige Finanzierung der Drucklegung, bei meinem Mann Harold van Voorst für seine unermüdlichen Ermutigungen, bei meinen Geschwistern Ev und Axel für ihre praktische Hilfe, bei meinen Freundinnen Helga Volk und Elisabeth Trossen für ihre Korrekturen und natürlich bei allen kolumbianischen Theatermachem, die mir in zahlreichen Gesprächen, in Proben und Aufführungen Einblicke in ihre Theaterarbeit gewährt haben. B. Baycroft Brecht in Colombia - The Rise of the New Theatre, Diss. Stanford University, 1985
I. Die Theaterentwicklung in Kolumbien und ihre soziokulturellen Voraussetzungen
Unerläßliche Bedingung für die Darstellung der kolumbianischen Theaterentwicklung ist die Skizzierung des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds, in dem sie sich vollzieht, aufgrund dessen das neue kolumbianische Theater sein Selbstverständnis definiert und das schließlich auch Gegenstand seiner Stücke ist. Allein ist hier nicht der Ort, um das komplizierte Netzwerk der Einflüsse, die innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft aufeinander wirken, zu entwirren. Deshalb will ich nur in sehr gedrängter Form auf die wichtigsten Kennzeichen der kolumbianischen Politik und Gesellschaft eingehen. Kolumbien zeichnet sich im Gegensatz zu vielen anderen lateinamerikanischen Ländern durch eine relativ stabile Entwicklung aus. Das Land kennt, bis auf eine Ausnahme in den Jahren 1953-1957, keine Militätdiktaturen, stattdessen regieren seit 1821 liberale oder konservative Präsidenten auf konstitutioneller Basis. Mit einer verhältnismäßig beständigen Wirtschaft 1 und einem relativ kleinen Schuldenberg 2 ist Kolumbien das Lieblingskind der Weltbank,3 die in den 50er und 60er Jahren eine bedeutende Rolle bei der Modernsierung Kolumbiens und der Stimulierung einer wirtschaftlich effektiven Planung spielte. Zur selben Zeit, im Jahr 1961, wurde Kolumbien das Musterbeispiel für Kennedys 'Alliance for Progress' 4 und gilt seitdem als 'Schaufenster der Demokratie'5 in Lateinamerika. Heute hat Kolumbien mit einer breiten, gut ausgebildeten Mittelklasse, wenig
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Auf dem Weltmarkt ist Kolumbien größter Edelstein-Exporteur, zweitgrößter Schnittblumen-Exporteur, drittgrößter Kohle-Exporteur und fünftgrößter Bananen-Exporteur. Vergl.: J.A. Ocampo: Historia
económica
de
Colombia,
1987 2
Auslandsschulden 1988: U S $ 167 000 Mill. = 45,3% des Nationalprodukts. Quelle: Banco de la República, Bogota
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vergl. J. Pearce: Colombia,
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Die Fortschrittsallianz wurde 1961 unter Kennedy als Entwicklungsprogramm für Lateinamerika konzipiert, u.a um die radikalisierenden Effekte der Revolution in Kuba abzuschwächen. Kennedy: "(•••) w i r sind es, das amerikanische Volk, das sich an die Spitze dieser weltweiten Revolution stellen muß, indem wir ihren Kräften mn Rat und Tat zur Seite stehen und ihnen helfen, ihr Ziel friedlich zu erreichen.." (Kennedy-Doktrin)
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vergl.: NACLA report on the Americans,
1989 Inside the Labyrinth,
1990: 79
vol. XVII, No. 3, 1983: 2-34: »Not such stränge bedfellows«
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Bevölkerungszuwachs und einer hochspezialisierten technischen Elite ein relativ modernes demographisches Profil. Auf der anderen Seite ist das Leben der Bevölkerungsmehrheit von Gewalt, A r m u t 1 und Korruption b e s t i m m t , hat sich die größte und einflußreichste Drogenmafia Lateinamerikas in Kolumbien etabliert, kennt das Land die höchsten Mordquoten der Welt, 2 ist Kolumbien bekannt für seine gamines, Straßenkinder. Trotz einer formal bestehenden, gesetzlich festgelegten demokratischen Ordung werden politische Rivalitäten nicht über die Wahlurne augetragen, sondern in mörderischer Selbstjustiz erledigt. Schon in den 50er Jahren, nachdem der populäre liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 ermordet wurde, begann ein blutiger und grausamer Bürgerkrieg, La Violencia, der im Grunde bis heute kein Ende gefunden hat. Seitdem zieht sich die Gewalt wie ein roter Faden durch die kolumbianische Geschichte. Sie kulminierte in den 80er Jahren: Die Morde an dem Führer der Oppositionspartei Unión Patriótica, Jaime Pardo Leal, im Oktober 1987 und am liberalen Präsidentschaftskandidaten Carlos Luis Galán im August 1989 sind nur zwei der bekanntesten Beispiele. In Kolumbien herrscht eine "Demokratie ohne das Volk", Modernität und d e m o k r a t i s c h e M i t b e s t i m m u n g erscheinen wie eine Fassade. 3 Die englische Soziologin Jenny Pearce beschreibt den Widerspruch zwischen Lebensrealität und Staatspolitik folgendermaßen: " R e g u l a r elections, t w o main parties, a legal C o m m u n i s t Party, a parliament(...) this is formal Colombia. To call the real Colombia a 'democracy' is to wrest content f r o m that word or to reduce it to a set of institutions(...) Colombia is a democracy without the people. Marginalised economically and politically, the state has reserved for the majority the 'state of siege' and all the exceptional repressive legislation and procedures 1984 arbeiteten 50,6% aller städtischen Beschäftigten im informellen wirtschaftlichen Sektor, d.h. mit Tätigkeiten w i e S t r a ß e n h a n d e l , Putzen der A u t o s c h e i b e n auf ö f f e n t l i c h e n S t r a ß e n , S c h u h e p u t z e n , G u m m i - und Abfallsammlung, Prostitution sowie in kleinen Unternehmen, die außerhalb staatlicher Kontrolle stehen und keine sozialen Sicherheiten garantieren. Eine Studie des Departamento Administrativo Nacional de Estadística (DANE) 1988 in 13 kolumbianischen Städten ergab, d a ß 32% der Stadtbevölkerung in Armut lebt und 4,36% in absoluter Armut. Vergl.: Boletín de estadística especial: La pobreza en 13 cuidades colombianos, 1988: 164 D A N E definiert Armut nach fünf Kriterien: ungenügende Ernährung, schlechte Lebensumstände, ungenügender Zugang zum öffentlichen Service, geringes Familieneinkommen, wenig Ausbildung. vergl.: Impunity Pax, 1989:13
in Colombia-, A Publicación of Pax Christi Netherlands and the Dutch Commission Justitia et
Wie wenig die kolumbianische Bevölkerung die Legitimität der Regierung anerkennt, wird immer wieder an der Wahlbeteiligung deutlich. 1991 haben lediglich 30% der kolumbianischen Bevölkerung an den Parlamentswahlcn teilgenommen. Vergl.: O. Gómez: De politieke kaart na de parlementsverkiezingen, Colombia Bulletin, Nr. 53, 1992
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that can guarantee Order where other mechanisms fail (...)• Colombia presents the outside world with a modern rational face (...)• Undemeath, however, at the level of civil society most people's lives are circumscribed by corruption, inefficiency and neglect which, with the people's own strategies for survival, have ensured a functional politic stability."1 Die Theatergeschichte ist von dem Dilemma geprägt, das sich aus dem Gültigkeitsanspruch ergibt, den die führende Elite einerseits auf demokratische und humanistische Werte erhebt und den sie andererseits für das Volk nicht einzulösen vermag. Die permanente Legitimationskrise des Staates ist Thema vieler moderner Stücke, der Versuch, das Volk an einem demokratischen Prozeß zu beteiligen, eine der Antriebsfedern des neuen Theaters. Bevor aber bei den Theatermachern ein Bewußtsein für die gesellschaftlichen Widersprüche und die Kritik an ihnen einsetzte, mußte sich das Theater erst einmal einen Platz in der kolumbianischen Gesellschaft erobern.
1. Erste Spuren einer Theaterentwicklung Über die Anfänge des Theaters in Kolumbien ist nur wenig bekannt. Vermutlich sind die ersten theatralischen Erscheinungsformen als Folge von Christianisierung 2 und Transkulturation 3 sowie in einem allmählichen ethnischen Mischungsprozeß zwischen Indígenas, Spaniern und Schwarzen 4 entstanden. Die Existenz eines präkolumbischen Indígena-Theaters ist kaum nachgewiesen. 5 . Als die Conquistado1
vergl.: Pearce 1991: 207
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Als die Bekehningsversuche der spanischen Priester und Mönche bei den Indianern (teilweise aus sprachlichem Unverständnis) nicht das gewünschte Resultat zeigten, veranschaulichten die Missionare die Bibelerzahl ungen durch theatralische Bebilderungen. Heidrun Adler meint sogar, daß sich "das Phänomen der Transkulturation in Latinamerika im 16. und 17. Jahrhundert durch das Missionsthealer" vollzogen habe (Adler 1982: 69). Dagegen sprechen die unvorstellbar grausamen Gewaltmaßnahmen, welche die Spanier anwandten, um die lateinamerikanische Ureinwohnerschaft zu unterwerfen und die sicherlich 'wirkungsvoller' waren als jeglichc theatralische Verführungskunst. (Vergl. H. Weber: Die Opfer des Kolumbus, 1982: 149)
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Die Transkulturation vollzog sich nicht ausschließlich durch Einführung christlicher Elemente, sondern in einem Mischungsprozeß der indianischen, weißen und schwarzen Kultur. C. Schreiner schreibt dazu: "Zum Glauben christlicher Vorslellung,(...) gesellten sich die Uberlieferten religiösen Inhalte der Unterdrückten und Geknechteten, der Amerinder und der afrikanischen Sklaven: Aberglaube, Magie, Okkultismus, Spiritismus, Riten und Kulte. " Vergl.: C. Schreiner: Música Laiina, 1982: 138
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Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als die Indianer allmählich ausstarben und dadurch ein Mangel an billigen Arbeitskräften eintrat, wurden Afrikaner als Sklaven importiert. Noch heute macht die schwarze Bevölkerung in Kolumbien 4% der Gesamtbevölkerung aus. Insgesamt bestehen 46% der Bevölkerung aus Mestizen, 22% aus Mulatten und Zambos (Menschen von afrikanisch-indianischer Abstammung), 26% aus Weißen und 2% aus Indianern. Vergl. Terres des Hommes: Kolumbien - Die Barrios, 1982
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Zumindest gibt keine der im Literaturverzeichnis genannten Quellen darüber Aufschluß. Nur der kolumbianische Theaterhistoriker und Dramatiker Fernando Gonzáles Cajiao veröffentlichte 1989 einen kurzen Aufsatz, in dem er auf die Entdeckung einer Studie von Roberto Pineda Giraldo aus dem Jahr 1947 weist, die von einem authentischen
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res 1499 in das heutige Kolumbien eindrangen, fanden sie keine indianischen Hochkulturen vor, die mit denen in Mexiko oder Peru vergleichbar wären, sondern viele verschiedene kleinere indianische S t ä m m e , von denen die Tairona und C h i b c h a 1 am weitesten entwickelt waren. Die Bräuche dieser Stämme sind bei w e i t e m nicht so e r f o r s c h t wie die der Inkas oder Azteken. Im L a u f e der Zwangsakkulturation sind die meisten Indigena-Kulluren zerstört worden, 2 so daß es heute unmöglich ist, über die Lebensweise der indianischen kolumbianischen Vorfahren genaue Kenntnis zu erlangen. Mit dem Beginn der Kolonialisation hat in Kolumbien eine krasse kulturelle Zweiteilung eingesetzt. In bezug auf die Theaterentwicklung spiegelt sich diese Zweiteilung in einer Kluft zwischen ländlichen volkstümlichen theatralischen und musikalischen Ausdrucksformen und einem städtischen Theater der regionalen Eliten. 3 Bis in das 20. Jahrhundert hinein hat sich in Kolumbien kein beständiges nationales Theater entwickelt. Aus den wenigen verfügbaren Belegen über die k o l u m b i a n i s c h e T h e a t e r g e s c h i c h t e 4 geht hervor, daß die städtischen Theaterereignisse sporadischen Charakters und von geringfügiger künstlerischer Bedeutung waren. Sie blieben von den volkstümlichen theatralischen Festen und Riten auf dem Lande weitgehend unberührt. Einige Ursachen dafür, daß sich jahrhundertelang kein Prozeß nationaler Theaterentwicklung in Kolumbien entfaltete, sind in der Trennung zwischen städtischer Herrenkultur und ländlicher Volkskultur, in der auf Europa ausgerichteten Geisteshaltung der kreolischen Elite sowie schließlich im kolumbianischen Provinzialismus und Regionalismus zu suchen.
fndigena-Theater in der Guajira, im Norden Kolumbiens berichtet. Vergl.: F. Gonzáles Cajiao: »1900-1955: El centenario de los "Piedracielistas".« in: Escenarios de dos mundos, 1989: 307-314 1
Die Völker, die Chibcha sprachen, siedelten in den mittleren Kordilleren Kolumbiens. Sie bezeichneten sich selbst als Muisca, Menschen. Sie pflanzten Mais, Kartoffeln, und Bananen und trieben Handel mit ihren Nachbarvölkern. Den Fürsten der Chibcha wurde höhere Macht zugeschrieben, denn in ihnen verkörperten sich höhere Wesen: die Mondgötlin und der Sonnengott. Die Priester leiteten die Feste des Jahres, in denen die Fruchtbarkeit der Erde beschworen wurde und Speisen, Getränke, Gewänder, Smaragde, Goldfiguren und Menschen zum Opfer gebracht wurden. Die Häuser waren aus Pfosten und Glasdächern gebaut, nicht aus Stein. Es gab keine Tempel wie bei den Maya oder Inka. Vergl.: V. von Hagen: Auf der Suche nach dem goldenen Mann, 1977
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Über Zwangsakkulturation siehe: D. Ribeiro: »La cultura latinoamericana« 1975
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Die wenigen Stücke, die aus der Kolonialzeit bekannt sind, handelten ausschließlich von spanischen Themen oder dienten dem Lob des Königs wie z.B. Loa representada en ¡bagué para la jura del rey Armando ViI aus dem Jahr 1752. Vergl.: E.M. Watson/CJ. Reyes (Hrsg.): Materiales para una historia del teatro en Colombia, 1978: 12
4
siehe ebd: 9
in: Latino Americana, No. 8, UNAM
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2. Provinzialismus und Regionalismus Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts herrschte in Kolumbien noch ein träger Provinzialismus, der dem Land innerhalb Lateinamerikas eine kulturelle Außenseiterposition bescherte, die bis heute nachwirkt. 1 Durch seine besondere geographische Lage, seinen Regionalismus und auch durch den Mangel an Immigranten war Kolumbien nur relativ wenig Einflüsse von außen ausgesetzt. Im Norden und Westen grenzt Kolumbien an den Atlantischen und an den Pazifischen Ozean. Drei unwegsame Andenkordilleren mit Höhen bis zu 5700 m ziehen sich vom Norden bis in den Süden des Landes, der Südosten und die Küsten sind mit undurchdringlichen Urwaldgebieten bedeckt. Lange Wegstrecken 2 und die natürliche Unwegsamkeit des Landes verursachten bis in das 20. Jahrundert hinein große Transport- und Kommunikationsprobleme. Eine Reise von Cartagena, der wichtigsten an der atlantischen Küste gelegenen Hafenstadt, bis in die Hauptstadt Bogotá war ausschließlich per Schiff auf dem Rio Magdalena zu bewerkstelligen und dauerte sechs bis acht Wochen. 3 Durch seine Geographie war Kolumbien lange Zeit nicht nur von den umliegenden Ländern isoliert, sondern auch im eigenen Land in einzelne, schwer erreichbare Regionen zerteilt. Dadurch konnten sich in Kolumbien weder ein nationaler ökonomischer Markt, noch eine nationale Politik herausbilden. Beides wurde zusätzlich durch immer wieder aufflackernde bürgerkriegsähnliche Kämpfe zwischen den Regionen erschwert. Allein zwischen 1863 und 1886 fanden 40 Rebellionen und Aufstände regionaler Oligarchien statt, denen 1876-77 ein nationaler Krieg folgte. 4 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchte die Regierung, angeregt durch die Vorbilder Argentinien, Chile, Brasilien und Uruguay, Immigranten anzulocken, um durch das von den Einwanderern erwartete Kapital die rückständige Wirtschaft zu sanieren. Aber dieses Vorhaben mißglückte. Die Undurchdringlichkeit der Landschaft und die nicht enden wollenden Bürgerkriege schreckten die Immigranten ab. So ist Kolumbien bis heute das Land mit der Der kolumbianische Theaterregisseur Fenán Pharón erklärte in einem persönlichen Interview, daß Kolumbien auch heute noch außerhalb der wichtigsten kulturellen Achsen (New York/Los Angeles - Mexico/Caracas und Europa Buenos Aires/Rio de Janeiro) läge. Kolumbien ist mit 1.141.748 qkm fünfmal so groß wie die ehemalige Bundesrepublik. Die Weltbank half zwischen 1952 und 1961, die Eisenbahnstrecke Cartagena-Bogotá (bis heute eine der ganz wenigen in Kolumbien) zu finanzieren, welche die Reise auf 24 Stunden verkürzt. vergl. Pearce 1991: 20. Kolumbien haue unter anderem durch diese Probleme Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit Haiti die rückständigste Wirtschaft Lateinamerikas.
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geringsten Einwandererquote in Lateinamerika geblieben. Der kolumbianische Soziologe Jaime Jaramillo Uribe schreibt über diesen Prozeß: "Colombia ha sido un país formado caso exclusivamente a base del mestizaje indo-español, un país sin imigrantes, cuyo desarrollo económico y social a sido producido desde dentro y a partir de sus propios recursos humanos." 1 Dieser Prozeß der ökonomischen Entwicklung von innen setzte erst ein, nachdem drei Jarhunderte Kolonialisierung den größten Teil der Bevölkerung bereits kulturell und biologisch enteignet hatten. Die Bildung einer Nation im Rahmen der okzidentalen Zivilisationsmodelle wurde Jaramillo zufolge dadurch erheblich erschwert, wenn nicht gar verhindert. Diese Voraussetzung behinderte entscheidend die Entwicklung eines nationalen Theaters.
3. Marginale und plagiatorische Theaterschöpfungen Durch den Mangel an interregionaler Kommunikation und Stimulanz von außen erhielt die kolumbianische Kultur bis Mitte des 20. Jahrhunderts nur wenig Impulse. Auch deshalb konnte, anders als in Immigrationsländem wie Argentinien oder Chile, kein nationales institutionalisiertes Theater auf kolumbianischem Boden gedeihen, zumal es im Verhältnis zu anderen Kunstgattungen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts beklagte der kolumbianische Theaterdirektor und Dramatiker Antonio Alvarez Lleras (1892 1956) die Ärmlichkeit des kolumbianischen Theaters und seine geringe Bedeutung: "Otra circunstancia que explica la pobreza del teatro en Colombia es el desdén con que siempre ha sido mirado(...)hasta poderse afirmar que en nuestra formación cultural no ha intervenido en lo mínimo." 2 Dazu kam die Geringschätzung, welche die kreolischen Herren den Kulturen ihres eigenen Volkes entgegenbrachten. Ihr Interesse richtete sich auf die kulturellen Ereignisse in Europa. Sie selbst brachten nicht viel mehr als Imitationen hervor, ohne schöpferischen Impetus. Die kulturellen Manifestationen des Volkes, verbannt in die Marginalität, blieben unter diesen Bedingungen archaisch. 3.1. Theatralische Formen der mestizischen Volkskultur Die musikalische und theatralische Volkskultur ist sehr stark vom kolumbianischen Regionalimus gekennzeichnet. Die Ursache für ihre unterschiedliche regionale Prägung sind unter anderem in den ethnokulturellen Differenzen zu suchen, die J. Jaramillo Uribe: »Etapas y sentido de la historia de Colombia« in: Colombia Hoy, 1982: 19 A. Alvarez Lleras: »El teatro visto por un comediógrafo« in: Watson/Reyes, 1978:262
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heute noch in vielen Gebieten Kolumbiens bestehen. Während in den Kordilleren eine mestizische Kultur vorherrscht, dominiert an den Küsten und in den Tälern zwischen den Andenketten die mulattische Kultur mit spanischem und indianischem Einschlag. Am kolumbianischen Amazonas wiederum haben auch einige ursrüngliche Gemeinschaften überlebt: die Tukano, Makú, Tikuna, Huitoto, Carijona... 1 Die Begegnung von spanischen, heidnischen und christlichen Bräuchen mit den Riten der Amerinder und Afrolatiner führte zu sehr unterschiedlichen volkstümlichen musikalischen und theatralischen Erscheinungsformen: Kamevalsmaskeraden, magisch rituelle Tänze und Zeremonien sowie religiöse dramatische Szenen mit Musik und Tanz. Da die musikalische Tradition in Kolumbien unvergleichlich viel stärker ausgeprägt ist als die theatralische, sind theatralische Volksmanifestationen ohne musikalische Begleitung oder Unterbrechungen undenkbar. Der kolumbianische Theaterregisseur und Spezialist für teatro popular Jairo Santa beschreibt ein mestizisches Fest, das jedes Jahr am 11. November in der kolumbianischen Provinz Meta (Llanos Orientales) gefeiert wird, folgendermaßen: "Vemos danzar hombres jaguares con santos judeocristianos, hechiceros y chamanes acompañados de diablos y matachines que con su magias y hechizos hacen danzar y cantar a caballeros medievales al ritmo de tambores, gaitas y guitaras. Se trata de ritos a Baco, a espíritus o al padre Sol. Juntos cantando, eso sí, a la fertilidad, a la abundancia de la vida." 2 Ein anderes Beispiel für den Synkretismus in der Volkskultur sind die Dreikönigsfeierlichkeiten der an der Pazifikküste in der Provinz Cauca lebenden Schwarzen. Dem dreitägigen Spektakel liegt die Bibelerzählung zugrunde, welche mit vielen afroamerikanischen traditionellen Spielarten von Tanz und Musik ausgeschmückt ist und durch die Problematisierung lokaler Konflikte erweitert wird. Neben Herodes und den drei Königen Rey Negro, Rey Blanco und Rey Indio3 spielt die Figur des Singo, der Narr von Herodes, eine bedeutende Rolle. Der Darsteller des Singo muß pechschwarz sein und hat die Funktion, die Situation der Schwarzen im Dorf zu ironisieren. Er weist mit vielen witzigen Bemerkungen auf seine Hautfarbe hin und betont, daß Herodes ihn als Sklave aus Afrika geholt habe. Oft wendet er sich direkt ans Publikum mit Ausrufen wie: "Ui, wie schwarz es hier ist. Was für eine Menge häßlicher Neger!" Singo verkörpert den picaro, den schelmischen Betrüger, wie er in der spanischen Literatur des siglo de oro und auch 1
verglj. Ocampo Lopez: Música y folclor en Colombia, 1976: 15
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J. Santa: »Fiestas y carnavales« in: Escenarios de dos mundos. Bd.l, 1989: 355
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Die Geschichte der Könige in diesem Spektakel ist wiederum eng mit der Königskultur der schwarzafrikanischcn Yoraba verknüpft.
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in vielen afrikanischen Erzählungen vorkommt: eine unterprivilegierte, abhängige Figur, die List und Witz zu ihrer Stärke gemacht hat, um überleben zu können. Diese und viele andere Beispiele 1 geben darüber Aufschluß, daß die Christianisierung der lateinamerikanischen Ureinwohner und der Sklaven nur teilweise gelungen ist. Trotz der gnadenlosen Vorgehensweise der Eroberer haben sich die schwarzen und indianischen Bevölkerungsgruppen ihre präkolumbischen Bräuche bewahrt, indem sie sie in Form von kultischen Handlungen, Rhythmen, Gesängen und Legenden in die christlichen Zeremonien und Bibelerzählungen integrierten. 2 Enrique Buenaventura bezeichnet die auf diese Weise gewachsene theatralische Volkskultur mit dem Begriff 'marginales Theater': "En el teatro marginal se reúnen el canto, la danza, la pantomima, se usan las máscaras simbólicas, los personajes archetípicos, los coros y los diálogos." 3 In der Marginalität entwickelten sich die schöpferischen Ausdrucksformen des Volkes nur wenig. Aber sie bildeten in einem spöttischen und selbstironischen Aufbäumen gegen die leidvolle Zerstörung ihrer Wurzeln einen "Kontrast zur Not" 4 und als solcher vielleicht das, was heute noch die angesichts der kolumbianischen gesellschaftlichen Verhältnisse manchmal nahezu unbegreifliche Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und Komik, den ausgesprochenen Festcharakter der Volkskultur ausmacht. Erst Mitte unseres Jahrhunderts fand das teatro marginado Eingang in das städtische kolumbianische Theater. Seine Einflüsse machten sich vor allem mit dem Beginn des neuen Theaters bemerkbar. 3.2. Das Theater der städtischen Oberschicht nach der Unabhängigkeit Vor dem weltpolitischen Hintergrund der Kämpfe Spaniens gegen Napoleon, der Unabhängigkeitskämpfe der Vereinigten Staaten von Amerika und der französischen Revolution blühte in den südamerikanischen Kolonien der kreolische Separatismus. Der Kampf gegen die spanische Krone und ihre Anhänger führte nach zehnjähigen Auseinandersetzungen auch zur Unabhängigkeit Kolumbiens. Am 10. 8. 1819 marschierte Simón Bolívar in Santa Fe de Bogotá ein. 1821 erhielt die vergl. u.a. Schreiner 1982, Lopez Ocampo 1976. G. Beutler: Studien zum spanischen Romancero in Kolumbien in seiner schriftlichen und mündlichen Überlieferung von der Zeit der Eroberung bis zur Gegenwart, Diss. UniversiliU Heidelberg, 1969. Zwar sind 98% der Kolumbianer katholisch, aber laut Schreiner bestimmt der Synkretismus die Lebenshaltung der meisten Lateinamerikaner, durch den die afroamerikanischen Religionen und der Schamanismus den Katholizimus überlagern. Vergl. Schreiner 1982: 176 E. Buenaventura: Informe Vortrag vom 28. 2. 1981.
al Coloquio sobre el teatro en el marco del 5. Festival de Teatro del tercer Mundo,
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd.2, 1979: 1068
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neue Republik Granada 1 ihre erste, liberalistische, den Ideen der französischen Aufklärung verschriebene und an der französischen Verfassung orientierte Konstitution. In der Zeit der Kämpfe war die Theateraktivität in den Städten vollkommen lahmgelegt. Erst zu Beginn der Konsolidierung der neuen Republik waren wieder erste theatralische Ereignisse zu verzeichnen. Luis Vargas Tejada (1802-1829), der sich später an einem erfolglosen Anschlag auf Bolívar beteiligen sollte, trat als erster unabhängiger kolumbianischer Theaterautor in Erscheinung. Er imitierte die französischen Dichter, verfaßte u.a. auch zwei Tragödien und hinterließ mit dem 1829 verfaßten und unvollendet gebliebenen Stück Las Convulsiones das erste kolumbianische Theaterstück, welches ein zeitgenössisches Thema behandelte und nationale Charaktere zeichnete. Es handelt von einem konservativen Landsherren, der in die Stadt reist, um dort ein Mittel zu besorgen, das seine Tochter von merkwürdigen Krämpfen befreien soll. Am Schluß des Stückes stellt sich heraus, daß der vermeintliche Arzt, bei dem er das Mittel erstehen konnte, ein Betrüger und Lebemann ist, der sich in seine Tochter verliebt hat. Schon damals fand das Stück viel Beachtung, es erlangte laut C. J. Reyes als einziges aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nationale Verbreitung und wird sogar heute noch aufgeführt. 2 Seine Stärke liegt in den satirischen Anspielungen auf das gesellschaftliche Leben in den ersten Jahren der Unabhängigkeit. 1826 bricht dem kolumbianischen Theaterhistoriker Ricaurte zufolge ein regelrechtes Theaterfieber aus. Viele kleine, improvisierte Theater entstehen, in denen hauptsächlich Parodien dargebracht werden. In dieses Jahr fällt die Aufführung von La Pola, ein Stück über die authentische Geschichte einer Untergrundkämpferin, die von den Spaniern schließlich hingerichtet wurde. Es wurde von dem ansonsten völlig unbekannt gebliebenen Autor José María Domínguez verfaßt. Ricaurte beschreibt, daß die Aufführungen von La Pola großen Enthusiasmus hervorriefen, der einmal so weit ging, daß das Publikum lautstark "no.'no.'no!" schrie, als Pola erschossen werden sollte. Es widersetzte sich so vehement gegen ihre Hinrichtung, daß der Theaterdirektor auf die Bühne trat, um die Handlung des Stückes kurzerhand zu ändern und das Publikum mit der Ankündigung beruhigte, Pola würde nur in die Verbannung geschickt. 3
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Bolívar gründete zunächst ein Großreich, das aus den heutigen Staaten Venezuela, Ecuador, Panama und Kolumbien bestand.
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Watson/Reyes 1978: 20
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vergi.: J. V. Ortega Ricaurte: Historia crítica dei teatro de Bogotá. 1927: 102f
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Wer waren die Zuschauer, die sieben Jahre nach der Unabhängigkeit so leidenschaftlich die Geschichte auf der Bühne korrigierten? Nach den siegreichen Unabhängigkeitskämpfen waren es die kreolischen Befreier, die sich anstelle der früheren Vizekönige im einzigen Theatergebäude der Hauptstadt, dem Coliseo Ramírez, amüsierten. Aber trotz ihrer liberalistischen Ideen blieben Theater und Unterhaltung laut Moure ausschließlich nach wie vor den Reichen vorbehalten: "En la actualidad van al teatro únicamente los privilegiados o los que aparentan serlo..." 1 Diese Tatsache bildet einen krassen Gegensatz zur Ausstattung und Qualität des Theaters und seinen Aufführungen. Ein französischer Reisender berichtete damals, daß Bogotá ein einziges, mehr als ärmliches Theater besaß, das noch nicht einmal über Stühle verfügte und mit Kerzen beleuchtet wurde. 2 Den Grund für diese Ausstattung sieht Johnson darin, daß den Befreiern Tanzvergnügen wesentlich wichtiger waren als Theatervorstellungen: In den Pausen zwischen den Akten wurden denn auch regelmäßig Tänze und Volkslieder dargeboten. Auch wenn das Theater also im Siegesrausch zunächst einen Aufschwung erlebte, blieb es doch in erster Linie eine Stätte für Amüsement und Selbstdarstellung der führenden Schichten, wie bereits in der Kolonialzeit. Eine wirkliche Änderung der Funktion des Theaters konnten die kreolischen Befreier ebensowenig herbeiführen wie eine tiefgreifende Änderung der gesellschaftlichen Strukturen in Kolumbien. Vizepräsident Santander, der die Regierungsgeschäfte nach Bolivars Tod weiterführte, versuchte zwar, den Staat neu aufzubauen und Reformen auf wirtschaftlicher Ebene (Freie Marktwirtschaft, Freier Handel) und kultureller Ebene (Pressefreiheit, Einrichtungen von Schulen und Universitäten) einzuführen, aber die kolonialen Grundstrukturen blieben letztendlich bestehen. Tabak- und Branntweinmonopol, die Vorherrschaft der Kirche, die Todesstrafe, die Sklavenhaltung wurden nicht angetastet, und auch die Pressefreiheit konnte sich schließlich nicht durchsetzen. Die Staatsgeschäfte wurden weiterhin von einem kleinen Kreis von Familien kontrolliert, die enge Verbindungen zu den sklavenhaltenden Großgrundbesitzern aus dem Süden unterhielten. 3 Die aufklärerischen Ideen und der Liberalismus blieben ein europäisches Identifikationsmodell für die kreolischen Herren, darauf ausgerichtet, eine Vorherrschaft über die Neue Welt zu behaupten, die sich aus der Opposition zum 1
J. M. Cordovez Moure: »Espectáculos Públicos« in: Watson/Reyes 1978: 174
2
vergl.: H. Johnson:»Una contrata inédita dos programas y noticias referentes al teatro en Bogotá entre 1838 y 1840« in: Watson/Reyes 1978: 152
3
vergl. A. Tirado Mejía: »Colombia, Siglo y Medio de Bipartidismo«, in: Colombia Hoy, 1982: 109f
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alten spanischen monarchischen Herrschaftssystem definierte. Als kolumbianische Söhne spanischer Eltem waren die kreolischen Herren selbst kulturell entwurzelt, ohne nationales Selbstbewußtsein und lebten in einer Statusunsicherheit, die sie durch Europabegeisterung und Ablehnung des eigenen Volkes auszugleichen suchten. So blieben die aufklärerischen Ideen nur eine Fassade: "Die neuen Herren reklamierten die bürgerlichen Freiheiten für sich, aber Neger, Mestizen, Mulatten und Indios verloren sie dabei völlig aus den Augen." 1 Diese geistige Grundhaltung spiegelt sich auch auf dem Theater wieder. Die tonangebende Schicht war unter den gegebenen Verhältnissen kaum in der Lage, die realen gesellschaftlichen Verhältnisse im Land wahrzunehmen und zu reflektieren. Davon zeugt der Mangel an eigenen theatralischen Schöpfungen ebenso wie die ausschließliche Hinwendung zu den europäischen Vorbildern. "Die Kreolen versäumten nach der langen iberischen Abhängigkeit, eine eigene Identität aufzubauen. Stattdessen entwickelten sie ein heftiges Interesse an allen kulturellen, industriellen, philosophischen und literarischen Neuerungen in Frankreich." 2 Mittelmäßige französische Theaterstücke oder Imitationen von Autoren wie Scribe oder Voltaire beherrschten die ohnehin spärlich ausgestatteten Theaterprogramme. Am beliebtesten waren seichte Melodramen und Komödien. Dabei fällt auf, daß bei aller Europabegeisterung gerade die bedeutendsten Dramatiker jener Zeit wie Lope de Vega, Calderón, Shakespeare oder Racine nicht aufgeführt wurden. Triana und Antorveza erwähnen eine Vorstellung der Orestie, die auf völliges Unverständnis stieß. 3 Rojas nimmt die Aufführungen aus dem Jahr 1836 zum Anlaß, um sich über die geringe Qualität der Stücke und den schlechten Geschmack des Publikums auszulassen: "(...) tanto las compañías como el público, preferían al mérito literario lo que llamaban 'grande espectáculo', es decir, los enredos inextricables, los argumentos terríficos (...) A pesar de esas enseñanzas no eran para nuestra público la mejor escuela (...) al fin nos divertíamos." 4
1
Weber 1982: 221
2
ebd.: 220
3
H. Triana/Aniorveza:»La Temporada Teatral de 1833 en Sania Fe de Bogotá« ¡n: Watson/Reyes 1978: 137
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J. Caicedo Rojas:»Recuerdos y apuntamientos« in: Watson/Reyes 1978: 211
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In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts erlebte das kolumbianische Theater mit dem Erscheinen des Theaterdirektors Lorenzo M. Lleras einen kurzen Aufschwung. Dieser ging mit der Blütezeit des Liberalismus in Kolumbien einher. 1849 hatten die beiden kontrahierenden kreolischen gesellschaftlichen Gruppen zwei Parteien gegründet. Kaufleute und Handwerker, die sich für ein zentralistisches System in Kolumbien einsetzten, gründeten die Liberale Partei; alte Großgrundbesitzer, der Klerus und streng katholische Famlien, die ihre regionalen Hegemonien in Gefahr wähnten, die Konservative Partei. Ihre Differenzen waren mehr von materiellen als von ideologischen Interessen geleitet, 1 und nach wie vor fanden die Interessen der Bevölkerungsmehrheit keinen Widerhall in der Staatspolitik. Da die Liberalen sich dem modernen Europa nicht verschließen wollten, kam es in den 50er Jahren, nach dem ersten Wahlsieg der Liberalen Partei, jedoch zu oberflächlichen Strukturveränderungen: 1852 wurde die Sklaverei abgeschafft und die Todesstrafe aufgehoben, 1851 wurden die kirchlichen Privilegien reduziert, schließlich führten auch eine größere Pressefreiheit und die Entwicklung des Druckereiwesens zu einer stärkeren intellektuellen Aktivität. 2 Der Theaterdirektor Lorenzo M. Lleras gründete 1853 eine Theatergruppe, die bis 1858 kontinuierliche Theaterarbeit leistete. In dieser Zeit führte sie insgesamt sieben kolumbianische Stücke mit großem Erfolg auf. Lleras versuchte als erster, dem Theater größeres Ansehen zu verleihen und bemühte sich daher auch um die Einführung guter Sitten im Theater. Er regte die Einrichtung eines dramatischen Zirkels, Centro de Autores Dramáticos, an und konnte tatsächlich einige kolumbianische Autoren dafür gewinnen, Theaterstücke zu verfassen. Neben Caicedo Rojas, Santiago Perez und Leopoldo Arias Vargas, die hauptberuflich Professoren und Rechtsanwälte waren, wird vor allem José Maria Samper (1828-1888) in allen theaterhistorischen Studien als bedeutendster und einflußreichster kolumbianischer Dramatiker bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt. Samper war Journalist, schrieb für Zeitungen in aller Welt und brachte in den 50er Jahren die ersten liberalen Zeitungen in Kolumbien heraus. Seine Theaterstücke standen unter dem Einfluß des Spaniers Bretón de los Herreros. Dieser hatte den costumbrismo geprägt, einen Stil, der sich der übertrieben romantischen und idealisierenden Schreibweise seiner Zeit widersetzte und stattdessen durch die getreue Abbildung von Sitten und Gewohnheiten den Realismus auf den Plan zu rufen versuchte. In Kolumbien geriet der costumbrismo anfangs eher nostalgisch, seine ersten, konservativen Autoren beschworen gegen die 1
vergl. Jaramillo Uribe 1982: 28
2
ebd.: 4 0
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neuen, französischen Lebensweisen die gute alte Zeit herauf. Erst Samper, später der wichtigste Vertreter des kolumbianischen costumbrismo genannt, trat in seinen Stücken für liberale Veränderungen ein. Sein wichtigstes und populärstes Stück, Un Alcalde a la Antigua, das er selbst eine "Komödie der nationalen Sitten in zwei Akten" nannte, legt ein Zeugnis von dem Konflikt zwischen liberalem und konservativem Ideengut ab. Das Stück spielt in einer kleinen kolumbianischen Ortschaft im Jahr 1840. Der Bürgermeister und seine Frau führen dort ein ruhiges und zufriedenes Leben, bis es zum Streit mit ihrer Tochter Mariquita kommt. Sie, die dem lokalen Anwalt Pariquito versprochen ist, beginnt sich anläßlich eines Besuchs ihres Vetters Paulino aus der Großstadt gegen das traditionsgebundene ländliche Leben aufzulehnen. Sie verliebt sich in Paulino. Als die beiden in einer Umarmung erwischt werden, muß Paulino das Haus verlassen. Der zweite Akt beginnt mit dem traditionellen Verkleidungsfest zur Weihnachtszeit. Mit Hilfe des Küsters kann sich Paulino in das Haus des Bürgermeisters schleichen. Mariquita und Paulino fliehen von dort. Als der Anwalt, der genauso verkleidet war wie Paulino, der Entführung angeklagt wird, kehren Paulino und Mariquita zurück. Wiederum mit Hilfe des Küsters können sie die Eltern von ihrer Liebe überzeugen und dürfen heiraten. Das Stück stellt nicht nur konservative und fortschrittliche Moral einander gegenüber, es liefert auch einen ironischen Kommentar zur besonderen politischen Problematik der lokalen ländlichen Regierungen dieser Zeit. Es macht den Vertreter der gewählten Regierung (den Bürgermeister) zur Parodie, indem es ihn als reines Instrument des alteingesessenen Machtapparats (Advokat, Pfarrer und Großgrundbesitzer) zeigt. Die Komödie setzt sich ganz direkt für politische Reformen und moralische Erneuerung ein und wurde zwischen 1856 und 1857 mehrere Male aufgeführt, was damals in Kolumbien eine große Ausnahme bedeutete. 1 Lleras gelang es in den Jahren 1853-1857 mit ähnlichen Stücken, die lokale Themen behandelten, ein für damalige Verhältnisse recht beständiges Publikum zu gewinnen. Ricaurte sieht es selbst als besonders großen Erfolg, daß bis zu fünf Mal im Monat vor vollem Haus gespielt wurde. Aber diese erfolgreichen Theaterjahre blieben eine Ausnahmeerscheinung. Nach einem Streit um eine Benefizveranstaltung löste sich 1858 der Autorenzirkel auf. Lleras verlor an Bedeutung, stattdessen gewann die aus dem Ausland importierte
vergi. H.E. Hinds/C. Tatum: »La comedia costumbrista de Samper, Un Alcalde a la Antigua« in: Walson/Rcycs 1978: 215-230
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Oper an Beliebtheit. Unter anderem aufgrund der unablässigen Bürgerkriege verwandelte sich Bogotá laut Ricaurte in eine kulturelle Wüste. Wenn sich zusammenfassend überhaupt ein kontinuierlicher Strang in der Geschichte der spärlichen kolumbianischen Dramatik bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgen läßt, dann besteht dieser in der Verbindung von Satire und politischem Engagement in der Form von sozialen Sittengemälden, dem teatro costumbrista, das aber ausschließlich auf die Probleme der staatstragenden gesellschaftlichen Schichten Bezug nimmt und die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse außer Acht läßt. Die wenigen Versuche, ein nationales Theater zu schaffen, versandeten immer wieder. Die theaterstrukturellen Voraussetzungen (Berufsschauspieler und feste Theatertruppen) dafür waren nicht gegeben, und die kolumbianische Dramatik konnte keinen Boden unter den Füßen gewinnen.
II. Die Entstehungsgeschichte des Nuevo Teatro Colombiano 1 9 4 0 - 1 9 6 9
1. Das Dilemma der Künstler und Intellektuellen: eine Voraussetzung des neuen Theaters "Wer sind wir? Wir sind weder Europäer noch Indianer. Wir sind eine Art Mittelding zwischen dem Ureinwohner und dem Spanier. Die Ratlosigkeit der Helden klingt bis heute fort. Wir lateinamerikanischen Intellektuellen sind auf der Suche nach unserer Identität wie ruhelose Falter." 1 Viele kolumbianische Künstler und Intellektuelle befinden sich in dieser von Ribeiro beschriebenen permanenten Identitätskrise. Als Kinder eines Landes vieler Kulturen, die sich zwischen der Imitation Europas und Marginalisierung bewegen, führen sie seit mindestens Mitte dieses Jahrhunderts eine ambivalente Existenz. Erzogen mit europäischem Wissen und Lehrmaterial, nach europäischen Ideen und Gewohnheiten, liefert der Alte Kontinent ihnen die geistige Nahrung: in den fünfziger Jahren waren es Sartre und der Existenzialismus, in den 60er Jahren Marx und der historische Materialismus... Gleichzeitig liegt die gefühlsmäßige Heimat im eigenen Land, regt sich die Trauer über die Entbehrung eines geistigen Zuhause. Viele haben Lehrjahre in Europa verbracht oder sind dort mit einem tiefen Gefühl der Entwurzelung geblieben, ohne dort jemals richtig Fuß zu fassen. Julio Cortázar hat diese Thematik meisterhaft in seinem Roman Rayuelo1 zu verarbeiten gewußt, um nur ein Beispiel aus der vielfältigen lateinamerikanischen Literatur hierfür zu nennen. Die geistige Verbundenheit mit dem eigenen Volk kam lange Zeit wegen der jahrhundertelangen Ablehnung der marginalen Kulturen nicht zustande, die aus verschiedenen Ethnien zusammengeschmolzenen Kulturen wurden als gültiger D. Ribeiro: »Die lateinamerikanische Nation« in: Horizonte 82: 25 J. Cortázar: Rayuelo, 1963
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Faktor für die Bestimmung der nationalen Identität nicht einmal wahrgenommen. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts war die europäische Kultur das uneingeschränkte und bruchlose Ideal für die Elite und die Intellektuellen unter ihr.1 Erst allmählich, im Zuge der Revolution in Mexiko und schließlich vor allem nach der Revolution in Kuba entstand in Kolumbien überhaupt erst das Bewußtsein über die Existenz einer Kluft zwischen Establishment und Volk, zwischen dominanter und marginaler Kultur, zwischen geistiger und körperlicher Heimat, ist diese ebenso wie die Entwurzelung Thema geworden. Mit dem Leid an der Kluft wuchsen der Überdruß an imitatorischen Schöpfungen und der Unwille über die Abhängigkeit von der fremden Kultur. Man begann nach geistigen Identifikationsmöglichkeiten im eigenen Land zu suchen. 2 Aber den Künstlern und Intellektuellen blieb nur der Appell an sich selbst: die Kluft zu überbrücken, politisch wie künstlerisch, indem sie sich den Bedingungen des pueblo nicht entzogen, sondern diese zu ihrer Angelegenheit, zu ihrem Thema machten. Der gesellschaftliche Funktionswandel der Künstler und Intellektuellen geht nicht nur mit der Übernahme der Verantwortung für den notwendigen Wandel der gesamten Gesellschaft gepaart, sondern auch mit der Definition eines neuen Kulturbegriffs, der aus dieser Verantwortung heraus alle vorhandenen Kulturen, europäische wie marginale, vereint und aus der Zusammenschmelzung die Schaffung einer eigenen Kultur anstrebt. Nur vor diesem Hintergrund läßt sich das Pathos begreifen, mit dem viele lateinamerikanische Künstler, so wie Cortázar mit folgenden Worten, den Appell an sich selber formulieren: "Ich glaube, daß wir in einer Epoche leben, in der der lateinamerikanische Schriftsteller eine intellektuelle und persönliche Verantwortung für das Schicksal seines Landes und unseres gesamten Kontinents hat, der er sich weder entziehen kann noch darf (...). Unsere moralische Verantwortung: Der Kampf um die Befreiung unserer Völker und für die soziale Gerechtigkeit. Die professionelle Verantwortung: Niemals, aus welchen Gründen auch immer, einen Schritt zurück auf dem Weg der Schöpfung." 3 Der neue Kulturbegriff, der sich aus dieser Verantwortung ableitet, verweist auf das Ziel, Identifikationsmöglichkeiten für sich selbst und für das Volk zu schaffen, d.h. eine Kunst, in der die einheimische Bevölkerung ihr Schicksal wiedererkennt.
vergl.: C. van Barloewen: Kulturgeschichte und Modernität Laieinamerikas,
1992: 134
vergl. dazu: A. Carpentier: Los pasos perdidos, 1979 J. Cortázar: »Der lateinamerikanische Schriftsteller in unserer Zeit« in: C. Meyer-Clason (Hrsg.): Unsere Freunde die Diktatoren - Lateinamerikanische Schriftsteller heute, 1982: 15-27
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die auf volkstümliche Elemente zurückgreift, die aber auch den okzidentalen Ansprüchen an professionelle künstlerische Qualität Genüge leistet. Innerhalb dieses Kontexts gestaltet sich die Lage der kolumbianischen Theatermacher besonders kompliziert, weil Theater immmer abhängig von der direkten Interaktion mit dem Publikum ist. Während der Weg der lateinamerikanischen Literatur in das nationale Bewußtsein dem kolumbianischen Theaterdirektor und -autor Santiago Garcia zufolge immer erst über die Anerkennung im Ausland führt, ist das Theater gezwungen, sich erst auf regionaler Ebene zu beweisen, bevor es auf die nationale Ebene gelangt. Den Ruhm im (europäischen) Ausland kann es als Qualitätssiegel nicht anführen, die nationale Anerkennung ist dadurch ungleich schwieriger zu erlangen. 1 Darin liegt aber auch die Chance gerade für das Theater. Es kann als Prüfstein für die Kardinalfrage fungieren, wie und ob die Künstler mit ihrem europäischen geistigen Hintergrund einen Kontakt zum breiten einheimischen Publikum herstellen können, ob der neue Kulturbegriff überhaupt einzulösen ist. Die Entstehungsgeschichte des Nuevo Teatro Colombiano gibt über die einzelnen Phasen der gesellschaftlichen Funktionsveränderung des kolumbianischen Theaters Aufschluß und beschreibt, wie die Theatermacher das Theater zunächst als Kunst entdeckten, um sich danach auf die Suche nach dem Publikum zu begeben: Während sich im kolumbianischen Theater in den 40er und 50er Jahren im Zuge der kulturellen Öffnung Kolumbiens hin zu den Metropolen die ersten professionellen Tendenzen abzeichneten, das moderne europäische und nordamerikanische Theater Eingang in die kolumbianische Theaterlandschaft fanden und die Theatermacher eine Art künstlerische Avantgarde unter der Schirmherrschaft des Establishments bildeten, waren die 60er Jahre von Politisierung und ersten Nationalisierungstendenzen gekennzeichnet. Mit der Einbindung der künstlerischen Arbeit in die Ideologie der Befreiung der lateinamerikanischen Völker wurde ein erster Anknüpfungspunkt an die Interessen des Volkes gesucht, der aber mehr noch von der Ideologie der Künstler als von einer wirklichen Begegnung mit dem Publikum geprägt war. Brechts Theatermodell diente dabei als Gerüst für erste Gedanken über ein nationales kolumbianisches Theater, das die Befreiung thematisierte. Erst gegen Ende der 60er Jahre suchten die kolumbianischen Theaterschaffenden selbst einen direkten Kontakt mit dem breiten einheimischen Publikum. Dieses Zusammentreffen bildet den Grundgedanken des Nuevor Teatro Colombiano, das, 1969 gegründet, Creaciön Colectiva als Methode wählte, um ein neues nationales
vergl.: S. Garcia: Teoria y Practica de! Teatro, 1983: 89
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Theater zusammen mit dem Publikum zu gestalten, ohne die Ansprüche an eine professionelle Qualität des Theaters aufzugeben.
2. Die Vorläufer des modernen Theaters in Kolumbien Während Montevideo, Buenos Aires und Santiago de Chile bereits im frühen 20. Jahrhundert zu Kulturmetropolen avanciert waren und auch über ein etabliertes teatro comercial verfügten, war Kolumbien tiefe Provinz geblieben. Erst vor dem Hintergrund der allmählichen Modernisierung und Industrialisierung 1 bildeten sich in den 20er Jahren auch in Kolumbien die Keime für eine professionelle Theateraktivität: Zwei junge Theaterautoren gründeten in Bogotá die ersten kontinuierlich arbeitenden Theaterkompanien. Der erste, Antonio Alvarez Lleras, schrieb psychologisierende Moralstücke über das kolumbianische Familienleben, die er mit seiner Compañía Renacimiento mit großem Erfolg zur Aufführung brachte. Sein bekanntestes Stück, Víboras Sociales aus dem Jahr 1921, thematisiert die Heuchelei in der kolumbianischen gehobenen Gesellschaft. Der zweite, Luis Enrique Osorio (18861966), tat sich in seinen Stücken als komödiantischer, teilweise satirischer Kritiker der politischen und sozialen Probleme des Landes hervor. Geprägt von biederem Lokalkolorit, blieben seine Stücke in Anknüpfung an Samper dem teatro costumbrista verhaftet. Zu seinen bekanntesten Stücken gehören Komödien wie El Doktor Manzanillo oder Doktor Manzanillo en el poder. Mit der Figur des Manzanillo gelang es Osorio, einen kolumbianischen Prototyp des Intriganten und Bucklers zu erschaffen, der als Manzanilla noch heute in aller Munde ist. Die Meinungen innerhalb der kolumbianischen Geschichtsschreibung über die Bedeutung der beiden Theaterdirektoren für das kolumbianische Theater sind geteilt. W. Knapp Jones sieht in A. A. Lleras den Begründer des modernen kolumbianischen Theaters, 2 während Enrique Buenaventura Osorio als Vorgänger des neuen Theaters klassifiziert. 3 Ausgehend davon, daß Buenventura das theatralische Phänomen "encara como espectáculo y no, fundamentalmente, como producto literario" 4 , ist Buenaventuras Einschätzung insofern zutreffend, als der populistisch orientierte Compañía und eng mit Jorge Eliécer Gaitán befreundete Osorio mit seiner Bogotana de Comedias zum ersten Mal ein für kolumbianische Verhältnisse breites 1
In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahhunderts wuchs der Kaffee-Expoit von 4 0 % auf 70%, der damit verbundene wirtschaftliche Aufschwung brachte für Kolumbien erste internationale Beziehungen, stimulierte die Bildung eines nationalen Marktes und bildete die Basis für die Entstehung einer nationalen Industrie. Diese Faktoren bewirkten tiefgreifende soziale Veränderungen, u.a. ein blitzartiges Städtewachstum. Vergl. Pearce 1991: 20-29
2
W. Knapp Jones: Breve hisioria del ¡eairo hispanoamericano,
3
E. Buenaventura: El debate sobre el teatro nacional,
4
ebd.: 16
1956: 128
unveröffentl. Manuskript, 1980: 15
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Publikum aufbauen konnte. 1 Bezeichnend ist hierfür, daß Osorio in der Lage war, nach der Zerstörung des Teatro Municipal,2 in dem seine Truppe regelmäßig auftrat, im Jahr 1952 das Teatro de la Comedia mit 1400 Plätzen erbauen zu lassen und dort vor ausverkauftem Haus zu spielen. 3 In Opposition zum costumbrismo von Osorio brachte der Direktor der Radiodifusora Nacional, Bernardo Romero Lozano, Kolumbien in den 40er Jahren als erster mit dem modernen europäischen und nordamerikanischen Theater in Berührung. Er hatte 1940 die erste Escuela de Arte Escénica eingerichtet und 1941 das ein Jahr zuvor gegründete Radiotheater übernommen, mit dem er Stücke von Anouilh, Brecht, Sartre, Pirandello, Wilder, Miller und Williams aufführte. Er und seine Gruppe erklärten sich als Anhänger der Theatertheorie E. G. Craigs und wollten das Publikum mit dieser neuen Konzeption bekannt machen. 4
3. Das Theater der 50er Jahre: Erste Professionalisierungstendenzen Die 50er Jahre waren in Kolumbien von den Folgen der Violencia bestimmt. Der blutige Bürgerkrieg hatte dem ländlichen, in gewisser Hinsicht gemächlichen Leben definitiv ein Ende gesetzt. Rapides Städtewachstum, 5 die Modernisierung der Landwirtschaft, Industrialisierung und die Verbesserung der Verkehrswege sorgten für eine schnelle infrastrukturelle Umwandlung des Landes, mit der die Bildung einer verhältnismäßig großen Mittelschicht einherging. All diese Faktoren bewirkten einschneidende Veränderungen auf kulturellem Gebiet. Der kolumbianische Literaturwissenschaftler und Theaterkritiker Eduardo Gómez erinnert sich an diese Zeit als eine der Öffnung zur Welt des 20. Jahrhunderts, nahezu der einer kulturellen Revolution. 6 Die Öffnung zum Westen brachte nicht nur die geistigen Errungenschaften, sondern auch die Kommunikationsmittel des 20. Jahrhunderts ins Land: Radio und vergl. Ovadia Andrade 1982:17f Das Teatro Municipal war in jener Zeit das einzige feste Theatergebäude in Bogotá und ist, nachdem auch Gaiuin dort öfter gesprochen hatte, der Brandstiftung zum Opfer gefallen. Weitere wichtige Theatermacher aus jener Zeit: Gerardo Valencia, Oswaldo Díaz-Días (der im Bereich des Universitätstheaters tatig war), Rafael Guizado, Cam pitos und Victor Mallarino. vergl.: G. Valencia:»La actividad teatral en los artos de 1940 a 1950« in: Watson/Reyes 1978: 276 "Between 19S1 and 1964 the urban population more than doubled as people fled the Violencia; by 1964 half of the total population, just over nine million people, lived in urban areas." (Pearce 1991: 66) Gómez im persönlichen Interview. In jener Zeit wurde auch die Zeitschrift Mito gegründet, das Kullurforum der kolumbianischen Intellektuellen. Sie veröffentlichte Artikel Uber aktuelle europäische Strömungen ( mit Schwergewicht auf dem französischen Existenzialismus) und halte zum Ziel, die nationale Kultur zu fördern. 1959 erschien hier eine der ersten Erzählungen von G. G. Márquez.
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Femsehen. Letzteres wurde 1954 vom damaligen Diktator Rojas Pinilla importiert, weil er die kolumbianische Bevölkerung über dieses Medium persönlich und massenhaft erreichen wollte. Gerade diese Massenkommunikationsmittel waren es, die den Prozeß des modernen Theaters entscheidend in Gang setzten. Sie schufen einen Bedarf an professionellen Schauspielern, der u.a. mit der Einrichtung verschiedener Theaterschulen zwischen 1951 und 1956 beantwortet wurde. 1 Motor dieser Entwicklung war Bernardo Romero Lozano. Nachdem er bereits mit dem Radiotheater die ersten Schritte zur Modernisierung des kolumbianischen Theaters unternommen hatte, organisierte er nun, in seiner neuen Funktion als Direktor des Teletheaters, Seminare zur Ausbildung von Fernsehschauspielern. 1956 holte er schließlich im Auftrag von Rojas Pinilla den japanischen Schauspiellehrer Seki Sano, einen Schüler Stanislawskis und seit 1939 Mitbegründer des modernen experimentellen Theaters in Mexiko, ins Land. Obwohl Seki Sano für ein halbes Jahr engagiert war, wurde er nach drei Monaten, des Kommunismus beschuldigt, von einem Tag auf den anderen des Landes verwiesen. 2 Aber er hatte viele seiner Schüler mit dem Theater infiziert. Er war nach dem Stanislawski-System verfahren ohne dabei dogmatisch vorzugehen und wollte vor allem gute Theaterschauspieler ausbilden. 3 Seki Sanos Ausbildungssystem muß besonders effizient gewesen sein, denn es gelang ihm, in der kurzen Zeit von drei Monaten einen Grundstein für die Professionalisierung des kolumbianischen Theaters zu legen. Viele seiner Schüler 4 bestimmten die kolumbianische Theaterentwicklung der kommenden Jahrzehnte. Die entscheidenden Neuerungen, die er einführte, bestanden in theatertechnischen Grundlagen wie einer brauchbaren Schauspielmethode und der Akzentuierung des Ensemble-Spiels. 5 Der wichtigste Keim aber, den Seki Sano legte, war die Verhei'
Im April 1951 wurde die Escuela Nacional de Arle Dramalico in Bogotá gegründet. Im ersten Jahr wurde sie von dem Spanier José Maria de Mena geleitet, dem ehemaligen Direktor der Escuela de Arie Dramalico in Madrid. Danach Übernahm Victor Mallarino die Leitung. In Cali entstand 1954 die Escuela de Teatro unter ebenfalls spanischer Leitung, Direktor Cayetano Luca d e Tena. Ihn löste ein Jahr spater Enrique Buenaventura ab.
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Seki Sano, 1905 geboren, ging 1931 als junger Regisseur in die Vereinigten Staaten sowie u.a. nach Berlin zur Internationalen Vereinigung des Revolutionären Theaters von w o aus er das linke Theater in Japan unterstützte. 1932 ging er nach Moskau, w o er Stanislawski kennenlernte und als Assistent von Meyerhold arbeitete, bis Stalin verordnete, daß alle Ausländer, die nicht mit Comintem verbunden waren, das Land verlassen mußten. Er ging mit einer Aufenthaltsgenehmigung von sechs Monaten nach New York,, von dort aus nach Mexiko, wo er verschiedene Theatergruppen gründete. Nach seiner Ausweisung aus Kolumbien kehrte er nach Mexiko zurück, wo er 1966 starb. Vergi.: E. Yoshikawa:»El magisterio latinoamericano de Seki Sano« in: Escenarios de dos mundos, 1989: 95-100
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S. García 1983: 105
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Sein bekanntester Schüler war Santiago Garcia, 1928 in Bogotá geboren, erst Studium der Architektur, dann Schauspieler, Regisseur und schließlich Theaterdirektor der Theatergruppe La Candelaria. Weitere Schüler waren: Fausto Cabrera, Mónica Silva, Carlos Tudela, Aldemar Garcia, Jorge Vargas, u.a.
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Seki Sano legte besonderen Wert auf die gleichwertige Beteiligung aller Mitwirkenden an einer Inszenierung. Den Starkult lehnte er ab. (Yoshikawa: 99)
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ßung, den Sprung vom provinziellen Liebhabertheater zum professionellen Welttheater zu schaffen, indem er dem Berufsschauspiel den Weg bereitete. Daß dieser Keim Wurzeln geschlagen hat, beweist die Tatsache, daß seine Schüler nach seiner Abreise eine Theaterschule gründeten, in der sie die begonnene Ausbildung in eigener Initiative unter Leitung von Fausto Cabrera fortsetzten: La Escuela de Teatro de Distrito.x Ungefähr zur gleichen Zeit, im Jahr 1957, wurde Rojas Pinilla, der im Laufe seiner Regierung immer nachdrücklicher versuchte, eine populistische, von den beiden großen Parteien unabhängige Politik zu betreiben, abgesetzt. Kurz zuvor hatten sich die Führungen der Liberalen und der Konservativen Partei auf einen Pakt geeinigt, der ihre Vormacht zumindest in den folgenden 16 Jahren sicherstellen sollte, um somit die Violencia offiziell zu beenden. Sie bildeten die Frente Nacional, eine Nationale Front: beide Parteien sollten sich alle vier Jahre in den Regierungsgeschäften abwechseln, die Ämter wurden nach dem Proporzsystem aufgeteilt. Während die Regierung nach außen hin große Anstrengungen unternahm, ihre erneute Friedfertigkeit und Bereitschaft zur Demokratie unter Beweis zu stellen und damit auch außenpolitische Erfolge erzielte, 2 hatte die Elite den Staat nun in festem Griff. Die Nationale Front ließ keinen offenen Ausbruch sozialer Konflikte zu, jeder Versuch legaler Oppositionsbildung wurde lahmgelegt. Die einzige Möglichkeit zum Widerspruch blieb die Guerilla. Das gesamte zivile politische Leben Kolumbiens war in Agonie erstarrt. Um aber ihre demokratische Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen, förderte die Frente Nacional mit Hilfe ausländischer Unternehmen 3 viele kulturelle und auch theatralische Aktivitäten. Diese Bemühungen mündeten 1957 in die Veranstaltung des ersten Theaterfestivals in Bogotá. Eine Gruppe von Intellektuellen, die sich um die Zeitschrift Mito gebildet hatte, organisierte es mit Hilfe von Botschaftsangehörigen aus der BRD, England und Frankreich unter Obhut hoher Persönlichkeiten aus der bogotaner Oberschicht.
Zu Beginn nannte sie sich La Escuela de las Galerías de Arte. Kolumbien erhielt von den USA im Zuge des ideologischen Gefechts zwischen den beiden Großmächten erheblichc wirtschaftliche Zuschüsse. Das Engagement der Vereingten Staaten reichte von bilateralen finanziellen und personellen Hilfen bei sozialen Reformmaßnahmen (Agrarreform, Wohnungsbau) bis hin zur großzügigen finanziellen, materiellen und personellen Unterstützung des kolumbianischen Heeres, die, nachdem Kolumbien am Korea-Krieg teilgenommen halte, weiter zunahm.Vergl.: R. Knabe: Der Frente Unido Camilo Torres, Analyse eines Konzepts zur Umgestaltung der kolumbianischen Gesellschaft in den 60er Jahren, Hausarbeit zur ersten Staatsprüfung, Universität Bremen, 1983: 52 N. Garcia Canclini fuhrt in seinem Buch Arte popular y sociedad en America Latina an, daß Firmen wie Esso nationale Kunstproduktionen gefördert haben, indem sie Säle finanzierten, nationale Wettbewerbe oder Festivals förderten, etc.
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Am Festival nahmen nicht nur Amateurtheatergruppen aus Universitäten, Schulen und Betrieben sowie Theatergruppen teil, die aus den Theaterschulen hervorgegangen waren, sondern auch neugegründete Theatergruppen aus verschiedenen in Bogotá ansässigen Ausländergemeinschaften: The Bogotá Players, die Deutsche Bühne Bogotá und Le Théâtre de l'Alliance. Sie gaben dem Festival die internationale Note, die die Veranstalter ihm so gerne verleihen wollten, um sich dem modernen Zeitgeist anzuschließen 1 und rechtfertigten den Namen Festival Internacional de Teatro de Bogotá. Die Titel der Stücke, die auf dem Festival zur Aufführung gebracht wurden, beweisen, daß ein endgültiger Schnitt im kolumbianischen Theater stattgefunden hatte. Statt provinzieller nationaler Autoren standen beinahe ausschließlich europäische und nordamerikanische Dramatiker auf dem Programm: Bodas de Sangre von Garcia Lorca, Das Verhör von Lukullus von Brecht und andere mehr. Wie groß das Bedürfnis der kolumbianischen Führungselite war, ihre neue kulturelle Aufgeschlossenheit und ihren Friedenswillen unter Beweis zu stellen, zeigen ihre außerordentlichen Bemühungen um das Festival: "Ningún acontecimiento cultural había merecido en el país tanta publicidad y tan magnánimo apoyo de los tradicionales sectores dirigentes de la política, el periodismo, las finanzas, la administración pública, la 'inteligencia' bienpensante en general. Se manifestaba así el 'profundo interés' de nuestras distinguidas minorías por la promoción del teatro, al menos en Bogotá." 2 Somit hatte das Theater bei den "bessergestellten Minerheiten" aus politischen Gründen auf einmal die gesellschaftliche Anerkennung erreicht, die ihm vorher nie erteilt worden war. 3.1. Anspruch und Wirklichkeit beim Beginn des modernen Theaters In den 50er Jahren erfolgte unter Schirmherrshaft der kolumbianischen Führungselite der Anschluß des kolumbianischen Theaters an die moderne europäische Kunstwelt und damit die Orientierung an Maßstäben, die dort gesetzt wurden. Dadurch sahen sich die jungen Theatermacher mit einigen Widersprüchen konfrontiert. Erstens wurde das Theater zunächst ein Kind des Establishments und hatte u.a. die Funktion, seine Hegemonie zu stabilisieren. Erst nach der allmählichen Politisierung des Theaters gelang es ihm Ende der 60er Jahre, sich in die Unabhängigkeit zu begeben, seine elitäre Stellung zu verlassen und auf breiterer Ebene wirksam zu werden. 1
R. Gonzalo Arcila 1983: 23
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J. Mejía Duque: El Nuevo Teatro en Colombia (1960-1975), vervielf. Manuskript 1975: 4
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Zweitens kehrte die Generation, die 1969 den Aufbau eines nationalen Theaters verkünden sollte, Ende der 50er Jahre den vorhandenen nationalen Theateransätzen zunächst den Rücken. Das teatro marginado fand keine Beachtung, Osorio und Díaz-Díaz kein Gehör, "ya no se trató del populismo costumbrista o una actividad didactica más o menos ilustrativa y escolar." 1 Die neue Theatergeneration ließ mit Ausnahme von Buenaventura 2 mit ihrer Anerkennung für diese Theatermacher bis Mitte der 80er Jahre warten. Sie bezog sich zunächst nur auf die europäischen Vorbilder als Vorläufer des neuen kolumbianischen Theaters. Fast alle heute noch führenden Kräfte des kolumbianischen Theaters wie Jorge Ali Triana, der Direktor des Teatro Popular de Bogotá und Ricardo Camacho, der Direktor des Teatro Libre de Bogotá, haben einige Lehrjahre im Ausland verbracht. Santiago Garcia genoß 1959 bis 1961 eine Ausbildung an der Theaterschule in Prag mit Zwischenstation beim Berliner Ensemble. Enrique Buenaventura verbrachte die Jahre 1960 bis 1962 in Frankreich. Die dort erworbenen Kenntnisse beeinflußten in erheblichem Maße das Ausbildungsprogramm für die nachfolgende Theatergeneration und die Gestalt des künftigen kolumbianischen Theaters. 3.2. Das moderne Theater in Bogotá am Beispiel der Gruppe El Buho. Santiago Garcia und Fausto Cabrera gründeten 1957 das erste Theater mit kontinuierlichem Spielplan und einem Saal mit 50 Plätzen. Es bekam den Namen El Buho, der Uhu. Jeden Dienstag und Freitag wurden Vorstellungen gegeben. Jeden Montag wurden unter dem Titel El lunes del Buho Diskussionsrunden über die laufenden Stücke veranstaltet. 1959, als Santiago Garcia in Prag weilte, traten Carlos Perozo und Carlos José Reyes 3 der Gruppe bei. Kurz darauf wurde in der ersten Nummer der Zeitschrift El Buho folgende globale programmatische Stellungnahme veröffentlicht:
C. J. Reyes: La Dramturgia Colombiana Contemporánea, vervielf. Manuskript 1987: 3 Buenaventura ist der einzige, der bereits in den 70er Jahren kolumbianische Theatermacher wie Osorio oder Lleras in die Debatte über die Ursprünge des Nuevo Teatro Colombiano mit einbezog. Vergi. Buenaventura: El debate... 1980 Carlos José Reyes (geb. 1941 in Bogotá) ist neben Buenaventura und García die bedeutendste kolumbianische TheaterpersönlichkeiL Nach einem Studium der Malerei trat er 1958 in den Club de Teatro Independiente ein und ging 1959 zu El Buho. Er ist Autor verschiedener Theaterstücke, auch für das Kindertheater, sein bekanntestes Stück heißt Soldados. Er ist außerdem Theaterhistoriker und Regisseur.
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"Los grandes pasos dados en nuestro arte son simplemente el integrarse de nuestros países a las corrientes que son las dominantes de los últimos tiempos." 1 Abgesehen von diesem Nachholbedürfnis zeitgenössischer Kunst bestand das Ziel der Theaterarbeit im künstlerischen Experiment und in der Weiterführung der schauspielerischen und inszenatorischen Anregungen von Seki Sano und Bernardo Romero Lozano. Das Repertoire der Gruppe umfaßte alles, was das Gegenwartstheater jener Zeit zu bieten hatte. Reyes berichtet, daß Werke von Brecht, Tardieu, Sartre, C a m u s , Wilder, Capote, u.a.m. inszeniert wurden. 2 Auch ein neues kolumbianisches Stück von Gustavo Arango mit dem Titel H.K. 111 stand auf dem Programm. Es handelt von einer Gruppe Passagieren, die ein Flugzeugunglück überlebt. Die kolumbianische Theaterkritikerin Martina Uris schreibt über die Experimentierfreude und den professionellen Anspruch der Gruppe: "Todas estas personas buscaban también tener un trabajo estable. (...) Por el montaje de obras de los que constituían la dramatuirgia vanguardista de la década del cincuenta (...) toda la pléyade de autores dramaturgicos que planteaba un nuevo lenguaje teatral como Frederico García Lorca, Artur Adamov, Eugene Ionesco fueron estudiados sistemáticamente. Todos los montajes realizados por ellos enciaban la búsqueda de caminos estéticos en los cuales la presencia del aparato escenográfico del teatro tradicional, se desprendía del naturalismo." 3 O b man hier wirklich von einer "Lossagung vom Naturalismus" sprechen kann oder ob die Gruppe nicht vielmehr die antinaturalistische Tendenz von Romero weiterführte, ist die Frage. Der Naturalismus hat als Stil nie wirklich Eingang in das kolumbianische Theater gefunden, weil der Anschluß an die zeitgenössischen Theaterströmungen in Europa und Nordamerika erst einsetzte, als der Naturalismus bereits überholt war. El Buho war nicht das einzige Theater, das in jener Zeit gegründet wurde. Das seit 1957 alljährlich stattfindende Theaterfestival bildete f ü r viele Theatermacher eine Herausforderung, sich dem Wettbewerb regelmäßig zu stellen. So entstanden kleine experimentelle Theater wie La Bohardilla mit u.a. Jorge Ali Triana, El
Gonzalo 1983: 44 Reyes 1987: 2 M. Uris: Teatro La Candelaria nicht datiert: lf
- Un ¡ealro válido para nuestro tiempo, Broschüre publiziert von La
Candelaria,
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Conjunto Teatral Atenas unter Leitung von Jorge Gaitán Gómez und El Palomar unter der Leitung von Victor Mallarino.
Nuevo
4. Erste Nationalisierungstendenzen: Enrique Buenaventura und das TEC In Bogotá hatte der Aufschwung des kolumbianischen Theaters mit dem Anschluß an die modernen europäischen Theaterströmungen begonnen. In Cali, der damals zweitgrößten Stadt Kolumbiens mit einem hohen Anteil schwarzer Bevölkerung in einem südwestlichen Andental zwei Stunden von der Pazifikküste entfernt gelegen, fand zur selben Zeit unbehelligt vom Einfluß Seki Sanos und Lozanos eine eigene Theaterentwicklung statt. Sie wurde von Enrique Buenaventura ausgelöst. Als Sohn aus gutem Hause 1925 in Cali geboren, war er viel durch Lateinamerika gereist, hatte als Schauspieler, Regisseur und Komiker in Zirkus-Vaudeville- und Varieté-Truppen gearbeitet und die gesellschaftskritischen, nationalen Bestrebungen des argentinischen teatro independiente kennengelernt. 1 1955 übernahm er die Direktion der Escuela Departamental de Cali und gründete etwas später das Teatro Escuela de Cali, das heute unter dem Namen Teatro Experimental de Cali oder TEC bekannt ist. Mit dieser Gruppe erprobte er die Ausbildungsschritte der Schule in der Theaterpraxis. Enrique Buenaventura machte sich im Gegensatz zu den jungen Theatermachern in Bogotá von Anfang an für den Aufbau einer nationalen Theaterbewegung stark. Dieses Vorhaben hatte damals schon einen programmatischen Charakter. Buenaventuras Ziele lauteten: 1. die Ausbildung der Gruppenmitglieder und Theaterschüler zu professionellen Theatermachern; 2. die Ausbildung eines breiten Publikums; 3. die Berücksichtigung volkstümlicher kolumbianischer Elemente wie Mythen, Lieder und Legenden in der Theaterpraxis. Buenaventura war in jener Zeit der einzige Theatermacher, der die volkstümliche kolumbianische Kultur als Element für ein zukünftiges nationales Theater definierte und in seine Theaterpraxis einbezog. Sowohl die Infrastruktur Calis, das wesentlich kleiner und ländlicher als Bogotá und von einer farbigen Einwohnerschaft geprägt war, sowie die enge Verbindung mit der sehr volksnahen Kulturbewegung des Musikers Antonio Maria Valencia begünstigten die Einbeziehung der marginalen Kultur. 2 Buenaventuras Ideen für das nationale kolumbianische Theater flössen auch in seine Stücke ein. 1958 verfaßte es sein bekanntestes und bis heute
vergl. Ovadia 1982: 84 vergl. Gonzalo 1983: 29
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meist gespieltes Stück A la Diestra de Dios Padre nach einer alten christlichen lateinamerikanischen Volkslegende. 1 Mit Auftritten von Figuren wie Jesus, Petrus, dem Tod und dem Teufel wirkt es wie ein ironischer Fingerzeig auf den synkretistisch durchwobenen Katholizismus in Kolumbien. Die Hauptfigur ist ein armer, gutmütiger Spieler, dem Jesus und Petrus, die auf die Erde hinabgestiegen sind, um die letzten guten Seelen zu suchen, fünf Wünsche freistellen. Die Erfüllung seiner Wünsche zerstört die himmlische Ordung und provoziert einen Wettstreit Gottes mit dem Teufel. Das T E C stellte sich mit der Inszenierung dieses Stückes auf dem 2. Festival Nacional de Colón in Bogotá vor. 2 Es präsentierte dort als einzige Gruppe ein Stück mit einheimischer Thematik und wurde infolgedessen als erster Höhepunkt auf dem W e g zum Nationaltheater gefeiert. 3 Dieselbe Inszenierung, in die auch Elemente der kolumbianischen Volksmusik integriert waren, wurde zum Internationalen Theaterfestival in Nancy 1958 eingeladen, wo das T E C seine erste internationale Anerkennung erhielt. Den größten Teil des Repertoires vom T E C bestritten aber die Inszenierungen von "clasicos, muchos clasicos" 4 wie der Sommernachtstraum von Shakespeare und Stücke von Lope de Vega, Sophokles u.a. Buenaventura inszenierte diese Stücke als Volkstheater und offenes Schauspiel 5 . Sie gehörten zum Ausbildungsprogramm sowohl für die Schauspieler als auch für das Publikum. In der selben Zeit trat Buenaventura schließlich auch als Theoretiker hervor und legte 1958 mit der Veröffentlichung des Aufsatzes De Stanislawski a Brecht6 den Grundstein für seinen Ruf als Kopf und Wegbereiter des NTC. Als Ziel formulierte er darin, ein nationales Theater nach den Vorbildern von Lope de Vega und Shakespeare mit den theatralischen Mitteln von Brecht zu schaffen. Der Text stellt eine kategorische Ablehnung des naturalistischen Einfühlungstheaters als Grundlage des k o l u m b i a n i s c h e n nationalen Theaters dar und begründet diese mit der möglichen Verleitung zu falscher Identifikation mit westlichen Denk- und Lebensmodellen. Außerdem, so erklärte Buenaventura hier, sei das bürgerliche Theater
1
Sie wurde vom kolumbianischen Autor T o m á s Carasquilla unter dem selben Titel bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts in Prosa niedergeschrieben.
2
Hier waren a u ß e r d e m auch Gruppen aus anderen kolumbianischen Städten wie Barranquilla und Medellin vetreten.Vergl. Reyes: »1955-1987: Un movimiento plural y creciente« in: Escenarios, 1989: 316
3
Gonzalo 1983: 30
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Eine Schauspielerin des TEC, Aída Fernandez, in einem persönlichen Interview
5
Gonzalo 1983: 30
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E. Buenaventura: »De Stanislawski a Brecht« in: Mito, No. 21, sep./oct. 1958: 177-182
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gestorben. Brecht sei es, der den gegenwärtigen und zukünftigen Zyklus des Theaters öffne. 1 Buenventura war der kolumbianischen Theaterbewegung, die Brecht erst Mitte der 60er Jahre als theoretische und politische Leitfigur ihres Theaters entdeckte, in jeder Hinsicht um einige Jahre voraus. So war er es auch wiederum, der bereits in den ersten Jahren seiner Theaterarbeit als Kemgedanken des zukünftigen neuen Theaters die Schaffung eines einheimischen Theaters unter Berücksichtigung einheimischer Stoffe und Elemente, mit den technischen und theoretischen Errungenschaften des europäischen Theaters formulierte: "La orientación general del movimiento teatral debe ser materia de especial interés para los organizadores del festival. Es preciso tener claro el hecho de que, absorbiendo la técniqua foránea, debemos orientarnos hacia la creación de un teatro nacional. En estos momentos lo más importante es formar grupos y actores, crear la herramienta." 2
5. Das Theater der 60er Jahre: Erste Politisierungstendenzen Die Entstehungsgeschichte des Nuevo Teatro Colombiano läßt sich nicht losgelöst vom Entwicklungsprozeß der kolumbianischen Widerstandsbewegungen betrachten, denn zwischen dem Zeitpunkt der Politisierung des Theaters und dem des erneuten Erwachens einer emstzunehmenden Opposition gegen das Staatsgefüge liegt eine auffallende Parallele vor. Kurz nach der Beendigung der Violencia, als die kolumbianische Bevölkerungsmehrheit nach der Ausschaltung aller Möglichkeiten legaler Oppositionsbildungen in Agonie verfallen und der Widerstand, der während der Violencia vor allem auf dem Lande Wurzeln geschlagen hatte, zerbrochen war, bildete sich das avantgardistische Theater in Bogotá ohne politische Aspirationen, entfernt von der sozialen Realität des Landes. Aber schon gegen Mitte der 60er Jahre, als die ersten städtischen Widerstandsgruppen zum Leben erwachten, begann sich auch das Theater politisch zu engagieren. 3 Es näherte sich bald den politischen Standpunkten dieser Gruppen an. Die 1
ebd.: 181
2
E. Buenavenluia:Consideraciones sobre las problemas del desarrollo zum 2. nationalen Theaterfestival in Bogotá, Teatro Colón, 1958 3
del leairo en los departamentos,
in: Broschüre
Da die Frente Nacional keine legalen Oppositionsbildungen zuließ (z.B. erhielt die A N A P O , eine populistische Partei von R o j a s Pinilla, 1970 38,7 % der Stimmen bei den Wahlen, worauf die beiden großen Parteien mit offenem Wahlbetrug reagierten. Vergl. P. Lara: Siembra vientos y recogerás temepestades, 1 9 8 6 ) , formierte sich der Widerstand in Guerillabewegungen. Bis auf den M-19 sind die wichtigsten Guerillagruppen in den 60er Jahren
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Politisierung ging zunächst von den Universitäten aus und griff dann auf die unabhängigen Gruppen über, die sich damals gründeten. Den Hintergrund f ü r diese W a n d l u n g bildeten nicht zuletzt die Folgen der Ereignisse in Kuba f ü r die lateinamerikanischen Länder. Nachdem Kuba am 16. April 1961 die Erklärung über den sozialistischen Charakter der Revolution vom Januar 1959 abgegeben hatte, setzte in ganz Lateinamerika eine politische Umwälzung ein. Die USA waren nach ihrer Niederlage in der Schlacht der Bahia cochinos zur nachdrücklichen Absicherung ihres Terrains in Lateinamerika gezwungen. Sie griffen nun direkt in die nationale Politik der lateinamerikanischen Staaten ein. 1962 bis 1964 fanden nacheinander in sieben verschiedenen Staaten Militärputsche statt. 1 Kolumbien erhielt zwischen 1961 und 1967 60 Mill. US$ von den USA für Counter-Insurgency und weitere 100 Mill. US$ in Form von Militärausrüstung, 2 um gegen die aufständigen Bauern in Marquetalia, Riochiquito, El Pato und El Guayabero vorzugehen. In diesen Gebieten waren nach der Violencia bäuerliche Banditengruppen zurückgeblieben, welche, zunächst noch unter Einfluß der Liberalen Partei, dann in eigener Regie, die Gegend beherrschten: "Increasingly, they were identified by the army as an element of 'subversion' linked to the 'communist menace' which now preoccupied it (...) During 1963 and 1964, the main bandit chiefs were killed or captured in a series of massive arrests. There followed a campaign against the socalled independent republics (...) in the minds of the army, an offensive against the 'republics' was its first direct confrontation with 'communist subversion'." 3
entstanden, 1964 das von der Revolution in Kuba beeinflußte ELN und 1967 das maoistische EPL. Beide gingen aus linken studentischen Kreisen hervor und zogen in dem Glauben, eine mit Kuba vergleichbare revolutionäre Situation vorzufinden, auf das Land, um die Bauern zu ideologisieren und mit ihnen gemeinsam zu operieren. Das E L N änderte mit dem Beitritt des kolumbianischen Priesters Camilo Torres 1965 kurzfristig seine Strategie, da Torres ein Konzept vetrat, das sich nach kolumbianischen Verhältnissen zu richten versuchte. Nach seinem Tod 1966 verlor es aber an Bedeutung. Das EPL und E N L stagnierten Milte der 70er Jahre, weil sie sich an den offiziellen Vorbildern der kommunistischen Bewegungen in anderen Ländern orientierten und die kolumbianische Wirklichkeit nicht adäquat einschätzten. Die kommunistischen F A R C , die heute größte Guerillabewegung, entstanden 1960 im Kielsog der Violencia: Sie unterstützten die Bauern, die unter Obhut der kommunistischen Partei ihre Waffen behalten hatten, bei der Verteidigung ihres Landes gegen Angriffe des Militärs. Trotz ständiger Konfrontationen mit der Armee und den Großgrundbesitzern weiteten sich die F A R C auf heute 2 7 Fronten im ganzen Land aus. Aber auch sie, ebenso wie die gesamte erste Generation der Guerilla, waren bis Mitte der 70er J a h r e hinein vor allem von der Idee des revolutionären K l a s s e n k a m p f e s nach offizieller internationaler Parteiideologie geprägt. (Vergl.: Knabe 1983 ) 1
1962 Argentinien, Peru; 1963 Guatemala, Ecuedor, Rep. Dominicana, Honduras; 1964: Brasilien.
2
Vergl. Pearce 1990: 6 3
3
ebd.: 63f
5I
Die Beschuldigung des Kommunismus war für die Armee ein Mittel, ihr hartes Eingreifen gegen die 'unabhängigen Republiken' zu rechtfertigen 1 . Der kommunistische Einfluß in den betroffenen Gebietren war in Wirklichkeit minimal, weil die Kommunistische Partei Ende der 50er Jahre beschlossen hatte, keinen bewaffneten Kampf zu führen und sich Seite an Seite mit der nationalen Front für den Frieden einzusetzen. 2 Den 'Krieg von Marquetalia' nahmen die städtischen Intellektuellen, insbesondere Lehrer, Studenten und Bankangestellte 3 zum Anlaß, sich ihrer politischen Außenseiterposition zu entledigen und Alternativen außerhalb des Zweiparteiensystems zu suchen. Gleichzeitig mit der politischen Aktivierung dieser Gruppen verstärkte sich an den Universitäten die Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Erste theoretische Schriften über das Abhängigkeitsverhältnis Lateinamerikas von den Industrienationen wurden verfaßt, wie z.B. die Dependenztheorie des kolumbianischen Soziologen Mario Arrubla. 4 Die Regierung versuchte mit Hilfe der USA, die Radikalisierung an den Universitäten zu verhindern, indem sie verstärkt kulturelle Aktivitäten stimulierte. Zu diesem Zweck wurde eine kolumbianischnordamerikanische Kommission für den Austausch im edukativen Bereich gegründet, Comisión de Intercambio Educativa Colombia-Estados Unidos. Ihr Zielbereich war das Theater. Die Fullbright- Kommission förderte ebenfalls Programme für die Entwicklung des Universitätstheaters in Kolumbien, 5 und diese Initiativen mündeten 1966 in die Veranstaltung des ersten Universitätstheaterfestivals, Festival Local de Teatro Universitario. 5.1. Das Universitätstheater Die zuständigen Kommissionen boten den Theaterregisseuren in Bogotá Posten an den Universitäten an, und für viele Theatermacher war dies eine willkommene Gelegenheit, ihrer meistens sehr prekären finanziellen Situation zu entkommen. Junge Regisseure wie Carlos Duplat, Carlos Perozo und Dina Moscivici konnten Die Armee begann 1964 mil der Operalion Plan Lazo: 16000 Soldaten kreisten das Tal von Marqueialia ein, wo einige Bauern ansässig waren und schössen willkürlich. Die Bauern reagierten darauf wiederum mil der Gründung mobiler Guerillagruppen. Vergl. Pearce: 64 vergl. Tribuna, Ibagui, 6.9.1958 vergl. Gonzalo 1983: 70 M. Arrubla: Estudio sobre el subdesarrollo colombiano, 1971. Zwischen 1950 und 1960 war die GewinnÜbertragung in das Ausland (ausgelöst durch Auslandsinvestitionen, geringe Devisen und die Ausrichtung des Auslandskapitals auf Wertschöpfung anstatt Exporterlösen) besonders hoch. Die Beobachtung dieser Entwicklung führte in den 60er Jahren zu einer breiten Diskussion Uber die Probleme der Auslandsabhängigkeil und Überfremdung. Daraus resultierten alternative Programme zur Überwindung der Krisensilualion. Die Dependen/theorien haben den Anspruch, aus marxistischer Sicht die Unterentwicklung Lateinamerikas zu erklären und politische Auswege aus der Abhängigkeit von den Industrienationen zu konzipieren, aus einem persönlichen Interview mit Phanön Feran
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sich auf diese Weise das Brot verdienen, zumal es noch kein Publikum gab, das eine aktive Theatergruppe hätte erhalten können. 1 Auch El Buho befand sich in einer schweren finanziellen Krise. Als Santiago Garcia aus Prag zurückkehrte, ging er deshalb zusammen mit Carlos José Reyes an die Universidad Nacional, die einizge staatliche Universität in Bogotá, und gründete dort das Teatro Estudio de la Universidad. Die Politisierung der Theatergruppen an den Universitäten machte sich zuerst auf dem 1. Eestivai del Teatro Universitario bemerkbar. Den ersten Preis des Festivals gewann eines der ersten politischen gesellschaftskritischen Stücke in Kolumbien, Jairo Aníbal Niños El Monte Calvo. Das Stück problematisiert die Teilnahme des kolumbianischen Truppen am Koreakrieg. Ein weiteres wichtiges politisches Ereignis war die gemeinschaftliche Inszenierung von Santiago Garcia, Carlos J. Reyes, Carlos Duplat und Carlos Perozo von Brechts Galileo Galilei. Sie konzipierten die Aufführung als großangelegtes Spektakel, das explizit zu den politischen Auseinandersetzungen in Kolumbien und insbesondere an der Universtität Stellung b e z o g . Die Regierung reagierte auf die A u f f ü h r u n g mit einer militärischen Besetzung des Universitätsgeländes. Aus Angst vor Kritik von der nordamerikanischen Botschaft, der sie wegen der finanziellen Zuschüsse verpflichtet war, ließ sie außerdem das Programmheft verbieten, in dem behauptet wurde, Oppenheimer habe den nordamerikanischen Finanzkräften ein Interesse am Eingriff in Hiroshima vorgeworfen. Der Studentenrat veröffentlichte das Programmheft daraufhin auf eigene Verantwortung. 2 Carlos José Reyes und Santiago Garcia zogen sich nach diesem Vorfall aus dem teatro universitario zurück, um mit Unterstützung von Freunden ein eigenes Theater zu gründen. 1968 nahm die Politisierung des teatro universitario einen programmatischen Charakter an. Den gesellschaftspolitischen Hintergrund bildeten die landwirtschaftlichen Reformversuche des relativ fortschrittlichen Präsidenten Lleras Restrepo (1966-1970) zugunsten der Kleinbauern, die sich auf sein Betreiben hin organisierten. Dies rief heftige Reaktionen des Militärs gegen die junge Bauernbewegung hervor. Ebenso wie bei den Guerillabewegungen wallte auch bei den Studententheatergruppen der Protest dagegen auf. 3 Da aber beide, wie Barrero ausführt, sowohl an die Dritte-Welt-Bewegung angeschlossen waren, die von China, Kuba, Vietnam und Algerien angeführt wurde, als auch aus der Sicht "der internationalen Gonzales 1981: 2g Vergi.: Gonzalo 1983: 74 P. Barrero: »El teatro universitario« in: Escenarios 1989: 343
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alten Linken operierten", konnten sie den besonderen Charakter der kolumbianischen Bauernbewegung, die von oben gesteuert und nicht von den Bauern selbst ins Leben gerufen war, nicht erfassen. 1 Dem internationalen ideologischen Rahmen entsprechend nahm das politische teatro universitario europäische Theatermodelle zum Vorbild, um seine besondere Funktion innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft zu bestimmen und seine Zielvorstellungen zu definieren. Die Studententheatergruppen schlössen sich auf dem //. Seminario Nacional sobre Teatro Universitario zu einer nationalen Vereinigung (ASONATU) zusammen und legten dort unter Berufung auf die "Zehn Thesen über das Studententheater" von Manfred Wiebel den Amateurstatus des teatro universitario fest und stellten gleichzeitig die politische Zielsetzung in den Vordergrund, das Theater "als Waffe zur Bewußtseinsbildung" zu benutzen. 2 Damit reihte sich das teatro universitario erklärtermaßen in die Tradition der politischaufklärerischen Theaterkonzepte Brechts, Hochhuths und Weiss ein. Als wichtigste Vorhaben resultierten daraus: die Praktizierung von Dokumentartheater, die Aufarbeitung der nationalen Geschichte, die kollektive Erarbeitung von Texten und Inszenierungen und die Einrichtung von foros (Diskussionsveranstaltungen mit dem Publikum nach den Vorstellungen), alles Grundelemente des politischen Theaters, die ein Jahr später teilweise in das Nuevo Teatro Colombiano einfließen sollten. Die Blüte des teatro universitario Ende der 60er Jahre war nicht zuletzt emeut ein Resultat der Kulturpolitik der Regierung. Im Zuge von Restrepos zentralistischen Reformen 3 wurden 1968 die ersten staatlichen Institutionen im kulturellen und erzieherischen Bereich gegründet: das Kulturinstitut COLCULTURA und El Instituto Colombiano para el Formento de la Educación Superior (ICEFES). Die Bemühungen der Regierung Restrepo mündeten 1968 schließlich auch in die Einrichtung des Festival Latinoamericano de Teatro Universitario. Dieses erste wirklich überregionale Theaterfestival sollte nicht nur Kolumbiens kulturellem Image in Lateinamerika zugute kommen, es wurde auch ins Leben gerufen, um den Bemühungen Restrepos um die Konsolidierung des Andenpaktes - ein wirtschaftlicher Zusammenschluß der Andenstaaten, um gegenüber dem Weltmarkt Autonomie zu gewinnen - diplomatische Absicherung zu verschaffen. Die finanzielle Hilfe für das Festival erfolgte durch internationale Unterstützung, insbesonVergl. auch: K. Meschkat: Marxismus
in Kolumbien,
unveröff. Manuskript, Sozialwissenschaflliches Seminar
Universität Hannover, 1980: 236 Gonzales 1981: 36 R e s t r e p o wollte die k o l u m b i a n i s c h e W i r t s c h a f t m o d e r n i s i e r e n und soziale R e f o r m e n d u r c h s e t z e n . Zur Modernisierung gehörte die Einführung rationeller Planung, d.h. unter anderem administrative und finanzielle Zentralisierung. Aber auch dieser Reformplan scheiterte letztendlich am Widerstand der traditionellen Kräfte.
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dere durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, aber auch durch die Cafeteros aus der Veranstalterstadt Manizales, die dort u.a. den Tourismus anregen wollten. Bis 1973 entwickelte sich das Festival zum wichtigsten Forum für die politische und theatralische Auseinandersetzung zwischen lateinamerikanischen und internationalen unabhängigen Theatergruppen. 5.2. La Casa de la Cultura Im Juni 1966, als Bogotá mit damals 1,5 Mill. Einwohnern tiber nicht mehr als drei sporadisch bespielte Theatersäle verfügte, gründeten Santiago Garcia und C. J. Reyes mit der Casa de la Cultura das erste unabhängige Theater. Sie versuchten dort, ihre marxistisch orientierten politischen Zielsetzungen in der Theaterarbeit umzusetzen. Zum ersten Mal bemühten sich die jungen Theatermacher in Bogotá um die Gewinnung eines breiteren (möglichst Arbeiter-) Publikums. Außerdem beschäftigten sie sich mit dem politischen Theateransatz Brechts und dessen Übertragung auf die Inszenierungspraxis. Schon in der ersten Inszenierung nach seiner Rückkehr aus Prag, dem Kirschgarten von Tschechow 1962 noch im Buho, hatte Garcia seine Erfahrungen aus der Zeit in der Prager Theaterschule und beim Berliner Ensemble in die realistisch gestaltete Inszenierung einfließen lassen. Aber damals stand noch das Experiment mit den ästhetischen Mitteln zentral. Erst die politischen Debatten an der Universität rückten auch die Frage nach den Zielgruppen des Theaters ins Blickfeld. Die Casa de la Cultura versuchte ihr urspünglich künstlerisches Engagement mit dem politischen zu vereinen und erstrebte deshalb "un teatro de alta calidad que estuviera al servicio de la clase trabajadora." 1 Die tatsächliche Publikumszusammensetzung bestand in jener Zeit aus 70% Studenten, 20% Angestellten und 10% Angehörigen der Oberschicht. 2 Um das gewünschte Publikum anzuziehen, versuchte die Gruppe ihr Theater attraktiver und offener zu gestalten, deshalb bot sie neben den Theateraufführungen zusätzlich Veranstaltungen wie Jazzkonzerte, Ausstellungen oder Filmvorführungen an. 1967 ging La Casa de la Cultura sogar ganz direkt auf ihr Zielpublikum zu: Sie organisierte an elf aufeinanderfolgenden Samstagen ein Treffen von Arbeitern mit Künstlern, El Encuentro con Obreros y Artistas, das der Gruppe eine erste Annäherung an Gewerkschaften und Volksorganisationen verschaffte. Das Repertoire der Gruppe blieb allerdings von hauptsächlich europäischen Dramatikern beherrscht, auch wenn die Wahl nun vorrangig auf politische Stücke fiel. So standen u.a. Die Trauung von Gombrowicz, Das Schwitzbad von Majakowski
S. Garcia: Interview mit Alvaro Medina, unveröff. Manuskript: 8 M. Pozzola: »La Casa de la Cultura: del teatro y otras artes« keine weiteren Angaben, Archiv La Candelaria.
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und Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charleton unter der Leitung des Herrn de Sade von Peter Weiss als erfolgreichste Inszenierungen auf dem Programm. Kolumbianische Stücke blieben eine Ausnahmeerscheinung. Mit Soldados von C. J. Reyes eröffnete La Casa de la Cultura 1966 ihr Theater in der Inszenierung des Autors. Das Stück leitet mit seiner Thematik, dem Bananenarbeiterstreik im Jahr 1928, 1 die Aufarbeitung der nationalen Geschichte auf dem kolumbianischen Theater ein, die sich seit Anfang der 70er Jahre als einer der Wesenzüge des NTC abzeichnen sollte. 1969 erst folgte mit El Menú von E. Buenaventura die zweite Inszenierung eines kolumbianischen Stückes. Die Uberwältigende Mehrheit europäischer Theaterstücke läßt sich nicht nur mit dem Mangel an einheimischer Dramatik erklären. 2 Zum einen waren durchaus neuere kolumbianische Stücke vorhanden, 3 zum anderen fällt auf, daß nicht einmal lateinamerikanische Dramatiker vertreten sind, obwohl es doch naheliegend gewesen wäre, bei fehlenden eigenen Stücken auf die Dramatik des eigenen Kontinents auszuweichen. 4 Eine Ursache für die Abwesenheit einheimischer Stücke auf dem Spielplan könnte darin liegen, daß die Künstler und Intellektuellen ihr Mißtrauen gegen die einheimische Kultur, die Idee von der Superioriät der europäischen Kultur nicht überwunden hatten, die Sehnsucht nach Integration in die modernen europäischen Strömungen zu dominant war, zumal die Dependenz-Theorie zwar die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit Lateinamerikas von den Industriestaaten kritisierte, aber kulturelle Fragen außer Acht ließ. Santiago Garcia begründet die Entscheidung für die europäische Stücke folgendermaßen: "Estabamos en la búsqueda de un lenguaje teatral y lo único que teníamos en la mano eran obras europeas como Marat-Sade de Peter Weiss." 5 Damit bestätigt er, daß die Ansprüche der Theaterkünstler trotz ihrer ersten politisch motivierten Annäherung an ein breiteres kolumbianisches Publikum Einer der wichtigsten und in der kolumbianischen Literatur meistbeschriebenen Aufstände in der kolumbianischen Geschichte, der mit brutaler militärischer Gewalt niedergeschlagen wurde. G.G. Márquez beschrieb die Episode auch in Hundert Jahre Einsamkeil Ein Argument, das immmer wieder angeführt wird, u.a. bei Garcia 1983: 59 vergl. Reyes 1987 Dramatiker wie die Argentinier Dragún und Pavlovsky, der Chilene Egon Wolff, der Brasilianer Nelson Rodrigue/ sind nur einige wenige Beispiele, die qualitativ ohne weiteres mit europäischen Autoren zu vergleichen sind. Garcia in einem Interview mit W. Suarez: »Un artista llamado Santiago García« in: Suplemento del Caribe, BarTanquilla, 16.6. 1974
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immer noch von den ästhetischen Maßstäben der europäischen Theaterkunst bestimmt waren. Für die "Suche nach der theatralischen Sprache" wurde die Theatertheorie Grotowskis für die Schauspieler der Casa de la Cultura immer relevanter und sie begannen, verschiedene Improvisationstechniken als wichtigen Bestandteil ihrer Theaterarbeit einzuführen. Sie wollten damit in erster Linie eine offene Aufführungsstruktur erreichen, in der die Schauspieler mehr Freiheiten auf der Bühne genießen. 1 Die improvisatorischen Experimente begannen 1970 mit der Inszenierung des Stückes Die eingeschlossene Leiche des Algeriers Kateb Yacine und fanden 1971 ihren Höhepunkt in einer Inszenierung der Orestie.2 Die Versuche, den Schauspielern mehr Eigenständigkeit zuzugestehen und zu einer offeneren Aufführungsstruktur zu gelangen, mündeten ein Jahr später in die ersten methodischen Arbeiten nach den Prinzipien der Creación Colectiva. 5.3. Das Teatro Experimental de Cali Nach seinen Erfolgen in Nancy galt das TEC als theatralische Institution in Cali und Kolumbien und erfreute sich daher einer umfassenden Förderung von Seiten des Erziehungsministers, dem das Kulturinstitut zugeordnet war.3 Das TEC setzte in jener Zeit seine anfängliche konzeptionelle Linie fort. Neben Stücken wie La Discreta Enamorada von Lope de Vega und La Celestina von Fernando Rojas wurden weiterhin Stücke von Buenaventura selbst in Szene gesetzt. Auf La Tragedia del Rey Cristopher (1963) in Anlehnung an O'Neills Kaiser Jones, das den Zusammenstoß afrikanischer und europäischer Kulturen auf lateinamerikanischem Boden thematisiert, folgte im selben Jahr Requiem por el Padre de las Casas über Padre Bartolomé de las Casas und seine Rolle als erster europäischer Fürsprecher für die Indios und Sklaven. Mitte der 60er Jahre setzte innerhalb des TEC eine Kontroverse ein, die dazu führte, daß die Gruppe einen definitiven politischen Standpunkt bezog. Als der argentinische Schauspieler der Gruppe Pedro I. Martínez aus Angst um die Gefährdung der künsteirischen Arbeit ihre politische Neutralität forderte, entschied sich das TEC in Opposition zu ihm ähnlich wie die Casa de la Cultura für ein Theater der "reindivicación artista y cultural (...) que entraña por lo mismo un triunfo político" 4 . Gonzalo 1983: 152 vergl. B. de Vieco:»La escena en el 70: experimento y compromiso« in: El Tiempo, Lecturas Dominicales, 17.1.1971 Gonzalo 1983: 78 Notas del TEC. 1966, aus dem Archiv der Gruppe
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Im selben Atemzug änderte sich die Arbeitspraxis des TEC. Die Funktion von Enrique Buenaventura als Direktor wurde zugunsten einer stärkeren Beteiligung der Schauspieler in allen Bereichen des Theaters abgeschwächt. Der Schauspielerin Aida Fernandez zufolge wurden die Diskussionen immer länger und die Improvisationen dadurch bald unvermeidlich. Infolge dieses Entwicklungsprozesses inszenierte das TEC 1966 Ubu Rey von A. Jarry: "Era una toma de posición orientada a desarrollar una práctica teatral más compleja en el grupo y así mismo a definir la naturaleza de sus vínculos con el público."1 Die Gruppe bildete zur Vorbereitung der Inszenierung eine dramaturgische Kommission, die das Stück minutiös analysierte und auf die damalige Situation in Lateinamerika übertrug. Sie interpretierten das Stück als Satire auf Putsch und Abenteuertum, als eine Kritik an Gewalt, Korruption und Straflosigkeit. 2 Diese Kritik sollte die wunden Punkte der kolumbianischen Staatspolitik treffen. Daß dieses Ziel erreicht wurde, bezeugt die eintretende Feindschaft derjenigen Institutionen, die das Theater bis dahin unterstützt hatten. Der Stimmungswechsel der Stadt Cali gegenübver dem TEC kulminierte nach der Aufführung von Buenaventuras Stück La Trampa im Jahr 1967 unter der Regie von Santiago Garcia.3 Das Stück handelt vom Problem der Diktatur in Lateinamerika. Es nahm die Figur des guatemaltekischen Diktators Ubico als Ausgangspunkt, um die Konflikte und Widersprüche der Abhängigkeit zu entfalten. Garcia inszenierte es als bissige Satire gegen die rigorose militärische Ordnung und ihre strenge Logik, um zu zeigen, daß sie im Grunde eine vernichtende Irrationalität verdeckt. Das Stück wurde vom Publikum enthusiastisch aufgenommen, stieß aber auf heftige Ablehnung des Staates. Der Sekretär des Erziehungsministers verbot die Vorstellung, aber der Widerstand dagegen war so groß, daß er die Maßnahme wieder zurückziehen mußte.4 Das TEC verlor seine finanzielle Unterstützung und blieb nur als Arbeitsgruppe des regionalen Kulturinstituts Bellas Artes bestehen. Trotzdem setzte die Gruppe ihren politischen Kurs konsequent fort. 1968 inszenierte sie Soldados von Reyes und auch eines der wichtigsten Werke von Buena-
Gonzalo 1983: 81 vergl. Buenaventura in: Letras Nationales, No. 8, Juni 1966: 31 Mit dem Vorhaben, enger zusammenzuarbeiten, tauschten TEC und Casa de la Cultura einmalig ihre Regisseure aus. Buenaventura inszenierte im Gegenzug ShakespearesA/acta/i. Gonzalo 1983: 95f
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ventura selbst: Los Papeles del Infierno^ das aus einer Reihe von Einaktern besteht, die die verheerenden Ereignisse wähernd der Violencia thematisieren. Buenaventura bringt mit diesem Zyklus in realistischen bis hin zu symbolischen Stücken die Korruption, Doppeldeutigkeit, Scheinheiligkeit und hintergründige Gewalt der kolumbianischen Regierung und die tief verwurzelte Angst der Bevölkerung zur Sprache. 2 1969, nach der Produktion des Gesang vom Lusitanischen Popanz von Peter Weiss, verlor das TEC seine materielle Basis vollständig. 3 Das TEC war damit gezwungen, eine Existenz als unabhängige Gruppe weiterzuführen. Der erste Schritt in diese Richtung bestand darin, mit Unterstützung von Freunden einen eigenen Theatersaal zu bauen.
6. Die Gründung unabhängiger Theatergruppen in Bogotá Kurz vor der Unabhängigkeit des TEC entstanden in Bogotá innerhalb eines Jahres nicht nur verschiedene unabhängige Gruppen, es wurden auch mehrere Theatersäle eingerichtet. Hier war diese neue Entwicklung weniger auf staatliche Repression als vielmehr auf die Kulturpolitik Lleras Restrepos und der Stadt Bogotá zurückzuführen, welche das Theater einerseits förderten, um die wachsende Radikalisierung der Studenten und Intellektuellen abzuschwächen und andererseits, um der Modernisierungsidee Restrepos einen angemessenen kulturellen Ausdruck zu verleihen. La Casa de la Cultura z.B. bekam vom Consejo de Bogotá einen finanziellen Zuschuß, um ein Haus im alten Viertel La Candelaria zu kaufen, das die Gruppe mit Geldhilfen von Freunden (z.B. versteigerte Stiftungen von Werken kolumbianischer Maler) renovierte. Sie baute einen Theatersaal mit 400 Plätzen und mit beweglichen Podesten statt fester Bühne, um das Publikum je nach Bedarf der Aufführung an verschiedenen Stellen unterbringen zu können. 4 Von diesem Zeitpunkt an nannte sich die Gruppe, dem Viertel gemäß, La Candelaria. 1968 gründeten Jorge Ali Triana, Jaime Santos und Rosario Montaña das Teatro Popular de Bogotá (TPB), nachdem sie einige Jahre in Prag an der Theaterschule 1
Das Stück ist unter dem Titel Die Papiere Lateinamerikanische Stücke erschienen.
2
Das sprachlich und inhaltlich komplexeste Stück aus dem Zyklus fehlt in der deutschen Ausgabe. La Orgia, so heißt der Einakter, handelt von einer abstrusen Gesellschaft von Krüppeln und Bettlern, die sich jeden 30. eines Monats bei einer abgetakelten alten Dame einfinden, um ihre verlorene Glorie zurückzubeschwören. Sie bezahlt die Besucher mit einem Topf Suppe dafür, daß sie in die zerschlissenen Anzüge ihrer früheren Freunde, dem General, dem Minister, dem Priester schlüpfen. Während des beinahe rituellen Spiels steht der Topf provozierend auf dem Tisch. Schließlich ermorden die Bettler die Frau und erobern die Suppe.
3
Gonzalo 1983: 116
4
M. Uris: 3
der Hölle
1985 im Henschel-Verlag in der
Anthologie
59
verbracht hatten. Wie der Name ihres Theaters schon andeutet, hatte die Gruppe zum Ziel, teatro popular zu spielen, aber, wie sie selbst angaben, war "...uno de los problemas (...) la ausencia de una dramaturgia propia. Frente a los hechos se decía que el grupo haría un tratamiento vivo de los clasicos, cuidando y desarrollando al máximo las técniquas de la actuación y del montaje." 1 Ebenso wie den anderen unabhängigen Gruppen war den drei Gründern vor allem daran gelegen, professionell zu arbeiten; die Entscheidung für das Klassikerrepertoire war ihren eigenen Worten zufolge vor allem auf ihre Weigerung zurückzuführen, die "Moden" im kolumbianischen Theater, "erst die Stanislawski-Welle und dann die Brecht-Welle," mitzumachen. Das Argument des Mangels an eigener Dramatik muß hierbei in den selben Zusammenhang gestellt werden wie bei der Casa de la Cultura, zumal die Gründer des TPB gerade aus Prag zurückgekehrt waren. Im gleichen Jahr wie das TPB gründete sich die Theatergruppe La Mama als Ableger der gleichnamigen New Yorker Truppe. Zu Beginn wure sie von dem baskischen Schauspieler Kepa Amuchástegui geleitet, ein Jahr später von Eddy Armando, dem heutigen Direktor, übernommen. La Mama definierte sich selbst als experimentelles Theater und richtete ihr Theater ähnlich wie La Candelaria mit einer offenen Bühne und flexiblen Podesten ein. Ihre erste Aufführung war Tom Paine von Paul Foster. 2 Schließlich gründeten sich die Gruppen El Local unter der Leitung von Miguel Torres und Acto Latino unter Juan Monsalve. Beide eröffneten ebenfalls eigene Theatersäle, wobei Acto Latino seinen Standort zunächst in einem Außenbezirk von Bogotá, Barrio Suba, bezog. 3 All diese Gruppen bilden bis heute die Grundpfeiler des kolumbianischen Theaters und haben Ende 1969 bei der Gründung des Nuevo Teatro Colombiano mitgewirkt.
C. J. Reyes: »Teatro en Colombia durante 1968« in Conjunto, No. 8, 1969: 102 vergl. ebd. vergl. J. Monsalve: Teatro Oculto, Broschüre des Theaters Acto Latino, nicht datiert.
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7. Die Gründung der Corporación Colombiana de Teatro (CCT) als Geburtsstunde des Neuen Kolumbianischen Theaters Auf dem 5. Festival Nacional de Teatro von Oktober bis November 1969 fand das erste gemeinsame Treffen aller unabhängigen Gruppen statt. Der kolumbianische Staat wollte mit der Veranstaltung seine bewährte liberale Kulturpolitik in Bogotá fortsetzen und wollte die Bewegung nun dafür zu gewinnen, ein offizielles Theater aufzubauen. 1 Aber die Politisierung der Theatergruppen war schon so weit fortgeschritten, daß sie nicht mehr bereit waren, sich der Bedingung der Loyalität zum Staat, die an die Förderung von Theateraktivitäten geküpft war, zu unterwerfen. Die Widersprüche der kolumbianischen Kulturpolitik seit Mitte der 50er Jahre machten sich nun bemerkbar, indem sich das Theater, das sie mit hervorgebracht hatte, um sich der Staatshegemonie zu versichern und radikale Oppositionsbildung abzuschwächen, nun ganz bewußt gegen den Staat entschied. Anstatt das Angebot der Bildung eines offiziellen Theaters zu akzeptieren, sprachen sich die Festivalteilnehmer klar und deutlich für die Unabhängigkeit des Theaters und seine politische, gesellschaftskritische Funktion aus. 2 Enrique Buenaventura war zusammen mit der Studententheatergruppe TEUAN die treibende Kraft hinter der oppositionellen Haltung der Theatergruppen. In einer Rede auf dem Festival betonte er die Notwendigkeit des subversiven Charakters ihres Theaters: "Nuestro teatro (...) no reconoce temas prohibidos, trata de sacar a la superficie, a la conciencia (...) todo aquello que está reprimido, o sea atenta contra las jerarquías, los valores establecidos, y, en general, los mecanismos que funcionan dentro y fuera de nosotros (...). Ese es el sentido de la subversión." 3 Die Regierung antwortete auf diese Ankündigung mit dem Verbot des Festivals, aber die unabhängigen ebenso wie die universitären Gruppen gingen gemeinsam auf die Straße, um erfolgreich gegen das Verbot zu protestieren. 4 1
Gonzalo 1983: 117
2
Diesem Schritt sind einige Vorfälle staatlicher Repression vorausgegangen: die Entlassung des T E C aus dem Kulturinstitut Bellas Arles, das Verbot der Aufführung Die Hochzeil unter Regie von Garcia, und die Verhaftung der Thealergruppe Universidad de los Andes während ihrer Tournee mit dem Vieinam-Diskurs von Weiss. Vergl.:E. Gómez:»El teatro colombiano y la censura« in: Watson/Reyes 1978: 389-393
3
E. Buenaventura: in: Enfoque Internacional,
4
Gonzalo 1983: 122
Bogotá, 1969: 34
6 1
Um sich vor vergleichbaren staatlichen Übergriffen besser zu schützen und als Theaterbewegung einheitlicher aufzutreten, veranstalteten 25 Theatergruppen auf Initiative von Carlos José Reyes am 6. Dezember die Gründungssitzung der Corporación Colombiana de Teatro.x Die CCT fungierte als Zusammenschluß nach gewerkschaftlichem Vorbild. Zu Beginn errichtete sie eine Zentrale in Bogotá und zwei Zweigstellen in Cali und Medellin. Mit der Gründung dieser Vereinigung schufen sich die kolumbianischen Theatergruppen einen organisatorischen repräsentativen Rahmen für den Aufbau ihrer nationalen unabhängigen tTieaterbewegung. Dieser Rahmen bildete die grundlegende Voraussetzung für die Möglichkeit der gemeinsamen Konzeption und Realisation des Nuevo Teatro Colombiano. Die CCT wurde Ort der Auseinandersetzung über die Ziele der Theaterbewegung sowie der Bündelung der verschiedenen Ansätze, die im Laufe der Theaterarbeit jener Gruppen in den letzten Jahrzehnten entwickelt worden waren: das politische Engagement, die Aufarbeitung der nationalen Geschichte, die Begegnung mit einem breiten kolumbianischen Publikum, die nicht-naturalistische Ästhetik und die kollektive Theaterarbeit. Diese sollten nun im Hinblick auf den Aufbau eines nationalen Theaters einen programmatischen Charakter annehmen. Die CCT legte folgende Aufgaben fest: 1. Die Förderung der freien Entwicklung des Theaters in Kolumbien, 2. die Einrichtung von Seminaren und Foren für Studien, Kritik und Forschung sowie die Förderung von Veröffentlichungen, 3. die Gründung von Theatergruppen und Theatersälen in den sectores populares und die Förderung der Theaterarbeit in diesen Bereichen durch die Verteilung von Materialien der Corporación und die Veranstaltung von Seminaren, 4. der Aufbau einer Organisation, die für einen regelmäßigen Kontakt zwischen allen Gruppen im ganzen Land sorgt. Ihr Name lautet Centro de Documentación de Teatro, 5. die Förderung der Erforschung der theatralischen Ausdrucksformen des kolumbianischen Publikums und aller sonstigen Fragen im Zusammenhang mit dem Publikum unter Einbeziehung von Spezialisten, 6. die Ergreifung von wirkungsvollen Maßnahmen gegen Eingriffe in die theatralischen Aktivitäten der Mitglieder wie Verbote, Zensur, Vertragsbruch, etc. 7. die Organisation von Treffen zwischen Schauspielern, Regisseuren, etc., 8. die Suche nach neuen Arbeitsmöglichkeiten und der Erhalt der bestehenden, 9. die Eingliederung von Organisationen und Unternehmen, die die Veranstalvergl. ebnd. Der Vorstand setzte sich aus Jaime Chaparro, Jaime Santos, Edgar Torres, Silvia Caslrillös und C. 1. Reyes, der zum ersten Präsidenten gewählt wurde, zusammen.
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tung von Wettbewerben, Festivals, etc. fördern. 1 Die Gruppen mußten zwei wesentliche Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der CCT erfüllen: 1. Die kollektive Theaterarbeit auf der Basis einer Gruppenstruktur, 2. die Einbeziehung des Publikums als unabdingbarer Faktor für die Inszenierung. 2 Diese Ziele unterschieden sich wesentlich von denen des teatro universitario, da sie von professionellen Theatermachern formuliert wurden und auf ein umfassendes nationales Theatermanifest hinausliefen, das die Förderung von Theateraktivitäten im ganzen Land unter Einbeziehung aller Sektoren der Bevölkerung ins Blickfeld rückten. Mit der Gründung der CCT begann ein entscheidender Funktionswandel des kolumbianischen Theaters. Zum ersten Mal in der kolumbianischen Theatergeschichte suchte das Theater eine Verbindung mit dem Publikum, die auf der Anerkennung und Wahrnehmung der marginalen Bevölkerung fußte, eine Verbindung, welche die Kluft zwischen der herrschenden Kultur der Elite und der ignorierten Kultur des pueblo zu überbrücken versuchte und darin den wichtigsten Schritt zur Nationalisierung des kolumbianischen Theaters sah. Auffallend ist wiederum die Parallele zur Entwicklung der kolumbianischen Widerstandsbewegung. Zum selben Zeitpunkt, als die kolumbianischen Theatergruppen sich von der Regierungspolitik lossagten und die Auseinandersetzung mit dem breiten Publikum zum Programm erklärten, rührte sich zum ersten Mal seit der Violencia nicht nur der Protest der städtischen Guerilla, sondern der Volkswiderstand. Die Bauernorganisation ANUC, die in den 60er Jahren von Präsident Lleras Restrepo ins Leben gerufen war, begann sich damals aus der staatlichen Umarmung zu befreien: "The peasant movement was at the forefront of the people's response in the first half of the 1970s.(...) Between 1970 and 1971 the movement gradually moved away from its govemment sponsors. Demonstrations, occupations (...) and land invasión grew." 3
1
vergi. Textos, No. 18, Manizales, 12.8.1973: 3
2
vergi. Gonzales 1981:93
3
Pearce 1990: 119f
III. Theorie, Methode und Praxis des Nuevo Teatro Colombiano
Das TEC und La Candelaria fungierten trotz des demokratischen Selbstverständnisses der CCT von Anfang an als Pilotgruppen des Nuevo Teatro Colombiano. Ausrichtung und Strukur der CCT und der Charakter des NTC sind nicht zuletzt von der theoretisch-konzeptionellen Autorität Enrique Buenaventuras und dem politischen Engagement Patricia Arizas geprägt. Patricia Ariza, Schauspielerin von La Candelaria und bis heute nahezu ununterbrochen Vorsitzende der CCT, setzte sich insbesondere für den engen Anschluß der Organisation an die linke Gewerkschaft CSTC ein und arrangierte erste Treffen mit ihr sowie Auftritte in Fabriken, Gefängnissen, Barrios, Bauemvereinigungen und Krankenhäusern. Enrique Buenaventura war die treibende Kraft des nationalen Theaters. In der Anfangszeit des NTC entwickelte er sich vom Vordenker der Bewegung zu ihrem theoretischen und methodischen Kopf. Allein er hat eine größere Anzahl von Aufsätzen über die Sinnfrage des kolumbianischen Theaters verfaßt. Sie bilden in ihrer Gesamtheit die einzigen verfügbaren Schriften, die eine deutliche - wenn auch nicht systematische - Argumentationslinie hinsichtlich der historischen Einordnung, ideologischen Stellungnahme und Ästhetik des Neuen Kolumbianischen Theaters erkennen lassen. 1 1970 schließlich legte er ein Esquema general del método de trabajo colectivo en el TEC2 vor, das nicht nur für das kolumbianische Theater, sondern für viele Theatergruppen in anderen lateinamerikanischen Ländern eine methodische Basis für die kollektive Theaterarbeit lieferte. 3 Erst 1983 erschien ein Buch von Santiago Garcia mit gesammelten Aufsätzen über die Theorie und Arbeitsweise von La Candelaria,4 die inzwischen eine weitere wichtige Grundlage für die Erfassung des theoretischen Selbstverständnisses des NTC bilden.
1
Aus der Literaturliste gehen alle Beiträge Buenaventuras, soweit sie mir zugänglich waren, hervor.
2
E. Buenaventura: »Esquema general del método del trabajo colectivo del TEC« in: Temos, II, No. 9,1972
3
vergl. Garzón Céspedez 1976: 15f
4
García 1983
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1. Das NTC am Schnittpunkt zwischen Kunst und Politik Der Ausbruch der ersten professionellen Theatergeneration aus der gesellschaftlichen Nische der Avantgarde des formalen Kolumbiens Ende der 60er Jahre markiert den Beginn des Nuevo Teatro Colombiano. Die Erklärung über die Unabhängigkeit von 25 Theatergruppen und die Gründung der CCT gingen mit dem bewußten Vorhaben einher, das Theater durch die Begegnung mit einem Publikum zu erneuem, das nicht nur zur etablierten, städtischen, intellektuellen Minderheit, sondern zu der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Bevölkerungsmehrheit gehörte. Die Politisierung des Theaters in den 60er Jahren war ein erster, notwendiger Schritt in diese Richtung. Die gesellschaftliche Funktion des Theaters wurde nicht zuletzt aus der Erkenntnis über die gesellschaftliche Außenseiterposition ihres Zielpublikums bestimmt. Deshalb handelten die Stücke des NTC bis weit in die 70er Jahre hinein ausschließlich von historischen und sozialen Themen, in denen das pueblo als gesellschaftsverändernde Kraft auftrat. Trotz seines politischen Charakters wehrte sich aber das NTC und allen voran Buenaventura dagegen, das "Theater zu einem Instrument im Befreiungskampf zu degradieren." 1 Vielmehr legte Buenaventura äußersten Wert auf die ästhetische Bedeutung des Theaters in Lateinamerika. Er lokalisierte das NTC, wie A. Breton einmal sagte, am "magischen Schnittpunkt von Kunst und Politik, in dessen Verlängerung (...) sich beide in ein und demselben revolutionären Bewußtsein vereinigen, ohne daß es zu einer Vermischung ihrer im Wesen durchaus verschiedenen Triebkräfte kommt." 2 Mit der gleichwertigen Vereinigung von Kunst und Politik im Neuen Theater schlug Buenaventura Anfang der 70er Jahre, als das Theater in Lateinamerika im allgemeinen dem politischen Kampf untergeordnet und zum Zweck der Bewußtseinsbildung eingesetzt wurde, einen Sonderweg ein. Heidrun Adler schildert die Art der theatralischen Aktivitäten der meisten jungen politisierten lateinamerikanischen Theatermacher in jener Zeit mit folgenden Worten: "Intellektuelle Theatergruppen haben eine Art Terror betrieben, indem sie den Bürgern und Bauern zeigen wollten, wie man eine Revolution macht. Die Vorstellungen dieser Gruppen wurden auf die Bühne gebracht, das 1
H. Buenavenlura: »El Nuevo Teatro Colombiano« in: Gutiérrez 1979: 215
2
A. Breton in einem Aufsatz über die Malerei Frida Kahlos: »Frida Kahlo de Rivera« in: Frida Kahlo und Tina Modotti, Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Berlin, 1982: 36
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heißt, vorgefertigte Schemata dramatisch dargestellt und ihre Nachahmung gefordert; ganz gleich, ob die realen Gegebenheiten des Publikums die Voraussetzungen dazu boten. Klischees rechtfertigten jeden Trugschluß: der Reiche war stets der Bösewicht und eine lächerliche Figur; der Arme dagegen war klug und gütig (...). Die Menschen wurden zu Archetypen. Der Glaube an die Revolution hatte zu sehr den Platz der dialektischen Reflexion eingenommen." 1 Buenaventura erteilte dem Agitationstheater eine deutliche Absage, weil er meinte, es verzichte darauf, im wesentlichen Theater zu sein: "Nosotros pensamos que, de esta manera, se patalea, y se grita, se hacen rasguños al sistema, pero se sigue prisionero de él (...) Un teatro que se renuncia de se mismo, que renuncia a ser fundamentalmente teatro, es decir, una manera específica de elaborar la realidad y que actúa sobre la misma de una manera diferente a como actúa la agitación política y con finalidades más complejas, y que puede ser, por su inconsistencia, en un momento dado, un instrumento del sistema." 2 Das 3. Theaterfestival in Manizales 1971 geriet der CCT zum Präzedenzfall, der ihre Einstellung zum Agitationstheater deutlich machte. Damals, in der Regierungsperiode des Präsidenten Misael Pastrana Borrero, hatte die Repression gegen das teatro universitario erneut zugenommen. Den im Theater aktiven Studenten wurde das Betreten der Universitäten untersagt, das Budget für alle kulturellen Aktivitäten wurde gestrichen, Vorstellungen wurden verboten. 3 Vor diesem Hintergrund wurde das Festival für die Studententheater-Organisation ASONATU zum Politikum. Sie forderte zum Boykott auf. Die CCT hingegen war daran interessiert, das Festival aus seinem universitären Rahmen zu lösen. Vor allem Enrique Buenaventura hatte bereits 1970 darauf gedrängt, das Festival unabhängigen, internationalen Theatergruppen zu öffnen. Nicht zuletzt wegen des Boykotts des dritten Festivals durch die ASONATU hatte Buenaventura schließlich mit seiner Forderung Erfolg. Das brachte die CCT mit der ASONATU in einen schweren Konflikt. Die ASONATU veröffentlichte ein Manifest, in dem sie das Festival und die CCT als elitär, pseudo-links und scheinheilig verurteilte. 4
1
Adler 1982: 71
2
E. Buenaventura: »Teatro y Cultura« in: Textos, aflo I, No.2, 1971: 151-156
3
vergi. Informe ASONATU en el 3. Encuentro de Teatro Universitario, Julio 1971: 19
4
vergi. Gonzalo 1983: 174
66
Auf demselben Festival fand ein Kolloquium über arte popular in Lateinamerika statt, 1 auf dem Enrique Buenaventura und Augusto Boal zwei Strategien f ü r das lateinamerikanische teatro popular vorstellten, die bestimmend für die Entwicklung zweier gegensätzlicher Strömungen des politischen Theaters in Lateinamerika sein sollten. Augusto Boal hat sein Konzept in der Poética del Oprimido (Poetik des 2 Unterdrückten) niedergeschrieben. Sein Grundgedanke lautet, daß die Trennung zwischen Bühne und Publikum im lateinamerikanischen Theater vollkommen aufgehoben werden müsse. Boal fordert mit Bezug auf die lateinamerikanische Befreiungstheorie, daß das Volk im Theater ebenso wie in der Gesellschaft leinen soll, selbst zum Akteur zu werden und sich somit aus der Unterdrückung zu befreien. Für das Theater bedeutet dieser Gedanke: Der Zuschauer gestaltet das B ü h n e n g e s c h e h e n selbst. Boal lehnt die Ü b e r n a h m e der a b e n d l ä n d i s c h e n bürgerlichen Theatertradition, welche die Trennung zwischen Bühne und Publikum impliziert, ab und begründet dies folgendermaßen: "Aristoteles propone una poética en que el espectador delega sus poderes en el personaje para que éste actúe y piense en su lugar; Brecht propone una poética en que el espectador delega poderes en el personaje para que actúe en su lugar pero se reserva el derecho de pensar por sí mismo, muchas veces en oposición al personaje. En el primer caso se produce una 'catarsis'; en el segundo una 'concientización'. Lo que propone la Poética del Oprimido es la acción misma: el espectador no delega poderes en el personaje ni para que actúe en su lugar; al contrario, él mismo asuma su rol de protagonista." 3 Die wichtigste Funktion des lateinamerikanischen Theaters lag für Boal Anfang der 70er Jahre darin, Forum zur Erprobung revolutionären Handelns zu sein, um aus der Unterdrückung zur Befreiung zu gelangen. Aus dieser Voraussetzung entwickelte er verschiedene Formen des Mitspieltheaters wie z.B. das ForumTheater, das unsichtbare Theater u.a., die nicht nur in Lateinamerika Verbreitung fanden. 4 Buenaventura hingegen sprach sich nicht nur gegen ein Theater aus, das - wie er sagte - f ü r politische Ziele zweckentfremdet wird, er verwehrte sich auch gegen ein
1
vergl. Textos, año I, No. 2, 1971
2
A. Boal: »La Poética del Oprimido« in: Gutiérrez 1979: 146-215
3
ebd.: 148
4
A. Boal: Theater der Unterdrückten. 1979
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lateinamerikanisches teatro popular, bei dem die Zuschauer in die Bühnenhandlung einbezogen werden. Er betonte zwar die Notwendigkeit der Beteiligung des Publikums am Schaffensprozeß eines spezifisch lateinamerikanischen Theaters, verteidigte aber gleichzeitig vehement das Spezialistentum im Theater. 1 In Buenaventuras Ansatz für ein politisches lateinamerikanisches Theater spiegeln sich die Widersprüche des lateinamerikanischen Subkontinents, die sich - aus der Kolonialisierung hervorgegangen - zwischen der Orientierung an westlichen Ideen und der Sehnsucht nach Selbstfindung bewegen. Sie bestimmen notwendig die Theorie des NTC, das seinen Platz im Welttheater zu behaupten sucht 2 und gleichzeitig frei von imitatorischen fremdbestimmten Allüren vor Ort bestehen will. Mit seiner Definition der Funktion des Theaters in den lateinamerikanischen Gesellschaften bleibt Buenaventura der Ideenwelt der abendländischen bürgerlichen Ästhetik, aus der ein emphatischer Kunstbegriff hervorgegangen ist, 3 verhaftet. Er besteht auf einem professionellen Theaterverständnis, auf der Bühne als Ort der Kunst. Eine radikalere Bestimmung für das Theater, wie Boal sie in seiner Poética vorgestellt hat, erkennt er nicht an. Er beharrt vielmehr auf der Anerkennung der europäischen Einflüsse in der lateinamerikanischen Geschichte und warnt davor, das lateinamerikanische Dilemma lösen zu wollen, indem man das Erbe der europäischen Kultur riguros abstreifte und sich stattdessen auf die Volkskultur kapriziert. Er sieht darin sowohl die Gefahr eines falsch verstandenen lateinamerikanischen Populismus als auch eines verkehrten aufklärerischen Anspruchs, das Publikum, das pueblo, erziehen zu wollen: "(...) el aceptar que hay que "dar" un teatro de baja calidad al principio para luego ir "elevando" al nivel del pueblo, (...) es postular que el pueblo no está maduro para la libertad y que el sistema, a través de sus artistas y sus técnicos, lo va ir preparando poco a poco para luego "darle", también, la libertad." 4 Sein Lösungsvorschlag für ein lateinamerikanisches politisches Theater, das sich wesentlich durch die Begegnung mit einem Publikum konstituiert, das von der In einem persönlichen Interview im Jahr 1984 betonte er noch einmal seine Kontroverse mit Boal: während dieser Rezepte verabreiche und Verwirrung über den Begriff populär stifte (populär ist Buenaventuras Meinung nach eher das Fernsehen), halte er Theater für ein ästhetisches Problem: es sei eine Kunst, eine kritische Kunst, mit der man aber nicht den Anspruch erheben könne, die Welt zu verändern. vergl. E. Buenaventura: El arte nuevo de hacer comedias y ei Nuevo Tealro, Broschüre herausgegeben vom TEC, 1983.Buenaventura vergleicht in diesem Text die neue kolumbianische Theaterbewegung mit historischen Theaterbewegungen, die neue Paradigmen für das Theater geschaffen haben, wie z.B. Lope de Vega und Brecht, vergl. T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, 1970: 251 E. Buenaventura: »Teatro y Cullura« in: Watson/Reyes, 1978: 292
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offiziellen Staatspolitik ausgeschlossen ist, lautet, dieses Theater zur höchst möglichen Qualität zu erheben. Für ihn besteht die größte Notwendigkeit darin, die Kunst nicht vom Establishment auf exklusive, imitatorische Weise vereinnahmen zu lassen, sondern auf der Bühne zu zeigen, daß die Theatermacher in der Lage sind, diesem das "Monopol auf das Theater als Mittel zur Aneignung von Realität zu entreißen." 1 Aus dieser Voraussetzung leitet er folgende notwendige M e r k m a l e eines kritischen, politischen, spezifisch lateinamerikanischen Theaters ab: In ideologischer Hinsicht m u ß der T h e a t e r m a c h e r eine bewußte Haltung gegenüber dem Phänomen des Kolonialismus einnehmen und sich für neue Formen der G e s e l l s c h a f t einsetzen, die die Kluft zwischen Volk und Establishment s c h l i e ß e n . 2 In organisatorischer Hinsicht soll das Theater sich außerhalb des etablierten Systems b e w e g e n , unabhängig arbeiten und "Eigentümer seiner P r o d u k t i o n s m i t t e l " 3 sein. In künstlerischer Hinsicht soll es um eine eigene hohe Qualität kämpfen und in thematischer Hinsicht "grundsätzlich auf der kolonialen Deformation unseres sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Lebens" 4 bestehen: das politische Theater als Ausdruck einer von aufgesetzten Idealen befreiten Kultur, das den Seinszustand der lateinamerikanischen Wirklichkeit analysiert, kritisch seziert und als neue Kunst reflektiert. Buenaventura nennt dieses Theater nicht populär, sondern mestizo, mestizisch, weil es von der Idee der Vermischung aller kulturellen Elemente, die auf dem lateinamerikanischen Subkontinent wirksam geworden sind, ausgeht: Volkskultur und Fremdkultur verschmelzen zu einem kulturellen Pluralismus im neuen Theater. Seine politische Funktion besteht darin, das Publikum "mit einer entmystifizierten, aus ihrer A l l t ä g l i c h k e i t g e r i s s e n e n W i r k l i c h k e i t zu k o n f r o n t i e r e n " 5 , die Deformationen der kolumbianischen Demokratie und Kultur aufzuzeigen und die scheinbare, offizielle gesellschaftliche Wirklichkeit zu hinterfragen, ohne sich der dem Theater eigenen "Triebkräfte" zu entledigen. Die entscheidende Funktion des neuen Publikums bei dem Aufbau des neuen, lateinamerikanischen Theaters ist die einer notwendigen Mitsprache, Kritik und kontinuierlichen Auseinandersetzung über das Theater:
1
ders. in: Gutiirrez 1979: 215f
2
ders.: Teuro y Cultura: 294
3
ebd.: 292
4
ebd: 295
5
ebd.: 296
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"La relación con el público, en el caso de los grupos del nuevo teatro tal como nosotros la planteamos, es una relación polémica. No se pretende una comunicación con el público homogéneo. A través de la diversión en del goce del espectáculo (...) se abre la polémica. Las opiniones del público, analizadas con serenidad, producen a menudo cambios en el espectáculo(...) Resumiendo: consideramos nuestros espectáculos aportes discutibles y discutidos a la construcción de una cultura de liberación y no de una cultura de repetición y divulgación." 1
2. Die Ausgangslage des NTC: ein Widerspruch zwischen künstlerischem Anspruch und theaterstruktureller Mangelsituation Wie läßt sich nun aber ein qualitativ hochstehendes neues Theater unter kontinuierlicher, gleichberechtigter Beteiligung eines breiten, heterogenen Publikums dort realisieren, wo die Voraussetzungen für dieses angestrebte Theater nicht gegeben sind, wo sich noch kein Publikum formiert hat, wo sich nur wenige nationale Tendenzen im Theater abgezeichnen und keine Produktionsmittel vorhanden sind? Obwohl die Kolumbianier seit den 50er Jahren in der Professionalisierung ihres Theaters "aus rein künstlerischem Impuls" 2 weit vorangeschritten sind und den Theateraktivitäten in den Großstädten immerhin mehr Kontinuität verleihen konnten als noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte sich die Theatersituation zu Beginn des NTC insofern nicht wesentlich geändert, als es immer noch kein etabliertes Theatersystem, nur wenige spielbare kolumbianische Stücke, wenige Berufsschauspieler und -regisseure, wenige Ausbildungsmöglichkeiten, wenige Spielstätten, kein Geld und keine professionellen theatralischen Ansätze außerhalb der Großstädte gab. Entscheidend war vor allem, daß die Bemühungen um das neue Publikum noch nicht viele Früchte getragen hatten. Wie Santiago García schildert, hatten die Versuche der politischen Annäherung an dieses Publikum mit den in der Casa de la Cultura erprobten gesellschaftskritischen europäischen Stücken keinen wirklichen Kontakt herbeigeführt: "Es que durante los años sesenta, muchos de los grupos de Colombia habíamos trabajado en el gran repertorio del teatro universal haciendo una especie de inventario hasta Bertolt Brecht, con el primordial interés de llegar a los sectores populares; sin embargo, había una tremenda resistencia de parte
E. Buenaventura: »Acercamiento al leatro latinoamericano« in: G. Antei (Hrsg.): Las Rulas del Teatro, 1989: 187f deis.: La dramiurgia en el Nuevo Teatro, vervielf. Manuskript, 1982:4
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de la clase obrera para aceptar los autores de la cultura universal (...)• Estos sectores populares requieren de una cultura que sea mucho más inmediata, que llene un vacío de necesidades espirituales que tiene el pueblo, que cumpla una función estética. Esa dificultad supremamente grande fue el objetivo que nos fijamos para nuestro futuro trabajo." 1 Welche ästhetischen Wege wollte das NTC nun einschlagen, um ein Theater zu kreieren, um das geistige Loch der einheimischen Kultur zu füllen und dem Paradox standzuhalten, der theaterstrukturellen Mangelsituation einen emphatischen Kunstbegriff gegenüberzustellen? 2.1. Die Prozeßhaftigkeit des neuen T h e a t e r s Enrique Buenaventura war sich des Widerspruchs zwischen dem Anspruch an das kolumbianische Theater und seiner realen Situation bewußt. Aus diesem Grunde definierte er einen Qualitätsbegriff f ü r das Neue Theater, der nicht statisch oder ergebnisorientiert war, sondern dem Prozeß der Entstehung des unbekannten Neuen Rechnung trug: "Se trata de la construcción de otra calidad (...) desconocida. (...) Los resultados pertenecen al viejo teatro, en el Nuevo solo hay procesos. Procesos que logran cierta estabilidad, pero que siguen abiertos. Y hay errores, tanteos, desconocimiento del oficio, un moverse en la tierra de nadie, en lo desconocido." 2 Der Prozeßhaftigkeit des Neuen Theaters, welche die Offenheit für Irrtümer und Fehler impliziert, legt Buenaventura im Gegensatz zum abendländischen Zweckrationalismus, der nur "ein planmäßiges oder eingewöhntes, den Interaktionsteilnehmern voraussagbares, aus Beobachterperspektive berechenbares Handeln gestattet", 3 eine dynamische Kulturauffassung zugrunde. Sie entspricht dem Kontext, in dem sich das neue Theater entfaltet, dem Kontext einer Welt, die sich aus der Abhängigkeit lösen will und die Entwicklung eines nationalen Charakters anstrebt, der genauso pluralistisch und ungewiß ist wie das Theater selber. Nur im prozeßhaften Werden, in der Zusammenschmelzung aller vorhandenen Einflüsse, können die lateinamerikanischen Nationen zur Selbstdefinition gelangen. "Alle zusammen bilden die neue Qualität der verschiedenen Kulturen der lateinamerikanischen Länder." 4 Garcia 1983: 135 E. Buenaveniura: El nuevo teatro y sus realciones con la estética, vervielf. Manuskript, 1979: 8f J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1,1988: 240 Garcia 1983: 81
7 1
Mit dieser gedanklichen Voraussetzung für den erfolgreichen Aufbau des neuen Theaters war Buenaventura wieder einmal der allgemeinen ideologischen Entwicklung in Lateinamerika voraus. Die Idee von der pluralistischen, neuen Kultur fand, zusammengefaßt im Begriff der identidad cultural, erst Anfang der 80er Jahre Eingang in die lateinamerikanischen gesellschaftskritischen Debatten und löste nach der Krise der revolutionsgläubigen Ideologien die marxistischen, rein politisch-wirtschaftlich orientierten Gesellschaftsmodelle für Lateinamerika ab, um sich auf den kulturellen Faktor als notwendig konstitutives Element für die lateinamerikanische Wirklichkeit zu besinnen. 1 Das Streben nach einem Theaterverständnis, das sich aus dem okzidentalen, zweckrationalen Denken herauslöst und der dynamischen Kulturauffassung unterordnet, impliziert die Absage an das naturalistische bürgerliche Theater, welches ein Phänomen der von der Vernunft dominierten abendländischen Ordnung ist.2 Buenaventura proklamiert denn auch den "Bruch mit dem bürgerlichen Theater", 3 obwohl sich nie ein rein bürgerliches Theater in Kolumbien etabliert hat. Gemeint ist die Bürgerlichkeit im Theater als "Phantasma", als Wunschbild der oligarchischen Gruppen, die sich mit dem europäischen Humanismus identifizieren und ihre eigene Wirklichkeit idealerweise danach zu gestalten trachten 4 : "Pero el modelo burgués se impone a pesar de que en Colombia prácticamente no ha existido más que como modelo normativo (...) subsiste como fantasma." 5 Der Bruch mit dem bürgerlichen Modell des offiziellen Kolumbien leitet die prozeßhafte Entwicklung des Neuen ein, die Konstruktion des veränderlichen, verändernden nationalen Theaters, dessen primäre Aufgabe zunächst darin besteht, das Phantasma ans Licht zu bringen.
1
vergl. hierzu Barloewen 1992
2
vergl. J. Fiebach: Von Craig bis Brecht,
3
Buenaventura 1979: 1
4
vergl. dazu eine ähnliche Problematik der Literatur in Kolumbien, wie sie u.a. D. G ó m e z Ruiz in seinem Aufsatz »Die Zwecke des Politischen und das Engagement der Literatur« (Meyer-Clason 1982: 8 4 0 beschreibt:
1975.
"Der Civilismus, der die ganze Last der Ungerechtigkeit unter dem humanistischen Pathos zu kaschieren trachtctc. dieser Civilismus, der von Carrasquilla bis hin zu García Márquez die Namen all der Schriftsteller nicht zu kennen vorgab, die die gängigen und aristokratischen Begriffe der "hohen Kultur" nicht teilten (...). Der humanistische Civilismus ist in unserem Land weiterhin der g e m e i n s a m e N e n n e r der offiziellen Kultur, der herrschenden Ideologie, da die Elemente des Bruchs, der von der "anderen" Kultur eingeführt wurde, entweder unter dem abschätzigen Etikett des Populären assimiliert worden sind oder einfach unter dem V o r w a n d , sie seien nicht "gebildet", nicht beachtet wurden." 5
E. Buenaventura 1979: 2
72
Diese Prämissen für das NTC erscheinen, will man sie auf die Theaterpraxis übertragen, kaum realisierbar. Wie soll man ein nationales Theater schaffen, das nahezu nur von Negationen ausgeht und kaum handhabbare Anhaltspunkte für seine zukünftige Gestalt bereitlegt? Die Schlüsselbegriffe für das NTC sind in dieser Hinsicht Experiment und Erfindungskraft. Das nuevo teatro bekennt sich zum Unfertigen. Improvisation ist sein Credo. Das nationale Theater, wie es die kolumbianischen Theaterrnacher anstreben, ist im Grunde eine permanente Laboratoriumssituation. Die Methode - oder besser gesagt der Weg 1 - der Umsetzung dieser Laboratoriumssituation in die Theaterpraxis ist die Creación Colectiva. In der Anwendung ihrer Prinzipien liegt die Möglichkeit, zu einem nationalen Theater zu gelangen, in dem sich die Ansprüche auf Professionalität, Begegnung mit dem kolumbianischen Volk, politisches Engagement, kulturellen Pluralismus, Prozeßhaftigkeit, Originalität und Neuschöpfung vereinen.
3. Creación Colectiva
als Weg einer neuen Theaterschöpfung
Auch wenn Creación Colectiva als Methode der Bildung des neuen nationalen Theaters in Kolumbien zugrundegelegt wird, so ist sie keine Garantie für kolumbianische Originalität, da sie kein spezifisch kolumbianisches Phänomen ist. Sie hat Vorläufer in Europa und den USA und fand Ende der 60er Jahre in ganz Lateinamerika Verbreitung. 2 Um zu untersuchen, ob überhaupt besondere Merkmale der kolumbianischen Creación Colectiva vorliegen, ist es notwendig, die Bedeutung von Kollektivität für das Theater im allgemeinen festzulegen. Denn darüber herrscht, wie aus der Anthologie El Teatro Latinoamericano de la Creación Colectiva hervorgeht, 3 weitgehend Unklarheit und Uneinigkeit. In der lateinamerikanischen Debatte über Funktion und Wesen der Creación Colectiva wird Kollektivität einerseits als grundsätzlicher Wesenszug einer jeden Form von Theater definiert. So meint der argentinische Autor und Regisseur Alfredo Gutkin:
Im N T C wird Creación Colectiva nicht gerne als Methode definiert, weil dieser Begriff ein wiederholbarcs festgelegtes Schcma impliziert und daher der Idee von der Prozeßhaftigkeit des neuen Theaters widerspricht. Wenn im folgenden dennoch der Begriff Methode im Zusammenhang mit der Creación Colectiva benutzt wird, dann beziehe ich mich dabei auf die durchaus vorhandenen Grundregeln des Esquema de un método de la creación colecliva von Buenaventura. vergl. Garzón Céspedez 1976 und B. Rizk:.£/ Nuevo Teatro Latinoamericano: Garzón Céspedez 1976
una lectura histórica,
1987
73
"El teatro es y ha sido siempre un hecho de creación colectiva." 1 Für die argentinische Regisseurin Maria Escudero ist Creación Colectiva ebenfalls kein besonders Phänomen im Theater. Ihre Definition bleibt sehr vage, wenn sie behauptet, sie entstehe "conforme a una serie de acontecimientos de índole económico y social, que van conmoviendo la humanidad." 2 Auf der anderen Seite steht die sehr eingeschränkte vulgär-marxistische Auffassung, Creación Colectiva sei nur dann gegeben, wenn alle Mitglieder einer Theatergruppe an einer Theaterproduktion gleichermaßen beteiligt und die Funktionsteilung strikt aufgehoben sei.3 Insgesamt schaffen alle diese Bestimmungsversuche der Creación Colectiva keine größere Klarheit über ihre besondere Funktion im Theater. Der Begriff der Kollektivität hat sich überhaupt erst zu Anfang dieses Jahrhunderts im Zuge der Oktoberrevolution und des marxistischen Leninismus herausgebildet und ist ideologisch als Antithese zum Individualismus festgelegt worden. Den philosophischen Hintergrund stellt, sehr kurz zusammengefaßt, Marx These dar, daß "erst in der Gemeinschaft mit anderen das Individuum die Mittel hat, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden." 4 Kollektivität impliziert die Aufhebung der Entfremdung durch die Abschaffung des Privatbesitzes. Dieser Kollektivbegriff wurde im Hinblick auf die Organisation von sozialen Beziehungen in Arbeits- und Produktionsgemeinschaften in die Praxis übertragen. In bezug auf das Theater können ihm ganz grob zwei verschiedene Kategorien kollektiver Theater zugeordnet werden. Zum einen lassen sich diejenigen Kollektivtheater zusammenfassen, die das Prinzip der Gemeinschaftlichkeit hauptsächlich auf das Verhältnis ziwschen Theatermachern und Theaterzuschauern anwenden. In einer revolutionären Beschwörung des Wir-Gefühls soll die für die bürgerliche Ästhetik kennzeichnende Trennung zwischen Kunst und Leben, zwischen Schöpfer und Rezipient aufgehoben werden. Statt dessen wollen die Theatermacher das Publikum am theatralischen Schöpfungsprozeß und seiner Ausführung beteiligen. Meyerhold, Protagonist des kollektiven 'Zuschauertheaters', brachte dies auf die Formel:
1
ebd.: 161
2
ebd.: 43
3
E. Väsquez Pérez:»EI Teatro de la Creación Colecliva en la America Latina« in: Garcón Céspedez 1976: 133
4
K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie, in Werke. Bd. 3: 74
74
"Viel Licht, Freude, Wucht und Schwungkraft, unbeschwertes Schöpfertum, Miteinbeziehen des Publikums in die Handlung und kollektives Schaffen - das ist unser Programm." 1 Diese Auffassung von Kollektivität manifestiert sich vor allem im sowjetischen Proletkult, im kubanischen Teatro de la Participación Popular2 und nicht zuletzt in Boals Theater der Unterdrückten. In der zweiten Kategorie kollektiven Theaters wirkt das ideologisch motivierte Prinzip der Gemeinschaftlichkeit auf die soziale und wirtschaftliche Organisationsstruktur des Theaters und seine Produktionsverhältnisse. Die konventionelle Funktionsteilung zwischen Schauspieler, Regisseur, Autor und anderen am theatralischen Schöpfungsprozeß Beteiligten sowie die Hierarchie von Dichtung, Inszenierung und Aufführung werden zugunsten einer weitgehend gemeinschaftlichen Erarbeitung des gesamten theatralischen Produkts revidiert. Auch diese Theater definieren ein neues Verhältnis zum Publikum, gehen aber nicht von dessen unmittelbarer Beteiligung an der Aufführung aus. Einer der ersten, der mit dieser Form kollektiven Theaters experimentierte, war Erwin Piscator. 3 Das kollektive Theater der zweiten Kategorie tritt meistens dort in Erscheinung, wo entscheidende soziale Veränderungen die Antizipation revolutionärer Verhältnisse innerhalb einer bestehenden Gesellschaft ermöglichen. Die Antizipation wird durch die Verwirklichung von Kollektivität vollzogen. Die kollektiv funktionierende Gruppe begibt sich bewußt in eine marginale Position gegenüber der bestehenden Gesellschaft, um in Abgrenzung und unabhängig von ihr und ihren Mechanismen neue Ideen, neue Lebensformen und neue Produktionsformen im Hinblick auf erneuerte allgemeine Lebensumstände zu entfalten. Das Kollektiv erfüllt so gesehen eine utopische Funktion wie Ernst Bloch sie definiert hat: Sie "bezeichnet nicht zuletzt den Tendenzsinn des philosophischen Sozialismus, zum Unterschied vom schlechten 'Tatsachensinn' des empirisch abgeglittenen. Der Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, ohne den der Traum nur abstrakte Utopie, das Leben aber nur Trivialität abgibt, ist gegeben in der auf die Füße gestellten utopischen Kapazität, die mit dem Real-Möglichen verbunden ist (...) Hier mithin wäre der scheinbar nur paradoxe Begriff eines Konkret - Utopischen am Platz, das heißt also, eines 1
M. Tietze: Meyerhold, V. Theaterarbeil 1917-1930,1974:
2
vergl. A. Pí7A. Menendez/M. Arozaragena: El Teatro de la Participación Popular y el Teatro de la Comunidad: Un Teatro de sus protagonistas, 1977
3
vergl. P. Sandmeyer: Voraussetzungen Berlin, 1974
und Möglichkeiten
44
kollektiven Berufstheaters
in Deutschland,
Diss. FU
75
Antizipatorischen, das keinesfalls mit abstrakt-utopischer Träumerei zusammenfällt, (...) und im (konkret-utopischen) Horizont überwiegt nicht mehr die Betrachtung, die seit alters nur auf das Gewordene bezogene, sondern die mitbeteiligte, mitarbeitende Prozeßhaltung, der deshalb, seit Marx, das offene Werden methodisch nicht mehr verschlossen ist und das Novum nicht mehr materialfremd." 1 Das Kollektiv verkörpert einen hoffnungsvollen Gegenentwurf zum Bestehenden, d.h. zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren Werten. Das ist bis dato die Bedingung seiner Existenz. Zerfällt die Utopie, zerfällt das Kollektiv. Vor allem in den 60er und 70er Jahren bildeten sich aus dem Streben, die bürgerliche Ordnung und ihre Werte wie Besitz, Karriere und Leistung des einzelnen aufzuheben, Kollektive unterschiedlicher Art. Die kollektiven Theatergruppen verstanden sich allgemein nicht nur als Enklave der konkreten Antizipation innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sondern insbesondere als Gegenmodell zum bürgerlichen Theater mit seinen eingefleischten Strukturen. 2 Aus der bewußten Ablehnung des konventionellen Theaters hat sich der Charakter der Kollektivtheater herausgebildet. Er läßt sich in folgenden Aspekten zusammenfassen. 1. der ideologische Aspekt: Kollektivität wird als Antithese zum bürgerlichen Individualismus in der Gesellschaft und im Theater begriffen und als konkretutopische Antizipation einer besseren Gesellschaft verwirklicht. 2. der organisatorische Aspekt: Kollektivität wird in der Gruppe praktiziert. Die Gruppe fungiert unabhängig von staatlichen Instanzen als Eigentümerin ihrer Produktionsmittel. Jedes Gruppenmitglied trägt gleichermaßen die Verantwortung für den ökonomischen und künstlerischen Erhalt der Gruppe. Auch wenn Funktionsteilungen vollzogen werden, bleiben alle Mitglieder am gesamten schöpferischen Prozeß beteiligt. 3. der künstlerische Aspekt: Seiner emanzipierten Position in ideologischer und organisatorischer Hinsicht entsprechend hat der Schauspieler auf künstlerischer Ebene alle Befugnisse: Er ist auf multifunktionale Weise Erfinder des theatralischen Produkts. Die kollektiven Theatergruppen vertreten einen "umfassenden Autoren1
E. Bloch 1979. Bd. 1: 165f
2
vergi, dazu: H. Heer (Hrsg.): Dario Fo über Dario Fo, 1978 I. Buchholz/J. Malina: Living (heißt leben)Theater,
1978
D. Heims/G. Burger: San Francisco Mime Troupe, Argument Studienhefte 1984 W. Schulz: Die Entwicklung theatraler Techniken (Darstellungsformen) im gegenwärtigen volkstümlichen Magisterarbeit, Fu Berlin 1976
Theater,
76
begriff, der die Autorschaft der Schauspieler und aller am theatralischen Schöpfungsprozeß Beteiligten miteinbezieht und sich nicht auf die sprachliche Formulierung von Bühnensätzen beschränkt." 1 4. der inhaltliche Aspekt: Die Ideologie der Gruppe bestimmt die Themen der Stücke. Diese haben insofern einen 'kollektiven Charakter', als sie von historischen oder nationalen Ereignissen oder gesamtgesellschaftlichen Problemen soziopolitischer Art handeln. 5. der arbeitstechnische Aspekt: Die Probenarbeit wird nicht ausschließlich durch Anweisungen vom Regisseur geleitet, sondern unter verantwortlicher Beteiligung der gesamten Gruppe organisiert. Wichtige Bestandteile der Proben sind die Arbeit in Teilgruppen und die gemeinschaftlichen Improvisationen. 6. der ästhetische Aspekt: Die kollektiven Theatergruppen arbeiten mit den Mitteln der Verfremdung und realisieren eine Ästhetik des offenen Kunstwerks. 2 Dieses Schema erfährt in bezug auf die Kompetenzen des Regisseurs, die Bedeutung des geschriebenen Textes u.a.m. von Gruppe zu Gruppe Differenzierungen. Die Nuancierungen der jeweils individuellen Arbeitsweisen sind an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Vielmehr geht es darum, festzustellen, ob die kolumbianische kollektive Theaterbewegung über die Übereinstimmung mit oben skizzierten Merkmalen hinaus besondere Charakteristika aufweist. 3.1. Besondere Merkmale der kolumbianischen Creación Colectiva In Kolumbien tauchen Theatergruppen mit kollektiv inszenierten Stücken zum ersten Mal 1970 auf. 3 Wie für die europäischen und nordamerikanischen Theatergruppen bot sich auch in Kolumbien das Kollektivmodell damals ideologisch wie ökonomisch an, um als selbständige Einheit ungehinderte Selbstentfaltung im Hinblick auf eine neue Gesellschaft zu antizipieren. Ein wesentlicher Unterschied zu den okzidentalen Ländern lag aber darin, daß mit der Hoffnung auf die Verbesserung der Gesellschaft die Hoffnung auf die Befreiung von der Abhängigkeit und die Bildung einer nationalen Identität einherging. Zwar hatte sich in Kolumbien kein bürgerliches Theater als nationales formiert, zu denen die Kollektive ein Gegenmodell hätten entwickeln können. Aber gerade wegen des fehlenden nationalen Modells, wegen der mangelnden nationalen Identifizierungsmöglichkeiten für das kolumbianische Volk im Sinne von Buenaventura manifestierte sich in Kolumbien, viel mehr noch als in den westlichen Ländern, im A. Paul: »Ein goldenes Zeilaller des Theaters?« in: Thealer Heule, Jahresheft 1975: 98 vergl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, 1977 Das Teatro Acción unter Leitung von Jaime Balbín führte das kollektiv erarbeitete Stück Bananeras über den Slrcik der Arbeitel der Uniled Fruit Company im Jahr 1928 auf.
77
Kollektiven das für die kolumbianische Theaterbewegung so charakteristische Neue, das Novum, wie Bloch es nennt, als Korrelat für das "unabgeschlossene Werdenkönnen" 1 : jene Prozeßhaftigkeit, deren Relevanz Buenaventura bei seiner Bestimmung des nationalen kolumbianischen Theaters hervorhebt. Das Novum verweist auf eine andere Utopie als die zerstörerische, welche jahrhundertelang bestimmend für Lateinamerika gewesen war, "das als Utopie Europas seinerseits Europa in eine lateinamerikanische Utopie verwandelte." 2 Die kolumbianische Creación Colectiva fungiert als Gegenmodell zu dem Phantasma, als welches Buenaventura die bürgerlich-humanistischen normativen Ideale des kolumbianischen Establishments bezeichnet. Sie erhebt Einspruch gegen die "schlechte Utopie" 3 , aus der das Phanatsma hervorgegangen ist, indem sie sich nicht nach dem Schein reckt, sondern am Machbaren baut. Die kolumbianische Creación Colectiva ist im Gegensatz zu den westlichen Kollektivtheatern die Grundlage für ein nationales Theatermodell, das die vorhandenen bürgerlichen Theaterformen als phantasmatische ablehnt und aus der Einsicht in die Abwesenheit authentischer theatralischer Strukturen seine Stücke, sein Publikum und seine Ästhetik erst noch schaffen will. Aus dieser Voraussetzung entstand für die kolumbianischen kollektiven Theatergruppen, anders als für die westlichen, die Notwendigkeit, die Creación Colectiva zur Programmatik für das nationale Theater zu erheben, dank derer kollektive Gruppen keine sporadische oder vereinzelte Erscheinung blieben, sondern als Bewegung Kontinuität erlangten. Diese Kontinuität sollte durch den Zusammenschluß der kollektiven Theatergruppen zur Vereinigung Corporación Colombiana de Teatro erlangt werden. Drei besondere Strukturelemente kennzeichnen die Programmatik des NTC auf der Grundlage der Creación Colectiva: 1. die Methodisierung der Creación Colectiva als theatralische Arbeitstechnik, 2. das Prinzip des Gruppentheaters und 3. ein neuer Begriff von Professionalität. Die Programmatik faßt folgende Ziele ins Auge: - die Schaffung einer nationalen Dramatik - die Schaffung einer nationalen Theaterästhetik - die Schaffung eines nationalen Publikums
1
Bloch 1979: 226
2
Fuentes (L'80): 9
3
Bloch 1979: 226
78
3.1.1. Creación
Colectiva
als Grundlage für die Schaffung nationaler Dramatik und Ästhetik Creación Colectiva bot zu Beginn des NTC die Möglichkeit, den Mangel an nationaler Dramatik dadurch zu beheben, daß die Stücke von der Theatergruppe geschrieben werden konnten, ohne auf professionelle Autoren angewiesen zu sein. Aus dieser Praxis entstand ein besonderer Begriff von Dramatik im Neuen Theater. Er rückt den "theatralischen Text", d.h. die Gesamtheit der theatralischen Zeichen, die eine Aufführung ausmachen, ins Zentrum und löst sich vom Primat des literarischen Textes. Dieser Begriff von Dramatik kristallisierte sich erst nach längeren kollektiven theatralischen Versuchen innerhalb des Neuen Theaters heraus. Während Buenaventura zu Beginn des NTC noch an der Autonomie des literarischen Textes festhielt und die Möglichkeit verneinte, diesen Text anhand von Improvisationen zu erarbeiten, überzeugten ihn die Resultate der Theatergruppen schließlich vom Gegenteil: "Santiago García sostenía que el grupo, a través de improvisaciones (...) podía producir un texto literario. Yo negaba esa posibilidad con el argumento de que los textos verbales que surgen en los improvisaciones tienen un carácter espontáneo, burdo y fragmentario (...) Santiago García cumplió su tesis en la práctica abriendo un campo inmenso de posibilidades al Nuevo Teatro. (...) Lo que construye el grupo a través de las improvisaciones es el texto del espectáculo engendrando los conflictos y las posibilidades de una historia." 1 Innerhalb des Konzepts der nationalen Dramatik als theatralischer Text nimmt nicht der Autor, sondern der Schauspieler eine zentrale Stellung ein. Er ist der Erfinder des gesamten theatralischen Ereignisses. Das bedeutet in der kolumbianischen Creación Colectiva jedoch nicht, daß sich jeder einzelne Schauspieler einer Gruppe per definitionem gleichermaßen daran beteiligt, ein Stück zu schreiben und zu inszenieren. Die meisten Theatergruppen des NTC arbeiten während des Schöpfungsprozesses einer A u f f ü h r u n g in Arbeitsgruppen, die Funkion des Direktors als Koordinator dieses Prozesses ist weitgehend festgelegt, und nicht selten gehen kollektive Produktionen von Stücktexten aus (wie z.B. Soldados oder La Denuncia vom TEC), ohne ihren Charakter als Creación Colectiva zu verlieren. Die zentrale Stellung und Funktion des Schauspielers als Erfinder des theatralischen Produkts leitet sich aus der besonderen, auf gemeinschaftlichen Improvisationen beruhenden Arbeitsweise ab, bei der alle Schauspieler an der Entwicklung E. Buenaventura: Sobre dramaturgia
, vervielf. Manuskript 1981:2
79
von Szenen und schließlich des Gesamtbildes einer Aufführung schöpferisch beteiligt und dafür verantworlich sind. Buenventura sagte einmal, die Dramatiker des Nuevo Teatro sind die Schauspieler, weil sie Theaterbilder schaffen und gleichzeitig sind. Dramatik sei die Kreation eines Bildes und die Präsenz des Bildes vor dem Zuschauer: "La dramaturgia nacional es una serie de imágenes de nuestra realidad social ricas, variadas polémicas y complejas." 1 Die neue Qualität, die das Nuevo Teatro anstrebt, ist nicht auf den Aufbau einer reichen Dramenliteratur ausgerichtet, sondern auf die Erschaffung von Bildern, die die kolumbianische Wirklichkeit mit spezifischen theatralischen Mitteln erfassen, wobei der literarische Text ein Element unter vielen ist. Dieser nicht statische Qualitätsbegriff hält nicht fest am Ewigkeitswert der Kunst, sondern besteht auf den ephemeren Charakter des Theaters. 3.1.2. Die Interaktion zwischen Bühne und Publikum Buenaventuras Konzept der nationalen Dramatik leitet sich aus der Erkenntnis vom Wesen des Theaters als Interaktion zwischen Bühne und Publikum ab. Daß "Theater kein literarisches Genre" 2 sei, folgert Buenaventura aus dieser Bestimmung des Theaters. Er stützt sich dabei auf die Ausführungen von Feruccio RossiLandi über Semiotik und Ästhetik: "Das Theater ist ein lebendiges und vorübergehendes Verhältnis zwischen Schauspielern und Zuschauem an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt. (...) Außerhalb dieses Moments existiert kein Theater." 3 Das nicht-literarische Theaterkonzept klingt in abendländischen Ohren nicht neu, schließlich haben Brecht und Wekwerth sowie Theaterwissenschaftler wie Arno Paul und Horst-Dieter Klock ausführlich Rechenschaft über das interaktive und zeichenhafte Wesen von Theater abgelegt. 4 Aber diese theoretische Bestimmung ist selten zu einer praktisch so konsequenten und programmatischen Ausführung gelangt wie im NTC, weil hier das Konzept von der Synthese aus der Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum als eine notwendige Voraussetzung für die Bonaventura 1981: 7 ders.: Dramalurgia en el Nuevo Teatro, vervielfältigtes Manuskript 1982: 6 F. Rossi-Landi: Semiotik. Ästhetik und Ideologie, 1976: 52 vergl. M. Wekwerth: »Theater und Wissenschaft« in: Arbeitsheft Nr. 3 der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, 1970 A. Paul: »Theater als Kommunikationsprozeß« in: Diskurs 2, 2. Jahrg. 1972: 33-58 H.-D. Klock: Theater als Ereignis, Diss. FU Berlin, 1976
80
Entwicklung der nationalen Bühne und Dramatik aufgefaßt und dem Zuschauer nicht nur die Rolle des Rezipienten, sondern die des Mitgestalters des nationalen Theaters zugeteilt wird. Welcher Art die Mitgestaltung des Zuschauers sein kann, hat Santiago Garcia am Beispiel der zweiten Kollektivproduktion von La Candelaria aus dem Jahr 1974, La Ciudad Dorada, beschrieben 1 . Das Stück handelt von einer Familie, die, durch die Violencia vom Land vertrieben, in ein Großstadt-Barrio zieht und dort zu überleben versucht. Die Teilnahme des Publikums bezieht sich sowohl auf den Entstehungsprozeß der Produktion als auch auf die Aufführung. Zunächst sammelte die Gruppe literarisches Material über die Ausbeutung in Lateinamerika, bis sie auf die Idee kam, alle gesammelten Fakten in einer Radio-Novela zu verarbeiten. Um den Arbeitsprozeß nicht zu abgehoben und intellektuell zu gestalten, hatte die gesamte Theatergruppe regelmäßigen Kontakt mit den Bewohnern eines barrio de invasión, eines Viertels, das durch illegale Landbesetzungen von Migranten entstanden ist. Durch diese Begegnungen kam ein Schauspieler eines Tages auf die Idee, die Probleme einer Migrantenfamilie zu dramatisieren. Das Material aller kollektiv erarbeiteten Stücke entstammt somit teilweise direkt der Lebenswelt des Publikums. Im Falle von La Ciudad Dorada waren es die Zeugnisse der Famlien aus dem barrio de invasión, welche die Wirbelsäule des Stückes bildeten. 2 Zu den ersten öffentlichen Aufführungen wird das Publikum im allgemeinen wiederum zur aktiven Teilnahme eingeladen. Dann ist es zur Kritik und Mitsprache aufgefordert. Das TEC z.B. läd das Publikum nach jeder Vorstellung zu einer Diskussion ein, das auf diese Weise die Möglichkeit hat, verändernd einzugreifen. Buenaventura erzählt dazu gerne folgende Anekdote über eine Vorstellung des Stücks Soldados vor ehemaligen Arbeitern der United Fruit Company. Nach der Aufführung bemängelten sie: "Pero sí, está bien, están los soldados. Pero ahí no está la huelga. Nos quedamos pensando. Sí es verdad. En la pieza los soldados hablan de la huelga, pero no hay la huelga. Y nos planteamos: Y que sabemos nosostros de esa huelga? Y la verdad es que no sabíamos nada de ese huelga, o muy poco. Entonces nos decidimos a ir a las bibliotecas a investigar cómo había sido esa huelga. Y descubrimos una cantidad de documentos en las bibliotecas. Los despolvamos, los sacamos (...) montamos la segunda versión des Soldados (1970). Pero como en esta segunda versión de 1
S. García: »La creación colectiva y el contexto socio-económico« in: Gutiérrez 1979: 127f
8 1
Soldados de la primera no casaban bien, hicimos una tercera (1971), asi hasta que hicimos cinco versiones de Soldados."1 Die Interaktion zwischen Theatergruppe und Zuschauer kann also so weit gehen, daß die Gruppe aufgrund der Einwände des Publikums eine völlig neue Version eines Stückes erstellt, um die Auseinandersetzung mit dem Publikum in die Theaterarbeit mit einfließen zu lassen und ihm seinen Platz bei der Schaffung der nationalen Dramatik einzuräumen. Durch die so praktizierte Interaktion wird das Eigene im kolumbianischen Theater möglich. Wie Brecht schon forderte, ist das Publikum hier wirklich "Zentrum der Dynamik des Theaters" 2 : Die Schauspieler, die ihrerseits ihre eigenen Erfahrungen mit der kolumbianischen Lebenswelt in den dramatischen Schaffensprozeß einfließen lassen, erforschen gleichzeitig das Leben und die Geschichte des Publikums, um die theatralische Umsetzung dieses authentischen Materials schließlich von ihm überprüfen zu lassen. In diesem Sinne gibt es keine Premieren. Auch wenn ein Stück offiziell zur Aufführung gelangt ist, bleibt es für Eingriffe des Publikums noch offen. Hier liegt eine Aussicht auf die Weiterentwicklung der westlichen Theaterkonzepte. Brecht erstrebte die Funktionsveränderung des Theaters vornehmlich in bezug auf die Rolle und Haltung der Zuschauer als denkend Eingreifende. Diese Prämisse bewirkt die verfremdende Form und den kritischen Inhalt seines Theaters, dessen innere Struktur und konventionelle Organisationsform jedoch weitgehend unangetastet bleiben. Im Gegensatz zu Brecht realisiert das NTC den totalen Funktionswandel der Strukturen des Theaters. Buenaventuras Bruch mit dem bürgerlichen Theater läuft auf ein Prinzip der Kollektivität hinaus, das sich auf das "Angebot einer Möglichkeit für eine Vielzahl persönlicher Eingriffe" 3 aller erstreckt, der Schauspieler ebenso wie der Zuschauer. Auf dieser Basis strebt das Neue Theater eine Ästhetik des 'Offenen Kunstwerks' an, die vor dem "SichVerfügbar-Machen für Integrationen, konkrete produktive Ergänzungen, die es von vornherein in den Spielraum einer strukturellen Vitalität einfügen" 4 , nicht zurückschreckt. Das neue Theater als offenes läßt auch die Möglichkeit zu, alle nicht-literarischen Theaterformen wie Musik, Lieder, Rituale, Paraden, Tänze und
2
S. Garcia: »La creación colecliva de La Candelaria« in: La Revista del Teatro La Candelaria, No. 3,1988: 8
1
vergl. Rizk: 77f
2
Zitat aus: E. Buenaventura: Visión histórica-eslética Manuskript, keine weiteren Angaben: 4
3
Eco 1977: 56
4
ebd.
de la aparición de Brecht en América-Latina,
verviclf.
82
Masken, die im Land noch lebendig geblieben sind, in den Entwicklungsprozeß des nationalen Theaters mit aufzunehmen und somit zu der angestrebten Annäherung an die volkstümliche Kultur des Landes zu gelangen. Mit seiner Definition der o f f e n e n , kollektiv gestalteten nationalen Dramatik erweitert Buenaventura den rein ideologischen Bestimmungsrahmen der Creación Colectiva, indem er das Moment der Schöpfung als kollektiven Prozeß und seine Auswirkungen auf die ästhetische Ebene des Theaters in den Mittelpunkt rückt. 3.1.3. B u e n a v e n t u r a s Esquema de un método de Creación Colectiva Wegen der nationalen Ausrichtung der kolumbianischen Theaterbewegung sind festgelegte Prinzipien der Creación Colectiva nötig, die f ü r alle Theatergruppen gleichermaßen einen Ausgangspunkt für die Theaterarbeit, ein Werkzeug, bilden. Creación Colectiva kann nur dann verwirklicht werden, wenn alle Mitglieder einer Gruppe dieses Werkzeug kennen und beherrschen. 1 Buenaventura zufolge darf Kollektivität nicht mit Masse oder Willkür verwechselt werden. Vielmehr kann ein Kollektiv nur dann arbeiten, wenn starke individuelle Persönlichkeiten zusammenkommen. Die Methode dient ihnen als gemeinsamer sprachlicher und gedanklicher Nenner und Organisationsprinzip für den Schöpfungsprozeß. Sie liefert die Voraussetzung, daß alle Mitglieder eines Kollektivs gleichermaßen in den Schöpfungsprozeß eingreifen können ohne daß Chaos entsteht. Dabei ist es von großer Bedeutung, daß die einzelnen Prozesse des komplizierten, diffizilen, oft intuitiven und nicht berechenbaren Schöpfungsvorgangs für alle gleichermaßen e r f a ß b a r sind, d.h. daß eine g e m e i n s a m e Begrifflichkeit zur Benennung der einzelnen Schritte des Vorgangs vorliegt, damit man zu ihm in Distanz treten und sich über seine Fortschritte verständigen kann. Buenaventuras Esquema general de un Método de trabajo coletiva legt einen Begriffskanon für den kollektiven Schöpfungsvorgang im Theater fest und erstellt d a r ü b e r h i n a u s eine Strategie f ü r seine S t r u k t u r i e r u n g . 2 Sie liefert eine Art 'dramaturgisches Vokabular', das eine Theatergruppe befähigt, einen Stücktext und den gemeinsamen Inszenierungsprozeß zu analysieren und zu strukturieren. Die von Buenaventura und dem T E C ausgearbeitete Methode basiert auf der Voraussetzung, daß dem Theaterstück eine Fabel zugrunde liegt, eine Forderung, die nahezu alle kollektiven Stücke des NTC eingehalten haben. Die kolumbianische
E. Buenaventura: »Esquema General de un Método de Trabajo Colectivo del TEC« in: Cuadernos de Teatro. CCT, No. 3-4, 1975: 101 Die erste Fassung des Esquemas (1970) bezieht sich auf die kollektive Inszenierung eines bestehenden Stiicktexles. Der erweiterten Fassung (1975) ist im Annex ein Schema der Creación Coteciiva für die Inszenieningsarbeit ohne Stückvorlage beigefügt.
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Theaterhistorikerin Beatriz Rizk bestätigt: Die Fabel, "el hilo de la acción, como dice Brecht, sigue teniendo en el nuevo teatro una función primordial." 1 Der wichtigste dramatische Baustein ist für Buenaventura der Konflikt, das Herzstück der Fabel. Neben einem zentralen Konflikt enthält jedes Stück auch Nebenkonflikte. Das Ziel der Strukturierung eines Stückes besteht darin, einen zentralen Konflikt herauszuschälen und in ein Verhältnis zu den Nebenkonflikten zu setzen. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt Buenaventura in einem ersten Schritt vor, Trama und Argumento eines Stückes zu unterscheiden. 2 Trama bezeichnet die Geschichte des Stückes in ihrer chronologischen Abfolge mit allen zugehörigen Hintergrund- oder Zusatzinformationen (wie z.B. geschichtliche Fakten oder Biographien der Figuren), die nicht direkt bestimmend für den Handlungsablauf sind. Das Argumento bezeichnet die konkreten Ereignisse auf der Bühne, den Handlungsablauf des Stücks, der meistens an die Aktionen der Figuren gebunden ist. Buenventura veranschaulicht die Unterscheidung zwischen Trama und Argumento am Beispiel eines Einakters aus seinem Zyklus Los Papalesdel Infierno. Er heißt La Maestra. Sein Inhalt ist folgender: Soldaten überfallen ein Dorf, weil sie dort Guerilleros vermuten. Sie vergewaltigen die Lehrerin des Dorfes und ermorden ihren Vater, den Bürgermeister. Aus Protest tritt die Lehrerin in einen Hungerstreik. Sie stirbt. Nach ihrem Tod erscheint sie auf der Bühne und rekapituliert die Ereignisse, wobei sie von Kommentaren der Einwohner und der Soldaten unterbrochen wird. Der Analyse des TEC zufolge verläuft die Geschichte des Stückes in ihrer chronologischen Abfolge (die Trama) folgendermaßen: 1. Gründung des Dorfes, 2. Verteilung der Gundstücke und Häuser, 3. Nominierung des Bürgermeisters, 4. Ernennung der Mutter zur Lehrerin (die Tochter wird später ihre Nachfolgerin), 5. Regierungswechsel (Violencia); die neue Regierung versucht mit Gewalt, eine neue politische Verwaltung und eine neue Landverteilung durchzusetzen. 6. Die Soldaten kommen ins Dorf; der Sergeant hat eine schwarze Liste, auf der der Bürgermeister und seine Tochter verzeichnet sind; der Bürgermeister wird verhört, 7. der Bürgermeister wird erschossen, seine Tochter, die Lehrerin vergewaltigt,
Rizk 1987: 41 Buenaventura definiert Trama nach Tomachevski: Teoría de la literatura de los Formalistas Rusos, 1970
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8. die Lehrerin verweigert trotz der mahnenden Bitten ihrer Familienangehörigen Essen und Trinken und stirbt, 9. die Lehrerin wird beerdigt. Der Handlungsablauf ( A r g u m e n t o ) des selben Stücks lautet im Schema von Buenaventura: 1. Die tote Lehrerin berichtet. 2. Sie erzählt, daß sie 'dort' in jenem Dorf geboren sei, beschreibt ihr Dorf, den Friedhof, die Arbeit der Bewohner und den Wechsel der Jahreszeiten. 3. Ihre Familienangehörigen 'erscheinen'. Sie diskutiert mit ihnen den Hungerstreik. 4. Gleichzeitig erscheinen die Soldaten. Die Lehrerin spricht mit ihnen über ihre Angst. 5. Sie erinnert sich an das Verhör mit ihrem Vater, während es gleichzeitig auf der Bühne stattfindet. Die Lehrerin diskutiert mit dem Sergeant. Sie spricht für ihren Vater und das Dorf, er für die Regierung. Aus der Bestimmung von Trama und Argumento ergibt sich der Kern des Stücks, der zentrale Konflikt. Er ist da lokalisiert, wo Trama und Argumento sich zu einem Handlungsknoten verbinden. Im vorliegenden Stück verbinden sie sich im fünften Schritt des Argumento, wo laut Buenaventura alle neun Punkte der Trama zur Wirkung gelangen. Träger des zentralen Konflikts sind Protagonist und Antagonist des Stücks, in La Maestra die Lehrerin und der Sergeant. Sie personifizieren die allgemeinen protagonistischen und antagonistischen Kräfte, die Buenaventura fuerzas en pugna (wörtlich: einander widerstreitende Kräfte) nennt. Im vorliegenden Stück sind das die Dorfbewohner einerseits und die Regierung andererseits. Für die Bestimmung des zentralen Konflikts gilt weiterhin, daß er eine Ursache hat, die so allgemein ist, daß sie alle potentiellen Konflikte des Stücks einschließt. Diese Ursache nennt Buenaventura motivación general. Im Falle von La Maestra ist die "Rechtfertigung der Gewalt"' die Ursache des Konflikts. Sie ist der Auslöser der Diskussion zwischen der Lehrerin und dem Sergeant. Von der Lehrerin wird die Gewalt in Frage gestellt, vom Sergeant gerechtfertigt. Die Rechtfertigung der Gewalt ist die motivación general für die Konfrontation der fuerzas en pugna. Für eine Theatergruppe würde eine Stückanalyse nach diesem Schema folgendermaßen ablaufen: Erst schält die Gruppe die Trama des Stückes heraus, indem sie die chronologische Abfolge aller vorhandenen Informationen bestimmt. Im nächsten Schritt erzählen alle Schauspieler in der festgelegten Chronologie eine einfache 1
Buenaventura 1975: 112
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Geschichte, damit "alle zusammen und jeder f ü r sich eine Gesamtsicht auf die Trama des Stückes bekommen." 1 Dann folgt die Bestimmung des Argumento und schließlich die des zentralen Konflikts, seiner protagonistischen und antagonistischen Kräfte und seiner Ursache. Wenn alle diese Faktoren bestimmt sind, wird der Stücktext in kleinere Abschnitte unterteilt, denn: " f u e r z a s en p u g n a no son e n t i d a d e s m o n o l í t i c a s , sino q u e contradicciones internas." 2
tienen
Dies sind die wichtigsten Grundbegriffe, die Enrique Buenaventura und das TEC für die dramaturgische Textanalyse im Gruppenverband aufgestellt haben. 3 Den gemeinschaftlichen Inszenierungsprozeß hat Buenaventura in fünf Etappen unterteilt: 1. das gemeinsame Studium aller sozialen, politischen und weiteren Aspekte des Stücks, 2. die Textanalyse, 3. die Improvisation, 4. die Montage der Szenen, 5. die Aufführung. In der Improvisationsphase wird die theoretische Textanalyse in theatralische Aktion umgesetzt, indem die Schauspieler theatralische Bilder zum Stücktext erstellen. Buenaventura unterscheidet drei verschiedene Improvisationsweisen: analoge Improvisationen, in denen die Schauspieler Analogien zu den Konflikten im Stück entwickeln, dissoziative Improvisationen, in denen die Schauspieler theatralische Bilder entwickeln, die miteinander in keinerlei Zusammenhang stehen und oppositionelle Improvisationen, in denen das Gegenteil einer gegebenen Situation dargestellt wird. Die Montage beginnt mit der Auswahl geeigneter Improvisationen. Dann werden andere theatralische Elemente wie Masken, Kostüme, Musik, Bühnendekoration usw., die zuvor in Kleingruppen entworfen wurden, in den Inszenierungsprozeß integriert. Daran schließt sich eine zweite Improvisationsrunde an, in der alle vorhandenen Elemente in ihrer Gesamtwirkung überprüft werden.
1
ebd. 107
2
ebd. 113. Buenavenuira unterscheidet hier Sequenzen, Situationen und Aktionen, um unterschiedliche Funktionen einzelner Szenenabschnitte zu charakterisieren.
3
vergl. dazu auch: Adler 1982 und Rizk 1987
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Schließlich folgen die ersten öffentlichen Aufführungen, nach denen der Inszenierungsprozeß durch die Mitsprache des Publikums weitergeführt wird.1 3.1.4. Die Themen der frühen Stücke des NTC Die Methode des TEC ist vor allem in der ersten Hälfte des Bestehens des NTC von nahezu allen Theatergruppen angewandt und je nach Bedarf einer Produktion variiert worden. Die auf diese Weise entstandenen Stücke bilden das Repertoire der Theaterbewegung. Es spiegelt ihr damaliges Anliegen, gegenüber der offiziellen Geschichtsschreibung die wirkliche Geschichte des Volkes auf der Bühne kritisch zu analysieren, zu rekonstruieren und ihre politische Bedeutung für die Gegenwart zu zeigen. Die Entdeckung der historischen Identität des kolumbianischen Volkes in bestimmte die Themenschwerpunkte der Produktionen aus den ersten sieben Jahren. Drei geschichtliche Ereignisse, bei denen dem pueblo eine protagonistische Funktion zukommt, haben mehrere theatralische Bearbeitungen erfahren: 1. die Revolution der Comuneros gegen die spanische Herrschaft, die 1781 in verschiedenen Dörfern des heutigen Departments Santander ausbrach und schließlich brutal zerschlagen wurde; 2. der Streik der Bananenarbeiter der United Fruit Company im Jahr 1928, der in einem Massaker an ca. 1000 Arbeitern gipfelte; 3. das traumatische Ereignis der Violencia. Das erstgenannte historische Thema, die Comunero-Bewegung gehört zu den wenigen Ereignissen in der kolumbianischen Geschichte, in denen sich das Volk der Regierung widersetzte. Entstanden aus einer Allianz von Kreolen und kleinen Grundbesitzern gegen die spanische Vorherrschaft und Steuerpolitik, wurde sie im Laufe der Zeit immer mehr auch von Indígenas durchdrungen und schließlich unter der Leitung von José Antonio Galán zu einem Aufstand geführt. Dieser scheiterte durch eine politische Kehrtwendung der Kreolen, die sich aus Angst vor dem wachsenden Einfluß der Indígenas schließlich mit den Spaniern gegen die Widerstandsbewegung zusammenschlössen. Nosotros los Comunes (1972) hieß die erste kollektive Theaterproduktion von La Candelaria, eine lose Szenenmontage, in der die alltäglichen Probleme der "kleinen Helden" aus der Comuneros-Bewegung im Zentrum stehen. Das TEC brachte 1974 ein Stück mit dem Titel Los Comuneros auf die Bühne, setzte es aber bald wieder vom Spielplan ab, so daß es kaum größere Bekanntheit erlangte. Die meisten Theaterproduktionen beschäftigten sich mit dem Streik der Bananenarbeiter. Angefangen mit Soldados von C. J. Reyes, das nach seiner Erstaufführung Eine ausführliche Beschreibung des Entstehungsprozesses eines kollektiv erarbeiteten Stückes siehe im zweiten Teil am Beispiel der Arbeitsweise von La Candelaria.
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im Jahr 1966 von der Casa de la Cultura zwischen 1968 und 1977 in fünf Versionen vom TEC gespielt wurde, schloß sich 1970 die erste kollektive Produktion in Kolumbien, Bananeras vom Teatro Acción, an und 1974 La Denuncia vom TEC. Soldados stellt den Streik aus der Sicht von zwei Soldaten dar, die den Auftrag bekommen haben, ihn niederzuschlagen. Sie berichten im Stück über ihre Erlebnisse während des Streiks und ihre wachsenden Zweifel. 1 La Denuncia, die erste kollektive Produktion ohne Stückvorlage vom TEC, basiert auf einer Anklage, die Jorge Eliécer Gaitán im Parlament einreichte, um die Verantwortlichen für die Niederschlagung des Streiks im Nachhinein zur Rechenschaft zu ziehen und nimmt die Debatte im Parlement über diese Anklage zum Ausgangspunkt. 2 1976 schließlich inszenierte das Teatro Libre de Bogotá über das gleiche Thema ein Stück von Aníbal Niño, El sol subterráneo. Die Ankunft einer neuen Lehrerin mit ihrer gelähmten Schwester in einem der streikenden Dörfer bildet den Anlaß, um die Gewaltmaßnahmen von Militär und Großgrundbesitzern insbesondere gegen wehrlose Frauen während des Streiks thematisch zu entfalten. 3 Die Violencia schließlich ist nach Buenaventuras Papeles del Infierno (1968) in zwei weiteren bekannt gewordenen Stücken behandelt worden. 1970 von der Theatergruppe La Mama in ihrer ersten Kollektivproduktion El abejón mono und 1975 in Guadalupe años sin cuenta von La Candelaria. Während das erste Stück von Aberglaube und Rückzug zu den Mythen bei den ländlichen Guerilleros handelt, rollt das zweite die Geschichte des Widerstands in den Llanos Orientales auf. Über die Produktionen zu den zentralen Themen der Geschichte des kolumbianischen Widerstands hinaus haben zwei weitere Stücke des NTC über historische bzw. politische Themen große Bedeutung erlangt. Eines der meist gespielten Stücke, das nach den Prinzipien der kolumbianischen Creación Colectiva entwickelt wurde, ist / took Panama (1974) vom TPB. Verfaßt von Luis Alberto Garcia, thematisiert es die vom nordamerikanischen Präsidenten Roosevelt veranlaßte Abspaltung Panamas von Kolumbien im Jahr 1903 und den damit verbundenen Bau des Panamakanals; eine bissige Inszenierung, die alle Register der Clownerie zieht und die Schlitzohrigkeit der Nordamerikaner und Franzosen ebenso ironisiert wie die Borniertheit der kolumbianischen Politiker, die sich Panama und die Rechte auf den Kanal für wenig Geld abkaufen ließen.
Buenaventura: Teatro, 1977 Conjunto No 19, 1974: 41-80 Niño gehörte ebenso wie Esteban Navájas und Luis Alberto Garcías einer Dramaturgen- und Aulorenwerkstall an, die das Teatro Libre 1975 ins Leben rief, um die nationale Dramatik zu fördern.
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Das Teatro Libre de Bogotá inszenierte eines der wenigen Stücke aus jener Zeit, das keine Geschichtsanalyse betrieb, sondern eine fiktive, aber sehr wohl politisch kritische Geschichte zum Ausgangspunkt nahm: La agonía del difunto von Esteban Navajas, das 1976 den begehrten Preis der Casa de las Americas erhielt. Es handelt von der Flucht des Großgrundbesitzers Augustino Landazábal vor der Rache seiner aufständigen Arbeiter, indem er seinen eigenen Tod vortäuscht. Die Arbeiter jedoch entdecken den Betrug und nageln ihn in seinen Sarg ein. Das Stück ist laut Gonzales 1 ein wahres Meisterwerk der Überraschungen und Vermischung fiktiver Ebenen. Eines der ganz wenigen frühen Stücke des NTC, das sich nicht mit einer historisch-politischen Problematik befaßt, aber zu den besonders erfolgreichen gehört, ist La Cándida Eréndira vom Theater El Local aus dem Jahr 1977. Es basiert auf der Erzählung La increíble y triste historia de la Cándida Eréndira y de su abuela desalmada von Gabriel García Márquez und handelt von einem jungen Mädchen, das von ihrer Großmutter beschuldigt wird, ihr Haus in Brand gesteckt zu haben. Obdachlos geworden und gezwungen, die Schulden für das Haus durch Prostitution abzubezahlen, reist sie mit ihrer Großmutter und Bedienten in einem Zelt durch das Land. Das Stück spielt auf einer Arena-Bühne und ist in erzählerischem Stil verfaßt. Z.B. werden erst alle Figuren dem Publikum von den Schauspielern vorgestellt, bevor die Handlung einsetzt. Diese und andere verfremdende Elemente kennzeichnen nahezu alle Produktionen des NTC. Die epische und verfremdende Spielweise leitet sich sowohl aus der Funktion ab, welche die Programmatik des NTC dem kolumbianischen Theater zuweist, als auch aus der besonderen Methode der Creación Colectiva. 3.2. Das Prinzip des Gruppentheaters als Strukturelement des NTC Ende der sechziger Jahre aus politischen Gründen in den unabhängigen Status der Gruppe gedrängt, erhoben die kolumbianischen Theatergruppen die Gruppenstruktur zum Prinzip der Theaterbewegung. Diese Organisationsform bietet dem neuen Theater in vieler Hinsicht Lösungsmöglichkeiten für die Verwirklichung ihrer autarken Ziele: In politischer Hinsicht bleibt die Gruppe unabhängig vom Staat und kann eigenverantwortlich arbeiten. Hinsichtlich der Ausbildung des Theatemachwuchses bleiben die Theateranwärter nicht auf die spärlichen Ausbildungsangebote von Seiten des Staates angewiesen. 2 Statt dessen geben die
G. Gonzales Uribe» Catorce espectáculos para la memoria« in: Escenarios 1989: 360 vergi. J. Sania: »Bocetos y borradores de una política teatral« in Escenarios 1989: 375-377. Santa zufolge sind von den fünf bestehenden Theaterschulen in Bogotá zwei staatlich. Die Escuela Distrital ist zur Zeit geschlossen, und die Escuela Nacional steht auch kurz vor der Schließung.
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erfahrenen, routinierten Theaterleute den unerfahrenen ihr Wissen in jahrelanger kontinuierlicher Theaterarbeit weiter. Schließlich funktioniert die Gruppe als Laboratorium in Hinsicht auf die Entwicklung der nationalen Dramatik. Als solches stellt sie ein kleines Experimentierfeld innerhalb der großen umfassenden nationalen Bewegung dar, auf dem über Jahre hinweg in einem gemeinsamen kontinuierlichen Lernprozeß Themen und Gestaltungsformen für das neue Theater entwickelt werden. Die Gruppenstruktur ist bis heute - nicht zuletzt wegen mangelnder Subventionen des Staates 1 - wichtigste Produktionsform geblieben. Staatliche und städtische Theater gibt es nicht. Bis auf das Teatro Nacional, das Anfang der 80er Jahre gegründet wurde und sporadisch größere staatliche finanzielle Hilfen erhält, existiert in Kolumbien, anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern, auch keine Theaterkompanie, eine Organisationsform im Theater, in der mit einem gleichbleibenden Schauspielerstamm und wechselnden Regisseuren funktionsteil ig gearbeitet wird. Das Teatro Libre und das TPB, die seit Ende der 70er Jahre von den Gruppen des neuen Theaters als Vetreter des teatro universal eingestuft werden, weil sie sich wieder mehr der Produktion von Stücken aus dem Welttheaterrepertoire zuwenden, nehmen allmählich den Status der Theaterkompanie an. 2 Von den unabhängigen Gruppen in Bogotá besitzen ca. zehn einen eigenen Saal. Dazu gehören La Mama, El Teatro Taller de Colombia, La Candelaria u.a.m. Die restlichen professionellen Gruppen in Bogotá, wie z.B. La Libélula Dorada, Acto Latino, Súcubus sowie El Taller de Artes und La Fanfarria aus Medellín proben und spielen in Universitäten, Kinos, Schulen, Straßen und Plätzen. Die ökonomische Situation aller dieser Gruppen ist ungefähr gleich: Sporadisch gibt es Subventionen von einzelnen Mitgliedern des Parlaments, vom Stadtrat oder von Oppositionsgruppen. Aber diese Hilfen sind nicht kontinuierlich und sehr gering. Die meisten Schauspieler müssen mit anderen Tätigkeiten nebenbei Geld verdienen. 3 3.3. Ein neuer Begriff von Professionalität Das NTC zeigt sich als offene Bewegung. Den Starkult lehnt es ab. Die Künstler verschanzen sich nicht, sie laden in ihre Theaterhäuser und teilweise zu ihren Proben ein. Die Grenzen zwischen Professionellen, Amateuren und Publikum bestehen, sind aber durchlässig. Die CCT definiert für das nuevo teatro einen Begriff 1
COL^ULTURA gibt sporadisch größere Summen für Produktionen ausländischer Gruppen, für Produktionen aus dem Repertoire des teatro universal oder für die Oper aus. Hingegen bekommen nur 4% aller Gruppen in irgenleiner An finanzielle staatliche Unterstützung. Vergl.: G. Gonzáles Uribe: »Modos de producción en el teatro colonbiano«, in: Escenarios 1989: 378-381
2
vergl ebd.: 381
3
Garca 1983: 147
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von Professionalität, der a priori die sozio-politische Funktion des Künstlers determiniert. "Die Möglichkeit, von der Arbeit zu leben", 1 soll zwar angestrebt werden, darf aber nicht auf Kommerzialisierung abzielen. Profes-sionalität heißt im Neuen Theater, wie f ü r viele lateinamerikanische Künstler, Verantwortung zu übernehmen: für den künstlerischen und materiellen Erhalt der Gruppe, für die Weiterentwicklung der Bewegung und des nationalen Theaters, für die Verbesserung der Gesellschaft. Santiago Garcia bezeichnet den so definierten Kür.stler, der auch f ü r alle Prozesse des theatralischen S c h ö p f u n g s v o r g a n g s (nicht nur die Interpretation seiner Rolle) verantwortlich ist, als nuevo actor und beschreibt seine Arbeit als "esta difícil tarea de c o n f o r m a r un m o v i m i e n t o teatral integradc por actores-creadores-promotores teatral comprometidos concientemente en una verdadera liberación de Nuestra America." 2 Diese Verantwortlichkeit und der daraus abgeleitete Begriff von Professionalität bilden einen fundamentalen Grundzug des Neuen Kolumbianischen Theaters. In der so hergestellten engen Verknüpfung mit seinem sozialen Umfeld liegt die Chance seines Bestehens. Die C C T trägt dieser Tatsache Rechnung, indem sie innerhalb ihrer Organisation vor allem die theatralische Zusammenarbeit der wenigen erfahrenen Küistler mit den Laien z.B. auf Seminaren und Festivals fördert. 3 Eine Statistik, die die C C T anläßlich der ersten beiden nationalen Festivals 1975 und 1976 hat aifertigen lassen, gibt über die Z u s a m m e n s e t z u n g der T h e a t e r b e w e g u n g in jener Zeit Aufschluß. Carlos J. Reyes gibt folgende Zahlen an: 94% der Theaterma:her sind nicht professionell. 6% beziehen aus ihrer Arbeit einen Minimumlohn unc machen bereits mehr als fünf Jahre Theater. Sie stellen die repräsentative Lasis der Theaterbewegung dar. Die überwältigende Mehrheit der Bewegung beiteht aus Amateuren. 4 Pablo Azarate zählt nach der selben Statistik 9% professionelle Gruppen, 63% semi-professionelle Gruppen (dazu gehören jene, die keinen festen Mitglieierstamm haben, neben der Theaterarbeit anderen Tätigkeiten nachgehen, keinen eigtnen Saal haben, in ihren Zielsetzungen jedoch den professionellen Gruppen nachstrtben) und
1
La profesionalizaciön
2
Garcia 1983: 15
3
Ausführlichere Informationen Uber die einzelnen von der CCT organisierten Festivals und ihre Bedeuung ist bei S. Schwarz 1987: 17-23 zu finden.
4
Reyes: »Apuntes sobre el teatro colombiano« in: Watson/Reyes 1978: 416f
en el Nuevo Teatro, vervielf. Manuskript der CCT, nichl datiert: 4
91
23% Laiengruppen, die in Institutionen wie Schulen und Firmen sowie in Barrios gefestigt sind. 1 Durch die Förderung der engen Zusammenarbeit aller dieser Gruppen auf Festivals und in Weiterbildungsseminaren soll die Ausbreitung der Theaterbewegung erreicht und ihre Stabilisierung auf nationaler Ebene garantiert werden. Zahlen belegen den Erfolg dieses Konzepts, wenn Erfolg die Verbreitung der Theateridee im ganzen Land bedeutet. Die CCT, anfangs auf eine Zentrale in Bogotá und eine Nebenstelle in Cali beschränkt, konnte sich bis 1975 auf drei weitere Nebenstellen in Bucaramanga (Osten), Barranquilla (Norden) und Medellin (Nordwesten) ausweiten und damit auch die Theateraktivität ansatzweise dezentralisieren. Die Zahl der Mitgliedergruppen stieg beachtlich. Reyes zählt 1975 auf dem Festival Nacional de Teatro 98 Theatergruppen ( im Gegensatz zu 25 am Beginn der CCT), 1470 Schauspieler, 72 Spielplätze und 147000 Zuschauer. 2 Er urteilt: "En el aspecto cuantitativo las cifras conseguidas por este festival no habían tenido procedentes en nuesta historia teatral." 3 Diesem quantitativen Erfolg stehen aber qualitative Einschränkungen gegenüber, welche die Theaterbewegung letztendlich vor große Probleme stellte. Durch den überwiegenden Anteil der Amateurtheatergruppen konnte die Bewegung ihren der Theorie inhärenten Anspruch auf künstlerische Qualität nur in geringem Maße wahrmachen. Dies war neben anderen Gründen für einige professionelle Gruppen ein Anlaß, sich aus dem NTC zurückzuziehen. Sie fühlten sich durch die immer gleich bleibende Konfrontation mit unerfahrenen Theatermachern demotiviert. Hier machen sich nicht nur die Schwierigkeiten mit dem vagen Begriff der "unbekannten Qualität" bemerbar, die das NTC anstrebt, sondern auch die der Verwirklichung der hohen und vielschichtigen Anforderungen an seine Schauspieler. Viele Theatergruppen zogen der unsicheren Existenz und der experimentellen künstlerischen Arbeit, die das NTC ihnen verbindlich abverlangte, letztendlich eindeutige künstlerische Ziele und ein relativ gesichertes Bestehen ohne ideelle Verpflichtungen vor. 4
P. Azárale: CCT: Expresión
del nuevo teatro, vervielfältigtes Manuskript 1977: 3
Eine Statistik der C C T aus dem Jahr 1979 gibt A u f s c h l u ß über die Z u s c h a u e r z u s a m m e n s e t z u n g : 163 465 Studenten. 148 647 Arbeiter, 25 980 Bauern. 146 367 weitere. Vergl. Adler 1982: 142 Reyes: Et nuevo teatro fue nuevo y teatro, vervielfältigtes Mansukript, nicht datiert: 2 Germán Jaramillo, der technische Leiter des Teatro Libre, erklärte z.B. 1984 in einem persönlichen Interview, daß die Gruppe es vorzog, sich primar auf die individuelle, gründliche Ausbildung ihrer eigenen Schauspieler und die Regiearbeit im konventionellen Sinne zu konzentrieren.
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Aber auch mit dieser Einschränkung muß anerkannt werden, daß die C C T in Kolumbien in den 70er Jahren ein autonomes Theaterwesen schaffen konnte, das einen größeren Teil der Bevölkerung erreicht als j e zuvor.
4. Die Krise des NTC und die Öffnung des kolumbianischen Theaters Bis Mitte der 70er Jahre erlebte das N T C seine Blütezeit, in der e s eine erstaunliche Wirkungskraft entfaltete und über viele Jahre hinaus seinen Ruf als eine der wichtigsten Theaterbewegungen Lateinamerikas festigte. Das 1. Festival Na-cional del Nuevo Teatro im Jahr 1975, auf dem Produktionen wie Guadalupe años sin cuenta, I took Panama, Los caballitos rebeldes vom Teatro Local und Los inquilinos de la ira von J.A. Niño in einer Produktion des Teatro Libre 1 vorgestellt wurden, galt als großer künstlerischer Erfolg und Höhepunkt der Theaterbewegung. 2 Aber bereits das zweite nationale Festival im Jahr 1976 leitete eine große und permanente Krise des NTC ein. Es bot für die professionellen Theatergruppen El Local, Teatro Taller der Colombia, Teatro Alacrán3, Teatro Libre und La Mama den Anlaß, die Teilnahme am dritten nationalen Festival 1977 abzusagen. Die anschließenden Auseinandersetzungen führten zum Austritt der ersten drei Gruppen aus der CCT, 1978 gefolgt von La Mama. Der Bruch dieser b e d e u t e n d e n professionellen Gruppen offenbarte die internen Schwierigkeiten und fundamentalen Probleme der kolumbianischen Theaterbewegung. Sie bestanden nicht nur in den großen Anstrengungen, welche das Programm des N T C von den Theatergruppen forderte, um zu einem nationalen Theater zu gelangen: Unabhängigkeit ohne staatliche finanzielle Unterstützung, kollektive experimentelle Arbeit in der Gruppe mit wenigen arbeitstechnischen Anhaltspunkten, die Anforderungen an den nuevo actor, der ständige Kontakt mit dem neuen Publikum, Neuschöpfung, Prozeßhaftigkeit und Originalität. Sie bestanden auch in einem großen Dilemma der CCT, das sich aus dem politischen Konzept Buenaventuras für die Theaterbewegung ableitet, denn das Neue Theater begab sich auf eine Gradwanderung zwischen Kunst und Politik, bei der es den "aufrechten Gang" nicht immer durchhalten konnte. So Das Stück handeil von einer Rebellion gegen militärische Maßnahmen anläßlich einer Landbesetzung in Puerto Asis vergl. »Datos e informaciones sobre el primer festival nacional del nuevo teatro« in Cuadernos 1975
de Teatro, No. 3/4,
Der Direktor dieser nur kurzlebigen Theatergruppe war C. J. Reyes. Einige Informationen Uber ihre Arbeit sind zu finden in: C J . Reyes: »Para la critica del teatro colombiano« in: Teorema, keine weiteren Angaben. (Aus dem Archiv der CCT).
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sehr ihm daran gelegen war, die Idee der Offenheit wahr zu machen, so sehr litt es unter der Schwierigkeit, der theoretisch geforderten Prozeßhaftigkeit des nationalen Theaters in der Praxis gerecht zu werden. Es geriet infolge des programmatischen Charakters der Creación Colelctiva in Gefahr, zur marxistischen Gebrauchsmoral zu verkümmern. Aus der damals bei nahezu allen politisch aktiven Intellektuellen und Künstlern vorherrschenden marxistischen Optik heraus entwickelte die CCT eine "Gebotstafel", die die Theatermacher unter Außerachtlassung ihrer eigenen Sorgen und Motivationen, die jedes Werk im Laufe seiner Entwicklung fordert, erfüllen sollten, um sich den strengen Regeln des Programms zu unterwerfen. 1 Die CCT mußte wegen ihrer leitenden Funktion gerade wegen der Unsicherheiten und Anstrengungen, die dem Konzept des NTC innewohnen, ihren Akzent auf den Zusammenhalt der Bewegung legen und ihr das nötige feste Korsett bieten. Andererseits verlangte das Programm aber auch Freiräume für Experimente und eigene Entwicklungen, die das Korsett zu sprengen drohten. In diesem Dilemma war die CCT auf die Bereitschaft der Gruppen angewiesen, die Theaterbewegung bedingungslos mitzutragen. Daß es an dieser Bereitschaft mangelte, erwies sich nach dem 2. Festival 1976. In einem öffentlichen Pronunciamento, gefolgt von einem Brief des Teatro Libre1, erläuterten die genannten Theatergruppen ihren Austritt aus der CCT. Sie kritisierten die "antidemokratische Haltung" der CCT sowie ihre Versuche, den Mitgliedern der Bewegung politische Richtlinien vorzuschreiben. Sie warfen ihr vor, alle Energien auf die Organisation des Festivals konzentriert und dabei ihre wesentlichen Aufgaben, vor allem die Weiterqualifizierung der Theaterbewegung, vernachlässigt zu haben. 3 Als Beweis führten sie die Tatsache an, daß fünf Jahre nach Beginn des NTC immer noch dieselben professionellen Gruppen an der Spitze der Bewegung ständen und die weiteren Gruppen, die auf dem zweiten Festival zu sehen gewesen seien, keine nennenswerten künstlerischen Resultate gezeigt hätten. Der kolumbianische Soziologe Umberto Valverde versuchte damals in seinem Artikel Nuevo Teatro y la crisis de la CCT, die Hintergründe für den Streit zwischen der CCT und den professionellen Gruppen zu analysieren. Er sah die vcrgl. auch D. G o m e z Ruiz (in Meyer-Clason 1982): 86 Pronunciamento de ¡os grupos Teatro Alacran, Taller de Colombia, El Local y La Mama acerca de las razones que motivaron su retiro de la Corporación Colombiana de Teatro (C.C.T.) y la no participación en la muestra nacional del nuevo teatro. 1977, (aus dem Archiv des Teatro Taller de Colombia) und: Brief des Teatro Libre de Bogotá vom 1. 10. 1977 an das Direktorium der C C T (aus dem Archiv des 7 caira Libre) Das Direkirium der C C T setzte sich damals aus Patricia Ariza, E. Buenaventura und R. Gomez zusammen. Sie wird auch beschuldigt, die kurzfristige Bildung von Theatergmppen auf dem Lande stimuliert zu haben, um die quantitative Beteiligung an den Festivals zu erhöhen, wodurch eine kontinuierliche Thealerentwicklung geradezu verhindert worden sei.
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U r s a c h e n unter a n d e r e m in den V e r p f l i c h t u n g e n , die die C C T gegenüber C O L C U L T U R A eingegangen war, um finanzielle Zuschüsse für das dritte Fesival zu erlangen: Sie hatte die Bedingung akzeptiert, die Auswahl der Teilnehmer an einer internationalen Veranstaltung des Kulturinstituts ihm selber zu überlassen und damit die Statuten der C C T verletzt. 1 Die professionellen Gruppen fühlten sich a u f g r u n d derartiger Mauscheleien zurückgesetzt und hätten daher den Streit angezettelt. Valverdes Kritik zielt auf die starre Haltung der C C T im Konflikt mit den Gruppen, die keinerlei Versöhnung zuließ. Anstatt dem Zusammenhalt der Bewegung Priorität zu verleihen und die eigene Politik öffentlich zu überprüfen, habe die C C T eine Spaltung vorangetrieben, indem sie mit vehementen Gegenangriffen auf die Kritik antwortete. Die unzufriedenen Theatergruppen wurden als "Feinde des Festivals", "Spalter" und "Antikommunisten" abgestempelt. 2 Valverde diagnostizierte bei der C C T "Blindheit aufgrund ihres stalinistischen Erbes" und die Unfähigkeit, sich die Krise überhaupt einzugestehen. Die objektiven Gründe f ü r die Frontenbildung im kolumbianischen Theater und die Verhärtung der Positionen sind heute kaum mehr zurückzuverfolgen, da alle Aussagen über den Konflikt sehr subjektiv und widersprüchlich sind. Es kann nur mit Sicherheit festgestellt werden, daß das Vertrauen der meisten professionellen Theatergruppen in die C C T seitdem sehr klein geworden ist und die CCT ihrerseits nichts unternommen hat, um ihre Starrheit und Verschlossenheit zu mildern und das Vertrauensverhältnis wieder herzustellen. Noch zur Zeit meines Aufenthalts in Kolumbien schwelte die Fehde zwischen der C C T und den nicht angeschlossenen Gruppen weiter. Im August 1984 trat das Teatro Popular de Bogotá mit einem Comunicado an die Öffentlichkeit, in der es für eine Öffnung der Fronten plädierte. Es warf der C C T vor, daß sie nicht befugt sei, Normen f ü r die Arbeit ihrer Mitglieder aufzustellen und Etiketten wie Nuevo Teatro oder Creación Colectiva a n z u b r i n g e n , um sich von anderen Organisationen oder Theatergruppen zu unterscheiden. 3 Nach dieser Veröffentlichung trat auch das TPB aus der CCT aus, somit verblieben nur noch das T E C und La Candelaria von den alten professionellen Gruppen in der CCT. Die Annäherung zwischen den Theatergruppen blieb aus. Die C C T hatte endgültig ihr Vertretungsrecht f ü r das gesamte kolumbianische Theater verloren. Insgesamt m ü n d e t e diese Entwicklung in eine Ö f f n u n g des kolumbianischen Theaters, die verschiedene Strömungen hervorbrachte.
U. Valverde: »El "nuevo teatro" y la crisis de la CCT« in Nueva Frontera, vergi, ebend. sowie im Comunicado
Pronunciamento
del Teatro Popular de Bogotá, August 1984: 1
Nov. 1977, keine weiteren Angaben
95
4.1. Neue Wege des kolumbianischen Theaters in den 80er Jahren Die Krise des nuevo teatro und die Neuorientierung des kolumbianischen Theaters stehen nicht zuletzt auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem ideologischen Umdenken der kolumbianischen Widerstandsgruppen. Seit Mitte der 70er Jahre hatte die Dependencia-Theorie an Geltung verloren, an ihre Stelle trat die Theorie der Produktionsweisen, 1 die in ihrer Interpretation der kolumbianischen Verhältnisse nicht mehr von internationalen Verflechtungen ausgeht, sondern die Probleme der nationalen Wirtschaft und die Besonderheiten der kolumbianischen Gesellschaft in den Vordergrund stellt. Die Widerstandsgruppen waren in eine tiefe Krise geraten. Viel mehr noch als ideologisch motivierter Klassenkampf waren "public services, health, education, housing, recreation, transport (...) of immediate concern to the majority of Colombians." 2 Im Zuge dieser Interessenverschiebung kamen die ersten starken zivilen Protestbewegungen auf. Bis auf die FARC mit ihrem besonderen Ursprung waren die alten Guerillagruppen gezwungen, "to throw off their Chinese or Cuban ideological straightjackets and were seeking to root themselves more firmly in Colombian reality and among population." 3 Mit dieser politischen Besinnung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort ging die theoretische Auseinandersetzung mit der Frage nach der eigenen kulturellen Identität einher. Bereits Mitte der 70er Jahre verbreiteten sich in Lateinamerika die ersten Gesellschaftstheorien, die ihren Ausgangspunkt nicht mehr hauptsächlich in der revolutionären Veränderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse nahmen, sondern die Erlangung eines kulturellen und nationalen Selbstbewußtseins der lateinamerikanischen Völker als Voraussetzung für die Verbesserung der Lebensverhältnisse betrachteten. Einer der ersten Vertreter dieser Theorien war der mexikanische 'Philosoph der Befreiung' Leopoldo Zea. 4 Mit kurzer zeitlicher Verschiebung gelangte die Auseinandersetzung über die kulturelle Identität in die Debatten des NTC. Im Zuge dessen setzte die allmähliche Relativierung der marxistischen ideologischen Umklammerung ein, die sich in der Theaterpraxis bemerkbar gemacht hat. Während die Idee des nationalen kolumbianischen Theaters von jeher prozeßhaft war und das Theater explizit nicht als Medium zur Herbeiführung eines gesellschaftlichen Umschwungs akzeptierte, geriet die Praxis nicht nur der CCT, sondern auch vieler Theatergruppen allzuoft in den
1
vergi. K. Meschkat 1980: 218
2
Pearce 1990: 148
3
ebd.: 166
4
vergi. u.a. L. Zea: »La integración cultural y social latinoamericana« in: Latino Americana, No. 8, 1975: 16f
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Sog der linken Normierung und Schematisierung. 1 Die Theorie griff der Idee der kulturellen Identität im Grunde bereits früh voraus, indem sie das nationale Theater auf der Grundlage der Wertschätzung und Einbeziehung aller die kolumbianische Kultur bestimmenden Elemente a u f z u b a u e n trachtete und es als prozeßhaftes Kontinuum des gemeinschaftlichen Begreifens von der Welt, in der man lebt, definierte. Obwohl Buenaventura in diesem Sinne von jeher die eigenständige Funktion des Theaters als Kunst im Verhältnis zur Politik betonte, hatte eine revolutionäre Grundhaltung Form und Inhalt der frühen Stücke des NTC insofern bestimmt, als daß sie sich beinahe ausschließlich mit kritischen historischen und politischen Stoffen befaßten, in denen das pueblo als gesellschaftsverändernde Kraft auftrat. Erst mit der Ö f f n u n g des kolumbianischen Theaters insgesamt begannen die Gruppen, die dem Konzept des nuevo teatro verbunden blieben, ein Menschenbild auf dem Theater zu entwerfen, das nicht mehr nur durch soziale Umstände geprägt war, sondern auch durch kulturell bedingte und individuelle Eigenarten. In die Stücke wurden auch literarische und kulturanthropologische Stoffe miteinbezogen. Beim T E C trat eine derartige Veränderung 1979 mit dem ersten Stück einer geplanten Trilogie über die Karibik ein, in der sich die Gruppe das Ziel setzte, die Musik, die Riten und die Legenden des Landstrichs aufzuarbeiten: La bala de plata. Es nahm damit den Ansatz wieder auf, der Ende der 50er Jahre schon einmal in A la diestra de dios padre anklang. Bei La Candelaria machte sich die neue thematische Ausrichtung zum ersten Mal in dem 1981 uraufgeführten Stück Diälogo del Rebusque bemerkbar. Es problematisiert den durch die Conquista ausgelösten Kulturschock, spürt der Anwesenheit mittelalterlich-barocker spanischer Lebensformen im heutigen Kolumbien nach und versucht, den gegenwärtigen Stand der Akkulturation auszuloten. 2 Die meisten anderen professionellen Theatergruppen strebten nach ihrer Trennung von der C C T Theaterkonzepten nach, die sich von den Ideen des NTC relativ weit entfernten. Sie teilten sich, grob gesagt, in zwei Richtungen auf. Die erste Richtung umfaßt diejenigen Gruppen, welche wieder, wie in den 60er Jahren, obras de autor, Autorenstücke, inszenieren und das teatro universal vertreten. Sie sind weitgehend zur traditionellen Funktionsteilung von Autor, Regisseur und Schauvergl. dazu auch Garcia 1983: 131:"Tenemos la impresión de que la mayoría de los grupos de teatro de nuestro quehacer teatral d r a m a t u r g i a ) de los últimos años se instalan en uno de los niveles de la imaginación expuestos anteriormente. (...)Esta reducción seria también la causa del esuqematzismo chalo de muchas obras tanto en sus propuestas del plano textual como operativo." Eine ausfuhrliche Analyse der Gründe für die Veränderungen bei La Candelaria im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung zu finden.
und Beschreibungen der Stücke sind
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Spieler zurückgekehrt, tendieren zum naturalistischen, psychologisierenden oder zum klassischen Theater und inszenieren neben einigen lateinamerikanischen und kolumbianischen Autoren hauptsächlich europäische und nordamerikanische Stücke. Das Teatro Libre de Bogotá unter der Leitung des ehemals radikalen Studententheatervertreters Ricardo Camacho bringt sehr viele nordamerikanische Stücke auf die Bühne wie Die Ballade vom traurigen Café (Albee), Endstation Sehnsucht (Williams) oder Blick zurück von der Brücke und Hexenjagd (A. Miller). Gleichzeitig versucht es, seine alte Idee von der Dramatikerwerkstatt wieder aufzugreifen und inszenierte 1985 mit El Muro en el Jardín von Jorge Plata eines der wenigen Stücke eines kolumbianischen Theaterautors: ein geschlossenes Drama, das von einer Famlie in einem Barrio Popular handelt, die von ihrem kriminellen Sohn gezwungen wird, ihr Haus gegen die Außenwelt zu verbarrikadieren, weil er sich dort vor der Polizei verbergen muß. 1 Ende der 80er Jahre bezog das Teatro Libre ein neues, technisch gut eingerichtetes Haus weiter im Norden der Stadt, wo es vor allem für das dort ansässige Publikum der gehobenen Mittelschicht spielt. Einen ähnlichen Weg ging das Teatro Popular de Bogotá . Machte es Mitte der 70er Jahre noch mit seiner (einzigen) Kollektivproduktion / took Panama Furore, so ist es heute, nach einer vollständigen Renovierung ihres Hauses und unter dem neuen Namen Centro de Artes Dramáticas y Audiovisuales TPB wohl das Theater mit der besten Ausstattung im Land. Nach einer langen Krise zwischen 1976 und 1981 gelang es dem Direktor Jorge Ali Triana, der mit dem Film Tiempo de Morir international bekannt wurde, das Theater mit neuen Schauspielern und dem Konzept des obra de autor wiederzubeleben. Nach den Inszenierungen El Pagador de Promesas des Brasilianers A. Dias Gomez und Der Tod eines Handlungsreisenden von A. Miller trat 1982 C. J. Reyes dem Ensemble bei und inszenierte Romance de Lobos von Valle-Inclan, eine der erfolgreichsten Aufführungen des TPB in jener Zeit. Es folgten Stücke von O'Neill, Dario Fo, Shakespeare und dem Argentinier Roberto Cossa, von denen jedoch keines besondere Beachtung fand. 2 In den Bereich des Regietheaters fallen auch die Produktionen des Teatro Nacional unter der Leitung von Fanny Mickey und die Produktionen der Regisseure und Dozenten der Escuela Nacional de Arte Dramático. Gustavo Cañas inszenierte Die Troerinnen von Eurípides und Sobald fünf Jahre vergehen von Lorca, und Gustavo
vergi. K. Röttgen »Ojos alemanes sobre el teatro bogotano« in: El Espectador, Magazin Dominical, 2. Juni 1982 vergi. E. Gomez: »Los años ochenta en el teatro colombiano« in: Boletín cultural y bibliográfico del Banco de la República 25,1988: 117
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Londono brachte eine sehr erfolgreiche Inszenierung von Bent (Sherman) auf die Bühne. 1 Schließlich gehört auch El Local zum teatro de autor, auch wenn das Repertoire der Gruppe von dem der oben genannten abweicht: es konzentriert sich vor allem auf europäische Klassiker und lateinamerikanische Stücke. Zu den bekanntesten Aufführungen gehören Electra von Sophokles, Der Kaukasische Kreidekreis von Brecht und El Adefesio von Rafael Alberti. Laut Eduardo G o m e z zählt letztgenannte "zu den besten der letzten Jahre." 2 Die staatliche Kulturpolitik von C O L C U L T U R A unterstützt diese wiedererwachte Strömung des teatro universal. Sie stellte z.B. im Jahr 1984 hohe Summen für fünf Produktionen zur Verfügung. Bedingung war, daß ein vorliegendes Stück mit einer ausgewählten Gruppe von Schauspielern in einmaliger Zusammensetzung inszeniert werden sollte. 3 Die zweite Richtung, die in Kolumbien immer größere Bedeutung erlangt, ist das mythische ritualisierte Theater, das teilweise an präkolumbische Wurzeln anknüpft, häufig mit Masken arbeitet und vor allem körperliche und rhythmische Elemente als ästhetische Mittel bevorzugt. Die bekanntesten kolumbianischen Vertreter dieses Theaters sind Acto Latino unter der Leitung von Juan Monsalve, das vor allem mit seinen Produktionen Blacamän (1980), Historias del silencio (1981) und Ondina (1985) Erfolg hatte 4 , Mapa Teatro mit Casa Tomada sowie die Straßentheater Teatro Taller de Colombia mit der Produktion La Cabeza de Gukup und Papaya Partida mit Sücubus. Diese Gruppen sind teilweise von der Ästhetik des Odin Teatrett beeinflußt, das mehrere Male in Kolumbien gastierte. 5
1
vergi, hierzu: G. Gonzales Uribe (Escenarios 1989): 360
2
G o m e z 1988:117
3
Im Anschluß an diese Maßnahme fand eine große Kontroverse zwischen dem teatro de grupo und dem teatro de compañía stall, die in einen Streit über die Teilnahme am wiederbelebten lateinamerikanischen Theaterfestival in Manizales 1984 mündete. Nachdem sich die Thealergruppen und C O L C U L T U R A nicht gütlich einigen konnten, wurden folgende Produktionen als Vertreter des kolumbianischen Theaters von einer Auswahlkommission, die C O L C U L T U R A eingesetzt hatte, nach Manizales gesandt: König Oedipus in der Inszenierung von Juan Monsalve, Die Ballade vom traurigen Café (Ricardo Camacho), Romance de los Lobos (C.J. Reyes),Wer hat Angst vor Virgina Woolf (Teatro Nacional) und das Teatro Experimental de Barranquilla mit Las Convulsiones von Tejada. Vergi, dazu: G. Gonzales Uribe: »Festival de Manizales«, in: El Espectador, Magazin Dominical, 9. 9 . 1 9 8 4 und C. Gutiérrez Cuevas: »Aguda polémica en el teatro colombiano« in: Nueva Frontera, 9 . - 1 5 . 7. 1984
4
Santiago García zufolge hat Blacamán die Konfrontation der karibischen Well der Riten und des Aberglaubens mit der weißen Well der Macht und Rationalität auf brillante Weise ausgearbeitet. Vergi. García 1983: 71f Vergi, zu Ondina: Gonzales Uribe (Escenarios 1989): 362
5
Das 1984 gergründete Centro de Estudios Teatrales in Bogotá unter Leitung von Gloria Zea und Gorgio Antei hai die Kontakte mil dem Direktor des Odin Teatret, Eugenio Barba, sehr gefördert
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Laut Monsalve integrieren diese Gruppen auch Elemente von anderen neueren mit visuellen Mitteln arbeitenden Theatern wie das von Kantor, Wilson und Suzuki in ihre Arbeit. 1 Gleichfalls lassen sich viele Berührungspunkte zwischen dem Nuevo Teatro und dieser insgesamt viel jüngeren Theatergeneration feststellen: der Primat der Gruppe, die Ablehnung des verbalen teatro de autor und die Suche nach einer Ästhetik der Bilder. Aber sie entstammen einer vollkommen anderen ideologischen Kinderstube. Monsalve beschreibt die weltanschaulichen Wurzeln folgendermaßen: "La crisis ideológica del materialismo existencialista y la ortodoxia marxista quizá sean dos de las causas a la aparición de un nuevo pensamiento dramático. Las gentes más jóvenes del teatro miran con desconfianza su inmediata herencia, poniendo permanente en cuestión las utopías políticas de la guerra y el progreso, los mitos del poder. (...) El futuro se abre para ellos como la inmanencia de un presente poético y como la profecía apocalíptica y liberadora." 2 La Mama arbeitet auch außerhalb der CCT mit den Prinzipien der Creación Colectiva weiter. 1985 brachte sie die sehr gelobte Produktion Los Tiempos del Ruido heraus. 3 Immer wieder durch den Betrieb einer Theaterschule unterbrochen, die vom Direktor der Gruppe, Eddy Armando, geleitet wird, sowie behindert durch eine starke Fluktuation der Mitglieder, nahm die Produktion mehrere Jahre in Anspruch. Diese Creación Colectiva versucht sich als erste an der Problematik des kolumbianischen Großstadtlebens und spiegelt das Treiben in Bogotá mit skurrilen, typisierenden, pittoresken Mitteln in choreographierten Szenen wieder. Hauptfigur des Stücks ist La Virgen del Carmen, die vom Himmel herabsteigt, um Seelen zu gewinnen, mit denen sie einen Machtstreit im Himmel für sich entscheiden will. Die Brutalität des Stadtlebens aber schockiert sie so sehr, daß sie unverrichteter Dinge wieder zurückkehrt. Die Abspaltung der professionellen Theatergruppen führte zu einer Öffnung des kolumbianischen Theaters, welche Experimente zuläßt, die zwar von den Grundgedanken des NTC abweichen, aber auf breiterer Ebene wirksam sind. Ob sich vor diesem Hintergrund die Idee vom nationalen Theater nach den Vorstellungen des NTC längerfristig verwirklichen läßt, bleibt die Frage. Der Theaternachwuchs
J. Monsalve: »Sefiales desde la hoguera: Las nuevas tendencias« in Escenarios 1989: 349-354 ebd.: 350 vergl. ROUger 1985
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scheint der V e r a n t w o r t u n g überdrüssig zu sein, wie aus Monsalves Worten hervorgeht, er sehnt sich nach poetischen Bildern. Aber immer noch vereint die C C T viele amateur- und halbprofessionelle Gruppen unter ihrem Dach, immer noch kommen einige dieser Gruppen mit Creaciones Colectivas heraus, die zu den bedeutendsten Theaterereignissen in Kolumbien gehören, wie Biofilio Panclasta vom Centro Gabriel García Márquez oder Todos de la uña vom Taller de Teatro aus Cali. Insgesamt haben die Gruppen des NTC zwischen 1970 und 1986 42 professionelle Produktionen der Creación Colectiva herausgebracht, 1 und von den neun herausragenden kolumbianischen Produktionen der letzten Jahre sind sieben von den Prinzipien der Creación Colectiva beeinflußt. 2 Zu guter Letzt ist La Candelaria immer noch die bekannteste und qualifizierteste Theatergruppe Kolumbiens und setzt ihre Theaterexperimente, von denen der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung berichtet, bis heute erfolgreich fort.
vergl. F. Duque und J. Prada: »Panorama de la Creación Colectiva en el Nuevo Teatro Colombiano« in: Revista del Teatro de La Candelaria, No.3,1988: 14-19 vergl. Gonzalos Uribe (Escenarios 1989)
I. Creación Colectiva als Lernprozeß bei der Entwicklung der nationalen Dramatik
La Candelaria ist die einzige professionelle kolumbianische Theatergruppe, die dem Ansatz des N T C bis heute treu geblieben ist und gleichzeitig in eigenständiger methodischer Weiterführung der Creación Colectiva kontinuierliche innovative Arbeit geleistet hat. Obwohl Enrique Buenaventura in seiner Theorie des N T C durch die besondere Betonung des prozeßhaften Charakters des neuen nationalen Theaters versucht hat, seiner programmatischen Festlegung zu entkommen, geriet das P r o g r a m m - mit seinen aus dem marxistischen Denken abgeleiteten Implikationen - vielen Theatergruppen und nicht zuletzt der C C T zum Gebot. La Candelaria hingegen ist es tatsächlich gelungen, diese Implikationen prozeßhaft in die Praxis umzusetzen und nicht in politische oder methodische Schematismen oder Dogmen zu verfallen. Selbst in den früheren Produktionen, die, wie das gesamte NTC, noch stärker in ideologischer Grundsätzlichkeit gefangen waren, hatte das künstlerische Experiment für La Candelaria eine ungleich höhere Priorität als politische Glaubensbekenntnisse. Ihr Theater ist kein Abklatsch linken politischen Theaters, sondern bewegt sich genau auf dem Schnittpunkt zwischen Kunst und Politik - mit einem Theater, in dem die Schauspieler Schöpfer sind. Aus diesen Gründen steht die Arbeit von La Candelaria im folgenden im Mittelpunkt. Ich möchte anhand des Entwicklungsprozesses ihrer Arbeitsweise und ihrer Stücke zeigen, wie sich die theoretischen Vorgaben des NTC in der Theaterpraxis erfolgreich umsetzen lassen. Dabei lautet die zentrale Frage, inwieweit es La Candelaria gelungen ist, den der Creación Colectiva inhärenten Schemtismus aufzubrechen, um eine nationale Dramatik zu schaffen, die den Ansprüchen des N T C an ästhetische Komplexität genügt; gleichzeitig stelle ich die besonderen ästhetischen Merkmale heraus, die dieses kolumbianische kollektive Theater kennzeichnen. In der Entwicklungsgeschichte von La Candelaria sind - dem Verlauf des Nuevo Teatro Colombiano entsprechend - zwei unterschiedliche Perioden zu beobachten. Die erste, die ich die Periode der strengen Form von Creación Colectiva nenne (die gemeinschaftliche Erfindung und Inszenierung der Stücke), reicht von 1971 - 1979. Die zweite Periode, die von der Anwendung eines erweiterten Kollektivbegriffs ge-
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prägt ist, nenne ich die der offenen Form der Creación Colectiva. Sie beginnt 1980. Die Entwicklungsschritte der Gruppe, die Merkmale der beiden Perioden und die Gründe für die Veränderungen werden im folgenden dargestellt und analysiert.
1. Die Theatergruppe als Ort des Lernens La Candelaria besteht heute, 1992, seit 26 Jahren. Die Arbeit mit den Prinzipien der Creación Colectiva begann 1971. Damals fing die Gruppe trotz ihrer fünfjährigen Theatererfahrung bei Null an. Keines der Mitglieder hatte Erfahrungen damit, wie man ein Stück in der Gruppe schreibt und inszeniert. Für einige alte Schauspieler kam der Übergang zum neuen Arbeitsstil zu abrupt. Patricia Ariza erzählte in einem persönlichen Interview, daß die Begegnung mit dem Publikum der Gewerkschaften und Barrios die Arbeitsweise vollkommen änderte und einige Schauspieler deswegen sogar die Gruppe verließen. Von den alten blieb nur ein kleiner Stamm. Der einzige von ihnen, der auf eine lange Theaterlaufbahn zurückblicken konnte, war der Theaterdirektor Santiago Garcia, die meisten neuen Mitglieder hatten nur wenig Erfahrungen. Heute gehören noch vier Schauspieler aus dem ersten Jahr der Kollektivarbeit zur vierzehnköpfigen Gruppe: Fernando Mendoza, Francisco Martínez, Patricia Ariza und der Direktor Santiago Garcia. Der Weg der meisten Schauspieler führt, ohne Theaterausbildung, direkt in die Gruppe. Hernando Forero z.B , der aus einer kämpferischen liberalen Familie aus Chinquinquira stammt, die nach der Violencia in ein barrio de invasión geflüchtet ist, war in seiner Jugend politisch sehr aktiv: "Gefängnis kam, Gefängnis ging..." 1 Bei La Candelaria wurde er aufgenommen, nachdem er die Gruppe mit ihrer ersten Kollektivproduktion Nosotros los Comunes im Barrio Policarpa hatte auftreten sehen. Im Laufe seiner Theaterpraxis in der Gruppe sammelte er Erfahrungen in den Bereichen Schauspiel, Musik und Inszenierung. Inzwischen leitet er eine eigene Laientheatergruppe und gehört zu den erfahrensten Schauspielern und Musikern der Gruppe. Die meisten anderen Mitglieder haben zuerst ein Studium begonnen und sind an der Universität mit dem Theater in Berührung gekommen. Einer der Schauspieler der ersten Generation, Francisco Martínez, kam aus einem Dorf mit 300 Einwohnern am Rio Magdalena nach Bogotá, um dort Wirtschaft zu studieren, gleichzeitig trat er in eine Theaterschule ein, die 1965 an seiner Universität gegründet
aus einem persönlichen Interview, November 1984
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wurde. Ab 1966 arbeitete er in der Casa de la Cultura mit, wo er als Laufbursche begann und "irgendwann einfach anfing mitzuspielen." 1 Die Schauspieler und Schauspielerinnen der dritten Generation (von denen heute noch César Badillo, Alvaro Rodríguez und Nohora Ayala mitspielen) haben in den meisten Fällen eine Schauspielausbildung an der Escuela Nacional abgeschlossen, während sie, 1974-1980, unter der Leitung von Santiago Garcia stand und sind zeitlich parallel langsam in die Theaterarbeit von La Candelaria hineingewachsen. Alvaro Rodríguez z.B. kam aus Cali nach Bogotá, um Anthropologie zu studieren. Er hatte in seiner Kindheit auf Famlienfesten zusammen mit seinen zwölf Geschwistern bereits viel Theater gespielt und Musik gemacht. Er lernte La Candelaria auf einer kulturellen Veranstaltung kennen und sah sich seitdem oft ihre Aufführungen an, vor allem Nosotros los Comunes. Eines Tages wurde er gefragt, ob er nicht mitspielen wollte. Da er keine Ausbildung hatte, belegte er Schauspielkurse in einem der Seminare der CCT. Seine endgültige Aufnahme erfolgte erst bei der Produktion von Guadalupe años sin cuenta, wo er zunächst nur die Improvisationen beobachtete, dann Technik und Licht regelte und schließlich auch mitspielte. Gleichzeitig absolvierte er die Ausbildung an der Theaterschule. Neue Mitglieder wachsen auch heute noch langsam in die Gruppe hinein, Aufnahmeprüfungen oder Vorsprechen gibt es nicht. La Candelaria hält immer noch an der Überzeugung fest, daß die Ausbildung der Schauspieler durch die Gruppenpraxis vollzogen wird und daß sich alle Schauspieler zusammen durch die Anforderungen, die jede neue Produktion an sie stellt, ebenso weiterqualifizieren wie die Aufführungen. Trotz der Unterschiedlichkeit der schauspielerischen und sozialen Voraussetzungen ihrer Mitglieder ist die Fluktuation in der Gruppe relativ gering. Dadurch ist die Kontinuität der Zusammenarbeit gewährleistet, die für die Entwicklung eines nationalen Repertoires notwendig ist.
2. Der Prozeß der Creación
Colectiva
Seit der Uraufführung ihrer ersten Kollektivproduktion im Jahr 1972, Nosotros los Comunes, hat La Candelaria bis 1985 ein Repertoire von zehn nationalen Stücken a u f g e b a u t . 2 Es wird alle ein bis zwei Jahre um ein Stück erweitert. Aus dem vorhandenen Repertoire stellt die Gruppe alljährlich einen Spielplan zusammen, der sich auch nach Anfragen von Institutionen, Gewerkschaften u.a. richtet. 1988 hatte
aus einem persönlichen Interview, September 1984 1992 sind es vierzehn, siehe auch die Chronologie der Stücke von La Candelaria im Anhang.
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die Gruppe sieben Stücke im Programm, das älteste, Guadalupe años sin cuenta, stammte aus dem Jahr 1975. Dank der Auffassung, daß Creación Colectiva ein kontinuierliches Experiment und einen Lernprozeß darstellt, sucht jede Produktion jeweils die Mängel und die Fehler der vorangegangenen als Anlaß zu Veränderungen und Verbesserungen der Stücke wie auch der Arbeitsweise zu nehmen. Weder Premierentermin noch Rollenbesetzung stehen zu Beginn der Probenarbeiten fest, die Aufgaben zwischen Regisseur und Schauspielern sind nicht eindeutig verteilt, alle gemeinsam begreifen sich als Schöpfer - oder, laut Garcia, als Erfinder 1 - des noch unbekannten Produkts. Das Resultat ist offen. Hierin und auch in der jeweils unmittelbaren schöpferischen Reaktion auf das soziale Umfeld der Gruppe manifestiert sich die Prozeßhaftigeit der Creación Colectiva. 2.1. Das Leitmotiv der Stücke: Geschichte als Prozeß Die schöpferische Reaktion auf das soziale Umfeld schließt bei La Candelaria die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart ein, die in allen Stücken gleichermaßen ihren Ausdruck findet, indem sie Geschichte als Prozeß thematisieren. Geschichte wird als gemeinsamer Erlebnishintergrund in Gegenüberstellung zur offiziellen Geschichtsinterpretation transparent gemacht und in ein Verhältnis zur Gegenwart des realen Kolumbiens gesetzt. Das Theater übernimmt hier die Funktion, den Zuschauern in Distanzierung zur staatstragenden Elite ein Angebot der Selbstdefinition zu machen und ein Abbild ihrer Lebenswelt zu schaffen. Der Theaterraum wirkt daher bei allen Aufführungen von La Candelaria wie eine Stätte der Zelebration von Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeit und läßt unwillkürlich an den Festcharakter der kolumbianischen Volksspektakel denken. Die Gruppe führt vor, was von gemeinsamem Belang ist, beschränkt sich aber nicht auf das sentimentale allabendliche Zurückrufen eines platten Wir-Gefühls. Das Theater fordert vielmehr dazu auf, alte Geschichte kritisch zu revidieren und neue gemeinsam zu konstruieren. Die zwischen 1971 und 1985 herausgebrachten Kollektivproduktionen von La Candelaria bilden zehn Variationen über diese Grundthematik und lassen gleichzeitig eine Entwicklung erkennen, in der sich die notwendige Verschränkung des künstlerischen Lernprozesses mit einer ideologischen Öffnung offenbart. Während die frühesten Stücke eher noch plakativ revolutionäre Gesellschaftsveränderung proklamieren und auf diese Weise aus der politischen Analyse der kolumbianischen Gesellschaft heraus eine eigene politische Standortbestimmung gegenüber dem
1
Garcia 1983: 91
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kolumbianischen Staat vornehmen, tendieren die späteren Stücke, formal komplizierter, zur Ausleuchtung des allgemeinen kulturhistorischen Hintergrunds Kolumbiens, um die gemeinsame kulturelle Identität zu bestimmen. Die erste, am 16. 3. 1972 uraufgeführte Kollektivproduktion deutet die ideologische und thematische Ausrichtung der Gruppe wie eine in die Zukunft gerichtete programmatische Erklärung bereits im Titel an, der - wie die meisten bei La Candelaria - vieldeutig zu verstehen und zu übersetzen ist: Nosotros los Comunes heißt soviel wie 'Wir, die Gewöhnlichen', suggeriert aber ebenso die Gemeinschaftlichkeit, denn común ist mit dem Wort 'gemeinsam' zu übersetzen und spielt schließlich auch auf den geschichtlichen Hintergrund des Stückes an, den Aufstand der Comuneros im Jahr 1781.1 Das geschichtliche Ereignis wird auf drei Ebenen im Stück behandelt: auf der ersten wird das Ambiente des unzufriedenen Volkes, die Ausbeutung auf den Kaffee- und Baumwollplantagen, das Leben des einfachen Volkes gezeigt; auf der zweiten der historische Aufstand der Comuneros und der Versuch der Kreolen, Zwietracht zwischen ihnen zu säen; auf der dritten werden die Auswirkungen und Resultate des Aufstands analysiert. Das Stück endet mit einer bezeichnenden Szene: ein Bauer tritt auf und fängt an, den anderen Bauern Unterricht im Waffengebrauch zu erteilen, als handle es sich um ein Vorspiel einer neuen Etappe im Kampf. Die Explikation der historischen Fakten tritt in Nosotros los Comunes in den Hintergrund zugunsten der analogen Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, von 1781 und 1972; ein Jahr, "which saw the mobilisation of thousands of peasants in an attempt to halt the expansión of cattle ranchers and commercial farmers and to preserve a peasant economy." 2 Ein "düsteres und gefährliches Jahr gewaltiger Repression" 3 , weil die Regierung und die Gremios (Händler und Großgrundbesitzer, die sich zusammengeschlossen haben, um staatliche Interventionen in ökonomischen Entscheidungen zurückzudrängen) damals mit einer heftigen Gegenoffensive begannen. Das Stück ist vor allem darauf angelegt, den Aufstand von 1781 auf den Bauernkampf von 1972 zu übertragen. Die geschichtlichen Daten werden dem Publikum zur Orientierung lediglich von einem trommelwirbelnden Sprecher gemeldet: "Mayo 26 de 1776. Por cédula real de Su Majestad Carlos III de España, toma posesión de este virreinato de la Nueva Granada Su Excelencia el
siehe hierzu Teil 1, Kap. III.4.1.4. Pearce 1990: 93 aus einem persönlichen Interview mit F. Maru'nez
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Virrey Manuel Antonio Flórez (...) Dos años más tarde, en 1778 se declara la guerra entre España e Inglaterra." 1 D a g e g e n erfahren Szenen aus dem damaligen Alltag, die nahtlos auf die Gegenwart zu übertragen sind, z.B. das Problem der krassen Preissteigerungen behandeln, eine relativ ausführliche Exponierung. In aneinandergereihten Bildern, welche Situationen auf dem Markt, beim Fleischer oder b e i m Tabakhändler vorführen, wird die Unzufriedenheit des Volkes zur Hauptaussage: "Hasta c u á n d o ? Hasta c u á n d o vamos a soportar tanta miseria, tanta injusticia? No podemos quedarnos con los manos cruzados viendo cómo nos humillan, cómo nos tratan como si fuéramos bestias de carga! Hoy me derramaron el arroz a mí y le destrozaron el puestico a don Rudecino. Mañana será a usted, doña Petra, o a usted y a usted." 2 So erregt sich eine Marktfrau. Die direkte Rede zum Publikum ist das wichtigste Stilmittel, um den Gegenwartsbezug herzustellen. Dabei scheut sich die Gruppe in ihrer ersten Produktion nicht, direkt zum Widerstand aufzurufen. Die letzten Sätze, welche La Candelaria in einem Lied an das Publikum richtet, lauten: "Aquí están las entrañas de viejos luchadores/ a pesar de sus luchas/ Esta noche larga no ha acabado aún/y tu los sabes/ (...)Y sabes que las batallas las daremos contigo o contra ti/ Y que ganaremos/Decídete entonces y pelea/ No huyas./ Decídete y pelea." 3 Während das erste Stück mit einer eindeutig politisch-kämpferischen Botschaft endet, rufen die Schauspieler 13 Jahre später, am Ende der zehnten Produktion der Gruppe, Corre Corre Carigüeta, keine aufrührerisch plakativen Sätze mehr ins Publikum. Am Ende dieses Stücks, das auch von einem geschichtlichen Ereignis handelt, nämlich von der Ermordung des letzten Inkakönigs Atau Wallpan, stehen 1
Teatro La Candelaria: »Nosotros los Comunes« in: Cinco obras de creación colectiva,
1986: 13
"2. Mai 1776. Durch königlichen Erlaß seiner Majestät Karl III. von Spanien nimmt von nun an seine Exzellenz der Vizekönig Manuel Antonio Flórez dieses Vizekönigreich in seinen Besitz.(...) Zwei Jahre später, im Jahr 1778, wird der Krieg zwischen England und Spanien erklärt." 2
ebd.: S. 17f "Bis wann! Bis wann sollen wir so viel Elend aushalten, so viel Ungerechtigkeit! Wir können nicht mit verschränkten Armen zusehen, wie sie uns unterdrücken, uns behandeln, als wären wir Lasttiere. Heute haben sie mir den Reis ausgekippt und den Stand von Rudecino zerstört, morgen sind Sie dran, doña Petra, oder Sie, und Sie."
3
ebd.: S. 57 Hier seht Ihr die Sache der alten Streiter./ Trotz ihrer Kämpfe/ ist die lange Nacht noch nicht vorbei/ Und Du weißt das (...)/ Und Du weißt, d a ß wir die Schlachten mit Dir schlagen werden/ oder gegen Dich/ und daß wir gewinnen werden/ Entscheide Dich also und kämpfe./ Fliehe nicht/ Entscheide Dich und kämpfe."
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die Schauspieler, mit vergoldeten Gesichtsmasken, gemessen gestikulierend auf der Bühne und sprechen zum Inkaboten Chasqui Carigüeta, dem letzten Überlebenden der Inkas, in Versen: "¡Iari, Iari, chasqui Carigüeta!/ Corre, corre, vuela y comunica/ Que todos se entren, sepan/los hechos terribles ocurridos/ que nos rompieron el corazón/ tal como se rompe un tieso." 1 Hier, ebenso wie in allen anderen Stücken, wird gemeinsame Geschichte zelebriert, indem sie dem Publikum neu entdeckt oder wieder aufgedeckt wird: zu Beginn der Aufführung lüften die Prinzessinnen symbolisch ein erdfarbenes Tuch, das den auf einem Podest liegenden König Atau Wallpan bedeckt. Ihn, der eigentlich schon lange tot ist, erwecken sie auf der Bühne wieder zum Leben, weil Chasqui dessen Geschichte erzählen will, die Geschichte des letzten Inkakönigs. Auch hier wird die gemeinsame Erfahrung aus der Vergangenheit, diesmal durch die erzählende Funktion des Boten, direkt in die Gegenwart des Publikums transportiert. Aber war Nosotros los Comunes noch durch seinen Agit-PropCharakter, durch die gemeinsame ziemlich ungezügelte Spielfreude und Freizügigkeit in der Formgebung bestimmt, so wählt La Candelaria nun die Form einer Tragödie, die an die zeremonielle Abfolge eines Rituals grenzt, um nach dem Sinn und der geschichtlichen Notwendigkeit von Widerstand zu fragen und gleichzeitig einen kulturhistorischen Bogen zurück bis in die Zeit der traumatischen Eroberungen zu schlagen. In der entscheidenden Szene des Stücks wird Atau Wallpan vor die Wahl gestellt: die Priester plädieren für friedliche Verhandlungen mit den Spaniern, Chasqui, der die Stimme des Volkes repräsentiert, spricht sich gemeinsam mit den Prinzessinnen für die Verteidigung mit den Waffen aus. Atau Wallpan entscheidet sich für die friedliche Lösung, kann aber dem Unheil dadurch nicht entkommen. Die Spanier ermorden ihn hinterrücks, das Volk der Inkas geht zugrunde. Chasqui betrinkt sich, so endet das Stück. Der Zuschauer wird nicht mit der Aufforderung zum Kampf entlassen, sondern mit der Frage, inwieweit das komplexe historische Problem der Dekulturation bis in die Gegenwart hineinreicht. Die explizit epische Thematik aller Stücke findet ihren formalen Widerhall in der epischen Funktion des 'theatralischen Bildes', welches man als gestalterisches LeitTeatro La Candelaria:»Corre, Corre Carigüeta« in: Cuatro obras de La Candelaria, 1987: 333 "Iari, iari, chasqui Carigüeta/ lauf, lauf, fliege und berichte/ die grausamen Ereignisse,/ die uns das Herz brachen/so wie eine Scherbe zerbricht,/ damit alle sie erfahren." Das Stück geht von der Originalfassung der Tragödie La tragedia del fin de Atau Wallpan eines anonymen Autors aus dem Jahr 1555 aus. Sie ist in Quechua verfaßt. Die deutsche Übersetzung der Originalversion ist zu Finden in: E. Monegal Rodrfguez (Hrsg.): Die neue Well; Chroniken Lateinamerikas, 1982: 232-241
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motiv der Aufführungen von La Candelaria bezeichnen könnte.Wie Garcia einmal im persönlichen Interview betonte, besteht das fundamentale Interesse der Gruppe darin, die Aktion des theatralischen Bildes im Prozeß der theatralischen Produktion und seine Funktion im Verhältnis mit der Ideologie der veränderbaren und verändernden Gesellschaft zu untersuchen. Das thematische Leitmotiv der Geschichte als Prozeß und das gestalterische Leitmotiv des theatralischen Bildes stellen die wesentlichen Bausteine des Lernprozesses der Creación Colectiva bei La Candelaria dar. 2.2. Die Funktion des theatralischen Bildes Der angestrebten künstlerischen Weiterentwicklung der Aufführungen liegt bei La Candelaria ein wichtiges Kriterium zugrunde: die Komplexität des theatralischen Bildes. Santiago Garcías Definition des theatralischen Bildes lautet: "La imagen teatral debe ser el resultado dialéctico de la representación y de la acción (imaginativa) que ella desencadena en los sentimientos y en la mente del espectador. Esta puede ser la ruptura de prejudicios, concepciones del mundo o reafirmación de ideologías o conceptos de una determinada sociedad en un determinado momento histórico." 1 Der Begriff der Komplexität umfaßt hier die für das Selbstverständnis des NTC bezeichnende Verschränkung ideologischer und künstlerischer Implikationen. Das aus dieser Verschränkung erwachsene theatralische Bild soll nicht als Abbild der lateinamerikanischen oder kolumbianischen Wirklichkeit fungieren, das dem Zuschauer zur ungebrochenen Identifikation dient. Vielmehr sollen die Schauspieler in den Improvisationen eine Art Vexierbilder erstellen, welche die Widersprüche einer gebrochenen Alltagswirklicheit und Geschichte bloßlegt und die Suche nach den Gründen für diese Widersprüche bloßlegt: das theatralische Bild als dialektisches Resultat der Aufführung und der imaginativen Aktion, die es in den Gefühlen und im Denken der Zuschauer auslöst. Die Komplexität des theatralischen Bildes ist für Garcia dann gegeben, wenn es dem Zuschauer einen Spiel-Raum für seine Imaginationen (juego de las imaginaciones) bietet. Innerhalb dieses Spielraums bewegt sich die Wiedererkennung der theatralischen Zeichen, aus denen sich das Bild zusammensetzt und ihre mehrdeutige Übersetzung auf die persönliche und gesellschaftliche Realität des Zuschauers. Es geht dabei nicht nur darum, daß der Zuschauer eine Figur oder eine Situation wiedererkennt, sondern vor allem darum, was er durch die Figur oder
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Garcia 1983: 64
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Situation erkennt. García erläutert diese epische Funktion des theatralischen Bildes am Beispiel von Rabelais Werk Gargantua und Pantagruel: " La imagen propuesta por Rabelais no es Gargantua sino a que el lector medieval descubría a través de Gargantua: la grotesca carcajada del pueblo como imagen irreverente y pertubadora de toda una sociedad (...) El personaje tiene que ser concebido como un espacio de contradicciones de la sociedad incluyendo en este espacio las causas de las contradicciones de una época, porque no se limita a la imagen de si misma sino incluye las contradicciones de códigos (tales como caballero andante siglo XVII medioevo-renacimiento, ideales sobrehumanos y humanos, etc.) que dan la posibilidad de la producción de una imagen en la que el reconocimiento del público español se produjera plenamente." 1 Das Kriterium des theatralischen Bildes umfaßt zwei weitere, unmittelbar damit zuammenhängende Aspekte: die Erstellung von komplexen theatralischen Figuren sowie die Erstellung der nationalen Dramatik, die aus dem direkten Kontakt mit dem Publikum erfolgt und die der Ästhetik des offenen Kunstwerks entspricht. Gerade in dieser Verbindung liegt der hohe Anspruch an die Theatergruppen des NTC verborgen, denn es ist äußerst schwierig, die Komplexität der selbst erfundenen theatralischen Bilder und Figuren zu erreichen ohne den Einfluß des Publikums auf die Dramatik zu verringern. Vor allem durch die geringen Erfahrungen mit der Creación Colectiva verläuft der künstlerische Lernprozeß in dieser Hinsicht sehr mühsam. Ideologische Eindeutigkeit droht gegenüber der geforderten ästhetischen Vieldeutigkeit allzu leicht überhand zu nehmen. Wie La Candelaria arbeitstechnisch im kollektiven Probenprozeß immer wieder versucht hat, neue Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem zu finden, sei im folgenden ausgeführt. 2.3. Die Erstellung theatralischer Bilder durch die Improvisationen der Schauspieler Das theatralische Bild ist das Grundelement der nationalen Dramatik des NTC, wie sie aus der Anwendung der Prinzipien der Creación Colectiva hervorgeht. Der Kern des kollektiven Schöpfungsprozesses besteht darin, daß der Schauspieler im Verband der Gruppe nicht nur die Funktion des Interpreten, sondern vor allem des Dramatikers und Inszenators erfüllt. Er ist der Erfinder des gesamten theatralischen Produkts. Er inszeniert seine Stücke mit dem Material, das er selber ist. Dieser 'neue' Schauspieler leistet Mimese und Analyse gleichzeitig. In der schöpferischen Abbildung der gesellschaftlichen Wirklichkeit schafft er subjektiv eine 1
ebd.: 86f
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Fiktion, die er objektiv - als Inszenator - im Spiegel der Gruppenwirklichkeit überprüft und gestaltet. Dazu ist es notwendig, daß der Schauspieler aus dem von ihm geschaffenen Material heraustritt, daß er sich von sich selber und seinem Produkt distanziert, daß seine Rolle im Probenprozeß ausgewechselt werden kann. Er verläßt immer wieder das von ihm geschaffene Szenarium, um zu dessen Zuschauer zu werden. Die Erarbeitung der Szenen verläuft daher notgedrungen unabhängig von der individuellen Schauspielleistung. In den Improvisationen werden denn auch in erster Linie Situationen in der Art von Tableaus skizziert und keine persönlichen Schicksale, die eines unverwechselbaren Ausdrucks bedürfen. Das wichtigste in der Creación Colectiva ist García zufolge nicht so sehr die Art der Ausführung der Improvisationen, die künstlerische Qualität des Spiels, sondern vielmehr die Erfindung der Bilder und die gemeinsame Analyse der Improvisationen. 1 Um die Entstehungsweise der Bilder und das Verhältnis zwischen Analyse und Ausführung der Improvisationen zu veranschaulichen, will ich ein kurzes Beispiel aus der Probenarbeit zu Corre, Corre Carigüeta heranziehen, der einzigen, bei der ich Gelegenheit hatte, dieser Art von Probenarbeit persönlich beizuwohnen. 2 2.3.1. Ein Improvisationsbeispiel Die Theatergruppe will folgendes Problem inszenatorisch lösen: Inkakönig Atau Wallpan steht vor der Entscheidung, ob er gegen die spanischen Eindringlinge Krieg führen oder ob er mit ihnen verhandeln soll. Der Inkabote Carigüeta, die Prinzessinnen und Atau Wallpans Sohn plädieren f ü r Krieg, die Noblen und Priester für Frieden. Die Aufgabe lautet, ein Bild zu finden, das diese Situation theatralisiert. Die Gesamtgruppe teilt sich in drei Kleingruppen auf. Jede improvisiert entsprechend der Aufgabe eine Szenensequenz. Bedingungen sind dabei, spontan und schnell zu arbeiten und gesprochene Dialoge zu vermeiden (La Candelaria nennt letzteres en ruso - auf Russisch - spielen). Die drei Gruppen verteilen sich über verschiedene Plätze im Theater und bereiten alle gleichzeitig ihre Improvisationen vor. Wenn sie ihre Vorschläge, die sie übrigens nicht ausführlich proben dürfen, ausgearbeitet haben, wird einer nach dem anderen jeweils dem Rest der Gruppe, die dann die Funktion des Publikums übernimmt, vorgestellt. Die Rollenbesetzung während der Vorführung der Improvisation ist beliebig und nicht an eine endgültige Verteilung gebunden. Erst wenn alle drei Vorschläge gesehen worden sind, findet die Improvisationsanalyse statt.
aus einem persönlichen Interview im November 1984 Die folgenden Beispiele entstammen meinen pertinlichen Aufzeichnungen wahrend der Probenarbeiten.
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Im vorliegenden Beispiel hatte sich La Candelaria bereits vor den Improvisationen darauf geeinigt, in der Szene weiße und gelbe Fahnen als Symbole für den Frieden und schwarze und rote Fahnen als Symbole für den Krieg zu verwenden. Für alle Gruppen war folgende Bühnenaufstellung verbindlich: schwarz / \
/ \
/ \
/ \
weiß
Podest
rot
V
gelb
1. Gruppe. Atau Wallpan steht auf dem Podest. Die Prinzessinnen stehen davor und trommeln beschwörend mit den Händen darauf. Der Sohn Atau Wallpans bringt seinem Vater gemessenen Schrittes eine Fahne nach der anderen, wobei er ihm den Rücken zuwendet, die Fahnen aber jeweils in die Richtung seines Vaters hält. Er übergibt Atau Wallpan drei Kriegsfahnen und eine Friedensfahne. Der König läßt die Kriegsfahnen fallen. 2. Gruppe: Ein Lichtkegel fällt auf das Podest, auf dem Atau Wallpan steht. Eine Prinzessin offeriert ihm eine silberne Schale, in der sich rote und schwarze Farbe befindet. Atau Wallpan malt mit den Händen zwei schwarze Streifen auf die linke und zwei rote Streifen auf die rechte Wange. Ein Priester überreicht ihm die gelben und weißen Fahnen. Daraufhin wischt sich der König mit der weißen Fahne das Gesicht ab. 3. Gruppe: Wiederum befindet sich Atau Wallpan auf dem Podest. Die Prinzessinnen breiten ein Tuch vor dem Podest aus und säen darauf Maiskörner. Ein Priester und ein Nobler schreiten mit ihren gelben und weißen Fahnen sehr langsam an ihnen vorbei. Carigüeta rennt mit viel Kriegsgeheul dazwischen. Die Prinzessinnen drehen sich zu einander. Carigüeta scheucht sie auf. Sie überreichen Atau Wallpan die roten und schwarzen Fahnen. Anschließend überreichen der Priester und der Noble die gelbe und die weiße. Im Anschluß an die Präsentation der Improvisationen findet ihre Analyse statt. Im ersten Schritt erzählen jeweils Schauspieler aus dem 'Publikum' so neutral wie möglich, was sie gesehen haben. Danach folgt die Einschätzung der Improvisatio-
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nen. Daran beteiligen sich alle Schauspieler, soweit sie sich äußern wollen. Zu den oben beschriebenen drei Improvisationen lauten die Analysen, kurz zusammengefaßt, folgendermaßen: 1. Improvisation: Sie ist dynamisch, aber in ihrer Symbolik in bezug auf den inneren Konflikt Atau Wallpans zu offensichtlich. Mehr als schön anzusehen ist sie nicht. Für das Kernproblem der Szene, das Aufzeigen des Kontextes des Volkes und des inneren Konflikts von Atau Wallpan, hat sie keine bildnerische Lösung gefunden. 2. Improvisation Sie ist besser, profunder, bezieht sich aber auch nur auf den inneren Konflikt Atau Wallpans. Sehr gut ist die Idee mit den Farben, weil sie den rituellen Charakter des Stückes hervorhebt. Allerdings ist es nicht möglich, daß die Prinzessinnen die Farbe überbringen, weil die Autorität eines Herrschers in einem dynastischen Staat wie dem der Inkas göttergleich war und seine Entscheidung gleichzeitig die des Volkes darstellt. Kommentar des Autors und Direktors Garcia: Atau Wallpans Problem besteht darin, daß er gefühlsmäßig zu den roten und schwarzen Farben tendiert, seine Vernunft ihm aber sagt, daß er mit den Spaniern reden sollte. Das Theater ist in der Lage, auch zeigen zu können, was nicht passiert ist oder was hätte passieren können, das sollte diese Szene leisten. 3. Improvisation: Diese kommt dem Problem am nächsten. Carigüeta (das Volk) scheucht die Prinzessinnen auf, dadurch wird seine Position deutlich. Atau Wallpan werden alle Fahnen überreicht, d.h. er selbst muß entscheiden. Damit ist sowohl der Kontext des Volkes als auch das Dilemma Atau Wallpans im Bild für diese Szenensequenz exponiert. 1 Im Laufe eines Probenprozesses werden alle Szenen und Szenensequenzen eines Stückes ähnlich theatralisiert. Diese Vorgehensweise führt zu einer Aneinanderreihung von Bildern, die in der letzten Inszenierungsphase in mehreren Durchläufen auch wieder in verschiedenen Improvisationen über das vorhandene Material - in einem großen Bogen zusammengefügt werden. Bei Corre Corre Carigüeta hat die Gruppe mit einem vorliegenden Stücktext gearbeitet. Auch bei Produktionen, bei denen Dialoge und Handlungsabläufe noch erfunden werden müssen, bleibt die Art
Die definitive Version, so wie sie in der Aufführung verwirklicht wurde, ist eine reduzierte Form der dritten Improvisation. Das Bild der Mais säenden Prinzessinnen wurde weggelassen. Carigüeta läuft mit Kriegsgebrüll auf die Bühne und überreicht Atau Wallpan die roten und schwarzen Fahnen. Der Rest blieb unverändert
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der Improvisation die selbe. Insofern kann das vorliegende Beispiel als exemplarisch betrachtet werden. Aber die Schwierigkeiten in bezug auf die Erlangung von Komplexität sind in jenen Fällen viel größer. 2.4. Das Problem der Erlangung von Komplexität am Beispiel der ersten beiden Produktionen Daß der Weg der Creación Colectiva zur Komplexität sehr lang und schwierig ist, bestätigt auch ihr großer Befürworter Santiago Garcia. 1984, nach dreizehnjähriger Erfahrung mit dieser Arbeitsweise, äußerte er sich dazu im persönlichen Interview: "Ich könnte die Beurteilung von Improvisationen und ihre Auswahl für die Inszenierung natürlich alleine vornehmen. Aber das wäre sehr willkürlich. Ich muß mich auf eine Menge Kriterien stützen, die wir kollektiv entwickelt haben, Kriterien für die Analyse der Improvisationen (...). Das allerschwierigste ist (...) eine Wahl zu treffen, die nicht nur rational ist, sondern auch intuitiv, nach der gemeinsamen Intuition der Gruppe. Inzwischen sind wir dem etwas näher gekommen, es kostet viel Zeit und Arbeit, aber jetzt ist die Gruppe mehr oder weniger in der Lage, auf künstlerischem Niveau zusammenzuarbeiten." In der ersten kollektiven Produktion Nosotros los Comunes dominierte bei der damals noch ganz unerfahrenen Gruppe der ideologisch motivierte Impuls, die Interessen des zu gewinnenden Publikums zu berücksichtigen, seine Realität auf die Bühne zu bringen und von hier aus die ästhetische Richtung des neuen Theaters zu bestimmen. Um ihr neues Publikum zu packen, wollte sie die Geschichte in der "Sprache der kleinen Leute" 1 erzählen, Situationen aus dem alltäglichen Leben darstellen. Dieses Vorhaben erschwerte die Vorbereitungen zum Stück, da sich kaum Material in den Geschichtsbüchern finden ließ. García berichtet, daß sie zum Beispiel eine Szene über den Fleischverkauf auf dem Markt machen wollten, aber die damaligen Preise für ein Pfund Fleisch nicht herausbekommen konnten. Die Gruppe leitete ein regelrechtes Ermittlungsverfahren ein und konnte lediglich den Wert eines ganzen Rindes erfahren. Sie zählte die Steuern hinzu und kalkulierte ungefähr, was die einzelnen Teile des Tieres gekostet haben könnten: "Lo que necesitábamos conocer era un material de información que estuviera en función de las necesidades actuales de un público que pueda intere-
S. García: »Sobre la creación colectiva hoy« in: Revista del Teatro La Candelaria, No. 3,1988: 4
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sarse vivamente (...) por arte en cuanto esta sea un elemento del presente." 1 Die Ausrichtung auf die aktuellen Interessen des Publikums sowie die Unerfahrenheit der Gruppe mit der gemeinsamen Autorschaft schlugen sich auf die Form des Theaterereignisses nieder. Die formale Struktur des Stückes war sehr lose. Sie bestand in der Aneinanderreihung von Szenen, die in ihrer schriftlichen Fassung nicht mehr als Situationsbeschreibungen waren und keiner inneren Entwicklung folgten. Die Dialoge waren nur bei wichtigen politischen Aussagen oder an den Stellen festgelegt, an denen die Handlung eine entscheidende Wendung nahm Im Textbuch sind die meisten Szenenabläufe, wie der folgende, grob zusammengefaßt: "Un mercado en la plaza de Socorro (....) 1. Entra la vendedora de guarapo e instala su puesto, seguida por la vendedora de arroz y yuca. Se preguntan por sus familiares y por la enfermedad del niño de brazos de la vendedora de arroz, quién lo trae consigo." 2 Der verbale Text war, ähnlich wie in der Commedia dell' Arte, noch vollkommen durch die Improvisationsfähigkeit der Schauspieler bestimmt. Dadurch hatten die Schauspieler die Freiheit, direkte Ansprachen ans Publikum zu halten, die sich auf die jeweils aktuelle politische Situation in Kolumbien bezogen. So konnte die gewünschte Nähe zum Publikum und seiner Lebenswelt hergestellt werden. Dieses erste neue Stücke für das neue Publikum wurde von der kolumbianischen Presse sehr gelobt: "Para La Candelaria las tablas propiamente dichas y los telones aparatosas han muertos (...) lo convencional ha sido trastornado por la dinamicidad. (...) Treinta presentaciones y cincuenta mil espectadores, un mes completo que les pareció brevísimo a los anfitriones - "quería que nos queda- ramos!" nos cuenta Santiago - gentilezas ¡límites, prolongados foros con obreros (...) dan cuenta del trabajo sin fronteras como no sean las de clase - que adelanta La Candelaria. Y de la eficacia de ese trabajo que ha colocado a nuestro teatro en un nivel ejemplar para el resto del continente." 3
ebd.: 6 Tealro La Candelaria 1986: 15 "Ein Markt auf dem Platz von Socorro(...)l. Eine Verkäuferin von Zuckerrohrsaft, tritt auf. Sie stell: ihren Stand auf. Ihr folgt die Reis- und Yuka-Verkäuferin. Sie erkundigen sich gegenseitig nach Famlienangehörigen und sprechen Aber die Krankheit des Kindes, das in den Armen der Reisverkäuferin liegt." L. Duque Naranjo: »Nosotros los Comunes« in: El Especlador, 19.11.1972 in einem Bericht über eine Tournee der Gruppe durch Chile, Ecuador und Peru auf Einladung der damaligen zentralen chilenischen ArbeilergeuericschafL
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Die Ästhetik entfaltete sich bei dieser Aufführung auf leerer Bühne hauptsächlich durch die expressiven Ausdrucksmittel der Schauspieler, komische Effekte, eine volkstümliche Sprache, satirische Anspielungen auf soziale Probleme und die minimale Anwendung von Requisiten, die erst im Kontext des Spiels Bedeutungskraft erhalten. Dies sollte auch für die folgenden Produktionen charakteristisch bleiben, denn die Aufführung hatte nicht nur bei der Kritik, sondern auch beim Publikum "mitten ins Schwarze" 1 getroffen. Aber ihre formale Qualität, ihre handwerkliche Ausführung, die mangelnde Komplexität der extrem typisierten Figuren stellten die Spieler nicht zufrieden. Für die zweite kollektive Inszenierung, La Ciudad Dorada (1973), über die massenhafte Migration zur Zeit der Violencia wurde daher mit Hilfe des Dichters Nelson Osorio im Laufe des Produktionsprozesses ein Stücktext mit feststehenden Dialogen geschrieben. Dadurch konnte sich die Gruppe mehr auf die Entwicklung von Theaterfiguren konzentrieren und einen wichtigen Schritt weiterkommen: "Se pasa de la creación de personajes colectivos a personajes que tienen un desarrollo en la obra y se transforman en ella, sosteniendo no solo el argumento sino el tema." 2 Das Schicksal einer Bauernfamilie mit zwei Söhnen und einer Tochter diente als stellvertretendes Vorbild, um ein Problem einer ganzen Bevölkerungsgruppe aufzuzeigen: den Traum von der goldenen Stadt, der immer mehr zerrinnt, je mehr man sich ihm nähert. Ignacio, einer der Söhne, geht zum Militär, Rosalba, die Tochter, versucht, durch die Arbeit in einem Krankenhaus aus ihrem Dorf wegzukommen und endet betört und betrogen von einem schmierigen Radioproduzenten. Mario schließlich, der Jüngste, sucht die 'Goldene Stadt' in Venezuela, als er sie in Bogotá nicht finden kann. Er landet schließlich bei der Baumwollernte, wo auch ihm der Traum unter den Händen zerrinnt. La Candelaria führt am Beispiel der Familie parabelhaft vor, daß Illusionen nur blind machen und versucht, anhand der Figur des Mario einen pragmatischen Ausweg aufzuzeigen: "Mario comprende que tiene que soñar con sus demás compañeros del Sindicato para soñar cosas reales y se vincula entonces al movimiento obrero." 3 Er tritt in die Gewerkschaft ein. 1
ebd.
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A. Nieto: Esbozo de una historia que continua: Grupo de Teatro La Candelaria, Monografía de grado. Escuela Nacional de Arle Dramático, 1982: 113
3
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La Ciudad Dorada ist das einzige Stück der Gruppe, in dem sie den ideologschen Lernprozeß einer Figur theatralisiert und das somit einem politischen Lehstück gleichkommt. Sie erfand personajes, die mit den Tücken und Widerständin der realen kolumbianischen Gesellschaft konfrontiert werden und - mit deitlich pädagogischen Absichten hinsichtlich des Publikums - lernen, welches die Fa;etten der Ausbeutung sind. Mit La Ciudad Dorada setzte sich La Candelaria das Zel, in Anlehnung an das Schema der Creación Colectiva nach Buenaventura ein Stüik mit Dialogen zu konstruieren, und es gelang ihnen tatsächlich, auf der Grundlag von Improvisationen eine Fabel mit durchgehenden Figuren und einem Konflkt zu erstellen. Aber gleichzeitig offenbarten sich auch die Tücken der Methode Die Figuren blieben auf Stereotypen reduziert, eine Verkörperung gesellschafticher Probleme und ihrer (theoretischen) Lösungsmöglichkeiten, abstrakt, ohne iidividuelle Züge. Ihr Lebensweg bildete nun zwar den dramaturgischen roten Fadul des Stücks, aber ihre Persönlichkeiten blieben nur skizzenhaft. Aus ihrer iieologischen Determination heraus fungierten sie als Platzhalter für die theseihafte Gegenüberstellung von Unterdrücker und Unterdrückten, von gut und böse. Theatralische, handwerkliche und dramaturgische Unerfahrenheit und iieologische Einseitigkeit spielen bei dieser Probelmatik eine Rolle, schließlich abe- liegt es auch an der Methode selber, wenn, ausgehend von der Absicht, eine lojische Fabel mit antagonistischen Kräften zu erstellen, Sachverhalte in ihrer Personfizierung durch Theaterfiguren schematisiert dargestellt werden.
IL Guadalupe años sin cuenta: kollektiver Entstehungsprozeß, Stück und Aufführung
Guadalupe años sin cuenta, die dritte Creación Colectiva von La Candelaria, ist das erfolgreichste Stück aus der ersten Periode ihrer kollektiven Theaterarbeit. Das Stück hat seit 1975, dem Jahr seiner Premiere, seinen Bezug zur Gegenwart des kolumbianischen Alltags nicht eingebüßt und wird bis heute aufgeführt: "Wir wünschten, es wäre ein historisches Stück, aber die Regierung fühlt sich genötigt, für Aktualität zu sorgen", wiederholt Santiago Garcia regelmäßig in seiner Ansprache vor jeder Vorstellung. Bisher kann das Stück auf ca. 1500 Aufführungen u.a. auch beim HorizonteFestival 1982 in Berlin zurückblicken. Außer in Kolumbien ist es in Mexiko, Angola und den USA inszeniert worden. 1 1976 erhielt es als erste Creación Colectiva den Preis des überregionalen kubanischen Kulturinstituts Casa de las Americas für das beste lateinamerikanische Theaterstück des Jahres. Der mehrdeutige Titel des Stücks weist auf den historischen Zeitraum seiner Handlung, die Violencia der 50er Jahre (años cincuenta), sowie auf seine Hauptperson: den Widerstandskämpfer Guadalupe Salcedo Unda, der trotz Rojas Pinillas Amnestie der politischen Guerilleros 1957 hinterrücks erschossen wurde. Sin cuenta heißt auch so viel wie 'ohne Erzählung'; damit kündigt La Candelaria die ideologische Tendenz ihres Theaters bereits im Titel an: die Aufdeckung der 'unerzählt' gebliebenen Geschichte. Die Produktion reiht sich in die Serie der historischen Stücke des NTC aus den frühen 70er Jahren ein und leistet einen wichtigen Beitrag zur Neu-Interpretation der kolumbianischen Geschichte: "Many historians in Colombia consider with this play theatre has gotten ahead of historians investigating history." 2
1
Teatro La Candelaria: »Una historia que continua«, in : Teatro La Candelaria 1966-1986, Zeitschrift anläßlich des 20jährigen Jubiläums, 1986: 14
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Daily World:»La Candelaria, People' s theatre in Colombia«, 4 . 2 . 1978, keine weiteren Angaben, aus dem Archiv von La Candelaria
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Die kollektiv erarbeitete Aufführung ist auf der Grundlage von Improvisationen entstanden. Da alle Schauspieler gleichermaßen am Schöpfungsprozeß beteiligt waren und weder Fabel noch Dialog am Beginn festlagen, flössen die Erfahrungen, Lebensgeschichten und Erlebnisse aller Schauspieler in den Entstehungsprozeß des Stückes mit ein. 1 Gleichzeitig zog die Gruppe bei Sachverhalten, über die sie selbst nicht genügend Erfahrung oder Information besaß, die Hilfe von Fachleuten hinzu. Schließlich aber auch schöpfte sie ihr Material aus den Erlebnisberichten von Augenzeugen und Betroffenen. Das gesamte Material gießen die Schauspieler in die Form einer Fabel, welche die Wirbelsäule des Stückes bildet. In der Aufführung gelangt somit das Selbsterlebte wie auch das gemeinsam erworbene Wissen über kolumbianische Lebensverhältnisse in der Fabel und in den theatralischen Bildern zum Ausdruck. Die Sprache der Bilder, ihre Gestaltung mit den spezifischen Mitteln der Schauspieler, seinem Körper, seiner Stimme, seiner Gestik, seiner Mimik und seiner Erfindungsgabe sowie die Authentizität des Gespielten sind theatralische Elemente, die dazu führen, daß die gestalterischen Merkmale des Theaters stärker in den Vordergund treten als die verbalen und daß die Spielweise eine visuelle Komplexität erreicht, welche die Fabel des Stückes als solche nicht erkennen läßt. Im folgenden wird nach der Veranschaulichung der kollektiven Arbeitsweise bei der Entstehung des Stücks anhand der Analyse seiner Fabel und seiner Aufführung gezeigt, inwieweit die 'strenge Form' der Creación Colectiva im Hinblick auf eine Dramatik im konventionellen Sinn recht bald ihre Grenzen offenbart, im Hinblick auf eine nationale Dramatik im Sinne des NTC jedoch gestalterische Möglichkeiten eröffnet, die der angestrebten Komplexität des theatralischen Bildes durchaus zugute kommen.
1. Die Entstehung des Stücks Guadalupe años sin cuenta ist in einem Zeitraum von eineinhalb Jahren zwischen 1973 und 1975 in täglich vierstündiger morgendlicher Probenarbeit entstanden. La Candelaria teilt die gesamte Probenarbeit in drei Phasen ein: Bestimmung und Untersuchung des Themas, Suche nach theatralischen Bildern sowie einer Struktur des Stücks auf der Grundlage von Improvisationen und schließlich die Festlegung der Dialoge und die Szenenmontage. 2
i 2
Der Vater des Schauspielers H. Forero z.B. wurde während der Violencia verfolgt, mit dem Tode bedroht und vertrieben. Vergl. dazu Kap. 1.1. im 2. Teil der vorliegenden Untersuchung. Teatro La Candelaria 1986: 13f
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In Anlehnung an die Methode der Creación Colectiva von Buenaventura und dem TEC hat sich La Candelaria auf ein zentrales Begriffspaar geeinigt, das dem Konstruktionsvorgang der Fabel des Stücks zugrundeliegt: Tema und Argumento. Mit Tema bezeichnet La Candelaria die "Substanz des Inhalts", mit Argumento die "Substanz der Form", 1 d.h. diejenigen Ursachen und Handlungen, anhand derer das Thema sich konkretisiert. Das besondere Problem einer Creación Colectiva ohne festgelegten Stücktext besteht in der Undeutlichkeit des Themas zu Beginn der Produktion. Die nähere Bestimmung und Konkretisierung des Themas ist das Ziel des Schöpfungsprozesses. Dieser Vorgang erfolgt durch die Suche nach einem Argumento mit dem Mittel der Improvisation. Das Argumento schließlich bildet die Basis für die Konstruktion einer Fabel. Erst wenn der Handlungsablauf des Stücks festgelegt ist, hat die Gruppe auch definitive Klarheit über das Thema erlangt. 1.1. Die Bestimmung und Untersuchung des Themas Erster Schritt: die erste Annährung an das Tema (Motivación) Eine erste Idee für das Thema entstand bei der Produktion von Guadalupe auf einer gemeinsamen Reise der Theatergruppe in die Llanos Orinetales, wo sie zu einem Sport- und Kulturfestival eingeladen war. Dort begann sie sich für die música llanera zu interessieren, für die Rhythmen und für die Lieder, in denen die Geschichte des liberalen Aufstands in den Llanos zur Zeit der Violencia erzählt wurde. So wuchs allmählich das Interesse der Gruppe an der Geschichte dieses im Osten Kolumbiens gelegenen Landstrichs. Sie lernte Leute kennen, die die Ereignisse miterlebt hatten. Der Autor Aturo Atalape trat der Gruppe bei. Er besaß Tonbandaufnahmen von Interviews mit alten Guerilleros. All diese Anregungen motivierten die Schauspieler schließlich, ein Stück über die liberalen Guerilleros in den Llanos Orientales zu machen. 2 Die Entscheidung für ein Tema verläuft rein intuitiv. La Candelaria strebt nicht danach, den Gegenstand eines Stückes von vornherein theoretisch festzulegen, sondern legt sehr viel Wert auf die erste gemeinsame Intuition der Gruppe, weil sich ihrer Meinung nach der kollektive Charakter einer Produktion genau darin offenbart: "Para acometer el trabajo de una obra, el grupo no espera una propuesta individual del director o de algún miembro del colectivo. Por el contrario esperamos que la propuesta venga de la misma realidad circundante y den1
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tro de la que se mueve el grupo. De ahí la importancia de que los integrantes estén activamente interesados en la realidad política social del país." 1 Zweiter Schritt: Nachforschungen über das Thema Nach der intuitiven Annäherung an das Thema erfolgt die rationale. Bei Guadalupe vertiefte La Candelaria die Informationen, die sie aus erster Hand über die Ereignisse zur Zeit der Violencia erhalten hatte, in insgesamt 19 Seminaren, die sie mit Historikern und Soziologen über die Bauern- und Guerillakämpfe in jener Zeit veranstaltete. Dazu kam die gemeinschaftliche Lektüre von Werken wie Las guerrillas del Llano von Franco Isaza. 2 Ein Teil der Gruppe unternahm eine zweite Reise in die Llanos, um die Volksmusik dieses Gebiets eingehender zu studieren und die typischen Instrumente Harfe, Cuatro und Marácas zu erlernen. Dritter Schritt: die nähere Bestimmung des Themas Aus dem gesammelten theoretischen Material erstellten die Schauspieler eine Chronologie der historischen Ereignisse in den Llanos Orientales zur Zeit der Violencia, die ihnen als Arbeitsgrundlage diente. Durch die Strukturierung des vorhandenen Materials war es möglich, eine erste, vorläufige Bestimmung des Themas vorzunehmen: das Stück sollte vom Tod Guadalupes und von dem Verrat der liberalen Politiker an den liberalen Bauern handeln. 3 Aufgrund dieser thematischen Arbeitshypothese begann die Gruppe mit den ersten Improvisationen. 1.2. Suche nach theatralischen Bildern und einer Struktur des Stücks auf der Grundlage von Improvisationen In dieser Phase probierten die Schauspieler aus, inwieweit sich das vorhandene Material theatralisieren ließ, d.h. inwieweit man daraus eine Fabel mit einem zentralen Konflikt und einem Handlunsgablauf ableiten und Situationen erstellen konnte, die sich dazu eigneten, in theatralische Bilder umgesetzt zu werden. La Candelaria selektierte zunächst aus der Chronologie der Ereignisse einige Episoden, die sie mit analogen Improvisationen konfontrierte. 4 Auch beim improvisatorischen Spiel mißt die Gruppe der Intuition einen hohen Stellenwert bei. Die Improvisationen, deren Resultate zu den ersten Rohentwürfen möglicher Szenen oder Szenensequenzen und zur Konstruktion der Fabel führen, sollen durchaus assoziative oder spontane, ungeordnete Züge tragen. Der Schauspieler Hernando Forero erinnert sich an ein Beispiel aus der ersten Improvisations1
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Isaza: Las guerrillas del Llano, 1956
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vergl. Nielo 1982: 123
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Teatro La Candelaria 1986: 13
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phase. Vorgabe war, Bilder zu dem historischen Ereignis des Putsches zu erfinden, der 1953 gemeinsam von den Liberalen und Konservativen inszeniert wurde: "De la escena del 'golpe de estado' hicimos 15 improvisaciones. Por ejemplo una muy buena que me gustaba mucho era que estaba una señora en una piscina con su marido, entonces era un telón así, se dejaba, y la señora: Juuhhhuuu Entonces de pronto llegaba un tipo así como de negro, dijo un secreto al señor, y entonces el señor dice el secreto a la señora, y ella gritaba: hay dios mío, que nos han dado golpe de estado, qué hay que hacer esta noche?" 1 Aus einer großen Anzahl derartiger spontaner bildhafter Improvisationen und durch ihre anschließende Analyse schälen sich allmählich die wichtigsten Erfindungen heraus, die den allgemeinen Charakter des Handlungsablaufs festlegen. Kriterium der Analyse ist dabei nicht die Beurteilung der schauspielerischen Leistung oder der künstlerischen Qualität der Bilder, sondern die Frage, inwieweit eine dialektische Beziehung zwischen den Elementen, die das Argumento bilden und denen, die das Tema ausmachen, hergestellt wird und Anspielungen auf das aktuelle kolumbianische sozio-politische Umfeld zu erkennen sind. 2 Dieses Kriterium ist allerdings insofern schwierig zu handhaben, als es keine konkreten Anhaltspunkte für die Beurteilung der Improvisationen bietet, zumal dann nicht, wenn Tema und Argumento des Stücks noch unklar sind. Bei den Probenarbeiten zu Guadalupe hat La Candelaria durch die Unklarheit über das Thema drei Monate Zeit verloren: "Tomamos por un camino herrado ilusionados por el descubrimiento de un personaje muy atractivo, pero que salía de las líneas tematicas y arguméntales en la obra que estábamos creando. Esto lo descubrimos mas tarde cuando pudimos tener mayor claridad sobre el tema." 3 Aus diesem Anlaß haben die Schauspieler nach der Produktion von Guadalupe beschlossen, die Gruppe nach den ersten Improvisationen in verschiedene kleinere Kommissionen einzuteilen und Vorschläge für die Struktur der Fabel zu diskutieren. Aus den Resultaten der Diskussion wird schließlich eine "Arbeitshypothese über die Struktur der Fabel" destilliert. Um Tema und Argumento dabei jeweils besser differenzieren zu können, hat die Gruppe zwei weitere Begriffe eingeführt: líneas tematicas und líneas argumentóles. Letzterer bezeichnet verschiedene Ebenen und Formen, in denen das allgemeine 1
aus einem persönlichen Interview, November 1984
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Thema sich auf der Handlungsebene oder in Bildern konkretisiert. In Guadalupe w u r d e mit zwei thematischen Linien gearbeitet: die A u s l i e f e r u n g und der Widerstand (der Guerillabewegung). 1 Diese beiden thematischen Linien ziehen sich wie Leitfäden durch die Szenen des Stückes. Um sie aus ihrer abstrakten Begrifflichkeit zu lösen, sucht La Candelaria im Anschluß an die hypothetische Bestimmung der thematischen Linien in ihren Improvisationen nach Möglichkeiten, sie theatralisch zu konkretisieren. Die Konkretisation erfolgt durch Bilder, welche Situationen zusammenfassen, in denen sich der Konflikt zwischen Auslieferung und Widerstand ausdrückt; oder sie erfolgt durch die Erfindung von personajes, Figuren, welche antagonistische und protagonistische Kräfte des Konflikts personifizieren. Sie bilden die líneas argumentóles, in welchen die líneas temáticas eine Form erhalten. In Guadalupe haben sich im Laufe der Improvisationen zwei Figuren herauskristallisiert, der Soldat Robledo und der campesino und Widerstandskämpfer Jerónimo. Sie repräsentieren die líneas argumentóles. In der prototypischen Gegenüberstellung von 'Soldat' und 'Guerillero' verkörpern sie die oppositionellen thematischen Linien 'Auslieferung' und 'Widerstand'. Sie konkretisieren den thematisch festgelegten Konflikt auf der Handlungsebene. Das Schicksal beider Figuren bildet den Leitfaden für den Verlauf der Fabel. 2 Wenn die Gruppe die thematischen Linien durch die Erfindung von Situationen und Figuren konkretisiert hat, kann sie das tema general, das allgemeine Thema des Stücks, endgültig festlegen. Im Falle von Guadalupe heißt es 'Die Auslieferung'. Dieses allgemeine Thema umfaßt den allgemeinen, zentralen Konflikt (Regierung contra Widerstandsgruppe), die thematischen Linien sowie die Nebenkonflikte des Stücks. Diese N e b e n k o n f l i k t e lauten: die Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen, die Rolle von Guadalupe, die Komplizenschaft der Justiz und des Klerus mit der konservativen Regierung, die Entsendung der kolumbianischen Truppen nach Korea und schließlich der Einfluß der nordamerikanischen Armee auf das k o l u m b i a n i s c h e Militär. 3 Sie werden theatralisch in verschiedenen Situationen bildhaft konkretisiert. So wird z.B. die fünfte Szene, Die Aussendung der Truppen nach Korea, von e i n e r S e q u e n z e i n g e l e i t e t , w e l c h e die kolumbianischen Soldaten bei einem nordamerikanischen Counter-InsurgencyTraining zeigt.
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vergl. Nielo 1982: 133
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1.2.1. Die Funktion des Direktors Der Direktor der Gruppe, Santiago Garcia, nimmt in der Improvisationsphase die Funktion des Koordinators und Anleiters ein, spielt gleichzeitig aber auch in den Improvisationen und in der Vorstellung mit. Er erinnert an alte Vorsätze, füllt Wissenslücken, 1 sorgt dafür, daß die Improvisationen nicht ausufern und trifft die letzten Entscheidungen über die dramatische Struktur des Stücks. Er realisiert aber weder in den theatralischen Bildern, noch in den Dialogen, noch bei der gestalterischen Ausfeilung der Szenen eigene Ideen, sondern reagiert nur auf das, was die Schauspieler ihm anbieten. Ohne Zweifel bringen diese Anforderungen Probleme mit sich. Die besondere Schwierigkeit dieser Funktion liegt laut Garcia in der Notwendigkeit, die eigenen Ideen zu vergessen, ständig bereit zu sein, sich überraschen zu lassen und trotzdem den eigenen Zweifel nicht auszuschalten, um alle Wege offenzulassen. 2 Auf der anderen Seite hat sich Garcia gerade durch diese Haltung bei den Schauspielern der Gruppe großen Respekt verschaffen können, der bei allen Produktionen wie eine unsichtbare Orientierungshilfe wirkt und ohne den die kollektive Arbeit möglicherweise gar nicht realisierbar wäre. 1.3. Dialoge und Szenenmontage Für die endgültige Montage der Szenen werden in den letzten Improvisationsrunden, die gleichzeitig als Durchläufe dienen, Vorschläge zu Bühnenbild, Kostümen, Musik und Dialogen eingebracht. In dieser Phase findet auch die Rollenverteilung statt, die in den meisten Fällen vom Diektor vorgenommen wird. Anschließend werden Kommissionen zu den einzelnen Bereichen gebildet, welche die Vorschläge selektieren und für die Aufführung festlegen. Bei der Produktion von Guadalupe anos sin cuenta war Aturo Atalape bei der Textfassung behilflich. Ebenso wie die endgültige Gestalt der Aufführung entsteht die endgültige Textfassung erst im Laufe der ersten Vorstellungen vor Zuschauem. Ausgehend von ihren Reaktionen während der Aufführungen und den Diskussionen danach ändern die Schauspieler unzutreffende oder spielerisch nicht zufriedenstellende Passagen bis hin zu ganzen Szenen oder Figuren. Da die Schauspieler die gesamte Aufführung eigenverantwortlich erarbeiten, beherrschen sie das Bühnengeschehen in jeder Beziehung. Sie verfügen über genügend Souveränität und Flexibilität im
Während meiner Teilnahme bei den Proben zu Corre Corre Carigüeta erinnerte Garcia daran, daß Szenen nicht naturalistisch gespielt werden sollten oder hielt auch kurze Vorträge z.B. Uber die klassische griechische Tragödie, aus einem persönlichen Interview, November 1984
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Spiel, um mit dem Publikum zu kommunizieren 1 und Änderungsvorschläge, die in den Diskussionen nach den Vorstellungen angeregt werden, umzusetzen. So ist bei Guadalupe eine der wichtigsten Figuren im Stück, der liberale Großgrundbesitzer Don Floro aus den Llanos Orientales, erst im Laufe der ersten Aufführungen entstanden. Noch die Erstaufführung fand mit einer Figur namens Estrepo statt, einem liberalen Führer, der von den Guerilleros ermordet wurde. Erst durch die Diskussionen mit dem Publikum, in dem auch viele Gewerkschaftler saßen, wurde diese Figur später durch Don Floro ersetzt. 2 In dieser letzten Phase vor allem manifestiert sich die offene Form des Theaterereignisses, die seinen gesamten Entstehungsprozeß bestimmt.
2. Fabel und Figuren des Stücks La Candelaria entfaltet das zentrale Thema mit seinen Nebenaspekten, indem sie in einer Bild- und Musikcollage von 14 Szenen in historischer Chronologie nacherzählt, was sich während der Violencia in den Llanos Orientales und in Bogotá ereignet hat. Die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum, der mit der Regierung Gómez 1949 einsetzt und mit dem Mord an Guadalupe nach dem Sturz des Militärdiktators Rojas Pinilla endet. Die Szenen spielen abwechselnd in Bogotá oder den Llanos. Sie werden jeweils durch Musikeinlagen unterbrochen, bilden aber in sich geschlossene Einheiten von Ort, Zeit und Handlung. Die Titel der Szenen, die im Stücktext angegeben sind, beziehen sich auf die jeweils zentralen Ereignisse in den Szenen: 'Der Komplott', 'Der Brief, 'Die Truppe', etc. Die Ermordung Guadalupes bildet den Rahmen des Stücks. Er stirbt hier zweimal: am Anfang nach offizieller Regierungsversion als wild um sich schießender Bandit und am Ende gemäß der wahren Sachlage als Opfer des Militärs. Zwischen diesen beiden Szenen rollt das Stück die Ereignisse und Gründe auf, die zum Mord an Guadalupe führen.
Dario Fo beschrieb die Art der Kommunikation, die ich hier meine, einmal sehr treffend: "Ein Schauspieler bringt die Leute zum Lachen, indem er eine Bemerkung in das Publikum wirft, so wie man eine Angel auswirft. Dann paßt er auf. Er muß in einem bestimmten Augenblick die Reaktion des Publikums sozusagen einholen." In: H. Jungblut: Das politische Thealer Dario Fos, 1978: 46 aus einem pers. Interview mit H. Forero.
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2.1. Kurze Zusammenfassung des Handlungsablaufs Prolog: Die Militärs sichern Guadalupe zu, sein Leben zu schonen, wenn er mit erhobenen Händen aus seinem Versteck komme. Nach mehrmaliger Ermahnung erscheint Guadalupe wild um sich schießend und wird daraufhin niedergestreckt. 1. Szene: 'Die Rekonstruktion' In einer kriminalistischen und juridischen Rekonstruktion des Mordes wird die offizielle Todesversion der Militärs überprüft. Zwei Zeugen bekräftigen die Aussagen des Oberleutnants; die dritte Zeugin, die vom Anklagevertreter vorgeführt wird, widerspricht diesen Angaben und sagt aus, daß Guadalupe mit erhobenen Händen zum Vorschein gekommen und wehrlos erschossen worden sei. Daraufhin wird die Rekonstruktion des Falles eilig von den Militärs abgebrochen. 2. Szene: 'Die Truppe' Sie spielt in den Llanos Orientales im Jahr 1949. Das Gebiet ist von Soldaten besetzt. Ein Armeetrupp exerziert. Ein Kopfgeldjäger mit sechs gefangenen liberalen Bauern passiert die Truppe. Da er die Pässe von insgesamt zehn Bauern bei sich hat (das Geld für die Gefangenen bekommt er gegen Vorlage der Ausweise) und der Sargento ihn nach dem Verbleib der vier dazugehörigen Personen befragt, entsteht ein Streit um die Machtkompetenz in den Llanos: "Pero si antes era todo lo contrario con la policía y los retenes. Lo importante son las cédulas. Sargento: Agente, la situación ha cambiado. El ejército llegó aquí a poner orden." 1 Der liberale Großgrundbesitzer Don Floro kommt hinzu und versucht, den Streit zu schlichten. Er entdeckt seinen Angestellten Jerónimo unter den Gefangenen und protestiert gegen dessen Festnahme. Er verlangt, daß der Fall an höherer Stelle geklärt und Jerónimo wieder freigelassen wird. Der Soldat Robledo wird beauftragt, Jerónimo zu bewachen, bis der Sargento und die übrigen Soldaten mit dem Resultat der Verhandlungen zurückkommen. Jerónimo und Robledo beginnen ein Gespräch und entdecken, daß sie aus dem selben Dorf stammen. Jerónimo versucht, Robledo zu überreden, ihn freizulassen und sich ebenfalls "der liberalen Revolution in den Llanos" 2 anzuschließen, bis der Sargento zurückkehrt, die Unterhaltung der beiden unterbricht und Robledo strafexerzieren läßt.
1
Teatro La Candelaria 1986: 142 "Früher war hier alles anders, als die Polizei die Truppen kommandierte. Damals zählten die Ausweise. Sargento: Die Situation hat sich geändert. Jetzt ist die Armee hier, um für Ordnung zu sorgen."
2
ebd.: 148
1 28
3. Szene: 'Die Türen' Ort der Handlung ist Bogotá. Die liberalen Politiker sind unruhig. Sie fürchten repressive Maßnahmen der konservativen Regierung und rennen sich gegenseitig die Türen ein, um zu beratschlagen, wie sie sich zu verhalten haben. Die Ehefrau eines liberalen Politikers, Margarita, beauftragt ihren liberalen Geliebten Armando im Namen ihres Mannes, gemeinsam mit den liberalen Guerilleros aus den Llanos den Widerstand gegen die Konservativen zu organisieren. 4. Szene: 'Die Kuh' Die Bauern warten auf die Ankunft von Guadalupe und auf eine Lieferung Waffen und Medikamente von der liberalen Parteiorganisation. Jerónimo bringt eine Kuh, die wegen der Wirtschaftsblockade, die über die von der Guerilla besetzten Llanos verhängt wurde, nur unter größten Schwierigkeiten zu bekommen war. Die Militärs führen einen Luftangriff aus, die Kuh wird dabei getötet. 5. Szene: 'Die Aussendung der Truppen nach Korea' Kolumbiansche Truppen ziehen in den Korea-Krieg, nachdem die UN ihre Mitgliedstaaten um die Unterstützung der USA gebeten haben. Kirche, hohes Militär und Politiker verabschieden die Soldaten. 6. Szene: 'Der Angriff Die Bauern bereiten einen Angriff auf die Regierungstruppen vor. Jerónimo überwacht, sein Gewehr im Anschlag, ein Boot der Regierungstruppen, das über den Fluß setzt und immer näher kommt. Angstvoll erinnert er sich an seine Kindheit. Damals wurde sein Dorf von Soldaten in Brand gesteckt. Schließlich eröffnen die Bauern ihren Angriff aus dem Hinterhalt. 8. Szene: 'Die Friedenskampagne' Die aus Korea heimkehrenden Soldaten werden von Vertretern der Kirche, des Staates und des Militärs empfangen und geehrt. Robledo bekommt einen Orden. Liberale und Konservative schließen aus diesem Anlaß unter gemeinsamen Beschwörungen des zukünftigen Friedens ein Bündnis. 9. Szene: 'Die Kneipe' Robledo feiert mit seinen Freunden in einer Kneipe in den Llanos seine Rückkehr aus Korea. Er betrinkt sich und fällt in ein Delirium, in dem sich seine Erinnerungen an den Krieg mit Erinnerungen an seine Mutter vermischen. Er schwankt zwischen Größenwahn ("I am the colombian tiger!") und kindlicher Verzweiflung ("Mamacita, verlaß mich nicht!"). Betrunken wie er ist, geht er vor die Tür, um die Guerilleros herauszufordern. Er wird angeschossen.
1 29
10. Szene: 'Die Pressekonferenz' Sprecher der Regierung und des Militärs geben eine internationale Pressekonferenz, um die Friedensabsichten der Regierung zu demonstrieren. 11. Szene: 'Der Brief Don Floro liest den Bauern einen Brief von der liberalen Parteileitung vor, in dem sie aufgefordert werden, ab sofort jede Gewaltanwendung zu unterlassen und die W a f f e n abzugeben. Die Bauernbewegung spaltet sich. Eine Gruppe stellt sich hinter die liberale Parteileitung und Don Floro, eine andere Gruppe will den Widerstand nicht aufgeben, weil sich durch den von den Liberalen verordneten Frieden an ihrer eigenen Situation nichts geändert hat. Diese Gruppe, angeführt von Jerónimo, trifft nun eine bewußte Entscheidung für den Guerillakampf. 12. Szene: 'Der Komplott' Margarita und ihr Mann sind aus Bogotá zurückgekehrt. Die Liberalen haben ihre Machtposition wieder stabilisieren können. Sie organisieren mit den Konservativen zusammen einen Militärputsch, um auf diese Weise die Widerstandsbewegungen, die während der Violencia auf dem Land erstarkt sind, in den Griff zu bekommen. 13. Szene: 'Die Wäscherinnen' In den Llanos wird die Lage immer gespannter. Das Militär hält das Gebiet besetzt. Robledo horcht Wäscherinnen aus und bedroht sie, um Jerónimo auf die Spur zu kommen. 14. Szene: 'Die Auslieferung' 13.9.1953: Die liberalen Guerilleros werden unter Amnestieversprechungen aufgefordert, ihre Waffen herauszugeben. Guadalupe nimmt das Angebot an und wird in einem Festakt der Waffenübergabe als Held gefeiert. Epilog: "Silencio total. Aparece Guadalupe Salcedo con el rostro enmascarado en blanco y con las manos en alto. Se dirige lentamente al centro del escenario. Se detiene. Se escucha un tiroteo cerrado. Cae Guadalupe Salcedo." 1 2.2. Die Struktur des Stücks Die Montage der oben beschriebenen Szenen ergibt in ihrer losen Aneinanderreihung eine mosaikartige Bilderfolge der Geschichte in den Llanos Orientales. Der Gang der historischen Ereignisse wird im Zeitraffertempo zusammengefaßt. Während z.B. die zweite Szene von der militärischen Besetzung der Llanos im Jahr 1
ebd.: 224 "Absolute Stille. Guadalupe Salcedo erscheint mit weiß maskiertem Gesicht und erhobenen Händen. Er gehl langsam auf die Mitte der Bühne zu. Er hält an. Man hört einen verdeckten Schuß. Guadalupe Salcedo fällt."
1 30
1949 handelt, verlegt die dritte Szene das Geschehen mit einem abrupten Sprung in das Jahr 1951, in dem die Liberalen beschlossen, den Widerstand der Lianeros für ihren eigenen Kampf gegen die konservative Regierung auszunutzen. Die jeweiligen Ereignisse werden nicht als logische Handlungsabfolge präsentiert, da der Erzählfluß von Szene zu Szene unter anderem durch musikalische Einlagen unterbrochen wird. Sie stehen situativ nebeneinander und vermitteln in ihrer Abfolge den Eindruck eines Stakkato. Durch die unterbrochene Struktur des Handlungsablaufs insgesamt und durch die regelmäßigen Ortswechsel von Szene zu Szene legt La Candelaria auf undokumentarische Weise den inneren Zusammenhang zwischen der politischen Konspiration in Bogotá und den Ereignissen in den Llanos nahe, ohne explizit in langatmiger, detailgetreuer historischer Berichterstattung Geschichtsunterricht über die Gründe des Widerstandskampfes zu erteilen. Das Prinzip der Unterbrechung funktioniert als verfremdendes Element, durch das die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die "Knoten der Geschehnisse" jeweils in den einzelnen Szenen gelenkt wird und er "mit dem Urteil dazwischenkommt",! wie Brecht einmal ganz bildlich beschrieb. Der epische Aufbau des Stücks, die Unterbrechung der Abfolge der Ereignisse in ihrer Chronologie, ist nicht nur ein Resultat ideologischer Motive, d.h. der Absicht, Einfühlung in das Bühnengeschehen zu vermeiden und satt dessen zu eigenständiger Reflexion der Zusammenhänge zu veranlassen. Der epische A u f b a u ist auch ein Resultat der Entstehungsweise des Stücks. Die Improvisationen über einzelne Episoden aus der Geschichte der Violencia haben zur Erfindung in sich abgeschlossener Situationen geführt. In ihrer Aneinanderreihung bilden sie das Stück, wodurch es in seiner Gesamtheit keinen inneren Fluß kennt. Jede einzelne Szene beginnt mit einem neuen, abrupten Einstieg in eine Situation.Trotzdem hängen die Szenen nicht lose und unverbunden aneinander. Durch die strukturierende Arbeit mit Tema und Argumento des Stücks ist es der Gruppe gelungen, eine Fabel zu konstruieren, die sich wie ein Korsett um die einzelnen Szenen schmiegt und durch die in allen Szenen wiederkehrenden thematischen Linien eine inhaltliche Verbindung zwischen ihnen herstellt. 2.2.1. Die spiegelbildliche K o n s t r u k t i o n der Fabel Die Fabel unterliegt einer straffen, schematischen Konstruktion, die sich in ihrer beinahe symmetrischen, spiegelbildlichen Struktur zeigt:
Brecht: »Kleines Organon für das Theater« in: Über Politik auf dem Thealer, 1971: 50
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3 PROLOG DIEREKON- D E TRUPPE STRUKTION
(Llanos)
DIE TÜREN (Bogotá)
DIE KUH DIE AUSSENDUNG DAS GESPRÄCH DER ANGRIFF (Llanos)
DER TRUPPEN
(Bogotá)
(Llanos)
NACH KOREA Der (unsichtbare)
Soldaten
Guadalupe
Guerilla
(Konservative)
(Robledo
(Armando)
Liberale
Jerónimo)
Llaneros
(internationale
Liberale
Guerilla
Guerilla
Verflechtung)
Guerilla
(Jerónimo)
(Don Floro
Soldaten
(Armando
(Konservative,
Jerónimo)
(Robledo)
Jerónimo)
nicht sichtbar)
8 DIE FRIEDENSKAMPAGNE (Bogotá) Kehrtwende der liberalen Politik: Versöhung mit den Konservativen
14
13
12
11
EPILOG DIE AUSUE- DIE WÄSCHERIN. DER KOMPLOTT DER BRIEF FERUNG
io DIE PRESSE-
9 DIE KNEIPE
(Llanos)
(Bogotá)
(Llanos)
KONFERENZ
(Llanos)
Der (unsichtbare)
Soldaten
Liberale
Llaneros
(alternation.
Soldaten
Guadalupe
Guerilla
(Konservative)
Guerilla
Öffentlichkeit)
(Robledo)
(Robledo
(Armando)
Jerónimo)
( D o n ROTO
Jerónimo)
(Guerilla, nicht sichtbar)
Abgesehen von den gleichmäßigen Ortswechseln von Szene zu Szene zeigt sich die Regelmäßigkeit des Aufbaus folgendermaßen: aus dem obigen Schema ist zu erkennen, daß Szene 8 (die Friedenskampagne) den Mittelpunkt des Stückes bildet. Diese Szene führt das zentrale Thema (die Auslieferung) zu einem dramatischen Wendepunkt. Vor Szene 8 wird gezeigt, wie die liberalen Politiker zusammen mit den Bauern gegen die konservative Regierung kämpfen. Nach der 8. Szene, in der Konservative und Liberale einen neuen Friedensbund schließen, wird die Scheinheiligkeit der liberalen Politik gegenüber den Bauern deutlich. Die Gruppe führt die Konsequenzen der verräterischen liberalen Politik vor. In der formalen Umsetzung der inhaltlichen Wende teilt Szene 8 das Stück in zwei Hälften, die einander spiegelbildlich gegenüberstehen. Die Symmetrie offenbart sich in der Anordnung der Protagonisten und Antagonisten in den einzelnen Szenen. In auffallender Regelmäßigkeit kehren jeweils die Konstellationen der besonderen konflikttragenden Figuren der ersten Hälfte des Stücks in der zweiten Hälfte wieder. 1 Die so erreichte Spiegelbildlichkeit findet Die Ausnahme bildet Szene 6. Sie kann als eine Art 'Vorbereitung' auf den Wendepunkt in Szene 8 interpretiert werden, weil die trügerische Haltung der liberalen Parteileitung hier zum ersten Mal offen gezeigt wird.
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ihrenWiderhall im Verhältnis der Rahmenszenen zueinander. Dabei kommt jede mögliche Konfliktkonstellation, die das Thema des Stückes zuläßt (SoldatenGuerilla, Liberale-Konservative, Liberaler Hacendado- Guerilla) jeweils einmal vor der achten Szene und einmal nachher vor. So werden die verschiedenen Aspekte des zentralen Themas jeweils in spiegelbildlich einander gegenüber-liegenden Szenen dramatisiert. Die Schematisierung der Konfliktkonstellationen (fuerzas en pugna) ist ein Ergebnis der Fabelkonstruktion auf der Grundlage von lineas tematicas und lineas argumentales, die das zentrale Thema mit seinen verschiedenen Aspekten in jeder einzelnen Szene konkretisieren. Daß die Konfliktkonstellationen aus der ersten Hälfte spiegelbildlich in der zweiten wiederkehren, läßt darauf schließen, daß gezeigt werden soll, inwieweit der offene Positionswechsel der Liberalen in der achten Szene Veränderungen im Verhältnis der jeweiligen konflikttragenden Figuren auslöst. Während z.B. das Verhältnis zwischen Don Floro und den Bauern in Szene 4 noch von der Hoffnung bestimmt ist, gemeinsam den Kampf gegen die Konservativen zu gewinnen, wird diese Hoffnung in Szene 11 Lügen gestraft, indem Don Floro sein wahres Gesicht zeigt und die wirklichen Absichten der Liberalen Partei hinsichtlich der campesinos eröffnet. Führt die erste Hälfte des Stücks die Ver-Schleierungstaktik der Liberalen im Verhältnis zu den Bauern vor, so ist es in der zweiten die Ent-Schleierung. Was sich erst als mögliche Entwicklung des Konflikts ankündigt, der im zentralen Thema enthalten ist, erweist sich als Trug, da die Bereitschaft der Liberalen zur Zusammenarbeit und damit auch zur Veränderung der Verhältnisse für die Bauern bloß vorgetäuscht ist; sobald die eigenen Interessen der Partei befriedigt sind, kehrt sich ihre Haltung gegen die Bauern. Die vorgetäuschte Entwicklung im Stück findet ihre Entsprechung in der Symmetrie des Aufbaus und der zirkulären Verknüpfung der Rahmenszenen. Kein lineares Fortschreiten findet statt, sondern eine variierte Wiederholung des Immergleichen. Der Grundtenor des Geschehens bleibt derselbe: der Verrat der liberalen Parteileitung an den Lianeros und deren Auslieferung. 2.3. Die Funktion der Figuren in der Fabel Ein Schlüsselmoment im Theaterkonzept des NTC ist die Abkehr vom bürgerlichen Einfühlungstheater. Damit eng verbunden ist die Abkehr vom naturalistischen, psychologisch interpretierbaren Charakter in der Dramatik. Da die Entwicklung des nationalen Theaters in Kolumbien jedoch die Idee vom Entwurf eigener, kolumbianischer Figuren imlipiziert, steht das NTC vor dem Problem, Figuren zu kreieren, die vom individualistischen bürgerlichen Konzept des Charakters abweichen und
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dennoch innerhalb einer Fabel als komplexe Gestalten funktionieren, menschliche Züge aufweisen und vom kolumbianischen Zuschauer wiedererkannt werden. Auf der Grundlage der Creación Colectiva und in enger Anlehnung an Brechts Konzept vom untragischen Helden und von der epischen Figur1 hat La Candelaria in ihren ersten drei Kollektivproduktionen drei verschiedene Kategorien von Figuren entwickelt: 1. die kollektive Figur, 2. die prototypische Figur und 3. die abwesende Figur. Während Nosotros los Comunes hauptsächlich von den Auftritten kollektiver Figuren geprägt ist und La Ciudad Dorada sich auf die Realisierung prototypischer Figuren konzentriert, vereint Guadalupe años sin cuenta beide Kategorien und führt zusätzlich die der abwesenden Figur ein, welche die Theatergruppe in ihrer vierten Creación Colectiva, Diéz días que estremecieron el mundo, weiterentwickelte.2 Kollektive oder auch "anonyme Figuren", wie Garcia sie nennt, 3 treten meistens in Gruppen auf, haben zugunsten einer Situationsskizzierung eine emblematische Funktion und weisen keine oder nur sehr geringfügige individuelle Züge auf. In Guadalupe machen sie, wie sich bei insgesamt 74 aufgeführten Rollen vermuten läßt, den größten Teil der Figuren aus. Sie tragen keine Eigennamen und sind im Rollenverzeichnis mit Funktionsbezeichnungen versehen: Soldat 1, Soldat 2, Wäscherin 1 oder "einer von Don Floros Leuten". Prototypische Figuren kehren in verschiedenen Situationen oder Szenen im Stück zurück, tragen Eigennamen, fungieren als Repräsentanten einer sozialen Gruppe und treten ab und zu als Einzelpersonen aus der Gruppe heraus. Beispiele im Stück sind Armando, der liberale Politiker; Margarita, seine Geliebte; Don Floro, Serganto Velandia und schließlich Robledo und Jerónimo. Die abwesende Figur, Guadalupe, wird in den Dialogen als Drahtzieher der Ereignisse erwähnt, tritt aber nicht leibhaftig in Erscheinung. Mit der abwesenden Figur vollzieht La Candelaria die radikale Realisation des Anti-Helden. Um Legendenbildung und Identifikation zu vermeiden und um gleichzeitig dem pueblo im vorgeführten Prozeß der Bildung einer Widerstandsbewegung und ihrer Auslieferung einen protagonistischen Platz einzuräumen, nehmen anonyme campesinos und Jerónimo als prototypische Figur des Guerillero die Rolle von Guadalupe ein. Die
1
vergl. W. Benjamin: Versuche über Brecht, 1966:24
2
Ein Stück nach dem gleichnamigen Roman von John Reed. Es war eine Auftragsproduktion der kommunistischen Gewerkschaft und handelt von einer kolumbianischen Theatergruppe, die ein Stück Uber die russische Revolution machen will. In dieser Produktion fungiert Lenin als abwesende Figur. Vergl.: García 1983: 24-45
3
S. García: Seminario sobre el personaje, Publikation der CCT, Juni 1983
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Maske, mit der Guadalupe am Ende des Stücks auf der Bühne erscheint, symolisiert seine Auswechselbarkeit. 2.3.1. Die Figur als línea argumental Wie oben bereits ausgeführt, hat La Candelaria während des Entstehungsprozesses von Guadalupe für die zwei thematischen Linien 'Auslieferung' und 'Widerstand' eine Form gesucht, in der sie theatralisiert werden konnten. Sie entschied sich für die Geschichte zweier Figuren aus dem Volk als líneas arguméntales.1 Diese zwei Figuren sind Jerónimo, ein einfacher Llanero, der eine Entwicklung zum Widerstandskämpfer durchmacht und entsprechend die thematische Linie des 'Widerstands' verkörpert und Robledo, ein einfacher Soldat, der zum Offizier aufsteigt und die 'Auslieferung' repräsentiert. Anhand dieser beider Figuren wird der Konflikt des Stückes entfaltet. Als fleischgewordene fuerzas en pugna bilden sie den Leitfaden der Fabel. Schon die erste Begegnung der beiden kommt einer Exposition des Grundkonflikts des Stückes gleich. In knappen Worten wird er umrissen: "En escena quedan Robledo y Jerónimo. J.: Soldado, ¿de dónde es usted? Me parece que no es de aquí. ¿Hace poco llegó? R.: ¿Como así? ¿Aquí a los Llanos? Pues dos meses. J.: ¿Y de dónde es su persona? R.: Pues, de Tolima. J.: Se me hacía, Yo también. ¿De qué vereda? R.: De El Limón. ¿Conoce? J.: Claro, a todos. ¿Y su familia? R.: De los Robledos...De El Limón. J.: Liberales, ¿no? R.: Todos! (...) J.: Oiga Robledo, si usted es liberal, ¿por qué no me ayuda a escapar? R.: ¿No ve que después me joden? J.: Entonces, ¿por qué no escapamos los dos a buscar la revolución liberal de los Llanos? Muchos soldados liberales han pasado a la revolución. Dese cuenta, hasta el capitán Silva lo hizo con cuarenta soldados...O déjeme escapar esta noche!
vergi. Nieto 1982: 126
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R.: Hombre, a mí no me haga esas propuestas. Ahora soy soldado. Y como soldado no me puedo meter en política. Eso lo dice el teniente. Eso lo dice mi sargento Velandia." 1 Beide, Jerónimo und Robledo, beginnen, wie obiger Dialog nicht ohne Komik offenbart, beim selben Ausgangspunkt. Beide stammen aus dem selben Dorf, beide kommen aus liberalen Famlien. Aber der blutige Feldzug der Konservativen stellte die liberalen campesinos vor eine nahezu aussichtslose Situation. Sie hatten die Wahl, sich abschlachten zu lassen oder Haus und Hof zu verlassen und in die Stadt zu fliehen. Auswege aus dieser Lage waren entweder der Sprung zum Militär, das immerhin eine 'gesicherte' Zukunft garantierte oder der aktive Widerstand. Aus diesem Gegensatz sind die beiden Figuren geboren. Im Verlauf der Handlung exponieren sie parallel zueinander und jeweils exemplarisch beide Alternativen. In der letzten Szene geschieht schließlich das, was in der ersten gerade noch verhindert wurde: Robledo muß Jerónimo ausliefern. Robledo repräsentiert die Repression, seine Entwicklung stagniert, weil sich hierin keine Änderung vollzieht. Jerónimo verkörpert den Widerstand als progressive Kraft, weil er sich in einem persönlichen Erkenntnisprozeß vom liberalen, verfolgten campesino zum entschiedenen Kämpfer gegen die Hegemonie der großen Parteien entwickelt. Das recht starre Grundmuster der beiden exemplarischen, parallel verlaufenden Schicksalswege wird durch die Thematisierung des Verrats der liberalen Partei erweitert. Die liberale Partei bemächtigt sich im Laufe des Stücks beider Kräfte, Teatro La Candelaria 1986: 145-148 "Robledo und Jerónimo bleiben allein auf der Bühne. }.: Soldat, w o kommst du her? Du bist doch nicht von hier? Bist du erst vor kurzem hier angekommen? R.: Wieso? Hier in den Llanos? Tja, vor zwei Monaten. J.: Und woher bist du? R.: Eh, aus Tolima. J.: Das dachte ich mir schon. Ich auch. Aus welcher Sippe? R.: Limón...kennst du die? J.: Klar, alle. Und deine Familie? R.: Robledo...von Limón. J.: Liberale, he? R.: Alle. (...) J.: Hör mal. Robledo, wenn du Liberaler bist, warum hilfst du mir dann nicht, hier abzuhauen? R.: Willst du mich reinreißen? J.: Warum hauen wir nicht beide a b und suchen die liberale Revolution in den Llanos? Viele liberale Soldaten sind Ubergelaufen. Sogar Kapitän Silva mit seinen 4 0 Soldaten. Oder laß mich wenigstens diese Nacht entkommen. R.: Mensch, mach mir doch nicht solche Vorschläge. Ich bin jetzt Soldat. U n d als Soldat darf ich mich nicht in Politik einmischen. Das sagt mein Oberleutnant. Das sagt auch mein Sargento Velandia."
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der progressiven des Widerstands und der repressiven des Militärs, um ihr Ziel, die Erhaltung ihrer Macht, zu erreichen. Somit wird die Fabel um ein thematisches Element bereichert, welches das Stück nicht in die bloße Demonstration eines - im Sinne der revolutionären Ideologie - 'guten' und 'schlechten' Weges entgleiten läßt, sondern beider, Jerónimos und Robledos Abhängigkeit von der offiziellen Politik aufzeigt. Jerónimo endet denn auch nicht als Held des Stücks. In Gleichsetzung mit dem Ende von Guadalupe Salcedo wird er Opfer der scheinheiligen Machtpolitik der großen Parteien: der Darsteller des Jerónimo trägt in der Schlußszene die anonyme Maske des Guadalupe, der erschossen wird. Es interessiert La Candelaria mehr, den Blick für die Mittel zu schärfen, derer sich die hohe Politik bedient, um ihre Hegemonie aufrecht zu erhalten, als politische Propaganda zu betreiben. Die Haltung der Liberalen im Konflikt um die Llanos wird durch zwei Figuren veranschaulicht, die zwei weitere argumentative Linien bilden: Armando, der Parteipolitiker aus der Hauptstadt und Don Floro, der Großgrundbesitzer und hacendado aus den Llanos. Beide sind von der Parteileitung damit beauftragt, "den Widerstand in den Llanos zu organisieren," 1 sind aber letztendlich die Nutznießer des Erhalts der traditionellen Machtkonstellation: Armando verteidigt seinen politischen Posten, Don Floro seinen Einfluß und seine Besitztümer in den Llanos. Beide Figuren stehen im Stück in unmittelbarer Konfrontation mit den Vertretern des pueblo, wodurch die Interessensunterschiede zwischen den jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen exponiert werden. Der wahre Charakter Armandos kündigt sich bereits in Szene 6 an, als Jerónimo ihn in Bogotá trifft, um die lange versprochenen Waffen und Medikamente für den Kampf auf dem Land einzufordern: "J.: Vengo por fusiles, las medicinas, los pertrechos, todo lo que nos han ofrecido... A.: ¿Pero qué piensan ustedes? ¿Que podemos conseguir fusiles a la vuelta de la esquina? (...) J.:.No puedo regresarme con las manos vacías. (...) A.: La situación la estamos arreglando por lo alto. Ustedes sigan en lo que están...pero no vayan a cometer una locura. (...) J.: Pero no podemos seguir esperando (...). Si nos quedamos manicruzados, pues nos acaban la vida. (...) Tenemos miedo. (...) A.: Bueno. Mi querido joven, es suficiente. (...) Regrese a su lugar. Dígale a Guadalupe que mantenga muy en alto la lucha del partido liberal. Que de vez en cuando disparen uno o otro tiro. (...)
1
ebd.: 155
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J.: Pero doctor, ¿con qué fusiles vamos a hacer los disparos? (...) A.: Dígale a Guadalupe que estamos con sus muchachos de todo corazón, de todo corazón." 1 2.3.2. Die Schwierigkeit, komplexe Figuren zu erstellen. Alle Figuren entstehen als Synthesen aus dem gemeinschaftlichen Schöpfungsprozeß und nicht als individuelle Kreationen der Schauspieler. Da sie Thesen verkörpern, neigen sie trotz aller Anstrengungen, simple Freund-Feind-Zuordnungen nicht aufkommen zu lassen, zu einem gewissen Schematismus. Dieser läßt sich kaum mit der Notwendigkeit vereinbaren, kolumbianische Figuren einer nationalen Dramatik zu kreieren, die sich in ihre epische Form einfügen und zugleich greifbar, menschlich und lebendig sind. Die während des Schöpfungsvorgangs notwendige Einigung auf Tema und Argumento, die gemeinsame Analyse und die Distanz eines jeden einzelnen zum bildnerischen Material führen zum Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen. Die Verschmelzung mit der Figur, ein intimes Verhältnis zwischen Schauspieler-Autor und seinen Geschöpfen kann zum Zeitpunkt ihres Entwurfes nicht aufkommen. Intuitive und inkommensurable Momente bei der Konstruktion des Stücks bleiben zudem zugunsten der Ordnung und Übersichtlichkeit des Materials letztendlich ausgespart. Daß die Figuren daher oft zum Klischee neigen, ist eine naheliegende Konsequenz. Dazu kommt, daß La Candelaria den Anspruch hat, Geschichte auf die Bühne zu bringen, die soziale Ereignisse zusammenfaßt. 2 Das bedeutet, nicht individuelle, sondern gesellschaftliche Befindlichkeiten interessieren. Die Geschichte des Stücks wird von der epischen Gegenüberstellung sozialer Gruppen bestimmt, auch dies kann zu Verallgemeinerungen führen, die der inhaltlichen Komplexität abträglich sind. So wird das Thema 'Auslieferung' und Widerstand' episch sehr weit gestreckt,
1
ebd.: 172-175: "J.: Ich komme wegen der Waffen, der Medikamente, der Ausrüstung und allem anderen, was ihr uns angeboten habl. A.: Was denkt ihr euch eigentlich? Daß wir die Waffen an der nächsten Straßenecke holen? (...) J.: Ich kann unmöglich mit leeren Händen zurückkommen. (...) A.: Wir regeln das an höherer Stelle. Ihr macht so weiter wie bisher... Aber begeht bloß keine Dummheiten. (...) J.: Wir können nicht warten. (...) Wenn wir die Hände weiter in den Schoß legen, bringen sie uns um. (...) Wir haben Angst (...). A.: Gut. Junger Freund, genug. (...) Geh zurück, sag Guadalupe, daß er den Kampf der liberalen Partei nicht aufgeben soll, daß er ab und zu einen Schuß abgeben soll, (...). J.: Aber Doktor, mit welchen Gewehren sollen wir die Schüsse denn abgeben? (..)
2
A.: Sag Guadalupe, daß wir auf der Seite seiner Jungens sind, von ganzem Heizen, von ganzem Herzen." Nieto 1982: 128
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keine der Kräfte, die historisch an der Violencia in den Llanos beteiligt waren, wird aus dem Handlungsablauf des Stückes ausgeschlossen. Die Konservativen treten ebenso in Erscheinung wie Vertreter der Kirche, beide aber bleiben auf karikierte kollektive Figuren reduziert, so daß ihre Funktion im Konflikt zwischen Liberalen und Lianeros nur angedeutet, aber nicht wirklich erhellt wird. 1 Es gelingt La Candelaria weder, bei einzelnen Konflikten zu verweilen, noch sie zu differenzieren oder genügend zu motivieren. Für die Strategie der liberalen Parteileitung z.B.werden als einzige Gründe Macht und Geld genannt. Ebenso oberflächlich angerissen bleiben die Gründe für den Widerstand der Lianeros.2 Die besonderen Machtverhältnisse in den Llanos, die Lebensphilosophie der Lianeros,3 die Gründe für die Spaltung der liberalen Landbevölkerung werden in einem gesungenen Streitgespräch zwischen 'Don Floros Leuten' und 'Jerónimos Leuten' in der Gegenüberstellung kollektiver Figuren nur angedeutet, aber nicht dramatisiert. 4 Zwei Figuren allerdings konnte La Candelaria ansatzweise aus dem schematischen Korsett der Fabel herauslösen: Jerónimo und Robledo. Sie führen einen Schritt weiter auf dem Weg zu personajes, die gleichzeitig allgemeine gesellschaftliche Prozesse repräsentieren und individuelle Differenzierung erfahren. Sie sind die einzigen, von denen etwas über ihre Herkunft bekannt wird und die vor Entscheidungen gestellt werden (Szene 2 und 11). Dementsprechend werden ihnen auch Momente des Zweifels zugestanden (Szene 7 und 9), aus denen ihr Handeln sich erklärt. Szene 7 und Szene 9 stellen einen Bruch in dem sonst so zügigen Handlungsablauf des Stückes dar. In der siebten Szene erinnert sich Jerónimo an eine Z.B. wird die Bedrohung, die für die Liberalen von den Konservativen ausgeht, nur in Anspielungen thematisiert vergl. dazu Szene 11: Der Brief, Teatro La Candelaria 1986: 196-204. Hier nennt J e r ó n i m o als Grund für die Weitcrfiihnjng des Kampfes, daß sie gerade in diesem Moment die Kapazität hätten, die Konservativen zu schlagen. Der kolumbianische Journalist Jorge Child hat 1957 in einem Nachruf auf Guadalupe Salcedo eine kurze Analyse der Ereignisse verfaßt. Darin weist er darauf hin, d a ß der Widerstandskampf aus der besonderen Eigenart der geographischen, ökonomischen und sozialen Struktur des Gebiets und der besonderen Art seiner Menschen zu erklären sei. Weitab von den politischen Entscheidungsstätten Kolumbiens, am Rande der ökonomischen Zentren gelegen, hatten die Lianeros vor dem Einbrechen der Violencia eine ureigene Gesetzlichkeit. Über riesige Weideflächen herrschten einige wenige Großgrundbesitzer und Viehzüchter, die zu ihren Arbeitern ein patemalistisches Verhältnis hatten, das einerseits sehr stark von einer gemeinsamen Blut-und Boden-Mentalität und der Zusammengehörigkeit des 'Llanero-Lebens' gekennzeichnet, andererseits aber durch die extreme Abhängigkeit der Arbeiter und die soziale Ungleichheit sehr empfänglich für Konflikte war. Die liberalen Guerillatruppen, die sich anfänglich gegen die konservativen Eindringlinge zur Wehr setzten, bestanden aus Kuhtreibem und Gründern der Llanos. Sie fochten nicht für den Liberalismus, sondern für ihr Land, "weil die Konservativen in ihre Farmen eindringen wollten". Erst als die liberalen Großgrundbesitzer sich mit den f ü h r e n d e n Kräften der Violencia verbanden und ihre Arbeiter damit im Stich ließen, wurde aus dem wilden Kampf der Lianeros ein Kampf der kleinen Bauern und Angestellten gegen die großen Viehbesitzer. Vergl. dazu: J. Child: »Crónicas« in: Mito, arto III, No. 14, 1957: 134-136 D. Mesa: »Las Guerrillas del Llano« in Mito, afio II, No. 8, 1956: 136-143 Teatro La Candelaria 1986: 201-204
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Episode aus seiner Kindheit. Ein Dorf von Landbesetzern, zu denen seine Eltern gehören, ist von Hacendados in Brand gesteckt worden. Schemenhafte Gestalten rufen dem Kind Jerónimo zu, es solle zu den anderen laufen, um Bescheid zu sagen, daß die Liga der Landbesetzer zum gemeinsamen Angriff auf die Hacendados aufruft. In der Erinnerung an seine damalige Angst zögert Jerónimo, der während eines gemeinsamen Angriffs auf die Konservativen sein Gewehr im Anschlag hält, zur Attacke überzugehen, wird aber von seiner Mutter, die wie eine Schattengestalt aus der Vergangenheit auftaucht, gemahnt weiterzukämpfen. Auch Robledos Gefühle steigen aus der Vergangenheit auf. In Szene 9 erlebt er den Korea-Krieg noch einmal, als Trauma im alkoholischen Delirium. Die Kehrseite des Erfolgs seiner militärischen Laufbahn tritt zutage, die Zerstörung seiner Persönlichkeit und die Angst vor dem Verlust menschlicher Gefühle. Cesar Badillo, den Darsteller des Robledo, hat gerade diese Szene vor große schauspielerische Probleme gestellt, wie er in einem persönlichen Interview erklärte. Die Verbindung zwischen epischer Distanz und individueller Lebendigkeit, Verfremdung ohne Kälte, wollte ihm seiner Meinung nach nicht gelingen: "Wenn ich sage, 'Virgencita Carmen, gib mir sieben Minuten, um diesem Kommunistenpack den Garaus zu machen', wenn ich sieben Minuten sage, dann sollte eigentlich ein Lachen folgen, aber ich konzentriere mich so, daß mir die Tränen kommen. Ich will nicht heulen. Aber es ist wie ein Muskel, den man trainieren muß. Es dauert Jahre. Was wir brauchen, ist Geduld."
3. Die bildliche Gestalt der Aufführung Während die Widersprüche einer Figur sich nur widerwillig in das antagonitische Schema der Fabel fügen, die personajes dazu neigen, nichts weiter als Abziehbilder von Thesen zu sein und das Stück daher allzu leicht in eine schematische Gegenüberstellung von Freund und Feind abgleitet, schließt die Creación Colectiva im Hinblick auf die Gestalt der Aufführung die Möglichkeit ein, dem inhaltlichen Schematismus der Stückvorlage auf spielerischer und ästhetischer Ebene entgegenzuwirken. Gerade die Creación Colectiva als nicht-literarisches Konzept, das die Theatralität des Theaterereignisses in den Vordergrund stellt, ohne den Dialogen eine bevorzugte Stellung einzuräumen, kann eine gestisch wirksame, nichtbuchstäbliche, ikonographische Ästhetik hervorbringen, die auf "kotextueller Ebene" 1 vielschichtig wirkt. Die Distanzierung der Schauspieler vom selbsterstellten Garcia 1983: 66. In seinem Vortrag Ubicación de ia ideología en el proceso operativo unterscheidet García die kolextuelle, intcrtextuelle und kontextuelle Ebene einer TheaterauffUhrung. Darin bezeichnet er die kotextuelle Ebene als den theatralischen Text und die Möglichkeit der Zuschauer, ihn zu lesen.
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Bild-Material führt zu einem geradezu selbstverständlichen Einsatz d e s ^erfremdungs-Effekts. Das k o m m t nicht nur durch den analytischen Abstand, den die Schauspieler zu ihren Improvisationen einnehmen. Da der Schauspieler s;lbst mit seiner Erfahrung, seiner Persönlichkeit, seiner Geschichte und seiner Kemtnis das Material für das Theaterereignis liefert und gleichzeitig auch formt, orieniert sich die Inszenierung an seinen Kapazitäten und nicht der Schauspieler an der Kapazitäten einer Rolle. Durch diesen Zugang gelingt es ihm, seine Figur u n d ille Vorgänge des Bühnengeschehens zu beherrschen. Er kann sich so freier d a i n bewegen, kennt alle Aktionen innerhalb der Aufführung und ihre Beweggrünte genau. Das ermöglicht ihm, mit dem Dargestellten, mit seiner Figur zu spielen ind nicht nur zu interpretieren. Eine Figur mag dann in ihrer Konzeption klischeeh;fte Züge tragen, letztendlich jedoch wird sie durch die Persönlichkeit des Schauspélers und sein Wissen um ihre Funktion im Gesamtprozeß der Aufführung belebt. 3.1. Der leere B ü h n e n r a u m La Candelaria spielt auf einer leeren Bühne, weil sie Platz für die Entfaltung der sinnlichen Mittel des Schauspielers schafft und Einsicht in die Theatnlität der Vorstellung gewährt. Wie so oft hat die Gruppe auch in dieser Hinsicht ais der Not eine Tugend gemacht, denn die Infrastruktur der Theaterlandschaft in Kdumbien, der Mangel an Theatersälen und an Subventionen zwingt dazu, eine Äihetik zu entwickeln, die sich von naturalistischer Detailausschmückung abkehrt. Die Bühne ist bei Guadalupe años sin cuenta sparsam und funktioral eingerichtet. Fünf Stellwände begrenzen den Bühnenhintergrund. Sie sind mit luswechselbaren Stoffbehängen versehen. Durch das Umschlagen der Behänge weden nach jeder Szene die Ortswechsel signalisiert: grüner Stoff weist auf die Llanos violetter oder schwarzer auf Bogotá. Requisiten werden nur zu minimal eingeset:t. Einige ergänzen sinnbildlich die Funktion der personajes, wie z.B. das Gewehr des Soldaten oder die Schreibmaschine der Sekretärin. Andere fungieren als selbständige Bedeutungsträger innerhalb eines theatralischen Bildes, wie z.B. die Leiter in Szene 5, die, von Soldaten horizontal getragen, den Eindruck eines Zugts vermittelt, mit dem die Soldaten nach Korea reisen. 3.2. Die erste Szene: ein Appell an die Urteilskraft der Zusciauer Die erste Szene des Stücks ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wit sich die gestische Wirkungskraft der Darstellungsweise auf der Bühne entfaltet ind durch das verfremdende Spiel die Komplexität erreicht, die La Candelaria anstnbt. Thema der ersten Szene ist die Rekonstruktion des Mordes an Guadalup. Mit der Gestalt Guadalupes greift La Candelaria in ihrer Absicht, die reale Ceschichte Kolumbiens aufzudecken, eine kolumbianische Persönlichkeit auf, die nach der
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Violencia nur als Legende lebendig geblieben ist. Guadalupe wurde entweder von offizieller Seite als bandolero, Bandit, verteufelt oder von der Seite der Widerstandsgruppen als 'Held des Widerstands' oder 'Racheengel' gefeiert. Die Theatergruppe versucht, den Mythos in Geschichte zu verwandeln, indem sie die historischen Zusammenhänge aufzeigt. Dabei kommt es ihr hauptsächlich darauf an, daß den Zuschauern keine fertige Geschichte vorgesetzt wird, sondern daß sie die Zusammenhänge selbst rekonstruieren, wie der Titel der ersten Szene suggeriert. Jorge Child schrieb in seinem erwähnten Artikel über die Ereignisse in den Lanos zur Zeit der Violencia: "Es una de tantas escenas de esa comedia democrática que nuestros dirigentes políticos suelen hacer al pueblo (...) y esta comedia que nuestros dirigentes políticos hicieron con los guerrilleros campesinos es una de las más indignas que puedan imaginarse." 1 Wie La Candelaria zu erreichen versucht, daß der Zuschauer der Gegenwart die "unwürdige Komödie" der Vergangenheit durchschaut, sei anhand der Beschreibung und Analyse der ersten Szene ausgeführt. 3.2.1. Beschreibung der Szene La reconstrucción Der Saal ist dunkel. Auf der Bühne erscheint ein kleiner schwacher Lichtkreis. Sirenengeheul setzt ein. Eine Lautsprecherstimme fordert: "Guadalupe Salcedo (...) salga con los manos en alto (...) le garantizamos la vida (...). Quedan cuatro minutos, (...) quedan tres minutos..." 2 bis ein Mann, Pistolenschüsse abgebend, in den Lichtkreis springt und sich von Kugeln getroffen überschlägt. Grelles Licht geht an. Es gibt den Blick auf eine leere Spielfläche frei, auf der der 'Tote' bäuchlings ausgetreckt liegt. Von allen Seiten kommen Schauspieler auf die Bühne gerannt, schließlich drängeln sich dort 12 Figuren, reden laut durcheinander und rennen geschäftig um die 'Leiche' herum. 'Die Sekretärin', behindert durch ihre Stöckelschuhe und ihren engen Rock, schleppt eine mächtige Schreibmaschine. Sie installiert sich mit Tisch und Stuhl in der rechten, vorderen Bühnenecke. 'Der Reporter', mit Kopfhörer und einem Mikrophon ausgestattet, dessen Kabel abgeschnitten ist, nuschelt unablässig. Wenn man genau hinhört, kann man von ihm etwas über die Umstände des Todes erfahren:
1
Child 1957: 138
2
Teatro La Candelaria 1986: 125 "Guadalupe Salcedo, kommen Sie mil erhobenen Händen heraus ... wir garantieren Ihnen das Leben ... noch vier Minuten, .. noch drei Minuten ..."
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"Señoras y señores (...) transmitimos a ustedes los más mínimos detalles de la reconstrucción de la muerte de Guadalupe Salcedo Unda. Hace precisamente un mes, en julio 1957, cayó abatido José Guadalupe Salcedo por varias patrullas de la policía y del ejercito..." 1 Ein Mann im Trenchcoat klatscht in die Hände: "Fertig!" 'Der Oberleutnant' in grüner Uniform mit dunkler Sonnenbrille schreitet lässig die Bühne ab und posiert plötzlich zackig, als 'die Fotografin' ihn vor die Linse bekommt. Schnelles Schreibmaschinengeklapper übertönt das Stimmengewirr. 'Der Richter' diktiert leise: "Siendo en Bogotá, el día seis de agosto (...) se trasladó el Juzgado 32 de Instrucción Militar al sitio donde en la madrugada del seis de julio 1957, fue abatido el antisocial Guadalupe Salcedo..." 2 'Der Anklagevertreter' ruft schneidend: "¡Protesto señor Juez! Usted se está refiriendo al occiso como si fuera la causa de esta diligencia, y la causa de la diligencia es el teniente, sindicado de asesinato en la persona de Guadalupe Salcedo. (...) Guadalupe Salcedo no era un bandolero, era un hombre que cuando depuso sus armas como guerrillero, por orden del partido liberal, dedicó por entero su vida a fortalecer la paz en nuestra patria." 3 Die entscheidende Frage dieser Rekonstruktion des Falles lautet: stimmt die Todesversion des Militärs oder wurde Guadalupe hinterrücks erschossen? Der erste Zeuge wird verhört. Der Verteidiger des Oberleutnants, der Richter und der Anklagevertreter erklimmen mit dem Zeugen, Feuerwehrhauptmann Gonzales, einen winzigen Balkon, der mitten im Publikum aufgestellt ist, der Ort, von dem aus der Zeuge die Ereignisse beobachtet hat. Gleichzeitig gibt der Oberleutnant auf der Bühne ein lautstarkes Interview: 1
ebd.: 126 "Meine Damen und Herren ... wir übertagen alle Einzelheilen von der Rekonstruktion des Mordes an Guadalupe Salcedo Unda. Vor genau einem Monat, im Juli 1957, wurde José Guadalupe Salcedo von einigen Einheiten der Polizei und der Armee niedergestreckt..."
2
ebd. "Bogotá, 6. 8. 1957 (...) der Militärgerichtshof 32 befindet sich nun dort, wo am Morgen des 6. Juli 1957 das asoziale Element Guadalupe Salcedo niedergestreckt wurde..."
3
ebd. "Protest! Ich protestiere, Herr Richter! Sie beziehen sich auf den Ermordeten, als sei er der Grund dieser Untersuchungen. Der Grund ist jedoch der Oberleutnant, des Mordes an der Person Guadalupe Salcedo angeklagt (...). Guadalupe Salcedo war kein Bandit, er war ein Mann, der, als er auf Befehl der liberalen Partei seine Waffen als Guerillero niederlegte, sein ganzes Leben einzig und allein für die Erhaltung des Friedens in unserem Vaterlandes gab."
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"Actuamos en legítima defensa (...) Tenemos informaciones fidedignas de que este tipo trataba de regresar a sus antiguas actividades delictivas." 1 Der Richter diktiert die Aussagen des Zeugen laut schreiend über die Köpfe des Publikums hinweg und entschuldigt dies vor dem Anklagevertreter damit, daß es mit Rücksicht auf die Señorita Sekretärin geschehe, die den Balkon leider nicht besteigen könne. Das Verhör ist schnell beendet, alle machen sich umständlich an den Abstieg. Da ertönt wieder der Protest des Anklagevertreters. Alle kehren unwillig auf den Balkon zurück. Der Anklageverteter verhört den Zeugen ebenfalls und faßt dessen offensichtlich widersprüchlichen Aussagen schließlich zusammen: "(...) el testigo, señor Gonzales, vio cuando José Guadalupe Salcedo ... se suicidó! 2 Großer Tumult; der zweite Zeuge wird vom Verteidiger verhört. Señor Rodríguez rattert seine Aussage herunter, bis er vom Oberleutnant unsanft unterbrochen wird. Das Verhör scheint beendet. Tisch und Stuhl der Sekretärin werden in die Höhe gestemmt, um zum dritten Zeugen zu ziehen, da ertönt wieder die laute Stimme des Anklagevertreters. Die Sekretärin, die ihre Schreibmaschine trägt, stöhnt laut auf. Der Anklagevertreter nimmt Rodríguez ins Verhör und versucht nachzuweisen, daß er bestochen wurde. Schließlich wird die Zeugin des Anklagevertreters verhört. Zum ersten Mal ist es still auf der Bühne. Sie steht, kaum zu sehen, zwischen den Zuschauern. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Plötzlich ruft sie, ihre Beschreibung des Tathergangs unterbrechend, ängstlich und hastig: "(...) lo que vi fue que lo mataron cuando él salió con las manos en alto..." 3 Sie läuft, gefolgt von einem Leutnant, quer über die Bühne davon. Das Blatt Papier, auf dem die Aussage notiert ist, wird aus der Schreibmaschine gerissen, alle stieben weg. Der Anklagevertreter schreit in das Mikrophon des Reporters: "Das ist der Beweis des Mordes"...und wird selbst von der Bühne gejagt. Die Musik setzt ein.
1
ebd.: 127f "Wir haben legitim aus Verteidigungsgrilnden gehandelt (...) Wir haben zuverlässige Informationen, daß der Typ versucht hat, seine alten kriminellen Aktivitäten wieder aufzunehmen."
2
ebd.: 131
3
ebd.: 137
"(...) Der Zeuge Gonzales hat also beobachtet, wie José Guadalupe Salcedo... sich selbst umbrachte!" "(...) Ich habe gesehen, daß sie ihn getötet haben, als er mit erhobenen Händen herauskam..."
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3.2.2. Ein Musterfall epischen Theaters Die Aufführung beginnt mit den stereotypen Merkmalen eines Krimispektakels: Dunkelheit, Schüsse, eine Leiche, Männer mit Hut und Trenchcoat; nach dem Mord folgt der klassischen Krimidramaturgie gemäß 1 die Rekonstruktion des Falls: Untersucher, Ankläger und Zeugen versammeln sich am Tatort, das Aufspüren des Täters beginnt. Daß sich auf der Bühne ein Krimi abspielt, wird lediglich am Anfang suggeriert und im Laufe der Szene Stück für Stück zurückgenommen. Denn den gängigen Spielregeln des Krimis zufolge müßte der Zuschauer während der Rekonstruktion des Falls seine Konzentration auf die aufklärende Person lenken und mit ihr zusammen versuchen, sich nicht von falschen Spuren in die Irre führen zu lassen. Grundlegende Bedingung ist dabei gewöhnlich, daß herrschende Rechtsordnung und Verbrechen Gegensätze bilden. Der Täter ist dann zwangsläufig das asoziale Element, die Verkörperung des Bösen. Bei seiner Überführung kann der Zuschauer seiner Lust an Spannung und Kombinationsspiel im Einklang mit dem 'gesunden' moralischen Empfinden freien Lauf lassen. Bei Guadalupe años sin cuenta jedoch wird der Zuschauer mit einer solchen Erwartungshaltung hinters Licht geführt. Was sich zuerst als klassischer Krimi ankündigt, erweist sich im Laufe der ersten Szene als Spiel mit doppeltem Boden von Legalität und Illegalität. Die Übereinstimmung von staatlicher Macht und Moral ist hier aufgehoben. Die Täter sind die offiziellen Staatsvertreter: Militär und Polizei. Das wissen sie, und daher haben sie die Rekonstruktion inszeniert, um den Eindruck zu erwecken, daß sie aus Notwehr gehandelt haben, sich im Recht befinden und unschuldig sind. Die Rekonstruktion ist nichts anderes als eine Farce, in der Rechtsordung gespielt, aber nicht vollzogen wird. Dieses Doppelspiel bleibt zu Beginn der Szene lange undurchschaubar. Der wahre Sachverhalt des Falls wird selbst bis zum Schluß der Szene nicht eindeutig dargelegt, kein definitives Urteil wird über die Täter gefällt. Ihn zu bestimmen, bleibt der der Kombinationsgabe der Zuschauer überlassen, indem La Candelaria ihnen das Geschehen auf zwei Informationsebenen vorführt. Der Zuschauer wird zu Beginn der Vorstellung unmittelbar mit dem Mord an Guadalupe konfrontiert und erhält damit die Rolle des Zeugen. Er sieht unvermittelt und unkommentiert die Todesversion der Militärs. Sie erscheint damit zunächst als wahre Version. Der anschließende Rekonstruktionsvorgang bietet faktisch auch keinerlei Anlaß, an der ersten Wahrnehmung zu zweifeln. Da er in erster Linie den Eindruck von Chaos und Hektik vermittelt, bleibt dem Zuschauer nichts anderes
vergi. U. Suerbaum: Krimi, eine Analyse der Galtung, 1984
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übrig, als sich selbst durch die Fülle der verschiedenen Eindrücke zu tasten. Die Umstände des Todes bleiben undeutlich. Das Gemurmel des Reporters oder des Richters, das einigen Aufschluß gibt, kann nur verstehen, wer in der ersten Reihe sitzt. In dieser Lage wird der Zuschauer mit zwei verschiedenen Arten von Informationen konfrontiert, nämlich der faktischen (was geschieht) und der darstellerischen (wie es geschieht). Auf der faktischen Ebene vermittelt sich der Eindruck eines sachlichen, unanfechtbaren Vorgangs: Reporter, Fotografen, Militär, Polizei, Zeugen und Gerichtsbarkeit erscheinen am Tatort, den formalen Erfordernissen einer Verhandlung ist Genüge getan, Zeugen sind herbeigeholt worden, auch die Öffentlichkeit ist vertreten. Alle Angaben werden protokolliert, die Leiche wird genauestens ausgemessen, die Zeugen werden verhört. Aber die Art der theatralischen Darstellung eröffnet eine zweite, polemische Dimension des Rekonstruktionsvorgangs, die den Anschein der Sachlichkeit zerstört. Die darstellerischen Mittel treten gegen die faktischen Informationen an. Sie entlarven die sachlichen formalen Maßnahmen als scheinbare und den Beweisversuch des Militärs für seine Unschuld als Show. Die Art und Weise der Darstellung macht aus der Rekonstruktion eine Farce. La Candelaria wendet vor allem die verfremdenden Mittel der Übertreibung und Karikierung an, um die wirklichen Motive und die Angreifbarkeit aller Figuren hinter ihrer scheinbaren Souveränität bloßzulegen. Schon die lautstarke Hektik zu Beginn der Rekonstruktion, das Durcheinanderreden, Durcheinanderlaufen weist auf die Angst vor der Entdeckung der Wahrheit. Es gibt aber noch deutlichere Elemente, welche die Scheinheiligkeit der Rekonstruktion durchschimmern lassen: ein Assistent, der jeweils den Abstand zwischen Zeuge und Leiche mißt, scheint diese Arbeit mit emsthafter Genauigkeit vorzunehmen. Aber die Stimme, mit der er die Maßangaben verkündet, überschlägt sich, ist schrill und übereifrig, so daß die Seriosität zur Karikatur wird. Der Reporter wiederum ist durch seine Attribute in seiner Funktion als Vermittler zur Öffentlichkeit gekennzeichnet. Aber im Grunde ist er taubstumm. Der Kopfhörer verschließt ihm die Ohren, das Kabel des Mikrofons ist gekappt. Schließlich offenbaren auch die Zeugenverhöre einen bloß vorgeblichen Willen zu Objektivität. Aber das Verhalten aller Beteiligten währen der Verhöre überführt sie. Das enorme Gewicht der Schreibmaschine ebenso wie die Stöckelschuhe und der enge Rock hindern die Sekretärin daran, die Zeugenberichte jeweils an Ort und Stelle wortgetreu zu notieren, ihr entnervtes Aufstöhnen beim dritten Einspruch des Anklagevertreters verleiht ihrem Unwillen Nachdruck. Auch die Darstellungsweise der Zeugen, die für das Militär aussagen, steht im
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Widerspruch zur beabsichtigten Integriät. Señor Rodríguez z.B. spricht und bewegt sich wie ein Aufziehpüppchen mit übergroßer Schnelligkeit. Während seiner Schilderung des Tathergangs läuft er zum Tatort, simuliert die Schüsse, springt an seinen Platz zurück und spricht so schnell und monoton, daß man annehmen muß, seine Aussage sei auswendig gelernt. Der Anklagevertreter fungiert als 'Hebamme' der Erkenntnis des wahren Sachverhalts, indem er bei den Zeugenverhören die Widersprüchlichkeit der Aussagen nachweist. Er kann jedoch keine Leitfigur für den Zuschauer sein. Durch die Gestelztheit und Lautstärke seines Auftretens wird auch er zur Karikatur und gehört somit zur Farce. Am Ende wird der heftig Protestierende von der Bühne gestoßen. Er erweist sich als hilflos. La Candelaria betreibt keine direkte verbale oder fingerweisende Denunziation der Staatsvertreter, vielmehr legt sie es durch die verfremdenden Mittel in der Spielweise darauf an, beim Zuschauer ein eigenes Gespür für die Verlogenheit und Scheinhaftigkeit des Handelns der Figuren zu erzeugen. Die Verfremdung der Figuren wirkt als theatralischer Code, den der Zuschauer zu entschlüsseln hat, um schließlich zum Mitwisser oder Besserwisser der Ereignisse zu werden. Dabei bleibt er auf sich selbst angewiesen. Das Doppelspiel der Informationsebenen suggeriert ihm, nicht den Worten, sondern den eigenen Augen zu trauen. Die Beseitigung des Anklagevertreters von der Bühne ist schließlich ein letzter Appell, die Rolle des Aufklärers selbst zu übernehmen. Nach der kriminologischen Rekonstruktion des Falls erfolgt dann in den anschließenden 13 Szenen die historische. Für das Publikum mündet die Beobachtung der versuchten faktischen Verdeckung der Tat in die Aufdeckung der Geschichte. Es gelingt La Candelaria in der ersten Szene auf subtile Weise, der Legendenbildung und Mythisierung in der kolumbianischen Geschichte entgegenzuwirken, denn anstelle der 'falschen' Legende wird hier nicht etwa eine 'richtige' gezeigt. Sie versucht vielmehr, nicht nur Zweifel an den öffentlichen Darstellungen der Staatsvertreter zu säen, sondern auch Zweifel an der eigenen Wahrnehmung, da der Zuschauer erst durch allmähliche Entschlüsselung dahinter kommt, daß seine erste Wahrnehmung vom Tod Guadalupes falsch war. Dabei geht es nicht darum, Böse anzuprangern, sondern zu thematisieren, wie schwierig es ist, sich in der Farce zurechtzufinden. La Candelaria hat es geschafft, für das neuralgische Problem der Hypokrisie und Schein-Demokratie in der kolumbianischen Gesellschaft und die Ambiguität von wirklichen und offiziellen Verhältnissen ein theatralisches Bild zu finden, das den Zuschauer in das Doppelspiel von Schein und Sein miteinbezieht und dadurch "Vorurteile zerstört", wie Garcia fordert: ein episches Theater, das ein
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kritisches Verhältnis des Zuschauers zur Bühne schafft und gleichzeitig das Vergnügen an der Reflexion nicht ausschließt, indem es mit sinnlichen Mitteln dazu stimuliert. 3.3. Der Gestus als Grundelement des theatralischen Bildes Wie in der Analyse der ersten Szene bereits angedeutet wurde, konterkarieren die Gesten der Schauspieler oft den gesprochenen Text. In einem solchen Fall werden die Gesten zum Gestus: sie zeigen und verfremden das Gespielte. Der Gestus ist ein Grundelement des theatralischen Bildes. Die Problematik des theatralischen Bildes läßt sich in drei Fragen erfassen. 1. Wie gelangt man mit möglichst wenig Mitteln zu einer möglichst komplexen Aussage auf der Bühne? 2. Wie gestaltet sich eine komplexe Aussage im Verhältnis der Figuren auf der Bühne zueinander (sozialer Gestus)? 3. Wie gestaltet sich eine komplexe Aussage im Verhältnis zwischen Bühne und Publikum (Gestus des Zeigens)? Ein einfaches Beispiel, wie La Candelaria versucht, die Problematik des theatralischen Bildes gestalterisch zu lösen, ist der erste Auftritt der Soldaten in Szene 2: Während noch die letzte Strophe der müsica llanera erklingt, setzt leise ein marschartiger Trommelrhythmus ein, der den ersten Auftritt der Soldaten ankündigt. Wenn das Geräusch der Trommelschläge den Bühnenraum beherrscht, stampfen der Kommandos brüllende Sargento Velandia und zwei Soldaten im Laufschritt, die Knie hochwerfend, auf die Bühne. Sie schreien "uno, dos, tres, cuatro; uno, dos, tres, cuatro" im Takt der schnellen Trommelschläge und halten ihre Gewehre auf das Publikum gerichtet. Durch die synchronen Bewegungen und den Lärm, den die Schauspieler veranstalten, wirkt der Auftritt sehr massiv, wirken die drei Soldaten wie ein ganzer Trupp. Die zwei trommelnden Musiker legen ihre Ponchos ab und bilden - nun in Uniform - die zweite Soldatenreihe. Sie brüllen zusammen mit den anderen, im Rhythmus des Laufschritts auf der Stelle tretend und die Worte des Sargento wiederholend: "Los soldados - colombianos - no se meten - en politica. Por mi novia - por mi madre - soy soldado - de la patria..." 1 In einer prägnanten Synthese aus Wort und Geste zeigt sich der Soldat hier als Held und Versager gleichzeitig. In der Litanei der Soldaten werden die Fundamente der Militärdoktrin parolenartig vorgestellt: Patriotismus, Christentum, Mutterliebe, Familienglück. Aber die starken Worte werden durch die Art ihrer Darstellung TeatroLa Candelaria 1986: 139f
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banalisiert; Ideologie und Präsentationsform der Armee werden im Bruchteil einer Minute gleichzeitig vorgeführt und enthüllt. Die Soldaten fungieren als Echo ihres Vorgesetzten, und anscheinend treibt sie nichts anderes als G e h o r s a m dazu, so 'überzeugt' zu brüllen. Das suggeriert das laute Sprechen während des anstrengenden Laufs auf der Stelle, das suggerieren auch die gehetzten Gesichter unter den zu großen Helmen und der starre Blick. Die auf die Zuschauer gerichteten Gewehre signalisieren an sich Bedrohung. In der Hand der ängstlichen, abgerichteten Soldaten aber sind sie nicht allein eine gegen die Zuschauer gerichtete Gefahr, sondern auch ein Instrument, an dem der Soldat sich festhält. Walter Benjamin hat einen derartigen theatralischen Ausdruck in bezug auf die Ästhetik des Theaters von Brecht "immanent dialektisches Verhalten" genannt und meinte damit das, was "im Zustand - als Abfolge menschlicher Gebärden, Handlungen und Worte - blitzartig dargestellt wird." 1 Der Ausdruck des immanent dialektischen Verhaltens ist der Gestus in der Zwiegestalt dessen, was er an sich ist und was er im Kontext der Aufführung bedeutet. Brecht bezieht sich auf die soziale Funktion des Gestus, wenn er ihn als... "Bereich der Haltungen, welche die Figuren zueinander einnehmen (...)" definiert: "Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck sind von einem gesellschaftlichen G e s t u s bestimmt: Die Figuren beschimpfen, komplimentieren, belehren einander und so weiter. (...) Diese gestischen Äußerungen sind meistens sehr kompliziert und widerspruchsvoll." 2 Im vorliegenden Beispiel sagen Körperhaltung, Tonfall und Gesichtsausdruck mehr über das Verhältnis der Soldaten zu ihrem Vorgesetzten und über den Mechanismus des militärischen Apparats aus als ihre Worte. Sie widersprechen ihnen selbst. Damit wird die nach außen hin repräsentierte Ideologie der Armee dem Publikum gegenüber als fragwürdig dargestellt. Santiago Garcia überträgt Brechts Begriff des Gestus in die Sprache des Strukturalismus und erklärt ihn folgendermaßen: "El gesto que busca la causa del estado de las cosas, que en el nivel paradigmático se ve obligado a vaciarse de significado para compararse con otros gestos y otras actitudes, no sólo retorna al nivel sintagmático de la contigüidad, sino es remitido al nivel de la profundidad, al nivel simbólico,
Benjamin 1966: 20 Brecht: Kleines Organon, 1971: 73f
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donde debe encontrar de nuevo su significado y explorarlo verticalmente. Debe buscar la actitud subráyente. Es lo que Brecht denomina gestus." 1 In bezug auf den sozialen Gestus, der García zufolge in oben beschriebener Weise auf der "kontextuellen Ebene" stattfindet, stimmt Garcia mit Brecht überein. Er erweitert aber dessen Begriff, indem er ihn als Grundelement des theatralischen Bildes auch auf die "intertextuelle Ebene", den Raum der Anspielungen, 2 überträgt. Die Wirkung des theatralischen Bildes im Verhältnis zum Publikum soll sich nicht nur auf den Gestus, der aus der Haltung der Figuren zueinander hervorgeht, beziehen, sondern auch auf den, der aus der Haltung der Figuren gegenüber dem Publikum hervorgeht. Im Gegensatz zu Brecht, der mit seinem Begriff vom "Gestus des Zeigens" 3 tatsächlich die Unterbrechung einer Bühnenhandlung bezeichnet, um Verfremdung zu demonstrieren, will García im Gestus des Zeigens auch höhere Komplexität erreichen: "La imagen debe ser el r e s u l t a d o dialéctico de la representación y de la acción (imaginativa) que ella desencadena en los sentimientos y en la mente del espectador." 4 Dort, wo die Signale des Präsentierten durch die Rezeption des Zuschauers eine neue, zusätzliche Bedeutung erlangen, erfüllt sich die intendierte Wirkung des theatralischen Bildes. Der Gestus des Zeigens und somit das offene Verhältnis zum Publikum erfüllt sich bei La Candelaria nicht, indem z.B. ein Schauspieler aus seiner Rolle heraustritt, um die Handlung zu unterbrechen und zu kommentieren, er erfüllt sich vielmehr in der Art des Kommentars, welche die Darstellungsweise gegenüber einer Figur oder einer Situation betreibt. Zur Veranschaulichung sei hier ein Beispiel aus Szene 8 herangezogen: das Bild vom "gefallenen Jesus vom Monserrat". In dieser Szene, 'die Friedenskampagne', halten Vertreter der Kirche und Politik lange Reden über den bevorstehenden Frieden. Schließlich wird während der feierlichen Umarmung der Mitglieder aller Parteien das Lied "Tu reinarás" (Du wirst herrschen) von den die Zeremonie begleitenden Meßdienem angestimmt, erst sacht und engelgleich, dann im crescendo, bis es, von Trommelwirbeln begleitet, in einen Marschrhythmus mündet. Ein Holzkarren wird auf die Bühne gefahren, darauf kniet ein Schauspieler, der den 'gefallenen Jesus', Christus von Monserrat, darstellt. Er erhebt sich langsam und 1
Garcia 1983: 129
2
ebd.: 68
3
Brecht: Kleines Organen, 1971: 80
4
Garcia 1983:64
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erstarrt zu einer mittelalterlichen Jesusfigur, dürr, mit Pappkrone und Lendenschurz angetan und mit zum Gruß Pax Vobis ausgestreckten Fingern. Der Holzkarren wird von zwei Soldaten in preußischen Uniformen und Pickelhauben im Stechschritt flankiert. Auf theatralisch bebilderte Weise wird in dieser Szenensequenz die "actitud subyacente", die darunterliegende Haltung der Demonstration des Friedens, welche die drei etablierten Institutionen Kirche, Staatsparteien und Militär aufführen, aufgedeckt. Aus dem Zusammentreffen der Signifikanten mit der Welt des Publikums auf intertextueller Ebene erwächst eine Vielzahl neuer Bedeutungen. Das Bild vom gefallenen Jesus integriert Faktoren aus der Welt des kolumbianischen Zuschauers und funktioniert sie zu ästhetischen Elementen um. Dadurch relativiert sich die festgelegte Bedeutung dieser Faktoren, die sie in der Wirklichkeit haben, im Kontext der Aufführung. So beruht erstens die Erscheinung des Christus vom Monserrat dem Schauspieler Hernando Forero zufolge auf einer wahren Begebenheit, die 1956 tatsächlich im Auftrag von Politikern und Kirche stattfand, um den neuen Frieden zwischen Liberalen und Konservativen zu besiegeln und die im Koreakrieg gefallenen Soldaten zu ehren. Zweitens ist die Rede, die der liberale Politiker Armando anläßlich der Friedenskampagne hält, beinahe wörtlich aus einem Leitartikel von Eduardo Santos aus der Tageszeitung El Tiempo entnommen. 1 Drittens schließlich ist die preußische Uniform eine Kostümierung, in der kolumbianische Militäreinheiten jeden Nachmittag um 17 Uhr auf dem zentralen Platz von Bogotá vor dem Palast der Republik paradieren. Diese Faktoren brauchen dem Publikum nicht direkt bekannt zu sein, weil sie an vorhandene Erfahrungen z.B. mit der demagogischen Redeweise eines Politikers anknüpfen. La Candelaria zeigt diese Faktoren im Bild vom gefallenen Jesus als Zeichen, mit denen sich Kirche, Staatspolitik und Militär in einer Mischung von Sinn und Form als Mythos 2 zu manifestieren trachten, um ihre immerwährende Präsenz zu bekräftigen. Sie löst die realen Präsentationsformen der drei Institutionen aus ihrem realen Kontext und trennt somit den Sinn der Zeichen von ihrer Form und entlarvt sie als Symbole, um ihre beabsichtigte mythisierende Wirkung bloßzulegen. Der Zuschauer erkennt die Zeichen wieder - die Uniform, das Standbild, den Trommelwirbel, die Redeweise des Politikers und auch des Bischofs -, aber losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext sieht er sie als leere Form ohne Sinn und erkennt ihren bloßen Scheincharakter. Diese Wirkung wird durch die Konstellation der Symbole verstärkt, wie z.B. die Uniform neben Jesus auf dem Holzkarren oder der ebd.: 75f Ich beziehe mich auf den Begriff des Mythos von Roland Barthes in: Mythen des Alltags,
1964: 1 lOf
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sanfte Gesang mit den Trommelwirbeln. Das Nebeneinanderstellen der Zeichen wirkt als ironisierte Verfremdung, welche die heuchlerische Haltung, die der Friedenskampagne des Establishments zugrundeliegt, durchschimmern läßt. An die Stelle des erhofften Respekts tritt in der Theatervorstellung das Lachen. Die kolumbianische Theaterkritik bestätigt die Wirkung dieses Bildes: "La gracia satirica alcanza su punto culminante con el Paso del Senor Caido." 1 Walter Benjamin deutet das Lachen in einem solchen Zusammenhang als das "Gefühl des Triumphes" 2 darüber, daß mit der Doppelbödigkeit des Gestus auch die der gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaut wird. 3.4. Die ironische Verfremdung als Stilmittel bei der Darstellung der Figuren La Candelaria macht ein satirisches Theater "aus der Sicht von unten". Ironie und Satire sind laut Garcia Elemente, die bei einem kolumbianischen Theater, das die breite Bevölkerung erreichen will, unbedingt notwendig sind. Das kolumbianische Volk hat einen starken Hang zur Parodie und Komik, Humor ist ein volkstümliches Element. Sind diese Elemente in einer Aufführung enthalten, ist die Beteiligung der Zuschauer größer und die Aufführung dynamischer. 3 Ironie prägt den Charakter der gesamten Aufführung. Sie kommt vor allem als Verfremdungseffekt in der Spielweise der Schauspieler zur Wirkung und findet der Sicht von unten gemäß vor allem in der Darstellung der 'Oberen' ihren Niederschlag. Die Vertreter der Oberschicht spielen in Guadalupe anos sin cuenta ein kitischiges Melodrama, das im Gegensatz zu den lärmenden, plastischen, hellen Szenen in den Llanos in eine heimlich-flüsternde Dunkelheit gehüllt ist. In Szene 3, 'Die Türen', wird die Situation der liberalen Oberschicht nach dem Bogotazo knapp und bündig skizziert. Fünf schwarz bespannte Stellwände signalisieren sowohl Ort als auch Zeit der Handlung: die Türen zu den Wohnungen der liberalen Politiker und die nächtliche Stunde. Männer und Frauen, die sich in weiten schwarzen Kapuzenmänteln verbergen, unter denen Abendgarderobe hervorblitzt, hasten, ängstlich um sich blickend und von Trommelwirbeln begleitet, einer nach dem anderen über die Bühne. Sie klopfen, wieder von Trommelschlägen unterstützt, an die Türen ihrer Parteikollegen, um panische Meldungen über die zunehmende konservative Repression gegenüber den Liberalen zu überbringen: Armando ist i
E. Gómez: »Guadalupe años sin cuenta« in: Enfoque, keine weiteren Angaben (aus dem Archiv von La
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Benjamin 1966: 20
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aus einem persönlichen Interview mit S. García
Candelaria)
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seines Bankdirektorpostens enthoben worden, ein liberaler Parlamentarier ist ermordet worden, der Ausnahmezustand ist verhängt worden. Die Darstellungsweise der Szene ist mit der Ästhetik eines expressionistischen S t u m m f i l m s vergleichbar. Die Schauspieler führen keine natürlich wirkenden Gesten aus, die Figuren bewegen sich pathetisch und übertrieben. Durch kurze Unterbrechungen der Bewegungen, wobei die Spieler zu Tableaus erstarren, werden einzelne Gesten isoliert: übertrieben ausgestreckte Arme, zusammengesteckte Köpfe, ängstlich aufgerissene Augen, eine melancholisch an die Stirn geführte Hand... Den Höhepunkt der dritten Szene bildet die Begegnung zwischen Armando und Margarita, die sich in einer doppelt prekären Situation b e f i n d e n . Margarita überbringt Armando im Namen ihres Mannes den Auftrag, den liberalen Widerstand zu organisieren. Gleichzeitig bedeutet diese nächtliche Begegnung an Armandos Haustür das Ende des heimlichen Liebesverhältnisses. Margarita und ihr Mann sind gezwungen, in die USA zu fliehen. Santiago Garcia als Armando nutzt die Doppelbödigkeit der Situation in seinem Spiel brillant aus. Die Angst vor der Entdeckung des geplanten Komplotts durch die Konservativen vermischt sich mit der Angst vor der Entdeckung seiner Frau, daß Margarita vor der Tür steht; die Darstellung der einen Angst gerät jeweils zur Parodie der anderen. Garcia zeigt, daß Armando von Panik geschüttelt ist und trotzdem vor Margarita sein Gesicht wahren will. Dabei gelingt es ihm, die Darstellung dieser konkreten Situation auf eine allgemeine Ebene zu übertragen. Denn hier wird das Schicksal der liberalen Partei in Szene gesetzt, die, einstmals herrschend, nun Opfer der Machtpolitik geworden ist. Mitleid mit den Politikern wird aber nicht erzeugt, vielmehr wird an ihren trotz der hoffnungslosen Lage immer noch latent anwesenden Machtanspruch erinnert In einen Bratenrock gezwängt, die Haare schmierig zurückgekämmt, agiert Garcia mit kleinen, hektischen Bewegungen. Die Füße hält er eng zusammen, die Hände flattern hin und her. Margarita überreicht ihm einen Brief von ihrem Mann. Er liest laut, mit aufgerissenen Schreckensaugen, hält den Brief weit von sich weg, seine Stimme klettert während des Vorlesens immer höher: "No vaciles, Armando, en recurrir a cualquier medida por extrema que sea para salvar la situación. (...) En tus manos queda la lucha del Glorioso Partido Liberal. Debes organizar la resistencia, apóyate, si es posible, en las guerrillas de los Llanos." 1
Teatro La Candelaria 1986: 155
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Bei den letzten Worten macht die Stimme einen Oktavsprung nach oben, Armando hält das Papier in der rechten Hand, als wäre es eine ekelerregende Spinne und kaut an den Fingernägeln der linken. Margarita bietet ihm einen Scheck an. Aus der Geste der Angst erfolgt ein blitzschneller Wechsel in eine heroische Geste mit vorgestreckter Brust. Sie begleitet die Worte: "No importa, mi amor, por tí organizaría cualquier resistencia con tal de volverte a ver."1 Sofort schaltet er wieder um, geht auf die Knie, streckt die Hand aus und sagt in kaltem Befehlston: "¡Dame el cheque!"2 Dann wandert seine Hand in pathetischer Aufwallung vom Bauch auf die Brust der Geliebten. Sie erstarren. Ihr Abschied klingt mit einem schnulzigen Bolero aus, der von einer Schauspielerin gesungen wird, die eine riesige Unterhose über eine Stellwand hängt: Porque te vas? Warum gehst du fort? Garcia beherrscht den Gestus mustergültig. Mit wenigen Strichen zeichnet er Armando, den Schwächling, den Politiker, den Geschäftsmann und Betrüger, der viel zu korrupt und feige ist, um konsequent zu bleiben, der scharf auf Frauen und Geld ist und dessen wankelmütige Schwäche seine Gefährlichkeit ausmacht: er wird den Widerstand mit den Lianeros organisieren und danach skrupellos einen Pakt mit den Konservativen schließen. Die scharfe Ironie des Blicks auf seine Figur befähigt Garcia, Abstand zu ihr zu halten und sie unerbittlich preiszugeben, ihr Verhalten nicht glaubwürdig, sondern kritisch vorzuführen. Hierin liegt die Verfremdung. Garcías größte Stärke neben seiner Ironie ist das Zitat. Benjamin verlangte vom epischen Schauspieler: "Seine Gesten muß (er) sperren können wie der Setzer seine Worte. Dieser Effekt kann z.B. dadurch erreicht werden, daß auf der Szene der Schauspieler seinen Gestus selbst zitiert."3 Garcia seziert die Figur während des Spiels, er zerlegt sie in ihre Einzelteile, so daß ihre Widersprüchlichkeiten offensichtlich werden und zum Lachen reizen. Er ist in der Zeichnung ihrer Regungen sehr genau, so daß es ihm gelingt, sie "Zögere nicht, Armando, äußerste Mitlei zu ergreifen, um unsere Lage zu retten. Wir gehen fort. (...) In deinen Händen liegt der Kampf der Gloriosen Liberalen Partei. Du mußt den Widerstand organisieren. Stutze dich, wenn es geht, auf die Guerilleros in den Llanos." ebd.: "Macht nichts, mi amor, für dich würde ich jeden Widerstand organisieren, nur um dich wiederzusehen.'' ebd.: "Gib mir den Scheck!". Benjamin 1966: 27
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säuberlich voneinander abzusetzen. Es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, daß gerade Garcia die beiden Rollen im Stück spielt, deren Ambivalenz im Machtgeklüngel besonders deutlich gezeigt werden muß, Armando und Don Floro. Den liberalen Viehzüchter und Hacendado zeigt Garcia als Prototyp des Llanero, ein Typ, der über seine Rinder herrscht, auf ihm der Hut und unter ihm sein Pferd, wie Hernando Forero im Interview sagte, vor dessen freundlicher politischer Uneindeutigkeit man auf der Hut sein muß. Garcia hat die Gabe, die innere Konstitution einer personaje nach außen zu kehren und zu typisieren ohne sie zu klischieren. Er zeigt Skrupellosigkeit ohne zu denunzieren. Er stellt die Figur mit ironischer Distanz gleichsam zur Diskussion, indem er ihre Schwächen witzig und charmant entblößt, aber nicht verharmlost. 3.4.1. Die realistische Darstellung des pueblo: Affirmation der Kluft zwischen formalem und realem Kolumbien Bei der Darstellung der 'Unteren' zeigt sich ein Problem der ironischen Spielweise. Die campesinos werden mit einem blassen Realismus gespielt, so daß diese personajes im Gegensatz zur Komik und Dynamik der 'Oberen' sehr unscheinbar wirken. Sie, die wirklichen Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse liefern anscheinend keinen Anlaß, ihre Motive bloßzulegen. Dieser Eindruck wird schon bei ihrem ersten Auftritt geweckt. Die sechs campesinos hocken gefesselt und gebückt, durch ihre Ponchos kaum voneinander zu unterscheiden, auf dem Boden. Von diesem Klischeebild des unterdrückten Bauern können sich die Spieler während der ganzen Aufführung so gut wie nicht freimachen. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Doña Eloisa in Szene 4, eine Bauersfrau, die mit aggressiver Schärfe und handgreiflich mit dem Messer Don Floro gegenüber ihr Recht verteigt. Jerónimo, die prototypische Figur des campesino, bleibt ebenfalls verhalten. Er wird dem Streben seines Darstellers gerecht, den Guerillero ausgewogen und sympathisch zu spielen. 1 Da die epische Spielweise die Einfühlung in eine Figur vermeiden will und und es gleichzeitig nicht gelungen ist, zu den Figuren aus dem Volk einen ironischen Abstand zu wahren, stehen die Spieler vor dem unbewältigten Problem, eine Spielweise zu erfinden, in der sich bei der Darstellung dieser personajes Distanz und Solidarität vereinen. In Guadalupe jedenfalls bleiben die campesinos zu Wesen degradiert, von denen nur ein schemenhafter Eindruck zurückbleibt. Dadurch gerät die Problematik der Bauern und ihres Widerstands letztendlich ins Hintertreffen.
Francisco Martínez im persönlichen Interview.
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Die Darstellungsweise schafft eine Kluft zwischen formalem realem Kolumbien, da die Distanz zu den Repräsentanten des Establishments und die Aufdeckung ihrer 'demokratischen' Ansprüche in einem krassen Gegensatz zur sympathisierenden Solidarität mit den Vertretern der Widerstandsbewegung stehen, die von ironischer Kritik unberührt bleiben.. 3.5. Die Musik als volkstümliches episches E l e m e n t der A u f f ü h r u n g Die Musik spielt bis auf ihren Einsatz als Klangmaterial, wie das Stiefelstampfen der Soldaten oder spielbegleitende Trommelschläge, in zweierlei Hinsicht eine besondere Rolle in der Inszenierung. Erstens wirkt die Volksmusik der Lianeros als verbindendes Element zum kolumbianischen pueblo. Musik ist für die Kolumbianer nahezu lebenswichtig, das wird deutlich, wenn man sich den Charakter der Volkskultur betrachtet. Zwischen und teilweise in den Szenen spielen und singen die Schauspieler die traditionelle Musik der Lianeros. Sie bestimmt den schnellen Rhythmus der Aufführung. Die Namen der verschiedenen Rhythmen dieser Musik vermitteln einen Eindruck der Stimmung, die von ihr ausgeht. Corrido z.B. heißt Lauf, pasaje Durchmarsch und golpe de carnaval Karnevalsrhythmus. Die Musik der Lianeros hat mit dem Galopp der Pferde zu tun, mit den Rindern, der Landschaft, den Tieren und den Zikaden. Sie ist schnell und fröhlich, begleitet von den Pfiffen und dem Johlen der Sänger. Die Lieder werden hastig und mit monoton klingender Stimme, ähnlich wie beim Flamenco, vorgetragen. Das Instrumentarium besteht aus einer Harfe, einem Cuatro (kleine viersaitige Guitarre) und Marácas. Die música llanera ist erzählend, die Texte sind oft improvisiert und handeln teilweise von banalen Details aus dem Alltagsleben der campesinos. So kommt es nicht selten vor, daß ein Sänger im Lied erzählt, wie er morgens aufgestanden ist, seine Pferde gefüttert hat usw. Der Einsatz der música llanera verleiht der Darstellung des Lebens der campesinos im Gegensatz zur Kargheit der Fabel und Spielweise Farbe, indem sie einen sinnlichen Eindruck davon vermittelt. Zweitens erfüllt die Musik eine epische Funktion im streng Brechtschen Sinn. Sie unterbricht den Ablauf des Bühnengeschehens nach Abschluß einer Szene, und die Texte übermitteln, dem erzählerischen Duktus der Volksmusik gemäß, Hintergrundinformationen über die Ereignisse in den Llanos oder kommentieren sie. So heißt es nach der Szene 'Die Türen': "La historia aún no se termina/ aunque los hombres de arriba/(...) se hayan ido más pa' rriba (...)/ buscando en la gran metrópoli/ una nueva economía/
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Y dejaron esperanzas/(...) dura la vida enseña/que en apremiantes momentos/ esperanza que no llega/ es hoja que lleva el viento." 1 La Candelaria ist in der Aufführung ein mitreißender Einsatz der musikalischen Mittel gelungen. Die Leidenschaft des musikalischen Spiels trägt zur Überzeugungskraft des Spektakels entschieden bei. Trotz ihrer episch verfremdenden Funktion klingt sie emphatisch und euphorisch und bewirkt, daß ein Funke ins Publikum überspringt, wodurch eine Identifizierung mit dem Bühnengeschehen erreicht wird, die nicht durch Einfühlung, sondern durch das gemeinschaftliche musikalische Erlebnis zwischen Publikum und Schauspielern ausgelöst wird. 3.6. Die wichtigsten ästhetischen Merkmale des Theaters von La Candelaria in der ersten Periode ihrer Theaterarbeit Wollte man eine zusammenfassende Bezeichnung für die Gestalt der ersten Aufführungen suchen, dann wäre Ästhetik des theatralischen Bildes wohl die geeignetste. Zunächst fällt die bildhafte, beinahe emblematische spielerische Synthese von Situationen auf. In der Aneinanderreihung der theatralischen Bilder erinnert diese Gestaltung verschiedener Situationen an die Ästhetik eines Bilderbuches. Die Bilder werden gleichsam Seite für Seite umgeschlagen, jedes Bild steht für sich und dennoch fügen sie sich alle zu einer Geschichte. Nicht das Wort ist hier führend, die Bilder sind gebieterischer als die Sätze, und deshalb gerade gelingt es der Gruppe, allzu eindeutige Aussagen zu vermeiden. Die Schauspieler mit ihren sinnlichen Ausdrucksmitteln sind die Gestalter des theatralischen Bildes. Sie treten nicht als Charaktere in schauspielerischen Einzelleistungen aus der Situation, bzw. aus dem Bild heraus. Daraus folgt zweierlei: erstens beherrschen die Schauspieler von La Candelaria ein präzises, beinahe choreografiertes Zusammenspiel; es kommt selten vor, daß ein Schauspieler allein auf der Bühne steht; abwechselnde Lazzi, wie in so vielen modernen Volkstheateraufführungen, 2 sind selten zu sehen. Die Creación Colectiva manifestiert sich im kollektiven Spiel auf der Bühne. Dabei verlieren sich die Schauspieler jedoch
Teatro La Candelaria 1986: 156f "Die Geschichte ist noch nicht zu Ende/ obwohl sich die Oberen davongemacht haben/ (...) und in den Metropolen ein neues Auskommen suchen/ Sie haben Hoffnungen gesät/ (...) Gewehre versprochen/und der Llanero glaubte ihnen / Umso härter lehrt das Leben/ in den kritischen Momenten/ daß die Hoffnung, die sich nicht erfüllt/ wie ein Blau ist. / das der Wind davonträgt" In vielen westlichen modernen Volkstheatem wie z.B. Théâtre de Soleil sind es gerade die Einzelleistungen besonderer Schauspieler (so z.B. der Hauptdarsteller in L'Age d'or), die sich dem Gedächtnis einprägen. Fo ist ohnehin ein großer Solo-Künstler, und Aufführungen anderer Gruppen bestehen meistens aus Einzel-oder Doppelnummern und nur in ganz seltenen Fällen aus choreographierten Bildern, in denen mehrere Schauspieler gleichzeitig agieren.
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nicht im Chaos, jeder kennt seine Funktion und Position im Spiel genau. 1 Zweitens erfüllen die Schauspieler als kollektive oder prototypische Figuren die Funktion, eine gegebene Situation aus ihrer Allgemeinheit herauszulösen. Dabei geht es darum, die "darunterliegende Haltung" einer Situation transparent zu machen. Das Mittel, mit dem die Schauspieler dies erreichen, ist die Verfremdung, und zwar sowohl auf den sozialen Gestus als auch auf den Gestus des Zeigens bezogen. Ein besonderes, unmittelbar mit der Ästhetik des theatralischen Bildes verknüpftes Merkmal ist die Offenheit des Spiels. Da die Interaktion mit dem Publikum im Zentrum steht, richten die Spieler nie eine vierte Wand auf. Sie spielen meistens auf dem Bühnenvordergrund, manchmal selbst im Publikum und richten sich während des Agierens direkt an die Zuschauer, sehen sie an, zwinkern ihnen zu usw. Drittens integrieren sie volkstümliche Elemente wie Volksmusik und Komik in ihr Spiel, und viertens schließlich ist die Aktualität der Aufführung ein besonders wichtiges Kennzeichen ihres Theaters. Durch die epische Verallgemeinerung des Spiels gelingt es der Gruppe, auch historische Themen auf die gegenwärtige Alltagserfahrung des Publikums zu beziehen. Bei Guadalupe ahos sin cuenta offenbaren sich die Ambiguität und Ineffektivität der kolumbianischen Justiz, der Mord als politisches Mittel sowie die Ausschaltung der Opposition, dargestellt als Geschichte, in ihrer gegenwärtigen Gültigkeit.
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So soll Szene 1, Die Rekonstruktion, zwar Chaos signalisieren, aber diese beabsichtigte Wirkung ist sehr genau mit den zwölf während der ganzen Szene anwesenden Spielern einstudiert
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4. Die fünfte Creación Colectiva Golpe de Suerte: der Glückstreffer als Krisenfall Von 1971 bis 1979 produzierte La Candelaria vier Creaciones Colectivas und zwei Stückinszenierungen: Vida y Muerte Severina (1974) und La Historia del Soldado (1979) nach der Musik von Strawinski. 1980 nahm La Candelaria in ihrer fünften kollektiven Produktion Golpe de Suerte erste einschneidende Veränderungen vor, welche die Kontinuität der bisherigen Entwicklung sprengten, ohne allerdings die strenge Form der kollektiven Arbeitsweise aufzugeben. Diese Veränderungen bestanden erstens in der Abweichung von der Tendenz, geschichtliche Themen zu verarbeiten. Zweitens ging La Candelaria von der episodenhaften Dramatik zur figurengebundenen über. Drittens schließlich durchbrach Santiago García in Anbetracht des Ziels, die Schauspieler nach allen Seiten hin auszubilden, auf radikale Weise die gewohnte Art der Zusammenarbeit der Gruppe: er wollte das Feld für andere räumen, damit sie selbständiger arbeiteten und ging nach Mexiko, um Guadalupe zu inszenieren. 1 Die Schauspieler bestimmten eine Kommission, welche die Leitung der Probenarbeiten übernahm. La Candelaria wagte im Vergleich zu den vorangegangenen Creaciones Colectivas einen großen thematischen Sprung. Sie entschied sich für die Problematik der Drogenmafia als Gegenstand des Stücks. Durch die Aktualität dieses Themas mußte die Gruppe diesmal eine Geschichte erfinden, zu der es keine historischen Vorbilder gab. Zwar ist sie von den authentischen Erlebnissen einer Person namens Lucho Barranquilla ausgegangen, die alle Sensationsblättchen des Landes im Jahr 1975 in Aufregung versetzt hatten, 2 aber diese boten, anders als die Chronologie der Historie in den früheren Stücken, keine zuverlässige Orientierungshilfe bei der Srukturierung des Stücks. Wahrscheinlich ist die Gruppe aus diesem Grund bei der Konstruktion der Fabel von der bewährten Vorgehensweise abgewichen, analoge Improvisationen zu situationsgebundenen Vorgaben zu erstellen. Das Argumento setzte sich diesmal nicht, wie bei Guadalupe, aus Situationen, sondern aus Aktionen von festgelegten Figuren zusammen. La Candelaria ging von drei Hauptfiguren aus: Palomino, seine Frau Martha und sein Freund Matamoros, die alle eine Reihe von Schicksalsschlägen und Abenteuern erleben, in deren Verlauf drei weitere Figuren als Helfer und Gegenspieler der drei Hauptfiguren auftreten: Don Felix Bastidias, 1
Der Schauspieler Ignacio Rodriguez im persönlichen Interview im Oktober 1984.
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Garcia 1 9 8 3 : 4 8
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der Mafiaboß; Popy, seine Geliebte und schließlich Dios, der als variable Figur verschiedene Rollen spielt: Botschafter, Gringo, Ewiger Vater, Freiheitsstatue, Richter, Ringrichter und ... Gott. 1 Die Voraussetzung für die Konstruktion der Fabel bestand diesmal nicht in der thesenartigen Bestimmung recht allgemein gehaltener thematischer Linien, sondern in der Festlegung von Figuren als Leitfaden der Fabel. Die Gruppe einigte sich auf das Grundmuster von zwei personajes, einfache Leute aus dem Volk, als Repräsentanten zweier konträrer Lebenswege zur Mafia und zur Gewerkschaft. 2 Zu Beginn des Stücks befinden sie sich in der selben Ausgangslage. Beide sind Gelegenheitsarbeiter und haben einen Job als Wächter in einer Fabrik bekommen. Durch Zufall bewahren sie ein Kind vor der Entführung. Es stellt sich heraus, daß der Vater des Kindes ein Mafiachef ist, Felix Bastidias. Er belohnt die beiden je mit einem Ticket nach Miami, der Hochburg des Mafiawesens. Nun scheiden sich die Wege der Freunde. Palomino will die große Chance nicht verpassen und nimmt das Ticket an. Er läßt sich in die Machenschaften der Mafia verwickeln, steigt innerhalb ihrer Hierarchie auf, gelangt zu Reichtum, baut sich ein luxuriöses Haus, bis schließlich seine G e s c h ä f t e aufgedeckt werden und er im G e f ä n g n i s landet. Matamoros tauscht das Ticket gegen Geld ein. Er will auch Karriere machen, aber auf anständige Weise. Er baut einen eigenen Betrieb auf, scheitert jedoch damit, weil er keine kaufmännischen Erfahrungen hat. Im zweiten Teil des Stücks wird Palomino von Felix Bastidias aus dem Gefängnis freigekauft. Nach einem Traum, in dem er auf der Seite des Guten gegen das Böse (in Gestalt von Don Felix) kämpft, bekommt er eine neue Chance: er kann als Generaldirektor einer großen Konstruktionsfirma a n f a n g e n . Er akzeptiert das Angebot mit dem guten Vorsatz, von nun an einen legalen W e g einzuschlagen. Aber im Lauf der Zeit wird seine Profitgier immer größer, seine Skrupellosigkeit nimmt zu. Matamoros bekommt eine Anstellung in Palominos Firma, widersetzt sich aber einigen seiner Maßnahmen. Als ihm mit Entlassung gedroht wird, tritt er in die Gewerkschaft ein, wo er bald Gewerkschaftsführer wird. Palomino erleidet mit seiner Firma Konkurs und läßt sie schließlich, da er keinen anderen Ausweg sieht, von der Mafia sanieren. Damit verschwindet der letzte Rest seines Glaubens an die Möglichkeit des Guten. In einer allegorischen SchlußApotheose bekennt sich Palomino endgültig zur Mafia. Das letzte Bild zeigt ihn in einer Umarmung mit Mafia, Militär und der Freiheitsstatue. Diese 'Idylle' wird vergl. ebd.: 46f Die lineas argumentales im Stück lauten entsprechend: das Leben von Palomino und der soziale Kontext seiner Zeit sowie Matamoros, der die Träume und Wünsche der Arbeiterklasse verkörpert. Vergl. Garcia 1983: 51f
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durch einen Boten des Ministeriums gestört, der Papiere überbringt, die Palominos kriminelle Taten beweisen sollen. Der Bote wird erschossen, die Freiheitsstatue flieht entsetzt, und Matamoros, der im letzten Augenblick dazukommt, wird von Palomino mit einer Pistole bedroht. W e n n man in Betracht zieht, daß das Stück 1979 zu einem Zeitpunkt produziert wurde, an dem die Problematik der Kokain-Mafia noch längst keine solche gesellschaftliche und ökonomische Tragweite erlangt hatte wie Mitte der 80er Jahre, dann ist das Stück erstaunlich hellsichtig. Immerhin greift es dem Mord an Politikern (wie z.B. am Justizminister Lara Bonilla 1984) und der Infiltration der Mafia in wirtschaftliche Unternehmen weit voraus. Aber trotz seiner zeitgemäßen und sehr spannenden Thematik ist das Stück kein Erfolg geworden. Santiago Garcia vermutete, daß die Ursache dafür gerade im Vorausgreifen einer Problematik lag, die noch nicht in das Bewußtsein des Publik u m s v o r g e d r u n g e n war. 1 Abgesehen von dieser Möglichkeit o f f e n b a r t die Produktion aber vor allem die Grenzen der streng kollektiven Arbeitsweise. Golpe de Suerte ist in zweierlei Hinsicht mißlungen. Erstens schlug das pädagogische Experiment, den Schauspielern die Verantwortung für die Koordination des Probenverlaufs zu übertragen, fehl. Nach seiner Rückkehr aus Mexiko übernahm Garcia vollständig die Regie, um die Produktion überhaupt noch zu einem Ende zu bringen. 2 Zweitens ist es nicht gelungen, wie beabsichtigt, überzeugende Figuren zu kreieren. Der Darsteller des Matamoros, Alvaro Rodriguez, resümierte über seine Figur im Nachhinein: "Er blieb schematisch, ohne Geschlecht, ohne Fleisch und Blut, hatte keine Freundin, keine Frau, gar nichts...ihm fehlte menschliche Logik." 3 Entgegen ihrer Gewohnheit verfiel La Candelaria bei Golpe de Suerte in einen gewissen Automatismus. Obwohl die Gruppe im Stück von komplexen Figuren ausgehen wollte, hielt sie an einer Arbeitsweise fest, welche die Erfindung komplexer individueller Figuren nicht zuläßt. 4 Sie legte den gemeinschaftlichen Improvisationen und Analysen das übliche Konfliktschema der Fabel mit protagonistischen und antagonistischen Kräften zugrunde und war dadurch nicht in der Lage, Figuren zu schaffen, die als eigenständig Handelnde überzeugten. Die Hauptfiguren blieben auf Stereotypen reduziert und versagten damit als dramatische Stützpfeiler des Stücks.
Garcia im persönlichen Inlerview. nach I. Rodriguez im pers. Inlerview. Alvaro Rodriguez im persönlichen Interview. vergl. dazu die Prolokolle des Probenprozesses von Golpe de Suerte (aus dem Archiv von La Candelaria).
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Die Gruppe einigte sich auf die recht willkürlich anmutende Gegenüberstellung von Mafia und Gewerkschaft, ein Gegensatzpaar, das eine ideologisierende Unterscheidung von schlechtem und gutem Lebensweg geradezu heraufbeschwört. Durch die wenigen Berührungspunkte zwischen beiden Themenkomplexen und durch die Voraussetzung, den Weg zweier Figuren zum Leitmotiv zu erklären, gerieten die beiden personajes jeweils zum simplen Exempel eines legalen und illegalen Weges aus der Armut. Die Konstruktion des zentralen Konflikts mit oppositionellen Positionen versperrte die Möglichkeit, die Mafia als komplexes gesellschaftliches Problem zu erfassen. Da es keinen historischen Kontext als Bezugspunkt für das Publikum gab, konnte die intendierte mehrdeutige Wirkung der Aufführung auf intertextueller Ebene nicht erreicht werden. Durch die fehlende Erfahrung des Publikums mit dem gesellschaftlichen Problem der Drogenmafia kam kein Spannungsverhältnis zwischen dem Erlebnishintergrund des Zuschauers und dem Spiel der Schauspieler zustande. Die Figuren blieben daher zu Matrizen eines platten Antagonismus von Gut und Böse degradiert. Der kolumbiansche Theaterkritiker Eduardo Marceies Daconte bestätigt: "A pesar de sus innegables aciertos, la obra no deja de moverse dentro de cierto esquematismo que en el contexto de la trama es muy difícil de superar. Don Felix es la caricatura de un mafioso con todos los estereotipos (...) que se han forjado dentro de la mentalidad popular. La rectitud moral a ultranza de Matamoros es un tanto dudosa. (...) El asceso vertical es excesivamente elemental. (...) En esta linealidad, dentro del esquema más o menos convencional, la ausencia de circunstancias humanas que maticen el determinismo (...) es lo que se nos hace sospechoso." 1 Das Experiment, in der gemeinschaftlichen Stückerfindung komplexe volkstümliche Figuren zu erschaffen, ist in der Produktion von Golpe de Suerte nicht gelungen.
E. Márceles Daconle: »La búsqueda de la felicidad por los caminos de la Mafia« in: Gato Encerrado, No. 3,1980
III. Die zweite Periode der Theaterarbeit von La Candelaria: Neue Wege der Creación Colectiva
La Candelaria stand nach der Produktion von Golpe de Suerte an einem Scheideweg. Einerseits lag es nahe, an der strengen, weitgehend gleichberechtigten, der kolumbianischen Idee vom nationalen Theater verpflichteten Form von Creación Colectiva festzuhalten, mit der die Gruppe viele Erfolge erzielt hatte. Andererseits erforderten die Probleme mit der fünften Produktion eine einschneidende Veränderung der Arbeitsweise, wenn die Gruppe sich ihrem künstlerischen Anspruch gemäß weiterentwickeln wollte. Santiago Garcia gab, für die ganze Gruppe überraschend, den Ausschlag: "Er hatte ganz für sich alleine Quevedos Leben und Literatur studiert. Ausgehend von der Erzählung La Vida del Buscón llamado Don Pablos schrieb er den Diálogo del Rebusque."1 La Candelaria vollzog zwei große Veränderungen: erstens den Übergang von der gemeinschaftlichen Stückerfindung zur Inszenierung eines Stücktextes, der von einem Mitglied der Gruppe vorgelegt wurde, zweitens die Wahl eines Themas, das nicht nur auf die sozio-politische Situation Kolumbiens Bezug nahm, sondern auch kulturhistorische und literarische Aspekte umfaßte. Zwar war Garcías Entschluß, ein Stück zu schreiben, das Resultat einer spontanen Eingebung, doch sie kam nicht von ungefähr. Die Umgestaltung der Theaterarbeit von La Candelaria erwies sich zu jenem Zeitpunkt nämlich aus mehreren Gründen als dringend notwendig. Erstens befand sich die linke Opposition in Kolumbien in einer tiefen ideologischen Krise, die sich auch auf die Theaterbewegung auswirkte: Ende der siebziger Jahre wurde der MarxismusLeninismus als ideologische Richtschnur für die Veränderung der kolumbianischen gesellschaftlichen Verhältnisse immer mehr in Zweifel gezogen, die meisten professionellen Theatergruppen kehrten sich von der kommunistisch orientierten CCT ab, die verbliebenen Vertreter des NTC begannen, sich hauptsächlich mit der Frage nach der kulturellen Identität ihres Volkes auseinanderzusetzen; zweitens war La Candelaria bei der Produktion von Golpe de Suerte in bezug auf die Erfindung Alvaro Rodriguez im persönlichen Interview
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komplexer Figuren auf die Grenzen der strengen Form von Creación Colectiva gestoßen; drittens änderte sich bei La Candelaria in jener Zeit die Gruppenzusammensetzung: Vier junge Schauspieler traten der Gruppe bei, die an der Escuela Nacional de Teatro eine Theaterausbildung unter Leitung von Santiago Garcia abgeschlossen hatten und ein großes künstlerisches Engagement mitbrachten. All diese Faktoren erschütterten die alten Grundfesten der Creación Colectiva und verlangten nach einer neuen Auseinandersetzung mit ihnen. Diálogo del Rebusque leitete eine neue Periode bei La Candelaria ein, in der die Gruppe versuchte, ihr künstlerisches Experiment bezüglich der nationalen Dramatik auf innovative Weise fortzusetzen ohne die Errungenschaften der bisherigen kollektiven Theaterarbeit aufzugeben.
1. Diálogo del Rebusque: ein kolumbianischer Dialog mit der spanischen Vergangenheit Santiago García ließ sich hauptsächlich von persönlichen Motiven leiten, als er sich dazu entschloß, Leben und Werk des spanischen Barockdichters Quevedo (15801645) zu dramatisieren: "Quevedo hat mich schon immer ganz besonders interessiert. In meiner Kindheit wohnte ich zeitweise in einem kleinen kolumbianischen Dörfchen namens Puente Nacional in Santander. Da versammelte die Köchin des Hauses, die sehr dick und sympathisch war, abends alle Kinder und erzählte Geschichten von Quevedo. Ich wuchs mit diesen Geschichten auf. Bis ich im Gymnasium lernte, was Literatur ist, glaubte ich, daß Quevedo eine Figur aus der Phantasie des Volkes sei. Und jetzt, da ich beim Theater bin, habe ich mir vorgenommen, das volkstümliche Bild von Quevedo wieder zum Leben zu erwecken." 1 Leben und Werk des alten spanischen Dichters Quevedo als volkstümliche Tradition des gegenwärtigen Kolumbien, diesen für die kolumbianische Lebenswelt bezeichnenden Anachronismus auf die Bühne zu bringen, war eine Herausforderung, die Garcia reizte. Wie er in seinen regelmäßigen Ansprachen an das Publikum vor jeder Vorstellung betont, liegt für ihn die größte Leistung seines Stückes in der "Wiederentdeckung des alten spanischen Theaters und der Sprache des siglo de oro, die heute noch in der Kultur Kolumbiens lebendig ist." 2
Santiago Garcia im persönlichen Interview Aus persönlichen Aufzeichnungen Uber eine Aufführung am 18.5.1985 in I b a g u i , Kolumbien.
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In diesen Worten klingt bereits der Wandel des Nuevo Teatro an. Sowohl die sprachliche Kraft des Theaters als auch die kulturelle Tradition Kolumbiens erhalten hier eine bis dahin ungekannte Wertschätzung. Wie bei Guadalupe años sin cuenta deutet sich auch im Diálogo del Rebusque das Anliegen des Stückes bereits im Titel an. Rebusque ist ein kolumbianischer Ausdruck für das Leben von der Hand in den Mund, von einem Tag zum anderen, wobei jede Gelegenheit, Geld zu verdienen, willkommen ist, ob es sich um Straßenhandel, kleine Betrügereien, Altpapiersammlung oder Scheibenputzen handelt. Rebusque enthält gleichzeitig den Begriff der Suche (búsqueda), der die vielzitierte Suche nach der kulturellen Identität suggeriert. Diálogo schließlich bezieht sich auf den Dialog des heutigen Kolumbien mit dem alten Spanien, den das Stück zu führen versucht. Diálogo del Rebusque basiert hauptsächlich auf drei Werken von Quevedo, und nicht zuletzt darauf will der Titel ebenfalls verweisen: La vida del Buscón llamado Don Pablos ist die wichtigste Quelle des Stücks, das darüberhinaus auf den Erzählungen El infierno enmenedado und Los Sueños1 basiert. Den Mittelpunkt des Stücks bildet in Anlehnung an den Helden aus Quevedos Buscón der Lebensweg des kleinen Gauners Pablos durch das spanische siglo de oro. Garcías Werk stellt nicht nur die theatralisierte Fassung der literarischen Vorlage dar, es spielt auch mit verschiedenen Genres. Quevedo selbst tritt im Theaterstück auf, um als Urheber und Eigentümer der Figur des Pablos darüber zu wachen, daß dieser sich auf der Bühne nicht verselbständigt. Das Stück beginnt mit einem Aufstand in der Hölle. Die Teufel rebellieren, weil sich die Zugänge zur Hölle quantitativ, aber nicht qualitativ steigern. Nutten, Bettler und Gauner treffen im Überfluß ein, die wirklich wichtigen Leute wie Minister, Bischöfe und Adlige bleiben aus. Die Teufel protestieren gegen die Arbeitsüberlastung und fordern eine Reorganisation des Höllenbetriebs. Pablos nutzt das Chaos des Aufstands, um auf die Theaterbühne zu entkommen. Dort will er sich von seiner fiktiven Existenz als picaro, als betrügerisches, lasterhaftes Schlitzohr, befreien und seine Lebensgeschichte in seinem eigenen Sinne erzählen, um sich auch angenehme Eigenschaften anzudichten. Quevedo, der wegen seiner aufrührerischen und anstößigen Jugendwerke in der Hölle sitzt, beharrt darauf, daß Pablos sein geistiges Eigentum sei und will ihn zurück in die Hölle treiben. Der Oberteufel schaltet sich ein. Nach heftigen Auseinandersetzungen erlaubt er Pablos, eine Weile auf der Bühne zu bleiben. Er glaubt Pablos Argument nur allzu Francisco de Quevedo: La Vida del Buscón llamado Don Pablos, 1982 ders.: Los Sueños, 1983
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gerne, daß die Menschen viel weniger sündigen würden, wenn sie das Beispiel seiner unwürdigen Lebensgeschichte hörten, weil er hofft, die Anzahl der Höllenbesucher würde sich dadurch verringern und die Rebellion somit aufhören. Er befiehlt seinem Assistenten Cirilo, Pablos auf seinem Weg auf die Bühne zu begleiten und darauf zu achten, daß dieser nicht übertreibe und keine Lügen verbreite. So endet der Prolog des Stücks. Pablos beginnt mit seiner 'Lebensgeschichte': "Yo, señores, soy de Segovia. Mi padre se llamó d e m e n t e natural del mismo pueblo..." 1 Sie setzt sich aus verschiedenen Rollen zusammen, in die Pablos schlüpft, um sich durch das Leben zu schlagen. In der Verkleidung eines feschen Grafen versucht er, sich eine Frau höheren Standes zu angeln, ein andermal spielt er einen verkrüppelten Bettler, um von den Almosen zu leben. Als er sich schon fast mit der auserkorenen Adligen verheiratet wähnt, wird seiner Illusion ein jähes Ende bereitet. Während eines nächtlichen Ständchens unter dem Balkon der Geliebten wird er zusammengeschlagen, weil er trotz seiner Verkleidung erkannt und sein Betrug aufgedeckt wird. Die direkte Erzählung seiner Geschichte wechselt mit szenischen Darstellungen seiner Abenteuer ab. Gleichzeitig wird Pablos Lebensbericht immer wieder von unvorhergesehenen Begegnungen mit grotesken Gestalten aus dem alten Spanien wie dem 'Retter des Imperiums', dem 'Philosophierenden Spiegelfechter' oder einem bizarren Vertreter des verarmten Adels unterbrochen. Zwischendurch greifen die Helfer der 'Heiligen Inquisition' willkürlich ein, um Pablos oder andere Personen niedrigen Standes zu verhaften. Als Pablos nach seiner mißglückten Liebeswerbung am Tiefpunkt angelangt ist und keinerlei Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Situation mehr in Sicht ist, schlägt Cirilo, der ihm während seines Ganges durch sein Leben bereits mehrere Male unerlaubt geholfen hat und inzwischen sein Freund geworden ist, ihm vor, wieder in die Höhle zurückzukehren. Pablos aber lehnt ab. Er meint, sein Leben endlich verstanden zu haben und will nun weiterlernen. Inwischen ist die Revolution in der Hölle erfolgreich verlaufen. Der Oberteufel ist abgesetzt. Quevedo wird erneut verurteilt, diesmal dafür, daß er sich im Alter von seinen Jugendwerken distanziert hat. Der Revolutionsführer und neue Oberteufel Numael erlaubt Pablos, ein eigenes Leben zu beginnen.
Santiago Garcia: »El Diálogo del Rebusque« in: Cuatro obras del Teatro La Candelaria. 1987:9-116 "Ich, meine Herren, komme aus Segovia. Mein Vater hieß Clemente und stammte aus dem selben Dorf..." (21)
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García hat Quevedos leichtfüßige erzählerische Wanderung durch die verschiedenen Räume der menschlichen Vorstellungskraft wie Himmel, Hölle, Traum, Wirklichkeit und Geschichte als Grundmuster der komplexen dramatischen Konstruktion des Diálogo weitergeführt und zu einem ungewöhnlichen, epischen, barock anmutenden Theaterereignis umgeformt. Die Hauptfigur Pablos changiert fortwährend zwischen verschiedenen Illusionsebenen, die sich auf der Theaterbühne überkreuzen. Im Bereich der Hölle führt er eine Existenz als literarische Figur. Die kurzen Auftritte Quevedos (gespielt von Santiago Garcia) haben die Funktion, an diesen Ursprung Pablos zu erinnern. Zweitens tritt Pablos auf dem Proscenium als IchErzähler leibhaftig vor das Publikum und somit aus der rein literarischen Fiktion heraus. Er geht ein scheinbar reales Verhältnis mit dem Publikum ein und begibt sich auf eine Wirklichkeitsebene mit ihm, indem er es direkt anspricht: "¡Hey! ¡Hey! ¡Hey! ¡A vosotros tacaños, bergantes, perversos y abominables! (...)¡Atención! A vosotros, cotorreas, bellacones, indisciplinadas y alcagüetas! (...)¡Atención! Y a quienes crean que no son ni lo uno ni lo otro pues para ellos también: ¡Atención! Que todo lo que se va a presentar aquí sobre este escenario (...) tiene que ver con vuestras vidas, costumbres y memorias!" 1 Drittens geriert sich Pablos zur dramatischen Gestalt, wenn er, in der epischen Erzählung unterbrochen, in Abenteuer verwickelt wird und das Stück aus dem hic und nunc des 'Zwiegesprächs' mit dem Zuschauer in die Zeit des 16. Jahrhunderts zurückblendet. Zum Beispiel wird Pablos einleitender Bericht über seine Herkunft direkt gestört, als eine Gruppe Verurteilter, begleitet von einem Henker, einem Mönch und einem Kerkersknecht, an ihm vorbei zum Schafott geführt wird. Pablos erkennt im Henker seinen Onkel wieder und vertieft sich in ein Gespräch mit ihm, bis er in einen Karnevalszug gerät und ein virtuoses Lied singt. Die doppelbödigen Verfremdungstechniken, die Garcia in seinem Stück anwendet, erreichen eine weitere Ebene, wenn Pablos aus seiner Rolle als Ich-Erzähler tritt, um z.B. mit Cirilo seinen Auftritt auf der Bühne zu besprechen und somit direkt auf seine Funktion als Schauspieler hinweist: "P.: ¿Empezamos? C.: Empecemos. 1
ebd.: U f "Hallo, Ihr Knauser, Betrüger und Schufte, Ihr geilen Hunde, paßt auf! (...) Achtung, Ihr Schwätzer, Schurken, Faulenzer und Kerkerssöhne (...) Achtung! Und auch Ihr, die Ihr weder das eine noch das andere sein wollt, Ihr auch, Achtung! Alles, was Ihr hier auf der Bühne sehen werdet, (...) hat mit Eurem Leben, Euren Gewohnheiten und Euren Erinnerungen zu tun!"
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P.: (Con voz muy alta). ¡Atención! C.: ¡No! Si empiezas así a dónde vamos parar. Me vas a reventar los tímpanos. El mayor me confió tu custodia, pero sobre todo que no exageras. ¡Y mira lo que estás haciendo! P.: ¡Pero así empiezan todos los espéctaculos de categoría. Además, es mi vida, ¿no? C.: ¡Así podrán empezar todos los que quieras, pero éste no! Mira, yo soy un diablo...cómo decirte...de tímpano delicado...Entre nosotros también se dan artistas. ¿Me entiendes? P.: Está bien. Empiezo. (Baja el tono. Muy dulce). Atención. (A Cirilo). ¿Así está mejor? C.: Mejor. (Se sienta a un lado para escuchar). Sigue así." 1 Ohne dem Zuschauer eine Atempause zu gönnen, reihen die Schauspieler einen Hinweis an den anderen, daß hier Theater im Theater gespielt wird. Die epischen und dramatischen Ebenen im Stück überschneiden sich so häufig, gehen so oft ineinander über, die Zeiten wechseln so überraschend, daß beinahe nicht mehr zu verfolgen ist, welche Ereignisse zu Pablos fiktiver Biographie gehören und welche sich während seiner Erzählung abspielen. Gerade darin besteht die große Anziehungskraft des Stücks: Die Grenzen zwischen Wahrscheinlichkeit und Phantasie werden so verwischt, daß man sich dem nahezu hypnotischen Bann der theatralischen Wahrheit dieser hybriden Pablos-Figur überläßt, um schließlich doch immer wieder aufgeschreckt zu werden. Mit der Übereinanderschichtung und Verschachtelung der Illusionsebenen führt Garcia ein Formelement im Neuen Theater ein, das man bereits im Barocktheater findent und das dort eines der wichtigsten Merkmale darstellt. In der konsequenten Durchführung des Verwechslungsspiels der Wirklichkeiten liegt die Behauptung verborgen, daß eine Parallele vorliegt zwischen der Geistesverfassung der Zeit, in 1
ebd.: 20f "P.: Fangen wir an? C.: Fangen wir an. P.: (mit sehr lauter Stimme) Achtung! C.: Nein! Wo soll das denn hinführen, wenn du jetzt schon so anfängst. Das schlägt mir aufs Trommelfell. Ich soll auf dich aufpassen, aber vor allem darauf achten, daß du nicht Ubertreibst.Und was tust du? P.: Aber so fangen alle Vorstellungen von Klasse an! Außerdem ist es mein Leben, oder? C.: So viele wie du willst können so anfangen, aber diese nicht! Sieh mal, ich bin ein Teufel...wie soll ich sagen...mit einem empfindlichem Trommelfell. Bei uns gibt es auch Künstler, versiehst du? P.: Ist gut, ich fange an. (Senkt die Stimme. Sehr sacht.) Achtung. (Zu Cirilo.) Ist das besser? C.: Besser. (Setzt sich an die Seite, um zuzuhören.) Mach weiter so."
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der der Diálogo entstanden ist und dem barocken Zeitalter des Quevedo, eine Geistesverfassung, in der die Trennung von Schein und Sein nur ein Spiel ist, um im nächsten Augenblick wieder für ungültig erklärt zu werden. 1 Ein interessantes Beispiel für die Übereinstimmung mit derartigen Elementen des Barocktheaters ist Alewyns Beschreibung der Funktion des Hanswurst, die ebenso als Beschreibung der Funktion des Pablos im Diálogo gelten kann: "Wenn das Theater im Theater die Maske abzuwerfen scheint, wenn Hanswurst 'aus der Rolle fällt', so tritt er damit ja nicht auf die Ebene der wirklichen Wirklichkeit. Denn was hier als ein Durchbruch der Wirklichkeit erscheint, ist, so haargenau es ihr gleichen mag, ja auch nur einstudiertes Theater und in Wirklichkeit nur eine raffinierte Täuschung." 2 Ein weiteres Mittel, das García anwendet, um der barocken Welt des Quevedo, seiner Bosheit, seiner Vulgarität, seiner Satire und vor allem seiner Sprache nahe zu kommen, besteht in der beinahe wörtlichen Montage einiger originaler Textstellen aus den Werken von Quevedo im Stück. Als Beispiel sei der Text der Figur des Alguacil endemoniado, des dämonisierten Kerkerknechts aus Los sueños angeführt: "Alguacil: Sólo que nosotros los diablos procuramos que haya vicios y pecados en el mundo, pues es nuestro deber, en cambio ellos lo desean con más anhínco porque lo han menester para su sustento.(...) (Cirilo se acerca al alguacil que empieza a hablar como en alemán)(...) P.: ¿Qué dice? C.: Dice que en el mundo existen muchas clases de ladrones y que cada hurta de su manera. El enamorado hurta con sus ojos, el discreto con la boca, el poderoso con los brazos, el valiente con las manos, el músico con los dedos (...)." 3
vergl.: R. Alewyn: »Der Geisl des Barocktheaters« in: Das große Weltiheater, Rowohlts deutsche Enzyklopädie, 1959: 48-70 "Dies ist also der Stoff, aus dem die Welt der Bühne aufgebaut ist: ein Gemisch aus Wirklichkeit und Schein. Und dies ist der Ort, an dem das Spiel abläuft: die Stelle des ungewissen Übergangs zwischen Wirklichkeit und Schein. In einem eigentümlichen Zwischenreich also siedelt sich das Theater an, und dieses Zwischenreich ist es, dem das Barock bis zum Delirium verfallen war (...) Die barocke Illusion (...) führt niemals in die Tiefe des Scheins, sondern hält sich immer nur am Rande auf, jederzeit bereit, die Grenze zu überspringen und den Schein wieder aufzuheben, ebenso bereit freilich auch, ihn zu verdoppeln." (630 ebd.: 68. Vergl. dazu den Dialog zwischen Pablos und Cirilo in vorl. Arbeit S. 163 Teatro La Candelaria 1987:28 "Alguacil: Nur wir Teufel sorgen dafür, daß es Lasier und Sünden auf der Well gibt, das ist unsere Pflicht. Und Kerkersknechte haben sie besonders nötig, weil sie sie zu ihrem Lebensunterhalten brauchen. (...) (Cirilo nähert sich dem Alguacil, der anfängt, so etwas wie deutsch zu reden.) (...) P.: Was sagt er?
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Auch d.e Textstellen, die aus Garcías eigener Feder stammen, orientieren sich an Quevedos barockem, altspanischen Sprachduktus. Für die Gruppe war die Anwendung dieser üppigen, blumigen Sprache ein Experiment, bei dem sie mehr intuitiv denn bewußt davon ausging, daß diese Sprache in Kolumbien nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch noch in der Gegenwart lebt. Die Reaktionen des Publikums bestätigten diese Intuition: "Pensamos inicialmente que la obra no iba ser como los anteriores, que no iba a tener una repercusión muy grande, que podía ser un experimento de tipo casi formal, pero para gran sorpresa nuestra, nos dimos cuenta que la obra impresionaba y que gustaba mucho a sectores populares (...) y la tenemos todavía en repertorio: Lleva casi 120 representaciones." 1 Das Stück sucht nicht nur sprachlich, sondern auch musikalisch und visuell den Anschluß an das siglo de oro. Lieder im Stil barocker spanischer Volksmusik, mehrstimmig von den Schauspielern vorgetragen, kommentieren in Texten, die teilweise von Garcia, teilweise von Quevedo stammen, zwischen und während der Szenen das Geschehen. Die allegorische Geschichte des Pablos und seiner Abenteuer wurde inszenatorisch durch die Aneinanderreihung prächtiger Bilder umgesetzt. Wenn die Schauspieler z.B. einen Chor bilden, dann erstarren sie zu einem Tableau aus verschiedenen grotesken altspanischen Gestalten. Der pittoreske Charakter der Aufführung ist unter anderem aus den Anregungen hervorgegangen, welche die Gruppe in den Malereien von Goya und Hieronymus Bosch gesucht hat. In Anlehnung daran sind die Kostüme und der große Hintergrundvorhang in vergilbten, erdigen Farben entstanden. Bis auf die Vorhang-Kulisse ist die Bühne leer. Wie bei Guadalupe años sin cuenta beruht der theatralische Ausdruck hauptsächlich auf den Mitteln der Schauspieler. Der Schauspielstil ist durchgehend expressiv, komödiantisch, mit ausladenden, übertriebenen Gesten, karikierend und verzerrend; einige personajes, wie die C.: Er sagt, daß es viele verschiedene Arien von Dieben auf der Welt gibt und jeder auf seine eigene Weise stiehlt. Der Verliebte stiehlt mit den Augen, der Diskrete mit dem Mund, der Mächtige mit den Armen, der Reiche mit den Händen und der Musiker mit den Fingern." Vergl. dazu Quevedo:»EI alguacil endemoniado« in: Los sueños: 83 "Pues bien mirado, nosotros procuramos condenar y los alguaziles también, nosotros que haya vicios y pecados en el mundo y los alguaziles lo dessean y procuran con mas ahinco, porque ellos lo han menester para su sustento." ebd.: 91: "No hurta el amor con los ojos, el discreto con la boca, el poderoso con los bracos, pues no medra quien no tiene los suyos? El valiente con las manos, el músico con los dedos (...)?" Garcia im Interiew mit E Almeida anläßlich des Interationalen Theaterfestivals in Caracas 1983 in: Revista de Hoy, Ecuador, 22. 5. 1983
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Teufel und die Adligen, tragen bizarre Gesichtsmasken. Eine wesentliche Ausnahme bildet die Darstellung von Pablos ständigem Begleiter, Cirilo. Dieser zarte, wendige Teufel hält sich nahezu immer im Hintergrund, bewegt sich sparsam, beobachtet mit höchster Konzentration Pablos ausladende Darstellungen und stellt somit einen spannungsvollen subtilen Kontrast zu dessen lautstarken und Aufmersamkeit heischenden Auftritten dar. Der Hintergrundvorhang, ein Entwurf des kolumbianischen Malers Pedro Aleantara, ist aus alten Gardinen und Spitzentischtüchern zusammengesetzt und weist auf den verfallenen, dekadenten Zustand des einst so glänzenden Spaniens hin. Er wirkt wie die Fassade eines verwunschenen Schlosses mit vergangener Glorie und bildet eine zweite Spielfläche für die Schauspieler. Aus verschiedenen Türen und Fenstern, die von Gardinen verborgen werden, entläßt er immer wieder andere Theaterfiguren oder gibt den Blick auf sein Innenleben frei. Eine Pforte auf der Bühnenebene stellt den Eingang zur Hölle dar. Wird der Vorhang vor diesem Eingang zur Seite gezogen, ertönt laute Höllenmusik (aus Strawinskis 'Feuervogel'), und rotes Licht bestrahlt schauerliche, verzerrt tanzende Gestalten, die gegen Beginn und Ende der Aufführung auf die Bühne strömen. Der Schluß der Vorstellung führt aus dem Höllenraum zurück auf das Proscenium, zu Pablos und den Zuschauern. Pablos hat seine Lektion gelernt: "Mira...yo...espera...bien...la primera vez que viví...mi vida...que no era propiamente la mía...(...) Porque me lo dio el señor Quevedo (...) todavía no lo entiendo bien. Pero creo...creo...(...) la vida es algo que merece ser vivida, porque es el único lugar donde podemos aprender." 1 Pablos trennt sich von Cirilo, der zurück in die Hölle gehen muß. Numael gibt Pablos folgende Worte mit auf den Weg, es sind die letzten des Stückes: "Te dejamos ahí. Pablos, vive tu vida, enseñala y aprende de las vidas de otros que si lo logras, podremos decir que tal vez es medicina el veneno." 2 Dieser Satz, unterstützt von Pablos Schlußgeste, der mit ausgebreiteten Armen auf das Publikum zuläuft, wirkt wie ein Ausrufezeichen in Richtung Publikum, um zum letztenmal die Gültigkeit der barocken Geschichte für das gegenwärtige 1
Teatro La Candelaria 1987: 99f "Sieh, ... ich ... warte... gut... das ersie Mal, als ich ... mein Leben gelebt habe ... das nicht wirklich meins war (...) Weil Seflor Quevdo es mir gegeben hatte (...) ich verstehe es immer noch nicht richtig. Aber ich glaube ... ich glaube ... das Leben verdient es, gelebt zu werden, weil es der einzige Ort ist, wo wir lernen können."
2
ebd.: 115 "Dich lassen wir hier. Pablos, lebe dein Leben, lehre es und lerne aus dem Leben anderer. Wenn du das schaffst, können wir vielleicht sagen, daß Gift die Medizin ist."
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Kolumbien zu betonen. Pablos repräsentiert nicht nur den picaro und Überlebenskünstler aus dem vergangenen Spanien, sondern verkörpert auch die Allegorie des rebusque, "den Betrüger, Trickser und Opportunisten, den die Spanier uns nach Amerika geschickt haben. Pablos ist eine kulturelle Summe dessen, was damals war und heute ist."1 Im Diálogo del Rebusque ist es La Candelaria gelungen, eine volkstümliche Figur zu entwerfen, die ihren Ansprüchen an Komplexität gerecht wird, indem sie als Raum fungiert, der die gesellschaftlichen Widersprüche umfaßt, durch die eine ganzheitliche Wiedererkennung des Publikums im Sinne des theatralischen Bildes gegeben ist. 2 Die Gruppe hat eine Figur entwickelt, die nicht nur theoretisch, sondern auch menschlich angelegt ist ohne daß sie naturalistische Züge trägt oder dem psychologischen Konzept des Charakters verhaftet ist, vielmehr kommt sie dem Entwurf eines Menschenbildes auf dem Theater nahe, in dem sich die gesellschaftliche Wirklichkeit der kolumbianischen Zuschauer spiegelt. Daß der Anspruch auf Komplexität der personaje endlich erfüllt werden konnte, beweist auch die Rezension des kolumbianischen Kritikers Eduardo Márceles Daconte, der eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten in der Geschichte des Buscón entdeckte: "Los diablos organizan una revuelta en el infierno (...) puesto que allí están entrando (...) delincuentes comunes en lugar de 'peces gordos' (como en cualquier cárcel colombiana) (...) García condensó (...) relatos (...) con descripciones críticas y humorísticas que aluden al estado de corrupción que padece España cuando la honra y el valor, pilares de la nobleza, se hallan seriamente cuestionados por las rapidas transformaciones que sacuden al país como consecuencia de la explotación del Nuevo Mundo y sus inmensas repercusiones en la estructura social de la época. La contemporaneidad de este clásico es evidente si tenemos en cuenta que Colombia atraviesa por una difícil etapa de su existencia. Justamente la bonanza del narcotráfico amenaza la fibra moral y suscita el desequilibrio económico en vastas regiones del país." 3 Das Stück zieht auch eine Parallele zwischen dem moralischen Fatalismus im dekadenten Spanien und im korrupten Kolumbien, versieht diesen aber, der konkret
1
García in seiner Ansprache vor dem Publikum am 18. 5. 1985
2
vergl. García 1983: 86f
3
E. Márceles Daconle: »En el tealro La Candelaria diálogo del rebusque o la fantasía de la realidad« in: Conjunto, No. 55, 1983: 45-48
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utopischen Haltung Garcías treu, mit der optimistischen Aufforderung, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um zu leben und sich von alten Zwängen zu befreien, indem man sie erkennt. Mit der Produktion des Diálogo vollzog La Candelaria einige wesentliche Veränderungen. Die wichtigste betraf die theatralische Arbeit mit der Vorlage eines definitiven Stücktextes. Diese brachte wiederum eine größere Individualisierung der Aufgabenverteilung mit sich: Garcia führte konsequent Regie, ein Musiker und Schauspieler der Gruppe, Ignacio Rodríguez, komponierte eigenverantworlich die Musik, die Schauspielerin Beatriz Camargo entwickelte die Masken, und der kolumbianische Maler Alcantara entwarf das Bühnenbild. García als Autor des Stücks war nicht mehr den Bedingungen der gemeinschaftlichen Konstruktion einer Fabel unterworfen und somit auch nicht durch den Schematismus behindert, den diese Erfindungsweise hervorbringt; vielmehr konnte er seiner Phantasie freien Lauf lassen und seine persönlichen Beweggründe in den Schöpfungsprozeß miteinfließen lassen. Schließlich fand die Rollenverteilung in einem so frühen Stadium der neunmonatigen Probenarbeit statt, daß die einzelnen Schauspieler viel mehr Zeit fanden, sich in die Darstellung ihrer Figuren zu vertiefen. García sagte dazu im persönlichen Interview: "Da das Stück bereits geschrieben war und die Figuren im Text mehr oder weniger vorgegeben waren, begannen wir die Proben diesmal damit, eine Figur nach der anderen zu charakterisieren, bis wir zur endgültigen Inszenierung kamen, die drei Monate in Anspruch nahm." Der Individualisierungsprozeß führte zu einer Auseinandersetzung mit schauspielerischen Techniken, die die Gruppe dem Darsteller des Pablos, Alvaro Rodríguez, zufolge nie zuvor gekannt hatte: "Die Schauspielerei hat uns am meisten Arbeit gekostet, aber in diesem Bereich haben wir auch am meisten gewonnen, der Diálogo war in dieser Hinsicht für uns alle ein Riesensprung." Der Text des Stücks erfuhr während der Probenarbeiten nur geringfügige Veränderungen, vermutlich meinte Garcia unter anderem deshalb, "dies ist kein Stück der Creación Colectiva ".1 Trotzdem bedeutete die Produktion keine Absage an die kollektive Arbeitsweise. Im Gegenteil, La Candelaria behielt die kollektiven Improvisations- und Inszenierungstechniken bei, 2 Mitsprache und Eigeninitiative der Schauspieler während Garcfa/P. Cote: Interview in Semana, No. 20, 26. 9. 1983: 58 vergl. M. Enriquez: Mitodo del trabajo en el monlaje de la obra Didlogo dei Rebusque por el Tealro La Candelaria, Protokoll der Probenarbeiten, unveröffenU. Manuskript, Januar 1981 (aus dem Archiv von La Candelaria). Aus diesem Protokoll geht hervor, daß La Candelaria ähnlich wie bei Guadalupe mit analogen Improvisationen und anschließenden Analysen gearbeitet hat, um zu Arbeitshypothesen zu gelangen. Enriquez unterscheidet folgende Arbeitsetappen: 1. Kollektive Lektüre des Stückes; 2. Arbeit am runden Tisch, Arbeitsplan, Lektüre der Werke von Quevedo, Analyse; 3. erste Improvisationsrunde, Analyse, Konklusionen; 4. Rollenverteilung, Auseinandersetzung
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des Probenprozesses blieben gehandhabt, und die Produktion stand nach wie vor unter der Verantwortung der Gesamtgruppe. Das gesamte Theaterereignis wäre ohne die kollektive Erfahrung der Gruppe undenkbar gewesen. Die sprachliche Komplexität des Stücks und der Reichtum der Figuren werden ergänzt durch die bildnerische Ästhetik, die auch für die früheren Stücke kennzeichnend ist. Viele Stilelemente aus den früheren Creaciones Colectivas hat La Candelaria beibehalten: wie die Ironie, die verfremdende karikierende Spielweise und vor allem die Offenheit des Spiels, die durch die Anknüpfung an die Tradition des barocken Theaters noch intensiviert worden ist.1 Die Aufführung, deren Premiere am 23. 9. 1981 stattfand, wurde ein großer Erfolg. Die Rezensenten waren begeistert von der "plastischen Kraft" der Inszenierung und lobten Garcia in besonderem Maße: "Las cualidades de Santiago García como autor y director sobresalen en este encuentro con Quevedo."2 Auch in Spanien, dem Heimatland von Quevedo, wurde anläßlich eines Auftritts der Gruppe auf einem Theaterfestival in Amagro im Jahr 1984 lobend bemerkt: "Santiago Garcia (...) ha sabido crear, pese al soporte difícil del texto de Quevedo, una excelente pieza teatral compleja, enriquecida y que sin duda alguna afirmaría Valle Inclan."3
mit dem Stiicktexi, Memorieren; 5. zweite Improvisationsrunde, Analyse, Konklusionen; 6. Inszenierungsvorschläge und Durchlaufe. vergl. dazu Eco 1977: 35. Eco expliziert hier, daß die offene Ästhetik in den Formen des barocken Theaters ihren Höhepunkt erlangt hat, weil "die barocke Form (...) dynamisch ist. (...) Die plastischen Massen des Barock (...) veranlassen den Beatrchler ständig dazu, den Standort zu wechseln, um das Werk unter immer neuen Aspekten zu sehen, als ob es in ständiger Umwandlung begriffen wäre." A. Torres: »Diálogo del rebusque en el festival Internacional de Caracas« in: Vanguardia Dominical, Bucaramanga, 29. 5. 1983 A.: »Buen comienzo del VII Festival Internacional de Teatro« in: Lanza, Cuidad Real, 6 . 9 . 1 9 8 4
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2. Trilogie von der Eroberung der Neuen Welt: das Projekt Conquista Nach dem Erfolg mit Diälogo del Rebusque nahm sich La Candelaria ein Jahr Zeit, um gemeinsam nach einem Weg zu suchen, die bereits erziehlten künstlerischen Fortschritte weiterzuführen und die Förderung der schauspielerischen Techniken aller Mitglieder zu vertiefen. Die Zeit wurde für schauspielerische Experimente und Improvisationen über ein sehr allgemeines Thema genutzt. In Anknüpfung an den Diälogo del Rebusque stand das Problem der Conquista im Mittelpunkt des einjährigen Trainings. Hatte im Diälogo der Einfluß des spanischen Erbes in Kolumbien im Mittelpunkt gestanden, so sollte sich der thematische Schwerpunkt jetzt umgekehrt auf das präkolumbische Erbe und den Kulturschock verlagern, den die Conquista in der Neuen Welt verursacht hat. "Wir kennen die hiesige Kultur viel zu wenig", kommentierte einer der Schauspieler der Gruppe die Entscheidung, "und wir mußten wieder einmal regelrechte Forschungsarbeit betreiben, diesmal, um herauszufinden, wie die präkolumbische Zeit war, wie der Kulturschock gewirkt haben mag und welche Auswirkungen noch in unserer Gegenwart zu spüren sind." 1 Wie in den früheren Creaciones Colectivas versammelte die Gruppe viel theoretisches Material zum Thema, das in diesem Fall von historischen Untersuchungen über Biographien bis hin zu Romanen reichte. Gemeinsam oder in Kleingruppen wurde es gelesen und diente als Ausgangspunkt für die Improvisationen. Schließlich einigte sich die Gruppe nach Ablauf der einjährigen Experimentierphase darauf, daß jeder Schauspieler ein eigenes Stück auf der Basis der Improvisationen verfassen sollte. Insgesamt wurden acht Stücke vorgelegt, von diesen wählte La Candelaria drei, und zwar von den ältesten und erfahrensten Mitgliedern, zur Inszenierung aus: La tras Escena von Fernando Penuela, Corre Corre Carigüeta von Santiago Garcia und El viento y la Ceniza von Patricia Ariza. 2 Jeder Autor übernahm selbst die Verantwortung für die Inszenierung seines Stückes. Die Trilogie der stilistisch und inhaltlich sehr verschiedenen Stücke wurde in einem Zeitraum von drei Jahren (zwischen 1984 und 1987) zur Aufführung gebracht.
Fernando Peiluela im persönlichen Interview, Mai 1984 Et viento y la Ceniza wurde im Oktober 1986 uraufgeführt . Es handelt sich um ein "Epos der Gegenconquista", die Kehrseite der Eroberung. Das Stück, das von seiner visuellen Aussagekraft geprägt ist und weniger von seinen (minimalen) Dialogen, zeigt, wie die Eroberer in hohem Alter die Reise in die Welt noch einmal antreten, sie als Alptraum erleben und schließlich in Verwirrung, Alkoholimus und Dekadenz enden. Vergl.: Cuatro obras de la Candelaria, 1987
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Das Projekt Conquista stellt eine sehr eigenwillige und spannende Lösung dar, die Errungenschaften aus der Produktion des Diálogo del Rebusque weiterzuführen, ohne vom 1972 eingeschlagenen Weg der Creación Colectiva abzuweichen. Es verschmolz die Methode der kollektiven Erfindung bildnerischen Theaterstoffs mit individueller Autorschaft und Inszenierungsleistung, verlor dabei aber weder den Primat der Gruppe noch den Lernprozeß aller Schauspieler aus dem Auge. Diese Lösung war - vor allem für eine so renommierte und erfolgreiche Theatergnippe wie La Candelaria - auch sehr wagemutig. Denn wer konnte garantieren, daß zwei Erstlingswerke und -inszenierungen innerhalb von drei Jahren die Kontinuität der Gruppenentwicklung nicht gefährden und den bis dahin erprobten Stil ihres Theaters nicht durchbrechen würden? Dazu muß hervorgehoben werden, daß Santiago Garcia nach der großen Anerkennung, die ihm als Autor des Diálogo del Rebusque zuteil geworden war, nicht darauf aus war, sich weiter auf diesem Gebiet zu profilieren, sondern der Entwicklung der Gruppe Priorität einräumte und zusammen mit ihr versuchte, alle Fähigkeiten der Schauspieler weiter auszubilden und zu stimulieren und die Funktion des Direktors zu dezentralisieren. "Santiago Garcia hat damit angefangen, Stücke junger Schauspieler in seiner Gruppe zu fördern, und zwar mit aller eigenen Bescheidenheit und dem Respekt vor seinen Leuten, damit andere zum Zuge kommen konnten. Das ist ein ausgezeichnetes Experiment, auch wenn die Stücke einige Unebenheiten und Fehler haben," so wußte Carlos José Reyes die Risikobereitschaft von Garcia zu würdigen. 1
3. La tras Escena Die Hinterbühne eines Theaters dient in La tras Escena als Ort, wo das Thema der Conquista sowie deren Auswirkungen auf das heutige Kolumbien in einem großen Bild entfaltet wird. Der Inhalt des Stücks lautet in kurzer Zusammenfassung: In einem fiktiven lateinamerikanischen Land dieser Zeit will sich eine halb-professionelle Theatergruppe zu einem professionellen Nationaltheater hocharbeiten. Die erst kürzlich durch einen Putsch an die Macht gelangte Militärregierung gibt der Gruppe den Auftrag, anläßlich des ersten offiziellen kulturellen Aktes des Regimes am Jahrestag der Landung von Cristoph Columbus (Día de la Raza ) Lope de Vegas Stück La famosa Comedia del Nuevo Mundo descubierto por Cristóbal Colón aufzuführen.
C. J. Reyes im persönlichen Interview, Oktober 1984
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In einer Zeitspanne, die zwei Stunden vor der Premiere einsetzt und damit endet, daß der letzte Schauspieler das Theater nach der Aufführung verläßt, laufen zeitlich parallel zwei Haupthandlungen ab: einerseits die Aufführung des Stücks von Lope de Vega von der Hinterbühne aus gesehen und andererseits der Leidensweg Marthas, Tänzerin, Widerstandskämpferin und Lebensgefährtin des Hauptdarstellers Andrés. Ihre Verschwörergruppe fliegt auf, und sie ist gezwungen, das Land zu verlassen, ohne Andrés noch einmal zu sehen. Auf der Hinterbühne herrschen chaotische Zustände. Ein von der Widerstandsgruppe organisierter Streik des öffentlichen Transportwesens verhindert die rechtzeitige Ankunft der Schauspieler zur letzten Probe, das verkehrte Bühnenbild wird geliefert, die Tochter des Präsidenten trifft unerwartet zu einer Besichtigung des Theaters ein, der Ersatzschauspieler Mario kennt seinen Text nicht. Als die Vorstellung endlich läuft und beinahe schon zu Ende ist, erlöscht plötzlich das Licht, ein Regen von Flugblättern geht auf die Zuschauer nieder. Trotz aller Hindernisse wird die Premiere ein Erfolg. Die Schauspieler verlassen wegen des Streiks eilig das Theater, Andrés wird überraschend von zwei Sicherheitsbeamten abgeholt. 3.1. Ein Mitspieler wird Regisseur: Schwierigkeiten und A u s w i r k u n g e n auf die Produktion Das erste Stück aus dem Conquista-Zyklus gelangte im Juni 1984 zur Aufführung. Auch wenn der erste Teil des Experiments der Theatergruppe somit zu einem erfolgreichen Abschluß gelangte, ist er nicht ohne Hindernisse verlaufen. Die Schauspieler hatten mit zwei Problemen zu kämpfen: erstens mit der plötzlichen Autorität eines Spielers aus ihren Reihen und den daraus resultierenden gruppendynamischen Schwierigkeiten und zweitens mit Peñuelas Einführung des Schauspielkonzepts von Stanislawski in die Theaterarbeit. Die Mitpieler fanden Peñuelas Wechsel vom Schauspieler zum Regisseur teilweise "schrecklich": "...nachdem ich zehn Jahre lang mit Santiago gearbeitet hatte, mußte ich mich plötzlich mit Peñuela auseinandersetzen, ein compañero, der zur selben Zeit in die Gruppe gekommen ist wie ich, sogar ein kleines bißchen später, es gab eine Menge Eifersucht...", so faßte der Darsteller des Andrés, Hernando Forero, seine Reaktion auf die neue Arbeitssituation zusammen. Derartige Probleme konnten von der Gruppe aufgefangen werden, weil immer wieder betont wurde, daß die Veränderungen für den künstlerischen Gesamtprozeß der G r u p p e n o t w e n d i g w a r e n , so z u m i n d e s t lautet die Interpretation des Schauspielers Cesar Badillo. Seiner Meinung nach erlebten viele Gruppenmitglieder
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eine Art Vaterverlust, der eine große menschliche Krise heraufbeschwor. "Trotzdem erschien es uns allen immer noch als beste Möglichkeit. Die Mehrheit der Gruppe begriff und unterstützte Garcías Idee, daß ein fruchtbarer Boden geschaffen werden mußte, damit sich alle entfalten konnten." 1 Die Probleme waren umso schwieriger zu bewältigen, als der Erfolg von Peñuelas Arbeit von der Unterstützung der Gruppe abhing. Da er sein Stück nicht in einer definitiven Fassung vorlegte, bedurfte es der gewohnten kollektiven Arbeit, um über die theatralische Umsetzung zu einer zufriedenstellenden Stückvorlage zu gelangen. Insgesamt wurden sieben verschiedene Versionen verfaßt, bevor die Dialoge feststanden. Ein ganz wesentlicher Eingriff der Gesamtgruppe in das Stück war z.B. der Vorschlag, por Cristóbal Colón La famosa Comedia del Nuevo Mundo descubierto einzuführen. Peñuelas ursprünglicher Vorschlag hingegen lautete, "eine Theatergruppe probt irgendetwas über die Conquista."2 Mit der radikalen Aufhebung von Garcías Position als Direktor knüpfte La Candelaria an die Versuche in der Produktion von Golpe de Suerte an, den Drehund Angelpunkt der Gruppe zu verlegen und die Verantwortung für den kreativen Gesamtprozeß auf die Schauspieler zu verlagern. Was bei Golpe de Suerte mißglückt war, gelang bei La tras Escena. Das Stück kam zur Aufführung, ohne daß Garcia entscheidend eingegriffen hätte. La tras Escena läßt sich so gesehen als die 'kollektivste' Produktion von La Candelaria bezeichnen, denn trotz individueller Autorschaft und Regie war der Beitrag der Gruppe ungleich größer als z.B. bei Golpe de Suerte, weil jeder gezwungen war, die Unsicherheiten des jungen Autors und Direktors mitzutragen und durch eigene, bzw. kollektive Leistungen auszugleichen. Peñuelas neue Funktion brachte auch inhaltliche und ästhetische Erneuerungen mit sich, die von den früheren Creaciones Colectivas erheblich abwichen. Die einschneidendste Innovation bestand in der Einführung individueller Schicksale. La tras Escena ist das erste Stück von La Candelaria, in dem Charaktere psychologisch motiviert werden und eine einfühlende Spielweise verlangen. Aus diesem Grund hat der Regisseur das Schauspielkonzept Stanislawskis in die Theaterarbeit der Gruppe eingeführt. Das ungewohnte, intensive Stanislawski-Training fiel einigen Schauspielern besonders schwer. Adelaida Nieto z.B. berichtete im persönlichen Interview, daß der Übergang von der Arbeit mit theatralischen Bildern oder Situationen zur Beschäftigung mit dem Innenleben der Figuren nur mit vielen
Cesar Badillo im persönlichen Interview, November 1984 F. Pefluela im persönlichen Interview
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Einzelproben zu bewältigen war. 1 Aber auch diese waren neu für die Gruppe, und da sie sehr stark an die Arbeit mit dem Regisseur gebunden waren, potenzierten sich die ohnehin schon vorhandenen Autoritätsprobleme. Daß die Gruppe trotz aller Schwierigkeiten zusammengeblieben ist und das Stück zur Aufführung gebracht hat, beweist die Stärke ihres Muts zum Experiment. Aber in dieser Stärke lag auch wiederum eine Schwäche, denn die Konfrontation des jungen Autors und Regisseurs mit dem erfahrenen Kollektiv und dessen schöpferischer Mitwirkung bei der theatralischen Überarbeitung des Stücks auf der Grundlage von Improvisationen hatte zur Folge, daß La tras Escena stilistisch in zwei völlig unterschiedliche Teile zerfiel: in ein naturalistisches Drama und in ein komödiantisches Bühnenspektakel. La Candelaria ist es jedoch gelungen, dieses Strukturproblem auszunutzen. Gerade die Unebenheiten der Aufführung spiegeln die Unebenheiten der lateinamerikanischen Wirklichkeit wieder, und nicht zuletzt darin liegt der besondere Wert von La tras Escena. 3.2. La tras Escena als Spiegel einer zersplitterten Wirklichkeit Das Motiv der Arbeit von Fernando Peñuela bestand in der Suche nach der lateinamerikanischen Kultur und deren Wurzeln durch die Aufarbeitung ihrer Geschichte. 2 Im Sinne dieser Suche betreibt das Stück Spurensicherung. Es sammelt die Hinterlassenschaften der Conquista, spürt ihre aktuellen Folgeerscheinungen auf und stellt sie auf der Hinterbühne aus. Es ging dem Autor darum, den Raum der trasescena wie ein Prisma zu benutzen, in dem sich die Wirklichkeit und der Kontext, in dem sich das Stück abspielt, spiegeln. Viele verschiedene Themensplitter werden kaleidoskopartig zu einem Bild zusammengefügt, ebenso unorthodox und fast willkürlich, wie sich der kolumbianische Alltag dem außenstehenden Betrachter darbietet. Und doch mangelt es nicht an einem Brennpunkt. Er besteht in der das ganze Stück durchziehenden Frage, welche Art von Wirklichkeitsbewältigung der lateinamerikanische Künstler zu leisten hat. Kann er sich unter den gegebenen sozialen und politischen Umständen im Namen der Kunst und aus Sehnsucht nach einem unverwechselbaren individuellen Ausdruck in die Isolation zurückziehen? Oder hat gerade der Künstler die Aufgabe, in politischer und gesellschaftlicher Verantwortung zu handeln? Eine Frage, die nicht nur die Diskussion aller lateinamerikanischen Künstler und Intellektuellen
persönliches Interview mit Adelaida Nielo, Okiober 1984 aus einem persönlichen Interview mit F. Pefluela
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bestimmt, sondern auch die Auseinandersetzung innerhalb des kolumbianischen Theaters seit Ende der 70er Jahre. Die Meinungsverschiedenheiten über die Funktion des Theaters in Kolumbien und seinen politischen Stellenwert bildeten denn auch einen konkreten Anlaß für das Stück: "1982 wurde in der CCT das Thema Kunst und Politik ausgiebig diskutiert, auch weil damals ein Seminar über Theater und Ideologie abgehalten wurde. Das Bedürfnis, dieses Thema aufzugreifen, entstand, weil es hier einige Gruppen gibt, die die Idee von der Verbindung zwischen Politik und Theater aufgegeben haben." 1 Das Stück leistet vor diesem Hintergrund nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Conquista, sondern auch die längst fällige Aufarbeitung der politischen Rechtfertigungsprobleme des neuen kolumbianischen Theaters. Im folgenden seien die verstreuten Themensplitter des Stücks systematisch zusammengefaßt. 3.2.1. Die Conquista in Geschichte und Gegenwart La tras Escena nimmt dem allgemeinen Thema der Trilogie gemäß eine Überprüfung des Stellenwerts der Conquista im heutigen Kolumbien vor. Um diesem nachzugehen, transportiert das Stück die Eroberung zunächst als historisches Ereignis direkt auf die Bühne. Es reinkamiert Kolumbus und seine Gefährten in der Aufführung von Lope de Vegas El Nuevo Mundo, ein Stück, das Kolumbus Landung in der Neuen Welt zwar nicht als Heldentat preist, aber doch "Gottes und Spaniens Glorie, unlösbar miteinander verbunden, auf die gläubigste und amüsanteste Weise feiert." 2 Penuela läßt das Historienstück jedoch nicht unkommentiert für sich stehen. Vielmehr zieht er es in die Gegenwart hinein, indem er es als Aufführungsversuch einer heutigen lateinamerikanischen Schauspieltruppe darstellt. Ihm gelingt somit die Brechung der spanischen Geschichte im Angesicht der kolumbianischen Gegenwart. Der Verlauf der Conquista bleibt trotz ihrer unmittelbaren Wiederbelebung im Stück El Nuevo Mundo für den Zuschauer der tras Escena entrückt. Da der Austragungsort des spanischen Schauspiels die für ihn unsichtbare 'Vorderbühne' des aufstrebenden Nationaltheaters ist, wird ihm nur die Sicht auf die Hinterbühne freigegeben. Was für ihn von Kolumbus und seinen historischen Taten sichtbar bleibt, sind lediglich Bruchstücke: Requisiten wie z.B. eine halbfertige Kanone oder die Atrappe einer Karavelle. Was er hört, sind Zitatfetzen, wenn die Schauspieler auf der Hinterbühne ihren Text proben. Was er erlebt, ist kein spanisches Heldenepos,
PeflueU im persönlichen Interview G. Hensel: Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart, 1975:112
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sondern die Metamorphose kolumbianischer Schauspieler in Gestalten aus der spanischen Eroberungsgeschichte, wenn sie allmählich ihre Straßenkleidung ablegen, um die barocken, gepufften Mäntel und Wamse tiberzustreifen, die Perücken aufzusetzen und weißes Puder auf dem Gesicht zu verteilen. Die allmähliche Umwandlung der kolumbianischen Schauspieler in spanische Eroberer wirkt als Metapher für die gewaltsame Akkulturation und ihre paradoxalen Auswirkungen auf die lateinamerikanische Gegenwart. Der Zuschauer beobachtet, wie sich die kolumbianischen Schauspieler die Geschichte der Conquista und die spanische Identität regelrecht auf den Leib ziehen, ohne daß sie ihnen jemals wirklich paßt. So klagt der Ersatzschauspieler Mario, daß ihn das Kostüm des Eroberers Pinzón zwicke, weil es ihm viel zu klein sei. Auch andere, kleine, ironische Hinweise deuten ein Mißverhältnis an: der Schauspieler Rodrigo stolpert vor einem eiligen Auftritt über seine Priesterkutte und schlägt lang hin, und wenn der Theaterdirektor Esteban auf der Hinterbühne eine kurze Probe abhält, dann stellen die Schauspieler die Spanier mit so viel Pathos und peinlicher Übertreibung dar, daß auch hier keine Stimmigkeit entstehen will. La tras Escena konstatiert das Verhältnis der Kolumbianer zu ihrer Geschichte nicht nur als gebrochenes und paradoxes, sondern auch als ambivalentes, als eines, das eine scheinheilige und eine verschämte Seite hat. Die auf der Vorderbühne präsentierte, unsichtbare Geschichte zeigt die Scheinheiligigkeit der Offizialität, die Geschichte auf der Hinterbühne hingegen stellt die versteckte, verschämte Seite als Realität des alltäglichen Lebens dar. Die scheinheilige Geschichte überdeckt als 'Vorzeigestoff die wirklichen Verhältnisse, denn für das Festpublikum der Vorderbühne ist das Chaos der Hinterbühne nicht sichtbar. Es applaudiert der Show, der inszenierten Illusion des Establishments und erkennt sich offenbar in der Geschichte von der Alten Welt wieder. Damit behauptet das Stück, daß die Conquista nicht nur eine spanische gewesen, sondern auch eine kolumbianische geworden ist. In diesem Sinne muß der neue Präsident, der Auftraggeber der Aufführung anläßlich des Dia de la Raza, als moderner Conquistador gesehen werden und sein Putsch als die Fortsetzung der Tradition gewaltsamer Eroberungen. Die Show und ihr Erfolg wäre jedoch ohne das mühselige Ringen und ständige Improvisieren auf der Hinterbühne nicht möglich. Diese Abhängigkeit macht La tras Escena transparent und zeigt damit denjenigen, denen der kritische Einblick hinter die Kulissen der Vorderbühne gewährt ist, daß sich unter der glanzvollen Außenseite der offiziellen Geschichte die Fehler, Mängel und Unzulänglichkeiten der paradoxen gesellschaftlichen Verhältnisse verbergen, die sich seit der Conquista ebenso wiederholen wie die triumphalen Machtgebärden der Privilegierten. Die
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Sicht auf die verschämte Seite von Geschichte und Wirklichkeit verschafft Einsicht in die Auswirkungen der Conquista, wie sie sich im Chaos der Hinterbühne sinnbildlich präsentieren. 3.2.2. Der Antagonismus von Wunsch und Wirklichkeit Die paradoxale Wirklichkeit der lateinamerikanischen Gesellschaften als eine der illusionären Nachahmung fremder (europäischer) Modelle und der verdrängten eigenen Realität ist ein immer wiederkehrendes Thema in der lateinamerikanischen Soziologie. Der Argentinier Octavio Janni z.B. schreibt: "Wir leben von einem gewollten Sein her, wir haben die Absicht, etwas anderes zu sein als wir sind und was wir eventuell sein könnten, das heißt wir leben außerhalb unserer eigenen Realität, die sich als eine defekte Instanz darbietet, mit vielen Mängeln (...). Daher kommt es, daß in unseren Gesellschaften Mystifizierung und Fiktion vorherrschen (...). Man denke an die Demokratie in Lateinamerika, oder an die freie Wirtschaft, an die Justizverwaltung oder die Moralnormen, an die Religion, die sozialen Werte, an die Universität, den Staat, und man wird die Umkehrung des Seins, auf die meine Betrachtung hinzielt, erkennen (...). Auf dem harten Boden der Wirklichkeit (...) bringt die nachahmende Verhaltensweise ein verzerrtes Resultat hervor, das sich als ursprüngliches Modell ausgibt." 1 Peñuela konkretisiert den Widerspruch zwischen nachahmendem Verhalten und "hartem Boden der Wirklichkeit", indem er die Wunsch- und Scheinwelt auf der Vorderbühne nicht nur als Wiedererkennungsmodell für das illustre Premierenpublikum vorführt, sondern auch als Resultat des Strebens von Theaterdirektor Esteban nach Professionalisierung aufgrund der Orientierung an europäischen künstlerischen Maßstäben und diese mit der Realiät auf der Hinterbühne und ihrem improvisierten Chaos konfrontiert. Wenn Don Esteban z.B. nach Ablauf der Aufführung vor einer spanischen Journalistin schwärmt; "Esta experiencia es un peldaño hacia la profesionalización de nuestro teatro. Es acercarnos un poco a lo mejor de las producciones de Europa o los Estados Unidos. Dentro de poco ya podemos hablar acá de nuestro
O. Janni: »Soziologie der Dependenzia in Laleinamerika« in: W. Grabendorff (Hrsg.): Lateinamerika, Kontinent in der Krise, 1973: 387
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Shakespeare, nuestro Molière, nuestro Esquilo...(•••) Quizá m á s adelante tendremos también nuestra Aída, o una Traviata, un Fígaro..." 1 dann klingt ihnen die Irrealität dieses Wunschgedankens angesichts der Flickschusterei auf der Hinterbühne noch lange nach. Don Estebans Ausruf auf dem Höhepunkt des Chaos, "esto no es una plaza de mercado, esto es un templo de arte! Fuera los mercaderes el templo!..." 2 faßt das "Phantasma" der europäischen bürgerlichen Kunst in Kolumbien, dem Enrique Buenaventura sein Konzept des neuen kolumbianischen Theaters gegenüberstellt, in einem Satz z u s a m m e n und wendet sich ironisch gegen dessen Protagonisten in der Gestalt des Theaterdirektors. Aber nicht nur Don Esteban ist der Sehnsucht nach Europa erlegen, das Stück ist mit Anspielungen auf die Anwesenheit des Phantasmas, auf die Tendenz, sich mit europäischer Lebensart und Geisteshaltung zu identifizieren, gespickt. So ist 'Paris' das Zauberwort derjenigen, die - in unverkennbarer Anspielung auf die kolumbianischen Vertreter des teatro universal - dem Mythos der reinen Kunst anhängen und mit diesem Begriff künstlerische Entfesselung und Ausbruch aus dem Provinzialismus assoziieren. 3 Die französische Maskenbildnerin Charlotte nährt diesen Mythos nur allzu gerne. Gleich zu Beginn des Stücks erklärt sie dem Hauptdarsteller Andrés: "En la comédie f r a n ç a i s e todos los artistas son geniales p o r q u e son profesionales, pero aquí ustedes son locos." 4
1
Teatro La Candelaria: »La tras Escena« in: Cuairo Obras dei Teatro La Candelaria, 1987: 254f "Diese Erfahrung isl eine weitere Stufe auf dem Weg zur Professionalisierung unseres Theaters. Es ist eine kleine Annäherung an die besten europäischen oder nordamerikanischen Produktionen. Innerhalb kürzester Zeit werden wir hier von unserem Shakespeare, unserem Molière, unserem Aischylos sprechen können (...). Vielleicht werden wir danach auch unsere Aida, unsere Traviata, unseren Figaro haben..."
2
ebd.: 167
3
Pablo Neruda hat diese bei einem großen Teil der lateinamerikanischen Eliten herrschende Sehnsucht in seiner Biographie mit einer sehr treffenden Anekdote wiedergegeben:
"Dies ist kein Marktplatz, dies ist ein Tempel der Kunst, hinaus mit den Marktleuten aus dem Tempel!"
"En cada de nuestras repúblicas actuaba una 'elite' cosmopolita y, en cuanto a los escritores de la oligarchia, ellos vivían en París. (...) Lo cierto es, apenas tuve un rudimento de fama juvenil, todo el mundo me preguntaba en la calle: -Pero qué hace usted aquí? Usted debe irse a París." in: Neruda: Confieso que he vivido, 1974: 92f 4
Teatro La Candelaria 1987: 120 "In der Comédie Française sind alle Schauspieler genial, alle sind professionell, aber ihr hier seid doch verrückt,"
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Und Rodrigo, Schauspieler und hauptberuflicher Tänzer, stimmt eine lautstarke Elegie an, in der die Sehnsucht nach Paris sich verbindet mit der Geringschätzung der eigenen Kultur: "Para qué viniste aquí, Charlotte? (...) dónde no florece el arte, ni el amor, ni la esperanza? (...) París es la cuña del arte y de la cultura, (...) yo debería estar en París!"1 Gegenüber diesem Wunsch nach hoher Kultur nimmt sich das Durcheinander auf der Hinterbühne umso greller aus. Nur durch Improvisationen hier und Provisorien da entkommen die Schauspieler gerade so eben der Katastrophe, dem Scheitern der Aufführung. Ständige Zwischenfälle mahnen immer wieder an die drohende Nähe des Zusammenbruchs. Ein Beispiel ist die Episode mit der Karavelle, die kurz vor Aufführungsbeginn nur in einem halbfertigen Zustand ist. Don Esteban entdeckt anläßlich seines Vorhabens, auf dem Schiff die letzte Probe abzuhalten, diesen Mißstand: "E.: Zapata! Cómo anda el barco? (...) Qué es lo que pasa? Z.: (Bota la herramienta) (...) No puedo más! (...) Llevo catorce horas trabajando sin parar (...). E.: Esta noche estrenamos esta obra con barco, como sea. Además, cuando uno no puede... precisamente en ese momente es cuando puede. Z.: Pero yo cómo hago, don Esteban? Este barco lo trajeron prácticamente desarmado. M.: El retraso estuvo en la confusión de los planos. Yo le dije y no me puso atención (...). E.: Silencio! Carajo, vamos a ver que hacemos... M.: Aquí están sus mallas, Don Andrés! E.: Silencio! R.: Y porque no sacamos esta noche solo la mitad del barco? Y para las otras funciones lo sacamos completo. E.: Muy buena idea. Así lo hacemos (...). A.: Y por dónde vamos a bajar? E.: Saltan de la proa a la playa. M.: Pero maestro, cómo cree que yo pueda saltar désde tan alto con el canón encima, la cruz y los demás elementos? (...) 1
ebd.: 146f "Warum bist du hierher gekommen, Charlotte? (...) wo keine Kunst gedeiht, keine Liebe, keine Hoffnung. Paris, die Wiege der Kunst und Kultur! (...) Ich müßte jetzt in Paris sein!"
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E.: Manuelito! Constrúyase una escalera colgante de época (...) M.: No he terminado la sarta de espejos (...) E.: María! Ayúdele a Manuelito con la sarta de espejos. M.: Yo no he terminado de planchar el vestuario, don Esteban."1 Einen kurzen Augenblick später bricht emeute Unruhe aus, weil Mario seine Rolle nicht beherrscht. Die Schauspieler beginnen sich zu streiten. Don Esteban, der sich kurz von der Probe entfernt hatte, kommt zurück: "E.: Y ahora, qué es lo, que pasa? R.: Que a Mario le queda pequeño el vestuario y grande el personaje (...) M.: (protestiert) (...) E : Venga acá, Mario! Por favor! Esta noche estrenamos la obra, llueve, truene o relampaguee...Se suspende el ensayo. Si esta noche tienen algunos problemas, improvisan. Esta noche vamos a utilizar todas las técnicas de la improvisación (...) María! Agrándele el vestuario a Mario."2 1
ebd.: 128-132 "E.: Was ist mit dem Schiff passiert. Zapata? Z.: (schmeißt sein Werkzeug hin) (...) Ich kann nicht mehr! (...) Vierzehn Stunden habe ich jetzt ununterbrochen gearbeitet^...) E.: Die Vorstellung wird heute abend mit Schiff stallfinden, wie auch immer. Wenn einer denkt, daß er nicht mehr kann, dann ist der Moment gekommen, daß er können muß. Z.: Aber was soll ich tun? Man hat mir das Schiff in allen Einzelteilen aus der Werkstatt geliefert! M.: Die Verzögerung kommt durch eine Verwechslung der Pläne, deswegen mußten wir wieder ganz von vorne anfangen. Ich hab's gesagt, aber er hat ja nicht auf mich gehört (...). E.: Ruhe! Alle! Silencium! (Pause) Verdammt... was machen wir jetzt? M.: Hier sind die Netze, Don Andrés! E.: Ruuuuhe! R.: Warum schieben wir heute abend nicht einfach die Hälfte des Schiffes auf die Bühne und in der nächsten Vorstellung das ganze Schiff? E.: Eine gute Idee. Das machen wir! A.: Aber wo steigen wir ab? E.: Springt doch vom Vorderdeck auf den Strand. M.: Das ist zu hoch, wie soll ich mit Kanone und Kreuz auf den Schultern und mit all den anderen Sachen springen? (...) E.: Manuelito! Mach eine Strickleiter im Stil der Epoche (...) M.: Ich muß aber die Spiegelkette noch fertig machen (...) E.: Maria! Hilf Manuelito bei der Spiegelkette! M.: Aber ich muß doch die Kostüme bügeln, Don Esteban!"
2
ebd.: 141f "E.: Was ist hier los? R.: Mario ist das Kostüm zu klein und die Rolle zu groß. M.: (protestiert) (...)
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Auf diese oder ähnliche Weise schlittert die Gruppe in den letzten zwei Stunden vor der Premiere von einem Desaster in das andere, um sich jedes Mal wieder im letzten Moment erfinderisch daraus zu retten. So suggeriert La Candelaria, daß Improvisation und Erfindungskraft - die Grundbegriffe ihres Selbstverständnisses vom kolumbianischen nationalen Theater - die Eigenschaften sind, die im Chaos als einzig authentische und wirksame zu Resultaten führen. 3.2.3. Der Theaterraum als Spiegel Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Problem des Seins der kolumbianischen Lebenswelt und des Scheins der offiziellen Welt findet in La tras Escena auch ihre formale Umsetzung. Zur Darstellung des verzerrten Verhältnisses zwischen beiden wendet Penuela ein Mittel an, das bereits im Didlogo del Rebusque zur Wirkung gelangte und seinen Ursprung im Barocktheater hat: das Theater im Theater und die spielerische Verwirrung der Illusionsebenen: "Das Theater im Theater ist eine Erfindung des Barock (...). Das Theater gibt scheinbar seine Vorteile preis und erlaubt einen Blick hinter die Kulissen. (...) z.B. das Stück fängt überhaupt erst vor Beginn der eigentlichen Aufführung an (...) oder spielt auf seiner eigenen Probe." 1 Beides ist in La tras Escena der Fall: es stellt die Probe eines Theaterstücks dar und fängt bereits vor Beginn seiner eigentlichen Aufführung an. Wenn das Publikum der tras Escena in das Theater strömt, sind die Schauspieler bereits betriebsam. Sie rennen in Arbeitsanzügen kreuz und quer über die Bühne, hämmern, basteln, andere proben leise murmelnd ihren Text. Man sieht sich einer offenen Bühne gegenüber, auf der einzelne Garderoben durch kleine Kämmerchen auf rollenden Podesten angedeutet sind. Die Schauspieler schminken sich darin. Im Hintergrund setzt ein Bühnenarbeiter eine beinahe lebensgroße Karavelle zusammen. Im Vordergrund steht eine Frau im blauen Kittel an einem Bügelbrett und bügelt Kostüme. Man rätselt, ob die Schauspieler von La Candelaria mit ihren Vorbereitungen noch nicht fertig sind oder ob dies alles bereits zur Aufführung gehört. Schließlich wird das Bühnenlicht heller, einer der Schauspieler beginnt den Text von Kolumbus am Schminktisch laut zu rezitieren. Das Stimmengewirr wird lauter und mischt sich zwischen die Deklamation: "Die grünen, Pepe, die grünen! Die dritte von rechts!"
E.: Komm hierher, Mario! Bitte! Keine Hysterie, das Stück wird aufgeführt, ob es donnert, regnet oder blitzt! Punktum! Keine Probe mehr! Wenn ihr Probleme habt, improvisiert. Wir gebrauchen heute alle erdenklichen Improvisationslechniken (...) Maria! Mach das Kostüm von Mario größer!" Alewyn 1959: 66f
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Gleichzeitig schreit jemand von hinten: "Mir fehlt immmer noch fast die Hälfte des Kostüms. Das geht doch nicht! Maria!" Erst allmählich wächst die Gewißheit, daß die Aufführung schon lange begonnen hat. Wenn die scheinbar aufgehobene Illusion sich als Illusion zu erkennen gibt, muß man einen Augenblick stutzen, was in La tras Escena ebenso wie bereits bei Guadalupe anos sin cuenta intendiert ist, um das Mißtrauen an der ersten Wahrnehmung zu wecken. Was am Beginn der Aufführung erst als Realität erscheint, erweist sich als Theaterspiel, und in diesem Spiel findet wiederum ein zweites statt. La Candelaria weist explizit auf den Funktionsmechanismus des Theaters hin, um das Bewußtsein über die Herstellung der Illusionsebenen zu schärfen, schließt aber gleichzeitig das Spiel mit der Verdoppelung der Illusion nicht aus. Penuela erzeugt es durch den Einsatz eines doppelten Spiegeleffekts. Die unsichtbare Vorstellung auf der 'Vorderbühne' und die Einspielung von Applaus suggerieren dem Zuschauer der Hinterbühne die Anwesenheit eines Ebenbildes auf der gegenüberliegenden Seite, als wäre auf der Bühne ein Spiegel angebracht, in dem der Zuschauer sich selbst reflektiert. Das Theater als illusionäres Medium verdoppelt die Existenz des Zuschauers und führt ihm somit Realität und Schein seiner Existenz gleichzeitig vor. Den Mittelpunkt der räumlichen Achse bildet die Hinterbühne, auf der sich das Theatergeschehen abspielt. Sie zeigt, in ihrer eigentlichen Funktion als Vorderbühne, dem Publikum die verkehrte Seite des Theaters, und diese Beziehung stellt den Rahmen her für das Bild der Bühne als Spiegel der paradoxalen kolumbianischen Wirklichkeit, eine Beziehung, auf die innerhalb der Aufführung immer wieder hingewiesen wird. 1 Dem Zuschauer wird demnach in zweierlei Weise seine Beziehung zur Bühne deutlich gemacht: zum einen durch die spiegelbildliche Vorführung seiner Rolle als Zuschauer, indem er sich selbst im Theater 'sieht', zum anderen durch den Hinweis auf die Funktion der Bühne als Spiegelbild der Lebenswelt des Zuschauers, wo er die ihn umgebenden gesellschaftlichen Zustände sieht. Er selbst erlebt sich dabei als beiden Welten, der illusionären ebenso wie der realen zugehörig. Wie bereits im Diälogo del Rebusque kennzeichnet die Anlehnung an die Mittel des Barocktheaters eine neue Dimension der Ästhetik des Theaters von La Candelaria. Sie bieten sich an, die kolumbianische als eine Wirklichkeit zu erfassen, die nicht als eindeutige oder einzig mögliche zu zeigen ist, sondern nur in der Übereinanderschichtung verschiedener Wirklichkeitsebenen. Das Theater fungiert vergl. dazu einen Dialog zwischen dem Bühnenarbeiter Zapata und einem Sicherheitsbeamten über die Seilenverkehrtheit im Bühnenraum im Verhältnis zum Publikum. Teatro la Candelaria 1987: 245-247
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hier als Spiegel, der zeigt, wie sich die Welten des Seins und Scheins gegenseitig bedingen. Allerdings verzichtet es auch in der neuen Periode der Gruppe nicht auf die Brechtsche Wirkung, anstelle des Erlebnisses einer vollendeten Illusion das Bewußtsein über die Funktion des Theaters wachzuhalten. 3.2.4. Das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Politik Eines der Hauptanliegen von La tras Escena ist die Reflexion über die gesellschaftliche Funktion des Theaters und seiner Künstler im lateinamerikanischen soziokulturellen Kontext. Peñuela exponiert die möglichen Standpunkte innerhalb dieser Auseinandersetzung anhand der Verhaltensmuster verschiedener Figuren im Stück. Zum einen zeigt er die offiziellen Vertreter der staatlichen Kulturpolitik, die der humanistisch-bürgerlichen Kunstauffassung anhängen, die Buenaventura "Phantasma" nennt. Sie werden repräsentiert von der Tochter des Präsidenten, Luz Mary, und dem Kulturdezernenten Don Celso. Beide strahlen die Scheinheiligkeit aus, die der formalen Welt anhaftet. Unter dem Deckmäntelchen freundlicher, teilweise zynischer, aber immer angeblich gut gemeinter harmloser Zurechtweisung üben sie im Grunde rückhaltlos Repression aus. Luz Mary im weißen Pelzmantel zeigt sich bei ihrem Besuch auf der Hinterbühne als vollendete Dame, strahlend vor Charme. Sie unterbreitet den Künstlern verheißungsvolle Angebote, um die materielle und geistige Großzügigkeit der neuen Regierung und ihre Kulturbeflissenheit zur Schau zu stellen: "Estoy interesado en conservar con Andrés, acerca de un proyecto cinematográfico (...). Tenemos grandes proyectos, el futuro es nuestro." 1 Ihre süße Freundlichkeit und kindliche, unschuldige Begeisterung für die Künstlerwelt wird durch die Anwesenheit düster blickender Sicherheitsbeamter, die auf jede Ungeregeltheit im Raum mit nervösen Bewegungen reagieren, konterkariert. Der Kontrast zwischen vordergründiger Harmlosigkeit und hintergründiger Aggressivität und Repression macht die Unberechenbarkeit der staatlichen Macht peinlich fühlbar. Don Celso, der seine Kultiviertheit unter anderem durch den häufigen Gebrauch von Fremdwörtern zu Gehör bringt, läßt sich subtil darüber aus, unter welchen Bedingungen Luz Marys schmeichlerische Angebote erfüllt werden, nämlich nur dann, wenn die Künstler der neuen Regierung gegenüber loyal auftreten. Mehrmals ermahnt er Andrés, dessen Eigenbrötlerei und politische Enthaltung er für "neurotisch und unberechenbar" hält:
Tealro La Candelaria 1987: 188 "Ich möchte mit Andrés Uber eine cinematografische Produktion sprechen(...)Wir haben große Pläne, die Zukunft gehört uns."
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"...quisiera hacer una pequeña observación del ensayo de esta mañana: Se trata del barco, cuando se arrojan con la cruz y el canon. Yo quisiera que no me recalques tanto lo de las armas, porque podría prestarse para una tergiversación del personaje, de la situación histórica. Y en estos momentos para la formación de la compañía nacional de teatro, ciertos temas no conviene..." 1 Don Esteban, der Theaterdirektor, ist ein Exponent der zweiten Gruppierung: der Künstler, die Politik bewußt von Kunst trennen und damit - so jedenfalls ist das Schicksal der Theatergruppe im Stück - in den Sog der Regierungspolitik geraten. Don Esteban läßt sich entgegen seiner früheren kritischen politischen Überzeugung im N a m e n der reinen Kunst und des nationalen Theaters auf den Kuhhandel mit dem Staat ein: "...nosotros estamos colaborando con el gobierno y el gobierno está colaborando con nosotros en esta empresa." 2 D i e s e H a l t u n g teilen die m e i s t e n M i t g l i e d e r der T h e a t e r g r u p p e . Sie repräsentieren - das ist eine überdeutliche Suggestion des Stücks - diejenigen kolumbianischen Theaterleute, die freundliche Beziehungen z u m Staat hegen, Projekte des teatro universal realisieren und dafür Subventionen beziehen. Bei der dritten Gruppe schließlich handelt es sich um die politisch aktiven Künstler: Martha, die wegen ihrer Aktivitäten in der Widerstandsgruppe Andrés verlassen und ihre Karriere als Tänzerin aufgeben muß; und Juan Antonio, der Don Esteban auf die Dauer zu gefährlich wurde und aus der Theatergruppe aussteigen mußte. Beide opfern ihre künstlerische Karriere unfreiwillig der Politik. Die krasse Alternative zwischen Kunst oder Politik wäre überspitzt und unglaubwürdig, würde nicht der Widerstreit zwischen beiden als psychologisierter Gewissenskonflikt des Hauptdarstellers Andrés ein Leitmotiv des Stückes bilden. Andrés will sich ausschließlich dem Theater widmen, mit politischen Mauscheleien will er nichts zu tun haben. Er versucht sich in einem integeren Alleingang. Auf die Korrekturversuche von Don Celso läßt er sich nicht ein, auch nicht auf Luz Marys Angebot, sie in ihrer Loge zu besuchen. Im Laufe der Aufführung erfährt Andrés, 1
ebd.: 150 "...ich möchte eine kleine Bemerkung zur Probe von heule morgen machen: Es gehl um das Schiff, wenn ihr mit der Kanone und dem Kreuz heraussteigt. Bitte betone doch die W a f f e nicht so sehr, das könnte zu einer Verdrehung der Figur, der historischen Situation führen. Und gerade jetzt, da ihr ein nationales Theater werden wollt, sind gewisse Themen nicht so angebracht."
2
ebd.: 169 "In diesem Unternehmen arbeitet die Regierung mit uns zusammen und wir mit der Regierung."
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daß Martha in Gefahr ist. Diese Nachricht setzt ihn unter großen emotionalen Druck. Andrés bleibt während des Premierentrubels in sich gekehrt, scheint oft abwesend, erinnnert sich an einzelne Situationen mit Martha, die in Rückblenden gezeigt werden. Seine politische Positionslosigkeit führt ihn in die Einsamkeit. Am Ende bleibt er mit Martha, dem Mädchen für alles, allein im Theater und erklärt ihr: "No he debido quedarme solo..." 1 Das Stück endet ungewiß, als Frage. Zwei Sicherheitsbeamte holen Andrés unter dem Vorwand ab, ihn zu seinem Schutz begleiten zu wollen. Wohin der Weg von Andrés wirklich führt, erfährt man nicht. Das Stück gibt keine direkte Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik, es versucht allerdings im Sinne des Selbstverständnisses des NTC deutlich zu machen, daß die Werte der heeren Kunst in der kolumbianischen Gesellschaft einen ebenso trügerischen Charakter haben wie das Phantasma der Demokratie. Persönliche Erfüllung oder Harmonie in der Kunst zu finden, das ist in einem Land wie Kolumbien nicht möglich, so suggeriert das Stück. Auch vollkommen integer gemeinte Versuche, sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entziehen, schützen nicht vor der Konfrontation mit ihr. 3.2.5. Unvereinbare Gegensätze in der kulturellen Konfiguration Peñuela banalisiert die Schwierigkeiten nicht, in einem Land der Repression Kunst zu machen. Er spricht eine Figur wie Rodrigo, der diesen Schwierigkeiten entkommen will und von Paris träumt oder auch Don Esteban zwar nicht frei - schließlich wamt er ja mit seinem Stück vor der Kunst als Phantasma -, aber er nennt auch die Gründe für die Sehnsucht, macht sie verständlich, indem er die Widersprüche bloßlegt, mit denen die Künstler zu kämpfen haben. Einer dieser Widersprüche läßt sich unter dem Begriff 'Gegensätze in der kulturellen Konfiguration' zusammenfassen. Peñuela zeigt sie als Resultat der Conquista auf und schlägt somit wiederum den Bogen zur ursprünglichen Thematik des Stückes. Die gelungenste Episode in diesem Zusammenhang handelt von einem Konflikt der Theatergruppe mit den indios, die auf Wunsch des neuen Präsidenten als Statisten engagiert worden sind, damit sich die Eroberung so authentisch wie möglich auf der Bühne ausnimmt. Da aber die indios die Gesetze des westlichen Arbeitsethos, die Don Esteban in seiner Gruppe anzuwenden trachtet, nicht akzeptieren und ihren eigenen, traditionellen Sitten anhängen, bringen sie die Aufführung beinahe zum Scheitern. Als der 1
ebd.: 257 "Ich hätte nicht allein bleiben sollen..."
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Zeitpunkt ihres Auftritts naht, sind die indios nirgendwo zu finden. Die Nervosität der Schauspieler steigt. Schließlich stellt sich heraus, daß die indios im Theaterkeller warten, weil sie ihren Lohn vor ihrer Arbeitsleistung erhalten wollen und nicht hinterher, wie eigentlich verabredet war. Da die indios sich weigern aufzutreten, sind die Schauspieler, dem Nervenzusammenbruch nahe, gezwungen, ihre Verse auf der Bühne zu wiederholen und Tänze zu improvisieren, um die Zeit zu überbrücken. Schließlich k o m m t Rodrigo auf die Idee, kurzfristig eine Pause einzulegen. Don Esteban und die indios nutzen die Zeit für Verhandlungen. Die indios schicken einen Übersetzer, aber auch diese Kommunikationshilfe kann die kulturellen und verbalen Verständigungshürden nicht überwinden: "D.E.: Qué es la carajada, joven? Dígale a su jefe que sus colegas tienen que entrar a escena, inmediatamente. T.I.: Señor Esteban: No hay lugar para reposo, la tierra será lo que son los varones. D.E.: Qué fue lo que dijo? T.I.: Indio Yaku-Runa no trabaja hasta no recibir el pago convenido. D.E.: Ustedes se volvieron locos?" 1 Der Dialog mit den indios zeigt die Heterogenität der kulturellen und ethnischen Gruppen in Lateinamerika und ihre Verständigungsschwierigkeiten als Auswirkung der Akkulturation. Typisiert Don Esteban den vom abendländische Denken geprägten Künstler der weißen Elite, so repräsentieren die indios im Stück das jahrhundertelang genährte Mißtrauen der marginalen Bevölkerungsgruppen gegenüber jeglichen Zugeständnissen und Versprechungen von Seiten des Establishments. Immer wieder in die Marginalität zurückgedrängt, entwickelten sie oberflächlich an die weiße Kultur angepaßte Überlebenstaktiken, um ihre Eigenheiten letztendlich zu bewahren. Die indios bedienen sich z.B. des Mittels des Streiks, um ihre Forderungen ihrer eigenen Lebensphilosophie entsprechend durchzusetzen: "T.I.: Mi señor C h u y a - C h a q u i dice: Pago adelantado para hacerles el trabajo gustosos, porque no hay garantías." 2
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ebd.. 205 "D.E.: Was ist das für eine Sauerei, Mann? Los, geh und sag deinen Kollegen, daß sie jetzt auftreten müssen! T. I.: Scfior Esteban: Es gibt keinen Ort der Ruhe, die Erde wird sein wie die Männer. D.E.: Was hat er gesagt? T.I.: Indio Yaku-Runa arbeitet nicht, bis er das Geld erhalten hat, das ihm zusteht. D.E.: Seid ihr denn alle vemickt geworden?"
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Schließlich gelingt es ihnen tatsächlich, die Hafte ihrer Forderungen durchzusetzen: einen Teil des Honorars erhalten sie vor dem Auftritt, einen Teil danach. Aber das Mißtrauen der indios kennt keine Grenzen. Die Absurdität der Situation erreicht ihren Höhepunkt, als der Übersetzer nach dem Auftritt mit einem Kassettenrekorder erscheint: "D.E.: Pero esto qué quiere decir? Qué es esta ridiculez? T.I.: Mi señor Chuya-Chaqui tiene que oír su voz y yo traducirle. Para mayor garantía, señor. D.E.: Esto ya rebasa los límites de lo racional. Dónde ubico yo esto, en el surrealismo, en el absurdo? Dónde se coloca esta pesadilla? T.I.: Ya está grabando... En el teatro, indio Gonzales Monaira Jitoma, pregunta al señor Esteban: Cuando y dónde nos dan el pago que nos quedan debiendo..." 1 Die indios lösen Unverständnis aus, Panik, Chaos: ihretwegen drehen die Schauspieler auf der Vorderbühne durch, weil sie ihren Text wiederholen müssen. Aber sie erreichen, was sie wollen. Die indios sind die einzigen Figuren im Stück, die eine Veränderung ihrer Situation herbeiführen, sie wissen die Lage für sich zu nutzen. Hier schimmert wieder die "konkrete Utopie" aus den früheren Stücken von La Candelaria hindurch, denn die indios entthronen mit der unerschütterlichen Ruhe, mit der sie ihre Forderungen vortragen, die erhabene Selbstverständlichkeit, mit der Don Esteban annimmt, daß seine rationalistischen Regeln auf der Hinterbühne allein Geltung haben. An dieser Stelle tritt eine dem Stück latent innewohnende Nähe von Komik und Tragik in einer gelungenen Zuspitzung hervor. Die für den lateinamerikanischen Subkontinent bezeichnende Tragik der durch plagiatives Verhalten gestörten sozio-kulturellen Entwicklung und der dadurch bedingten Kontraste wird durch die komische Verzerrung der Begegnung zwischen einem intellektuellen Theaterdirektor und einem 'modernisierten' Eingeborenen nicht ausgelöscht, sondern ans Licht gebracht.
"Mein seflor Chuya-Chaki sagl: Vorausbezahlung, damit uns die Arbeit gefällt. Wir haben nämlich keine Garantien." 1
ebd.: 237 "D.E.: Was soll das heißen? Was ist das nun wieder für eine Albernheit?" T.I.: Mein seflor Chuya-Chaki muß ihre Stimme hier hören, ich übersetze. Wir brauchen mehr Garantien. D.E.: Das übersteigt jede Grenze der Vernunft. Wo soll ich dies einordenen? Im Surrealismus, im Absurden? Wie soll man diesen Alptraum erklären? T.I.: Aufnahme... Im Theater fragt Indio Gonzales Monaira Jitoma Seflor Esteban, wann und w o wir den schuldigen Betrag erhalten..."
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3.2.6. Die Zweiteilung der F o r m La tras Escena exponiert die Dualität der Gegensätze in einer antithetischen Gegenüberstellung von Schein und Sein als einander bedingende Komponenten des Ausdrucks kolumbianischen Wesens. Diese Gegenüberstellung birgt eine Tragik in sich, die in der Aufführung durch komische Effekte ästhetisch überspielt und entrückt wird. Formal zieht das Stück jedoch eine säuberliche Trennungslinie zwischen Komik und Emst, es teilt sich in Komödie und Schauspiel. Entsprechend der inhaltlichen Teilung des Stücks in eine gemeinschaftliche Geschichte der Theatergruppe und eine individuelle von Martha wird die Komödie der Hinterbühne insgesamt durch fünf dramatische Zwischenspiele über Marthas Schicksal unterbrochen, die durch Ausblendung der Hinterbühnenkulisse beinahe filmisch in die komödiantische Handlung montiert werden. Auch in diesem Fall liegt ein Vergleich mit dem Barocktheater nahe. Hier dienten komische Intermezzi bei ernsthaften Schauspielen der unterhaltenden Belustigung. 1 Peñuela dreht dieses Verhältnis um. Trägt die kolumbianische Welt, aus dem Geist des Barock entstanden, heute noch dessen Stigma, nun aber in paradoxaler Umkehrung? Diese Frage drängt sich auf, zumal das Verhältnis zwischen Scheinexistenz und realer Existenz, eingebettet in das Spiel der Spiegelverkehrtheit, eines der Leitmotive des Stückes bildet. Von den fünf dramatischen Sequenzen über Marthas Schicksal zeigen zwei, als Erinnerungsbilder von Andrés, seine Trennung von Martha, und drei schildern einzelne Stationen von Marthas Flucht. Andrés Erinnerung wird, in Rückblenden, durch den Einsatz von blauem Licht bei dunkler Bühne in eine traumartige Sphäre getaucht. Wie aus der Ferne dringen Marthas Argumente zu Andrés vor: "...muchos en esta patria en la que te quedas, nos levantamos por encima de los muros del terror, aunque nos cueste (...) la vida misma por la cual luchamos (...) creo que es mejor ser con miedo, a dejar ser por miedo..." 2 Andrés erwidert angesichts einer aus der Traumdunkelheit zum Vorschein kommenden Gruppe von Bettlern mit einer kraftlosen Geste: "...¡No soporto la miseria, Martha! Me descompone..." 3
vergl. P. Hannoll: The theaire. A consise Hislory, 1986/1985: 91 Teatro La Candelaria 1987: 242 "Viele in diesem Land, in dem du lebst, erheben sich über die Mauern des Terrors, auch wenn es uns (...) das Leben kostet, für das wir kämpfen. Ich glaube, es ist besser, mit Angst zu leben, als aus Angst nicht zu leben." ebd. "Ich halte das Elend nicht aus, Martha! Ich hasse es..."
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Die Rückblenden dienen als eine Art Zusatzinformation über die Gründe für das Scheitern der Beziehung zwischen Martha und Andrés, die in der Unverträglichkeit politischen Engagements und politischer Apathie zu suchen sind. Die drei anderen Intermezzi spielen sich zeitlich parallel zu den Ereignissen auf der Hinterbühne ab. Die erste zeigt, wie Martha von der Leiterin der Widerstandsgruppe die Nachricht erhält, daß sie das Land sofort verlassen muß. Martha, verfolgt von Detektiven, begibt sich in ihre Wohnung, schreibt dort einen Brief an Andrés und packt widerwillig ihre Koffer. In der zweiten Sequenz erhält sie einen neuen, illegalen Paß und lernt die Daten ihrer neuen Identität auswendig. Im letzten Zwischenspiel sieht man sie auf dem Flughafen bei der Paßkontrolle, schließlich wird sie festgehalten. Das Flugzeug fliegt ohne sie ab. Während die Szenen auf der Hinterbühne komödiantisch verfremdet, schnell gespielt sind und oft doppelsinnig wirken, werden die Zwischenszenen langsam, mit naturalistischer Detailtreue, fernsehspielartig dargestellt: seriös-einfühlend, in langen Dialogen, mit unverfremdeten Bewegungen. Ausführlich wird gezeigt, wie Martha die schlechte Nachricht von der Notwendigkeit ihrer Flucht erhält, wie sie verzweifelt, wie sie später alle Angaben ihres neuen Passes wiederholt, etc. Es stellt sich die Frage, warum hier durch die Wirklichkeitsabbildende Spielweise für die Vermittlung von verhältnismäßig wenig Information im Vergleich zu den komödiantischen Szenen viel Zeit in Anspruch genommen wird, zumal die Unterschiedlichkeit der Darstellungsstile in den Zwischenspielen einerseits und auf der Hinterbühne andererseits so frappant ist, daß die Aufführung auseinanderzufallen droht. Peñuela gibt keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Er wollte in der Art eines musikalischen Rhythmus Schnitte in die Linien setzen, die sich auf der Hinterbühne kreuzen und aus diesen Linien ein inneres Element herausziehen, um es in einer anderen Szenenfolge zu zeigen, so sagte er im persönlichen Interview. Will man den Gedanken der Umkehrung von der barocken Form weiterführen, bietet sich eine eindeutigeren Antwort an. Im barocken Theater wird mit komischen Intermezzi an die lächerliche Relativität der Seinswelt erinnert. La tras Escena ihrerseits, so wäre die Umkehrung, mahnt im Gegensatz zum komödiantischen Teil, der das plagiatorische Verhalten und das daraus hervorgegangene Chaos persifliert, an eine durchaus reale und ernstzunehmende kolumbianische Welt, nämlich die der politischen Opposition und ihrer Verfolgung. Die Vermutung wird bestätigt, betrachtet man die Darstellungsweisen der einzelnen Figuren im Stück. 3.2.7. Die Darstellungsweisen der Figuren Die Probenarbeiten waren zunächst von dem Vorhaben bestimmt, alle Figuren psychologisch zu interpretieren. Aber durch die eingreifende Mitarbeit des Kol-
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lektivs und die Anwendung der gemeinschaftlichen Improvisationsmethoden, mit denen es die Spielbarkeit des Textes überprüfte, ist die Aufführung schließlich von zwei unterschiedlichen Spielweisen geprägt worden: von der angestrebten naturalistisch-psychologisierenden und von der komödiantisch-typisierenden, die die Ästhetik der Aufführungen von La Candelaria in ihrer ersten Periode bestimmte. Die Gruppe behielt demnach trotz der schriftstellerischen und inszenatorischen Einzelleistungen von Peñuela einen großen gestalterischen Einfluß auf die Inszenierung. Einige Schauspieler haben sich mit ihrer komödiantischen Spielweise sogar vollständig vom Regiekonzept gelöst. In diesem Zusammenhang fällt besonders auf, daß ausschließlich die Figuren im Stück, die mit der Realität des politischen Widerstands verknüpft sind, naturalistisch gespielt werden. 1 Das gilt für die Leiterin der Widerstandsgruppe, Lucia; für den wegen seiner politischen Aktivitäten entlassenen Schauspieler Juan Antonio; für Martha; für den Bühnenarbeiter Zapata und für Maria, das Mädchen für alles. Marias politische Aktivität, die eher auf Gutmütigkeit denn auf Engagement beruht, besteht in der Unterstützung des Bühnenarbeiters und Mitglieds der Widerstandsgruppe Zapata bei der Flugblattaktion im Theater. Sie hilft ihm, das Paket mit den Flugblättern vor den Sicherheitsbeamten zu verstecken. Obwohl die formale Unterscheidung zwischen komödiantischen und dramatischen Szenen sehr scharf ist, lassen sich die naturalistisch dargestellten Figuren nicht ausschließlich den Zwischenspielen zuordnen. Sie agieren auch auf der Hinterbühne. Der Darstellerin von Maria, Nohora Ayala, gelingt es während des Hinterbühnenspektakels z.B. durchgehend, die seriöse Selbstverständlichkeit ihrer Figur auf wirklichkeitsgetreue Weise durchzuhalten, ohne sie jemals der Lächerlichkeit preiszugeben. Ein wichtiges Merkmal von Marias Bühnenidentität ist, ebenso wie bei Zapata, Andrés, Lucía u.a., der Ausdruck unverfremdeter Gefühle. So beginnt sie, in ständiger Sorge um ihren Sohn Emilio, der sich am Transportstreik beteiligt, zu weinen, als sie im Radio die Nachricht von erneuten Verhaftungen erfährt. Daß die auffällige Übereinstimmung zwischen dem politischen Engagement der Bühnenfiguren und ihrer naturalistischen Darstellung nicht die Folge einer konzeptionellen Festlegung war, sondern sich mehr oder weniger unbewußt während des Probenprozesses ergab, dafür sprechen die Probleme von Adelaida Nieto mit ihrer Rolle der Isabel, dem Sternchen der Theatertruppe, das nur seine Karriere im Kopf hat und deshalb versucht, die Gunst der Präsidententochter zu gewinnen. Adelaida Nieto versuchte die psychologisierende Interpretation ihrer Rolle sehr gewissenhaft Nur die Figur des Andrés nimmt eine Sonderposition ein. Er ist nicht aktiv am Widerstand beteiligt, aber in ihm entfaltet sich die Frage nach dem Sinn von Widerstand als Konflikt.
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umzusetzen, hatte aber besonders große Schwierigkeiten damit. Für ihre (unpolitische) Figur ging das naturalistische Darstellungskonzept nicht auf, die Schauspielerin konnte sich aber auch nicht mit einer komischen Version davon lösen. Isabel blieb unglaubwürdig, pathetisch und unecht. Diese Schwierigkeiten untermauern die Vermutung, daß im weitgehend kollektiven Inszenierungsprozeß nur den Schauspielern die Einfühlung gelungen ist, die eine Rolle spielten, die mit der von La Candelaria erlebten realen Wirklichkeit und ihrer politischen Auffassung davon übereinstimmt. Entsprechend werden die unpolitischen Figuren wie die Schauspieler Rodrigo, Mario und Beatriz, die Maskenbildnerin Charlotte, der Bühnenarbeiter Manuelito sowie Don Celso und Luz Mary nach alter La Candelaria-Manier kritisch überzogen, karikiert und auf typisierte Weise verfremdet. Die Schauspieler dieser Figuren haben sich von Penuelas ursprünglichem Regiekonzept gelöst. Die Meister der ironischen Spielweise sind neben Fernando Penuela, der den /«d/o-Übersetzer spielt, Santiago Garcia, Darsteller des Theaterdirektors Don Esteban und Alvaro Rodriguez, Darsteller des Bühnenarbeiters Manuelito. Garcia jongliert mit komischen Effekten an der Grenze der Belastbarkeit : er flucht, rennt, schreit und fuchtelt ohne Unterlaß, und doch dosiert er so geschickt, daß die Figur niemals nervtötend wird oder ihre Glaubwürdigkeit verliert. Garcia bestimmt das Tempo der Aufführung, indem er mit polterndem Verve auf- und abtritt und mit ständig zurückkehrenden Gags Akzente setzt. Z.B. hält er sich jedesmal, wenn sich das Chaos bis zur Unerträglichkeit steigert, den Magen, um von Maria ein Glas Milch zu verlangen oder er schreit, auf dem Höhepunkt der eigenen Nervosität: "Und keiner wird hier hysterisch!" Alvaro Rodriguez agiert teilweise noch ausgefeilter und präziser als Santiago Garcia, und beide glänzen in einem Zusammenspiel, das sie bezeichnenderweise erst während der ersten öffentlichen Vorstellungen entwickelt haben. 1 Im Spiel vor dem Publikum schufen sie ein Paar, das auf brillante Weise die mögliche Komik eines Herr-Knecht-Verhältnisses ausschöpft. Manuelito ist nur dann zufrieden, wenn er seinen Diensteifer beweisen kann, dies zumindest erzählt nicht zuletzt seine Körperhaltung: er eilt hastigen, kurzen Schrittes mit vorgestrecktem Kopf, herausgepreßtem Brustkasten und wichtigtuerischer Miene, einen laut klappernden Werkzeugkasten in der Hand, immer wieder quer über die Spielfläche. Er wirkt wie eine Miniaturausgabe von Don Esteban. Manuelito weicht seinem Chef kaum 1
Alvaro Rodriguez erzählte im persönlichen Interview, daß die Rollenverteilung der Figuren von Esteban und Manuelito bis kurz vor der Premiere umgekehrt war und er sich erst zuletzt entschloß, die kleinere Rolle zu spielen, weil er durch eine parallele Produktion mit einer eigenen Theatergruppe zeitlich zu überlastet war.
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von der Seite, hoppelt neben ihm her, vor ihm, hinter ihm, wenn dieser die Hinterbühne betritt oder verläßt und kopiert mit eilfertiger Unschuld dessen Ton und Gebaren. Dadurch zeigt er nicht allein, wie gerne er sich selbst erhöht, er entkräftet auch, nach dem Muster des spanischen gracioso (der Diener, der den Ernst des Helden parodiert) die Autorität Estebans. Als z.B. Don Esteban einen für alle Schauspieler beängstigenden Wutanfall bekommt, weil Charlotte aus Angst vor dem Streik und den Sicherheitsbeamten vorzeitig das Theater verlassen will und mit mächtiger Stimme brüllt, sie solle sofort gehen und nicht mehr wiederkommen, baut sich Manuelito am Ausgang auf und winkt Charlotte wie ein Verkehrspolizist von der Bühne. Was der Schauspieler damit erreicht, ist die Zerstörung der Macht des Meisterworts. Wenn Esteban dann später mit den indios verhandelt, steht Manuelito hinter ihm, um zu nicken, drohende Miene zu machen und zu gestikulieren wie sein Vorbild. Ähnlich wie im Diálogo del Rebusque gelingt es A. Rodríguez auch hier wieder, eine Volkstype zu entwickeln, die aus einem ironischen, aber nicht bissigen Blick 'von unten' konzipiert ist. Die Ironie zielt hier nicht nur, wie es noch bei Guadalupe años sin cuenta der Fall war, auf die Höhergestellten, sondern auf die gewöhnlichen Schwächen eines Bucklers, Einschmeichlers und Mitläufers ohne wirklichen Anspruch auf Macht. Die Gemeinsamkeiten dieser Figuren mit denen aus Guadalupe años sin cuenta sind deutlich: durch die ironisch verfremdende Spielweise veranlassen die Schauspieler die Zuschauer, die Figuren mit Fragezeichen zu versehen, so daß ihre Zweischneidigkeit sich offenbart, ihre Ohnmacht sich zeigt, Kritik möglich wird. Don Estebans zum Lachen reizende Schwächen veräußerlichen sich in seinen hektischen Bewegungen und seinen hysterischen Anfällen. Ein besonders gutes Beipsiel ist auch Don Celso in der Darstellung von César Badillo. Die an sich sehr steife und beherrschte Haltung dieser Figur gerät immer wieder dadurch aus der Fasson, daß er über auf der Hinterbühne herumliegende Gegenstände stolpert und somit seine Würde im Bruchteil einer Sekunde untergraben wird. Daß die komödienhafte Verfremdung nicht von Peñuela konzeptionell festgeigt war, sondern vielmehr auf Eigeninitiative des Kollektivs hin sich durchgesetzt hat, ließ Peñuela auch im persönlichen Interview durchklingen: "Der Humor ist ein unbewußtes Element des Kollektivs, es ist tief verwurzelt bei uns, aber als ich das Stück schrieb, hatte ich es verloren. Nach Fertigstellung des Exposés dachte ich, es sei sehr ernst und schwierig." Peñuela wertet die Eigenständigkeit der Gruppe und die Konsequenzen für die Ästhetik der Aufführung nicht als Manko oder Schwäche, sondern sieht darin sei-
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ner eigenen kollektiven Tradition gemäß eine notwendige und begrüßenswerte Komponente der Gruppenarbeit. Sein Konzept der einfühlenden Spielweise, mit dem er auf der Suche nach glaubwürdigen kolumbianischen Theaterfiguren vom anti-naturalistischen Konzept der personaje bei La Candelaria abwich, hat sich nur dann verwirklichen lassen, wenn die Schauspieler sich tatsächlich mit ihrer Rolle identifizieren konnten. Es sind jene, die die Realität des politischen Alltags vorführen. Insgesamt hat die Probenpraxis dieses Konzept jedoch widerlegt, und so hat La Candelaria dies auch bis heute nicht mehr aufgegriffen. Es war aber ein Experiment, das die Reflexion über die eigene Situation der Theatergruppe ermöglichte und die schauspielerischen Fähigkeiten aller Mitglieder erweiterte.
4.Vom theatralischen Bild zum Theater als Spiegelbild Bis 1984 hat sich kein Stück von La Candelaria so intuitiv und tastend auf die Spuren der kolumbianischen Wirklichkeit begeben wie La tras Escena. Gerade deshalb bleibt das Stück den unterschiedlichen Facetten dieser komplizierten Wirklichkeit am dichtesten auf den Fersen, gerade deshalb aber auch bewältigt La tras Escena diese Wirklichkeit nicht ganz überzeugend, sondern leidet an Materialfülle und Zerfaserung. Das Stück konzentriert sich nicht auf einen zentralen Konflikt. So lautet trotz vieler sehr lobender Äußerungen 1 die schwerwiegendste Kritik am Stück. Und Enrique Buenaventura formulierte in einer Diskussion zwischen dem TEC und La Candelaria: "Das Stück repräsentiert nur unsere Art, die Welt zu sehen, es zeigt nicht die Konflikte, die unsere Art, die Welt zu sehen, heraufbeschwört." 2
vergl. u.a. E. Marceies Daconte: »Sobre La Iras Escena« in: El Espectador, Magazin Dominical, 8. 7. 1984 "...Dueña de un humor que rebota, de situaciones bien armadas cuyo énfasis estriba en el ridiculo y la exageración falaz, la tras Escena es la producción dramática más entretenida que se haya visto en Colombia en mucho tiempo." M. Uris: »Arte y Política« in Voz, 26. 6. 1984 "...La tras Escena se constituye en una formidable propuesta escénica, innovadora, nueva, nos muestra el teatro por dentro (...) Y en este consiste también la mágica teatral." A. Wallach: »Tras Escena: Anarchy stages Anarchy« in: New York Newsday, 13. 8.1986 "Other playwrights have examined the resonance between theatre artifice and a repressive real world more compellingly - especially Athol Fugard (...) in The Island. But La iras Escena is highly diverting as a fracial glimpse of backstage life at a time when panic is taking center stage." aus einem persönlichen Protokoll einer Diskussionsveranstaltung zwischen den Mitgliedern der Theatergmppen TEC und La Candelaria in Cali am 22.11.1984 Uber das neue Theater, seine nationale Dramatik und die letzten Produktionen der beiden Thealergruppen. In dieser Diskussion wurde La tras Escena von den Mitgliedern des TEC heftig angegriffen.
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La tras Escena weicht vom - in Buenaventuras Methode der Creación Colectiva vorgelegten - ideologisch-programmatischen Modell der Fabel ab, die gesellschaftliche Verhältnisse in K o n f l i k t e n zwischen antagonistischen K r ä f t e n festlegt. Guadalupe años sin cuenta konstatierte die Existenz einer formalen und einer realen Welt in scharf von einander getrennten Gegensätzen, in Distanz zu den Oberen und in Solidarität mit den Unteren. Erkenntnis über den Scheincharakter der formalen Welt zu erzeugen, war der Antrieb dieses Theaters in der Affirmation der Kluft zwischen offizieller und nationaler Geschichte. La tras Escena hingegen zeigt im Bild des Theaters, dessen Vorderbühnenpräsentation das Geschehen auf der Hinterbühne bestimmt, reale und formale Welt nicht nur in komplizierter Verflechtung, sondern auch die Konsequenzen, die sich aus der Aufrechterhaltung des Scheins für die kolumbianische Wirklichkeit ergeben. Diese lassen sich nicht in einem Handlungsknoten zusammenfassen, sie sind kompliziert wie das Stück. Trotz des Verzichts auf die antagonistisch angelegte Fabel hat La Candelaria die Grundidee der Creación Colectiva nicht aufgegeben, sondern, in Loslösung vom Konzept der gemeinsamen Autorschaft, individuelle und kollektive schöpferische Leistung vereint. Im Laufe des Lernprozesses der Creación Colectiva ist für La Candelaria die Bedeutung des geschriebenen Textes, des Dramas immer größer geworden. In besagter Diskussionsrunde mit dem T E C betonte Santiago Garcia nachdrücklich, wie wichtig das Schreiben für die Weiterentwicklung der Gruppe ebenso wie für das nationale Theater sei, um nicht in Manierismen zu verfallen und die theatralischen Kapazitäten im Sinne der nationalen Dramatik zu vergrößern. La tras Escena ist das Ergebnis des Versuchs, diese Entwicklung voranzutreiben, ohne die Idee von der Kollektivität aufzugeben, - als solches auch ein Prüfstein. Sie spiegelt die Begegnung zwischen Schreiben und Spielen, Autor und Gruppe in ihrer Struktur und in ihrem Inhalt. Die A u f f ü h r u n g zeigt deutliche Spuren von Peñuelas individueller Autoren- und Regieleistung, aber auch von der kollektiven Handschrift von La Candelaria. Anders als beim Diálogo del Rebusque fungierte die Gruppe als Korrektiv des geschriebenen Textes, dadurch verselbständigten sich die Schauspieler teilweise. Sie entfernten sich von der Stückvorlage, indem sie auf theatralische Elemente aus den früheren Produktionen zurückgriffen. Auffällig ist, daß die Gruppe sich auch bei dieser Produktion die besondere Fähigkeit des kollektiven Spiels auf der Bühne bewahrt hat. In den Szenen auf der Hinterbühne agieren nicht selten bis zu acht Schauspieler gleichzeitig, ohne einander zu behindern. Gleichzeitig haben sich die Schauspieler an die Erfordernisse von Peñuelas Stückvorlage angepaßt. Sie setzten die Idee von der Hinterbühne als großes umfassendes
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Bild von der Conquista und ihren gegenwärtigen Folgeerscheinung theatralisch um, ohne das Stück - wie in früheren Produktionen - in einzelne szenische Sequenzen zu zergliedern. Durch die Arbeit mit der dramatischen Vorlage und verschiedenen festgelegten Rollen entfernte sie sich von der Ästhetik des theatralischen Bildes: die Gesten konterkarieren nicht mehr die Worte, und es sind auch nicht mehr die Ausdrucksmittel der Schauspieler allein, die den Zeichenkanon der Aufführung ausmachen. Im Vergleich zur leeren Bühne von Guadalupe años sin cuenta fällt bei La tras Escena die dekorative Materialfülle auf 1 . Genauso wie La tras Escena die kulturelle Identität als zerstückelte präsentiert, ist das Stück selbst ein Stückwerk geworden, Spuren der gewohnten Arbeitsweise vermischen sich mit den neuen Versuchen, psychologisch motivierte Charaktere zu schaffen. Der Zwiespalt geht mitten durch das Stück: zwei Stile, zwei Spielweisen. Seiner Zweiteilung gemäß hat das Stück zwei Schlüsse. Die Komödie nimmt ein gutes Ende. Die Aufführung von El Nuevo Mundo wird trotz aller Zwischenfälle ein Erfolg. Das unsichtbare Publikum applaudiert enthusiastisch, die neue Theaterkompanie wird umjubelt. Hat sich die Welt des formalen Scheins, der 'hohen Kunst' aller Boykottversuche und allem wirklichen Chaos zum Trotz durchgesetzt? Der gute Schluß wird von einem realen Schluß durchkreuzt: zwei Sicherheitsbeamte tauchen aus der Dunkelheit auf. Sie wollen Andrés, der allein zurückgeblieben ist, begleiten und fordern ihn auf, mitzukommen. Als sie fort sind, löscht Maria das Licht. Dieses leise Ende ist für La Candelaria sehr ungewöhnlich. Es hat keine Antwort parat, erzeugt keine Feststimmung, fordert nicht explizit zum Nachdenken auf, nicht zum politischen Handeln, sondern verharrt in Stille, schafft Ungewißheit. Was wird mit Andrés passieren? Sind die zwei Sicherheitsbeamten gekommen, um ihn im Zusammenhang mit Marthas mißglückter Flucht zu verhaften oder bieten sie ihm wirklich Geleitschutz an? Das Fragezeichen am leisen Ende deutet an, daß bei La Candelaria eine politische Akzentverschiebung stattgefunden hat. Sie ist umso interessanter, als sie nicht zu Beginn der Produktion bereits konzipiert war, sondern sich ebenso intuitiv herauskristallisiert hat, wie die Identifikation der Schauspieler mit denjenigen Figurn, die ihre Bereitschaft zum Widerstand erkennen lassen. Durch die Äquivalenz von naturalistischer Spielweise und politischem Engagement der Figuren wird die Thematik des Widerstands nicht mehr historisch entrückt und aus revolutionärer optimistil
La Candelaria nennt La tras Escena ihr "Ausstauungsstück", weil das Bühnenbild verhältnismäßig üppig ist: rollbarc Podeste als Garderoben der Schauspieler, sowie viele Requisiten wie die Karavelle, die Kanone und viele kleine schmückende Details wie Fotos in den Garderoben der Schauspieler, Blumen, Premierergeschenke usw.
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scher H o f f n u n g auf die Veränderbarkeit der Verhältnisse dargestellt. 1 Vielmehr werden Realität des politischen Alltags, Kritikverbot, Unterdrückung, Verfolgung, die Schwierigkeiten des Widerstands und die damit verbundenen persönlichen Opfer ungeschminkt vorgeführt, ohne daß man versäumt auf die Norwendigkeit politisch bewußten Handelns und Denkens hinzuweisen. Das Mit-Leiden, das beim Zuschauer durch die einfühlende Spielweise ausgelöst wird, führt zum Erlebnis der Angst und Bedrohung, die die Alltagswelt überschatten. Die lebensnahe und glaubwürdige Darstellung wirkt umso eindringlicher, weil sie die direkte Kehrseite der Welt des Phantasmas mit dem guten Ende, die j e n e Welt der Angst und Unterdrückung zu kaschieren sucht, vorführt: eine eigene Form der Auflehnung gegen die ewige politische Komödie. Der politische Akzent liegt in der Aufführung von La tras Escena nicht mehr ausschließlich auf dem Entblößen der Verschleierungstaktiken der Elite, sondern auf dem Entfernen des Schleiers, hinter dem die reale Welt des politischen Alltags nur zu deutlich zum Vorschein kommt. Die Geschichts-Aufdeckung und Kritik am sozialen Gefälle in den früheren Stücken wird um G e s c h i c h t s - R e f l e x i o n und Selbstreflexion erweitert. Anstatt bei der Bestätigung der Kluft zwischen offizieller und realer Geschichtsinterpretation zu verharren, fragt La tras Escena, inwieweit j e d e r m a n n Teil der Geschichte als Gesamtheit ist und reflektiert dabei auch die Position der Theatermacher selbst, wobei das Stück erkennen läßt, daß auch sie, als ein Resultat von Conquista und Fremdbeherrschung, in Widersprüche einer teilweise plagiatorischen Geschichte verstrickt sind. La tras Escena erweist sich nicht nur als ein Versuch, der den Worten Garcías aus dem Jahr 1989 vorausgreift, "teatro es necesario porque el hombre requiere una especie de espejo," 2 es greift auch den besonderen gesellschaftlichen Konflikten des Kolumbien der späten 80er Jahre voraus, die La Candelaria direkt am eigenen Leibe erleben sollte. Die verstärkten staatlichen Repressionen, die Drohung eines Putsches, schließlich auch die Verfolgung von Künstlern und Intellektuellen durch paramilitärische Einheiten, wobei eine Episode aus La tras Escena auf geradezu makabre Weise Wirklichkeit wurde. Patricia Ariza, die Darstellerin der Martha, wurde als Todeskandidatin auf eine schwarze Liste gesetzt und war nach einem Mordversuch gezwungen, das Land für einige Monate zu verlassen.
Eine Ausnahme bilden die Indios. Hier liegt möglicherweise eine Anspielung auf die Erstarkung der zivilen Widerstandsbewegungen in den 80er Jahren in Kolumbien vor. Gonzales Uribe: Interview mit S. García in: El Espectador,
Magazin Dominical, 5. 3. 1989
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5. Neueste Entwicklungen: Die Auflösung von Zeit und Raum La Candelaria ist es gelungen, in langjähriger Zusammenarbeit und unter Garantie einer gleichberechtigten theatralischen Entwicklung aller Mitglieder die schwierige Balance zwischen Gruppenerhalt und dem künstlerischen innovativen Experiment aufrechtzuerhalten. Sie schuf ein Theater, das in der Verbindung von politischem Engagement und der Suche nach ästhetischer Vervollkommnung als Seismograph der veränderlichen kolumbianischen Lebenswelt wirkt. Das ist eine große Leistung, in ihrer Kontinuität ein Einzelphänomen in Kolumbien. Zu verdanken ist diese Leistung unter anderem der Fähigkeit, die Elastizität der Gruppe zu bewahren und auf innere wie äußere Impulse zu reagieren. Die Persönlichkeit Santiago Garcías - seine Integrität, seine Autorität und sein Talent zum Theatermachen - spielt zweifelsohne eine bedeutende Rolle in diesem Prozeß. Die Entwicklung von La Candelaria ist zu großen Teilen seinen Initiativen zu verdanken. Andererseits bewiesen gerade die Erfahrungen bei der Produktion von La tras Escena, daß die Gesamtgruppe in der Lage ist, Unsicherheiten und Schwächen aufzufangen und eine Inszenierung ohne Eingriffe von Garcia zu Ende zu führen ein Beweis dafür, daß Creación Colectiva als theatralischer Lernprozeß durchaus zum Erfolg führen kann. Im Prozeß der Gruppenentwicklung hat es mehrere Stationen gegeben, an denen die Creación Colectiva methodisch, inhaltlich und ästhetisch ihr Gesicht veränderte. In der ersten Phase der strengen Form von Kollektivität und gemeinsamer Autorschaft entfaltete die Gruppe ihre epische Bühnenästhetik, deren wichtigstes Merkmal die Kraft des visuellen Bildes ist. Das Menschenbild, das die ersten Stücke zeichneten, blieb auf Typisierung reduziert. Gegenüber ironischer Kritik an den Repräsentanten des kolumbianischen Establishments, in der Darstellung oft zu komödiantischen Meisterleistungen gebracht, stand ein eher solidarisches Verhältnis zu den Repräsentanten des pueblo, aus dem in der Darstellung ein blasser Realismus hervorging: Figuren ohne Konturen, brave Prototypen, Gruppenbilder. Die zweite Periode zeichnete sich durch die Dezentralisierung der Funktion des Direktors, die Individualisierung der Aufgabenverteilung und die Priorität des Stücktextes im Hinblick auf die Entwicklung der nationalen Dramatik aus. Die Arbeit mit einer Stückvorlage hatte zur Folge, daß die Interpretation der Rollen mehr Gewicht bekam als die bildhafte Darstellung einzelner Situationen mit den gestischen und mimischen Mitteln der Schauspieler. Es gelang La Candelaria, unter schöpferischer Beteiligung der Gesamtgruppe Figuren aus dem Volk zu erschaffen, Charaktere, die nicht nur aus dem Blick "von oben" oder "von unten" entworfen
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und dem entsprechend oberflächlich skizziert waren, sondern mehr Komplexität erreichten; menschliche Bilder der kolumbianischen Lebenswelt, vielschichtig, episch und lebendig: Pablos aus dem Diálogo als Bild für die Gültigkeit des spanischen Erbes in Kolumbien und gleichfalls f ü r die Fähigkeit, in einer armen Welt zu bestehen; Manuelito aus La tras Escena als Repräsentant für den Diener und Untertanen und Chasqui aus Corre Corre Carigüeta als Bote und Überlebender aus präkolumbischen Zeiten. La tras Escena fungierte auf diesem Entwicklungsweg als wichtige Zwischenstation, ein einmaliges Experiment mit der naturalistischen Spielweise, in dem die Schauspieler sich selbst und ihrer Situation als Theatermacher einen Spiegel vorhielten. Die Produktion bot ihnen die Möglichkeit zu einer stillen, behutsamen Annäherung an eine Figur, zum beschaulichen Spiel. Der Schauspieler Andrés mit dem inneren Zwiespalt zwischen seiner Liebe zum Theater und seiner Liebe zu Martha ist ein Beispiel dafür. Die letzten drei Produktionen von La Candelaria1 führen das doppelte Experiment der Fortsetzung der kollektiven Arbeitsweise und der Erfindung lateinamerikanischer Theaterfiguren weiter. Sie entfernen sich noch mehr als die Stücke aus den 80er Jahren vom typisierenden Spiel, verlassen aber auch den Naturalismus aus La tras Escena. Alle drei spielen sich an unbestimmten Orten, in einer Art Nirgendwo ab. El Paso (1988) ist, nach den drei Autorenstücken des Conquista-Projekts, wieder einmal als strikt kollektive Produktion ausschließlich aus SchauspielerImprovisationen entstanden. Die A u f f ü h r u n g k o m m t ohne Worte und ohne das Korsett der antagonistisch angelegten Fabel der früheren streng kollektiven Stücke aus. Es knüpft in seiner Spielweise an die stillen Momente aus La tras Escena an, ohne sich in naturalistischen Details zu verlieren und gehorcht einer straffen, konsequent durchgeführten äußeren Form. Mit peinlich genauen Strichen, langsam und minutiös, zeichnen die Schauspieler auf der Bühne die Welt von dreizehn Menschen, die in einer abgelegenen Taverne an einer Wegkreuzung wegen eines heftigen Unwetters eingeschlossen sind. In der absoluten Einheit von Zeit und Ort wird das Bühnengeschehen zu einem einzigen großen Theaterbild, dem kein Mitwirkender e n t k o m m t . Auf begrenztem Raum bewegen sich hier Personen, deren Gemütsverfassungen, Schicksale und Sehnsüchte sich aus der teilweise sehr leise und vorsichtigen, in einigen Fällen subtil ironisierten Gestik und Mimik der Schauspieler, aus den kurzen, abgerissenen Erzählungen und den flüchtigen Bewegungen der Figuren erahnen lassen.
Teatro La Candelaria: 3 obras de teatro, 1991
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Die Wirtin der Taverne diktiert ihrer Tochter bedachtsam einen Brief: "Liebe Tochter, ich m u ß Dir sagen, hier passiert nichts oder noch besser gesagt: mehr als nichts. K o m m lieber nicht, denn schlimmer als bei uns kann es bei Euch auch nicht sein." Don Blanco, der Großgrundbesitzer und einziger Stammkunde, besäuft sich und läßt zwei greise Musiker Serenaden aus der Vergangenheit spielen, die seine Gedanken von diesem verlassenen Ort wegtragen. Der Kellner k ä m p f t um den letzten Rest seiner Würde. Er, der die dreckigsten Arbeiten wie die Säuberung des Klos und der Hundehütte verrichten muß, streift seine Gummihandschuhe über, als wären sie von kostbarstem Leder. Alle Figuren scheinen auf beinahe mysteriöse Weise an die Stühle, die Tische, die Bar gefesselt zu sein. Immer wieder kehren sie an ihre alten Plätze zurück. No pasa nada, hier geschieht nichts, das ist das Leitmotiv des Stücks. Selbst die unerwartete Ankunft einer Gruppe von Reisenden, deren Bus zusammengebrochen ist und die deshalb Unterschlupf suchen, bleibt folgenlos. Nach einer kurzen Störung der Lethargie werden auch sie von der zeitlosen Trägheit des Ortes geschluckt. Als schließlich zwei Männer mit großen schweren Taschen auftauchen und sich schweigsam und mißtrauisch umblickend an einem Tisch niederlassen, wächst die Spannung, die langsam in Bedrohung übergeht. Schließlich erschießen die beiden einen Mann - und dann den Hund. Aber auch dieses Ereignis erscheint hinterher wie ausgelöscht. Die Männer fahren wieder fort, nichts scheint geschehen zu sein, man wähnt sich wieder am Beginn der Aufführung. Die Figuren aus dem Stück erscheinen als Opfer und Täter gleichzeitig, Opfer und Täter einer Macht, die eine fühlbare, aber nicht direkt sichtbare Bedrohung ausübt und die Menschen gefangen hält; eine Macht, von der sie selbst auch einen Teil ausmachen. Die Aufführung prägt sich wie ein böser Alptraum ein, eine zugespitzte Situationsschilderung der politischen Zustände in Kolumbien Ende der 80er Jahre, eine Zeit willkürlicher Morde, Todesdrohungen paramilitärischer Gruppen, der A u s m e r z u n g der politischen Opposition, eine Zeit alles überherrschender Gewalt. In El Paso ist vervollkommnet worden, was alle anderen Creaciones Colectivas zuvor bereits in sich trugen: eine eigene Theatersprache, die nicht wie das abendländische Schauspiel vor allem der Wortkunst unterliegt, sondern deren Stärke sich in der Einheit von visuellen körpersprachlichen, musikalischen und auch verbalen Mitteln in der erzählerischen Bildhaftigkeit des Theaters zeigt. Die zwei neuesten Stücke, Maravilla Estar (1989) und La Trifulca (1991), sind beide von S a n t i a g o Garcia verfaßt worden. Maravilla Estar ist mit seiner vierköpfigen Besetzung die kleinste Produktion der Gruppe. Garcias Stück basiert
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auf Alice' s adventures in wonderland. Aldo, dessen Hauptfigur, wird in der Konfrontation mit Alicia und den beiden Clowns Bumer und Fritz ständig in verschiedene irreale Situationen versetzt, durch die sich ihm stets dringlicher die Frage nach dem Sinn seiner Existenz aufdrängt. Zu Beginn des Stücks sucht Aldo seine Freiheit in der Einsamkeit. Mit Koffer und Hut betritt er die Bühne: "Bien, entonces comprobada mi soledad total, aquí me quedo. Por fin la paz, la libertad, el campo ancho y abierto! (...) Este será el término de mis dudas, el fin de mi crucero por la estepa que queda atrás." 1 Aber in Wirklichkeit beginnen hier die Zweifel erst. Denn dort, wo er sich endlich allein wähnt, tauchen plötzlich Fritz und Bumer aus dem Nichts auf, ein Paar, das eine ferne Ähnlichkeit mit Wladimir und Estragon aus Warten auf Godot aufweist. Die beiden verstricken Aldo in verwirrende, an Absurdität grenzende Dialoge, um ihn allmählich seiner Identität zu entkleiden. Anfangs wehrt Aldo sich heftig, indem er ständig auf dem Wirklichkeitsgehalt der Ereignisse pocht: "Un momento! Usted me está confundiendo con otro, o tratando de enredarme quién sabe en qué cuento! Le juro que yo..." 2 Aber durch verschiedene von Bumer und Fritz organisierte Auftritte von Alicia, die ihm in der Rolle der "Hellseherin" alle Details seines bisherigen Lebens nennen kann, wird sein Widerstand langsam gebrochen, seine Fragen nach dem Realitätsgehalt 3 der Erlebnisse verstummen. Er verliebt sich in Alicia, die zu seiner großen Verwirrung in völlig unerwarteten Augenblicken kommt und geht. Sie versucht ihn davon zu überzeugen daß die Geschichte seines Lebens eine andere ist als die, die er bisher zu leben glaubte. Bei ihrem zweiten Auftritt hat sie ein Kind bei sich: "Alicia: No lo reconoces? Es nuestro hijo Marcos. Aldo: Como, nuestro hijo? No pretenderás ahora..." 4
1
ebd.: 64 "O.k., nun ist meine Einsamkeit total, hier bleibe ich. Endlich Friede, Freiheit, das weite und offene Feld! (...) Dies wird das Ende meiner Zweifel sein, das Ende meiner Kreuzfahrt durch die Steppe, die ich nun hinter mir lasse."
2
ebd.: 65 "Einen Moment! Sie verwechseln mich mit jemandem, oder Sie versuchen, mich in wer weiß was für eine Geschichte hineinzuziehen! Ich schwöre Ihnen..."
3
vergi. z.B. S. 92: "Primero: dónde estoy y por qué no se me ha permitido continuar. Segundo, quiénes son realmente ustedes, tercero, dónde está Alicia y por qué sabían, con este truquito de la mentaüsta, lodo lo referente a mí..."
4
ebd.: 93 "A.: Erkennst Du ihn nicht? Das ist unser Sohn Marcos. A.: Wieso unser Sohn? Du willst doch nicht behaupten..."
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Herkunft und Schicksal aller Figuren im Stück sind und bleiben ungewiß, Drehund Angelpunkt ist das Spiel mit dem Versuch ihrer Bestimmung. Bumer, Fritz und Alicia wechseln ständig ihre Gestalt, Aldo wird von ihnen durch ihr Verwandlungsspiel gezwungen, an der Eindeutigkeit seines eigenen Schicksals zu zweifeln, bis er diese Zweifel am Ende schließlich annimmt: "Qizás tengan razón, y yo no ... y quizás por eso mismo tal vez encuentren en la salida de esta sala, o a la vuelta de la esquina, o en otro rincón de otro escenario a Alicia Maravilla Estar, a ella y a sus j u e g o s de magia, de adivinación y de futuro, de encantación y de muerte..." 1 Mit Maravilla Estar beginnen die Figuren von La Candelaria einen W e g einzuschlagen, der nicht mehr auf die Erfindung der lateinamerikanischen Bühnenfigur aus Fleisch und Blut hinausläuft, sondern geradezu auf die Vermeidung einer allzu menschlichen Charakterisierung und stattdessen die Konturen ihrer Existenz, den Ort und die Zeit ihrer Handlung auflöst und damit infragestellt. Dies ist auch beim jüngsten Stück, La Trifulca,2 der Fall, ein Rock-Musical, das an die Tradition des Karnevals in Lateinamerika anknüpft. Das Stück beginnt mit einer Prozession zum Tode des Karnevals selbst, um in ein "Ritual des Todes und der Auferstehung des neuen Menschen" (Garcia) zu münden. Seine Hauptfigur ist El Niño Beni, ein Jugendlicher, der, hin-und hergerissen zwischen seiner Rockband und seinem Elternhaus, während der Aufführung mehrere gewaltsame Tode stirbt und immer wieder ins Leben zurückkehrt, um mit seinen Freunden gegen die restriktive Welt von Lupus, dem Sprachrohr der W ü n s c h e seiner Eltern, zu kämpfen, die ihm das konservative Ideengut von Familie, Kirche und Vaterland aufzwingen wollen. La Trifulca ist ein Stück über den Generationskonflikt, über den Gegensatz zwischen Volkskultur und "hoher" Kultur und über den Karneval, in dem die Generationen, die Kulturen sowie Leben und Tod aufeinanderprallen. El Niño Beni ist die Inkarnation des Karnevals. Er ist das Objekt der Wünsche aller, sowohl seine Eltern als auch seine Freunde wollen sich seines immer wieder tot geglaubten Körpers bemächtigen. La Trifulca ist parabelhaft und allegorisch zugleich und beharrt auf der Existenzfrage ebenso wie auf dem experimentellen Spiel mit der Relativität von Zeit, Raum und Handlung der Figuren: 1
ebd.: 139f "Vielleicht haben sie rechi und ich nicht...und vielleicht treffen Sie am Theaterausgang oder an der nächsten Ecke oder an einer anderen Stelle auf einer anderen Buhne Alicia Maravilla Estar, sie und ihre Spiele der Magie, der Wahrsagerei, der Zunkunft, der Verzauberung und des Todes."
2
Mit diesem Stück war La Candelaria
1992 zum Festival Movimientos
in Hamburg und Köln eingeladen..
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"La Trifulca acontece en un lugar imaginario, ni muy lejos, ni muy cerca, un lugar ilusorio, en un lugar del pensamiento: justo allí en donde es posible imginar la trifulca. Sin tiempo y sin espacio histórico ni geográfico, la obra se desarrolla en un devenir simbólico aprisionado en el espesor de una vida. El mito del tiempo cíclico ha sido convocado aquí, y la idea paralela del 'eterno retorno' tiene en uno de sus personajes - Lupus - su figura, como una ilimitada alusión. Lupus, más allá de su existencia circular, representa las categorías atronadoras, ordenadoras, tiránicas.(...) Elaborada de puesta en escena con los métodos tradicionales del grupo La Candelaria (...) y más allá de cualquier complacencia estética, más allá del formalismo y la simple ilustración del texto, la obra se plantea bajo los vigurosos impulsos que surgen del choque de los opuestos, de la lucha por superar la propia historia." 1
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