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German Pages 292 Year 2015
Sergio Costa Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic«
Sergio Costa, habilitierter Soziologe, ist Forschungsprofessor am Brasilianischen Zentrum für Analyse und Planung (CEBRAP), Sao Paulo. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und Rechtstaatlichkeit, vergleichende Soziologie, Rassismus und Antirassismus.
SERGIO
CosTA
Vom Nordatlantik zum »Biack Atlantic« Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik
[transcript]
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:j jdnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Rainer Domschke Satz: Birgit Sehröder Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-702-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jj www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Danksagung
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Einleitung: Sozialtheorie, Antirassismus, Kosmopolitismus
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Kapitell Jürgen Habermas und die postnationale Konstellation Der demokratische Staat unter Globalisierungsdruck Postnationale Demokratie in Europa Demokratie und Menschenrechte weltweit Abschließende Bemerkungen und neue Herausforderungen Kapitel2 Anthony Giddens und Ulrich Beck: Risiko, Reflexivität, Kosmopolitismus Ulrich Beck und die Risikogesellschaft Anthony Giddens: Strukturierung und Reflexivität Reflexivität und Kosmopolitisierung Schlussbetrachtungen: die unerfüllten Verheißungen einer reflexiven Globalisierung Kapitel3 Jenseits der Differenz: die postkolonialen Studien und die Soziologie Das Wissen verorten: die postkoloniale Erkenntnistheorie Die postkoloniale Geschichte: Kritik am teleologischen Modemi täts begriff Der Ort postkolonialen Sprechens: das Lob des Hybriden Von der Differenz zum Subjekt (Un-)Möglichkeiten einer postkolonialen Soziologie
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91 94 100 103 110 117
Kapitel4 Zwischenbilanz: Diaspora, Black Atlantic, transnationale Handlungszusammenhänge Artikulationen der Diaspora: der Beitrag von Stuart Hall und Paul Gilroy Transnationale Handlungskontexte Schlussbetrachtungen KapitelS Jüngste kulturelle Transformationen in Brasilien: von der Mestifagem zu den neuen Ethnizitäten Die Erfindung der Mestü;:agem Kulturelle Heterogenisierung und Überwindung des Mes tü;:agem-Diskurses Die Schwarzenbewegung und gegenwärtige Reafrikanisierungstendenzen Schlussbetrachtungen
123 123 134 142
145 148 154 158 175
Kapitel6 Der wissenschaftliche Rassismus und seine Rezeption in Brasilien Evolution, Degeneration, Adaptation: Themen des rassentheoretischen Denkens in Brasilien und ihre Ursprünge Zwei Versionen des wissenschaftlichen Rassismus in Brasilien Der Antirassismus von Manoel Bornfirn und Alberto Torres
177 190 213
Kapitel 7 Paradoxien des Antirassismus: racial studies und ihre Kritiker Die soziologische Neuerfindung der race in Brasilien Die Kritiker der racial studies Schlussbetrachtungen
223 227 248 251
Schlussfolgerung: vom Nordatlantik zum Black Atlantic
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Bibliographie
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Namensregister
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Danksagung
Dieses Buch entstand zunächst als Habilitationsschrift im Fach Soziologie an der Freien Universität Berlin. Ein Habilitationsvorhaben durchzuführen ist ein Unterfangen, das die Biographie eines Wissenschaftlers bekanntlich prägt: Bis dahin feststehende Überzeugungen geraten ins Schwanken, neue Forschungshorizonte eröffnen sich. Die vorliegende Arbeit weicht von dieser Regel nicht ab. Durch sie ergaben sich Anschlüsse an vielfaltige Diskussionszusammenhänge, wobei ich immer wieder anregenden Ansprechpartnern begegnete. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die mich bei diesen Gelegenheiten mit ihren Kritiken und Kommentaren unterstützt haben. Meinen Kolleginnen und Kollegen an der FU Berlin danke ich für den stimulierenden Austausch während meiner Berliner Stationen. Meine Kollegen und Kolleginnen am CEBRAP - Brasilianisches Zentrum für Analyse und Planung- in Sao Paulo und vor allem Marcos Nobre und Omar Ribeiro Thomaz bin ich für ihre intellektuelle und institutionelle Unterstützung dankbar. Auch meinen Kollegen und Kolleginnen der Arbeitsgruppe Sozialtheorie im Rahmen des brasilianischen sozialwissenschaftlichen Verbands ANPOCS und insbesondere Myrian Sepulveda Santos, Josue Pereira da Silva, Jose Mauricio Domingues und Celi Pinto bleibe ich für unzählige Vorschläge Dank schuldig. Unsere Jahrestreffen bereiten mir immer wieder große intellektuelle Freude. Mein Dank gilt auch Shalini Randeria und Wolfgang Knöbl. Sie haben die Habilitationsschrift gründlich gelesen und begutachtet. Ihre Kritik und ihre Vorschläge waren bei der Überarbeitung des Textes unentbehrlich und bleiben mir für eine weitere Beschäftigung mit den hier angeschnittenen Themen eine wichtige Referenz.
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Regina Aggio, Rainer Domschke, Anne Huffschmid, Martina Merklinger und Horst Nitschack bin ich Tür ihre wertvolle Unterstützung, das Manuskript sprachlich zu überarbeiten, sehr dankbar. Ursula Ferdinand und Christoph Wichtmann machten mich außerdem auf mehrere Schwächen meiner Argumentation aufmerksam. Für ihr Interesse bedanke ich mich herzlich. Birgit Sehröder kümmerte sich um die Gestaltung des Manuskripts, wofür ich danke. Luta, Gerda und Helmut gewährten meiner Familie und mir all die Zeit uneingeschränkte Unterstützung, wofür ich hiermit sehr danke. Schließlich und besonders nachdrücklich möchte ich Sabine, meine Frau, sowie lrae und Yara, meine Kinder, erwähnen. Ihnen gilt mehr als mein Dank, ihnen widme ich dieses Buch.
Sergio Costa
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Einleitung: Sozialtheorie, Antirassismus, Kosmopolitismus
Ausgangspunkt dieser Arbeit ist eine Frage, die auf die Debatte um die Bekämpfung des Rassismus in Brasilien zurückgeht. In einer Gesellschaft, die fast 400 Jahre mit der modernen Sklaverei gelebt hat, ist dieses Problem natürlich nicht neu. Jüngst gewann das Thema allerdings eine besondere Brisanz, denn es hat sich eine transnational vernetzte antirassistische Bewegung gebildet, der es gelang, die Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen in die Sprache einer gesamtgesellschaftlichen Bestrebung zu übersetzen. Der Rassismus entspricht der Unterstellung einer qualitativen Hierarchie zwischen den Menschen, die aufgrund bestimmter Körpermerkmale imaginär in verschiedene Gruppen aufgeteilt werden. Daraus ergeben sich sowohl sozioökonomische als auch soziokulturelle Folgen. Die Ersten beziehen sich auf die Entstehung einer ungleichen Chancenstruktur, da diejenigen, die in der unterstellten rassistischen Hierarchie schlecht dastehen, im sozialen Wettbewerb (Jobsuche, Zugang zum Schulsystem usw.) systematisch benachteiligt werden. Die kulturelle Dimension des Rassismus drückt sich im Alltag durch Verhaltensformen, Rituale (rassistische Beschimpfungen, Demütigungen) sowie räumliche und soziale Exklusion aus. Die brasilianische antirassistische Bewegung bekämpft den Rassismus auf beiden Ebenen. Sozioökonomisch tritt die Bewegung für die Etablierung einer realen Chancengleichheit ein, welche die distributiven Folgen des Rassismus neutralisieren soll. Hierfür werden Maßnahmen empfohlen und seit 2001 umgesetzt, die nach dem Muster der US-ame-
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rikanischen affirmative action schwarze Brasilianer1 beim Zugang zu begehrten Posten kompensatorisch bevorzugen. Gegen soziokulturellen Rassismus wird in verschiedenen Arenen gekämpft: Einführung antirassistischer Stoffe in die Schulcurricula, Rechtsberatung für Opfer rassistischer Diskriminierung, Verschärfung des Antirassismusgesetzes usw. Eine besondere Bedeutung kommt der Aufwertung kultureller Ausdrucksformen zu, die mit einem afrikanischen Ursprung in Verbindung gebracht werden - in der Alltagssprache sammelbegrifflieh cultura negra, also schwarze Kultur, genannt. Hier liegt die Verbindung zum imaginierten Raum, den der britische Soziologe Paul Gilroy (1993) Black Atlantic nennt, auf der Hand: Die brasilianische cultura negra wird zum Bestandteil eines transnationalen Kulturkontexts, der die Manifestationen, die in den geographischen Grenzen Brasiliens entstehen, gleichzeitig aufnimmt und inspiriert. Das politische Problem, von dem hier ausgegangen wird, wirft unterschiedliche theoretische Fragen auf, einige demokratietheoretischer, andere soziologischer Art. Verdichtungspunkt demokratietheoretischer Fragestellungen bildet die Diskussion um die Legitimierung politischer Regelungen, die nicht eindeutig nationalstaatlich eingebettet sind. Es handelt sich also um Maßnahmen zur Bekämpfung des Rassismus, deren Konzeption und Befürworter nicht (nur) in Brasilien anzusiedeln sind. Die Politiken werden im Rahmen eines Netzwerks von Bewegungen transnational diskutiert, obgleich sie nur national implementiert werden können. Die soziologischen Fragen sind ebenfalls folgenreich und können verschiedenen Bereichen der Soziologie zugeordnet werden. Es geht zunächst allgemein um die Soziologie transnationaler Prozesse und zwar um die Diskussion, wie bestimmte Soziabilitätsmuster, die sich mehr oder weniger national und lokal konstituiert haben, im Rahmen der Vernetzung sozialer Bewegungen transnational vermittelt werden. Welche Rolle spielen etwa dabei die Machtpositionen der Nationalstaaten, aus denen diese Akteure stammen? Konkreter geht es bei der Untersuchung um die Frage nach Übersetzungsmechanismen, die es ermöglichen, dass bestimmte Maßnahmen zur Bekämpfung des Rassismus, die in den USA implementiert wurden, in Brasilien solcherart zum Erfolg führen, dass der Rassismus überwunden wird, ohne dass aber die diametral verschiedenen Muster der Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen in beiden Ländern zwangsläufig angeglichen werden. Die Notwendigkeit einer mikrosoziologischen Entfaltung dieser allgemeinsoziologischen FraDer Lesbarkeit wegen wird die Mehrzahl in der Arbeit durch die grammatikalisch männliche Form ausgedrückt, wobei weibliche und männliche Subjekte gemeint sind.
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EINLEITUNG
gestellung liegt auf der Hand, denn die Spannungen zwischen diesen unterschiedlichen Kulturmustern kommen erst in den sozialen Beziehungen eindeutig zum Vorschein. Hier stellt sich die Frage, wie diese Beziehungsmuster im Alltag adaptiert und verhandelt werden: Was erfolgt konkret? Wie verändern sich also die kulturellen Identitätskonstruktionen auf lokaler Ebene? Diese unterschiedlichen Fragenkomplexe, d.h. die demokratietheoretische Legitimationsfrage, die allgemeinsoziologische Fragestellung zur transnationalen Vermittlung von (nationalen) Soziabilitätsmustern und die mikrosoziologische Frage nach der Verhandlung kultureller Differenzen werden in der brasilianischen wissenschaftlichen Debatte meines Erachtens nicht in der geeigneten Form thematisiert. Es haben sich in den letzten Jahren zwei Diskussionsflügel gebildet, die sich als konträr zueinander darstellen. Die erste Strömung entspricht den racial studies, eine Schule, die im Anschluss an die US-amerikanische Diskussion den Rassismus in Brasilien als Folge eines fehlenden politischen Bewusstseins seitens der Schwarzen betrachtet: Würden diese Bevölkerungssegmente ihre »schwarze Identität« in den Vordergrund stellen, so würden sie den Rassismus bzw. die Rassisten besiegen. Die Kritiker der racial studies hingegen gehen von einer integrationsfahigen Nationalkultur aus, von der die Schwarzen mit dem afro-brasilianischen Vermächtnis - im Unterschied zu den USA- schon lange ein Bestandteil seien. Dies habe zur Entfaltung von Identitätsmustern geführt, die nicht in das Gegensatzpaar schwarz-weiß umgeschrieben werden können. Deshalb müsste der Antirassismus in Brasilien seinen eigenen Weg finden und jeder Versuchung, US-amerikanische Erfahrungen nachzuahmen, widerstehen. Sowohl die Vertreter der racial studies als auch ihre Kritiker scheinen eine grundlegende Tatsache zu verkennen: die transnationale Einbindung ihres Diskussionsgegenstands. Dabei gehen die Vertreter der racial studies von einer einfachen Übertragung kultureller Identitätsmuster und der damit zusammenhängenden antirassistischen Politik von den USA auf Brasilien aus, als ob eine einzige universelle Entwicklungslinie bestehen würde, die zur Überwindung des Rassismus führt. Ihre Kritiker beschreiben dagegen die nationale politische Arena als den einzigen Handlungsart, an dem Politik betrieben wird. Beiden Strömungen gelingt es nicht, die kulturellen und politischen Vermittlungen zwischen transnationalen Foren und dem nationalen Kontext wahrzunehmen. Gerrau hier setzt die vorliegende Arbeit an. Auf der Suche nach derartigen kulturellen und politischen Scharnieren gehe ich zunächst auf eine theoretische Debatte ein, die unter dem unpräzisen Stichwort Kosmopolitismus und seinen Derivationen Kos11
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mopolitisierung wie auch kosmopolitischer Zustand geftihrt wird. Der Begriff umfasst äußerst unterschiedliche wissenschaftliche und politische Programme und erfährt jüngst eine Renaissance. Coulmas (1990) zufolge wmde das Wort kosmopolites zum ersten Mal von Diagenes (412-323 v. Ch.r.) gebraucht. Seitdem sei der Traum von einer friedlichen und grenzlosen Welt eine »Menschheitssehnsucht« geworden, die trotz Rückzügen in der Geschichte immer wieder kehrt. Demnach prägte die Stoa das Kosmopolitismus-Konzept, »das für die hellenistischen und die Jahrhundert des Römischen Reichs, ja bis zur Gegenwart maßgebend geworden ist« (Coulmas 1990: 113). Es handelt sich dabei um eine kosmopolitische Gesinnung, die mit der Vorstellung assoziiert ist, »in übergreifenden Zusammenhängen zu leben, sich als Brüder [und Schwestern] in einem einzigen irdischen Gemeinwesen zu fühlen« (ebd.: 115). Dennoch bleibt die »Menschheitssehnsucht« Kosmopolitismus bislang ein utopischer Vorstellungshorizont ohne eine konkrete Verwirklichung. Geht man vom Versuch Coulmas' aus, die Geschichte des Kosmopolitismus zu rekonstruieren, so lässt sich ein gemeinsames Defizit an allen von ihm untersuchten Konzepten feststellen, nämlich ein gewisser Ethnozentrismus - d.h. die Annahme, dass die Entgrenzung der Welt unter dem Vorzeichen einer »bestimmten Kultur« erfolgen soll. Schon der stoische Kosmopolitismus, der in der Verschmelzung der Völker eine Möglichkeit zur Überwindung jeglicher Streitigkeiten sah, konnte ohne die Annahme einer hellenistischen Hegemonie nicht auskommen, wobei die »hellenistische Lebensform« als »höhere Zivilisation« empfunden wurde (ebd.: 137). Auch der moderne Kosmopolitismus, der auf die Humanisten der Renaissance zurückgeht und im 18. Jahrhundert anhand der Arbeiten von Gelehrten wie David Hume (1711-1776) und lmmanuel Kant (17241804) deutliche Konturen annahm, basierte auf der Prämisse, dass die »europäische Zivilisation« ein kulturelles Entwicklungsstadium darstelle, von dem »andere Völker« noch weit entfernt seien (vgl. Mignolo 2002). Das Novum in der heutigen Kosmopolitismusdiskussion besteht genau darin, dass einige Ansätze auf eine vorausgehende Hierarchisierung unterschiedlicher Kulturen verzichten wollen, um der »Herausforderung Vielfalt« (Wagner 1999) gerecht zu werden. Es gilt also nicht der Etablierung einer Weltordnung, die nach den »kosmopolitischen« Vorstellungen einer bestimmten Gruppe (Griechen, Christen, Europäer usw.) gestaltet wird, sondern solch einer, die die Koexistenz kultureller Differenzen und gleichzeitig die weltweite Beachtung minimaler individueller Rechte sichert (vgl. Pollocket al. 2002, Delanty 2006).
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EINLEITUNG
Dieses diffuse politische Ideal findet seine Entsprechung in der erkenntnistheoretischen Debatte darüber, wie sich die Sozialwissenschaften von ihrer angeborenen Fixierung auf ein als einheitlich idealisiertes »europäisches Gesellschaftsmuster« lösen können. Es handelt sich um Versuche, den trans- bzw. postnationalen Charakter gegenwärtiger Transformationsprozesse zu erfassen. Dabei wird festgestellt, dass die nationalstaatliehen Grenzen nicht immer eine sinnvolle analytische Einheit für die soziologische Untersuchung definieren, da sich die sozialen und kulturellen Prozesse sowie das politische Handeln oft nicht danach orientieren. Die Sozialwissenschaften allerdings erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre gegenwärtigen institutionellen und intellektuellen Konturen im jeweiligen nationalen Raum unter der Hegemonie der Modemisierungstheorie. Dies führte dazu, dass die unterschiedlichen nationalen Gesellschaften je nach dem Ähnlichkeitsgrad mit den so genannten nordatlantischen Gesellschaften2 auf einer Modernisierungsskala verortet wurden: je ähnlicher desto moderner (vgl. Therborn 2000: 50, Tucker 1999, Spohn 2006) 3 • Die dabei gebildeten Kategorien, Methoden und Indikatoren büßen im Zug einer Entgrenzung sozialer Phänomene jedoch ihre analytische Schärfe ein. Der »epistemologische Kosmopolitismus« (Beck 2004) dagegen sollte die Überwindung jeglicher angeborenen Koppelung von Sozialwissenschaften und Nationalgesellschaften herbeiführen und Folgendes versuchen: I) Gemäß des universalistischen Anspruchs, der die Geburtsstunde der Sozialwissenschaften prägte, ist man zwar weiterhin bestrebt, generalisierbare Aussagen zu formulieren, ohne aber dabei kontrahegemoniale Ansichten außer Acht zu lassen. 2) Im Anschluss an die Tradition lokaler Studien, will man die konkreten Kontexte berücksichtigen, in denen die sozialen Interaktionen stattfinden. Das Interesse für das Partikuläre muss aber mit vergleichenden Bemühungen einhergehen. 2
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Nordatlantik entspricht hier weniger einer geographischen Region als einer ideologischen Konstruktion, wonach die Welt in moderne Industriegesellschaften und vormoderne Gesellschaften unterteilt wird. Dabei umfasst der Nordatlantik hauptsächlich die westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften (dazu Therborn 2000; eine eingehende Kritik dieser Repräsentation findet sich in Kapitel 3 des vorliegenden Buches). In Anschluss an F. Tenbruck stellt Wagner (1999: 12) fest, dass die Soziologie von einem »Ein-Gesellschaftsmodell« seit ihren Anfangen geprägt wurde, wobei die unterschiedlichen Gesellschaften »samt und sonders zu Exemplaren eines Genus reduziert« werden. Damit erfasst man regionale Differenzen im Rahmen der Weltgesellschaft als unterschiedliche Stadien einerfunktionalen Differenzierung, die eigentlich überall ähnlich erfolgt.
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3) Eine neue (kosmopolitische) Perspektive müsste die Rolle nationaler Institutionen adäquat würdigen, ohne davon allerdings einen einzigen Transformationsweg abzuleiten. In diesem Buch werden drei im Rahmen jüngster Debatten einflussreiche Kosmopolitismus-Konzepte kritisch behandelt: das Modell von Jürgen Habermas, das Konzept von Anthony Giddens und Ulrich Beck sowie postkoloniale Konzeptionen. Das kosmopolitische Plädoyer von Habermas zielt auf die weltweite Umsetzung der Menschenrechte. Danach stellen die Menschenrechte und der Rechtsstaat die erfolgreiche Antwort Europas auf die Prozesse der Säkularisienmg und der Individualisierung dar, die mit der Entfaltung der Modeme im 18. und 19. Jahrhundert einhergehen. Da die »anderen« Gesellschaften mit der »modern condition« heute in ähnlicher Weise konfrontiert seien wie seinerzeit Europa, könnte die Ausdehnung der Menschenrechte das Entstehen eines kosmopolitischen Zustands fördern, in dem kulturelle Differenzen harmonisch koexistieren. Die Kosmopolitismusvorstellung, die aus den Ausführungen von A. Giddens und vor allem U. Beck zur »reflexiven Modernisierung« hervorgeht, beruht ebenfalls auf einem zentrifugalen Modell, wonach sich eine von westeuropäischen Erfahrungen abgeleitete Reflexivität im Zug der Globalisierung weltweit durchsetzt. Daraus folge die Entstehung »klügerer Menschen«, denen die Interdependenz aller Weltregionen sowie das Gewicht des eigenen Handeins ersichtlich würden. In der postkolonialen Begrifflichkeit dagegen können kosmopolitische Bestrebungen weder von einem Zentrum noch von mehreren Zentren ausgehen. Kosmopolitismus geht hier mit dem Versuch einher, eine dezentriefte Perspektive zu entwickelten, aus der heraus die Erfahrungen von »minoritarian modernities« (Pollock et al. 2002: 6) eine neue Relevanz erhalten. Dabei handelt sich nicht einfach darum, eine Fülle von nebeneinander stehenden Weltanschauungen zu würdigen, sondern vielmehr darum, die Ansichten derjenigen in den Vordergrund treten zu lassen, die zwischen den (nationalen, geschlechtsspezifischen, ethnischen u.a.) Grenzen leben. Es bedarf sicherlich einer Rechtfertigung, warum ausgerechnet diese drei Kosmopolitismus-Ansätze für eine Untersuchung, die sich primär mit Fragen zum Rassismus und Antirassismus beschäftigt, hilfreich sein können. Hierauf gibt es eine doppelte Antwort. Der erste Grund ist wissenschaftsinstitutioneller Natur und bezieht sich auf die Zirkulation sozialwissenschaftlicher Theorien und ihre Rezeption in den untersuchten Kontexten. Im Zuge der wissenschaftlichen Spezialisierung, die sich in den 1970er bzw. 1980er Jahren in Latein-
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EINLEITUNG
amerika vollzogen hat, schränken sich die ohnehin schon engen Räume für die Theoriebildung und die erkenntnistheoretische Diskussion noch mehr ein. Damit bleibt heute die makrosoziologische Reflexion über transnationale Prozesse weitgehend auf die Reproduktion und Diskussion von Ansätzen beschränkt, die in der Wahrnehmung lokaler Wissenschaftler den neuen sozialwissenschaftliehen Kanon bilden. Hier treten die habermasschen Beiträge zur postnationalen Konstellation sowie die reflexive Globalisierungstheorie von A. Giddens und U. Beck in den Vordergrund: Sie werden in Lateinamerika in weitem Ausmaß rezipiert und diskutiert, wobei sie auch eine breite analytische Anwendung finden. Mit meinen kritischen Ausführungen zu beiden Ansätzen in diesem Buch versuche ich folglich, zwischen der internationalen und der lateinamerikanischen Debatte zu vermitteln und dabei neben bereits erkannten und in der Fachliteratur aufgezeigten Unzulänglichkeiten dieser Theorien neue Impulse der Kritik zur Diskussion zu stellen. Die postkolonialen Studien gelten für viele wiederum als Möglichkeit, eine über den bisherigen Eurozentrismus hinausgehende Sozialtheorie zu entwickeln (Conrad!Randeria 2002b). Deshalb scheint es mir wichtig, die analytische Tragfähigkeit postkolonialer Studien im Rahmen einer konkreten Untersuchung auf die Probe zu stellen. Der zweite und wichtigere Grund, weshalb die Ansätze von Habermas, Giddens und Beck sowie die Postkolonialismusforschung in diesem Buch berücksichtigt werden, ist analytischen Charakters. Es handelt sich um die oben beschriebenen Kernfragen, die hier untersucht werden sollen: i) die demokratietheoretische Frage um die Legitimation weltweit verbreiteter Geltungsansprüche, ii) die allgemeinsoziologische Frage zur transnationalen Vermittlung von Soziabilitätsmustern und iii) die mikrosoziologische Frage zur Verhandlung von Identitätskonstruktionen. Die drei gewählten Ansätze beleuchten jeweils eine Untersuchungsdimension, wobei die Spannung zwischen Theorie und Empirie das Buch durchzieht. Dementsprechend gehe ich vom habermasschen Beitrag zur postnationalen Konstellation aus, um das Problem der Legitimation zu untersuchen. Nützlich für die Untersuchung scheint vor allem die Diagnose Habermas' zur fehlenden Balance zwischen einer systemischen Weltintegration und der noch überwiegend national verankerten deliberativen Gremien. Seine politischen und theoretischen Antworten auf das erfasste Problem lassen sich auf den untersuchten Fall allerdings nicht übertragen, denn der Lösungsansatz des Autors setzt eine von Europa aus gesteuerte Verbreitungsgeschichte der Menschenrechte sowie eine von machtpolitischen Interessen emanzipierte »Weltbürgergesell-
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schaft« voraus, die in den hier analysierten Kontexten keine Entsprechung finden. Die Ausführungen von A. Giddens und U. Beck zur globalen Ausdehnung einer »reflexiven Moderne« beleuchten die Suche nach den konkreten Prozessen, wie bestimmte Soziabilitäts- und Subjektivitätsmuster transnational vermittelt werden. Hier bleibt das Verhältnis zwischen untersuchtem Fall und Theorie ebenfalls angespannt: Die Theorie der reflexiven Moderne macht zwar auf die Entgrenzung des Sozialen aufmerksam; im Vorfeld der Untersuchung definiert sie jedoch unter vielen anderen konkurrierenden Prozessen das Reflexiv-Werden des Selbst als die zentrale Transfonnationsachse. Diese theoretische Präferenz lässt sich gegenüber der vorliegenden Fallstudie nicht rechtfertigen. Nicht der Abschied von (modernen) Traditionen und auch nicht reflexive Individualisierungsprozesse, die erst in einer »zweiten Moderne« entstehen, stehen im Mittelpunkt der Erörterungen, sondern vielmehr eine Kritik, die aus einer immer schon ambivalenten Einbindung des Black Atlantic in die Modeme hervorgeht. Die postkolonialen Studien wiederum dienen meiner Arbeit als mikrosoziologischer Ausgangspunkt ftir die Untersuchung kultureller Verhandlungen, die sich im Zug der Transnationalisierung des Antirassismus ergeben. Besonders viel versprechend zeigt sich hierfür der postkoloniale Kulturbegriff, der nicht auf geographisch vordeterminierten Kultureinheiten, sondern auf der Artikulierung kontingenter Differenzen gegründet ist. Das postkoloniale Kategoriensystem wird in diesem Buch zu einem wichtigen Werkzeug, um die im Untersuchungsfeld beobachteten multiplen Konfigurationen und Rekonfigurationen der Identitätskonstruktionen zu erfassen. 4 Damit kommen wir zum Aufbau des Buches. Das KosmopolitismusKonzept von Habermas, Giddens und Beck sowie der postkolonialen Studien werden jeweils in den Kapiteln 1, 2 und 3 erörtert. Die Darstellung der Theorien ist selektiv: Es wird hinterfragt, inwiefern der jeweilige Beitrag den Anforderungen eines »postnationalen« bzw. kosmopolitischen Ansatzes gerecht wird. Das besondere Interesse gilt ebenfalls der analytischen Bedeutung des betreffenden Ansatzes flir die jeweilige Falluntersuchung. In Kapitel 4 wird ausgehend von den erforschten Ansätzen auf die Vermittlungen zwischen nationalen und transnationalen Kontexten et4
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Es sei schon vorgemerkt, dass die britischen Black Cultural Studies und vor allem die Arbeiten von Stuart Hall und Paul Gilroy hier auch zum postkolonialen Flügel gezählt werden, wobei postcolonial und cultural studies nicht deckungsgleich sind. In Kapitel 3 gehe ich nochmals darauf ein.
EINLEITUNG
was gerrauer eingegangen. Mit dem Vorschlag eines Konzepts zu transnationalen Handlungszusammenhängen wird versucht, eine analytische Einheit zu definieren, die solche Vermittlungen verkörpert. Im Zentrum des Kapitels stehen Fragen der politischen Legitimitätsbildung sowie der Verhandlung kultureller Identifikation innerhalb transnationaler Handlungszusammenhänge. Kapitel 5, 6 und 7 befassen sich mit der Fallstudie zum Rassismus und Antirassismus in Brasilien. Kapitel 5 gibt einen Überblick über neuere politische Veränderungen im Land, um zu verdeutlichen, wie sich jüngst ein transnationaler antirassistischer Handlungszusammenhang herausgebildet hat. Hauptgegenstand der Erörterungen in Kapitel 6 und Kapitel 7 sind primär nicht die Sozialgeschichte oder die brasilianische politische Realität, sondern (sozial-)wissenschaftliche Diskurse zum Thema Rassismus und Antirassismus. Dabei werden jeweils Diskurse zweier Epochen untersucht: die Debatte zum wissenschaftlichen Rassismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die aktuelle Diskussion. In wissenschaftlichen Diskursen gewinnen Spannungen, die an den Schnittstellen zwischen transnational verbreiteten Geltungsansprüchen und lokalen Rezeptions- und Umdeutungsprozessen entstehen, zugespitzte Konturen. Dementsprechend zeigt die Rekonstruktion der Debatte am Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts, wie die aus Europa importierte Überzeugung, dass die Weißen überlegen sind, die unterschiedlichen Nationsprojekte prägt und damit dem Rassismus eine »moderne«, also »wissenschaftliche« Legitimation verschafft. Führt man sich diese Debatte vor Augen, so wird der idealistische Charakter jener Vorstellung deutlich, die die historische Vormachtstellung Europas in Sachen Menschenrechten verabsolutiert. Die in Kapitel 7 erfolgte Rekonstruktion gegenwä1tiger Debatten in Brasilien sowie die Schlussfolgerungen heben die Schwierigkeit hervor, die komplexe Vermittlung zwischen lokalen, nationalen und transnationalen Handlungszusammenhängen zu erfassen. Es mangelt dabei ebenfalls an analytischen Instrumenten, die die Umgestaltung lokaler Identitätskonstruktionen im Kontext antirassistischer Kämpfe durchschauen lassen: Die brasilianischen Sozialwissenschaftler oszillieren ja zwischen dem Lob einer »mestizischen« Nationalkultur und dem Plädoyer für mehr racial identity. Um eine analytische Position jenseits von diesen beiden Diskussionsflügeln zu finden, greife ich auf die dargestellten Kosmopolitismus-Ansätze zurück sowie auf die kritischen Fragen, die an sie adressiert werden. Demzufolge schlage ich eine Antwort auf die erwähnte Legitimationsfrage vor, in welcher die Artikulierung zwischen transnationalen Handlungszusammenhängen und der innenpolitischen Meinungs- und Willensbildung in den Vordergrund hitt. Transnational
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verbreitete Geltungsansprüche werden also erst legitimiert, nachdem sie die institutionellen und öffentlichen Hürden auf nationaler Ebene überwinden. Die allgemeinsoziologische Frage zur Vem1ittlung zwischen unterschiedlichen Soziabilitätsmustem wird, anders als bei A. Giddens und U. Beck, nicht durch die theoretische Neigung zur reflexiven Subjektivität vorab beantwortet. Man muss hier mikrosoziologisch untersuchen, wie diese konkreten Muster interagieren, und in unserem Fall, welche spezifischen Umformungen der ethnischen Beziehungen dabei entstehen. Derartige Untersuchung findet bei den postkolonialen Ansätzen eine effektive Unterstützung.
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Kapitel 1. Jürgen Habermas und die postnationale Konstellation 1
Mit dem Begriff »postnationale Konstellation« beschreibt Habermas einen weltweiten Kontext, in dem der Nationalstaat einen Teil seiner Handlungsfahigkeit einbüßt, da neue, über die nationalen Grenzen hinausgehende Problemlagen entstehen bzw. sich verschärfen. Seine Überlegungen zur postnationalen Konstellation oszillieren in ihrem Charakter zwischen einer politischen Stellungnahme zu den gegenwärtigen Herausforderungen der globalen Realpolitik, wie im Fall der »humanitären Kriege« und der europäischen Vereinigung (Habermas 2001, Habermas 2004), und einer theoretischen Reflexion (Habe1mas 1996, 2001 ). In beiden Fällen hängt die Argumentation eng mit dem von Habermas seit den 1970er Jahren entwickelten Theoriesystem zusammen, zum einen mit seinem zweistufigen Gesellschaftsmodell, wie er es im bereits klassischen Werk Theorie des kommunikativen Handeins (Habermas 1981) dargelegt hat, zum anderen mit seiner diskursiven Demokratietheorie (Habermas 1992)_2 Die Schwierigkeiten, die zur Entstehung einer postnationalen Konstellation führen, müssen Habermas zufolge danach unterschieden werden, ob ausschließlich der europäische Kontext oder die gesamte Weltgesellschaft betrachtet wird. In Europa geht es um die Chance, den Herausbildungsprozess des Nationalstaats insofern auszudehnen, dass durch das geteilte Zugehörigkeitsgefühl und eine integrierte Öffentlichkeit eine
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Teile früherer Fassungen dieses Kapitels erschienen in Costa 2003c, Costa 2004a, Costa 2006. Matustik (2006) zufolge stellen die Schriften zur »postnationalen Konstellation« im Rahmen des Werks von Habermas eine Wende ins Politische dar. Wie unten gezeigt wird, bilden die neueren Schriften von Habermas m.E. eine logische Kontinuität seiner theoretischen Arbeit.
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VOM NORDATLANTIK ZUM BLACK ATLANTIC
gesamteuropäische politische Gemeinschaft entsteht. Handelt es sich hingegen um den W eltkontext, so rechnet Habermas zwar damit, dass sich demokratische Errungenschaften weltweit ausdehnen, bestreitet allerdings, dass sich im Zuge dieses Prozesses zugleich eine souveräne politische Weltgemeinschaft herauskristallisiere. Das folgende Kapitel umreißt eingangs die habermassche Diagnose der Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung für die Demokratie stellen. Daran anschließend werden zunächst sein Projekt für eine postnationale Demokratie in Europa und schließlich seine Überlegungen zu einer weitergehenden kosmopolitischen Politik behandelt.
Der demokratische Staat unter Global isieru ngsd ruck In ihrer politischen Dimension beziehen sich die von Habermas als postnational bezeichneten Probleme auf die Schwierigkeiten, die Volkssouveränität zu verwirklichen. Diese meint den Zustand, in dem eine politische Gemeinschaft die Regeln, die ihr internes Miteinandergehen reglementieren, autonom verhandeln kann. Es geht um das Prinzip der Selbsteinwirkung, bei dem Urheber und Adressaten des Rechts koinzidieren. Volkssouveränität ist nicht nur ein normatives Desiderat, sondern entspricht Habermas zufolge der konkreten Erfahrung des modernen europäischen Nationalstaats, insbesondere in der Nachkriegszeit. ln diesem Zusammenhang hätten sich grundlegende Elemente konstituiert, die für die politische Selbsteinwirkung unabdingbar seien. Diese sind: i) Die Differenzierung eines Teilsystems, das sich darauf spezialisiert hat, verbindliche gemeinsame Entscheidungen umzusetzen, also die staatliche Verwaltung. ii) Die Eingrenzung der Gemeinschaft, die auf sich selbst einwirkt. Mit anderen Worten: die Definition der Gemeinschaft, die sich einer durch das selbstverfasste positive Recht reglementierten Ordnung unterwirft. iii) Die Konsolidierung einer kulturellen Nationalidentität, die es ermöglicht, dass sich die in kleinen Kreisen bestehenden solidarischen Bindungen zu einer abstrakten bürgerlichen Solidarität unter Fremden entfalten. iv) Die Entstehung eines demokratischen Rechtsstaats, in dessen Rahmen Rechtsobjekt und Rechtssubjekt koinzidieren.
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JüRGEN HABERMAS UND DIE POSTNATIONALE KONSTELLATION
Laut Habermas hat der Globalisierungsprozess die Möglichkeiten des europäischen Nationalstaats, diese vier Voraussetzungen zur Verwirklichung der Volkssouveränität weiterhin zu erfüllen, unterminiert. Die Gründe dafür sind im Folgenden skizziert. Zunächst ist eine Häufung übernationaler Faktoren - von der Transnationalisierung der Wirtschaft bis hin zur Entstehung globaler Umweltrisiken zu beobachten, die die Effektivität der staatlichen Wirkung im administrativen Sinne, also seine Fähigkeit, demokratisch getroffene Entscheidung zu implementieren, gefährden. Zugleich aber verfügen jene intergouvernamentalen und nicht-gouvernamentalen Institutionen, die für diese über die nationalen Grenzen hinausgehenden Probleme zuständig sind, nicht über vergleichbare Mechanismen der Legitimationsbeschaffung wie die nationalstaatliehen Organe. Im Hinblick auf die kulturelle Identität der Nationalstaaten konstatiert Habermas besonders schwerwiegende Probleme. Die steigende Zahl von Migranten und die Konstruktion neuer kultureller Differenzen als Reaktion auf den globalen Homogenisierungsdruck haben zu einer Vervielfältigung der in einer Nation bestehenden Lebensformen geführt. Damit kommen die kulturellen Gemeinsamkeiten unter den Staatsbürgern einer Nation, für Habermas die Grundlage bürgerlicher Solidarität, zunehmend abhanden. Angesichts einer solchen kulturellen Pluralisierung3 innerhalb der Nation befürchtet Habermas, dass die dem demokratischen Prozess innewohnende integrative Kraft - der Verfassungspatriotismus - nicht mehr ausreicht, um die Verständnismöglichkeiten und die Kooperationsbindungen unter den unterschiedlichen Mitgliedern einer Nation zu garantieren. Deshalb seien neue soziale Integrationsmechanismen notwendig, die der Intensivierung systemischer Integration im Zug der Globalisierung folgen: Stellt man historisch fest, dass sich »die intersubjektiv geteilten Lebenswelten [ ... ] bei jedem neuen Modernisierungsschub« öffnen, »um sich zu organisieren und erneut zu schließen« (Habermas 1998: 126), so sei es heute unentbehrlich, neue Formen der sozialen Einbettung zu finden, die der mit der Globalisierung einhergehenden Erweiterung persönlicher Horizonte entsprechen. Andernfalls laufe man Gefahr, den Weg für die Entstehung regressiver und/oder sozial destruktiver Tendenzen zu ebnen. In gleicher Weise wie die Nationalidentität historisch auf religiöse und lokale Loyalitäten folgte und damit eine Plattfonn für eine soziale Integration bereitstellte, 3
Die hier mit der kulturellen Pluralisierung assoziierten Schwierigkeiten führen Habermas nicht dazu, auf die Diversität der Lebensformen verzichten zu wollen. Für ihn ist die Verteidigung kultureller Pluralität unverhandelbar, was er fordert ist »die Einheit der politischen Kultur in der Vielfalt der Subkulturen« (Habennas 1996: 142).
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die dem säkularisierten und posttraditionellen modernen Kontext entsprach, so müssen heute neue Rekonstituierungsmöglichkeiten von Solidaritäts- und Integrationsbindungen entstehen, die die nationalen Grenzen extrapolieren bzw. mit der transnationalen funktionalen Dynamik im Einklang stehen. 4 Im Zentrum steht also die Frage nach dem sozialen Integrationsgefüge, von dem die Wiedereinbettung der Modernisierungsimpulse, die mit der Globalisierung zusammenhängen, ausgehen soll. Habermas' Sorge um die soziale Integration kann in zwei Dimensionen verortet werden: einer soziologischen und einer demokratietheoretischen. Bei der soziologischen Dimension geht es um die Prävention von Anomie und sozialer Fragmentierung, die zweite Ebene betrifft sein Demokratiekonzept, also den theoretisch begründeten Zusammenhang zwischen einer (verständigungsorientierten) lebensweltlichen Kommunikation und der politischen Legitimation. Auf eben diesem Zusammenhang basiert der normative Kern der habermasschen Demokratietheorie, denn die Legitimität geltender Normen begründet sich in deren Koppelung an die moralischen Erwartungen, die im Rahmen nicht-systemischer Integrationsprozesse produziert und reproduziert werden. Mit der Koppelung von Legitimation und den diskursiv formierten und ausgereiften moralischen Erwartungen einer souveränen politischen Gemeinschaft versucht Habermas dem Anspruch einer kritischen Gesellschaftstheorie gerecht zu werden, die ihren Emanzipationsbegriff in der Sphäre des Gesellschaftlichen verankert. Demzufolge wird der normative Standpunkt, von dem aus über die Legitimität sozialer Normen entschieden werden kann, weder aus einem metaphysischen Appell an das Gute noch aus einer moralphilosophischen Vorentscheidung, sondern aus den in der betreffenden Gesellschaft eingebetteten Verständigungsprozessen abgeleitet (vgl. Bonacker 2001: 168). Genau diesen erkenntnistheoretischen Anspruch bringt Habennas, wie weiter unten ausgeführt wird, mit seinen Ausführungen zum kosmopolitischen Zustand ins Spiel. Für den Fall Europas sieht Habermas in der historischen Erfahrung des Nationalstaats das Muster, nach dessen Vorbild die neuen europaweiten Integrationsformen herausgebildet werden sollen. Ipsis verbis:
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Indem er auf soziale Integrationsstrukturen besteht, die der funktionalen Systemintegration folgen, unterscheidet sich Habermas sowohl von postmodernen Strömungen, welche in ihrer »linearen Erzählweise« eine transnationale soziale Integration für unmöglich halten, als auch von Neoliberalen, für die eine derartige Integration unerwünscht ist (Habennas 1998: 133ff.).
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»Gerade die artifiziellen Entstehungsbedingungen des nationalen Bewusstseins sprechen jedoch gegen die defaitistische Annahme, dass sich eine staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden nur in den Grenzen einer Nation herstellen kann. Wenn sich diese Form der kollektiven Identität einem folgenreichen Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewusstsein verdankt, warum sollte ein solcher Lernprozess nicht fortgesetzt werden können?« (Habermas 1998: 154) Habermas' Erwartung ist also, dass der Nation-building-Prozess auf die Grenzen Europas erweitert wird, wodurch sich so etwas wie eine europäische, der gemeinsamen Geschichte bewusste »Staatsbürgernation« konstituiert. Im Rahmen eines solch erweiterten nation building soll wiederum eine »europäische Identität« und die jeweiligen kulturellen Zugehörigkeitsgefühle zu Buropa entstehen. Es handelt sich dabei um die Herausbildung einer europäischen politischen Kultur, die nach Habermas weder dem systemischen Weg einer ökonomischen Integration noch dem einer europäischen Verfassung, die an der Schnittstelle nationalstaatlicher politischer Systeme entsteht, automatisch folgt. Vielmehr kann eine gemeinsame politische Kultur erst auf dem Nährboden einer durchlässigen europäischen Öffentlichkeit gedeihen, in der transnationalen NGOs, sozialen Bewegungen und den Medien eine zentrale Rolle zukommt, wie auch einem Schulsystem, das die Bürger für eine mehrsprachige Kommunikation qualifiziert. Eine zusätzliche Voraussetzung sind kulturpolitische Maßnahmen, die normativen Antriebskräfte zusammen führen, die diese von den »zerstreuten nationalen Zentren aus gleichzeitig in Gang setzen« (Habermas 1998: 155). Im Hinblick auf die demokratischen Möglichkeiten im Weltkontext, also jenseits der europäischen Grenzen, stellt der Autor hingegen fest, dass die Beschwörung einer geteilten politischen Kultur, die als gemeinsamer ethisch-politischer Kern fungiert, wenig aussichtsreich ist. So fußt die kosmopolitische Demokratie auf einem normativ weniger voraussetzungsreichen Konzept, nämlich der weltweiten Erweitenmg bestimmter politischer Errungenschaften, die in den Industriegesellschaften bereits erreicht wurden. Habermas' Diagnose hinsichtlich der sozialen und politischen lmplikationen einer postnationalen Konstellation ist eindeutig. Auf dieser Grundlage ist auch sein Plädoyer für die Schaffung neuer Ligaturen, die die von den rapiden Modemisierungsschüben zerstörten sozialen Bindungen ersetzen sollen, nachvollziehbar. Seiner schadsinnigen Bewertung der gegenwärtigen Lage folgen allerdings keineswegs überzeugende Empfehlungen für die postnationale Neuordnung. Daran wird deutlich, dass Habermas eigentlich keine eigene Weltgesellschaftstheo-
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rie, sondern lediglich eine Ausdehnung seiner in den nationalen Grenzen verhafteten Gesellschafts- und Demokratietheorie entwickelt hat. Obwohl dieses Theoriegebäude für die Untersuchung eines bestimmten Typus nationaler Gesellschaften seinen heuristischen Wert behält, erweisen sich seine konstitutiven Kategorien im Hinblick auf postnationale Konstellationen eher als begrenzt, unergiebig und evolutionistisch. Denn hier wird auf die postnationale Konstellation ein Demokratieverständnis übertragen, nach welchem Demokratie einem Institutions- und Verfahrensgefüge entspricht, das die balancierte Koexistenz zweier gesellschaftlicher Bereichkomplexe ermöglicht: der durch Geld und Macht koordinierten Systeme und der durch eine verständigungsorientierte Alltagskommunikation gesteuerten Sphären der Lebenswelt Es sei daran erinnert, dass das Zusammenspiel von System und Lebenswelt innerhalb nationaler Gesellschaften einst als die Errichtung gesellschaftlicher Zäune beschrieben wurde, die eine rationalisierte Lebenswelt gegen die systemischen Kolonisierungsangriffe schützen (Habermas 1981 ). Später gewinnt die Darstellung der Interaktion beider Sphären im Werk von Habermas zunehmend dynamische und eindeutig politische Formen. Demzufolge dringen die in den Lebensbereichen generierten normativen Impulse über eine poröse Öffentlichkeit und ein kommunikativ erzeugtes Recht in die Politik ein, um die Verhältnisse auf dieser Ebene zu zähmen (Habermas 1992). In diesem theoretischen Kontext kommt dem Nationalstaat eine doppelte Bedeutung zu: Als Staatlichkeit entspricht er dem für die kommunikative Meinungs- und Willensbildung vorausgesetzten institutionellen Kontext, als Nation bildet er den Ausgangspunkt zur kulturellen Re-Identifikation seiner Bürger, die durch die Modernisierung von ihren lokalen Einbindungen entwurzelt worden waren. Das habermassche Projekt einer postnationalen Integration besteht also im Grunde darin, funktionale Äquivalente für die zentralen Kategorien seiner - im nationalen Raum verorteten - Demokratietheorie zu suchen. Es handelt sich also in Wirklichkeit nicht um eine postnationale Theorie, sondern darum, Figuren und Strukturen zu benennen, die in der postnationalen Konstellation jene Funktionen übernehmen können, die im Rahmen eines demokratischen Nationalstaats der Zivilgesellschaft, der Öffentlichkeit, der Nation oder anderen Instanzen zukamen oder immer noch zukommen. Einem solchen methodischen Verfahren eigenen mindestens zwei gravierende Schwierigkeiten. Die erste bezieht sich auf den europäischen Kontext und auf die irreführende Vorstellung, dass in Europa derzeit funktionale Äquivalente für die Grundstrukturen einer Demokratie kommunikativen Charakters entstünden. Die zweite Schwierigkeit hat mit der angeblichen Inexistenz derartiger funktionaler Äquivalente auf der Weltebene zu tun, was Habermas dazu verleitet, die
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kosmopolitische Demokratie mit einer paternalistischen Auffassung der Nord-Süd-Beziehungen gleichzusetzen.
Postnationale Demokratie in Europa Europäische Identität und politische Kultur Die gemeinsame politische Kultur, die Habermas als eine Voraussetzung für die Überwindung des demokratischen Defizits innerhalb der Europäischen Union auffasst, wird nur unpräzise definiert. Einerseits bestreitet der Autor jeden Zusammenhang zwischen seinem Projekt einer gemeinsamen politischen Kultur und der Idee eines gemeinsamen ethischen Fundus, der alle Europäer verbinde. Habermas teilt die von Benedict Anderson (1983) kanonisierte und in der politischen Theorie breit akzeptierte Ansicht, wonach Nationen historisch konstruierte imagined communities sind (vgl. Pensky 2000). Dementsprechend besteht die europäische politische Identität nicht a priori, sondern sie muss im Rahmen der Entfaltung der Europäischen Union erst konstruiert werden. Es handelt sich ihm zufolge nicht um ein präexistentes europäisches und auf einem vorpolitischen Substrat basierendes >Volk>von der konkreten Verkörperung des souveränen Willens in Personen und Wahlakten, Körperschaften und Voten zu den prozeduralen Anforderungen an Kommunikations- und Entscheidungsprozesse« (ebd.: 166). Hier schließt das diskurstheoretische Demokratiemodell der postnationalen Konstellation an, indem es Legitimation nicht an die Möglichkeit knüpft, unmittelbar an den Entscheidungsprozessen teilzunehmen, sondern vielmehr an die Transparenz und Zugänglichkeit von politischen Entscheidungen. Damit ordnet sich Habermas in eine immer bedeutender werdenden Schule der internationalen Beziehungen ein, die institutionelle Versuchsmodelle für ein globales »Regieren ohne Regierung« (Zürn 1998) entwickelt. Diese Modelle werden jedoch zunehmend kritisiert, da sie, wie Oiesen (2000) resümiert, dazu tendieren, statt einer globalen demokratischen Ordnung den Willen mächtigerer Nationalstaaten und Weltakteure zu reproduzieren. Bedeutender für unsere Fragestellung ist hier jedoch der zweite Fragenkomplex, den das von Habermas vorgeschlagene kosmopolitische Modell aufwirft, weil damit weitreichende theoretische Konsequenzen einhergehen. Es handelt sich um die machtsoziologische Frage nach den sozialen Kräften, die in der Lage wären, den Übergang von einer machtpolitischen Weltpolitik in eine kosmopolitische Weltinnenpolitik herbeizuführen. Mit der Absicht, aufWeltebene das funktionale Äquivalent für eine vitale Zivilgesellschaft zu finden, der es in unterschiedlichen nationalen Kontexten gelang, die Demokratie voranzutreiben, beschwört Habermas eine entstehende Weltbürgergesellschaft Anders als die nationale Zivilgesellschaft, die als ein Ensemble nicht-staatlicher und lebensweltlich verankerter Organisationen gedacht ist, verweist Habermas mit seiner Weltbürgergesellschaft - obgleich er sie nicht eindeutig definiert - auf einen heterogenen Komplex politischer Akteure, die mit einem »weltbürgerlichen Bewusstsein« identifiziert seien. So verstanden ist Weltbürgergesellschaft nicht länger ein soziologischer Begriff, sondern ein willkürliches moralisches Passepartout, das nach den jeweiligen politischen Präferenzen und Interessen ad hoc eingesetzt wird. Damit umfasste die Weltbürgergesellschaft pflichtbewusste Weltbürger und demokratische Staaten, die durch den Druck seiner tugendhaften Bürger zur kosmopolitischen Aktion getrieben werden (Habermas 1998: 168), und etwa auch die NATO, wenn sie im Fall der »humanitären Intervention« im ehemaligen Jugoslawien einem »weltbürgerlichen Zustand« angeblich vorgreift (Habermas 2001: 39).
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Würde die Etwähnung einer Weltbürgergesellschaft bei Habermas lediglich ein politisch-ideologisches Werkzeug im Rahmen seines Kampfes gegen die US-amerikanische Hegemonie darstellen, so müsste sie uns hier nicht länger beschäftigen. Ihre Brisanz besteht jedoch darin, dass sie in seinen jüngeren Ausfüluungen den Status einer normativen Kategorie annimmt, einer Art Denkfigur, die alle Handlungen im Voraus legitimiert, solange sie vermeintlich in den elWÜnschten kosmopolitischen Zustand führen. In diesem Zusammenhang funktioniert die Identifikation mit den Bestrebungen einer » Weltbürgergesellschaft« als Rechtfertigung für Aktionen transnationaler Bewegungen, aber auch für die Aufhebung nationaler Souveränität und sogar für »humanitäre Militärintetventionen«, unabhängig davon, ob sie nach dem geltendem positiven Völkerrecht überhaupt legal sind. Der Versuch, den kosmopolitischen Zustand an die normativen Erwartungen einer »Weltbürgergesellschaft« zu koppeln, scheint ein irreführender theoretischer Weg zur Konstruktion einer postnationalen demokratischen Ordnung zu sein, denn er reproduziert und verfestigt bestehende Machtasymmetrien in der Weltpolitik. Schließlich ist die Dominanz der sozialen Akteure aus den Gesellschaften des Nordatlantiks innerhalb der »Weltbürgergesellschaft« unbestreitbar. Sie sind es, die in erster Linie die Themen, die Strategien und die Prioritäten der »Weltbürgergesellschaft« definieren: »Die Rede von Netzwerken und Knoten kann nicht verdecken, dass in der transnationalen Kooperation von NGOs bzw. in transnationalen NGOs selbst die Verteilung von Einfluss, Macht, Ressourcen, Personal, Themen ein deutliches Nord/Süd-Gefalle aufweisen [... ]. Dies gilt nicht nur für Personal und die Entscheidungsstmkturen, sondern auch für die Auswahl der Kampagnen, die wesentlich auf das spendenfreudige Publikum der OECD-Welt zugeschnitten sind.« (Roth 2001: 9, siehe auch Roth 2005 und Klein et al. 2005) Stellte die Zivilgesellschaft im diskurstheoretischen Demokratiemodell die institutionelle Dimension der Lebenswelt dar, so müsste ihr funktionales Äquivalent im Rahmen der postnationalen Konstellation, die W eltbürgergesellschaft, ebenfalls mit der Reproduktion von Traditionen, Identitäten und Solidaritäten zusammenhängen. Tatsächlich aber sind angesichtsdes Machtgefälles innerhalb der »Weltbürgergesellschaft« die kulturellen Repertoires, die dabei reproduziert werden, für eine vielfältige Weltgesellschaft keineswegs repräsentativ, sondern spiegeln stets Selektions- und Perzeptionsmechanismen einer kleinen Gruppe nationaler Zivilgesellschaften. Damit läuft das Projekt einer kosmopolitischen Demokratie Gefahr, weltweit Erfahrungen und politische Wahrneh-
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mungsformen auszudehnen, die in jenen Gesellschaften dominieren, die die Agenda der Weltbürgergesellschaft bestimmen (vgl. Costa 2003b). Dieses Risiko ist umso höher und schwerwiegender, wenn man sich vor Augen führt, dass Habermas der Weltbürgergesellschaft eine immanente Legitimität zuschreibt, die sich von seiner ersten (nationalen) Demokratietheorie grundlegend unterscheidet. Dort liegt die Legitimation nicht in der Zivilgesellschaft per se, sondern war an demokratische Verfahren gebunden, die ermöglichen, dass E1wartungen und Problemlagen, die im Bereich der Lebenswelt erfasst werden, durch zivilgesellschaftliche Akteure in die Öffentlichkeit gelangen. Da allerdings derartige Verfahren auf transnationaler Ebene nicht bestehen, macht Habermas die Eiwartungen der» Weltbürgergesellschaft« selbst zur Legitimationsquelle (vgl. die Kritik von Giesen 2000). Damit wird jede Möglichkeit ausgeschlossen, die Diskrepanzen zwischen den normativen Veranlagungen in den verschiedenen Regionen prozedural zu korrigieren: Man akzeptiert oder wünscht sich sogar -, dass die ethisch-politische Dimension, die der politischen Kultur in der Weltgesellschaft fehlt, ihren Ersatz in der säkularisierten und posttraditionellen Lebensform des »Westens« findet. Die damit zusammenhängenden Probleme, die bislang abstrakt dargelegt wurden, sollen im Folgenden am Beispiel der habermasschen Rechtfertigung einer weltweiten Menschenrechtspolitik, als eines zentralen Eckpfeilers seines kosmopolitischen Modells, erörtert werden.
Menschenrechte in der kosmopolitischen Weltordnung In seiner Untersuchung zum Verhältnis zwischen Recht und Moral innerhalb eines Nationalstaats war es Habermas gelungen, die liberale mit der republikanischen Tradition zu versöhnen. Demnach sind die liberale Auffassung der Menschenrechte als gleiche subjektive Handlungsmöglichkeiten und die republikanische Hervorhebung der Volkssouveränität nicht konkurrierende, sondern sich gegenseitig ergänzende Bestrebungen. Schließlich konkretisiert sich sowohl die private als auch die öffentliche Autonomie im diskursiven Prozess der Selbstgesetzgebung, der die Adressaten des Rechts gleichzeitig zu seinem Urheber macht. Damit besteht das reziproke Verhältnis von Menschenrechten und Volkssouveränität darin, dass gleiche subjektive Handlungsfreiheiten eine Voraussetzung für eine kommunikative Gesetzgebung und die Entstehung eines demokratischen positiven Rechts bilden. Zugleich setzt die Geltung der gleichen Handlungsfreiheiten das demokratische Recht voraus: »Die Substanz der Menschenrechte steckt dann in den formalen Bedingungen für die rechtliche Jnstitutionalisierung jener Art diskursiver Meinungs- und
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Willensbildung, in der die Souveränität des Volkes rechtliche Gestalt annimmt.« (Habermas 1992: 135) Dennoch müssen Menschenrechte und Volkssouveränität im Übergang von einer auf den Nationalstaaten basierenden Weltordnung zu einer kosmopolitischen postnationalen Konstellation temporär entkoppelt werden, so dass die Menschenrechte nicht nur in den bereits demokratischen Staaten, sondern auch in den Regionen gelten können, in denen der Rechtsstaat nicht vorhanden ist. Da es aber keinen supranationalen Weltrechtsstaat gibt, in dem die Mitglieder der Weltgesellschaft gleichzeitig als Adressaten und Urheber eines kosmopolitischen Rechts fungieren können, plädiert Habermas für eine offensive Politik der Menschenrechte, die die diffusen Ansprüche der »Weltbürgergesellschaft« verkörpern und umsetzen soll. Hier wird die globale Menschenrechtspolitik »angesichts des unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts zum bloßen Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich befördern will« (Habermas 2001: 35). Der Protagonismus des »Westens« bei der weltweiten Verbreitung der Menschenrechte ist sowohl politisch-normativ wie auch analytisch-theoretisch begründet. Politisch distanziert sich Habermas von der US-amerikanischen Position, da die US-amerikanische Regierung die Ausdehnung eines menschenrechtliehen Geltungsradius als Teil einer nationalen Mission der hegemonialen Macht USA auffasst. 9 Dagegen begtündet Habermas den westlichen Protagonismus durch die moralischen Etwartungen der Weltbürger und die etwünschte Wende von einer Machtpolitik zu einem kosmopolitischen Politikverständnis, wonach die Weltpolitik nicht auf hegemoniale nationalstaatliehe Interessen reduziert werden kann. Dem Autor zufolge handelt es sich zwar um ein paternalistisches Muster der Nord-Süd-Verhältnisse; es sei aber dennoch ein selbstbeschränkter Paternalismus, der auf seiner Unvermeidbarkeit beruhe und sich seiner prekären normativen Grundlage und seines temporären Charakters bewusst sei. Analytisch wird die apologetische Rolle des Westens bei der gegenwärtigen Menschenrechtspolitik von der modern condition abgeleitet, die für alle Regionen der Weltgesellschaft gilt. Demnach entwickelt sich
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Seit der Okkupation des Iraks durch die Amerikaner und ihre europäischen Alliierten versucht Habermas seinen Argumentationskurs zu korrigieren. Demnach beschränkt sich jetzt der normative Kern Europas, der den amerikanischen machtpolitischen Interessen etwas entgegensetzt, auf Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten (Habermas 2004: 52ff.). Das mag zwar realpolitisch einen Sinn ergeben, damit werden jedoch die in seinem Ansatz hier festgestellten Probleme nicht gelöst.
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die Moderne durch historische Zyklen, in denen die modernen Werte, Soziabilitätsmuster und Gesellschaftsstrukturen von einem Zentrum in Europa immer weiter in die anderen Weltregionen vordringen. Nach dieser Auffassung wiederholt sich die Geschichte Europas mit einer Verzögerung von Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten in den übrigen Regionen, so dass die europäischen Antworten auf die Herausforderungen, die im Modernisierungsprozess entstanden, nunmehr anderswo wiederverwertet werden können. Entsprechen die Menschenrechte der europäischen Reaktion auf die im 18. und 19. Jahrhundert vollzogene Individualisierung und Säkularisierung, so kann der Menschenrechtskatalog heute eine passende Antwort auf Modernisierungsfragen in Ländern darstellen, die sich auf dem Entwicklungsstand Europas zu Beginn der Modernisierung befänden. Dazu Habermas: »Heute sind andere Kulturen und Weltreligionen den Herausforderungen der gesellschaftlichen Modeme auf ähnliche Weise ausgesetzt wie seinerzeit Europa, als es die Menschenrechte und den demokratischen Verfassungsstaat in gewisser Weise erfunden hat.« (Habermas 1988: 181)
Bis zu einem gewissen Grad erkennt Habermas selbst die ethnozentrischen Züge seines Menschenrechtsplädoyers an. Doch seine Selbstkritik beschränkt sich darauf, im Rahmen der europäischen Geschichte eine Dezentrierung der Menschenrechte zu beschreiben: »Erst als Ergebnis von zähen politischen Kämpfen sind auch Arbeiter, Frauen und Juden, Zigeuner, Schwule und Asylanten als >Menschen< mit Anspruch auf volle Gleichbehandlung anerkannt worden« (Habermas 1998: 179). Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Europa und den anderen Regionen bleibt Habermas' Vorstellung jedoch in einer Dichotomie verhaftet, wonach ein- mal als Europa, mal als Westen bezeichnetes- Zentrum zum Urheber und Förderer der Menschenrechte in den Petipherien der Welt wird. Wird der Universalistische Anspruch der Menschenrechte mit den von Habermas angebrachten Argumenten begründet, so kommen mehrere politische und analytische Schwierigkeiten zum Vorschein, die einen auf Menschenrechten gegründeten Kosmopolitismus zum Scheitern verurteilen. Es handelt sich vornehmlich um drei Problemkomplexe, die im Folgenden unter den Stichworten Weltpolitik, geschichtliche Aspekte und demokratietheoretische Probleme diskutiert werden. Weltpolitisch erscheint die Beschreibung der Menschenrechte als universelle Sprache einer über den konkreten Machtverhältnissen schwebenden Weltbürgergesellschaft problematisch, da die Widersprüche innerhalb der Menschenrechtspolitik durch eine derartige Darstel-
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lung gänzlich ausgeblendet werden. Anders ausgedrückt: Um die kosmopolitischen Versprechungen einer globalen Menschenrechtspolitik plausibel zu machen, sollte man nicht versuchen, die internen Paradoxien einer solchen Politik in ökumenische pseudosoziologische Metaphern wie Weltbürgergesellschaft - aber auch global citizenship oder kosmopolitische Demokratie usw. - aufzulösen. Im Gegenteil, kosmopolitische Möglichkeiten können erst verdeutlicht werden, wenn die jeweiligen Lücken - also der regionale, geschlechtsspezifische oder ethnische Bias - in den Universalistischen Menschenrechtsdiskursen sowohl kognitiv als auch politisch offenbart werden (vgl. Costa 2003c, 2004a). Geht man von den gegenwärtigen realpolitischen Verhältnissen aus, so scheint es wenig angebracht, das Schicksal einer kosmopolitischen Ordnung dem guten Gewissen des »Okzidents« und seiner »Fähigkeit zur Dezentrierung der eigenen Perspektiven, zur Selbstreflexion und zur selbstkritischen Abstandnahme von den eigenen Traditionen« zu überlassen (Habermas 2001: 180). Die Menschenrechtspolitik stellt keine paternalistische Entwicklungshilfe moralischer Art dar, sondern ein durch politische und symbolische Interpretationskonflikte gekennzeichnetes Spannungsfeld. Man darf nicht den kritischen Anspruch aufgeben, die machtpolitischen Interessen im Menschenrechtsdiskurs zu hinterfragen, denn nur auf dieser Basis lässt sich die Einlösung seines Universalistischen Versprechens fordern. Werden die im Menschemechtsdiskurs operierenden Machtmechanismen ausgeblendet und wird das Eintreten für die Menschenrechte auf die moralischen Tugenden konkreter Akteuren zurückgeführt, so können lnstrumentalisierungsversuche, wie die jüngsten »humanitären« Kriege exemplarisch zeigen, weder politisch noch analytisch entlarvt werden. Der zweite Einwand gegen ein apologetisches Plädoyer für die Menschenrechte bezieht sich auf die damit assoziierte Interpretation moderner Geschichte. Es handelt sich um eine historische Teleologie, die die zuerst industrialisierten Gesellschaften zum Vorreiter von Werten, Lebens- und Institutionsformen macht, die nach einer bestimmten Moralskala überlegen sind. Ein derartiges Geschichtsverständnis erweist sich jedoch als blind für die Simultanität zwischen der moralischen und materiellen Modemisierung des »Westens« und den kulturellen und ökonomischen Transformationsprozessen, die im Zug des Sklaven- und Kolonialunternehmen weltweit erfolgten. Die Modernisierungsgeschichte der (Post-)K.olonien stellt keine verzögerte Wiederholung europäischer Modemisierungsprozesse dar. Auf ihre Weise waren diese Regionen seit der Kolonialzeit mit der modern condition konfrontiert, daher sind die in diesen Regionen gegenwärtig bestehenden Herausforde-
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rungen, die Menschenrechte umzusetzen, nur im Kontext ihrer historischen Verbindung zur europäischen Modeme zu begreifen. Die (post-)kolonialen Gesellschaften erlebten und erleben ihre eigene Dezentrierung der im Menschenrechtsdiskurs verkörperten lnklusionsmöglichkeiten. Dieser Prozess erfolgte nicht mit Hilfe Europas, sondern gegen die europäische Kolonialherrschaft Die Bildung des Menschenrechtskatalogs im europäischen Kontext im 18. Jahrhundert entspricht einer auf wenige Gesellschaften beschränkten Geschichte und keinem universellen Transformationsgesetz. Die Vorstellung, dass die europäische Entwicklungsgeschichte der Menschenrechte in anderen Regionen wiederholt werden kann, ist irreführend. Man muss vielmehr die »Hier-Dort-Polaritäten« (Hall 1997a: 227) überwinden, die die moderne Geschichte in eine West-Rest-Antinomie pressen. Es handelt sich um »verwobene« Transformationsgeschichten vom »Westen« und dem »Rest« der Welt (vgl. Randeria 2000, 2001, 2005), wobei die Führungsposition, die die nordatlantischen Gesellschaften bezüglich der Menschenrechte für sich beanspruchen, als Resultat mehr oder weniger zufälliger Entwicklungen interpretiert werden muss. Diese Rolle ist nicht ontologisch, sondern historisch bedingt, sie stellt also keinen unveränderlichen und unvermeidbaren »Endpunkt« einer Evolutionsgeschichte der Modeme, sondern den momentanen Reflex kontingenter politischer Ereignisse dar. 10 Seit ihren Anfängen weisen die Kämpfe um die Menschenrechte eine geographische Dezentrierung auf: Zur gleichen Zeit, in der die europäischen Länder die Menschenrechte und den Rechtsstaat für ihre eigenen Bürger und (später) Bürgerinnen »erfanden«, begannen Unabhän-
10 Knöbl (2001: 335) zeigt, wie die habermassche Theorie sozialen Wandels mit der ersten Modernisierungstheorie einen gemeinsamen Anhaltspunkt teilt: Beide haben ein teleologisches Verständnis der Moderne, nach welchem die zuerst industrialisierten Gesellschaften einen »Endpunkt« der Geschichte darstellen, den alle anderen Gesellschaften, früher oder später, erreichen. Das Modell von Habermas wiederholt zwar nicht die modernisierungstheoretische Apologie der US-amerikanischen Gesellschaft, es behält dennoch »die Unilinearitätsannahme der traditionellen Modernisierungstheorie, [ ... ],so dass Abweichungen davon nur als (zeitweilige) Ausnahmen oder pathologischen Erscheinungen begriffen werden konnten«. Neuere Transformationen verdeutlichen indessen multiple Formen der Modeme in den verschiedenen Kontexten, wobei eine Stagnation oder sogar Umkehrung von Prozessen und Tendenzen, die man als typische Modemisierungsmerkmale aufgefasst hat, nicht einmal im angeblichen Zentrum der Weltgesellschaft ausgeschlossen sind. Hierfür gelten die Desäkularisierung in der US-amerikanischen Gesellschaft und die funktionale Dedifferenzierung in leistungsgewichtigen Wirtschaftsbereichen als Beispiele. Darauf komme ich nochmals in Kapitel 3 zurück.
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gigkeitskämpfer in den Amerikas, sich gegen europäische Kolonialunterdrückung und die damit gekoppelte Sklaverei aufzulehnen. Später kam es zu einem ähnlichen Prozess auch in Ländern Asiens und Afrikas: ln diesen Regionen lebten die zeitgenössischen Menschenrechtler, während Europa das Zentrum der Kolonialmacht, die für die Ausrottung von ganzen Völkern und Kulturen verantwortlich war, bildete. Berücksichtigt man also die Kolonialgeschichte, so wird die Darstellung der modernen Ära als eines Evolutionszyklus, dessen immanente Logik die nordatlantischen Gesellschaften in den Status einer moralischen Avantgarde versetzt, empirisch fragwürdig und politisch kontraproduktiv. Sollen die Menschenrechte eine kosmopolitische Weltordnung kognitiv und politisch vorantreiben, so muss jegliche Apologie der europäischen Geschichte vermieden werden, stattdessen wären die multiplen Dezentrierungsgeschichten der Menschenrechte zu rekonstruieren. Schließlich gewinnen die Menschenrechte erst dann einen verbindlichen Appellcharakter, wenn sie mit historischen konkreten Erfahrungen vor Ort assoziiert werden können. Auch die moderne Ideengeschichte bietet Hinweise darauf, dass die Dezentrierung der in den Menschenrechten verkörperten Gerechtigkeitsvorstellungen nicht auf Europa beschränkt blieb. Denn die Verbreitung der Gleichheitsideale, die mit dem Kolonialismus und der modernen Sklaverei simultan lief, setzte die Rekonstruktion dieser Ansprüche voraus. ln diesen Kontexten zeigen universalistische Geltungsansprüche ihre internen Ambiguitäten, was zuweilen zu neuen Exklusionsformen, zuweilen aber auch zu einer Neuerfindung des Rechtekatalogs führte, in dem die Gleichheitspostulate den vorhandenen politischen Hierarchien angepasst wurden. Es handelt sich dabei um Reaktionen auf die paradoxe Kombination von Gleichheitspostulaten und einer restriktiven Bestimmung des Begriffs vom Menschen, die die europäische Formulierung des Menschenrechts im 18. und 19. Jahrhundert kennzeichnete: Für diese »Meisterdenker der Aufklämngsepoche« war also außerhalb Europas »die Erde zivilisatorisch gesehen - wüst und leer« (Brunkhorst 2002: 149, vgl. auch McCarthy 2001). Solche Ambivalenzen findet man selbst bei Gelehrten wie Immanuel Kant, die mit allem Nachdruck gleiche subjektive Handlungsfreiheiten für alle Menschen befürworteten. Dennoch konnte er bei Nicht-Europäern keinen gleichwertigen Menschen erkennen. In seiner summarischen Physische Geographie ( 1988, zuerst 1802) zeichnet Kant ein Bild der Menschheit als einer biologischen Hierarchie, in der der europäische Mensch allen anderen überlegen ist:
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»In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringes Talent. Die Neger sind weit tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.« (Kant 1988: 17) Derartige antinomische Demarkationslinien, die den europäischen Aufklärungsmenschen von den Bewohnern anderer Regionen trennt, wurden im 19. Jahrhundert im Rahmen des wissenschaftlichen Rassismus präzisiert. Demzufolge entsprechen unterschiedliche materielle und technologische Entwicklungsmuster, die in den verschiedenen Regionen vorherrschen, rassischen Klassifikationskategorien, aus denen die Fähigkeit einer Gesellschaft bzw. ihrer Menschen, sich zu modernisieren, abgeleitet wird. Dabei vetwandeln sich »Rasse«, Kultur (im Singular) und Zivilisation in ein zusammenhängendes Maß für zivilisatorische Entwicklung. Die unterstellte Überlegenheit der europäischen Kultur, die als die Zivilisation schlechthin galt, wurde gleichzeitig Beleg für den biologischen Vorrang des weißen Menschen. Sie sollte als Parameter dienen, an dem die verschiedenen Grade von »Untauglichkeit« anderer Völker für die »Zivilisation« vorgeblich gemessen werden konnten. Als die universellen lnklusionsvorstellungen der europäischen Aufklärung mit ihrem partikularistischen Menschenbegriff auf die Amerikas übertragen wurden, in denen neben Weißen vor allem Schwarze, Indigene und so genannte Mischlinge die Bevölkerung der neu gegründeten Nationalstaaten ausmachten, kam es zu widersprüchlichen Entwicklungen. So lässt sich etwa für die USA eine Wechselbeziehung zwischen der Verbreitung von Gleichheitsidealen und der Verschärfung des Dogmas der rassischen Ungleichheit beobachten. Das heißt, dass die diskursive und kulturelle Konstruktion der Minderwertigkeit der schwarzen US-Amerikaner um so notwendiger wurde, desto tiefer die Gleichheitsideale in der US-amerikanischen (Post-)Sklavenhaltergesellschaft Wurzeln schlugen. Durch die Aberkennung des menschlichen Status von Sklaven und ihren Nachfahren stabilisiert das Rassendogma zugleich eine diskursive Konstruktion, die simultan die Gleichheit aller Menschen und die Ausbeutung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe legitimieren kann: »The race dogma is nearly the only way out for a people so moralistically equalitarian, if it is not prepared to live up to its faith. A nation less fervently commited to democracy could, probably, live happily in a caste system with a somewhat less intensive belief in the biological inferiority of the subordinate group. The need for race prejudice is, from this point of view, a need for defense on the part ol the Americans against their own national creed, against
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their own most cherished ideals. And race prejudice is, in this sense a function of equalitarianism. The former is a perversion of the later.« (Myrdall 2000: 91, Herv. im Originaltext)
Anders als in den USA entstanden auf der K.aribik und in Lateinamerika neue Doktrinen und Bewegungen, die versuchten, über den ambivalenten Begriff vom Menschen der Aufklärung hinaus die Menschenrechte tatsächlich zu universalisieren. In einigen dieser Länder hatte die Menschenrechtserklärung jedoch eine rein kosmetische Funktion, die ohne jegliche praktische Konsequenzen blieb. 11 So ist festzuhalten, dass sich die Verbreitungs- und Rezeptionsgeschichte der Menschenrechte in den Amerikas keineswegs als zentrifugaler Prozess beschreiben lässt, in dessen Verlauf einige in Europa entstandene Ideen den Rest der Welt erobern und zivilisieren. Im Kontext der (Post-)Kolonialgesellschaften müsste die Konstruktion der Menschenrechte erst von jeglichem Eurozentrismus befreit werden, bevor die damit zusammenhängenden Geltungsansprüche als politisches Argument für die Inklusion breiter Bevölkerungsgruppen fungieren könnten. Schließlich seien hier noch die demokratietheoretischen Probleme angeführt, die sich aus der apologetischen Begründung der Rolle des Westens für die weltweite Umsetzung der Menschenrechte ergeben. Habermas (1998: 192) zufolge entspricht die Verknüpfung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität im Rahmen des Rechtsstaats dem westlichen Legitimationstypus, welcher »eine Antwort auf allgemeine Herausforderungen darstellt, denen heute nicht mehr nur die westliche Zivilisation ausgesetzt ist«. Der Vorschlag weist das Verdienst auf, die Menschenrechte nicht als eine festgesetzte Aufzählung von Ansprüchen zu definieren, sondern vielmehr als Verfahren, durch das die konkreten Inhalte der Rechtsgarantien kommunikativ von allen Betroffenen verhandelt werden. Wird die diskurstheoretische Rechtskonzeption jedoch auf den Kontext der Weltpolitik übertragen, so verliert sie ihre Eindeutigkeit. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass ein großer Teil der Menschenrechtsverletzungen nicht auf fehlende Mechanismen der demokratischen Rechtskonstituierung, sondern auf eine mangelnde Verfassungswirklichkeit zurückzuführen ist. Menschenrechtsverletzungen ereignen sich 11 Das geschah im Fall Brasiliens: Die Menschenrechtserklärung wurde in die erste Verfassung nach der Unabhängigkeit (1822) weitgehend übernommen, trotzdem dauerte die Sklaverei noch weitere 64 Jahre an. Mit der Verbreitung des wissenschaftlichen Rassismus ließ sich später das reibungslose Zusammenleben von Gleichheitsidealen und Rassendogmen noch für mehrere Jahrzehnte beobachten (vgl. Schwarcz 1993; Hofbauer 1999).
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im Rahmen der sozialen Beziehungen und nicht auf der Ebene des Verfassungsrechts: Es handelt sich um eine korrumpierte Polizei, die die Freiheitsrechte verkennt, um eine diskriminierende Gesellschaft, die Frauen, Schwule oder Minderheiten unterdrückt. Der westliche Legitimationstypus sagt wenig über diese verfassungswidrigen, aber eben doch systematischen Menschenrechtsverletzungen aus, denn die Rechtsverletzer werden von informellen Schutzmechanismen gedeckt, die sich dem Zugriff der demokratisch legitimierten Gewalt entziehen. Eine zweite Schwierigkeit bezieht sich auf die kulturellen Voraussetzungen für das Funktionieren diskursiver Rechtsverhandlungen. Der »westliche Legitimationstypus« kann die von Habermas vorgesehene Gestalt nur in jenen politischen Gemeinschaften annehmen, die mit einer dialogischen Konsensfindung bereits vertraut sind. In diesen Fällen ist zu erwarten, dass die Anerkennung der Menschenrechte ohnehin schon als eine Selbstverständlichkeit gilt. Die Herausforderung eines interkulturellen Dialogs über die Menschenrechte besteht genau darin, die unterschiedlichen Autoritätsformen und sozialen Praktiken zu würdigen, die durchaus legitim sein können, sich aber diskursiv nicht zerlegen lassen. Solche Machtformen sind nicht notwendig illegitim, können aber die Voraussetzungen des westlichen Legitimationstyps nicht erfüllen. Damit die Voraussetzung der Interkulturalität überhaupt erfüllt wird, muss der Dialog um eine globale Menschenrechtspolitik von den historischen Erfahrungen ihrer Umsetzung abstrahieren (vgl. Schubert 1998). Die Problemkonstellation, die die Modeme der Weltgesellschaft gegenwärtig stellt, ist grundlegend neu. Entsprechend ist ihr nicht mit Formeln beizukommen, die sich im europäischen Kontext des 18. und 19. Jahrhunderts als geeignet erwiesen. Statt des »westlichen Legitimationstyps« werden neue Ansätze gebraucht, die über künstlich konstruierten Dualismen - etwa Freiheitskämpfer vs. Achse des Bösen, Aufklärung gegen Fundamentalismus - hinausgehen. Diese Einwände sollen nun nicht den Sachverhalt leugnen, dass die Menschenrechte in den verschiedenen Regionen der Welt bzw. für die unterschiedlichen soziokulturellen Gruppen offenbar differenziert gelten. Geleugnet werden kann ebenfalls nicht die führende Rolle, die im Prozess der Expansion der Menschenrechte den sozialen und politischen Akteuren aus den >reifen< demokratischen Staaten zukommt. Deren Aktion darf jedoch nicht darauf hinauslaufen, die eigenen Rechtskonstruktionen und die damit einhergehende politische Kultur auf andere Gesellschaften zu übertragen. Es gilt der Versuchung zu widerstehen, historische, kontingente Fortschritte bei der Implementierung der Menschenrechte in eine Moralhierarchie von Lebensformen umzuschreiben, als handelte es sich bei dem »Westen« und den »Anderen« um Kulturen
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unterschiedlicher Evolutionsgrade. Schließlich soll die Menschenrechtspolitik nicht kulturelle Partikularitäten, sondern politische Partikularismen angreifen. So geht es darum, die geschlechtsspezifische, rassistische oder ethnische Unterdrückung in Ländern wie Sudan, Brasilien oder der Türkei zu bekämpfen, ohne dabei die Geschlechte1verhältnisse oder ethnische Beziehungen aus Schweden, USA oder Kanada dorthin transplantieren zu wollen. Hier nimmt eine offensive Menschenrechtspolitik durchaus ideologischen Charakter an: Sie ist darauf ausgerichtet, die Gerechtigkeitskämpfe vor Ort zu unterstützen und deren spezifische Entstehungs- und Handlungsformen zu be1ücksichtigen. In der Weltpolitik stellen die Menschenrechte weder einen vordefmierten Katalog noch ein bestimmtes Legitimationsverfahren dar. Menschenrechte sind eher die politische Metaphorisierung unterschiedlicher Gerechtigkeitsansprüche. Sie weisen keinen immanenten rechtlichen, politischen oder kulturellen Inhalt auf, sondern sie stellen einen politisch-diskursiven Rahmen dar, der offen und formbar bleiben soll. In diesen Rahmen sollen möglichst multiple Emanzipationskämpfe passen, die nur auf der Folie einer bestimmten Kultur ihren Sinn und ihre Bedeutung gewinnen. Eine derartige Definition universeller Menschenrechte, so abstrakt sie zunächst klingen mag, scheint die höchstmögliche Formalisierung von Geltungsansprüchen zu sein, wenn diese im Kontext heterogener normativer Erwartungen und asymmetrischer zwischenstaatlicher und zwischengesellschaftlicher Beziehungen ein interkulturelles Dialoginstrument bleiben sollen. Überdies entspricht die hier postulierte Definition dem Muster herrschender transnationaler Kommunikationsformen. ln anderen Bereichen fungieren bereits polysemische Metaphern wie empowerment, nachhaltige Entwicklung (dazu Nobre 2002) oder citizenship in der Weltpolitik als unverzichtbare (Diskurs-)Werkzeuge, die interkulturelle Verhandlungen und Verbreitung sozialer Innovation ermöglichen.
Abschließende Bemerkungen und neue H erausforderu nge n Habermas zufolge gefährdet eine mit der systemischen Integration auf transnationaler Ebene nicht einhergehende soziale Integration die Existenz der Demokratie sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch weltweit. Dass der Autor der sozialen Integration eine fundamentale demokratietheoretische Rolle zuschreibt, ist auf den Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimation und der rationalen Begründung
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geltender Regeln zurückzuführen. Danach kann sich Demokratie im diskurstheoretischen Sinne nur dort entfalten, wo die in einer säkularisierten und posttraditionellen Lebenswelt sozialisierten Bürger bereits damit vertraut und dafür befähigt sind, die für alle verbindlichen Normen diskursiv zu beg1ünden. Ferner setzt die Demokratie eine präexistente politische Kultur voraus, aus der sowohl ein gemeinsamer ethisch-politischer Kern als auch die Solidarität unter Fremden hervorgeht, ohne die die motivationale und kognitive Grundlage für die diskursive Verhandlung der gemeinsamen politischen Umgangsregeln nicht vorliegt. Schließlich impliziert die Demokratie einen Komplex sozialer und politischer Strukturen, Institutionen und Verfahren, der das Zusammenspiel systemischer und sozialer Strukturen im Rahmen einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung ern1öglicht. Bei diesem Komplex handelt es sich vor allem um eine einflussreiche Zivilgesellschaft, eine politisch fungierende Öffentlichkeit sowie um ein Politik- und ein Rechtssystem, die beide sozial porös und zugänglich bleiben. Im Falle Europas zeigt sich Habermas in Bezug auf die Überwindung des sozialintegrativen und legitimatorischen Defizits optimistisch. Für dessen Ausgleich reicht ein koordiniertes politisches Projekt, das die Geltungsbedingungen demokratischer Herrschaft im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten europaweit ausweitet. Es geht also um die europäische Ausdehnung der Nation-Building-Prozesse, die mit der Entstehung umfassender Äquivalente zu den (nationalen) politischen Kulturen, Öffentlichkeiten und Zivilgesellschaften einhergeht. Auf diese Weise sollen die kulturellen und institutionellen Bedingungen dafür geschaffen werden, dass die Solidarität unter Fremden und die demokratische Legitimität der Gesetzgebung wie der politischen Entscheidungsfindung europaweit entstehen können. Weiter oben wurde gezeigt, dass die Ausführungen Habermas' zur europäischen Integration insofern irreführend sind, als diese ein konstitutives Element der postnationalen Konstellation ausblenden: die Entkoppelung von geographischen und kulturell-politischen Grenzen. Unabhängig davon, wie man eine europäische politische Kultur definiert, wird man feststellen müssen, dass diese politische Kultur einerseits nicht exklusiv in Europa, andererseits auch nicht überall in den europäischen geographischen Grenzen vorhanden ist. Überdies zeigen empirische Studien, dass die europäische Integration fragmentarisch und dezentral abläuft. Nichts spricht (gegenwärtig) dafür, dass ein politisch gesteuertes Integrationsprojekt die unterschiedlichen transnationalen, sich im Aufbau befindlichen Kommunikationskontexte mittel- oder auch nur langfristig zu einer europäischen Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit bündeln können.
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Im Hinblick auf die Weltpolitik versucht Habermas angesichts des fehlenden gemeinsamen ethisch-politischen Fundus das Postulat der Volkssouveränität, das die Kongruenz von Legitimations- und Anwendungskontexten festlegt, aufzulockern. Da die Bedingungen für die diskursive Verhandlung und Legitimiemng politischer Normen - sprich: eine rationalisierte Lebenswelt und ein freiheitlicher Meinungs- und Willensbildungsprozess - nicht weltweit vorausgesetzt werden können, konzediert man zumindest zeitweilig eine paternalistische Beziehung zwischen den »westlichen« Demokratien und dem »Rest« der Welt. Dies bedeutet, dass Regeln, die wie die Menschenrechte minimalen Ansprüchen entsprechen, überall gelten, und zwar unabhängig davon, ob sie lokal legitimiert werden können. Um diese Abweichung vom diskurstheoretischen Normlegitimierungsmuster zu rechtfertigen, rekurriert Habermas sowohl auf ein historisch-philosophisches Argument wie auf eine rhetorische Figur. Dem historisch-philosophischen Argument zufolge stellt der (west-)europäische Modernisierungsprozess, einschließlich der »Erfindung« der Menschenrechte und des Rechtstaats, ein universelles Muster dar, das in anderen Regionen der Weltgesellschaft reproduziert werden kann - und soll. Wie ausgefiihrt, ist dieses Argument für das Irreinandergreifen von europäischer Modernisierung und den zeitgleichen weltweiten Transformationsprozessen blind. Menschenrechte und Rechtsstaat werden zu einer konkreten politischen Existenzform, die sich in einer sozialen Insel - mal als Europa, mal als Westen bezeichnet - historisch entwickelt. Ferner greift Habermas auf eine rhetorische Figur zurück, um die diskurstheoretisch vorgesehene Normenlegitimiemng zu flexibilisieren, und zwar die Weltbürgergesellschaft Diese wird weder sozial lokalisiert noch soziologisch klar definiert, sie ist vielmehr eine Art Surrogat aller Indizien und Bemühungen, die die Transition von einer machtpolitisch dominierten Weltkonstellation zum kosmopolitischen Zustand vorantreiben. Wie gezeigt, reproduziert die Weltbürgergesellschaft, wie auch immer begrifflich bestimmt, eine Nord-SüdAsymmetrie. Sowohl das historisch-philosophische Argument wie auch die von Habermas verwendete rhetorische Figur stellen in einem entscheidenden Aspekt einen Bruch mit der Tradition der kritischen Theorie dar: Es wird der Anspmch aufgegeben, die normativ-kritische Perspektive von den konkreten sozialen Emanzipationsbestrebungen abzuleiten (Honneth 1992). Denn wenn der kosmopolitische Zustand mit einer Teleologie moderner Geschichte assoziiert und begründet wird, tritt an die Stelle der sozialen Emanzipationsansprüche der Sozialphilosoph als kritischer Bezugspunkt: Es liegt an ihm, die modernen Transformationen zu analy-
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sieren und dabei die Bewegungen in der Weltgeschichte zu erkennen, die zu einem emanzipatorischen (kosmopolitischen) Ausweg führen. Auch der Rekurs auf die Weltbürgergesellschaft löst das Problem nicht: Will man sie nicht als metaphysischen Weltbürgergeist auffassen, so muss man erkennen, dass eine durch ihre kosmopolitische Berufung definierte Weltbürgergesellschaft nur einem äußerst geringen Teil der (realen) Weltgesellschaft entspricht. Noch weit davon entfernt, Lösungen für das Grundproblem, das sich hier allmählich abzeichnet, zu entwickeln, wollte dieses Kapitel zunächst den Untersuchungsgegenstand dieses Buches ein wenig präziser konturieren. Politisch handelt es sich darum, Legitimationskriterien für Normen zu diskutieren, die jenseits eines bestimmten Nationalstaats gelten sollen. Habermas bietet uns hierzu zwei Möglichkeiten: Die erste, auf Europa beschränkt, sieht die Ausdehnung jener politisch-kultureller Bedingungen vor, die die Normenlegitimation in einem Nationalstaat garantieren. Die zweite verzichtet auf Legitimation, oder anders ausgedrückt, akzeptiert, dass Normen, die in einem bestimmten regionalen Kontext legitimiert wurden, auf andere Regionen übertragen werden dürfen. Das erste Lösungsangebot lässt sich auf den in diesem Buch konkreten untersuchten Fall, also das US-amerikanisch-brasilianische antirassistische Netzwerk nicht anwenden. Letztendlich scheint die gemeinsame postkoloniale Geschichte angesichts der in den Amerikas beobachteten Pluralität keine ausreichende Voraussetzung für die Konstituierung einer gemeinsamen politischen Kultur in der Region zu bieten. Das zweite Lösungsangebot ist politisch unvertretbar: Es impliziert die Annahme, dass die schmerzhafte Konstruktionsgeschichte einer fragilen und längst nicht überall realisierten Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen in den USA für Brasilien ein gültiges Vorbild darstellt. In Kapitel 4 wird diese Diskussion nochmals mit der Absicht aufgegriffen, eine weniger unzulängliche Lösung für das postulierte theoretische und politische Problem zu umreißen. Vorher jedoch soll es im Folgenden um zwei weitere Kosmopolitismuskonzepte gehen.
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Kapitel 2. Anthony Giddens und Ulrich Beck: Risiko, Reflexivität, Kosmopolitismus
Obgleich die Analysen der Globalisierung, die der britische Soziologe Anthony Giddens und sein an der Münchner Universität tätiger Fachkollege Ulrich Beck präsentiert haben, nicht unmittelbar übereinstimmen, sind sie dennoch nicht unvereinbar, denn sie weisen gemeinsame Leitprinzipien auf. Sogar der auffallige Unterschied in den ersten Arbeiten der beiden Autoren hinsichtlich des Niveaus an Systematisierung und theoretischer Strenge, das bei dem Londoner Soziologen sehr viel höher war, scheint immer schwieriger erkennbar. Beide tendierten in den letzten Jahren dazu, flexibler mit den fachwissenschaftliehen Normen der Disziplin umzugehen, und zwar motiviert durch das Bestreben, das Laienpublikum zu erreichen, dem sie mit einer Haltung begegnen, die Lichtblau (1999: 13) mit Bezug auf Beck als eine Art von »epistemologischem Populismus« charakterisierte, als ob wir letztlich alle im »selben Boot« säßen. Tatsächlich haben beide Autoren es auf diese Weise erreicht, ihre Ideen einem Publikum zu vermitteln, das an Umfang und Interesse zunimmt, und dabei zugleich die Aufmerksamkeit von Politikern und Entscheidungsträgern erweckt. Die Ungezwungenheit im Umgang mit der Informationsgesellschaft hat beiden eine ambivalente Stellung und Reputation eingebracht. Einerseits sind sie zur lebendigen Verkörperung der conditio humana in der Spätmodeme geworden, wie sie sich in ihren eigenen Schriften darstellt und deren charakteristisches Kennzeichen gerade die Selbstreflexion ist, verstanden im Sinne einer Gesellschaft, die sich mit ihren eigenen Begrenzungen konfrontiert sieht. Gleichzeitig aber wird andererseits das wachsende öffentliche Ansehen beider von den Fachkollegen mit Reserviertheit betrachtet.
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Die Stärke und die Anfälligkeit der jüngsten Arbeiten beider Forscher hat eine gemeinsame Wurzel - in dieser Hinsicht sind sie austauschbar: Es ist dieselbe Fähigkeit beider Autoren, die Grenzen des fachwissenschaftliehen Kanons auszuloten, die sie ihresgleichen verdächtig macht und die gleichzeitig in der Öffentlichkeit Respekt erweckt. Dennoch stellen Beck und Giddens, wie Lash/Uny (1994: 37f.) bemerken, zwei sehr verschiedene Typen von Soziologen dar: »Beck is partly an essayist and partly a middle-range sociologist of institutions, who has accumulated expertise in the study of work relations and the family. His later inquires into the sociology of science and the environment are what led to his theory of reflexive modernization, which he subsequently read back into his analyses of other institutions and hence general social change. Giddens is the consummate general social theorist. Thus his analyses pursue, in a much greater conceptual depth than Beck, the issues that they share in common.« Ungeachtet dessen scheinen sich beide Autoren mit ihren jüngsten Arbeiten anzunähern, was die Methodologie wie den essayistischen und generalisierenden Stil betrifft, die sie anwenden. Die Kritiken am deutschen Autor richten sich vor allem gegen die Leichtfertigkeit, mit der er eine gleichsam dogmatische Grenze der Soziologie durchbricht, die seit den ersten klassischen Texten existiert, nämlich die Unterscheidung zwischen Zeitdiagnose und Sozialtheorie. Dies meint im ersten Fall die Behandlung von spezifischen Problemen in einer bestimmten Epoche, ohne die Aufstellung allgemeingültiger Postulate anzustreben und auf der Grundlage von Evidenzen, die nicht notwendig einer empirischen Forschung nach wissenschaftlichen Methoden entsptingen. Die Erarbeitung einer Sozialtheorie erfordert dagegen, gemäß dieser Unterscheidung, den systematischen Gebrauch der Informationen, um zu allgemeineren Aussagen zu gelangen, die sich nicht nur auf einen Einzelfall, sondern auf langfristige Tendenzen beziehen. Die Kritiken gegen Giddens konzentrieren sich auf dessen Hinlenkung der Wissenschaft zur Politik und seinem beharrlichen Eintreten für ein Programm des Dritten Wegs, das er als das notwendige Projekt zur Erneuerung der Sozialdemokratie definiert. Mit diesem Programm wolle er sich von dem unterscheiden, was er die traditionelle Linke nennt, da Giddens die Marktwirtschaft akzeptiert, und von den konservativen Liberalen, die jede Art von Kontrolle der Wirtschaft ablehnen. Für die Kritiker leistet das Programm des Dritten Wegs nichts weiter, als die resignierte Kapitulation vor der Dynamik eines globalen Kapitalismus, der
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die sozialen Ungleichheiten vervielfacht und keinem anderen Kommando gehorcht als seiner eigenen expansiven Logik, mit einem Gewand fortschrittlicher Rhetorik zu bemänteln (zu einer Synthese der Kritiken, siehe Giddens 200la: Kap. 1). Vom Gesichtspunkt der soziologischen Analyse aus betrachtet ist zu bemerken, dass die Erkundungen des Autors zum Thema des Dritten Wegs (Giddens 1998a, 200la) nicht über das Niveau an analytischer Schärfe hinausreichen, zu dem die politischen Akteure selbst gelangt sind, die sich dem vorgeschlagenen Programm für die erwünschte »Erneuerung« der Sozialdemokratie angeschlossen haben (z.B. Blair/Schröder 1999). 1 Wie in den Arbeiten von Beck löst sich auch in den Studien von Giddens über die Globalisierung die kanonische Grenze zwischen der Diagnose und der Theorie einfach auf. Die Arbeiten beider Autoren zu diesem Thema sind nämlich der lebendige und prägnante Bericht zweier aufmerksamer und scharfsinniger Augenzeugen der gegenwärtigen Prozesse und gleichzeitig die soziologische Übersetzung dieser Eindrücke. Bei diesem Vorgang unterscheiden sich Erfahrung und Reflexion, Sinnesnähe und erkenntniskritische Distanzierung, schlichte Intuitionen und strenge Thesen kaum. Das Ergebnis, zu dem diese wenig konventionellen Bemühungen jeweils gelangen, ist notwendigerweise ungleich. Zunächst muss man festhalten, dass die Formulierungen beider Autoren ein unverkennbares Verdienst darstellen und eine offenkundige Lücke in den Studien zu den zeitgenössischen Wandlungen der Moderne ausfüllen, insofern sich in ihnen das - wie wir sehen werden, nicht immer erfolgreiche - Bemühen ausdrückt, zum einen der Falle des teleologischen Evolutionismus zu entgehen, wie ihn die erste Modernisierungstheorie vertrat, und zum andern der Verführung durch die postmodernen Strömungen, die die Kapitulation vor der Herausforderung einer analytischen Erfassung der Komplexität zu einer epistemologischen Tugend machen. Für beide Autoren ist die Ausbreitung der Moderne kein linearer Prozess, der im Wohlstand aller kulminiert. Sie ist eher eine widersprüchliche und heterogene Bewegung, die in der zeitgenössischen Epoche den Charakter eines zweiten Stadiums erlangt habe, das die Tendenzen und Spannungen, die in der industriellen Phase der Moderne zu beobachten gewesen sind, nicht überwindet, sondern radikalisiert. Nichts ähnelt hier folglich einem Ende der Geschichte und der IdeoloEs ist symptomatisch, dass das im Jahr 2000 von Giddens publizierte Buch mit dem Originaltitel The Third Way and its critics in der von Beck herausgegebenen Reihe Zweite Modeme unter dem deutschen Titel Die Frage der sozialen Ungleichheit veröffentlicht wurde. Inhaltlich ist der Originaltitel treffender, die Umbenennung ist möglicherweise auf die Erschöpfung des Themas Third Way zurückzuführen.
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gie. Was man vorfindet, ist vielmehr eine Neufassung der Konflikte in anderen Begriffen, insofern als die Kämpfe um die Aneignung der Errungenschaften von technologischem Fortschritt und Industrialisierung in immer stärkerem Maße den Konflikten um die Verantwortbarkeit ihrer Risiken und une1wünschten Begleitwirkungen weichen. In diesem Kapitel soll nun die Reflexion zur Globalisierung kurz dargestellt werden, wie sie von Beck und Giddens entwickelt worden ist. Zu diesem Zweck werden einige zentrale Elemente ihres jeweiligen soziologischen Ansatzes zusammenfassend und getrennt rekonstruiert, um aufzuzeigen, wie sich die Kontinuität zwischen ihren Formulierungen zu der globalen Dynamik und den zentralen Thesen früherer Arbeiten gestaltet.
Ulrich Beck und die Risikogesellschaft Der Begriff des Risikos im Kontext der von Beck untersuchten Risikogesellschaft hat wenig damit gemein, was wir in der Umgangssprache als Risiko - im Sinne von Bedrohung oder Gefahr - bezeichnen. In der Arbeit dieses Autors erhält Risiko die Bedeutung einer strukturierenden Kategorie der »zweiten Modeme«. Risiko umfasst, über die objektiv bestehenden Bedrohungen hinaus, auch die sozialen Prozesse der Wahrnehmung und schließt Deicodierung und Vorbeugung gegen Risiken mit ein. Anders als die Bedrohungen, gegen die die Gesellschaften in der ersten Phase der Modeme, der industriellen Moderne, ihre Schutzmechanismen entwickelten, nämlich die natürlichen Gefahren, der materielle Mangel, die Krankheiten u.a., handelt es sich in der zweiten Moderne um die Risiken, die die Industrialisierung, der Kern- und Grundprozess der Moderne selbst erzeugt. Die Risikogesellschaft meint folglich Risiken wie die Luft- und Wasserverschmutzung, Risiken der Vergiftung, die mit der Massenproduktion von Lebensmitteln zusammenhängen, die permanente Bedrohung durch eine nukleare Explosion und die Gefahr der militärisch-industriellen Zerstörung. Es sind dies Risiken, die von der Industrialisierung herrühren und die paradoxer Weise die vollständige Modernisierung der gesamten Gesellschaft in der zweiten Moderne be- bzw. verhindern. Wenngleich die Möglichkeiten, den Risiken zu begegnen, ungleich gegeben sind, bewirken die Risiken nicht die Betonung der Klassengesellschaft, denn sie betreffen alle ohne Ausnahme und machen auf diese Weise unzweifelhaft die irreduzible Interdependenz zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und Prozessen offenkundig. Die allgegenwärtige Präsenz der Risiken verleiht diesen den Charakter von zivilisati-
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ansbedingten Bedrohungen, die durch ihren Anschein beängstigender Unvermeidlichkeit zur Restrukturierung der persönlichen Lebenspläne zwingen und die soziale Grammatik neuordnen. Die Unentrinnbarkeit der Risiken - die imperative Realität ihrer materiellen Existenz - impliziert natürlich nicht ihre soziale Anerkennung und Wahrnehmung. Ihre Allgegenwart ist einerseits zwar ein Argument zugunsten der sozialen Solidarität, stellt jedoch keinerlei Garantie oder zwingenden Grund für eine gesamtgesellschaftliche Mobilisierung dar, die auf ihre Prävention und Behandlung zielen. Anders als die Güter und Dienstleistungen - die Errungenschaften des technologischen und industriellen Fortschritts - sind die Risiken nicht unmittelbar sichtbar, sie erfordern die kognitive Vermittlung und soziale Konstruktion ihrer Existenz. Nur fachliches Spezialwissen kann die Zusammenhänge zwischen Ursachen und Folgen interpretieren und rekonstruieren, indem es z.B. die Beziehung zwischen chemischer Umweltbelastung und Fällen von Krebserkrankungen, zwischen industrieller Versehrnutzung und Waldsterben oder zwischen Erwärmung des Planeten und den Überschwemmungen im Elbtal ergründet. Was die Risiken soziologisch relevant macht, ist nicht ihre faktische Existenz oder ihre Latenz, sondern deren Identifizierung und Formulierung durch die fachwissenschaftliehen Systeme und, davon ausgehend, ihre Wahrnehmung und Interpretation durch die Gesellschaft als ganzer: »Die Evidenz der Not verdrängt die Wahrnehmung der Risiken; aber nur ihre Wahrnehmung, nicht ihre Wirklichkeit und Wirkung: geleugnete Risiken gedeihen besonders gut und schnell.« (Beck 1986: 60, Herv. im Originaltext) Die modernen Gesellschaften werden effektiv zu Risikogesellschaften in dem Maße, wie sie diskursive Wahrnehmungs- und Dekodierungsmechanismen für die existenten Bedrohungen ausbilden. In diesem Moment wird die Präsenz der Risiken zur einer katalysierenden und befreienden Kraft für den Mechanismus der sozialen (Selbst-)Kritik, indem die Begrenzungen der Institutionen, die mit der Moderne entstanden sind (die Kernfamilie, der moderne Staat, die Technik und Wissenschaft in ihrer gegenwärtigen Form), und die Verletzlichkeit der darin verwurzelten sozialen und persönlichen Projekte zu einer Selbstevidenz wird. Die Risikogesellschaft bildet in dieser Weise den Kontext, in dem das Ende der (modernen) Gewissheiten die Ära der Kritik und Neuerfindung - als Möglichkeiten - aufkommen sieht. Für den Einzelnen sind die Krise der modernen Institutionen und die Schwächung der Bezugsgrößen, auf denen sich in der industriellen Moderne die persönlichen und kollektiven ldentitäten errichtet haben - die
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Nation, die Gewerkschaft, die Familie, der Beruf- etwas, das einer Revolution nahe kommt. Es handelt sich hier um die Vertiefung des Individualisierungsprozesses, der die Einzelnen zu Subjekten der Konstruktion ihrer eigenen Identität und Biographie macht. Es sei dabei darauf hingewiesen, dass die Freiheit und das emanzipatorische Potential, die mit dem Individualisierungsprozess verbunden sind, nicht zu verwechseln sind mit der Herausbildung eines hedonistischen Subjekts, das sein Leben frei von Problemen und Einschränkungen und entbunden von der unerwünschten Loyalität gegenüber obsoleten Institutionen angeht. Auf das Zerreißen der alten Bindungen von Zugehörigkeit folgt die erzwungene Anpassung an die systemischen Anforderungen: das Sichfügen in die Logik des Arbeitsmarktes, die Abhängigkeit von den Angeboten des Konsums und des Gebrauchs von Dienstleistungen, die Leistungsgrenzen der speziellen Systeme wie Erziehung und Gesundheit etc. In der Risikogesellschaft lebt der Einzelne das Paradox, materiell weiterhin von den systemischen Zwänge abhängig zu bleiben, doch in einem Kontext, in dem das symbolische Zentrum seiner Existenz nicht mehr in der Fabrik oder dem Büro angesiedelt ist, sondern im Experimentieren mit den neuen und vielfältigen Lebensformen und -stilen, die von der enttraditionalisierten Gesellschaft bereit gehalten werden. Wenn Beck die Kategorie der Individualisierung als eines der zentralen Elemente der Risikogesellschaft betrachtet, ist er sich der ausgedehnten theoretischen Laufbahn, die der Begriff hinter sich hat, bewusst und gleichfalls der langen Geschichte, die der effektive Gesellschaftsprozess darstellt, auf den sich der Begriff bezieht. Tatsächlich besteht das Neue bei Becks Ansatz in der Fokalisierung der subjektiven Dimension, die in der Individualisierung enthalten ist. Während Marx, Weber oder Elias die Individualisierung als ein Mittel der objektiven Transformation der Lebensbedingungen behandeln (durch Enttraditionalisierung, Emanzipation von alten Verbindlichkeiten und Strukturen sowie Konstruktion neuer Bindungen), ist Beck daran gelegen, den Zusammenhang zwischen den neuen Lebensbedingungen und der Restrukturierung der persönlichen Biographien und der Reformulierung des Selbstbewusstseins und der Identität herauszuheben. Es sei hier betont, dass er dieses Unternehmen engagiert und mit Erfolg durchführt: Der Beitrag Becks zum Verständnis der Prozesse, die am Schnittpunkt der systemischen Beschränkungen und der Möglichkeiten angesiedelt sind, die der Individualisierungssprozess auf subjektiver Ebene eröffnet, ist in der gegenwärtigen Soziologie immer noch ohnegleichen. Tatsächlich hat kein Soziologe mit vergleichbarer Prägnanz die irreduzible Spannung zwischen den emanzipatorischen Horizonten, die gegenwärtig dem Einzelnen zugänglich sind, und den mit dieser Freiheit verbunden Risiken beschrie-
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ben. Beck zeigt, wie der Einzelne in der Risikogesellschaft seine Unschuld verliert. Das Individuum lernt, jede alltägliche Geste und jede Kosumentscheidung mit einer Reaktionskette zu assoziieren, die jeden Schritt für den Einzelnen, für die gesamte Gesellschaft und für die nach ihm kommenden Generationen folgenreich werden lässt. Der Individualisierungsprozess lässt akute Folgewirkungen erkennen, wenn man ihn hinsichtlich der gegenwärtigen Wandlungen in der Privatsphäre und im Bereich der Intimität untersucht (Beck/BeckGernsheim 1990). Man sieht, dass das persönliche Leben zum Knotenpunkt geworden ist, auf den alle Spannungen zwischen dem Streben nach Komfort und emotionaler Sicherheit und den äußeren Anforderungen zmückschlagen: mehr Schnelligkeit, mehr Flexibilität, Erhaltung des Status quo, ästhetische Körperpflege, der Druck, auf der Höhe des Zeitgeistes zu sein etc. Folglich gäbe es, wie in anderen Kontexten gezeigt (Leis/Costa 2000, Costa 2005c), ein »implosives Paradox« im persönlichen Leben, da nämlich der Fortschritt des Individualisierungsprozesses und das daraus erfolgende Anwachsen der individuellen Kompetenzen und Wahlmöglichkeiten historisch von der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft und der Intransparenz der sozialen Prozesse begleitet werden. Dadurch werden die Entscheidungen, die der Einzelne treffen muss, immer folgenreicher, doch hängen ihre Ergebnisse von Faktoren ab, die er nicht beeinflussen kann. Neben den Spannungen zwischen der systemischen Dynamik und dem Privatleben, bilden die Wandlungen im Bereich der Intimität ebenfalls eine Quelle emotionaler Überspannung. Es handelt sich hier um die Schwierigkeiten, die verbunden sind mit den Wandlungen, die die traditionelle Rollenteilung der Geschlechter im Familienkern seit den 1960er Jahren erfahren hat. Wenn sich die Modernisierung zu Anfang auf die Zurückdrängung der Frau auf die - schlecht anerkannten und nicht bezahlten -Funktionen der familiären Reproduktion stützte, wie die feministische Bewegung und die Fachliteratur aufgezeigt haben, so erfordert die wachsende Beteiligung der Frauen im öffentlichen Leben eine notwendig konfliktive- Neuordnung der häuslichen Welt. Was hier vorliegt, ist der Disput um die Neudefinition der Positionen im Innern der Familie, ein Prozess, der mit vielen Risiken und einigen Chancen verbunden ist. Dabei soll deutlich werden, dass zur gleichen Zeit, wie die Auseinandersetzungen in der Privatsphäre die Kernfamilie gleichsam umkrempeln und dabei Unruhe, Unsicherheit und emotionale Instabilität erzeugen, die Umwandlung der Geschlechterrollen für Frauen, aber auch für Männer, neue Horizonte schafft. Das bedeutet, dass der Prozess, der umgangssprachlich als Emanzipation der Frau be-
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kannt ist, mehr darstellt, als eine Bewegung, die die Frauen aus dem ambivalenten Komfort der eingeschränkten Rolle als Mutter und Ehefrau herauslöst und in ein ungewisses Universum von Möglichkeiten, Entdeckungen und Risiken hineinwirft. Der Aufstieg der Frau im ökonomischen und politischen Bereich eröffnet auch Möglichkeiten für die männliche »Emanzipation«, insofern als sie der Selbstdarstellung der Männer einzig aufgrundder Rolle als Versorger der Familie die Berechtigung entzieht. Auch der Mann schafft sich eine Biographie im emphatischen Sinne. Er kann- und sieht sich in gewisser Weise dazu gezwungen - ein Feld an Erfahrungen und Reflexionen konstruieren, die über die Karriere, die Pläne zum Erwerb des Eigenheims und das Sparen für den Neuwagen hinausreichen. Der interne und externe Druck, der die Familienmodelle radikal umwandelt, bewirkt für Beck keine lineare Entwicklung, die unweigerlich in der Skepsis hinsichtlich des Wertes der Liebesbeziehung und der dauerhaften Ehe mündet. Im Gegenteil, auf ihrem Höhepunkt verstärken die Individualisierung und der damit zusammenhängende Wirbel an Ungewissheiten paradoxer - doch verständlicherweise - wieder die Tendenz, auf die Liebe zu setzen. Die vollständige Entzauberung der Welt bewirkt die Wiederverzauberung des Bereichs der Emotionen und macht die Liebesbeziehung in der Vorstellung zu einem Paradies, in das (höchstwahrscheinlich vergeblich) die letzten Reserven an Traumkapital investiert werden. Auf diese Weise wird die Liebe zu einer »weltlichen Religion« der radikalisierten Modeme, zur »letzten Zuflucht«, wo das reflexive Individuum nostalgisch versucht, die emotionale Geborgenheit wiederherzustellen, die es nie genossen hat oder die das geschärfte Selbstbewusstsein seiner prekären Lage in der Moderne ihm geraubt hat. So wie der Einzelne, verliert auch die Gesellschaft die Unschuld. Angesichts der Dringlichkeit der Risiken, im sozialen Sinne, sieht der Glaube an den unbeschränkten technologischen Fortschritt und an eine mögliche Dauerhaftigkeit der herrschenden Produktions- und Konsummuster seine Plausibilität schwinden. Dies bedeutet nicht, dass der Glaube an die technologische Überwindung aller von der Natur gesetzten Grenzen verschwindet. Das Insistieren darauf, dass die Lösung der Problemlagen in der Risikogesellschaft weiterhin auf Vorschläge nach dem Schema »mehr desselben« hinausläuft (mehr Technologie, mehr Produktion, mehr instrumentelle Vernunft), würde allerdings eine Weigerung bedeuten, das Offenkundige anzuerkennen - als leugne man die interne Logik der Moderne in ihrer aktuellen Phase. Dabei ist zu beachten, dass Becks Versuch einer Lösung des Paradoxes zwischen dem Soll-Zustand der risikobewussten Gesellschaft und dem Ist-Zustand der verschwende1ischen und einer Internalisierung der
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neuen Bedrohungen abgeneigten Lebensformen nicht notwendigerweise normativ ist. Es sucht in der inneren Bewegung der Modeme dasjenige, was im zeitgenössischen Moment ihre Radikalisierung und Vertiefung darstellen würde. Wenn die moderne Ära im Zeichen der Traditionskritik entstanden ist, so impliziert die Fortführung der Modernisierung die Kritik der Modeme selbst, insofern sie in einem Komplex von Institutionen und Werten Gestalt gewonnen hat, die so zu (modernen) Traditionen geworden sind. Indem er einen solchen Maßstab anlegt, unterscheidet Beck eine einfache Form und eine reflexive Form von Wissenschaft und Politik. Die einfache Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit bezieht sich auf jenen Modus der Wissensproduktion und jene wissenschaftliche Praxis, die ihre eigene Fehlbarkeit und ihre Machtlosigkeit gegenüber den Risiken verkennen. Folglich betrachten sie sich nicht selbst als Teil und Ursache des Problems und bleiben deshalb nur eine halbe Wissenschaft, die sich der erneuernden Kraft des Selbst-Misstrauens als Methode und der Selbst-Kritik als Erkenntnisweg verschließen. Die reflexive Wissenschaftspraxis dagegen sieht sich ständig mit ihren eigenen Produkten und Unzulänglichkeiten konfrontiert und ist sich ihrer Begrenzungen bewusst. So wie das Aufkommen der Moderne die Entzauberung der Welt mit sich brachte, die nun enttraditionalisiert und säkularisiert wurde, wird im Zuge der Reflexivierungsprozesse der Modeme die Wissenschaft entzaubert und verliert ihre Mystik, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. In den Worten Becks wird die Wissenschaft immer unentbehrlicher und genügt (sich selbst) immer weniger als Instanz, um das Monopol der Wahrheitsbestimmung zu beanspruchen. Es kommen andere Akteure ins Spiel, die der Wissenschaft die Exklusivität in ihrer Rolle als Erzeugerin jenes Wissens entziehen, das sie zum einzig wahren Wissen erklärt: Akteure auf der Ebene der Politik und Wirtschaft, soziale Bewegungen, Journalisten, Versicherungsexperten und nichtakademische Fachleute machen sich ebenfalls den Platz als Deuter der Komplexität streitig, unter Bezug und Rückgriff auf die Wissenschaft selbst. Ebenso wie es mit anderen modernen Institutionen geschieht, ist die Krise der Wissenschaften ambivalent und trägt in ihrem Kern die Möglichkeiten der Erneuerung. Intern leben die Wissenschaften in der Risikogesellschaft unter dem Druck ihrer eignen heuristischen Begrenzungen und der Drohung durch ihre bloße ökonomische und politische Instrumentalisierung. Extern gibt es ambivalente Erwartungen: Sie spiegeln sich in der öffentlichen Forderung nach mehr Effektivität bei der wissenschaftlichen Prävention von Risiken und nach mehr externer Kontrolle, um die Erzeugung neuer Risiken durch die Wissenschaften zu verhindern.
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In diesem Zusammenhang bleibt der wissenschaftlichen Tätigkeit nur, intern in effektiver Weise die Selbstkritik einzugliedern. Die reflexiven Wissenschaften sind folglich diejenigen, die es vermeiden, die Grenzen der lrreversibilität der von ihnen erzeugten Resultate zu überschreiten und offen bleiben für die Möglichkeit der Revision und Korrektur ihrer eigenen Entwicklung. Sie müssen also berücksichtigen, dass die einzige Gewissheit, die mit der wissenschaftlichen Entwicklung verbunden ist, die Unabsehbarkeit ihrer eigenen Folgen ist: »Entscheidend dafur, ob die Wissenschaft derart zur Selbstkontrolle ihrer praktischen Risiken beiträgt, ist dabei nicht, ob sie über ihren eigenen Einflußradius hinausgreift und sich um (politisches) Mitspracherecht bei der Umsetzung ihrer Ergebnisse bemüht. Wesentlich ist vielmehr: Welche Art von Wissenschaft bereits im Hinblick auf die Absehbarkeil ihrer angeblich unabsehbaren Neberifolgen betrieben wird. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang: Ob es bei der Überspezialisierung bleibt, die aus sich heraus Nebenfol-
gen und damit deren >Unvermeidbarkeit< immer wieder zu bestätigen scheint, oder ob die Kraft zur Spezialisierung auf den Zusammenhang neu gefunden und entwickelt wird; ob die Lernfähigkeit im Umgang mit praktischen Folgen wieder gewonnen wird oder ob im Absehen von den praktischen Folgen lrreversibilitäten geschaffen werden, die auf der Unterstellung der Irrtumslosigkeit beruhen und das Lernen aus praktischen Fehlern vom Ansatz her unmöglich machen[ ... ].« (Beck 1986: 258, Herv. im Originaltext) Wenn die von Beck vorgenommene Unterscheidung zwischen einfacher und reflexiver Wissenschaftlichkeit einen möglichen Rahmen absteckt, die verschiedenen Formen, Wissenschaft zu betreiben, zu beurteilen und zu bewerten, gibt sie gleichzeitig auch Aufschluss über den unüberwindlichen Widerspruch in den sich die modernen Wissenschaften verwickelt sehen. Denn man weiß, dass die Risiken nicht unbedingt vom Wissensmangel herrühren und auch nicht von einer unzureichenden Herrschaft über die Natur, sondern eben gerade von der Macht des menschlichen Eingriffsvermögens. Gleichzeitig dreht die Perfektionierung der Methoden zur Aufdeckung und Vorbeugung von Risiken die Spirale der Erzeugung neuer Risiken immer weiter, die ihrerseits einer Erkennung und Behandlung außerhalb der hochspezialisierten wissenschaftlichen Methoden immer weniger zugänglich sind. Selbst wenn man eine vollständig reflexive und selbstkritische Wissenschaft und einen moralisch integren Wissenschaftler ideell veranschlagt, kann man sich dieser Dynamik der permanenten und erweiterten Reproduktion neuer Risiken nicht entziehen. Solche Spannungen in den Prozessen der Produktion wissenschaftlichen und technologischen Wissens finden auch ihren Niederschlag im
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Feld der Politik. Es handelt sich hier um die Korrelation zwischen dem Fortschritt der Kontroll- und Sicherheitsmechanismen und der Erzeugung neuer Risiken. In ihrer ersten Erscheinungsform hat die industrielle Moderne die staatlichen Institutionen als Zentren der politisch-normativen Regulierung und Motor der Schaffung einer Gesellschaftsordnung entstehen sehen, die solcherart voraussehbar und stabil war, dass die verschiedenen Akteure daran ihre Erwartungen und Handlungsorientierungen ausrichten konnten. So wie Wissenschaft und Technik hinsichtlich der Beziehung zur Natur danach strebten, Kontingenzen zu umgehen und die Wirksamkeit menschlichen Handeins zu garantieren, kam dem modernen Staat die Aufgabe zu, die sozialen Verhältnisse zu regeln, um auf dieser Ebene Gewissheiten und Voraussehbarkeiten zu erzeugen. In der Risikogesellschaft kehrt die Ungewissheit zurück und wird zum Dreh- und Angelpunkt des politischen Lebens. Es handelt sich um eine tiefe Krise der modernen politischen Institutionen, die zumindest zwei Dimensionen aufweist. Erstens materialisiert sich die Rückkehr der Ungewissheit darin, dass der Zusammenhang zwischen Ursachen und Folgen und zwischen Verantwortlichen und Opfern der sozialen Probleme zerreißt. Die zeitgenössischen Risiken sind immer diffus, haben vielfältige Ursprünge und sowohl diejenigen, die sie verursachen, als auch diejenigen, die unter ihrer Wirkung leiden, können nicht mehr angemessen identifiziert werden. Die Einheiten, die die Grenzen der politischen Zuständigkeit für die Lösung von Problemen festsetzen, erweisen sich ihrerseits als ungeeignet, um auf Bedrohungen zu reagieren, die sich nicht geographisch auf die Bereiche einer Stadtgemeinde oder eines Nationalstaats eingrenzen lassen. Auf diese Weise gerät das regulierende und disziplinierende Handeln des Staates in eine ausweglose Lage. Selbst wenn er seine Bevölkerung gegen die (u.a. sozialen, militärischen und Umwelt-) Risiken schützen wollte, hätte er Schwierigkeiten, die letzten Ursachen der Probleme zu bekämpfen, wenn er an die traditionellen Mechanismen von Zurechnungsfähigkeit und Strafe und an die gesetzlich anerkannten Gerichtsbarkeiten und Zuständigkeiten gehalten ist (Beck 1993, dazu Costa/Alonso/Tomioka 2001). Die zweite Kategorie von Faktoren, die die modernen politischen Institutionen in der Risikogesellschaft in die Krise führt, betrifft die unentrinnbare KatTetation zwischen Kontrolle und Risiko, wie sie sich schon für die Wissenschaften gezeigt hat. Die Gewährung von mehr Mitteln und mehr Macht, damit die politischen Institutionen angemessener die Risiken kontrollieren können, bringt notwendig neue Bedrohungen mit sich: Die Erhöhung z.B. der militärischen Effizienz, die die Bevölkerung eines bestimmten Staates scheinbar vor den Risiken eines externen An-
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griffs in Schutz nimmt, steigert unvermeidlich das Risiko einer totalen Zerstörung im KriegsfalL In diesem Zusammenhang reicht die Krise der politischen Institutionen in der Risikogesellschaft tiefer als bei einer nur zeitweiligen Krise der Effizienz. Dem Argument Becks zufolge ist es die konstitutive Rationalität der Politik in der industriellen Modeme selbst, die zusammenbricht, insofern als die in der Risikogesellschaft aufkommenden Probleme die verfügbaren Mittel zur Intervention unwirksam werden lässt. Das Selbstbewusstsein hinsichtlich der Grenzen dient, ähnlich wie im Fall der wissenschaftlichen Aktivität, zur Unterscheidung zweier Idealtypen politischen Handeins und seiner Interpretation: der einfachen Fonn und der reflexiven Form. Die einfache Politik beschränkt sich auf den bestehenden institutionellen und normativen Rahmen und ihr zentrales Thema ist die Erfolgsverheißung hinsichtlich der noch unerfüllten Ziele der industriellen Moderne: Vollbeschäftigung, technologischer Fortschritt etc. Die dafür angezeigten Handlungsmethoden sind die Forderung nach und/oder das Angebot von mehr bürokratischem Eingreifen des Staates sowie die Machtkämpfe im Rahmen eines Nullsummenspiels, das unter der logischen Prämisse der möglichen Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern geführt wird. Die reflexive Politik dagegen politisiert die Politik und macht damit die Definition von Politik selbst und den gesetzlichen Rahmen, der sie reguliert, zu Gegenständen des transformierenden Handelns. Die Vorstellung von der Existenz eines Nullsummenspiels wird ersetzt durch den Nachweis der Interdependenz zwischen Gewinnen und Verlusten. Die Allmacht des Staates und der politischen Institutionen gerät unter Verdacht, und die Politik dringt in die Niederungen des Alltags ein. In dem Bestreben, die Rationalität selbst und das Selbstverständnis der geltenden Politik zu verändern, versucht sie, die traditionelle Aufgabenteilung aufzuheben, bei der passive Staatsbürger die Kompetenzen des politischen Tuns an Institutionen und Berufspolitiker delegieren, die ihrerseits die ihnen zuerteilten Befugnisse an den segmentierten und regionalisierten Umsetzungsapparat der verschiedenen politischen Ebenen übertragen. Die reflexive Politik umgreift ein interdependentes Handlungsfeld zwischen Institutionen und Bürgern. Das Alltagsgeschehen politisiert sich und alles menschliche Handeln erlangt Substanz durch den politischen Inhalt, den es unvermeidlich in sich trägt. In dieser Hinsicht schafft die Risikogesellschaft engere Verbindungen zwischen den getrennten Sphären des Lokalen und des Femen, der Bürger und der Institutionen sowie des Privaten und des Politischen. Das Ende der Gewissheiten, das Bewusstsein von der Fehlbarkeit der Wissenschaft und den Grenzen staatlichen Handeins machen alle alltäglichen Entschei-
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dungen schwierig und bedeutend: Die Ergebnisse sind immer unabsehbar und die Methoden und Handlungsmuster erfordern eine permanente Erneuerung. Das, was eine individuelle Entscheidung ohne größere Folgen zu sein schien, wird zum Terrain der Subpolitik, Beck zufolge eine neue Handlungssphäre, die mit dem Aufkommen der Risikogesellschaft an Relevanz gewinnt. Die Subpolitik wird zum charakteristischen Kennzeichen der zweiten Modeme, einer gesellschaftlichen Konfiguration, in dessen Rahmen die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Politischen durchlässig werden: Die Privatsphäre wird hier zu einer formierbaren Sphäre, die nicht mehr »jenseits öffentlicher Interessen« liegt. Man geht davon aus, dass das Privatleben Mittel und Ziel der Politik ist (Hitz!er 2000: 191 ). Industriegesellschaft und zweite Modeme als Konzepte für verschiedenartige empirisch-historische Kontexte einerseits, einfache Modeme und reflexive Modeme als Ausdrücke für kontrastierende Rationalitätsmuster und Handlungsformen andererseits bilden halb komplementäre, halb antinomische Begriffspaare, die die von Beck entworfene Soziologie der Modeme strukturieren. Beim Umgang mit diesen Kategorien vermeidet der Autor eine präskriptive Analyse der Moderne und ist nur bestrebt, wie gezeigt wurde, seine Vorstellung des Werdegangs der Modemisierung aus ihrer eigenen internen Logik herzuleiten. Dessen ungeachtet gibt es offenkundige Probleme beim Gebrauch dieser Kategorien. Die erste Schwierigkeit betrifft die empirische Plausibilität selbst. Das heißt, um nicht Gefahr zu laufen, zu einem willkürlichen Nominalismus zu werden, muss die Gesellschaftstheorie, die eine epochale Wende in der Geschichte und das Aufkommen einer neuen Phase der Moderne anzeigt, sich auf Evidenzen stützen, dass Kategorien, auf denen das soziale Leben der vorherigen Ära gründete- z.B. das hegemonische Denken, der Typ der herrschenden Gesellschaftlichkeit -, nicht mehr wirksam sind und durch neue Wesenszüge ersetzt werden. Einigen Kritikern zufolge fehlen solche Evidenzen zur Postulierung einer zweiten Moderne. Das erste Argument gegen die empirische Plausibilität der zweiten Modeme stützt sich auf die Systemtheorie, wie Schwinn (2000) es formuliert hat. Diesem Autor zufolge will Beck mit seinem konzeptionellen Entwurf einer zweiten Moderne die Klassiker übertreffen, doch operiert er mit Figuren des marxschen Denkens: Während bei Marx die institutionellen Rahmenbedingungen der Entfaltung der Produktivkräfte nicht folgen, stehen bei Beck, so Schwinn, die neuen Problemlagen und die Instanzen der Problemlösung im Widerspruch, was zur Entstehung einer neuen Ära der Modeme führt.
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Beck insistiert darauf, dass die zeitgenössischen Probleme quer durch die verschiedenen Institutionen und ihre jeweiligen vom historischen Prozess der sozialen Differenzierung unterhaltenen partikularen Rationalitäten laufen. Sie erforderten deshalb Lösungen, die ebenfalls diesen transversalen Charakter haben und auf lnsttumenten und Rationalitätsmustem gründen, die in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft, die sich spezialisiert und differenziert hat, präsent sind; daher die Bedeutung eines radikalen Btuchs, einer Wende in der herrschenden Rationalität, die die zweite Moderne kennzeichne. Das Problem, das Schwinn dabei erkennt, ist, dass die Krise der modemen Institutionen zwar unbestreitbar ist, es j edoch keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass das Rationalitätsmuster, das die Schaffung solcher Institutionen geleitet hat, sich erschöpft hat. Das heißt, dass die Schwierigkeiten, Lösungen für komplexe Probleme zu finden, eben auch gerade auf einen Mangel an Spezialisietung und sozialer Differenzietung zurückgehen könnten, und nicht auf ein Übermaß. In diesem Fall ist dasjenige, was Beck als Besonderheit, Charakteristik und unverkennbaren Wesenzug einer zweiten Modeme aufzeigt, empirisch einfach nicht existent. Es handelt sich dann im Gegenteil um eine unzulängliche Ausschöpfung des Rationalitätsmusters der Modeme, das zumindest seit dem 19. Jahrhundert Geltung hat. 2 Das zweite Argument gegen die empirische Plausibilität einer zweiten Modeme ist mit der analytischen Perspektive des Postkolonialismus verbunden, die weiter unten in diesem Buch eingehender behandelt werden wird. Diese Kritik, hier widergespiegelt in den Formulietungen von Randeria (2000), geht von der Auffassung aus, dass die Modeme ein räumlich und sozial umgreifendes Phänomen ist, das, selbst wenn es verschiedene Niveaus, Formen und Gradunterschiede aufweist, die Gesamtheit der zeitgenössischen Gesellschaften umfasst. Das heißt, man darf nicht mittels der Idee der Modemisierung die räumlichen Unterschiede auf eine zeitliche Achse übertragen, wie es z.B. die Entwicklungssoziologie tut, indem sie die unterschiedlichen gesellschaftlichen 2
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Indem sich Schwinn (2000: 93) auf Weber stützt, zeigt er, dass es die unzureichende soziale Differenzierung und die unvollständige funktionale Spezialisierung waren, die historisch den Zerfall der englischen Hegemonie herbeigefUhrt haben. Die industrielle Revolution wurde nicht von einer entsprechenden Rekonfiguration der Systeme der wissenschaftlichen Produktion und der Berufsausbildung begleitet, wodurch England im Verlauf des 19. Jahrhunderts von denjenigen Ländern >überholt< wurde, denen es gelang, einen solchen Wandel in Gang zu setzen. Nach Ansicht des Autors deutet nichts daraufhin, dass für die zeitgenössischen Probleme nicht auch angemessene Lösungen im Zuge neuer Wellen von Spezialisierung und Differenziemng gefunden werden können.
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Niveaus, die in den verschiedenen Teilen des Globus zu finden sind, in einen zeitlichen Phasenunterschied umdeutet, der zwischen den vier Fünftel von »Unterentwickelten« und dem einen Fünftel von »Entwickelten« der Menschheit besteht. Randeria zeigt, dass, nimmt man eine pluralistische Auffassung der Moderne gebührend ernst, die Idee einer zweiten Moderne ihren spezifischen Gehalt und ihren theoretischen Sinn verliert. Schließlich sind die postkolonialen Gesellschaften immer Risikogesellschaften gewesen, in denen die Garantie der Möglichkeiten persönlicher und sozialer Reproduktion und das Vertrauen in die modernen Institutionen nie Selbstverständlichkeiten dargestellt haben. Der vorsichtige Zweifel, die informellen persönlichen und politischen Strategien als Form des Schutzes gegen soziale Risiken, die Fusion der vielfältigen Rationalitäten, um den Mangel an spezialisierten Mitteln zu kompensieren, sind in diesen Kontexten immer schon zwingend erforderliche Fähigkeiten zum Überleben gewesen. Man kommt tatsächlich nicht umhin, sich der Kritik an der von Beck vorgeschlagenen Periodisierung der Moderne anzuschließen. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Autor im Entwicklungsgang seiner Analyse zumindest zwei Knotenpunkte der Argumentation schlecht geknüpft lässt, was dann in seinen folgenden theoretischen Erkundungen zu spüren ist. Das erste Problem hängt mit der Anordnung der verschiedenen Modernen auf einer chronologischen Linie zusammen, als ob auf die Industriegesellschaft unweigerlich die zweite Moderne folgen würde, dabei die erste koordiniert durch ein einfaches Rationalitätsmuster, die zweite durch eine reflexive Rationalität. Der zweite schlecht geknüpfte Knotenpunkt bezieht sich auf die Tendenz, die Industriegesellschaft und die einfache Moderne als empirisch-deskriptive Dimension (Ist-Zustand) und die zweite Moderne bzw. reflexive Moderne als die normative Dimension (Soll-Zustand) der Risikogesellschaft zu behandeln. Denn so sehr er es auch vermeidet, die Radikalisierung der Moderne als einen unentrinnbaren Prozess zu beschreiben, der notwendig zu reflexiveren Subjekten und Institutionen führen wird, schmuggelt Beck am Ende doch in seine Analyse das politische Bekenntnis zur Risikogesellschaft ein und bietet damit eine Angriffsfläche für Kritiker, die, allen Anzeichen nach gerechtfertigterweise, auf die Unstimmigkeit zwischen der vom Autor selbst durchgeführten Diagnose der Moderne und seinem theoretischen Optimismus hinweisen.
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Anthony Giddens: Strukturierung und Reflexivität Das Aufbrechen der Dichotomie zwischen Akteur und Struktur Die von Anthony Giddens in den 1970er und 1980er Jahren unternommene Anstrengung, die Rahmenkonzepte, die die Soziologie begründen, neu zu interpretieren, mit der Absicht, die Disziplin neu zu fundieren und zu revitalisieren, ist in der zeitgenössischen Gesellschaftstheorie weiterhin ohnegleichen. Wie O'Brien (1999: 6) im Detail erörtert, zeichnen die zahlreichen vom Autor in diesen beiden Jahrzehnten veröffentlichen Bücher die Umrisse eines weitgespannten Projekts, das letztlich einen Beitrag gegen die am Ende der 1960er Jahre bestehende Tendenz darstellt, dass »the discipline's understanding of the works of classical theorists (notably Max Weberand Durkheim) was dominated by american traditions - and, in particular, by writings of Talcott Parsons.« Das theoretische Projekt des Autors fügt sich so in die Bewegung ein, die nicht nur die geographische Achse der Reflexion im Bereich der Gesellschaftstheorie verlagert, von den USA zurück nach Europa, sondern auch den theoretisch-politischen Akzent selbst, nämlich mit der Injektion eines kritischen Impulses in den orthodoxen Konsens, der bis zum Ende der 1970er Jahre herrschte und der das »human behaviour as the result of forces that actors neither control nor comprehend« behandelte (Giddens 1984: xvi). Das theoretische Programm von Giddens kulminiert in der Publikation des einflussreichen Buchs The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration (Giddens 1984), in dem er die in früheren Arbeiten seit den 1970er Jahren entwickelten Teile der Argumentation zusammenfühti. Das Originale am Beitrag der Theorie der Strukturierung betrifft die Neuformulierung und Neuinterpretation eines klassischen - in gewisser Weise grundlegenden - Problems der soziologischen Forschung selbst, nämlich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Im Begriff der Strukturierung wird das dichotomische Paar Individuum/Gesellschaft ersetzt durch die Dynamik zwischen Handeln und Stmktur. Diese Veränderung hat den Sinn, die Vorstellung von Individuen, die eingeschränkt durch die zwingenden Kräfte der Strukturen handeln, durch die Idee zu ersetzen, dass das Handeln selbst die Strukturen formt und festigt. Wie bei der geschriebenen und gesprochenen Sprache, durch deren Gebrauch wir unwillkürlich die Regeln der Grammatik reproduzieren, wenn wir unsere Gedanken mitteilen und ihnen
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Leben und Sinn geben wollen, so ist es das soziale Handeln, die agency, Giddens zufolge, die den Strukturen Dynamik und Aktualität verleiht und somit effektive soziale Existenz. In den Worten des Autors: »We should see sociallife not just a >society< out there or just the product of the >individual< here, but as a series of ongoing activities and practices that people carry on, which at same time reproduce !arger institutions. That was the original thought and from there I tried to elaborate each of the key terms, precisely by speaking of >agency< and >structureindividual< or starting with >societythe less complex society< there is lower individual self-control, greater spontaneaus expression of emotion etc. People in such societies are rather like children, spontaneaus and volatile.« (Giddens 1984: 241) Die dritte evolutionistische Gefahr betreffe die Tendenz, die Überlegenheit hinsichtlich technologischer, ökonomischer oder militärischer Macht mit moralischer Überlegenheit gleichzusetzen, als ob die militärisch und ökonomisch entwickelteren Gesellschaften auch notwendig moralisch fortgeschrittener wären. Den vierten evolutionistischen Irrtum definiert Giddens als zeitliche Verzerrung. Diese äußere sich in der Vermengung von Geschichte und Historizismus, d.h. man nimmt an, dass »the elapsing oftime is the same thing as change«. (Ebd.: 242): Ausgehend von der Kritik am Evolutionismus erörtert Giddens dann seinen Ansatz hinsichtlich des sozialen Wandels, wobei er sich auf fünf Maßstäbe oder Parameter stützt, die es erlauben, die Prozesse des Wandels zu kontextualisieren: i) structural principles: hierbei handelt es sich darum, die Strukturprinzipien in jedem Gesellschaftstyp zu untersuchen und die Art und Weise, wie diese von Veränderungen betroffen werden; ii) episodic characterizations: diese Variable erlaubt es, die Bereiche zu unterscheiden, auf die der Wandel abzielt, indem sie es z.B. ermöglicht, zwischen Veränderungen im Innem eines Gesellschaftstyps und den Übergängen von einer Gesellschaftsform zu einer anderen zu differenzieren; iii) inter-soeietat systems: dies bezieht sich auf die Notwendigkeit, Veränderungen bei einem Zustand oder einer bestimmten Gesellschaft nicht isoliert, sondern immer mit Bezug auf andere staatliche oder gesellschaftliche Systeme zu untersuchen; iv) time-space edges: diese Variable zeigt die Verbindungen zwischen Gesellschaften verschiedenen Typs an. Sie erlaubt es zu erhellen, »how the coexistence of various types of societies in an intersocietal system can entail social change« (Kaspersen 2000: 63f.); v) world-time, d.h. »examination of conjunctures in the light ofreflexively monitored history.« (Giddens 1984: 244)
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Diese fünf Variablen entwerfen, werden sie kombiniert, ein dynamisches Zusammenspiel und ermöglichen es dem Autor in der Tat, zumindest richtungweisend verschiedene Prozesse sozialen Wandels zu untersuchen und dabei die Besonderheiten der erforschten Kontexte zu bewahren. Als Giddens jedoch Jahre später die Verändemngen analysiert, die mit dem Aufkommen der Modeme und ihrer Erscheinungsformen verbunden sind, werden die gegen den Evolutionismus gerichteten Ratschläge, die der Theorie der Stmkturiemng eigen sind, weitgehend beiseite gelassen, was im Folgenden gezeigt werden soll.
Moderne + Reflexivität= high modernity Die Anwendung der Theorie der Stmkturierung auf die modernen Gesellschaften findet ihre deutlichste Formuliemng im Buch The Consequences ofModernity (Giddens 1990). Sie entfaltet sich dann in spezifischen Studien zur Subjektivität (Giddens 1991), zum Wandel im Bereich der Intimität (Giddens 1992) und zur Politik (Giddens 1994). Es gibt wenigstens drei wiederkehrende Aspekte in seiner Definition der Moderne. Der erste bezieht sich auf die institutionelle Dimension der Moderne: Kapitalismus, lnformationskontrolle, Industrialismus und militärische Macht werden als konstitutive Institutionen der Modeme dargestellt, die, wenngleich in differenzierter Gestalt, in den verschiedenen modernen Gesellschaften vorkommen (Giddens 1990: Kap. 2). Die zweite Dimension bezieht sich auf das raum-zeitliche Verhältnis: Dem Autor zufolge (Giddens 1990: Introduction) rührt die Dynamik der Modeme gerade von der Auflösung der raum-zeitlichen Zusammenhänge her, die wesentliche Verändemngen in die Rahmenbedingungen der sozialen Praktiken bringt. Anders als in den vormodernen Gesellschaften, wo es eine klare und notwendige Korrelation zwischen Entfernung und Zeit gab - um größere Entfernungen zwückzulegen brauchte man mehr Zeit - , ist in den zeitgenössischen Gesellschaften diese Koppelung zerfallen: Die technologischen Möglichkeiten erlauben es, dass an geographisch weit auseinander liegenden Ereignissen im selben Moment teilgenommen wird und verlangen nicht die physische Begegnung der verschiedenen in der sozialen Beziehung einbezogenen Akteure (dazu Domingues 2002: 64ff.). Die Mechanismen der Entbettung (desimbedding) charakterisieren auf emblematische Weise die raum-zeitliche Entkopplung, die die Moderne kennzeichnet. Es handelt sich hier um die Herauslösung der sozialen Praktiken aus ihrem unmittelbaren partikularen Kontext, wie es im Fall der symbolischen Zeichen und der Expertensysteme geschieht. Sozial anerkannte symbolische Zeichen (symbolic tokens), wie das Geld,
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ermöglichen die Aufhebung der raum-zeitlichen Begrenzung, insofern als sie die Interaktion zwischen geographisch und selbst zeitlich entfernten sozialen Akteuren erlauben. In Entsprechung zu den symbolischen Zeichen lösen die Fachwissenssysteme, die uns als Bewohner der modernen Gesellschaften umgeben, die sozialen Beziehungen ebenfalls aus ihrem unmittelbaren Rahmen heraus. Denn wenn wir uns etwa einer chirurgischen Operation unterziehen oder mit dem Flugzeug reisen, legen wir unser »Vertrauen«3 schließlich in fachspezialisierte Systeme beruflicher Ausbildung oder technologischer Produktion, deren innere Zusammenhänge wir wenig kennen. Vertraut sind uns lediglich die Verlängerungen der Expertensysteme, die in unseren Alltag hineinreichen. Auf diese Weise bringen wir, in dem Maße wie wir symbolische Zeichen verwenden oder anerkennen oder Expertensysteme in Betrieb setzen oder darauf Bezug nehmen, entfernte soziale Beziehungen räumlich und zeitlich in einen aktuellen Zusammenhang. Die dritte Kerndimension der Moderne betrifft, nach der Definition Giddens', die besondere Form, die die Reflexivität in den modernen Gesellschaften annimmt. Wie oben gezeigt wurde, ist das reflexive monitaring of action keine exklusive Eigenschaft der Moderne, es gehört, gemäß den Bestimmungen der Theorie der Strukturierung, zum Wesen jedes routinemäßigen menschlichen Handelns. Jedoch verliert in der Moderne die Tradition ihre privilegierte Stellung, die sie in den vormodernen Gesellschaften innehatte, als Koordinierungsachse der sozialen Praktiken. Weniger als durch die Tradition, wird das soziale Handeln permanent durch die Aneignung von Wissen neu gestaltet und neu bewertet, das über dieses Handeln selbst und über die sozialen Systeme, in denen es stattfindet, erzeugt wird. Das bedeutet nicht, dass die Tradition verschwindet, jedoch wird sie der Prüfung durch die reflexive Beurteilung unterworfen: »Traditions may be discursively articulated and defended - in other words, justified as having value in a universe of plural competing values.« (Giddens 1996: 56) Das Konzept der Reflexivität, von zentraler Bedeutung in der Analyse der Moderne bei Giddens wie bei Beck, weist wesentliche Unterschiede 3
Vertrauen im Gegensatz zu Glauben kennzeichnet die modernen Gesellschaften und bezeichnet Giddens (1990) zufolge die auf eine Reihe von verfügbaren Informationen und Evidenzen gestützte Überzeugung, dass die Möglichkeiten eines Misserfolgs bei der Durchführung geplanter Handlungen bestmöglich kontrolliert worden sind.
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in den Arbeiten der beiden Autoren auf. Während in den Formulierungen Becks der Nachdruck auf der rational-individuellen Reflexivität liegt, hat das Gewicht, das Giddens dem praktischen Bewusstsein zuerkennt, zur Folge, dass er die Rolle der sozialen Umgebung bei der Erzeugung von Reflexivität hervorhebt und daher die Bedeutung der institutionellen Reflexivität unterstreicht. In dieser Hinsicht offenbart die Analyse Becks die typischen Umrisse einer Handlungstheorie, in dem präzisen Sinn, dass sie die aktive Rolle des Subjekts hervorhebt, das fahig ist, die determinierenden Kräfte der sozialen Strukturen zu umgehen und diese Strukturen sogar zu verändern. Anders dagegen bleibt Giddens dem Prinzip der Strukturierung treu, wobei er die Dichotomie zwischen Handelndem und Struktur lockert, indem er zeigt, dass erst im dynamischen Zusammenspiel ihrer Einbeziehung in die Handlung die Strukturen Kontur und Sinn erhalten. Hier sollen die Expertensysteme hervorgehoben werden. Anstelle von einfachen strukturellen Bedingungen, die das Handeln konditionieren, kommt den Expertensystemen der Charakter von dualen Strukturen zu, die das Handeln formieren und gleichzeitig eine Informations- und Reflexionsquelle bezüglich des Kontexts bilden, in dem das Handeln stattfindet, und so dessen reflexiven Charakter vertiefen. Lash (1994) und Lash/Urry (1994) vergleichen eingehend die Reflexivitätsbegriffe von Giddens und Beck. Sie zeigen, dass die beobachteten Differenzen bei beiden Autoren jeweils unterschiedliche Auffassungen des Subjekts, des Objekts und des Sinns der Reflexivität erkennen lassen. Zusammenfassend lautet ihr Urteil: »The subject of reflexivity in Beck is a moral-cognitive ego or >Icritique< in the tradition of Marxism and the Frankfurt School; for Giddens it is >monitoringcybemetic< sense .... « (Lash/Urry 1994: 46f.)
Trotz dieser Unterschiede spielt der Reflexivitätsbegriff in der Gestaltung der Analyse der zeitgenössischen Modeme bei beiden Autoren eine jeweils sehr ähnliche Rolle. Es handelt sich hierbei um die Konversion des Substantivs Reflexivität in das Adjektiv reflexiv, als Attribut der Moderne und/oder der Modernisierung. Bei dieser Verschiebung wird aus der Reflexivität als analytisch-deskriptiver Kategorie ein politisch-
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normativer Leitfaden, anhand dessen die erwünschten Entwicklungen von den perversen Wirkungen der Modeme unterschieden werden können. Ist die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen historischen Formen der Moderne im Werk Becks, wie gezeigt wurde, von seinen ersten Analysen ab gegeben, erscheint sie in den Arbeiten von Giddens erst später: Wie Lash/Urry (1994: 38) gesehen haben, liegt der Akzent in Consequences of Modernity (Giddens 1990)4 auf der Unterscheidung von Tradition und Moderne. Schon in Modernity and Self~Jdentity ( 1991) gewinnt eine dritte Ebene an Bedeutung, auf die das vorhergehende Buch lediglich kurz angespielte. Es handelt sich dabei um die >high< bzw. >late< modernity, die nun ein Stadium in einer Reihe von drei historischen Stadien bezeichnet: traditionelle Gesellschaften, Moderne, und Hoch- bzw. Spätmoderne. Von diesem Moment ab erfüllt die Reflexivität in der Arbeit des Autors zwei grundlegende und korrelative Funktionen. Einerseits wird Reflexivität zum operativen Kern einer gewissen Teleologie der Modeme, deren Geschichte sich mit einer wachsenden (und erwünschten) Vertiefung der Reflexivität deckt. Gleichzeitig nimmt Reflexivität den Charakter einer normativ-regulierenden Idee an, die es erlaubt, Prozesse sozialen Wandels zu bewerten. Tatsächlich übernimmt Giddens in fortschreitendem Maße die Terminologie Becks, indem er eine einfache Modernisierung, innerhalb der >>eapitalist or industrial evolution seems a predictable process« (Giddens 1994: 80), von einer reflexiven Modemisierung unterscheidet, bei der die Inhalte und Fonnen der Modemisierung selbst von den sozialen Akteuren ausgehandelt werden. Diese verschiedenen Modernisierungsniveaus entsprechen nicht Phasen einer Geschichte synchronen Wandels in allen Regionen der Welt, da die Reflexivität eine weitere Verbreitung in den Gesellschaften finde, wo die Industrialisierung begann. Giddens (1998b: 116) formuliert dies folgendermaßen: »Reflexive modernization says something about late modernity reflecting on the limitations and difficulties of modernity itself. That relates to key problems of modern politics, because simple or linear modernization still predominates 4
In The Consequences of Modernity bezieht sich Giddens auf eine gegenwärtige Radikalisierung der Moderne. Dieser Prozess bleibt aiJerdings bis zu den jüngsten Arbeiten hin begrifflich schwach definiert und bildet in den Erwähnungen des Autors ein tautologisches Paar mit der Idee der Reflexivität: Einerseits verbindet Giddens die Steigerung der Reflexivität in den zeitgenössischen Gesellschaften mit dem Prozess der Radikalisierung der Moderne und behauptet gleichzeitig: »The radicalisation of modemity means being forced to live in a more reflexive way, facing a more open and problematic future« (Giddens 1998b: 116).
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in some parts of the world, most notably in South-East Asia, at least up until recently. In the West and the developed industrial societies, there are conditions of reflexive modemization, with the key problern of modemization being what modemization itselfis all about.«
Die Konversion des Reflexivitätsbegriffs m eine deutlich normative Kategorie, wie hier behauptet wird, hat umfangreiche Auswirkungen auf das nachfolgende Werk von Giddens. Vielleicht wäre die Behauptung nicht übertrieben, dass dieser Vorgang eine Wende im Werk des Autors darstellt, bei der sich die epistemologische Achse seiner Arbeit verschiebt. Von dieser Zeit ab wandelt sich das Projekt der Revitalisierung der Soziologie durch einen originalen Neuentwurf der Beziehungen zwischen Struktur und Handeln zu einer Zeitdiagnose mit stark normativem Akzent. Damit soll nicht behauptet werden, dass in dem vorhergehenden Werk Giddens' die Gesellschaftskritik und die normative Dimension nicht vorhanden gewesen wären. Wie Bernstein (1989: 29f.) zeigt, hatte Giddens, obgleich er sich vom Kritikkonzept der Frankfurter Schule distanzierte, immer deutlich zu machen versucht, dass sowohl die Einbindung einer Dimension der Gesellschaftskritik in die Sozialwissenschaften wichtig ist als auch ihre Funktion als Bezugspunkt für das reflexive soziale Handeln. 5 In den jüngeren Arbeiten nimmt die Gesellschaftskritik allerdings die Gestalt einer Moralphilosophie - an der Grenze zum Moralismus - an, die soziale Praktiken a priori bewertet und den Akteuren kulturell tugendhafte Lebensformen vorschreibt. lm Folgenden seien kurz Giddens' Analysen zum Wandel der Intimität und der Politik zusammenfassend rekonstruiert, da sie in exemplarischer Weise jene Wende im Werk des Autors dokumentieren. Ähnlich wie es Beck/Beck-Gemsheim Jahre zuvor getan hatten, nimmt sich Giddens (1992) vor, zu untersuchen, wie die Wandlungsprozesse der Nachkriegszeit den Körper, die Sexualität und die Liebesbeziehungen beeinflusst haben. Anders als bei Beck/Beck-Gernsheim gibt Giddens' der Analyse der Diskussion der Spannungen zwischen den systemisch-strukturellen Zwängen und den individuellen Optionen nur beschränkten Raum. Er konzentriert sich auf die im Kontext der Hochmodeme entstandenen Möglichkeiten der Ausdehnung jenes Prozesses,
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In diesem Zusammenhang schreibt Giddens den Sozialwissenschaften den Charakter einer doppelten Hermeneutik zu, die in einer ersten Bewegung die von den Akteuren erzeugten Bedeutungen aufnimmt und zu rekonstruieren versucht. Als Expertensystem jedoch erzeugen sie ein Wissen, das zu den Akteuren zurückgelangt und ihnen Instrumente zur Reflexion über ihre Praktiken liefert.
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den er als die Konstruktion des Selbst als reflexives Projekt beschreibt, auf die Ebene der Intimität. Wichtig ist dabei zu zeigen, wie der Körper selbst im Kontext der Hochmodeme einem reflexiven Wandel unterliegt. Dabei wird das foucaultsche Bild vom vollständig durch die modernen Institutionen »disziplinierten« Körper verworfen, wonach diese Institutionen ihre Macht zur Unterjochung der Individuen bis auf die Formatierung der Körperhaltungen und des physischen Auftretens ausgedehnt hätten. Anstelle einer solchen Sicht liegt der Akzent hier auf der reflexiven Formung und Gestaltung des Körpers, der dadurch zu einem »visible carrier of selfidentity« wird »and is increasingly integrated into Iife-style decisions, which an individual makes« (Giddens 1992: 31 ). Die Sexualität ist ebenfalls getränkt mit Reflexivität, insofern eine »plastische Sexualität« ans Licht kommt, die nicht der von der Fortpflanzungsfunktion diktierten biologischen Bestimmung folgt, noch den von der Tradition auferlegten Formen und Rollen. In diesem Bereich zeigen die »Entfaltung der Homosexualität« und die unverkennbare Erweiterung der »sexuellen Autonomie der Frau«, wie die Hochmodeme in ihrem Wirkungskreis eine vorher unbekannte Erweitenmg der Möglichkeiten mit sich bringt, die eigene Sexualität offen zu erleben und selbst zu gestalten. Auch die - hetero- oder homosexuellen - Liebesbeziehungen befinden sich, Giddens zufolge, in einer Phase tiefen reflexiven Wandels, den der Autor durch die Konstruktion von gegensätzlichen Idealtypen der Liebe beschreibt: romantische Liebe und »confluent love«. Die erste Form besitzt eine relevante historische Bedeutung, insofern sie vom 18. Jahrhundert ab in den europäischen Gesellschaften auftaucht, als die traditionelle Form der von den Eltern der Ehepartner vereinbarten Heirat zurückgeht. In diesem Zusammenhang kommt der romantischen Liebe eine paradoxe Rolle zu: Im selben Maße wie sie mit dem Entstehen eines neuen Universums an Wahlmöglichkeiten und Autonomie der Individuen verbunden ist, schreibt sie gleichzeitig vorbestimmte Geschlechterrollen fest. Die unveränderlichen Projektionen vom Mann, der glühend liebt und heroische Taten im Namen seiner Geliebten und Frau vollbringen kann, die als das passive Objekt der männlichen Liebe fungiert, schränken von außen her die Möglichkeiten reflexiven Erlebens und Gestaltens im Innem der Liebesbeziehung ein. Bei den Formen von conjluent Iove lockern sich die Vorbestimmungen, die Liebe stellt sich dar als Universum möglicher Erfahrungen: »Confluent loves presumes equality in emotional give and take [ ... ]. Love here only develops to the degree to which intimacy does, to the degree to each
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partner is prepared to reveal concems and needs the other and to be vulnerable to the other.« (Giddens 1992: 62) Dem Typ dieser Art von Liebe entspricht, in der Typologie von Giddens, die reine Beziehung, deren Gegensatz in der Co-Dependenz besteht. In der reinen Beziehung ist das gegenseitige Vertrauen nicht durch äußere Umstände verbürgt, es wird innerhalb der Beziehung selbst hergestellt: Diejenigen, die eine Beziehung eingehen, nehmen damit die Zügel ihres gemeinsamen Schicksals in die Hand und machen das Leben zu zweit zu einem Teil der reflexiven individuellen Biographie, die sie gestalten. Die Reflexivierung des intimen Lebensbereichs ist für den Autor Ergebnis und wesentlicher Bestandteil der zeitgenössischen Radikalisierung der Moderne, sie impliziert nicht nur die Aufhebung des Gewichts der Tradition, sondern auch die Hinwendung zu den Institutionen der Hochmoderne. Psychologen, Psychoanalytiker und verschiedene Berater sind gleichzeitig Hebel und Resultate des Prozesses der reflexiven Konstruktion des Selbst. In ihrer Gesamtheit zeichnet sich in den Wandlungen in der Intimität, Giddens zufolge, der Prozess der Demokratisierung des persönlichen Lebens ab, deren Hauptmerkmal die wachsende Autonomie des Einzelnen auf dieser Ebene der Existenz sei. In den Äußerungen Giddens' zur Intimität wird die Bewegung, die zum Entstehen und zum Vorherrschen der reflexiven Liebe und zur korrelativen Demokratisierung des intimen Lebens fühti, in ambivalenter Weise behandelt. Das geschieht solcherart, dass nicht deutlich zu unterscheiden ist, ob es sich hier um eine Möglichkeit oder Unabwendbarkeit handelt, d.h. man weiß nicht genau, ob für den Autor die Hochmodeme die Chancen fllr die Existenz der reflexiven Liebe schafft oder ob sie notwendig ihre Realisierung bedingt. Auf jeden Fall aber wird der reflexiven Intimität, die nur im Kontext der Hochmodeme denkbar ist, eine moralische Überlegenheit gegenüber anderen Formen von Intimität zuerkannt. Die reflexive Intimität ist damit keine partikulare und kontingente Antwort mehr auf die modernen Zwänge in einem spezifischen Kontext, sondem sie wird zu einer wesentlichen und universellen Form des guten Lebens: »A good relationship is also one in which each party is equal and autonomous, in which issues are discussed rather than driven underground, and which is free from violence.« (Giddens 1998b: 125) Die Reflexion über die Politik, die Giddens entwickelt, vollzieht sich in einer Bewegung, die derjenigen sehr ähnelt, wie sie in seiner Studie über
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die Intimität zu beobachten ist. Erstens verwendet der Autor Reflexivität als einen normativen Maßstab, um die verschiedenen Formen von Politik zu bewerten. Gleichzeitig stellt er eine Entwicklung wachsender Reflexivität in der Hochmodeme fest und das Sicheröffnen von Chancen für eine radikale (gute) Politik. Indem Giddens die Linie der Hauptthesen zur Risikogesellschaft von Beck übernimmt, stellt er den institutionellen Kontext der Hochmoderne dar - markiert durch die Prädominanz der selbsterzeugten Ungewissheiten, die aus den menschlichen Anstrengungen zur Kontrolle der Kontingenzen selbst auf allen Ebenen erwachsen. Das sozialistische Denken ignoriere diese Tatsache, wenn es auf einem kybernetischen Gesellschaftsmodell insistiert, bei dem der Staat als Gehirn immer noch die Kompetenzen zentralisiert, alle Instanzen des sozialen Lebens zu verwalten und zu kontrollieren. Der Sozialismus sei so zum Schlepptau der Traditionen der industriellen Modeme geworden und damit unzulänglich, um den politischen Herausforderungen zu begegnen, die sich in den reflexiven und komplexen Gesellschaften stellen, wo die Politik durch Inputs gespeist wird, die auf dezentralen Wegen aus den vie!f!iltigen Gesellschaftsbereichen kommen. Der Neoliberalismus seinerseits nimmt den Dynamismus moderner Gesellschaften ernst, insofern er das Bekenntnis zum Markt als dezentralisierter und traditionsverändernder Instanz übernimmt. In anderen Bereichen der politischen Auseinandersetzungen, wie den Fragen der Geschlechterrollen, der Religion und der Familie, hält er jedoch an einem Konservatismus fest, der in fundamentalistischer Weise die Traditionen6 verteidigt. Die Unzulänglichkeiten des Neoliberalismus und des Sozialismus müssen aber nach Ansicht des Autors nicht die Kapitulation der emanzipatorischen Ideale der Aufldärung bedeuten: »All this reveals plainly enough the exhaustion of received political ideologies. Should we therefore perhaps accept, as some of the postmodemists say, that Enlightenment has exhausted itself and that we have more or less to take the world as it is, with all its barbarities and limitations? Surely not« (Giddens 1996: 226f.).
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Der Autor definiert als Fundamentalismus die traditionelle, d.h. die nicht auf einer diskursiven Begründung basierenden, »Verteidigung der Traditionen«, wobei er ihm im Kontext der zunehmenden kulturellen Pluralisierung den Charakter einer Bedrohung zuschreibt (Giddens 1994: Introduction).
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Die von Giddens verfolgte Alternative zur Resignation vereint eme Reihe von Konzepten, die später im politischen Projekt des dritten Wegs gebündelt werden (Giddens 1998a). Es handelt sich hierbei hauptsächlich um die Begriffe von Lebenspolitik, verstanden als Politik der Lebensstile, einer »generativen Politik«, die die aktive Haltung gegenüber den Wandlungen und die dialogische Demokratie betont, deren Anliegen nicht nur in einer angemessenen Vertretung der Interessen besteht, sondern in der permanenten Erzeugung von Transparenz und politischem Dialog. Giddens' Behandlung der gegenwärtigen politischen Wandlungen ist schon Gegenstand harter Kritiken gewesen, aufgrund der Tatsache, dass er die strategische Dimension der Politik außer acht lässt und implizit zur Transzendenz7 tendiert, insofern er der Politik einen Sinn zuschreibt, der die gesellschaftlich verifizierten Prozesse übersteigt und ihnen wesensfremd ist (zu einer Synthese der Kritiken siehe Kaspersen 2000: 176ff.). Ohne die Bedeutung solcher Kritiken mindern zu wollen, soll hier betont werden, dass das zentrale Problem bei der Analyse des Autors zu den Wandlungen in der Politik demjenigen entspricht, das bei der Reflexion über die Intimität zu beobachten war. In beiden Fällen konstruiert Giddens zuerst den Begriff der Reflexivität aufgrund sehr partikularer und kontingenter sozialer Erfahrungen und verleiht, in einem zweiten Schritt, dem konstruierten Begriff den Status eines Bewertungsinstruments allgemeiner Gültigkeit. Wenn in dieser Weise das Konzept reflexiver Intimität unzweifelhaft auf die jüngsten Erfahrungen intellektualisierter Mittelklassegruppen des Nordatlantiks passt, so ist der Ursprung von Giddens' Konzeptionen radikaler Demokratie und Politik, die Dialog, Basiskult(ur) und Verankerung in der Lebenswelt einschließen, leicht in der jüngsten Geschichte der westeuropäischen neuen sozialen Bewegungen seit dem Ende der 1960er Jahre auszumachen. Der erste Einwand, der sich gegen eine solche Operation erhebt, ist methodologischer Art und betrifft die Art und Weise, wie der Autor Reflexivität und Hochmoderne miteinander verbindet, ohne sich der Mühe zu unterziehen zu untersuchen, inwiefern dieselbe Art reflexiver Ratio-
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Fuller zufolge (1996: 174ff.) versucht Giddens die Ideale der politischen Emanzipation der Aufklärung zu restaurieren, verstanden als ein Projekt, »to take our destiny in our own hands, to overcome insuperable providence or fate, to democratize, to reduce inequality«. In der Version radikaler Politik von Giddens wird die Kontrolle über das gemeinsame Schicksal allerdings nicht mehr als möglich angesehen, und der Einschluss aller in den Kreis kosmopolitischer sozialer Gerechtigkeit sei durch die Zwänge der globalen Ökonomie unterminiert worden.
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nalität auch in Kontexten entstehen könnte, die nach dem Verständnis des Autors nicht als Hochmodeme angesehen werden können. Ähnlich wie Randeria in Bezug auf Beck argumentiert, scheint die Ansicht zumindest als Hypothese vertretbar, dass die Form der modernen Wandlungen in den »peripheren« Gesellschaften seit ihren Anfängen durch selbstgeschaffene Ungewissheit gekennzeichnet gewesen ist. Das heißt, industrielle Unfälle, die Verwendung der technologischen Mittel für destruktive Zwecke sowie die Notwendigkeit der kreativen Ausfüllung von Lücken im unvollständigen technologischen Entwicklungsstand begleiten die »peripheren« Gesellschaften seit den ersten Bemühungen zur Industrialisietung. Wenn solche Prozesse wirklich die Freisetzung reflexiver Energien und die Etweiterung der Handlungsräume in der Hochmodeme bewirken, muss man annehmen, dass ein solcher >>emanzipatorischer« Effekt an der »Peripherie« in jenem Moment festzustellen war, als das dynamische Zentrum des Kapitalismus in der lllusion der absoluten Kontrolle der Natur durch Wissen und Industrialisierung lebte. Ein angrenzender Einwand ist analytisch-theoretischer Art und betrifft die heuristische Brauchbarkeit der Kategorie Reflexivität bei der Analyse der Moderne in all ihrer Diversität. Das heißt, bevor die Reflexivität als zentraler Aspekt der Analyse der Wandlungen in der Modeme definiert wird, muss zuerst deutlich gemacht werden, inwiefern die Wahl dieser Kategorie keine theoretisch aleatorische und willkürliche Entscheidung ist. Mit anderen Worten, es muss gezeigt werden, dass die Veränderungen des Niveaus an Reflexivität etwas wesentliches über die Prozesse aussagen, die untersucht werden sollen. Denn die Wahl von Analysekriterien impliziert immer einen Selektionsvorgang hinsichtlich der Prozesse, die man herausheben möchte, gegenüber denjenigen, die man als weniger wichtig erachtet. Unterdessen muss deutlich gemacht werden, dass die gewählten Kategorien dasjenige erfassen, was in den untersuchten Zusammenhängen zentral ist. Der Kategorie Reflexivität ermangelt es jedoch an einer solchen Selbstevidenz ihrer Relevanz für die Analyse gegenwärtiger Prozesse. Vom politisch-normativen Gesichtspunkt aus sind die Analysen des Autors ebenfalls problematisch, insofern als sie den Fortschritt der Reflexivität geographisch in den Gesellschaften des Nordatlantiks verorten und dabei diesen Gesellschaften implizit das Monopol der Definition des guten Lebens zusprechen. Das heißt, in dem Maße wie der Autor die »gute Beziehung« und die »gute Politik« aufgrund von historisch partikularen Erfahrungen definiert, hierarchisiert er kulturelle Lebensformen und verfällt dabei in den theoretischen Evolutionismus, den er im Rahmen seiner Theorie der Strukturierung in akkurater und entschiedener Weise verurteilt hatte. Denn er hebt einekontingenteReihe von Wand-
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Iungen partikularer Gesellschaften auf eme allgemeine historische Ebene, gemäß der auf die Tradition die Moderne und auf diese die Hochmoderne folgt (für eine Kritik vgl. Lewandowski 2003). Gleichzeitig weist er dem, was er als ein komplexeres Gesellschaftsmuster (Hochmoderne) ansieht, einen Typ von reflexiver Rationalität zu - zumindest als Möglichkeit-, den er mit »klügeren Menschen« verbindet. Es sei hier erlaubt, ein Beispiel anzuführen, das die Schwierigkeiten zu erkennen hilft, die auftreten, wenn man versucht den Reflexivitätsbegriff, wie er von Giddens entwickelt wird, zu operationalisieren. Es ist zwar nicht möglich, hier das komplexe und schwierige Thema der Wandlungen im lnnern der Familie in mehreren Ländern Lateinamerikas angemessen zu erörtern, doch es stechen dabei zwei neuere Entwicklungen hervor, die in überaus deutlicher Form auf eine Selbstreferenzialität der von Giddens gewählten Kategorien hinweisen. Es handelt sich dabei um die im zunehmenden Tempo erfolgende Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und um das in den letzten Jahren bedeutsame Anwachsen der Zahl an Familienhaushalten, die von Frauen geführt werden. Würde es nun wohl Sinn machen, etwa im Fall Brasiliens eine direkte und positive Korrelation zwischen der offenkundigen Zunahme der Anerkennung der Frauen im öffentlichen Leben und einer »Demokratisierung der Intimität« anzunehmen? Es gibt zumindest zwei sehr offenkundige Schranken für ein solches theoretisches Vorgehen. Unter den Familien der materiell ärmsten Schichten verdeckt die zunehmende Zahl an Frauen in der Familienführung die Situation, dass Kinder und Frauen von den Ehemännern oder zeitweiligen Lebensgefährten oft verlassen werden; anstelle einer »Demokratisierung des Intimen« existiert folglich eine Verschärfung des Überlebenskampfes und Verschlechterung der Lebensbedingungen. Für die Familien der Mittelklasse und der Reichen scheint die Figur der Hausangestellten es zu erschweren, die Idee der Reflexivierung der Partnerschaften, bei der die Aufgaben der Hausarbeit und der Kindererziehung gerecht geteilt werden, auf den brasilianischen Kontext zu übertragen. Verfährt man mit der Idee der Demokratisierung der Intimität, wie sie von Giddens verfochten wird, im strengen Sinne, so müsste die Konstellation Mutter, Vater, Kinder und Hausangestellte als ein Kontext gesehen werden, der durch die Verschärfung der persönlichen Abhängigkeit und dem Fehlen von Autonomie gekennzeichnet ist (vgl. Vidal 2007). Paradoxerweise war es jedoch diese familiäre Konfiguration, die es in Brasilien effektiv möglich macht, dass die Mütter aus der Mittelklasse Anwältinnen, Politikerinnen oder Professorinnen werden und viele arme Mütter den Erhalt der Familie sichern konnten, ohne dass dabei die traditionellen Geschlechterrollen auf den Kopf gestellt wurden.
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Es ist möglich, dass bei einem solchem Wandel der Verhältnisse, unter den Kriterien von Giddens betrachtet, alle Beteiligten reflexiver geworden sind. Eine solche Feststellung ändert allerdings wenig an der effektiven Situation geschlechtsbedingter Unterdrückung und den wachsenden sozialen Schwierigkeiten, mit denen sich die Frauen aus ärmeren Schichten konfrontiert sehen. In diesem Zusammenhang verliert Reflexivität den von Giddens veranschlagten heuristischen und emanzipatorischen Sinn. Es handelt sich hier offenkundig nicht um einen historischen gap, als ob die beobachteten Entwicklungen nur einen Verzug oder einen Mangel darstellten, der in dem Maße kompensiert werden wird, wie der Modernisierungsprozess voranschreitet Was aus diesen Beobachtungen hervorgeht, ist nämlich die Feststellung, dass die Vertiefung der Modernisierung gleichzeitig Reflexivität und soziale Fragmentierung mit sich bringt, neue Bereiche der Autonomie und die Reproduktion traditioneller Geschlechterrollen. Es geht folglich nicht um eine Wiederholung der europäischen Modemisierung mit zeitlicher Verzögerung, sondern um ein spezifisches Muster des Wandels, das lokale Strukturbedingungen und global verbreitete Emanzipationsbestrebungen miteinander verbindet. Mit diesem Beispiel sollen hier natürlich nicht die Feststellungen Giddens' über die Entwicklung der Reflexivität entkräftet werden. Was gezeigt werden soll, ist, dass Kategorien, die aus den spezifischen historischen Erfahrungen eines halben Dutzends von partikularen nationalen Gesellschaften gewonnen wurden, wenig zum Verständnis der Dynamik der Modernisierung in ihrer ganzen geographischen Ausdehnung beitragen. Wenn in einigen europäischen Gesellschaft die Rede von einer »Reflexivierung« der Intimität einen klaren Sinn erhält als nachfolgende Entwicklung der puritanischen Kernfamilie, so erweist sich dieser Begriff als unscharf im Rahmen von Gesellschaften, die eine sklavenwirtschaftliche Vorgeschichte und keinen effektiven staatlichen Mutter- und Kinderschutz aufweisen. Anstelle von Reflexivität scheinen es in diesem Fall andere Kategorien zu geben, die aufgrund der sozialen Erfahrung der konkreten Akteure konstruiett werden, etwa die Idee der Ausgrenzung oder des Mangels an Anerkennung. Diese erseisen sich als angemessener, insofern als sie sowohl eine Situation materieller Benachteiligung anzeigen als auch ungünstige moralisch-subjektive Rahmenbedingungen. Darauf gehe ich in Kapitel 7 nochmals ein.
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Reflexivität und Kosmopolitisierung Giddens und Beck gehen beide von der analytischen Prämisse aus, dass die Globalisierung trotz eventuell ambivalenter Tendenzen am Ende zur Generalisierung der Modeme führen wird, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer institutionellen Dimension, also der Expansion des Nationalstaats, der kapitalistischen Weltwirtschaft, der militärischen Ordnung und der internationalen Arbeitsteilung, als auch hinsichtlich ihrer individuellpersönlichen Dimension. Beide Autoren vermeiden es, die Globalisierung in ihrem aktuellen Stadium als einen linearen Prozess darzustellen. Giddens (1990) hebt hervor, dass die Globalisierung in ihrer ersten Phase eine Expansion westlicher Institutionen bedeutete, heute aber nicht mehr mit einem einseitigen Imperialismus gleichgesetzt werden kann. Noch nachdrücklicher hebt Beck (2000: 540ff.) hervor, dass im Kontext der Globalisierung die Aufhebung der Territorialität als Ordnungsprinzip sozialer Erfahrungen dazu führt, dass die westlichen Gesellschaften das ihnen historisch zugefallene Monopol verlieren, die Modeme zu definieren und sich gleichzeitig als empirisches Modell der modernen Lebensbedingungen darzustellen. Paradoxerweise aber behandeln beide die Globalisierung als eine Ausweitung der Wandlungsdynamik, die sie in ihren Untersuchungen zur Moderne bezogen auf den europäischen Fall beobachtet hatten. Das heißt, sie machen dasjenige zu einem analytischen Axiom, was eine Studie der Globalisierung erst untersuchen müsste, nämlich das Muster oder die Muster, wie sich die modernen Gesellschaften interdependent wandeln. So kommentiert Giddens (200lb: 58): »Unter dem Einfluss der Globalisierung kommt es heute zu zwei grundlegenden Veränderungen. In den westlichen Ländern werden nicht mehr allein öffentliche lnstitutionen, sondern auch das Alltagsleben dem Einfluss der Tradition entzogen. Und auch die anderen, stärker der Tradition verhafteten Gesellschaften der Welt unterliegen einer Enttraditionalisierung. Ich glaube, dass dieser Vorgang von entscheidender Bedeutung flir die entstehende globale und kosmopolitische Gesellschaft ist.« Giddens (1994) zufolge umfasst die »Revolution«, die die Globalisierung darstellt, insbesondere drei Prozesse, als Folge der Verdichtung von Zeit und Raum: das Handeln auf Distanz, das Entstehen einer posttraditionellen Ordnung und die Expansion der sozialen Reflexivität. Genau diese Veränderungen waren vom Autor (Giddens 1990) aber schon aufgezeigt worden, und zwar zuerst als typisch für den Übergang der Tradition zur Moderne und dann als Kennzeichen der reflexiven Moder-
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nisierung, die zum Entstehen der Hochmoderne führt. Dies erlaubt die Behauptung, dass Giddens eigentlich keine Theorie der Globalisierung besitzt, sondern seine Analyse der Globalisierung in Wirklichkeit nur die Anwendung der Formulierungen zur reflexiven Modernisierung auf globaler Ebene darstellt. Die Globalisiemng wäre danach ein Prozess, der mit einiger zeitlicher Verzögerung die »nordatlantische« Hochmoderne derin den Rest der Welt bringt. Im Fall Becks macht der Nachdruck auf die Interdependenz zwischen den verschiedenen geographischen Räumen und sozialen Prozessen, die die Weltgesellschaft heute konfigurieren und schon in Risikogesellschaft (Beck 1986) präsent waren, das Buch zu einer Globalisierungssoziologie avant la lettre. Ursprünglich veröffentlicht im Klima der durch die Tschernobyl-Explosion hervorgerufenen Erschütterung in Europa- das Buch war wenige Wochen vorher abgeschlossen worden-, bildeten Becks Thesen einen wichtigen Markstein in der Diskussion über den globalen Wandel, der Jahre später die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaftler monopolisieren sollte. Vor diesem Hintergrund fiel es Beck nicht schwierig, seine Theorie der Risikogesellschaft in eine Analyse der Globalisienmg umzuformulieren. Tatsächlich führt die partielle Aufhebung der geographischen Grenzen, wie sie die Globalisierung mit sich bringt, die von Beck beobachteten Probleme im Bereich der Risikogesellschaft ans Extrem. Das heißt, das Paradox zwischen Kontrolle und Risiko und die Unstimmigkeit zwischen der räumlichen Gebundenheit der politischen Befugnisse und der geographischen Entwurzelung der Risiken verschärft sich exponentiell durch die globale Transformation. In ähnlicher Form werden die Begrenzungen der modernen Institutionen immer evidenter, wobei sich noch radikaler die Notwendigkeit reflexiven Handeins aufdrängt, um die institutionelle Rationalität der industriellen Moderne zu reformieren. 8 So formuliert der Autor:
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Im Ralunen seiner Ausflihrungen zu Menschenrechten nimmt das Plädoyer Becks für eine Reformierung nationalstaatlicher Institutionen zugespitzte Konturen an. Demzufolge schafft die globale Interdependenz eine »Moral der Menschenrechte«, die »das staatliche Handeln« über die nationalen Grenzen hinaus legitimiert. Noch kurz vor der Okkupation des Iraks schreibt er: »Das will nicht in die Köpfe der alten, nationalen Machiavellisten hinein: Moral und nicht Gewalt ist die Quelle der Macht, und zwar der globalen Macht im globalen Zeitalter. Heute gilt: Hat man Moral, die Moral der Menschenrechte, so hat man das Recht zu militärischer Gewalt -und zwar global« (Beck 2002: 343, Herv. im Originaltext). Die machtpolitischen Folgen, die eine derartige moralische Begründung einer globalen Menschenrechtspolitik mit sich bringen kann, wurden bereits weiter obenanhandder Diskussion zum Argument von J. Habermas verdeutlicht.
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»Risikogesellschaft meint - zu Ende gedacht - Weltrisikogesellschaft Denn ihr axiales Prinzip - ihre Herausforderungen - sind zivilisatorisch erzeugte Gefahren, die sich weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzen lassen.« (Beck 1997a: 12)
indem er mit dem analytischen Schlüsselkonzept arbeitet, dass die Globalisierung auf grundlegender Ebene die Ausdehnung der charakteristischen Eigenschaften der Risikogesellschaft auf einen weltumspannenden Maßstab darstellt und es sich dabei folglich um die Herausbildung einer globalen Risikogesellschaft handelt, hat Beck auf diese Weise in den letzten Jahren die Umrisse entwmfen für i) eine Beschreibung der Globalisierung und ii) eine Methode zur Untersuchung globaler Prozesse. Die Beschreibung der Globalisierung hat als Achse den Prozess der Kosmopolitisierung, der dem Autor zufolge der Intensivierung der normativen, kulturellen und ökonomischen- Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den verschiedenen Teilen und Gruppen, die die Weltgesellschaft ausmachen, entspticht. Die Kosmopolitisierung bezieht sich auf eine Reihe von empirisch zu beobachtenden Veränderungen, die in objektive Indikatoren übersetzt werden können: »Die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit ist irreversibel« (Beck 2004: 115). Es handelt sich dabei um die Transnationalisierung der Zirkulation kultureller Güter, um die Verbreitung von doppelten Staatsbürgerschaften, um die Beschleunigung der Migrationsprozesse, um das Aufkommen der globalen Umweltrisiken, um die Intensivierung des internationalen Reiseverkehrs und um andere globale Prozesse, zu denen auch die Transnationalisierung des organisierten Verbrechens, die Globalisierung bestimmter Lebensstile und ästhetischer Präferenzen, die Internationalisierung der Medienarbeit etc. gehören (Beck 2000, Beck 2004: 125ff.). Effektiv und offenkundig gegeben, darf die Kosmopolitisierung aber dem Autor zufolge nicht mit einem Prozess verwechselt werden, der frei von Widersprüchen und Paradoxien ist und unzweifelhaft in die Formierung einer kosmopolitischen Weltgesellschaft mündet. Vielmehr stellt sich Kosmopolitisierung folgendermaßen dar: »The process concept >cosmopolitanization< must therefore be understood as a relational concept, a relational process, in which, on the one hand, the Connections between cosmopolitan changes and movements and on the other the resistances and blockades triggered by them are analysed together. Cosmopolitanization, therefore, by no means indicates >a< cosmopolitan society, but the interactive relationship of de-nationalization and re-nationalization, de-ethnicization and re-ethnicization, de-localization and re-localization in society and politics.« (Beck 2000: 98, Herv. im Originaltext)
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Beck sieht jedoch eine notwendige Verbindung zwischen der objektiven Dimension und der subjektiven Dimension der Kosmopolitisierung, da in seinem Verständnis die globale Expansion der Risiken zur Bildung einer globalen Risikogesellschaft führt, aufgefasst im Sinne einer sozialen Konfiguration, die sich ihrer inneren Zusammenhänge bewusst ist und die ihre Handlungsstrategien im Bewusstsein der Interdependenz entwirft. Genau bei diesem analytischen Übergang zeigt sich die Ungenauigkeit, die schon in der ersten Formulierung der »Risikogesellschaft« zu beobachten war und die das Übergleiten der Bedeutung vom Normativen zum Empirischen betrifft. Die Behauptung nämlich, dass die Zunahme des Grades an Interdependenz und gegenseitiger Durchdringung der verschiedenen räumlichen und funktionalen Teile der Welt auch zu entsprechendem Grad an sozialem Bewusstsein von solchen Zusammenhängen und von einem mit diesem Bewusstsein einhergehenden sozialen Handeln führt, enthält mehrere implizite Voraussetzungen. Denn damit die Existenz von Risiken und globalen sozialen Prozessen tatsächlich zu einer weltweiten Risikogesellschaft führt - d.h. zu einer Weltgemeinschaft, die ein politisches Selbstbewusstsein ihrer Interdependenz besitzt - , wäre es notwendig, dass die empirisch gegebenen Risiken kognitiv als solche wahrgenommen würden, und mehr noch, dass ein solches Bewusstsein ein entscheidendes Gewicht auf das Handeln der sozialen Akteure ausüben würde. Zwar ist richtig, dass Beck, aufmerksam gemacht durch die Forschungen der Risikoethnologie, darauf achtet, den Übergang zu erörtern, der zwischen der empirischen Existenz der Risiken und ihrer sozialen Wahrnehmung sowie ihrem Einfluss auf das Verhalten der sozialen Akteure erfolgt. So unterscheidet er dabei zwei theoretische Perspektiven: den Realismus und den Konstruktivismus. Für die Realisten macht die globale Dynamik der Kapitalreproduktion die sozialen und Umweltrisiken, wie sie von den Naturwissenschaften bestimmt werden, zu konkreten Phänomenen, deren objektive Existenz ausreicht, um die Umrisse der weltweiten Risikogesellschaft zu skizzieren. Für die Konstruktivisten zeichnet sich eine solche Gesellschaft erst ab, wenn es transnationalen Akteuren gelingt, die erforderlichen symbolischen und diskursiven Mittel zu verbreiten, damit die objektiven Risiken sozial als effektive Bedrohungen konstruiert werden. Unterdessen versucht Beck aufgrund dieser Unterscheidung seine eigene Position als diejenige eines »reflexiven Realisten« zu definieren, die sich von einem naiven Konstruktivismus abhebt: »Darüber hinaus verkennt der naive Konstruktivismus die Materialität, die Eigenzwänge globaler Gefahren, welche den ökonomischen Zwängen keines-
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wegs nachstehen. Konstruktivistische Analysen, die blind werden für die Differenz zwischen der Zerstörung als Ereignis und der Rede über dieses Ereignis, können Gefahren kognitivistisch verharmlosen. 1m Absehen auf >kognitive Elemente< wird unter Umständen davon abgesehen, dass Gefahren zerstörerisch, schmerzhaft und auflösend wirken und insofem chaotisch-diabolische Bedeutung haben.« (Beck 1997a: 25, Herv. im Originaltext) Was bei Becks Position gegen dasjenige, was er naiven Konstruktivismus nennt, am Ende ins Auge sticht, ist der moralische Grund, der ihn leitet. Denn entscheidend für seine Unterscheidung ist die Tatsache, dass ohne eine Wahrnehmung der globalen Risiken die Zerstörung unausweichlich werden kann. Wenn er die politischen Probleme aufdeckt, die ein Verkennen der effektiven Existenz globaler Bedrohungen zur Folge hat, beweist Beck Verantwortungsbewusstsein, doch kann er nicht eine ernste theoretisch-methodologische Lücke in seinen Formulierungen verbergen: Seine Feststellung der empirischen Existenz einer hinsichtlich der globalen Interdependenz selbstbewussten Weltgesellschaft - der weltweiten Risikogesellschaft - stützt sich letztlich einzig auf den moralischen Imperativ ihrer Existenz, d.h. auf den tragischen Ausgang den ihre Nicht-Existenz nach sich ziehen kann. 9 Wenn man jedoch nicht behaupten will, dass das moralische Erfordernis eines kosmopolitischen Bewusstseins die Existenz einer weltweiten Risikogesellschaft erzeugt, muss man allerdings jenen Recht geben, die Beck als naive Konstruktivisten bezeichnet. Man muss dann nämlich die Existenz transnationaler Kommunikationskontexte und effektiver intersubjektiv geteilter Mechanismen kognitiver und moralischer Vermittlung aufsuchen, die eine ihrer Interdependenz bewusste Weltgesellschaft formieren. Fehlen solche Prozesse und Vermittlungen, können die globalen Bedrohungen, so akut sie auch zu sein scheinen und so »diabolisch« ihre Folgen auch sein mögen, weiterhin unbeachtet bleiben (vgl. Beins 2001: 54ff.). Die Bemühungen Becks um die Konstruktion einer Perspektive zur Analyse der globalen Prozesse gtünden in der Erkenntnis, dass das So9
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Hier wird also behauptet, dass Beck der Gesamtheit der Weltgesellschaft implizit eine bestimmte moralische Einstellung zuschreibt, ohne klar seine Erkenntnisquelle zu nennen, wie fol gende Passage deutlich zeigt: »Eine Gesellschaft, die sich als Risikogesellschaft sieht, ist in dem Zustand katholisch gesprochen - des Sünders, der seine Sünden bekennt, um wenigstens über die Möglichkeiten eines >besserenprovinces< of world society is derived from the same challenges posed by second modernity which are variously perceived, assessed and processed in a variety of cultural contexts and locations.« (Beck 2000: 88)
Becks Erfolg bei dem schwierigen Unternehmen der Konstruktion dessen, was er kosmopolitische Perspektive zur Analyse der Globalisierung nennt, ist fraglich. Zwar problematisiert er den Evolutionismus und den Eurozentrismus der vorhergehenden Theorien, doch bringt er gleichzeitig in den Kern seiner Perspektive zur Analyse der globalen Prozesse die zweifelhafte Auffassung hinein, dass es eine chronologische Linie gebe zwischen der industriellen Moderne und der zweiten Modeme und zwiI 0 Nach der akkuraten Rekonstruktion Chernilos (2006) wurde der Ausdruck
»methodological nationalism« von Herminio Martins 1974 geprägt. Den Kritikern des methodologischen Nationalismus in den 70er Jahren, zu denen auch Anthony Smith gehörte, ging es allerdings darum, die sozialwissenschaftliche Tradition zu erneuem, während Beck, so Chemilo (2006: 11), ein »allegedly autonomaus research programme that bullies previous social science and declares them obsolete« vertrete.
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sehen den Rationalitätsmustern, die er jeder dieser Sozialformen zuschreibt, nämlich der einfachen Rationalität und der reflexiven Rationalität. Genau dies ist die Grenze seiner Diagnose/Theorie der Globalisienmg. Aufgrund der in jüngster Zeit gemachten Erfahrung in einer spezifischen Region des Globus, Westeuropa, wählt der Autor die Reflexivität zur Kategorie, die die Leitlinien für eine Untersuchung globaler Veränderungen in der ganzen Welt absteckt. Der theoretisch-methodologische Irrtum, den er begeht, ist mit den Problemen vergleichbar, die Wagner (1999: 19ff.) bei Luhmanns Ausführung zur Weltgesellschaft konstatiert. Demzufolge wird bei der von Luhmann entwickelten Methode des Vergleichs zwischen den verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft der Parameter für den interregionalen Vergleich ausgehend von der europäischen Modernisierung festgesetzt, und zwar als die funktionale Differenzierung. Deshalb handle es sich nicht um einen Vergleich, sondern um die Projektion einer bestimmten Gesellschaftsform auf andere, was notwendig dazu führt, dass alle diese anderen Entwicklungsformen ein früheres Stadium deijenigen Form darstellen, die man als Maßstab nimmt. Im Fall Becks ist es nicht eine systemische Eigenschaft, sondern eine partikulare Forn1 von Rationalität, die zum Maßstab wird, anhand dessen die Veränderungen analysiert werden. Letztlich ist es die Generalisierung der Reflexivität - mal als historische Evidenz präsentiert, mal als moralischer Imperativ, mal als theoretische Deduktion -, die unverkennbar die Globalisierung kennzeichnet. Anstelle der angemessenen Berücksichtigung der Diversität unterschiedlicher Wandlungsmuster in den verschiedenen Regionen der Welt, wie es in der nominellen Absicht des Autors lag, beschreibt seine Analyseperspektive am Ende die Globalisierung als einen evolutionistischen und monozentrischen Prozess der Expansion einer gewissen sozialen »Konstante«, der Reflexivität.
SchI ussbetrachtu ngen: die u nerfü llten Verheißungen der reflexiven Globalisierung Der Anwendung des Analyseschemas der reflexiven Modernisierung auf die Globalisierungsforschung kommt das unbestreitbare Verdienst zu, Kategorien zu schaffen, mit denen es möglich ist, die dramatische Entwurzelung der sozialen Prozesse aus ihren raum-zeitlichen Kontexten zu erfassen. Diese Entbettung begleitet die Modeme zwar seit ihrem Entstehen, doch ein derartiger Prozess verschärft sich gegenwärtig. Sei es durch die Idee des Handeins auf Distanz bei Giddens, sei es durch den
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von Beck entwickelten Begriff der Entterritorialisierung des Sozialen, dieser Kernaspekt der Globalisierung findet dadurch eine angemessene Betrachtung. Paradoxerweise allerdings wählen sie eine partikulare Kategorie, Reflexivität, als Achse für die Analyse der Wandlungen von der Tradition zur Modeme, von der einfachen Modeme zur zweiten Modeme und von dieser zur Kosmopolitisierung. Das empirische Defizit ist hier notorisch. Weder in der Arbeit Becks, noch in der Arbeit Giddens' wird die Expansion der Reflexivität empirisch in verschiedenen regionalen Kontexten gemessen. 11 Es wird als eine empirische Gegebenheit dargestellt, was zuweilen theoretische Deduktion, zuweilen politische Wunschvorstellung ist. Berücksichtigt man jedoch die Modemisierungserfahrung nicht nur der nordatlantischen Gesellschaften, sondern der Gesamtheit gegenwärtiger Gesellschaften, stellt man fest, das industrielle Moderne und zweite Modeme einerseits und einfache Rationalität und reflexive Rationalität andererseits im Laufe der Geschichte nicht notwendig aufeinander folgen. Für die Gesellschaften, die eine spätere Industrialisierung durchmachen, hat die Form, wie eine kleine Gruppe von europäischen Gesellschaften diesen Wandel durchlief, zwar in der Tat wirklich als Maßstab gedient, das man versuchte, historisch zu imitieren. Doch bei den effektiven Entfaltungen der Modemisierungsbemühungen in diesen Regionen sah man die Ungewissheiten aufkommen, noch ehe Vorteile und Nutzen der Industrialisierung zu spüren gewesen waren. In diesen Gesellschaften bildet das Misstrauen in die modernen Institutionen immer schon eine Verhaltensregel und ein Gebot zum Überleben. Wenn in dieser Hinsicht der Bezug auf das Schema einer risikozentrierten Gesellschaft im Bereich einer historisch-sozialen Entwicklung sinnvoll ist, die irgendwann einmal durch das Vertrauen in die Institutionen gekennzeichnet war, so verliert er seine Plausibilität im Umfeld einer Gesellschaft, die sich als sklavenwirtschaftliche Kolonie in die Moderne eingliedert: In diesen postkolonialen Gesellschaften sind sowohl die Abhängigkeit von äußeren Faktoren, als auch die Kritik an den Institutionen und die Suche nach persönlichen Strategien zur Überwindung ihrer Unzulänglichkeiten keine neuen Entwicklungen, sondern historische Konstanten. 11 Im Rahmen eines umfassenden Forschungsprojekts versuchen Beck, Bonß und Lau (2003: 3, vgl. auch Beck/Holzer 2004) »empirical and analytic criteria for testing the theory of reflexive modemization« zu entwickeln. Die Hypothesen, die sie dabei testen wollen, sind allerdings ausschließlich von Transformationsmustern einiger weniger Gesellschaften Europas abgeleitet.
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Der kritische Gebrauch des gesellschaftlich erzeugten Wissens seinerseits als ein Mittel, die sozialen Zuschreibungen zu »überlisten«, existiert zumindest, seit ehemalige Sklaven und ihre Nachkommen danach trachteten, sich als freie Frauen und Männer in die jeweilige nationale Gesellschaft (wieder) einzugliedern. Jene Unterscheidung, die für die Charakterisierung der zweiten Moderne wesentlich ist, nämlich die Generalisierung der Risiken und das dementsprechende Aufkommen eines reflexiven Rationalitätsmusters, ergibt in solchen Kontexten nicht notwendig einen Sinn. Hier koexistieren Erwartungen, die in die Modeme gelegt werden und bis an die Grenze der Verdinglichung gehen mit der strengen und konsequenten Kritik an der begrenzten Effektivität der modernen Institutionen in denselben chronologischen und kulturellen Räumen und können sogar in den Interpretationshorizonten eines selben sozialen Akteurs harmonisch nebeneinander bestehen. Dies ist keine anormale oder pathologische Entwicklung im Kontext der Globalisierung. Eines der zentralen Merkmale globaler Transformationsprozesse ist gerade die Expansion nicht-westlicher Formen von Moderne (vgl. Costa/Domingues/Knöbl/Silva 2006). Man findet dabei vielfältige Prozesse vor, die sich im Umfeld der radikalen Entterritorialisierung des Sozialen verflechten und verbinden. Die reflexive Modernisierung ist gewiss einer dieser Prozesse - möglicherweise nicht der wichtigste. Die »Entwestlichung« der geographischen Wiege der Moderne durch die Übernahme, infolge des Strebens nach globaler Konkurrenzfähigkeit, von Formen der Ve1waltung oder der Arbeit/Kapital-Beziehungen, die in den postkolonialen Gesellschaften bestehen, bildet ebenfalls eine wichtige Tendenz. Eine dritte, gleicherweise relevante Tendenz ist das Aufkommen gemischter Formen in den Gesellschaften verspäteter Industrialisierung. Diese Strukturen sind also modern in ihrer Funktion, doch traditionell in ihrem Format oder umgekehrt, modern in ihrem Format, doch traditionell in ihrer Funktion, wie das oben erwähnte Verhältnis zwischen Hausangestellten und dem Anstieg der Erwerbsquoten von Frauen zeigt. Was man von einer Soziologie der Globalisierung erwartet, sind eben gerade Instrumente, die es e1möglichen, die verschiedenen gleichzeitig stattfindenden Prozesse aufzudecken und dabei das Gewicht und die Bedeutung eines jeden zu bestimmen sowie die Art und Weise, wie sich die verschiedenen Bewegungen gegenseitig interpretieren und beeinflussen. Indem die Analysen von Giddens und Beck sich lediglich auf einen der laufenden Wandlungsprozesse konzentrieren, nämlich die reflexive Modernisierung, begehen sie einen analytischen und methodologischen Fehler. Der schwerwiegendste Irrtum allerdings ist poli-
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tisch-normativer Natur. Denn wie wir gesehen haben, erfüllt die Kategorie Reflexivität bei beiden Autoren letztlich, neben der analytischen Funktion, die Rolle eines Instruments zur Bewertung beobachteter Transformation, um die erwünschten Veränderungen von denjenigen zu unterscheiden, die bekämpft werden sollen. Mit anderen Worten: Reflexivität wird zum Barometer der sozialen Emanzipation. 12 Diese Wahl ist nicht neutral, denn die Reflexivität ist kein abstraktes emanzipatorisches Ideal, das in konkreten sozialen Formen nach unterschiedlichen kulturellen Mustern »verkörpert« werden kann, wie es z.B. bei der Authentizität, der Anerkennung oder den Menschenrechten der Fall ist. In der Definition von Giddens und Beck ist Reflexivität das distinktive Merkmal einer partikularen kulturellen Lebensform, und zwar jener, die die Enttraditionalisierung und die Selbstkritik betont. Überdies erweist sich die Entwicklung der Reflexivität, wie sie von den Autoren beschrieben wird, als untrennbar mit einer sehr partikularen Geschichte und Geographie verbunden. Sie verbreitet sich von den 1960er Jahren ab im Rahmen der Alltagserfahrungen und sozialen Bewegungen westeuropäischer Mittelschichten: In welchem anderen Kontext haben die individuelle Autonomie, die fabrizierten Risiken oder das gleichberechtigte Paar eine ähnliche Relevanz erhalten? 12 Zizek (2001: 479) sagt, dass der Bruch, den das Paradigma der zweiten Modeme darstellt, uns vor ein ähnliches Verhältnis stelle, wie es hinsichtlich der A11 und Weise besteht, in der sich Habennas von Adomo und Horkheimer abhebt. Die Autoren der zweiten Modeme bezögen eine ähnliche Position wie Habermas, insofern als für diesen »Probleme, wie totalitäre politische Regime oder die so genannte Entfremdung des modernen Lebens, letztlich nicht durch die gerade dem Projekt der Modeme und Aufklärung innewohnende Dialektik hervorgerufen [werden], sondern durch deren inkonsequente Realisierung.« Der Vergleich ist, obgleich suggestiv, doch unangebracht, denn er berücksichtigt nicht die Niveauunterschiede der Systematisierung zwischen der Theorie des kommunikativen Handeins und dem Ansatz der Zweiten Moderne. Er sieht auch davon ab, dass das zweistufige Gesellschaftssystem, wie es von Habermas dargestellt wird, zwar die kolonisierende Gewalt der instrumentellen Vernunft berücksichtigt, doch auch Spezifika in der Lebenswelt erkennt. Das heißt, es weist die Dialektik der Aufklärung nicht zurück, sondern nimmt sie an: In ihrem Rahmen geschieht es, dass Alternativen zum Stahlkäfig gesucht werden. Es gibt zudem bei Habermas keine vorweggenommene Vorschrift einer Lebensform, die die sozialen Akteure anstreben »sollten«, sondern den Entwurf eines Kontextes, in dem Anerkennungsansprüche verschiedener Lebensformen geltend gemacht werden könnten. Bei dem Übergang zur Zweiten Modeme dagegen verschwindet der negative Pol des dialektischen Verhältnisses, er wird rhetorisch positiviert: Die Risiken werden zu Chancen und die Ungewissheiten zu Möglichkeiten der Selbsttransformation der oppressiven Strukturen. In den Worten Becks (1999b: 319): »Der Käfig der Modeme öffnet sich.«
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Auf diese Weise erstellt die »reflexive« Analyse der Globalisierung unterschwellig eine Neuordnung der Welt im Zeichen einer normativen Rehierarchisierung. Sie weist der sozialen Emanzipation ein geographisches Zentrum zu und bestimmt sie durch nichts weiter als lediglich einer Reihe von abstrakten Idealen. In der Sichtweise der »zweiten Aufklärung« hat sich die Emanzipation radikalisiert und das Alltagsleben durchdrungen und ist dadurch zu einer kulturellen Lebensform geworden. Denjenigen, die nicht dasselbe Glück wie die deutschen bzw. britischen Zeitgenossen von Beck und Giddens hatten, mit ihnen die Erfahrung der Selbstreform durch die Generalisierung der Ungewissheiten und die Bewusstmachung der Risiken teilen zu können, bleibt nur, darauf zu warten, dass die Globalisierung es den neuaufgeklärten Europäern endlich ermöglicht, die Welt zu rekolonisieren - diesmal in reflexiver Weise. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Versuche von A. Giddens und vor allem von U. Beck den »methodologischen Nationalismus« aufzubrechen, um die Interdependenzen der Weltregionen adäquat zu berücksichtigen, eine wichtige analytische Dimension der vorliegenden Untersuchung beleuchten. Es geht schließlich hier um die Suche nach Scharnieren, die zwischen nationalen und transnationalen Prozessen und Akteuren zu vermitteln ermöglichen. Die konkreten Kategoriensysteme, die die Vertreter der reflexiven Moderne entwickeln, sind allerdings wenig hilfreich. Wie weiter unten gezeigt werden wird, entwickelt sich die Widerstandskultur im imaginierten Raum des Black Atlantic nicht als eine »radikalisierte Modeme«, sondern vielmehr durch ein immer schon ambivalentes Verhältnis zur Moderne. Die Rede von einer »zweiten Aufklärung« ergibt also für diejenigen keinen Sinn, die als Nachfahren moderner Sklaven die >>Universellen« Ansprüche der ersten Aufklärung nie vollständig erlebt haben.
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Kapitel 3. Jenseits der Differenz: die postkolonialen Studien und die Soziologie 1
Die postkolonialen Studien bilden keine einheitliche Theorieschule. Es handelt sich um verschiedene Beiträge mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, die aber ein gemeinsames Merkmal aufweisen: Sie gehen alle von der Methode aus, über die Dekonstruktion von Essenzialismen einen kritischen erkenntnistheoretischen Kontrapunkt zu den dominierenden Modemitätskonzepten zu entwickeln. Beginnend mit denjenigen Autoren, die als Intellektuelle der schwarzen oder migratorischen Diaspora bezeichnet werden, hatte die postkoloniale Perspektive vor allem in den Literaturwissenschaften Englands und der Vereinigten Staaten ab den 1980er Jahren ihren Ausgangspunkt. Danach expandierte sie in andere Länder und in andere wissenschaftliche Disziplinen, wobei Arbeiten von Autoren wie Homi Bhabha, Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak oder Stuart Hall und Paul Gilroy zu wichtigen Referenzen innerhalb und außerhalb Europas geworden sind. 2
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Frühere Fassungen dieses Kapitels sind in Costa 2005a und Costa 2005b erschienen. Anders als im Rahmen der Kulturwissenschaften ist in den deutschen Sozialwissenschaften bisher nur eine nüchterne Rezeption postkolonialer Studien zu verzeichnen: Neben einigen wichtigen Sammelbänden (Bronfen/Marius/Steffen 1997, Conrad/Randeria 2002a) und einigen wenigen individuellen Beiträgen (z.B. Boatcä 2006) ist das Interesse ftir den Ansatz noch bei jüngeren Wissenschaftlern (Ha 1999, Dietrich 2000) zu beobachten. Das geringe Interesse wird auf die Konzentration historiographischer Bemühungen auf die Aufarbeitung des Holocaust, auf die im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien kaum erlebte Kolonialgeschichte sowie auf eine geringe Präsenz postkolonialer Migranten, »welche die Erinnerung an die Zeit des Imperialismus und ihr Vermächtnis wach
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Ausgangspunkt des postkolonialen Ansatzes ist die Feststellung, dass jede Aussage ihren Ursprungs- und Entstehungsort hat. Auf dieser Feststellung, die nach den Debatten zwischen Strukturalisten und Poststrukturalisten eigentlich trivial geworden ist, gründen die postkolonialen Autoren ihre Kritik an dem wissenschaftlichen Arbeitsprozess. Demzufolge trägt die etablierte Fom1 der wissenschaftlichen Wissensproduktion dazu bei, die interne Logik des Kolonialismus zu verbreiten, indem sie nämlich Denkmuster reproduziert, die den europäischen Nationalkulturen entsprechen. Dadurch werden sowohl die Erfahrungen von Minderheiten als auch die Transformationsprozesse in den »nicht-westlichen« Gesellschaften stets im Kontext ihrer funktionalen Verhältnisse oder ihrer Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zu dem, was man als modernes Zentrum der Weltgesellschaft definiert hat, betrachtet. In diesem Sinne meint das >>post« nicht einfach ein »danach« im zeitlich linearen Sinne; es handelt sich um eine Rekonfiguration im diskursiven Feld, in dem die hierarchischen Beziehungen gedeutet werden (Hall 1997a). Das Koloniale seinerseits geht über den Kolonialismus hinaus, es bezieht sich auf diverse Herrschaftsverhältnisse, seien sie über Beziehungen zwischen Geschlechtern, Ethnien oder Klassen definiert. Das theoretische Feld genau zu begrenzen, in dem die postkolonialen Studien angesiedelt sind, ist keine einfache, vielleicht sogar eine undurchführbare Aufgabe, da die postkolonialen Studien darauf zielen, die Grenzen der Disziplinen zu erkunden. Dabei ist die Absicht, einen Diskurs »beyond theory« zu produzieren (Bhabha 1994). Dessen ungeachtet lässt sich die enge Beziehung zwischen den postkolonialen Studien und mindestens drei weiteren Strömungen oder zeitgenössischen Theorierichtungen erkennen. Die erste wäre der Poststrukturalismus, vor allem die Arbeiten von Derrida und Foucault, denen die postkolonialen Studien die Erkenntnis entnehmen, dass das Soziale einen diskursiven Charakter aufweist. Diese Rezeption des Poststrukturalismus ist allerdings nicht mit derjenigen postmoderner Prägung gleichzusetzen - der zweiten wichtigen Referenz für die postkolonialen Studien. Genau genommen variiert die Offenheit zum Postmodernismus sehr, je nach postkolonialen Autoren und Ansätzen. Generell lässt sich feststellen, dass die postkolohalten könnten« (Conrad/Randeria 2002b: 40) zurückgeführt. Weniger als eine mit dem kollektiven Gedächtnis zusammenhängenden Frage scheint mit jedoch das geringe Interesse ein unmittelbar institutionell-personales Manko zu verdeutlichen: Kaum ein ausländischer Sozialwissenschaftler besetzt in der deutschsprachigen akademischen Landschaft wichtige Posten. Wissenschaftler aus europäischen Ex-Kolonien sind praktisch nicht vertreten. Die günstige personale Konstellation war nicht zuletzt der Grund, der den Postcolonial Studies im angelsächsischen Raum Prestige verlieh.
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nialen Studien die Postmodernität als Gegebenheit, ja als empirische Kategorie annehmen, welche die Dezentrierung der zeitgenössischen Narrationen und Individuen beschreibt. Der Postmodemismus als ein theoretisches und politisches Programm hingegen wird in Anbetracht dessen zutückgewiesen, dass für den Postkolonialismus der Kampf gegen die Unterdrückung und für eine effektive soziale Transformation eine zentrale Stelle innerhalb des Forschungsprogramms einnimmt (Appiah 1992, Gilroy 1993: 107). 3 Zuletzt fehlt noch ein Hinweis auf die Cultural Studies, vor allem in ihrer englischen Ausprägung, wie sie am Birmingham University's Centre for Contemporaty Studies erarbeitet wurden. Es lässt sich vielleicht behaupten, dass der Unterschied zwischen Cultural Studies in der Form, wie sie sich in England entwickelt haben, und den postkolonialen Studien lediglich ein chronologischer ist. Seit Stuart Hall - als zentraler Vertreter dieser englischen Linie- sein Interesse ab Mitte der 1980er Jahre immer stärker weg von Fragen im Zusammenhang mit dem marxistischen Klassenverständnis und hin zu Black Cultural Studies und Themen wie Rassismus, Ethnizität, Gender und kultmellen Identitäten wandte, lässt sich letztlich eine thematische und theoretische Überschneidung zwischen den postkolonialen Studien und den Cultural Studies beobachten. Und heute sind beide Felder im Grunde nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden. Das Ziel dieses Kapitel ist es nicht, eine Genealogie der postkolonialen Studien nachzuzeichnen, sondern die Bedeutung ihres Beitrages für die Soziologie zu diskutieren. In erster Linie soll es darum gehen, die von den postkolonialen Studien an die Sozialwissenschaften gerichtet Kritik zu untersuchen und die daraus folgenden erkenntnistheoretischen Alternativen aufzuzeigen. Zuletzt wird die These vertreten, dass die von den postkolonialen Studien ausgehende Kritik trotz ihres heftigen Tons und des Verdachts von Autoren wie McLennan (2003), die postkoloniale Theorie sprenge die erkenntnistheoretische Basis der Soziologie von innen her, nicht die Soziologie als solche betrifft, sondern dass sich ein Großteil der postkolonialen Kritik an eine spezifische soziologische Schule richtet, nämlich die Modernisierungssoziologie. Und hierbei unterscheidet sich die postkoloniale Kritik nicht von der Kritik jener Soziologen, die nichts mit dem Postkolonialismus zu tun haben. Andere von den postkolonialen Studien aufgeworfene Probleme destabilisieren nicht notwendigerweise die Soziologie als Disziplin. Im Gegenteil: Sie können das Fach sogar bereichern.
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Wie weiter unten gezeigt wird, scheinen die postkolonialen Autoren, die das poststrukturalistische Erbe zuspitzen, jeglichen Anspruch auf politische Transformationen jedoch aufgegeben zu haben.
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Das Wissen verorten: die postkoloniale Erkenntnistheorie Nicht ohne Grund gilt das klassische Buch »Orientalism« des 2003 verstorbenen palästinensischen Literaturkritikers Edward Said (1978) als ein »Gründungsmanifest« des Postkolonialismus (Conrad/Randeria 2002b: 22). In diesem Buch verleiht Said einer Perspektive Konturen, die bereits durch den Psychiater Frantz Fanon (u.a. 1965, zuerst 1952) aus Martinique entworfen worden war, als dieser versuchte, die Modeme Welt aus Sicht eines Schwarzen bzw. des (Post-)Kolonisierten zu beschreiben. Der Orientalismus von dem Said spricht, charakterisiert sich durch eine besondere Art der Wahrnehmung der modernen Geschichte und geht von der scharfen Unterscheidung zwischen Okzident und Orient aus. Dabei schreibt sich der Teil der Welt, der sich als Westen versteht, die Aufgabe zu, den Orient zu definieren. Der Orientalismus bildet damit eine bestimmte Form, die Welt wahrzunehmen und konsolidiert sich zugleich dadurch, dass die dabei erzeugten Erkenntnisse immer wieder die ursprüngliche binäre Unterscheidung Okzident/Orient bestätigen. Der Impuls, der Said und, wie wir später sehen werden, eine große Anzahl der postkolonialen Autoren inspiriert, geht aus von der Kritik Foucaults (u.a. 1974: 418ff., zuerst 1966) an den »Erkenntnistheorien« moderner Geisteswissenschaften. Diese zielt auf die methodische Zirkularität ab, indem sie zeigen will, dass »neue« Erkenntnisse, die von einem bestimmten Repräsentationssystem ausgehen, gleichzeitig dasselbe System widerspiegeln. Somit entspricht der Orientalismus einer vorgegebenen und institutionalisierten Vorstellung über eine bestimmte Region der Welt, die kontinuierlich reproduziert wird. 4 Die Rede vom Orient bezieht sich zwar auf einen geographischen Ort, doch im Vordergrund steht die Markierung einer kulturellen und sinnstiftenden Grenze, von der ausgehend ein »wir« und ein »sie« (die Anderen) definiert werden. Damit entsteht eine semantische Korrelation zwischen dem Wir und dem Anderen, in der das Andere gegenüber dem Wir (dem Selbst) als minderwertig hervortritt. Gleichzeitig wird das Andere entweder als Ka4
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Seit seiner Veröffentlichung hat »Ürientalismus« viel Kritik erfahren. Besonders re levant sind die Kritiken, die sich auf die methodologische Vorgehensweise Saids und die daraus hervorgehenden Schwierigkeiten beziehen, einen erkenntnistheoretischen Ort zu konstruieren, der gegen die dem Orientalismus innewohnenden Probleme - Zirkularität, Unmöglichkeit wissenschaftlicher Repräsentativität etc.- immun ist (Ashcroft/Ahluwalia 1999: SOff.). Selbst Said formuliert und verfeinert seine früheren Positionen in späteren Arbeiten, vor allem in seinem wichtigen Buch zum Kulturimperialismus (Said 1993).
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rikatur oder als Stereotyp dargestellt und ist immer eine verbindende Synthese von dem, was das »Wir« nicht ist und auch nicht sein will. Stuart Hall (1996a) versucht das Schema des Grientalismus zu generalisieren, indem er die Polarität zwischen dem Westen und dem Rest der Welt als die Konstitutionsbasis der Geisteswissenschaften und vor allem der Soziologie darstellt. Der Ausgangspunkt von Hall ist der von Foucault abgeleitete Begriff der »diskursiven Formation«. In diesem Sinne ist Diskurs nicht mit Ideologie zu verwechseln, verstanden als verfalschte Repräsentation der Welt. Daher geht es in diesem Zusammenhang nicht darum, den Wahrheitsgehalt der Diskurse zu diskutieren, sondern den Kontext, in dem diese Diskurse produziert werden. Zu überprüfen ist dabei, inwiefern das » Wahrheitsregime«, innerhalb dessen der Diskurs Bedeutung und Plausibilität erlangt, seine praktische Effizienz beweist. Diese »Wahrheitsregime«, oder in der von Hall bevorzugten Variation, »Repräsentationsregime«, sind nicht geschlossen und erweisen sich zudem als fähig, neue Elemente in ihr Bedeutungsgefüge zu inkorporieren, ohne dass sich dabei dessen ursprünglicher Sinnkern verändert. (Hall 1996a: 20 I ff.) 5 Indem Hall auf die Idee von Said zurückgreift, der die Diskurse als »Archive« oder gemeinsame Erkenntnisquellen betrachtet, listet er die Hauptelemente auf, die im Verlauf des langen Prozesses der kolonialen Expansion den Diskurs West/Rest konstituiert haben, und zwar: klassisches Wissen, biblische und religiöse Quellen, Mythologien sowie Reiseberichte. Ausgehend von diesen Quellen konstituieren sich die Polaritäten zwischen dem Westen (zivilisiert, fortschrittlich, entwickelt, gut) und dem Rest (wild, zurückgeblieben, unterentwickelt, schlecht). Sind sie einmal konstituiert, werden diese Gegensätzlichkeiten zu Werkzeugen, um die Realität zu erfassen und zu begreifen. Hall untersucht Werke von Gründungsautoren der Geisteswissenschaften aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (vor allem Adam Smith, Henry Kame, John Miliar, Adam Ferguson) und zeigt auf, dass sich die zeitgenössische Polarität West/Rest in der inneren Logik der Aufklärung herausgebildet hat:
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Durch Halls Hervorhebung des offenen Charakters des Repräsentationssystems West/Rest unterscheidet sich sein Ansatz zwar von Saids Orientalismus, da Said den monologischen Charakter des orientalistischen Diskurses als zentral betrachtet. Doch in beiden Konzepten steht die Selbstreferentialität des kritisierten Repräsentationssystems im Vordergrund: Sowohl Said als auch Ha11 gehen davon aus, dass bei der Aufnahme neuer Elemente in eine diskursive Formation immer die innere, dominante Semantik dieser selben Formation reproduziert wird.
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»The Enlightenment aspired to being a >science of manmodemity< first came to be defined. In Enlightenment discourse, the West was the model, the prototype and the measure of social progress. It was westem progress, civilization, rationality, and development that were celebrated. And yet, all this depended on the discursive figures of the >noble vs. ignoble savagernde and refined nations< which had been formulated in the discourse of >the West and the RestothersotherThe Other< was the >dark< side- forgotten, repressed, and denied; the reverse image of enlightenment and modemity.« (Hall 1996a: 221) Der Diskurs West/Rest, so Hall, ist nicht nur bestimmend innerhalb dieser ersten geisteswissenschaftlichen Arbeiten, sondern wird zu einem der Fundamente moderner Sozialwissenschaften, indem sie Werte und soziale Strukturen der als westlich definierten Gesellschaften als universelle Parameter ftir die Definition dessen nehmen, was eine moderne Gesellschaft ist. Aus soziologischer Perspektive können deshalb alle Spezifika »nicht-westlicher« Gesellschaften nur als Mangel und Unzulänglichkeit erscheinen, da sie von dem Grundmuster abweichen, das man ausschließlich aus den sich selbst als westlich definierenden Gesellschaften abgeleitet hat. Der West/Rest-Ansatz sei also von der modernen Soziologie vollständig inkorporiert worden. Als exemplarisches Beispiel hierfür nennt Hall solche Kategorien wie den Patrimonialismus bei Weber oder die asiatische Produktionsweise bei Marx, die beide auf verschiedene Weise die inneren Bewegungen der als nicht-westlich definierten Gesellschaften beschreiben, wobei sie von der impliziten komparativen Grammatik ausgehen, in der die europäischen Gesellschaften als Grundmuster fungieren. Die Polarität West/Rest prägt Hall zufolge auch das Muster der historischen Narration, das die moderne Soziologie verwendet. Es handelt sich um eine »grand narrative«, die auf die westlichen Nationalstaaten zentriert ist und bei der die moderne Geschichte auf eine allmähliche und heroische Verwestlichung der Welt reduziert wird, ohne zu berücksichtigen, dass zumindest seit der kolonialen Expansion des 16. Jahrhunderts die Welt in unterschiedlichen »Zeitlichkeiten und Geschichtlichkeiten unwiderruflich und gewaltsam zusammengespannt worden ist« (Hall
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1997a: 233ff.). Das bedeutet natürlich nicht, dass der Autor an eme Symmetrie der Machtverhältnisse und an ein Gleichgewicht der gegenseitigen Einflüsse zwischen den Regionen glaubt, sondern, dass er davon ausgeht, dass die als gegensätzlich und getrennt voneinander, im Grunde als Antinomien dargestellten Teile sich historisch und semantisch ergänzen. Die Methoden des impliziten Vergleichs und die Art der historischen Narration, die in der Soziologie vorherrscht, bewirken, dass alles, was im »Rest« anders ist, als etwas noch nicht Existentes gedeutet wird, als ein Mangel, der durch dem jeweiligen historischen Kontext entsprechende Interventionen zu kompensieren sei: koloniale Unterwerfung, Entwicklungshilfe, humanitäre lnte1ventionen etc. Damit möchte Hall nicht die moderne Soziologie für den Kolonialismus und den Imperialismus verantwortlich machen. Er zeigt allerdings, wie diese Disziplin die koloniale Perspektive reproduziert, indem sie das herrschende Repräsentationsmodell der Beziehungen zwischen Europa und dem Rest der Welt legitimiert.6 Die »Dekonstruktion« der Polarität West/Rest
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Obwohl der Theologe Enrique Dussel seine Alternative zum Eurozentrismus, die sich an der Theologie der Befreiung und am Marxi smus anlehnt, von den Autoren postkolonialer Ausrichtung unterscheidet, bringt er eine Kritik hervor, die sich als postkoloniale Perspektive identifizieren lässt. Dem Theologen zufolge enthält die Modeme ad intra einen rationalen Kern, der universell und kosmopolitisch ist. Ad extra geht sie dennoch auf ein mythisches Denken zurück, das Dussel (2000: 70f.) zu sieben konstitutiven Elementen zusammenfasst: i) die moderne Zivilisation definiert sich selbst als überlegen; ii) diese Überlegenheit verpflichtet sie moralisch dazu, die Entwicklung der unzivilisierten Anderen zu fördern; iii) dieser erzieherische Prozess sollte dem europäischen Weg fol gen; iv) da der Barbar sich dem Zivilisationsprozess widersetzt, sollte Gewalt angewendet werden, wenn dies für die Modernisierung erforderlich ist; v) das Unternehmen verlangt Opfer, wobei der modernisierende Held auf seine Opfer - wie bei Opferritualen üblich - eine erlösende Aura projiziert, als wären die Opfer Beteiligte an einem Befreiungsprozess; vi) für die Modernisierten »trägt der Barbar eine Schuld (den Widerstand gegen den Zivilisierungsprozess), was der >ModernebefreitErbschaften< formuliert: »1. Erbschaften, die vom Zentrum von Kolonialmächten ausgehen bzw. dort bestehen (Bsp. Lyotard); 2. Kolonialerbschaften in Siedlungskolonien (Bsp. Jameson in den USA); und 3. koloniale Erbschaften in Kolonien mit tiefgreifender Besiedlung (Bsp. Said, Spivak, Glissant)« (ebd.: 14). Dazu siehe auch Escobar (2004); Santos (2005).
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Paares West/Rest bedinge: Werde sie relativiert, ergibt die Antinomie West/Rest keinen Sinn mehr. Der zweite Schritt, den die postkolonialen Autoren machen, zielt darauf zu zeigen, dass die Polarität West/Rest kognitiv unergiebig ist, da sie genau das ausblende, was eigentlich der ErheBung bedarf, nämlich die inneren Unterschiede der multiplen sozialen Phänomene, die in einem generalisierten Anderen zusammengefasst werden, ebenso wie die tatsächlichen Beziehungen zwischen dem imaginierten Westen und dem Rest der Welt. Das Bemühen um eine Dekonstruktion der (kolonialen) Gegensätze folgt verschiedenen Linien im Rahmen der postkolonialen Studien, und spätestens seit dem wichtigen Aufsatz Spivaks (1988) hat sich die Erwartung zersetzt, dass eine neue erkenntnistheoretische Perspektive entwickelt werden könnte, indem man die (Post-)Kolonisierten sprechen lässt. Die Autorirr zeigt, dass der Verweis auf ein subalternes Subjekt, das sprechen könnte, illusorisch ist. Sie konstatiert bezogen auf Indien, dass es eine Heterogenität der Subalternen gebe, die kein authentisches prä- oder postkoloniales Bewusstsein besitzen, und dass es sich vielmehr um »prekäre Subjektivitäten« handle, die am Rande der »erkenntnistheoretischen Gewalt« entstanden seien. Diesem Verständnis von Gewalt liegt dasjenige von Foucault zugrunde, der sich mit der Neudefinition des Begriffs geistiger Gesundheit in Europagegen Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigt hat. Dabei zeigt Foucault, wie bestimmte Lebensentwürfe und Weltanschauungen als geistige Behinderung stigmatisiert und ausgeschlossen werden. Für die postkolonialen Studien zeichnet sich die koloniale Gewalt dadurch aus, dass das Wissen und die Weltanschauungen der Kolonisierten deklassifiziert werden und ihnen somit das Vermögen zu mündiger Äußerung abgesprochen wird. Anstatt also die Position eines Vertreters der Subalternen einzunehmen, der ihre »Stimmen« hört, wie sie in den heroischen Aufständen gegen die Unterdrückung widerhallen, versucht der postkoloniale Intellektuelle die koloniale Herrschaft als eine Sinnbeschneidung zu verstehen, die die Sprache des Subalternen verstummen lässt, indem sie sie disqualifiziert. Ausgehend von Spivak suchen die postkolonialen Studien nach Alternativen für die Dekonstruktion der Antinomie West/Rest, die sich von der einfachen Inversion der kolonialen Positionen unterscheiden. Es geht also nicht darum, dem Unterdrückten eine Stimme zu verleihen, sondern, wie Pieterse/Parekh (1995: 12) zeigen, darum, eine Dekaionisierung der Imagination zu bewirken, was nicht mit einer antikolonialen Kritik zu leisten ist. Schließlich sei, historisch betrachtet, selbst der Kampf gegen den Kolonialismus noch aus dem kolonialistischen Denken hervorgegangen, denn die Differenz zwischen Kolonisierenden und
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Kolonisierten, wie der Kolonialismus sie konstruiert hat, wird nochmals im Rahmen nativistischer und nationalistischer Konstruktionen fixiert bzw. festgeschrieben und bestätigt. Der Postkolonialismus soll die Dekonstruktion dieser Essenzialismen voranbringen, indem er kulturelle Grenzen auflöst, die sich sowohl in der kolonialen Epoche als auch in anti-kolonialistischen Kämpfen entwickelt haben. In groben Zügen lassen sich drei miteinander verbundene Dimensionen des Postkolonialismus nachzeichnen, in denen die »Entkolonisierung moderner Imagination« betrieben wird: die Dekonstruktion einer Teleologie der Modeme, die Definition eines postkolonialen erkenntnistheoretischen Ortes und die Kritik an dem modernen Subjektbegriff Darauf gehe ich im Folgenden ein.
Die postkoloniale Geschichte: Kritik am tel eo log i sehen Modern itätsbeg riff Die postkoloniale Reinterpretation der modernen Geschichte versucht den Kolonisierten in die Modeme einzufügen- nicht als Gegenpart zum Westen oder als Synonym der Rückständigkeit, des Traditionellen, des Mangels, sondern als konstitutiven Bestandteil dessen, was man als Modeme diskursiv konstruiert hat. Dieses Verfahren impliziert die Dekonstruktion der hegemonialen modernen Geschichtsschreibung, in der die Verhältnisse zwischen dem »Westen« und dem »Rest« beschrieben werden. Dabei soll ersichtlich werden, dass diese beiden Begriffe imaginäre Konstruktionen sind, die keinen unmittelbaren empirischen Erkenntniswert haben. Dies ist jedenfalls das Projekt, dem der an der Universität von Chicago tätige indische Historiker Dipesh Chakrabarty (2002) nachgeht. Unter der Devise »Europa zu provinzialisieren« versucht der Autor, den liberalen Universalismus zu radikalisieren. Er will zeigen, dass das Rationale, die Wissenschaft etc. keine Merkmale der europäischen Kultur, sondern Elemente einer globalen Geschichte sind, in der der »Westen« das Monopol über die Definition des Modernen paradoxerweise mit direkter Beteiligung der »nicht-westlichen« Welt erobert hat. Dementsprechend werden außereuropäische Nationalgeschichten zu Erzählungen über die Konstruktion von Institutionen wie die Staatsbürgerschaft, die Zivilgesellschaft etc., die nur als Projektionen im Spiegel eines »hyperrealen Europas« Sinn ergeben können. Doch derartige Projektionen gehen völlig an den konkreten Erfahrungen der Mehrheit der Weltbevölkerung vorbei, die sich nicht unter diese Narrationen subsumieren lassen. In diesen Nationalgeschichten sei das vorgestellte Europa die Heimstatt des wahren modernen Subjektes, von dem
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selbst die militantesten Sozialisten und Nationalisten ausgehen, um durch Imitation eine nationale Entsprechung zu schaffen. So werde »durch jene Geschichten [ ... ], die sowohl der Imperialismus als auch der Nationalismus den Kolonisierten erzählt haben« (ebd.: 302) das europäische Epos der Modernisierung geschaffen. Europa zu provinzialisieren bedeutet, erstens zu erkennen, dass die Beanspruchung des Attributs modern vonseiten Europas das Kapitel einer globalen Geschichte ist, »von der die Geschichte des europäischen Imperialismus ein untrennbarer Teil ist«, und zweitens zu erkennen, dass der Beteiligung der Nationalisten in den Ländern der Dritten Welt an dem Triumph der modernistischen Ideologie, die Europa als Inbegriff des Modernen zelebriert, eine fundamentale Rolle zukommt (ebd.: 306). Randeria (2000, 2001) erweitert mit ihren Konzepten der »geteilten Geschichten« und der verwobenen Moderne (entangled modernity) dieses Programm. Die Konzepte entsprechen einer Vorstellung von Geschichten, die sich, obwohl sie als nationale Geschichten erzählt werden, gegenseitig durchdringen und bestimmen. Damit versucht die Autorin auf der einen Seite die Interdependenz und die simultanen Konstituierungsprozesse gegenwärtiger Gesellschaften zu veranschaulichen. Andererseits will sie auf die dichotomische Darstellung der geschichtlichen Komplementarität zwischen dem »Westen« und dem »Rest« aufmerksam zu machen. Der Begriff »entangled« beinhaltet im doppelten Sinne die Ausdrücke »shared« und »dividedgemeinsame Geschichte< lesen, in der verschiedene Kulturen und Gesellschaften eine Reihe zentraler Erfahrungen teilten und durch ihre Interaktionen und Interdependenzen die moderne Welt gemeinsam konstituierten. Andererseits brachte die zunehmende Zirkulation von Gütern, Menschen und Ideen nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern zugleich Abgrenzungen hervor, das Bedürfnis nach Partikularität und Hypostasierung dichotomischer Strukturen, die
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das verbreitete Geschichtsbild nach wie vor dominieren.« (Conrad/Randeria 2002b: 17) Randeria (2000) zufolge unterscheidet sich die Vorstellung einer >entangled modernity< sowohl von der Vorstellung des Gegensatzpaares West/Rest, als auch von den komparativen Ansätzen, wie sie von Arnason und Eisenstadt vertreten werden. Betonen diese Autoren die Existenz verschiedener konkurriender zivilisatorischer Modelle, die sich simultan entwickeln, so geht es der Autorirr hingegen nicht darum, die parallelen Entwicklungen hervorzuheben, sondern ihre gegenseitigen Durchdringungen zu erforschen. Die Idee einer ineinander verwobenen Konstitutierung der Moderne ist mit einer doppelten Intention verbunden. Zu einem geht es darum, das erkenntnistheoretische Problem aufzuzeigen, nämlich den blinden Punkt herauszufiltern, den der Gegensatz West/Rest in den verschiedenen Disziplinen der Humanwissenschaften erzeugt. Indem die Soziologie dieses »Andere« des Westens in einer evolutionistischen und hierarchischen Weise behandelt und es als Vakuum an Gesellschaftlichkeit bzw. als >>Vm·stadium eines europäischen Selbst betrachtet« ( ebd.: 42), stuft sie Phänomene wie die Schwächung nationaler Souveränität, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Fernsteuerung usw. als neuartige Folgen der Globalisierung ein, ohne dabei zu erkennen, dass die (post-)kolonialen Gesellschaften diese Phänomene seit je her kennen. Ferner zielt der Ansatz der >entangled modernity< darauf ab, zu zeigen, dass die Kolonien immer schon Experimentierfelder der Moderne waren. Zumindest seit der Erscheinung von »Das Kapital« ist die Bedeutung der kolonialen Expansion für die Entwicklung des Kapitalismus durchaus bekannt, doch mit der postkolonialen Betonung auf der geteilten Geschichte soll die Aufmerksamkeit auf andere Dimensionen dieser Interdependenz gelenkt werden. Dementsprechend nennen Conrad und Randeria (2002b: 26) diverse Studien, anhand derer etwa ersichtlich wird, wie die (»modernen«) Modelle sozialer Reform durch »strategisch motivierte Eingriffe« gegen Ende des 19. Jahrhunderts zuerst in den Kolonien entstanden und erst später als eine Möglichkeit der »Modemisierung« nach Buropa importiert worden sind. Beispiele ftir diesen Prozess sind städtische Reurbanisierungsprojekte, die zuerst im Norden Afrikas und später in Frankreich durchgeführt wurden, ebenso wie die Technik der Identitätsprüfung durch Fingerabdruck, der zuerst in Bengalen in die Praxis umgesetzt worden war, bevor sie in Europa eine breite Anwendung finden konnte.
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Der Ort postkolonialen Sprechens: das Lob des Hybriden Anstatt Tatsachen und Verbindungen zu suchen, die den (Post-)Kolonisierten innerhalb der modernen Geschichte neu positionieren könnten, konzentrieren sich verschiedene Autoren, die von den Möglichkeiten des Poststrukturalismus überzeugter sind, auf die Verbindung zwischen Diskurs und Macht. Sie versuchen, einen »site of enunciation« - also den Ort, von dem aus man seine Aussagen macht - zu finden, der sich den festgefügten Zuschreibungen entziehen könnte, und dabei die kulturellen Grenzen zu überschreiten, die vom kolonialen Denken gezogen wurden. Der indische Literaturkritiker Homi Bhabha (1994) verfolgt diese Strategie mit beharrlichstem Nachdruck. Sein Interesse ist auf die sites of enunciation gerichtet, die nicht durch die Polarität des Draußen/Drinnen bestimmt sind, sondern die sich an den Grenzen befinden, in den Zwischenräumen jeglicher kollektiv konstituierter Identität. Im Visier seiner Bemühungen, symbolische Grenzen zu dekonstruieren, steht verständlicherweise vor allem die Nation. Bhabha sieht in der Nation den entscheidenden Ort, von dem aus die Machtverhältnisse konstruiert werden, ebenso wie den Ausgangspunkt für die Grenzbestimmung, die es ermöglicht, Hierarchien zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden, Inländern und Ausländern usw. zu legitimieren. Der Autor untersucht den narrativen Aufbauprozess der Nation, wobei er eine Spannung zwischen einer pädagogischen und einer performativen Strategie feststellt. Die pädagogische Handlungsweise richtet sich an das Volk als ein Objekt des nationalen Diskurses, der den gemeinsamen Ursprung bestätigt und die essenziellen Bindungen zwischen den »Landsleuten« hervorhebt. Durch die performative Handlungsweise wiederum wird die Reinterpretation der nationalen Symbole gefördert, wobei das Volk zu einem Subjekt der lebendigen und permanenten Rückbestätigung des gemeinsamen Schicksals wird. Dieses zweistufige diskursive Verfahren bestätigt die Realität der vorgestellten nationalen Gemeinschaft, und bestimmt gleichzeitig sein Wesen und sein Werden, wie auch die Symbolik, die mit der Nation ein Volk, eine Kultur, ein Territorium und eine Geschichte untrennbar verbindet (Bhabha 1994: 139ff.). In Gegenüberstellung zur Nation als Ausgangsort von asymmetrischen He1Tschaftsbeziehungen, wie auch von anderen homogenisierenden Identitätskonstruktionen, die versuchen, die Kultur zu fixieren und fest zu verorten, wird die Idee der Differenz gesetzt, die sich in den Sinnlücken zwischen den kulturellen Grenzen kontextuell artikuliert. »Differenz« bezieht sich hier weder auf das kulturelle oder biologische Erbe, noch auf das Reproduzieren einer symbolischen Zugehörigkeit, die 103
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von der Geburt, dem Wohnort, dem sozialen und kulturellen Umfeld etc. abgeleitet wird, sondern ist eine Größe, die im Prozess ihrer Manifestation konstruiert wird. Bhabha zufolge ist Differenz also kein Ausdruck eines akkumulierten kulturellen Vorrats. Differenz meint einen Strom von Repräsentationen, die sich gleichsam zwischen den Zeilen der totalisierenden und essenzialistischen Identitäten (Nation, Arbeiterklasse, Schwarze, Migranten etc.) ad hoc artikulieren. Daher muss selbst der Verweis auf eine ursprüngliche und authentische Tradition als Bestandteil einer Performierung - sowohl im linguistischen Sinne als Handlung als auch im dramaturgischen Sinne als Inszenierung - von Differenzen behandelt werden, welche ausgehend von dem diskursiven Kontext verstanden werden müssen, der sie umgibt: »Terms of cultural engagement, whether antagonistic or affiliative, are produced performatively. The representation of difference must not be hastily read as the reflection of pre-given ethnic or cultural traits set in the fixed tablet of tradition. The social articulation of difference, from the minority perspective, is a complex, on-going negotiation that seeks to authorize cultural hybridities that emerge in moments of historical transformation. The >right< to signify from the periphery of authorized power and privileged does not depend on the persistence of tradition; it is resourced by the power of tradition tobe reinscribed through the conditions of contingency and contradictoriness that attend upon the Jivesofthose who are >in the minorityreceived< tradition.« (Bhabha 1994: 2) Die Behauptung der Differenz, so wie Bhabha sie beschreibt, darf nicht als soziale Handlung in dem von soziologischen Theorien üblicherweise verwendeten Sinn begriffen werden, da das damit assoziierte Handeln nicht in eine theoretische Narration umgeschrieben werden kann. In Bhabhas Texten lässt sich weder eine entzifferbare Beziehung zwischen Handeln und Struktur ausmachen, noch eine Korrelation zwischen dem Selbst und der Gesellschaft, die anhand eines verallgemeinemden soziologischen Modells erfasst werden könnte: »There can be no final discursive closure of theory« (Bhabha 1994: 30, siehe auch McLennan 2000: 77). Selbst die Vorstellung vom Subjekt muss außerhalb des soziologischen Kanons verstanden werden. Bhabha versucht einen Subjektbegriff zu vermeiden, der über seine Bindung zu einem Ort innerhalb der sozialen Struktur definiert werden müsste oder sich anhand der Verteidigung eines bestimmten Ideenkomplexes charakterisieren lässt. Das Subjekt ist immer ein provisorisches und kontingentes. Außerdem ist 104
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das Subjekt immer in ein »sprechendes« und ein »besprochenes« Subjekt geteilt, d.h. zwischen einem Subjekt, das selbst spricht und einem Subjekt, über das man spricht. Das »besprochene« Subjekt kann nie das »sprechende« Subjekt einholen, sondern ihm nur nachfolgen: »Jedes Subjekt ist sozusagen sich selbst immer schon voraus und erfasst sich (und erst recht andere Subjekte) immer nur retroaktiv« (Bronfen/Marius 1997: 10). Dies impliziert jedoch nicht die Unmöglichkeit des Widerstands gegen Unterdrückung. Die mögliche Subversion ist diejenige, die mit den Bedeutungsverschiebungen von Zeichen verbunden ist. Diese vom Poststrukturalismus entliehene Idee geht davon aus, dass die Zeichen unerschöpfliche Bedeutungsmöglichkeiten enthalten und ihren Sinn - provisorisch und variierbar -jeweils nur durch die konkrete Verwendung innerhalb eines bestimmten Bedeutungskontextes erlangen. Kein diskursiver Kontext kann das Bedeutungsrepertoire eines Zeichens komplett ausschöpfen. Die kreative Handlung ist diejenige, die das Zeichen von einem diskursiven Ort aus neu definiert, welcher außerhalb geschlossener Repräsentationssysteme liegt. Es handelt sich also, Bhabha gemäß, nicht um eine Handlung, die von einem konkurrierenden Repräsentationssystem ausgeht, sondern die an einem Grenzort außerhalb der totalisierenden Bedeutungszuschreibungen anzusiedeln ist. Deshalb ermöglicht diese Handlung, »Unruhe«, d.h. semantische Störungen herbeizuführen, die den fragmentarischen und ambivalenten Charakter jeglichen Repräsentationssystems entlarvt. Die Effizienz der Intervention ist daher auch immer ungewiss, offen und unbestimmt. Es handelt sich um eine Handlung innerhalb des Einflussbereichs des Subjektes, aber außerhalb seiner Kontrolle. Die »sites of enunciation« zwischen den Repräsentationssystemen werden von Bhabha als ein »third space« bezeichnet, der einem Kontext entspricht, »in which the spatial contingency of national and racial borders is combined with [ .. . ] the temporal contingency ofthe indecidable« (Philips 1999: 68). Das heißt, dass der dritte Raum sich nicht an einem festen Ort innerhalb des sozialen Geftiges befindet, er bezieht sich eher auf die Momente, in dem der willkürlich konstruierte Charakter kultureller Grenzen deutlich wird. Das geschieht, wenn die Zeichen aus ihrem zeitlichen und räumlichen Bezugsrahmen herausgelöst werden, aber gewissermaßen noch in Bewegung sind, d.h. noch in kein neues Repräsentationssystem einbezogen wurden. Dieses In-Bewegung-Sein entspricht der »Hybridisierung« von Zeichen und ist ein kontingenter, vom Zufall abhängiger Prozess, der, wie bereits erwähnt, mit der Beteiligung des Subjekts, aber ohne seine Steuerung erfolgt (Bhabha 1994: 185f.).
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Das von Bhabha vertretene Konzept von »Hybridität« hat seinen Ursprung in den linguistischen Analysen Mikhail Bakhtins, wo dieser von einer unfreiwilligen »Mischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer gleichen Aussage« und von »der dialogischen Konfrontation« zweier Sprachen in Form einer »intentionalen Hybridität« ausgeht (Grimm 1997: 53). Bhabha spricht der Intentionalität die Bedeutung ab und zeigt, dass das Phänomen der Hybridisiemng vom Willen eines Subjektes unabhängig ist. Ferner behauptet er, dass Hybridität im Rahmen der kolonialen Beziehung nicht nur der Reaktion gegen die Unterdrückung, sondern ebenfalls der Bestätigung der Macht des Kolonisators dient. Dem Autor zufolge wird die Macht nicht nur durch Transparenz (eindeutige Klassifikationskriterien, klare binäre Identitätsmuster Kolonisierte/Kolonisator usw.) erzeugt, wobei er sich von den Ansichten der »westlichen Poststrukturalisten«, von Bhabha »purists of difference« genannt, abhebt. Denn in der Beziehung Kolonisierte/Kolonisator vereinen sich Bedeutungszuweisungen, die die Identität des Kolonisators »hybridisieren«, während der Kolonisierte seinerseits zwar den Kolonisator imitiert, aber gleichzeitig auch die Zeichen der kolonialen Herrschaft verschiebt bzw. hybridisiert, indem er sie ihrer Herrschaftssymbolik entleert: »lf the effect of colonial power is seen to be the production of hybridization rather than the noisy command of colonial authority or the silent repression of native traditions, then an important change ofperspective occurs. It reveals the ambivalence at the source of traditional discourses on authority and enables a form of subversion, founded on that uncertainty, that tums the discursive conditions of dominance into the grounds of intervention.« (Bhabha 1995: 4, zuerst 1985, Herv. im Originaltext) Ausgehend von der von Bhabha geprägten Begriffsbestimmung verbreiten sich die Konzepte Hybridität und Hybridisierung innerhalb der postkolonialen Studien, obwohl die Begrifflichkeit bei jedem Autor eine unterschiedliche Färbung annimmt (fiir einen Vergleich siehe Papastergiadis 1997). 9 Jenseits seiner verschiedenen Gebrauchsweisen dient das 9
Zur selben Zeit wie die postkolonialen Autoren beginnt auch Garcia Canclini (1990) den Begriff »hybride Kulturen« zu verwenden, um sich auf Lateiname1ika zu beziehen. Im Gegensatz zur politischen Bedeutung, die die postkolonialen Autoren der Hybritität zuweisen, sei die lateinamerikanische Hybridität, so Canclini, durch die Abwesenheit eines politischen Sinnes gekennzeichnet: Waren Hybrisierungsprozesse in der Region entweder mit der Legitimierung despotischer Herrschaften oder mit emanzipatorischen Versuchen verbunden, so meint Hybridität heute lediglich eine allegorische und unorganisierte Mischung und ist viel mehr ein Ausdruck des Ästhetischen als des Politischen. Ein anderes wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den postkolonialen Studien und dem Bei-
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Konzept der Erfüllung zweier erkenntnistheoretischer Aufgaben. Die erste ist dekonstruktivistischer Art: Indem die hybriden Züge aller kulturellen Konstruktionen aufgedeckt werden, versucht man zu belegen, dass es keinen homogenen, neutralen »site of enunciation« gibt. Jeder Aussageort ist immer ein partieller, heterogener. Daher ist der Anspruch auf Homogenität immer mit einer Hierarchisierungsabsicht verbunden. Das zweite Anliegen ist - soweit möglich - normativer Natur: Die Hybridität definiert einen kosmopolitischen globalen Zustand. Es handelt sich dabei um den Verweis auf eine hybride Weltkultur, die eine weltumfassende Ökumene beschwört, in der die rassistischen, nationalen, ethnischen Grenzen aufhoben seien: »[ ... ] an international culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture' s hybridity (Bhabha 1994: 38, zur Kritik Bhabhas an Taylors Multikulturalismuskonzept siehe Bhabha 1996: 55f.). Diesem kosmopolitischen Ideal folgend ist die Globalisierung zu begrüßen, da mit ihr neue Möglichkeiten entstehen, die Welt von Standpunkten aus zu betrachten, welche außerhalb der räumlichen und symbolischen Grenzen jeglicher imaginierter Gemeinschaften liegen. Die Veranlagung zur Hybridisienmg sei den zeitgenössischen Biographien in gewisser Weise inhärent, doch in der Figur des »postkolonialen« Migranten findet diese Tendenz ihre emblematische Verkörperung. Der Kosmopolitismus als Hybridität erscheint so am Horizont der Möglichkeiten als Alternative zu den modernen Universalismusansprüchen: »[ ... ] The later [modemism] combated ethnicity in the name of universalism, the identity of all people and thus of their individual rights. The former [postcolonialism] does the same in the name of mixture and hybridity, a claim to a humanity so fused in this cultural characteristics that no >ethnic absolutism< is possible. This is what 1 have referred to a cosmopolitism without modernism [ ... ]. Cosmopolitanism without modernism is not without modernity as such, but without the rationalist, abstract and developmentalist p roject of modernism.« (Friedman 1997: 75f., meine He1v., siehe auch Friedman 1995)
Über diese Funktion hinaus, auf einen »site of enunciation« zu verweisen, der zwischen den kulturellen Grenzen liegt und daher ein kosmopolitisches Ideal verkörpert, gewann der Begriff Hybridität im Feld der So-
trag Canclinis besteht im Elaborierungsgrad: Während in den postkolonialen Studien Hybridität trotz aller Probleme einen Schlüsselbegriff innerhalb einer umfassenden Kulturtheorie darstellt, nimmt »hybrid« bei Canclini eine schwammige Definition an, aus der keine konsistente theoretische Schlussfolgerung hervorgehen kann.
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ziologie durch einen Aufsatz von J. N. Pieterse ( 1995) eine makroanalytische Verwendung im Rahmen der Globalisierungsforschung. Der Autor geht davon aus, dass die soziologischen Abhandlungen im Allgemeinen die Globalisierung mit der Modeme assoziieren und so letztlich zu einer Erweiterung der Modernisierungstheorie werden. Danach begreifen diese Ansätze die Globalisierung als Verwestlichung der Welt (Westernization). Die Autoren wiederum, die die Globalisierung nicht als Homogenisierung sehen wollen - wie etwa Therbom, Amin, Pred/ Watts- zeigen, dass jede Gesellschaft die Moderne »wiederaufarbeitet« und ihren eigenen modernistischen Weg definiert. Dabei fallen sie insgesamt unweigerlich, so Pieterse, auf einen Polyzentrismus zurück, der eine statische und eindimensionale Auffassung der Globalisierung beinhaltet: »[ ... ] the multiplication of centres still hinges on centrism« (ebd.: 48). Alle diesen Ansätze missachten etwas Fundamentales im Globalisierungsprozess, nämlich die Globalisierung der Diversität. 10 Der Autor postuliert, dass die Globalisierung als Hybridisierung verstanden werden sollte, die folgende Dimensionen umgreift: einen Prozess der Multiplizierung bzw. gegenseitigen Durchdringung möglicher Organisationsmodi und -ebenen (transnational, international, regional, kommunal); eine in verschiedenen sozialen Bereichen vollzogene Kombination unterschiedlicher Steuerungslogiken (kapitalistisch, solidarisch, formell, informell etc); sowie eine kulturelle Durchmischung - eine global me!ange. Die Idee einer globalen Melange korrespondiert mit einer Generalisierung der Prozesse gegenseitiger kultureller Durchdringung, die jeweils als Einzelfälle mit Begriffen wie Kreolisierung, Mestizaje, Orientalisierung, Cross-Over-Culture beschrieben werden. Diese Begriffe heben jeweils die Hybridisierung der involvierten Elemente hervor und weisen auf die permanente Entstehung neuer Mischungen. Damit behauptet Pieterse nicht, dass die unterschiedlichen kulturellen Elemente, die dabei jeweils vermischt werden, eine Reinheit oder Ursprünglichkeit aufweisen. Sie sind selbst schon hybride Formen und daher entspricht seine globale Melange einer Mischung aus Mischungen. Um seine Argumentation plausibel zu machen, lehnt Pieterse die Vorstellung von Kultur als einem Komplex orthogenetischer und endogener Eigenschaften ab, welche mit einer organischen und homogenen Gemeinschaft und einem bestimmten geographischen Ort assoziiert werden. Dagegen stellt er das Konzept einer translokalen, heterogeneti10 Die Kritik von Pieterse scheint mir, eher im Fall des Ansatzes der »multiple modemities« (Eisenstadt 2000a, 2000b) nachvollziehbar zu sein. Für Autoren wie Therbom (1995, 2000, 2004) und Wallerstein (1997) steht die von Pieterse reklamierte »diversity« jedoch im Vordergrund (siehe auch Spohn 2006).
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sehen und heterogenen Kultur, die sich in verschiedenen diffusen Netzen entwickelt. Während im ersten Fall der kulturelle Austausch als statisches Phänomen verstanden wird, das immer eine Referenz an ein Zentrum beinhaltet, sind die Interaktionen im zweiten Fall dezentriert und transkulturelL Die Globalisierung stellt so den offensichtlich nicht-linearen Prozess dar, in den die Generalisierung dieses zweiten Typs der kulturellen Beziehungen mündet. Daher führe die Globalisierung nicht zur Homogenisierung sondern zur Diversifizierung, nicht zur kulturellen Hegemonie, sondern zur gegenseitigen kulturellen Durchdringung und nicht zur Verwestlichung, sondern zur globalen Melange, also zur Hybridisierung (ebd.: 61ff.). Obwohl innovativ, bringt die von Pieterse entwickelte Auffassung von Hybridität für einen Gebrauch als analytische Kategorie der Globalisierung schwerwiegende Probleme mit sich, was er selbst teilweise anerkennt: »What is missing is acknowledgement of the actual uneveness, asymmetry and inequality in global relations« (ebd.: 54). Die Ungenauigkeit des Konzeptes scheint mir allerdings nicht ein Problem der theoretischen Verfeinerung zu sein, als wäre es möglich, wie Pieterse andeutet, das Modell durch neue Forschungsergebnisse zu präzisieren und korrigieren. Das Problem ist eher ein methodologisches. In der von Pieterse betriebenen Anwendung nimmt das Konzept der Hybridisierung so viele Funktionen und Definitionen auf, dass es zum Synonym dessen wird, was es eigentlich erklären sollte: »globalization as hybridization«. Im Grunde sucht der Autor einen pluralen Modernitäts- und Kulturbegriff, ohne allerdings die Vielfalt der Produktions- und Reproduktionsdynamiken der Moderne zu erfassen. Im Gegenteil, er vereinigt alle Dynamiken in einem Attribut: hybrid. Obwohl der kritische Anspruch, den Autoren wie Bhabha oder Pieterse mit ihrem Hybridisierungsbegriff verbinden, nachvollziehbar ist, liegt seiner Verwendung als analytischer Kategorie meines Erachtens eine Fehleinschätzung zugrunde. Dieses Mehrzweckkonzept fungiert wie ein Werkzeug, das seinen Gegenstand zuerst zerlegt, danach aber Nuancen und Differenzierungen vermischt, die in der wissenschaftlichen Analyse eigentlich hervortreten sollten. Das Konzept versetzt den Analytiker in die Rolle eines Hundes, der sich in seinen eigenen Schwanz beißt, indem er immer an den Ausgangspunkt zurückkehrt: Er geht von der Prämisse aus, dass die Moderne, die Kulturen, die Menschen, die Globalisierung und er selbst hybrid sind, um dann aus aufwendigen Dekonstruktionsbemühungen heraus zu schließen, dass die Moderne, die Kulturen, die Menschen, die Globalisierung und er selbst, heureka! ... hybrid sind.
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Von der Differenz zum Subjekt Die Konzeption der Differenz, die sowohl Bhabha also auch Stuart Hall geprägt haben, leitet sich vom Poststrukturalismus, genauer von Derridas Begriff der differance, ab. Ohne hier in eine Debatte ausgreifen zu wollen, die immer noch sehr lebhaft geführt wird und dabei so unterschiedliche Felder wie die feministische Theorie, das Völkerrecht und unterschiedliche Kulturtheorien berührt, möchte ich doch kurz festhalten, dass Derrida, indem er den Neologismus differance als absichtlich »falsche« Variante des französischen Wortes difü~rence schuf, die Art einer Differenz benennt, die weder im Signifikationsprozess von Zeichen erfassbar ist, noch in Polaritäten aufteilbar sind, wie das Ich/das Andere, Wir/Sie, Subjekt/Objekt, Mann/Frau, schwarz/weiß. Solche gegensätzlichen Bestimmungen und Klassifizierungen konstituieren, so Derrida, das westliche, logozentrische Modell der Weltwahrnehmung und bilden gleichzeitig die Grundlage für moderne Herrschaftsstrukturen. Überdies schaffen sie die Illusion vollständiger Repräsentationen, die totalisierend sind und keine Lücken lassen. Doch die Unvollständigkeit der Repräsentationen liegt in der Sprache selbst begründet, da das Signifikant und das Signifikat niemals komplett übereinstimmen. Die differance bezieht sich auf den Bedeutungsüberschuss, der mittels binärer Differenzierungen nicht erfasst wird und auch nicht erfasst werden kann. Dies darf jedoch nicht ein neues Paar suggerieren, als ob es sich um eine vollständige Realität als prä-linguistisches Sein einerseits und deren unvollständige und reduzierte sprachliche Repräsentation andererseits handeln würde (Derrida 1972: 44). Dieser Ansicht nach gibt es keine vorgängige Realität, die dem Diskurs zeitlich oder ontologisch vorgeordnet wäre. Die soziale Realität wird durch die Sprache konstituiert, weshalb sich die differance nur auf der Ebene des Diskurses konstituieren kann. Das Konzept der differance bricht eben gerade mit der Idee einer prä-existenten, ontologischen und essenziellen Differenz, die diskursiv vorgestellt und dargestellt werden kann. Die dijjerance konstituiert sich im Akt ihrer Manifestation, im Rahmen des Netzes von Repräsentationen, Differenzen und Differenzierungen. Auch das Subjekt wird dabei dezentriert. Es konstituiert sich in den beweglichen Signifikationsketten, es ist eigentlich Teil von ihnen: Es existiert weder vor der Sprache, noch ist es eine autonome Entität oder eine unabhängige Identität, die auf die differance einwirkt, um die von ihr zurückgelassenen »Sinnlücken« zu füllen und damit die Totalität zu (re-)konstruieren. Es handelt sich nicht um Subjekte, die in einer Struktur eingeordnet sind: Subjekte und Strukturen haben den gleichen Status als schwebende Zei-
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chen, welche ihre - immer unvollständige und provisorische - Bedeutung durch ein semantisches Differenzierungsspiel beständig neu annehmen. In seiner Debatte mit Levi-Strauss zeigt Derrida, dass er vom Strukturalismus Abschied nimmt, indem er den sprachlichen Spielen einen unabschließbar offenen Charakter zuschreibt. Für den Autor beinhaltet Levi-Strauss' Spielbegriff eine gewisse »Ethik der Präsenz«, so als gäbe es einen Urspmng, ja eine Essenz hinter dem Zeichen, die irgendwann aktualisiert und innerhalb der Sprache präsent gemacht werden könnte. Derrida zufolge unterscheiden sich hier zwei Typen von Geisteswissenschaften. Der Erste sucht nach einem letzten Ursptung, nach der Wahrheit hinter den Illusionen der Repräsentationen; der Zweite akzeptiert die Beteiligung an einem ungewissen Spiel, in dem der Wissenschaft eine flottierende Position zukommt. Der zweite Wissenschaftstyp, an den Derrida sich anschließt, ist dekonstmktivistisch und sucht immer nach den metaphysischen Residuen, die den generalisierenden Aussagen innewohnen, unabhängig davon, ob diese universalistische oder differenzbetonende Diskurse sind: »Es gibt somit zwei Interpretationen der Interpretationen, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der OntoTeleologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichemden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.« (Derrida 1972: 44) Den·idas Radikalität, die sich tm Konzept der differance und in der Auflösung der Opposition zwischen Subjekt und Struktur widerspiegelt, wird jeweils von Bhabha und Hall unterschiedlich interpretiert. Beide stützen sich auf den Poststmkturalismus, um der Idee der fixen, essenziellen Differenz zu entkommen, sei sie aufgestülpt oder selbst zugeschrieben. Die Differenz ist für beide eine »category of enunciation«, »opposed to relativistic notions of cultural diversity, or the exotism of the diversity of cultures« (Bhabha 1994: 160). Der Poststmkturalismus hat somit für beide eine zentrale Bedeutung, da sie darauf zurückgreifen, um antinomische Diskurse zu dekonstruieren, die ein »Ich« und einen »Anderen«, ein» Wir« und ein »Sie« antinomisch gegenüberstellen. Dies gilt sowohl für den kolonial-imperialistischen Diskurs als auch für den
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nationalistischen und auch für den multikulturellen Diskurs. In diesen Diskursen wird die Differenz als homogene Identität, also als eindeutige »sameness« zelebriert, nämlich unter der Annahme, dass hier eine Koppelung zwischen der soziokultmellen Position in einer prä-diskursiven Struktur und einem bestimmten Ort des linguistischen und politischen Sprechens besteht. Auf diese Weise wird die Differenz gezähmt, homogenisiert, in eine neue Grenze eingefangen, womit sie ihren unvorhersehbaren und unsicheren Charakter verliert, von dem Bhabha und Hall ihre subversiven Möglichkeiten ableiten. Anstatt von Identität sprechen die Autoren lieber von Identifizierung, die sich eher auf die umstandsbezogene Position in den Bedeutungsnetzwerken bezieht (Hall 1996b). Bhabha scheint indessen die Kontingenz der linguistischen Spiele bis zur letzten Konsequenz zu treiben. Daher scheint mir die Form, wie einige an soziale Bewegungen gebundene Intellektuelle (Feministinnen, Immigranten) Bhabha rezipieren, nicht angemessen zu sein. Denn sie versuchen, dem Autor eine Theorie der sozialen Transformation beizumessen, in der ein Subjekt auftritt, dass Differenzen verhandelt, um politischen Widerstand zu leisten und die Herrschaftsbeziehungen in Frage zu stellen. Die Festlegung eines »site of enunciation« als subversiv ignoriert indes den kontingenten Charakter des Handelns, ein fundamentales Element in Bhabhas Argumentation. Wie oben hervorgehoben sind nach Bhabha die Möglichkeiten, Herrschaftsbeziehungen umzudeuten, unwiderruflich dem Zufallsprinzip unterworfen: Der Widerstand kann keineswegs ein Willensakt eines Subjektes sein, er ist ein Produkt unkontrollierbarer Interaktionen. ln dem folgenden Abschnitt wird diese Position noch einmal nachdrücklich betont: »The process of reinscription and negotiation - the insertion or intervention of something that takes on new meaning - happens in the temporal break in between the sign, deprived of subjectivitiy, in the realm of the intersubjective. Through this time-lag - the temporal break in representation - emerges the process of agency [ ... ].« (Bhabha 1994: 191)
Papastergiadis (1997: 279) hat doch Recht, wenn er sagt, dass das Hauptanliegen Bhabhas nicht die Rettung oder die Transformation ist. Es handelt sich vielmehr um eine Chronik der Prozesse »through which the tactics of survival and continuity are articulated«. Bhabha setzt zwar auf die Multiplizierung »hybrider« Differenzen, die sich den kulturellen Zwischenräumen artikulieren. Er sieht in ihnen die Möglichkeit, die totalisierenden Diskurse zu unterlaufen, seien sie hegemonial oder kontrahegemonial. Das heißt, dass die Verbreitung hybrider Zustände, die mit der Migration von Menschen und Zeichen einhergehen, eine positive
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Folge haben: Sie schaffen Bedingungen für die Möglichkeit der Artikulierung neuer Differenzen. Dies erklärt die Aufmerksamkeit, die der Autor den Migranten ebenso wie den Minderheiten zuteil werden lässt. Dennoch ist deren Relevanz nicht diejenige des reflexiv Handelnden, der gegen die herrschenden Diskurse vorgeht. Ihre transformatarische Wirkung besteht in den Möglichkeiten der Konstruktion neuer Bedeutungen, die die Präsenz des Migranten eröffnet. Das heißt, dass die räumlichen und zeitlichen Verschiebungen von Zeichen potentiell die Signifikationskontexte hybridisieren, womit Ungewissheiten, Ambivalenzen und Zweifel daran eingeführt werden, was zuvor als »kohärent«, rein und präzise erschien. Diese Haltung führt nicht zu einer »Rezentralisierung« des Subjektes, indem ihm im Rahmen der Hybridisierung eine Rolle als sozialer Protagonist zugesprochen würde. Der Prozess, es sei nochmals betont, entgleitet der Kontrolle des Handelnden. Es gibt weder eine Teleologie der Hybridisierung, noch eine Verdinglichung des Bewusstseins von Akteuren, die diese Teleologie umsetzen könnten. Was Bhabha behauptet, ist lediglich, dass die Migrationen von Zeichen die Kontexte der Produktion von hybriden Bedeutungen vermehren - aber nur als Möglichkeit! Die Präsenz »fremder Zeichen« kann auch zur Versteinerung der kulturellen Grenzen führen, indem die Konstruktion des »Fremden« als etwas der eigenen Identität Entgegengesetztes erfolgt. In welchem Maße die Migration der Zeichen eher Hybridisierung oder doch neue Zuschreibungen hervorruft, wird von dem migrierenden Subjekt beeinflusst, aber kann nicht von ihm kontrolliert werden - schließlich ist das Subjekt nur noch ein Zeichen innerhalb einer Signifikationskette. Zur Erläutemng wird hier an das Gedicht einer von Sklaven abstammenden Migrantin erinnert, auf das Bhabha Bezug nimmt. Die Autorirr schildert, wie sie eines Tages die Macht der Unsichtbarkeit entdeckte. In ihrer Beschreibung verschwindet die Dichterin, wird unsichtbar und hinterlässt lediglich ihren Blick als Spur, welche in den Träumen aller herumspukt, die sie sehen wollen (Bhabha 1994: 46ff.). 11 Die Anwesenheit oder besser gesagt Abwesenheit der Migrantin fordert 11 Es handelt sich hier um ein Gedicht von M. Jin, »Stt·angers on a hostile landscape«, von dem Bhabha (1994: 45f.) folgenden Abschnitt hervorhebt: »Üne day I leamt A secret art, invisible-Ness, it was called. I think it worked As even now you Iook But never see me [ ... ]. Only my eyes will remain to watch and to haunt, and to turn your dream to chaos.«
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die Stereotypisierung heraus und entzieht sich allen klassifizierenden Kategorien, die sie als das exotische Andere betrachten, das man entweder ablehnt oder begehrt. Das subalterne Subjekt ist für Bhabha nicht der strenge Blick, der bleibt und »verurteilt«, ebenso wenig wie eine versteckte Essenz innerhalb der Dimension, die unsichtbar wurde. Ein Subjekt, das im strengen Blick verkörpert wäre, würde sofort von demjenigen, der es erblickt, in sein Signifikationsnetz neu eingeordnet und klassifiziert werden. Andererseits, wenn das Subjekt dem entspräche, was sich versteckt hat, hätten wir so etwas wie ein »tiefes Ich«, das vor der Interaktion existiert, was für Bhabha nicht möglich ist. Demzufolge ist das subalterne Subjekt dasjenige, das sich in seiner Doppeldeutigkeit der Präsenz und Abwesenheit artikulieren kann: Die Präsenz des Blicks lädt sozusagen dazu ein, gesehen und eingeordnet zu werden, aber in dem Moment, in dem ihm ein anderer Blick begegnet, entflieht er dem normalisierenden Impuls dessen, der ihn erblickt. Der Moment des Widerstandes entspricht der Herbeiführung dieser Ambivalenz, die allen normalisierenden Klassifikationen ihre Vollständigkeit und Eindeutigkeit entzieht. Das Auftauchen des subalternen Subjektes beschränkt sich auf diesen Moment der kontingenten Destabilisierung eines Bedeutungssystem, was es unmöglich macht, bei Bhabha eine Theorie oder eine Strategie des Widerstandes oder der sozialen Transformation zu erkennen. Im Gegensatz dazu wollen Hall und Gilroy über die textuellen Inskriptions- und Reinskriptionsspiele hinaus mit Hilfe eines dezentrierten Subjektkonzeptes eine politische Soziologie der kulturellen Verhandlungen konstruieren. Hall unterscheidet zwischen drei Konzeptionen von Subjekt: das kartesianische oder aufgeklärte Subjekt, das eine selbstreferentielle durch die Vernunft konstituierte Identität aufweist, das soziologische Subjekt und das dezentrierte Subjekt - welches er als postmodern bezeichnet. Demnach konstituiert sich das soziologische Subjekt in seinen Beziehungen mit den »significant others, who mediated to the subject the values, meanings, and symbols - the culture - of the worlds she/he inhabited [ ... ]. The subject still has an inner core essence that is the real me, but this is formed and modified in a continuous dialogue with the cultural worlds outside and the identities which they offer« (Hall 1992: 275, Herv. im Originaltext). G. H. Mead, C. H. Cooley und die symbolischen Interaktionisten wären die zentralen Figuren innerhalb der Entwicklung dieser Konzeptionen von Subjekt und Identität, die sich inzwischen in der Soziologie als klassisch herausgestellt haben. Die Konzeption des dezentrieften Subjektes leitet sich von den theoretischen Entwicklungen ab, die in ihrer Gesamtheit ein Bild eines Subjekts pro-
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duzieren, das nicht eine permanente oder essentielle Identität besitzt. Die Idee einer umfassenden und einzigen Identität wird hier zu einer Phantasie erklärt. Was existiert, ist vielmehr »a bewildering, fleeting multiplicity of possible identities, anyone of which we could identify with - at least temporarily« (Hall 1992: 277). In diesem Kontext sei das Gefühl, das wir eine einheitliche Identität haben, die uns unser ganzes Leben lang begleitet, auf einer »narrative of the self« gegründet. Durch diese Erzählung werden unsere Erfahrungen einem Kohärenz- und Kontinuitätsfaden zugeordnet. Die Konzeption des dezentfierten Subjektes, so wie sie von Hall entwickelt wird, kann als Weiterführung des theoretischen Projektes von Foucault betrachtet werden, das darauf ausgerichtet ist, die Subsumierung des Subjektes unter die Diskurse aufzuzeigen. Um sein eigenes Konzept zu fommlieren, rekonstruiert Hall (1997b: 41 ff.) die späteren Arbeiten Foucaults und stellt dabei fest, dass die Erzeugung des Subjektes durch die Diskurse auf zwei verschiedenen Ebenen abläuft. Die erste Ebene bezieht sich auf den jeweiligen Moment der Konstruktion und Institutionalisierung eines disziplinierenden Diskurses, der das Subjekt konstituiert, indem er es darin einordnet: »These subjects have the attributes we would expect as these are defined by the discourse: the madman, the hysterical woman, the homosexual, the individualized criminal, and so on.« (Halll997b: 41) Auf einer zweiten Ebene schaffen die Diskurse dennoch einen »Ort für das Subjekt«, indem sie einen Raum für eine eigene Positionierung eröffnen. Das heißt, der Diskurs erhält erst einen effektiven Sinn, wenn wir uns ihm gegenüber positionieren. Dabei konstituieren wir uns als Subjekt im Rahmen des Wahrheitsregimes, das mit einer bestimmten diskursiven Formation korreliert. Diese Positionierung sollte nicht mit einer Autonomie und Intention des Subjekts verwechselt werden: Doch immerhin erlaubt sie es, einen Moment innerhalb des Prozesses der Erzeugung des Selbst zu erfassen, der durch die Selbstkonstituierung- die »subjectivation« - gekennzeichnet ist. Ausgehend von diesem Moment der Selbstkonstituierung im Rahmen der diskursiven Erzeugung des Selbst versucht Hall, die theoretische Konzeption des dezentrierten Subjekts aufzubauen. Es geht darum, die Beziehung zwischen dem Subjekt und der diskursiven Formation zu untersuchen, um zu zeigen »[... ] what the mechanisms are by which individuals as subjects identify (or do not identify) with the >positions< to which they are summoned; as well as how they fashion, stylize, produce and >perform< these positions, and why they 115
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never do, or are in a constant, agonistic process of struggling with, resisting, negotiating and accommodating the normative or regulative rules with which they confront and regulate themselves.« (Hall1996e: 13f.) Der von Hall benutzte Schlüsselbegriff, um diesen Prozess der Positionierung des Subjektes im Kontext einer bestimmten diskursiven Formation zu beschreiben, ist »Artikulation«. Er benutzt ihn in den zwei Bedeutungen, die der Begriff im Englischen hat: Einmal der des Sprechens, des Sichäußems und außerdem im Sinne der Verbindung zweier Elemente, die eine Einheit eingehen können. Dies verdeutlicht er am Beispiel des »articulated truck«, in dem die Fahrerkabine und der Anhänger eine Einheit bilden können. 12 Das Prinzip der möglichen Artikulation kann sowohl anhand des Konstituierungsprozesses des individuellen Subjekts beobachtet werden, das sich permanent gegenüber der diskursiven Formation neu positioniert, als auch anhand der Erzeugung kollektiver Subjekte. Damit besteht die Aufgabe der Theorie genau dahin, die Umstände zu erfassen, unter welchen sich bestimmte Diskurse und Subjekte konstituieren bzw. artikulieren. Eine Theorie der »Artikulation« zielt deshalb auf zweierlei ab, nämlich »[ ... ] both a way of understanding how ideological elements come, under certain conditions, to cohere tagether within a discourse, and a way of asking how they do or do not become articulated, at specific conjunctures, to certain political subjects. Let me put that the other way: the theory of articulation asks how an ideology discovers its subject rather than how the subject the necessary and inevitable thoughts which belong to it; it enables us to think their historical situation, without reducing those forms of intelligibility to their socio-economic or class location or social position.« (Hall 1996b: 141f.) Der Verweis auf kollektive Subjekte sollte nicht die Vorstellung von vordiskursiv konstituierten Gruppen vermitteln, die aufgrund von objektiven und materiellen Bedingungen virtuell existieren, als würden sie lediglich auf einen Diskurs warten, der sie durch Benennung ihrer Gemeinsamkeiten als kollektives Subjekt konstituiert. Subjekte und Diskurse konstituieren sich simultan oder anders gesagt: Subjekte können sich nur über Diskurse artikulieren. Artikulation bleibt für Hall ein streng analytisch-deskriptives Konzept, das auf jegliche Beziehungen 12 Die Konzeption von »Artikulation« entwickelt Hall ausgehend von der Reflexion Emesto Laclaus in dessen Buch aus dem Jahr 1977: »Politics and Ideology in Marxist Theory«. Hall versucht jedoch, von dem Konzept neben einer analytischen Anwendung Alternativen Hir eine politische Intervention abzuleiten (vgl. Slack 1996).
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zwischen Subjekten und diskursiven Formationen angewendet werden kann und nicht a priori determiniett, ob eine bestimmte Positionierung innerhalb einer diskursiven Formation dazu beiträgt, ungleiche Herrschaftsbeziehungen zu reproduzieren oder doch die Verhältnisse zu transformieren. In den Arbeiten von Hall gibt es keinen normativen Ort außerhalb des Diskurses oder des politischen Spiels, von dem aus die Positionen, die vom Subjekt eingenommen werden, bewertet werden könnten. Noch gibt es normative Konstanten, um als Bemessungsparameter zu fungieren, wonach »Gewünschtes« und »Unetwünschtes« theoretisch unterschieden werden, wie etwa bei den in den vorherigen Kapiteln gezeigten Fällen, wo es um die kommunikative Legitimation bei Habermas oder der Reflexivität bei Giddens oder Beck ging. Trotzdem erzeugen die Instrumente des Autors bei ihrer Anwendung auf konkrete soziale Prozesse prägnante Analysen und erlauben es, nicht nur Phänomene zu beschreiben, sondern sie politisch und normativ zu differenzieren.
(Un-)Möglichkeiten einer postkolonialen Soziologie Ausgehend von den Arbeiten Homi Bhabhas versuchte McLennan (2003) die postkolonialen Reflexionen in soziologische Begriffe zu übertragen sowie ihren Einfluss auf die Theoriebildung auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften zu bewerten. Dabei gelangt er zu einem ambivalenten Resultat. Einerseits zeigt er, wie die postkolonialen Studien auf dreifache Weise Positionen der Soziologie in Frage stellen. Erstens entziehen sie einer Soziologie der Unterentwicklung ihre Legimitation, indem sie zeigen, dass diese die materiell ärmeren Gesellschaften immer noch als die unterlegenen und zivilisationsbedürftigen Anderen repräsentiert. Die zweite Form »soziologischen Bewusstseins«, die die postkoloniale Theorie trifft, wäre eine multikulturelle bzw. pluralistische Soziologie, da die postkolonialen Studien die Vorstellung desavouieren, dass es einen unparteiischen Raum für die Repräsentation präexistenter kultureller Differenzen gibt. Die dritte Front, an der die postkoloniale Reflexion die Soziologie angreift, bezieht sich auf deren generalisierenden Theoriestil, der für die Erfassung sozialer Prozesse nicht adäquat sei: »Postcolonial cultural studies, by highlighting perforn1ativitiy and liminality rather than structural positioning and rationahst assessment, offers a wider canvas and a more inclusive sense of the richness of social experience than sociology« (ebd.: 82). Gleichzeitig zeigt McLennan dennoch, dass die postkoloniale Theorie, solange sie einen analytischen
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Anspruch hat, Gefangene desselben Dilemmas ist, dem die Soziologie aufsitzt: Theorie zu bilden impliziert früher oder später, die sozialen Erfahrungen den Prioritäten und konzeptionellen Kategorien des gewählten analytischen Ansatzes anzupassen, wobei die konkreten Erfahrungen reduziert und simplifiziert werden. An dieser Stelle möchte ich eine Annäherung zwischen den postkolonialen Studien und der Soziologie wagen, die sich ein wenig von den Ideen McLennans unterscheidet. Es geht darum, die Radikalität des postkolonialen Diskurses, der sich anti-generalisierend, gegen das Establishment gerichtet und der modernen Soziologie gegenüber herausfordend zeigt, nicht streng beim Wort zu nehmen, sondern als performative Strategie zu begreifen, um neue institutionelle Räume zu erschließen. Das Interesse richtet sich dann darauf, den rhetorischen Nebel des Postkolonialen zu durchstoßen, um herauszufinden, welche neuen Impulse die postkolonialen Studien der Soziologie wirklich vermitteln können. Es sollen hier nicht >>theoretische Stile« oder Erkenntnistheorien miteinander konfrontiert werden, sondern einige Berührungs- und Übersetzungsmöglichkeiten zwischen den postkolonialen Studien und der Soziologie verdeutlicht werden. Zu diesem Zweck sollen die oben analysierten Leitlinien der postkolonialen Kritik nochmals aufgegriffen werden, und zwar: die Kritik an einem teleologischen Modernisierungsbegriff, die Suche nach einem hybriden »site of enunciation« und die »Artikulationen« eines dezentrieften Subjektes. Die Soziologie ist zweifelsohne anfällig gegenüber der postkolonialen Kritik an dem teleologischen Modemisierungsverständnis. Trotzdem scheint es, dass das eigentliche Ziel der Kritik nicht die Soziologie als solche ist, sondern ein besonderer Zweig dieser Disziplin, nämlich die Modemisierungstheorie. Es sei hier gestattet, die Hauptmerkmale der Modemisierungstheorie zusammenzufassen, so wie sie in der Studie von Knöbl (2001) beschrieben werden: i) Die Modernisierung beginnt in Europa mit der industriellen Revolution und erreicht von dort aus die ganze Welt. ii) Obwohl sie ein globales Phänomen ist, wird die Modemisierung im Allgemeinen mit Hilfe strukturell-funktionalistischer Ansätze innerhalb der nationalen Gesellschaften analysiert, die als geschlossene Totalitäten begriffen werden. iii) Der Modernisierungsprozess entspricht einer Transition von traditionellen zu modernen Gesellschaften, »womit eine scharfe Antithese zwischen Modeme und Tradition unterstellt wird«. iv) In den Gesellschaften der »Dritten Welt« herrschen Einstellungen und Werte vor, die als partikularistisch und funktional diffus bezeichnet werden. Sie bilden wichtige Entwicklungshindemisse. 118
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v) Im Gegensatz dazu sind die modernen Gesellschaften wie in Europa und Nordamerika durch säkulare, universelle und leistungsbezogene Werte geprägt. vi) Die Modernisierung ist ein endogener Prozess. Externe Faktoren wie der Imperialismus und die Einbindung in den internationalen Markt werden kaum beachtet. vii) Die Transition in die Moderne entwickelt sich in jeder Gesellschaft linear und uniform (Knöbl 2001 : 32f.). Folgt man Knöbls Untersuchung, so ergeben sich mindestens drei wichtige Konsequenzen für die hier verfolgte Analyse. Die erste betrifft die Häufigkeit, mit der die modernisierungstheoretischen Axiome immer wieder reproduziert werden, selbst in Arbeiten von ihnen gegenüber kritisch eingestellten Autoren, wie zum Beispiel bei den in den vorherigen Kapiteln bereits beschriebenen Fällen. Dementsprechend hat die Modernisierungstheorie als makrosoziologisches Denken auch über die Theorieschule hinaus, die ihre goldene Phase in den 1950er und 1960er Jahren hatte, eine große Lebensdauer und erfährt ein gewisses Revival durch die Globalisierungsforschung ab den 1990er Jahren. Der zweite wichtige Beitrag der Untersuchung Knöbls besteht in dem Nachweis, dass es spätestens seit dem Ende der 1960er Jahre eine Kritik an der Modernisierungstheorie gibt, als nämlich ihr ethnozentrischer und endogener Charakter angegriffen wurde. Ebenso kritisiert wurde die lnterdependenzannahme, wonach von der Modernisierung der Wirtschaft automatisch Transformationen in anderen Bereichen ausgehen würden, wie die Demokratisierung oder die kulturelle Säkularisierung. Der dritte Beitrag der Arbeit Knöbls besteht in der Darlegung, dass sich trotz des entscheidenden Einflusses der Modernisierungstheorie auf die Soziologie in den letzten Dekaden eine makrosoziologische Reflexion gebildet hat, die nicht nur die offensichtlichen Unzulänglichkeiten der Modernisierungstheorie verdeutlicht, sondern das Modernisierungsparadigma überwindet, indem dort eine weder eurozentrische noch evolutionistische Makrosoziologie entworfen wird. Der Autor behandelt dabei die Beiträge von Shmuel Eisenstadt aus Israel, von Johann Pali Arnason aus Island und von Michael Mann aus England. Die drei Autoren kommen von verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen und entwickeln unterschiedliche theoretische Projekte: »Während Eisenstadt eher die interne Logik von Zivilisationen untersucht, betonen Arnason und Mann besonders die interzivilisatorischen Einflüsse bzw. das Wirken von militärisch-kriegerischen, dass heißt exogenen Faktoren. Während für Arnason und Eisenstadt der Begriff der Kreativität eine große, wenn auch je unterschiedliche Rolle spielt, kommt dieser Begriff im Instrumentarium
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Manns schlicht nicht vor« (Knöbl 2001: 445f.). Den gemeinsamen Anhaltspunkt der drei Autoren bildet jedoch ihr Interesse an der komparativen Soziologie sowie die - intendierte oder unintendierte - Suche nach Möglichkeiten, die von der Modernisierungstheorie gezeigten Schwächen zu überwinden. Projiziert man die postkoloniale Kritik an der Sozialwissenschaft auf die Folie einer derartigen Diskussion um die Modernisiemngstheorie, so verliert sie einen Teil ihrer Schärfe. Man stellt fest, dass diese Kritik Probleme angeht, die direkt eine spezifische Strömung der Soziologie betreffen, und sich außerdem gegen Unzulänglichkeiten richtet, die schon vor langem innerhalb der Soziologie selber aufgespürt wurden. 13 Im diesen Kontext beleuchtet die Begrifflichkeit der postkolonialen Theorien eine erkenntnistheoretische Frage, die innerhalb der Soziologie auch behandelt wird. Deshalb sind sie dem Wahrheitsregime der Soziologie gegenüber nicht immun. D.h. trotz ihrer rhetorischen Radikalität konkurrieren diese postkolonialen Ansätze innerhalb der Soziologie mit makrosoziologischen Beiträgen, die nach einer ähnlichen nicht-evolutionistischen Beschreibung der Moderne suchen. Damit bleibt auch eine postkoloniale Soziologie den Bewertungskriterien der Disziplin unterworfen. In dem Maße, in dem sie eine akademische Resonanz beanspruchen, dürfen sich die postkolonialen Studien nicht lange dem Dialog mit konkurrierenden Strömungen entziehen, wobei sie ihre Anti-Establishment-Haltung verlassen. Ihre effektive Einbettung in die Soziologie haben die postkolonialen Studien noch nicht vollzogen. Doch bisher war das postkoloniale Interesse für die soziologischen Beiträge, die die Modernisierungstheorie zu überwinden suchen, nur sehr gering. Hier scheint mir eine stärkere Interaktion erwünscht und viel versprechend. Das zweite Moment der postkolonialen Kritik betrifft die Suche nach einem hybriden Ort des Sprechens im Zwischenraum der kulturellen Grenzen. Die Idee eines außerhalb kultureller Grenzen liegenden dritten Ortes mag zwar als ein Augenblick innerhalb des literarischen Textes ihre Relevanz haben, wie am Beispiel der Unsichtbarkeit der Migrantin gezeigt wurde. Soziologisch erscheint mir der Begriff allerdings jegliche Relevanz zu entbehren. Das heißt, dass es keine dritten Orte innerhalb
13 Damit ist gesagt, dass die postkoloniale Kritik am teleologischen Modemitätsbegriff zwar nicht exklusiv ist, jedoch wichtig, aktuell und notwendig bleibt. Wie Alexander (1995) gezeigt hat, erleben die Axiome der Modernisierungstheorien gerade in den »neomodemen« Ansätzen zur Globalisierung eine Renaissance (vgl. z.B. Oesterdiekhoff 2006, Schmidt 2006). Die postkoloniale Kritik konvergiert also mit Ansätzen in der Soziologie, die den neomodernen Rückgriff auf die Modemisierungstheorie ablehnen und an einer nicht eurozentrischen Makrosoziologie arbeiten.
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der sozialen Topographie gibt - alle »sites of enunciation« definieren sich automatisch innerhalb von Grenzen. In diesem Sinne ist das Lob der Hybridität auch nur ein Diskurs wie der Nationalismus, die Avantgarde oder der Nativismus, und als solcher schafft er neue ldentitätsgrenzen, indem er geäußert wird. Der Hybriditätsdiskurs kann in bestimmten politischen und historischen Umständen den Charakter konstruierter kultureller Einheiten aufdecken. Dies ist allerdings nicht der Natur des Hybriditätsdiskurses inhärent, sondern den Artikulationen, die dieser Diskurs unter bestimmten Bedingungen ern1öglicht: Das gleiche Lob des Hybriden, das einer kultivierten Migrantenelite in England ermöglicht, ihre Tribüne für die berechtigte Kritik an der Britishness aufzubauen, oder in Deutschland, den Anspruch einer Leitkultur zu dekonstruieren (Ha 1999), kann Ideologien fördern, wie das Mestizaje-Konzept in Lateinamerika, die nationalistisch, homogenisierend und fremdenfeindlich sind (vgl. Kap. 5 des vorliegenden Buches, auch Costa 2003a, 2006). Als normativer Anker, also als ein Verweis auf eine vermischte und jeglichem ethnischen Absolutismus fern stehende Weltgesellschaft, kann das Hybriditätskonzept auch nicht überzeugen. Einerseits deshalb, weil der Hybriditätsdiskurs per se nicht gegen die Essenzialisierungen resistent ist; andererseits, weil politische Fragen, wie Friedman zeigt (1997: 88), nicht aufkognitiver Ebene gelöst werden: »Thus, I do not offer a critique of hybrid identities. Their praxis is just as authentic as those they have tended to criticize. What can be criticised, on the other hand, is the attempt to define the identities of others in what runs out to a normative argument. It is only certain cultural elites that are addicted to such empowerment - or rather, se1f-empowerment. In the meantime, the world heads towards increasing Ba1kanisation- not because it is led by illiterate peasants who don't understand that they are all hybrids, not because >people< are misinformed.« Als Makrokategorie einer Globalisierungssoziologie ist das Konzept der Hybridisierung ähnlich inadäquat, da es im Rahmen einer zirkulären Bewegung immer zum Synonym des eigentlich zu erklärenden Prozesses wird. Daraus lässt sich schließen, dass die Begriffe Hybridisierung, Hybrides und Hybridität keinerlei Bedeutung für die Soziologie haben. Die Soziologie kann sich mit dem Hybriden als Diskurs der Akteure beschäftigen, in dem Maße, in dem dieser Diskurs unter bestimmten Umständen Zweifel gegen essenzialistische Gewissheiten einführt und dabei kulturelle Minderheiten zum Handeln bewegt. Doch als normative oder
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analytische Kategorie liegt die Unzulänglichkeit des Ansatzes auf der Hand. Zuletzt soll noch auf den Beitrag des Postkolonialismus zur Diskussion zwischen Subjekt und Differenz, oder genauer, zu einer Mikrosoziologie kultureller Artikulationen eingegangen werden. Hier scheinen die postkolonialen Studien eine theoretische Bedeutung zu haben, die über bestimmte Forschungsschwerpunkte wie etwa nationale Minderheiten, ethnische Beziehungen oder Rassismus hinausgehen. Doch wenn sich die Debatte um das dezentrierte Subjekt von den »rhetorical excesses of literary post-structuralism« (Gilroy 1993: 110) entfernt und zum imperativ der politischen 14 Stellungnahme hinbewegt, wie Gilroy und Hall es vorschlagen, so ergibt sich daraus ein innovativer Ansatz für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Differenz und Politik, welcher zwei übliche Irrtümer vermeidet: Die postmoderne Versuchung, das Subjekt wegzudenken und die gegenteilige These, die zu einer Verdinglichung des »modernen Subjekts« führt - wie etwa bei Tonraine (1997). 15 Da hiervon besonders wichtige analytische Impulse für die Untersuchung der Identitätskonstruktionen ausgehen, die sich im Rahmen der Transnationalisierung des Antirassismus auswirken, wird diese Diskussion in Kapitel 4 weiterverfolgt
14 Dies bedeutet selbstverständlich keine Abwertung der Theorie, sondern wie Hall (2000: 42) zeigt, die Feststellung unlösbarer Spannungen zwischen Theorie und Politik: »Es geht nicht um Anti-Theorie, sondern es geht um die Bedingungen und Probleme bei der Entwicklung von theoretischer Arbeit als einem politischen Projekt.« 15 Eine eingehendere Kritik des Subjektbegriffs Tonraines würde den hier gebotenen Rahmen sprengen. Es sei allerdings erlaubt, zu erwähnen, welche politischen Konsequenzen er aus seinem Subjektbegriff zieht. Im Rahmen der Debatte um den Multikulturalismus plädiert Touraine (1997) dafür, dass es bei der normativen Bewertung einer bestimmten Kultur auf die Bedingungen flir die Subjektkonstituierung ankommen solle, d.h. anerkennungswürdig sind diejenigen Kulturen, die einen Raum für die Subjektentfaltung eröffnen. Dabei jedoch entspricht das Subjekt nach seiner Definition ausschließlich dem »modernen«, reflektierenden Subjekt, das befähigt ist, Konflikte argumentativ auszudiskutieren. Aus seiner Position ergibt sich also die normative Verurteilung aller »anderen« Kulturen, die dem »westlichen« Subjektkonzept nicht gerecht werden.
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Kapitel 4. Zwischenbilanz: Diaspora, 8/ack Atlantic, transnationale Handlungszusammen hänge
In vorliegendem Kapitel handelt sich darum, die bislang gesammelten Argumente zu bündeln, um zum einen diejenigen Elemente und Kategorien zu verdeutlichen, die in der folgenden Fallstudie zum Einsatz kommen. Überdies gilt es, jene theoretischen Verdichtungspunkte hervorzuheben, die durch das Fallbeispiel besonders beleuchtet werden können. Dafür werde ich zunächst näher auf die von Paul Gilroy und Stuart Hall ausgeführten Thesen zur Artikulation von Differenzen eingehen und dabei zeigen, welche Verbindungen sich zwischen lokalen und globalen Konstellationen knüpfen lassen. Daran anschließend wird das Konzept transnationaler Handlungszusammenhänge formuliert, als analytischer Ausgangspunkt jener Prozesse und Dynamiken, deren Umfang und Logik über die nationalstaatliehen Grenzen hinausgehen.
Artikulationen der Diaspora: der Beitrag von Stuart Hall und Paul Gilroy Für Autoren wie Gilroy und Hall, die ihre Theorie an keinem Ort außerhalb diskursiv konstruierter Realität normativ verankern wollen, stellt sich die Herausforderung, den Charakter laufender Transformationen einzuschätzen und zu bewerten. In der Begrifflichkeit beider Autoren besteht diese Herausforderung darin, unter den multiplen Artikulationsund Reartikulationsformen der Differenz jene, die hegemoniale Kategorisierungen lediglich bestätigen, von denjenigen zu unterscheiden, die etablierte Zuschreibungen und Essentialismen unterlaufen. Beide Auto123
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ren greifen auf die Geschichte antirassistischer Bewegungen als Fluchtpunkt zurück, von dem aus eine kritische Perspektive entwickelt wird.
Hall und die Politics of Representation Die Kategorien, die seine politische und normative Bewertung neuerer Transformationsprozesse ermöglichen, entleiht Hall den Erfahrungen des englischen black antiracism der vergangenen vier Jahrzehnte. Im Zentrum stehen dabei die Konzepte Repräsentationspolitik (politics of representations) und neue Ethnizitäten (new ethnicities). Eingangs unterscheidet der Autor zwei Phasen im kulturellen Widerstand gegen Rassismus: Im Zuge der ersten Phase wird der Terminus black zum gemeinsamen Bezugspunkt für Ausgrenzungserfahrungen und die in Großbritannien vorherrschenden rassistischen Praktiken bzw. für den Widerstand gegen diese. Zu jener Zeit bestanden die Widerstandsstrategien vor allem aus dem Versuch, Bildern von »marginality, the stereotypical quality and the fetishized nature of images of blacks« eine »counter-postion of a >positive< black imagery« entgegenzusetzen (Hall 1996c: 442). Hall zufolge stehen im Mittelpunkt antirassistischen Widerstands in dieser ersten Phase die Repräsentationsverhältnisse (relations of representation), während in der zweiten Phase die Repräsentationspolitik (politics of representation) dominieren. Der Begriff politics of representation begründet sich im diskursiven Charakter des Sozialen und setzt voraus, dass Repräsentationen nicht lediglich eine öffentliche Darstellung gegebener Wirklichkeiten, sondern ein konstitutives Moment sozialer Wirklichkeit sind. Damit zielt die Repräsentationspolitik darauf, nichts weniger als die Grundlagen des Sozialen selbst zu verändern. In dieser zweiten Phase interagiert der Antirassismus mit postmodernen und poststrukturalistischen Diskursen wie auch mit der Psychoanalyse und dem Feminismus, woraus sich für Hall »the end of innocence« ergibt, also die Erkenntnis, dass die Kategorie black eine politische und kulturelle Konstruktion ist, >>which cannot be grounded in a set of fixed trans-cultural or transeendental racial categories and which therefore has no guarantees in nature« (ebd.: 443). Die Auflösung eines zentrierten und als positive Ganzheit dargestellten Subjekts (black people) zwingt die Bewegung dazu, sich der Frage der Differenz und auch der difjerance zu stellen: Ordnen die rassistischen Repräsentationsformen die Welt in ontologische binäre und rigide Differenzen- schwarz oder weiß, »black or British« - ein, so kann sich eine antirassistische Politik nicht darauf beschränken, die als untergeordnet gewertete Seite von nun an einfach positiv zu repräsentieren. Stattdessen muss das Rep-
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räsentationssystem als solches gestürzt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, an der internen Heterogenität und der Dezentrierung des black subject anzusetzen: Es geht um die Suche nach einer multiplen dijferance innerhalb der binären Differenz (schwarz-weiß) sowie um die Markierung von Berühmngszonen zwischen »races«, klassen-, geschlechtsspezifischen oder ethnischen Differenzen. Erst im Zuge der Artikulation dieser Differenzen - die alle als beweglich, verschieb- und veränderbar gekennzeichnet sind - entsteht das Subjekt, das gegen den Rassismus Widerstand leisten kann. An dieser Stelle rückt das Konzept Ethnizität oder besser, neue Ethnizitäten, in den Vordergrund, denn dieser Begriffbenennt gerrau den wandelbaren Artikulationsmodus von Differenzen. Mit dem Attribut »neu« verweist Hall auf diesen (selbst-)artikulierten Charakter im Unterschied zu fremddefinierten Differenzen, wie etwa die Nationalität oder die festgelegte Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft, wie multikulturalistische Ansätze es tun. Der Ausdruck Ethnizität entstand im englischen Sprachraum in den 1950er Jahren und benennt die konstruierten Gemeinsamkeiten zwischen denjenigen, die eine ethnische Gmppe bilden. Hutchinson/Smith (1996) gliedern die unterschiedlichen Ansätze zum Thema Ethnizität in zwei Strömungen, die der Primordialisten und die der Instrumentalisten. Der ersten Strömung zufolge besitzt Ethnizität einen verbindlichen, zwingenden Charakter, die Ethnizität ist dem Einzelnen immer vorangestellt. Für die Instrumentalisten dagegen ist Ethnizität eine soziale, politische und kulturelle »Ressource«, deren Inanspruchnahme mit der »ability of individuals« zusammenhängt, »to >Cut and mix< from a variety of ethnic heritages and cultures to forge their own individual or group identities« (ebd. : 9, vgl. auch Wade 1997: 12ff.). Nach der Klassifizierung von Hutchinson/Smith gehört Stuart Hall zu den Instmmentalisten, eine Einstufung, die Hall jedoch nicht gerecht wird. Denn der Autor entfernt sich zwar insofern von den Primordialisten, als er darauf verweist, dass jede Vorstellung einer wesenhaften Ethnizität - wie im Fall der zelebrierten Englishness oder der Idee einer als Variation des Multikulturalismus behaupteten Multi-Ethnizität - die Kontingenz kultureller Grenzen ausblendet. Dennoch setzt die Instrumentalismusthese ein zentriertes Subjekt voraus, das vor der Ethnizität bereits existiert und diese nach seiner eigenen Zweckmäßigkeit manipulieren kann. Dies jedoch scheint bei den new ethnicities nicht der Fall zu sein. Vielmehr begreift Hall den Begriff Ethnizität als einen beweglichen Bezugspunkt und nicht als Komplex, der alle übrigen Differenzen aufnimmt und neutralisiert. Geht man von der Unterscheidung zwischen Primordialisten und Instrumentalisten aus, so muss man entweder von einer Ethnizität aus125
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gehen, die bereits vor allen individuellen Entscheidungen besteht und die Menschen in der Welt verortet, oder man hätte sich ein Subjekt vorzustellen, das vor der Ethnizität existiert und seine eigene kulturelle Identität autark formuliert. Meiner Einschätzung nach lehnt Hall jedoch beide Möglichkeiten ab: lhm zufolge konstituieren sich Subjekt und Ethnizität gegenseitig und simultan. Ethnizität ist also der kontingente Diskurs, der es ermöglicht, dass sich das Subjekt den Umständen entsprechend artikuliert und provisorisch positioniert. Die Tatsache, dass Differenzen aus multiplen Achsen hervorgehen und dass die eigene Positionierung provisorisch ist, wird am Beispiel der Artikulation einer schwarzen (neuen) Ethnizität in England deutlich: »[... ] But it is to the diversity, not to the homogeneity, ofblack experience that we must now give our undivided creative attention. This is not simply to appreciate the historical and experimental differences within and between communities, regions, country and city, across national cultures, between diasporas, but also to recognize the other kinds of difference that place, position, and locate black people. The point is not simply that, since our racial differences do not constitute all of us, we are always different, negotiating different kinds of differences - of gender, of sexuality, of class. lt is also that these antagonisms refuse to be neatly aligned; they are simply not reducible to one another; they refuse to coalesce around a single axis of differentiation. We are always in negotiation, not with a single set of oppositions that place us always in the same relation to others, but with a series of different positionalities.«1 (Hall 1996d: 473)
Bislang wurden die Repräsentationspolitiken als eine Positionierung des Subjekts außerhalb binärer hegemonialer Differenzierungssysteme erklärt. Hall zeigt jedoch, dass gezielte Eingriffe auch zu Veränderungen innerhalb der hegemonialen Repräsentationssysteme führen können, wie am Beispiel der Darstellung der schwarzen Männlichkeit durch die weißen Britten deutlich wird. Hall zufolge werden schwarze Männer dort durchweg ambivalent repräsentiert: Einerseits wird ihnen ein geringes moralisches und intellektuelles Entwicklungsniveau zugeschrieben. Sie Der Begriff neue Ethnizitäten, der zuerst im Kontext der antirassistischen Mobilisiemngen in Großbritannien zur Anwendung kommt, wird von Hall nach und nach auf neue kulturelle Artikulationen übertragen, die mit jüngeren transnationalen Migrationen zusammenhängen. Damit sei natürlich nicht behauptet, dass jede kulturelle neu formierte Identität durch die Anerkennung ihrer eigenen Kontingenz und Unbeständigkeit gekennzeichnet ist. Die Verschiebung kultureller Grenzen kann auch dazu führen, dass Akteure entstehen, die die Strategie einer wesenhaften Identität verfolgen. Dabei werden dann die Grenzen Wir/die Anderen festgesetzt, womit alle weiteren bestehenden Differenzen ausgeblendet werden (Hall 1997c).
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werden auf einer Stufe mit kleinen Kindern verortet Gleichzeitig wird die Phantasie angeregt, dass Schwarze als übersexualisiert (oversexed) erscheinen. In diesem Fall zielt die Repräsentationspolitik darauf ab, ausgehend von den eigenen Kategorien des hegemonialen Repräsentationssystems das System ins Schwanken zu bringen. Dabei handelt es sich um Strategien, die die Duplizität des imaginierten Schwarzen als kindisch und zugleich oversexed zum Vorschein bringen. Anstatt die stereotype etablierte Repräsentation zu bekämpfen, besteht der subversive Gehalt also darin, durch die Zuspitzung eine Differenz zu offenbaren, die bislang stillschweigend zugeschrieben wird. Eine von Hall kommentierte kulturelle Strategie hierfür ist beispielsweise eine Fotoausstellung, in der schwarze Männer mit einem überproportionierten Penis gezeigt wurden. Dahinter stand die Intention, dass die Betrachter der Bilder sich bei ihren eigenen Phantasien über die Übersexualisierung der Schwarzen ertappt fühlen sollten (Hall1997c: 274). Das ist kein Einzelbeispiel, allgemein nutzen die palifies of representation den Körper - in seinem Styling, seiner Performativität und seiner (Re-)Konstruktion - als privilegiertes Vehikel ihrer Umsetzung. ich komme weiter unten nochmals darauf zurück.
Paul Gilroy und der B/ack Atlantic Die Rede von einem schwarzen Atlantik als einem imaginierten kulturellen Raum, der auf die Sklaventransporte von Afrika in die Amerikas zurückgeht, stellt an sich kein Novum dar. Diese Idee hat ihren festen Platz in der modernen Historiographie, komplementär zu der Vorstellung eines atlantischen Dreiecks, das die Macht- und Herrschaftsbeziehungen sowie den Personen- und Güterverkehr im Rahmen Afrika, Amerika und Europa verkörpert2 .
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Brasilien stellt die Kolonie in den Amerikas dar, die die höchste Anzahl versklavter Afrikaner aufgenommen hat, danach folgen die britische und die französische Karibik, Hispanoamerika und Nordamerika. Die Ausbreitung afrikastämmiger Menschen in andere Regionen hat die moderne kulturelle und politische Geschichte wie kaum ein anderes Ereignis geprägt. Seitdem entwickelt sich die Geschichte der afrikanischen Diaspora parallel zu den nationalen Erzählungen. Unterschiedliche Ereignisse wie etwa der durch die US-afroamerikanische Bevölkerung unterstützte Widerstand Äthiopiens gegen die italienische Okkupation in den 1930er Jahren (Harris et al. 1996) oder die weltweite Verbreitung des Hip-Hops seit den 1980er Jahren bilden markante Episoden dieser parallelen Geschichten. 127
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Doch in Gilroys Prägung hat die Idee eines Black Atlantic eine neue politische Konnotation hinzugewonnen, die bislang unbehandelt geblieben war. Die erste Bedeutung, die Gilroy dem Black Atlantic zuschreibt, ist empirisch-beschreibender Natur. Hier bezieht sich Black Atlantic auf den Verbreitungs- und Rekonstruktionsprozess einer »black culture«, die mit der Bewegung der afrikanischen Diaspora einhergeht3. Dennoch handelt es sich nicht um ein panafrikanisches Projekt, das mit einer symbolischen Rückkehr nach Afrika zusammenhängt. Im Gegenteil: Gilroy kritisiert afro-zentrische Vorstellungen und zeigt, dass die kultureBen Manifestationen im Rahmen des Black Atlantic immer neue (Re)Kombinationen und Erfindungen darste11en. Deren Wert und Authentizität liegen wiederum nicht in der Treue zu einer gemeinsamen und gleich gebliebenen afrikanischen Herkunft begründet. Viel wichtiger sei die Entstehung neuer intersubjektiver Räume, in denen Erfahrungen und neue Schöpfungen ausgetauscht werden. Damit stellt der Black Atlantic einen kritischen Bezug zu puristischen Identitätskonzepten dar, die von zeitlosen, aus konkreten sozialen Kontexten herausgelösten Kulturen ausgehen: »Diaspora is a useful concept because it specifies the pluralization and nonidentity of the black identities without celebrating either prematurely. It raises the possibility of sameness, but it is a sameness that cannot be taken for granted. ldentity must be demonstrated in relation to the alternative possibility of differentiation, because the diaspora logic enforces a sense of temporality and 3
Der Begriff Diaspora findet eine immer breitere Anwendung im Rahmen der Diskussion um neue transnationale Solidaritätsnetzwerke, die auf der symbolischen Ebene keinen eindeutigen oder zumindest exklusiven Bezug zu ihrem geographischen Lebensraum haben (für einen Überblick Braziel/Mannur 2003). Dies ist der Fall transnationaler Migranten, die zwischen mehreren Regionen leben. Weckt der Begriff Diaspora (wie auch der Diskurs datüber) zunächst vor allem Erinnerungen an die jüdische Diaspora, so erhält das Konzept insofern einen eindeutig kosmopolitischen Appellcharakter, als es kulturelle Bindungen und politische Loyalitäten betont, die gegen Assimilationsversuche und Nationalismen resistent sind (Clifford 1994: 308). Anthias (1998: 558) steht dem Konzept allerdings kritisch gegenüber, da dieses der Autorirr zufolge »whilst focusing on transnational processes and commonalities, does so by deploying a notion of ethnicity which privileges the point of >origin< in constructing identity and solidarity«. Auch wenn hier auf die Argumentation von Anthias nicht näher eingegangen werden kann, so scheint mir ihre Kritik dennoch nicht haltbar, da in den neueren Diaspora-Ansätzen nicht die angeblich gemeinsame Herkunft, sondern die Entwicklung eines gemeinsamen Vokabulars für den Erfahrungsaustausch innerhalb der Diaspora im Mittelpunkt des Interesses steht.
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spatiality that underscores the fact that we are not what we were.« (Gilroy 1995: 23)
Unterschiedliche Verbindungen und Strukturen sorgen für den kulturellen Austausch innerhalb des Black Atlantic. Die konkreten, sowohl symbolischen als auch materiellen, Beziehungen zwischen den drei Kontinenten werden dabei stets evident, wie Gilroy (1994: 249) im Fall schwarzer Briten veranschaulicht, die ein enges Verhältnis zur Karibik aufgebaut haben, um über Amerika eine Brücke zu Aftika zu schlagen. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Entstehung eines transatlantischen Marktes für die »black culture«. Dieser Markt ist mit den Präferenzen der »white audiences« gekoppelt und beteiligt sich an der Konstruktion einer schwarzen Ästhetik, die zentrale Elemente einer »black fashion« in der Kleidung oder im Haarschnitt als »cool« umdeutet (ebd.: 247). Der kollektive Musikkonsum stellt einen Eckpfeiler des Black Atlantic dar, wobei die Plattenläden zu einer Art Volksarchiv werden. Das Radio sowie die »Clubs« fungieren ebenfalls als Multiplikatoren einer schwarzen Kultursprache (ebd.: 252). Zwar erkennt Gilroy die Rolle kollektiver Konsummuster in der ästhetischen Konstruktion des Black Atlantic an, er lehnt aber zugleich die postmoderne skeptische Haltung ab, die die »schwarze Kultur« mit einem unpolitischen Pasticcio gleichsetzt. Schließlich ist der Black Atlantic seit der Sklaverei von weitreichenden ethisch-politischen Ansprüchen geprägt: Sklavenrebellionen und noch eindeutiger die Haitische Revolution vor 200 Jahren gelten hierfür als Belege. Auch die Rolle der Musik im Rahmen des Black Atlantic muss historisch kontextualisiert werden. Nach Gilroy können die Musik und die mit ihr einhergehenden Tanz- und Bewegungsformen als Ersatz für die öffentliche Kommunikation durch Sprache betrachtet werden: Dem Sklaven, der von der dialogisch organisierten bürgerlichen Welt völlig ausgeschlossen war, blieb der Körper als einziges Ausdrucks- und Kommunikationsmedium. Dies führt zur zweiten, der politisch-normativen Verwendung des Konzepts Black Atlantic. Gilroy legt dar, dass das Konzept Black Atlantic einer verdrängten Dimension der Moderne entspricht: Demnach sei die Sklaverei ein Stiefkind, das die moderne Geschichte immer schon verstecken wollte. Daher zielt das politische Projekt der afrikanischen Diaspora nicht nur darauf ab, die Partizipationsrechte für die Nachfahren von Sklaven an der modernen Politik umzusetzen. Es handelt sich zudem darum, im Einklang und komplementär zu dem, was die Feministinnen leiste(te)n, den Aufbauprozess moderner politischer Institutionen zu hinterfragen. Dabei muss moderne Politik im Kern als privilegierter
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Raum zur Reproduktion von Ansichten und Interessen des weißen Mannes begriffen werden. Indem sich die Politik auf die Vormachtstellung diskursiver Kommunikation gründet, Ethik und Ästhetik bzw. Rationalität und Petformanz entkoppelt und überdies noch im nationalstaatliehen Rahmen verhaftet bleibt, entscheidet sich das politische Spiel a priori zugunsten jener Gruppen, die die Produktions- und Reproduktionsmechanismen der Diskurse, die im jeden einzelnen Nationalstaat als legitim konstruiert wurden, kontrollieren. Dagegen entfaltete sich die Geschichte der afrikanischen Diaspora außerhalb der institutionellen Politik und bediente sich vornehmlich der Performanz, des Tanzes und der Musik als konstitutiver Ressourcen. Zudem konnte die afrikanische Diaspora seit ihren Anfangen in der nationalen Dynamik moderner Politik niemals erschöpfend repräsentiert werden. Daraus resultiert eine unlösbare Spannung in den NationBuilding-Prozessen auf dem amerikanischen Kontinent: Angesichts der Suche nach ethnischer Homogenität innerhalb jeder Nation wurden die Sklaven und ihre Nachfahren, insofern sie als biologisch und intellektuell minderwertig konstruiert wurden, zu einer Gefährdung nationaler Konstituierungsprojekte. Hierbei entsteht eine Einbindung in die moderne Geschichte, die Gilroy anlehnend an Du Bois »doppeltes Bewusstsein« nennt: Einerseits werden die Schwarzen als integraler Bestandteil moderner Geschichte begriffen, andererseits wurden bzw. werden sie von der Innenpolitik auf der nationalstaatliehen Ebene systematisch ausgeschlossen.4 Die Kritik an der Moderne, die aus der politischen und kulturellen Formation des Blaek Atlantie hervorgeht, folgt gleichfalls einer doppelten Strategie: Sie versucht zunächst, die Teilnahme schwarzer Bevölkerung innerhalb nationaler Zivilgesellschaften und Öffentlichkeiten zu fördern. Zugleich aber stellt sie die Legitimität formeller Politik in Frage, indem sie die partikularistischen Konstituierungsbedingungen derselben offenlegt Dieser doppelten Strategie entsprechen zwei politischen Codes, die Gilroy zufolge innerhalb des Blaek Atlantie in einem Spannungsverhältnis koexistieren: die palifies affulfilment und die palifies aftransflguratian. Die Politik der Erfüllung geht von den etablierten
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Berking (2000) ist einer der wenigen Autoren im deutschen Sprachraum, die den soziologischen Nutzwert des Begriffs Diaspora untersucht. Er geht jedoch davon aus, dass die Autoren, die auf die Kategorie zurückgreifen, die Bedeutung des Nationalstaats systematisch unterschätzen. So plausibel dieser Kritikpunkt erscheint, so wenig ist Gilroys Ansatz davon betroffen: Denn Gilroy zufolge konstituiert sich der Black Atlantic durch die Spannung zwischen emanzipatorischen kosmopolitischen Ansprüchen und der Einbeziehung in die nationale Politik.
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politischen Regeln aus und zielt darauf ab, die Gleichberechtigungsversprechen jenseits rassistischer Zuschreibungen für alle Gruppen zu verwirklichen. Die Transfigurationspolitik dagegen basiert auf den utopischen Energien und wird aus Solidarisierungs- und Gesinnungsritualen gespeist, die nicht in die Sprache institutionalisierter Politik übersetzbar sind. Es handelt sich hier also nicht um einen bloßen modernen Gegendiskurs, sondern um eine Gegenkultur, die die Brüche in der Moderne anprangert: »The politics of fulfilment practised by the descendants of slaves demands [... ] that bourgeois civil society live up to the promises of its own rhetoric. lt creates a medium in which demands for goals like non-racialised justice and rational organisation ofthe productive processes can be expressed. lt is immanent within modernity and is no less a valuable element of modernity's counter-discourse for being consistently ignored. [... ] The invocation of utopia references what, following Seyla Benhabib's suggestive Iead, l propose to call the politics of transfiguration. This emphasizes the emergence of qualitatively new desires, social relations, and modes of association within the racial community of interpretation and resistance and between that group and its erstwhile oppressors [ ... ]. The politics of fulfilment is mostly content to play occidental rationality at its own game. lt necessitates a hermeneutic orientation that can assimilate the semiotic, verbal, and textual. The politics of transfiguration strives in pursuit of the sublime, struggling to repeat the unrepeatable, to present the unpresentable. lts rather different hermeneutic focus pushes towards the mimetic, dramatic, and performative.« (Gilroy 1993: 37f., Herv. im Originaltext) Der Vorschlag Gilroys läuft also darauf hinaus, dass die Gegenkultur des Black Atlantic nicht als ein bloßes künstlerisches und kulturelles Phänomen aufgefasst wird, sondern als philosophischer Diskurs, der die Moderne reinterpretiert und ihre Geschichte aus der Perspektive derer erzählt, die in den nationalen Narrativen mit ihren weißen Helden stets abwesend waren. Dabei sei noch einmal betont, dass es sich hier weder um eine Apologie der Zugehörigkeit zur Diaspora noch um eine Homogenisierung multipler Erfahrungen, die die Diaspora konstituieren, handelt5. Was die singuläre Gemeinsamkeit in der Diaspora bestimmt, ist
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Sansone (1995: 66f.) zeigt, dass »die schwarzen Bevölkerungen in der Neuen Welt sowie die karibische Diaspora in Europa eine Vielzahl schwarzer Tdentitäten und Kulturen hervorbrachten, welche sich einerseits auf ein lokales System ethnischer Beziehungen, andererseits auf internationale und internationalisierende Phänomene beziehen.« Gemeinsame Auslöser kultureller Mobilisierungen sind die »weiße Negrophobie«, die Perzeption der Diskriminierung sowie eine bestimmte »öffentliche Um-
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keine vorpolitische oder vorkulturelle Eigenschaft: Nicht der schwarze Körper verbindet die Menschen in der Diaspora, sondern vergleichbare Ausgrenzungserfahrungen, die die Träger eines schwarzen Körpers in verschiedenen modernen Gesellschaften durchleiden: »Phenotype has no natural meaning anterior to its mutable historical and cultural codes. The process ofsignification is the only issue« (Gilroy 1997: 29).6
Körper und Differenz indem sie das Verhältnis zwischen Körper, Differenz und Repräsentation untersuchen, leisten die postkolonialen Studien einen unentbehrlichen Beitrag zur zeitgenössischen Soziologie. Diese ist zwischen zwei Strömungen gefangen: Der foucaultschen Vorstellung eines hinnehmenden Körpers, der durch die disziplinierende Macht beliebig kommandierbar ist, und der postmodernen hedonistischen Sichtweise, nach der der Körper gemäß den subjektiven Präferenzen zum endlos formierbaren Konstrukt wird7 . Hall und Gilroy dagegen entwerfen ein differenziertes Bild des Körpers, der sowohl im Mittelpunkt von Herrschaftsrepräsentationen steht, die die Inferiorität eines konstruierten Anderen kulturell prägen, wie auch zum Instrument »subalterner« Widerstandsstrategien wird. Seit Anfang an insistieren die postkolonialen Studien darauf, dass in jeder Definition des Anderen eine körperliche Einschreibung enthalten ist. Der Körper wird zu einer absoluten Differenz, die dem Anderen eine
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gangsform mit dem schwarzen Körper (die Mode, das Haar, bestimmte mimische Elemente)« (ebd.: 80). In seinen jüngeren Arbeiten wendet sich Gilroy gezielt gegen diejenigen, die über die historischen und kulturellen Ligaturen des Black Atlantic hinaus eine biologische Gemeinsamkeit zwischen allen Schwarzen hervorheben wollen. Dabei zeigt Gilroy (1998, 2000), dass das Konzept »race« selbst wenn antirassistische Bewegungen darauf rekurrieren - zu einer Essenzialisierung und De-Historisierung der Zugehörigkeit zur Diaspora flihrt. Damit begeht man eine Apologie des schwarzen Körpers, als wäre er per se Träger einer unkorrumpierbaren Identität, die jenseits kultureller Deutungsprozesse liegt. Ein weiterer zentraler Aspekt in Gilroys neueren Arbeiten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, ist das Aufkommen neuer Untersuchungs- und Mutationstechnologien, die der so genannten »raciology« die materiellen Grundlage entzieht, da diese von sichtbaren und messbaren Körpermerkmalen ausgeht. Demzufolge geht es bei den heutigen Körperwissenschaften nicht um visuelle äußerliche Informationen - die Hautfarbe, die Schädel- oder Nasenform etc. - sondern um das körperliche Innen: die Organe und die genetischen Kodierungen. Die weiter oben behandelte Theorie der reflexiven Modemisierung löst dieses Problem nicht, da sie den Körper dem »reflexiven Selbst« unterordnet.
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festgelegte Position in der Gesellschaft zuschreibt: »Je ne sms pas l'esclave de >i'idee< que !es autres ont de moi, mais de mon apparäitre. [ ... ]Je suis.fixe« (Fanon 1965: 113, zuerst 1952). Im Aufbau von Herrschaftsbeziehungen werden körperliche Unterschiede also als unübe1windbarer Beweis dafür angeführt, dass die Menschen konstitutiv ungleich sind. Aus dieser Perspektive wird der Körper, verstanden als Set willkürlich ausgewählter Merkmale, zur letzten unassimilierbaren Hürde gemacht. In ihm finden Herrschaftsrepräsentationen eine visuelle Veranschaulichung, wobei kulturell konstruierte Hierarchien greifbar werden: »The >difference< of the post-colonial subject by which s/he can be >othered< is feit most directly and immediately in the way in which the superficial differences of the body and voice (skin colour, eye shape, hair texture, body shape, language, dialect or accent) are read as indelible signs of the >natural< inferiority oftheir possessors.« (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1995: 322)
Zugleich ist der Körper, so die postkolonialen Studien, ein zentraler Bestandteil der subjektiven Artikulation gegen die Herrschaftsverhältnisse, i.e. die Artikulation der differance weist eine eindeutig körperliche Dimension auf. Sich positionieren heißt sich darstellen, also Performanz, mit dem Körper und seiner Beweglichkeit. Denn in den Repräsentationssystemen gibt es keinen neutralen, deutungslosen Ort für den Körper, der Körper ist immer ein gedeutetes Zeichen. Umdeutungen bestehender Unterdrückung implizieren allerdings nicht notwendig die Konstruktion von Körperrepräsentationen, die den dominanten Repräsentationen nicht nur spiegelverkehrt entgegenstehen. Die bloße Umkehrung einer Repräsentationswelt bricht ihre interne Logik nicht (Shohat 1992). Es handelt sich hier vielmehr um die Notwendigkeit, das Triviale zu verfremden und einen Prozess der Bedeutungskonstruktion zu »stören«, aus dem Machtpositionen als selbstverständliche und fixierte Größe hervorgehen. Es geht schließlich darum, wie im Fall der erwähnten Fotoausstellung, ein Produktionssystem symbolischer Gewissheiten zu destabilisieren. Wie komplex und schwierig die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Körper und Differenz ist, verdeutlicht Gilroy in seinen Ausführungen zu den Ambivalenzen, die mit der neueren Darstellung schwarzer Körper in den Massenmedien assoziiert sind. So sei es jüngst in den englischsprachigen Medien zu einer bedeutungsvollen Verschiebung gekommen: Breakdance-Tänzer werden kaum noch gezeigt, stattdessen treten Schwarze nun vor allem in Werbespots von Sportartikeln auf. Während allerdings Breakdance einen »broken, twisted and vulne-
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rable« schwarzen Körper darstellte, zeigen die Werbebilder heute einen supermächtigen, geradezu unmenschlichen Körper, der Gefahren überwindet und seine Gegner besiegt (Gilroy 1997: 23). Dabei verbindet die kommerzielle Botschaft zwar vermeintlich positive Eigenschaften mit dem schwarzen Körper (Kraft, »Power«, Vitalität, Leistungsfahigkeit, Potenz), jedoch verfestigt sie dabei rassistische Zuschreibungen, indem sie phänotypische Merkmale mit angeblich angeborenen Fertigkeiten koppelt. An die Stelle verhandel- und artikulierbarer Differenzen treten hier feste, fixierte Attribute, die nicht der Sphäre der Kultur sondern der Biologie entstammen. Es ist, als ob die einst durch die Unsichtbarmachung determinierte Exklusion der Schwarzen von der bürgerlichen Öffentlichkeit nun durch die Hypervisibilisiemng fortgesetzt würde. Der schwarze Körper, einst versteckt, wird jetzt als essenzialistische Differenz ausgestellt. Dieser Körper, der dabei zum Vorschein kommt, hat freilich wenig mitjenem Subjekt zu tun, das sich im Rahmen des Widerstands gegen die Marginalisierung und die Ausgrenzung artikuliert hat. Es handelt sich um einen von seiner Historizität und seinen aufständischen Gehalt entleerten Körper: Dieser Körper besitzt nunmehr nur noch eine visuelle und sensorielle Dimension; er sei eine willkürliche Kombination von Farbe, Form und Bewegung geworden.
Trans nationale Hand I ungs kontexte Es war bislang von einer Reihe von Kategorien die Rede, die eine Antwort auf die Herausforderung darstellen, Prozesse jenseits des Nationalstaats, der analytischen Einheit der Sozialwissenschaften par excellence, zu erfassen. Einige dieser Kategorien beschreiben die Dynamik globaler Transformation, andere erfassen hingegen Subjekte und Strukturen, die sich im Rahmen gegenwärtiger Transformationsprozesse jenseits nationaler Grenzen bilden. Kosmopolitisiemng (Beck), Globalisiemng (Giddens), Hybridisiemng (Pieterse) sind Kategorien des ersten Typus. Weltbürgergesellschaft, Weltrisikogesellschaft, Diaspora gehören zu der zweiten Kategoriengruppe. Dabei habe ich zu zeigen versucht, dass die Kategorien des ersten Typus einen immanenten und irreparablen Defekt aufweisen: Sie reduzieren sämtliche unter dem Stichwort Globalisierung erfasste Transformationen auf eine einzige Dynamik. Und selbst wenn sie rhetorisch den nicht-linearen Charakter gegenwärtiger Transformationen betonen, scheinen sowohl Beck als auch Giddens und Pieterse zu glauben, dass Konzepte wie Kosmopolitisierung, Reflexiv-Werden oder Hybridisierung nicht nur die meisten, mit der Globalisierung verknüpften (sozia134
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len) Prozesse erfassen, sondern dass sie überdies auch die Zielrichtung dieses Weges anzeigen, also sagen können, wohin die gegenwärtigen Transformationen letztendlich führen. Diese sind jedoch derartig differenziert, dass jeder Versuch, diese unter eine einzige Kategorie zu subsumieren, so abstrakt und flexibel diese Kategorie auch sein mag, zu einer willkürlichen Selektion bestimmter Dynamiken und zum Ausschluss anderer Aspekte führen muss. Aus diesem Grunde muss auf die Suche nach einer zentralen Transformationsachse, die alle anderen Transformationen enthält, verzichtet werden. Stattdessen ist der fragmentierte und plurale Charakter gegenwärtiger Dynamiken anzuerkennen, da diese sich weder hierarchisieren noch reduzieren lassen. Damit plädiere ich nicht für eine theoretisch-analytische Kapitulation vor der Komplexität globaler Veränderungen. Gewarnt sei jedoch vor Simplifizierung: Will man multiple Prozesse, die sich nicht gegenseitig assimilieren, adäquat erfassen, kommt man mit einer einzigen Kategorie nicht aus. Auch einige der Kategorien, die neue Strukturen und Akteure beschreiben, weisen eine ähnliche methodische Unzulänglichkeit auf. Sie machen partielle und punktuelle Beobachtungen zum Endergebnis einer totalisierenden und konvergierenden Bewegung. Wenn etwa Habermas von einer europäischen Öffentlichkeit oder einer Weltbürgergesellschaft spricht oder Beck seine Weltrisikogesellschaft beschwört, werden wir zum Glauben (irre-)geführt, dass mit der Globalisierung automatisch die Herausbildung funktionaler Äquivalente auf überregionaler oder Weltebene für bislang nur auf nationaler Ebene bestehende Subjekte und Strukturen einhergehe. Dabei wird die dezenteierte und plurale Logik globaler Transformation völlig ignoriert. Demgegenüber entspricht die Kategorie Diaspora, wie Gilroy sie prägt, durchaus dem fragmentierten Charakter der neu sich herausbildenden Strukturen. Im Gegensatz etwa zur Weltbürgergesellschaft oder zur Weltrisikogesellschaft besitzt die Diaspora den methodischen Vorteil, auf jeden Anspruch und Verweis auf eine imaginäre Ganzheit zu verzichten. Überdies enthält die Kategorie schon die Spannungen zwischen nationalen und transnationalen Dynamiken. Konzepte wie Weltbürgergesellschaft und Weltrisikogesellschaft werden aus Prozessen, die nur in wenigen nationalen Gesellschaften untersucht worden sind, deduziert. Damit postuliert man, dass die Globalisierung dazu führt bzw. führen soll, dass Soziabilitäts- und Organisationsformen, die sich zuerst in den nordatlantischen Gesellschaften entwickelt haben, geographisch wie sozial weltweit verbreitet werden. Beide Konzepte kranken an einem chronischen historiographischen Defizit: Ausgehend von der Analogie zu der Herausbildung einiger nationalen Gesellschaften setzen die Autoren voraus, dass die Zunahme post-
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nationaler Problemlagenper se Mechanismen fördert, die die Wahrnehmung und Thematisierung von Risiken weltweit ermöglichen. Bestehende Spannungen zwischen nationalen und globalen Risiko- oder Bürgergesellschaften werden nicht berücksichtigt. Die nationalen und globalen Ebenen werden als analog und komplementär gesetzt, ohne diese Hypothese empirisch zu überprüfen. Die Autoren unterstellen, dass Weltbürgergesellschaft und Weltrisikogesellschaft eine unmittelbare Entwicklung ihrer nationalen Pendants darstellen: Sie zeigen eine ähnliche Morphologie und erfüllen die gleichen normativen Funktionen. Mit der Idee der Diaspora, oder genauer: afrikanischer Diaspora bzw. Black Atlantic, wird nicht der Anspruch erhoben, dass die Kategorie umfassend die Logik(en) transnationaler Integration darstellt. Mit dem Konzept des Black Atlantic beschreibt Gilroy ausschließlich die Erfahrung einer bestimmten Gruppe mit einer spezifischen Geschichte. Dieses Phänomen ist nicht erst das Produkt neuerer Globalisierungsprozesse, sondern geht auf den Sklavenhandel zurück und folgt - wie ein Schatten - der modernen Geschichte. Das Verhältnis zwischen Nation und Diaspora ist also von vielschichtigen Spannungen geprägt. Ich schlage nun vor, dass Konzepte wie Weltbürgergesellschaft und Weltrisikogesellschaft mit einer ähnlichen methodischen Sorgfalt wie Diaspora verwendet werden. Dadurch wäre zu zeigen, dass eine bestimmte Gruppe von Akteuren transnational handelt und für sich selbst den Titel Weltbürgergesellschaft oder globale Zivilgesellschaft beansprucht. Zugleich wäre darauf zu verweisen, dass diese Akteure in einem bestimmten Handlungskontext handeln und nicht die Belange der Weltgesellschaft vertreten. Ähnlich stellt die Weltrisikogesellschaft, also die Strukturen und Akteure, durch die die globalen Gefährdungen transnational thematisiert werden, einen partikularen Handlungszusammenhang dar. Die Tatsache, dass die hier erfassten Akteure sich selbst eine globale Mission zuschreiben, ändert an dem empirisch feststellbaren Sachverhalt nichts: Das Interesse für Risiken mobilisiert nicht die Weltgesellschaft, sondern höchstens einen kleinen Teil ihrer Mitglieder. Schwarze oder jüdische Diaspora oder migrationsbedingte »transnationale soziale Räume«8, Weltrisikogesellschaft und globale Zivilgesell8
Der Begriff wird von Pries (u.a. 1996, 2001) im Rahmen seiner Studien zur Arbeitsmigration von Mexikanern in die USA verwendet. Demzufolge: »Unter Transnationalen Sozialen Räumen werden neue >soziale Verflechtungszusammenhänge< (Eiias) verstanden, die geographischräumlich diffus bzw. >de-lokalisiert< sind und gleichzeitig einen nicht nur transitorischen sozialen Raum konstituieren, der sowohl eine wichtige Referenzstruktur sozialer Positionen und Positionierungen ist als auch die alltagsweltliche Lebenspraxis, (erwerbs-)biographischen Projekte und Identitäten der Menschen bestimmt und gleichzeitig über den Sozialzu-
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schaft sind Beispiele transnationaler Handlungszusammenhänge. Doch die Attribute Welt- oder global sind insofern irreführend, als sie den Eindruck erwecken, dass sie sich auf die gesamte Weltgesellschaft beziehen, während sie bestenfalls ein spezialisiertes Kommunikationsnetzwerk beziehungsweise ein spezialisiertes Netzwerk spezialisierter Netzwerke benennen. Den Attributen Welt- und global kommen indessen deutliche Funktionen im Rahmen des entsprechenden politischen und theoretischen Diskurszusammenhangs zu: Sie sind Teil der Konstituierungsprozesse spezifischer Netzwerke, die die Inanspruchnahme universalistischer Diskurse zu ihrem Jdentifikationsmerkmal, und damit zu einer Art eigene Daseinsberechtigung, machen. Die Verbreitung transnationaler Handlungszusammenhänge werfen neue theoretische Fragen auf, die mit Blick auf die daran anschließende Fallstudie im Folgenden kurz resümiert werden.
Transnationale Handlungszusammenhänge: Morphologie und Dynamik Transnationale Handlungszusammenhänge weisen keine vorbestimmte Territorialität oder Zeitlichkeit auf: Sie umfassen sowohl Ad-hoc-Mobilisierungen als auch dauerhafte Stmkturen. Eine Gemeinsamkeit transnationaler Handlungszusammenhänge ist die Tatsache, dass dabei nationale Referenzen entweder aufgelöst oder von ihrem ursprünglichen territorialen Erscheinungskontext verschoben werden. Daraus folgt nicht notwendig eine kritische Haltung zur Nation oder zum Nationalismus. Nicht selten basieren die solidarischen Bindungen innerhalb migrationsbedingter transnationaler Räume auf dem Lob einer gemeinsamen (territorialen) Herkunft. Außerdem können wichtige transnationale Handlungszusammenhänge aus der Verteidigung der Souveränität eines Nationalstaats entstehen, wie im Fall der internationalen Solidaritätsbewegung zu Osttimor (vgl. Almeida 2002). Nichtsdestotrotz lässt sich in beiden Fällen eine Entkoppelung zwischen national(istisch)en Manifestationen und dem nationalstaatliehen Territorium feststellen. In der Regel speisen sich transnationale Handlungszusammenhänge doch nicht durch sammenhang von Nationalgesellschaften hinausweist« (Pries 1996: 467). Damit stellen die von Pries erfassten »transnationalen sozialen Räume« einen bestimmten Typus der in der vorliegenden Studie definierten transnationalen Handlungskontexte dar. Ein anderer hiermit verwandter Begriff ist das von Cohen (2003) und auch von Oiesen (2005) vorgeschlagene Konzept der »transnational publics«. In der Definition Oiesens bilden transnational publies spezialisierte Thematisiemngsforen, während transnationale Handlungszusammenhänge auch Handlungsstrukturen und Akteure erfassen.
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nationale Bezüge, sondern durch Themen, Ziele und Handlungsstrategien, die nicht den Grenzen eines Nationalstaats verhaftet bleiben. Mit der Verbreitung von neuen Kommunikationstechnologien vermehren sich die transnationalen Handlungszusammenhänge. Einige transnationale Handlungskontexte hatten dennoch schon lange Zeit vor der jüngsten Globalisierung bestanden. Dies trifft für den Fall des wissenschaftlichen Austauschs zu, oder für Organisationen wie die Freimaurerlogen oder die katholische Kirche, deren gemeinsame Ziele und Solidaritätsbindungen zu keiner Zeit von nationalstaatliehen Konstruktionen unmittelbar abhingen. Transnationale Handlungskontexte bestehen aus Diskursen, Akteuren und Handlungsstrukturen. Was die Diskurse anbelangt, kommt polysemen Konzepten neuerer Prägung eine gewichtige Rolle zu: Sie dienen als Bindungskraft bei der Suche nach Gemeinsamkeiten und geteilten Interessen und Projekten. Termini wie empowerment, nachhaltige Entwicklung oder citizenship stellen inhaltlich unbestimmte Bezugswörter dar, die beliebig dekodiert und interpretiert werden können und ermöglichen damit die Artikulation von Subjekten ausgehend von Interessen, die nicht immer als kompatibel gelten. In den transnationalen Handlungskontext werden die prä-existenten Machtasymmetrien selbstverständlich nicht aufgehoben. Sie kommen in der Auswahl des Handlungsrepertoires sowie in den Handlungsstrukturen durchaus zum Vorschein; diese Asymmetrien sind besonders in der Steuerung der Finanzierungsmechanismen reflektiert, mit denen sowohl die Agenda als auch die Organisationsformen transnationaler Handlungskontexte zusammenhängen. Transnationale Handlungskontexte koexistieren und interagieren mit den nationalen Gesellschaften, wie etwa an der Mobilisierung sozialer Bewegungen, die auch weltweit Kämpfe für Umweltschutz, Frieden, Gleichberechtigung der Frauen und Menschemechte vorantreiben, ersichtlich wird. An den Schnittstellen zwischen nationalen und transnationalen Handlungskontexten liegt ein entscheidendes Themenfeld für die moderne Politik: die Legitimationsfrage. Schließlich bilden transnationale Handlungszusammenhänge Instanzen, in denen eine Meinungs- und in gewisser Weise Willensbildung über Themen stattfindet, die ausschließlich innerhalb nationalstaatlicher Grenzen zu verbindlichen Entscheidungen weiterverarbeitet werden können. Auf die Spannungen zwischen Prozessen nationaler Legitimierung und den in den transnationalen Handlungskontexten erfolgten Meinungs- und Willensbildungsprozessen geht der folgende Abschnitt ein.
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Transnationale Handlungskontexte und die Legitimationsfrage Die Antwort von Habermas auf die Herausforderung, eine transnationale Meinungs- und Willensbildung mit den primär national strukturierten Umsetzungskontexten getroffener Entscheidungen zu vereinbaren, setzt auf zwei Ebenen an. Handelt es sich um die postnationale Integration innerhalb Europas, so schlägt der Autor vor, Buropa zu einer Art großer Nation zu machen, in der mit Hilfe einer übergreifenden Öffentlichkeit die vollständige Deckung von Meinungsbildungsebenen und den Implementierungsinstanzen von Entscheidungen (re-)etabliert wird. Damit würde eine auf dem Selbsteinwirkungsprinzip gegründete Volkssouveränität in Kraft treten, wobei Normen und Politiken direkt von denjenigen gesteuert würden, die von diesen Regeln auch betroffen werden. Im Bezug auf die Weltpolitik verzichtet Habermas auf die Volkssouveränität als Verfahren. An ihre Stelle tritt die Weltbürgergesellschaft als Legitimationsquelle für grundlegende Garantien, auf deren Fundament die interkulturelle Koexistenz weltweit begründet werden soll. Dazu gehören insbesondere die Menschenrechte, die selbst in den Regionen gelten sollen, in denen eine freie Meinungs- und Willensbildung nicht besteht. Doch wie schon ausgeführt, konvergiert die europäische Integration in Wirklichkeit, und gegen Habermas' Erwartung, nicht zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit. An deren Stelle entstehen mehrere transnationale und mit einander nicht zusammenhängende themenbezogene Kommunikationsräume. Weltweit stellt die Weltbürgergesellschaft nur einen unter anderen transnationalen Handlungskontexten dar. Überdies hebt die »Weltbürgergesellschaft« die Machtasymmetrien nicht auf, sondern reproduziert diese. Indem man diese Weltbürgergesellschaft als Vorgriff auf einen aufzubauenden kosmopolitischen Zustand beschwört, bereitet man nicht etwa den Weg in eine politische Zukunft, in der legitime kommunikativ konstituierte Institutionen vorherrschen, sondern vielmehr zu einem Zustand, der die aktuelle machtpolitische Konstellation widerspiegelt. Deshalb wird in diesem Buch eine andere Lösung für die Legitimitätsfrage vorgeschlagen, die das Aufkommen transnationaler Handlungskontexte aufwirft. Kommen die in den transnationalen Handlungskontexten aktiven Akteure aus Ländern, in denen eine freie Meinungs- und Willensbildung vorhanden ist, so ist die Legitimation keine Angelegenheit der internationalen Politik, da hier bestehende Kommunikations- und Übersetzungsscharniere zwischen der nationalen Politik und den transnationalen Handlungskontexten vermitteln können. Dies lässt sich am Beispiel der transnationalen Netzwerke sozialer Bewegungen beobachten: Dabei ge139
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winnen die in den eingeschränkten Aktivistenkreisen thematisierten Fragen erst dann an Gewicht, wenn sie auf Resonanz in den nationalen Öffentlichkeiten stoßen. Wenn etwa anlässlich eines Weltgipfels bestimmte Themen in mehreren nationalen Öffentlichkeiten simultan thematisiert werden, findet kein interregionaler kommunikativer Austausch statt, sondern lediglich ein Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen Bewegungsaktivisten. Diese sorgen wiederum dafür, dass die transnational thematisierten Ansichten und Argumente Einzug in die jeweilige Nationalöffentlichkeit halten. Die Form, in der das Thema dann national oder lokal diskutiert wird, hängt wiederum allerdings mit nationalen Faktoren zusammen, wie etwa die Öffentlichkeitstauglichkeit und -macht der betreffenden Akteure, der Internationalisierungsgrad der nationalen Medien, das Interesse der Regierung an der Aufnahme des Themas in ihre Agenda etc. Die Legitimitätsfrage wird erst dann wirklich akut, wenn es sich um Nationalstaaten handelt, in denen keine demokratische Meinungs- und Willensbildung herrscht. Hier soll der Verweis auf das Beispiel jüngster »humanitärer« Kriege als Beleg dafür ausreichen, wie leicht sich der moralisch gutgemeinte Verweis auf eine Weltbürgergesellschaft von militärischen und machtpolitischen Interessen instrumentalisieren lässt. In solchen Fällen scheint das Völkerrecht, also das positive internationale Recht, trotz seines prekären und ebenfalls machtreproduzierenden Charakters das einzige Medium zu sein, auf dessen Gmndlage konkrete Interventionen in souveräne Nationalstaaten gerechtfertigt werden können. Will man die beliebige lnstrumentalisierung moralischer Argumente vermeiden, muss in solchen Fällen die Diskussion von der Legitimität zur Legalität hin verschoben werden: Legitime Interventionen sind demnach nur diejenigen, die gemäß des geltenden Völkerrechts legal sind (Bmnkhorst 2005). Eine weitere Dimension der Legitimitätsfrage, die das Aufkommen transnationaler Handlungskontexte aufwirft, betrifft das komplexe Verhältnis von Kultur und Politik. Dieser Aspekt ist für die anschließende Fallstudie von fundamentaler Bedeutung. Auf der nationalen Ebene fungieren die Zivilgesellschaft und die nationale Öffentlichkeit in gewisser Hinsicht als Vermittlungsinstanz zwischen Kultur und Politik. Die Zivilgesellschaft bildet den sozialen Kontext, der durch einen verständigungsorientierten Kommunikationsmodus und durch Kooperations- und Solidaritätsbeziehungen gekennzeichnet ist. Als institutionelle Dimension der Lebenswelt entsprechen die zivilgesellschaftlichen Organisationen einerseits kulturellen Stmkturen, über die die kontinuierliche und immer erneuerte Reproduktion eines Werteund Traditionsbestands erfolgt. Zum anderen nehmen die zivilgesell140
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schaftliehen Organisationen in politischer Hinsicht an dem Prozess teil, durch den abstrakte Gerechtigkeitskonzeptionen ein politiktaugliches Format annehmen und damit über eine poröse Öffentlichkeit in die Sphären der politischen Willensbildung bis in die Entscheidungsgremien hinein gelangen. ln die Begrifflichkeit einer diskursiven Demokratietheorie übersetzt ist genau dieses Zusammenspiel von Kultur und Politik, genauer: von bestimmten Lebensformen und den damit zusammenhängenden Gerechtigkeitsvorstellungen, das, was dem politischen Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure Sinn und Legitimität verleiht. Ferner müssen die Geltungsansprüche, die die zivilgesellschaftlichen Akteure formulieren, erst die Hürde einer kommunikativen und institutionellen Auseinandersetzung passieren, bevor sie zu verbindlichen politischen Entscheidungen oder Rechtsnormen werden. Das heißt, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure über keine immanente Legitimität verfügen; erst durch die diskursiven Disputen im Rahmen des Meinungs- und Willensbildungsprozesses können sie mit ihren Argumenten und Inszenierungen davon überzeugen, dass sie gesamtgesellschaftlich relevante Ansichten vertreten. lm Fall transnationaler Handlungskontexte stellt sich die Frage, wie die Artikulation von Kultur und Politik angesichts der fehlenden (transnationalen) Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft erfolgt. Die von Habermas für den Fall der Menschenrechte weiter oben behandelte Antwort läuft auf das Argument hinaus, dass »andere Regionen« der Welt durch die Modernisierung und die daraus folgende Säkularisierung und Individualisierung mit gerrau der gleichen Herausforderung konfrontiert seien wie »seinerzeit« Europa, als es den Rechtsstaat und die Menschenrechte »erfunden« hat. Es liege also auf der Hand, dass man derartige Erfindungen auf »die anderen Regionen« einfach übertragen kann und soll. Damit verschiebt sich die Frage der Vermittlung zwischen kulturellen Lebensformen und verbindlichen Rechtsnormen von den Prozessen der Meinungs- und Willensbildung zu einer Teleologie der Moderne, als ob eine zwingende Korrespondenz zwischen einem bestimmten Entwicklungsstand der Moderne, einem gewissen Individualisierungs- und Säkularisierungsgrad sowie einigen davon abzuleitenden Rechtsnormen bestehen würde9 . Doch die Multiplizität der Wege, die die Moderne 9
Obgleich sie nicht direkt das Thema Legitimation fokussieren, enthält auch die These einer weltweiten Ausdehnung der Reflexivität von Beck und Giddens implizit die Annahme einer Evolutionsskala der Modeme, auf der materiell-technologische Grundlagen (der postindustrielle Kapitalismus), (hoch-)modeme Lebensformen (das reflexive Selbst) und emanzipatorische politische Ambitionen (Freiheit und Demokratie) zwangsläufig koinzidieren.
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regional verfolgt (hat) und die interdependente Entfaltung der Moderne in Europa und in den »anderen« Regionen desavouieren jeden Versuch, materielle Entwicklungsgrade, bestimmte Lebensformen und Gerechtigkeitsvorstellungen miteinander zu koppeln. Die analytische Herausforderung besteht genau darin, die Vermittlungsmechanismen zwischen den transnationalen Handlungskontexten und den multiplen Lebensformen, auf die sie regional und lokal zurückgehen, zu erfassen. Ein solches Unterfangen meint etwa die Beschreibung, wie sich bestimmte Bestrebungen nach der Gleichberechtigung der Geschlechter oder der Ethnien, die anhand transnationaler indigener oder Frauenbewegungen formuliert werden, innerhalb lokaler Kontexte artikulieren. Dabei wird oftmals darauf gedrängt, regional erfolgreiche Erfahrungen bei der Umsetzung dieser Bestrebungen weltweit zu übertragen, vor allem dann, wenn diese Erfahrungen in reichen Gesellschaften gemacht wurden, die einen ausgeprägten Einfluss auf die transnationalen Handlungskontexten haben. Trotz derattiger Spannungen entsprechen die transnationalen Handlungskontexte gerade keinem Transmissionsriemen, der politische Muster von einer Region in die anderen übertragen könnte. Vielmehr stellen sie Räume dar, in denen Differenzen verhandelt und artikuliert werden. Gemeint ist damit auch, dass bestimmte Geltungsansprüche im Prozess ihrer transnationalen Thematisiemng von ihren ursprünglichen Entstehungskontexten kulturell entwmzelt werden, um als abstrakte Gerechtigkeitsvorstellungen von Bewegungsnetzwerken, internationalen Organisationen oder Medien in die nationalen und lokalen Räume getragen und dort politisch weiterverarbeitet zu werden. Diese als politische Foren fungierenden Arenen bilden den Kontext, in dem transnational verbreitete Geltungsansprüche zerlegt und in die Grammatik lokaler kultureller Lebensformen übersetzt werden. Dabei können wichtige soziale und kultmelle Innovationsprozesse in Gang gesetzt werden.
SchI uss betrac htu nge n Die bislang aufgeführte theoretische Diskussion soll nun die Untersuchung um die Transnationalisierung des Antirassismus, die in den nächsten Kapiteln erfolgt, beleuchten. Dabei wird ein transnationaler Handlungszusammenhang erfasst, dessen politischer Bezugspunkt das brasilianisch-US-amerikanische Netzwerk gegen Rassismus darstellt. Kulturell stehen die Bezüge zum imaginierten Raum des Black Atlantic im Mittelpunkt. Im transnationalen Handlungszusammenhang des Antirassismus interessieren hier sowohl die bislang verdeutlichten demokra-
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DIASPORA, BLACK ATLANTIC, TRANSNATIONALE HANDLUNGSZUSAMMENHÄNGE
tietheoretischen Fragen als auch allgemeinsoziologische und mikrosoziologische Aspekte. Demokratietheoretisch geht es um die Frage, ob bzw. wie die Legitimierung der im transnationalen Antirassismus verbreiteten Ansprüche nach Gleichberechtigung von Bürgern unterschiedlicher Hautfarben erfolgt. Ich möchte zeigen, dass der Legitimationsprozess im untersuchten Fall nicht dem von Habermas vorgeschlagenen Legitimierungsmodus für die Globalisierung der Menschenrechte folgt. Wie gezeigt, geht dieser Autor von einer Entkoppelung von Menschenrechten und Volkssouveränität aus, damit die Menschenrechte weltweit gelten können. Demzufolge ist es nicht die innenpolitische Meinungs- und Willensbildung, sondern der Einklang mit den Ansp1iichen einer Weltbürgergesellschaft, was die globale Geltung der Menschenrechte legitimiert. Im Fall des untersuchten antirassistischen Netzwerks wird die Forderung nach Gleichberechtigung erst legitimiert, wenn sie in der brasilianischen Öffentlichkeit diskutiert wird. Allgemeinsoziologisch müsste man sich ausgehend von U. Beck und A. Giddens fragen, inwiefern die Vorstellung einer sich globalisierenden Reflexivität bei der untersuchten Transnationalisierung des Antirassismus zutrifft. Es wird allerdings gezeigt werden, dass das von Beck und Giddens veranschlagte Phasenmodell (erste Moderne bzw. modernity und zweite- reflexive- Moderne bzw. high modernity) im untersuchten Fall nicht eintritt: (Post-)koloniale Gesellschaften bzw. Individuen waren gewissermaßen immer schon »reflexiv«. Mikrosoziologisch werden die kulturellen Identitätskonstruktionen untersucht, die im Rahmen des Antirassismus und seiner Transnationalisierung erfolgen. Ausgehend von den postkolonialen Studien werde ich zeigen, dass ein dynamischer Prozess der Artikulierung von Differenzen zu beobachten ist, welcher sich nicht auf die gängigen binären Identitätskonstruktionen (schwarz-weiß, nationalistisch-imperialistisch) reduzieren lässt. Gemeint ist nicht, dass diese Zuschreibungen keine Rolle spielen, sondern dass sie im politischen Alltag ausgehandelt und umgedeutet werden.
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Kapitel 5. Jüngste kulturelle Transformationen in Bras i I ien: von der Mesti~agem 1 zu den neuen Ethnizitäten
Den Übergang zu unserer Beschäftigung mit dem Antirassismus möchte ich mit zwei jüngst erfolgten Episoden einleiten, die für die im Folgenden untersuchten Prozesse bezeichnend sind. Handlungsort des ersten hier berichteten Ereignisses ist der brasilianische Bundesgerichtshof (STF). Am 18. September 2003 stand ein polemischer Prozess auf der Tagesordnung. Es handelte sich um einen Antrag auf Haftprüfung des Verlegers Sigfried Ellwanger, ein Prozess, der als einer der wichtigsten Verhandlungen in der Geschichte dieses Gerichtes bezeichnet wurde. Ellwanger war bereits vom Regionalen Gerichtshof im Bundesstaat Rio Grande do Sul gemäß des Zusatzes XLII im Artikel 5 des brasilianischen Grundgesetzes wegen Rassismus verEinige Spezifika des brasilianischen Mesti9agem-Diskurses werden im vorliegenden Kapitel erläutert. Zur Begriffsbestimmung muss vorab darauf verwiesen werden, dass mit den Termini Mestizaje (Spanisch) oder Mesti9agem (Portugiesisch) die Nationsideologen in Lateinamerika die »Durchmischung« von »Kulturen« und »Rassen« meinen. Gegen die Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Rassentheorien, die von jeder »Rassenkreuzung« abrieten, wollten die Beflirworter der Mesti9agem das Modell einer kulturell und biologisch »gemischten« Nation prägen, in der sich ethnische und rassistische Demarkationslinien auflösen. Die rassische Terminologie, die hier in Anführungszeichen erscheint, gibt derzeitige Begrifflichkeil wieder. Es darf als allgemein bekannt angenommen werden, dass Sozialwissenschaftler und Biologen heute darüber einig sind, dass rassische Klassifikationen keine Anwendung auf Menschen finden können. Die rassischen Klassifikationskriterien sind also kulturell gewählt und stützen sich nicht auf heute anerkannte naturwissenschaftliche Erkenntnisse (vgl. Munanga 1999). Ein Teil dieses Kapitels erschien in Costa/Tomaz (2004).
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VOM NORDATLANTIK ZUM BLACK ATLANTIC
urteilt worden. Der brasilianischen Verfassung zufolge ist Rassismus ein unveijährbares und nicht gegen eine Geldstrafe einzutauschendes Delikt. Der Prozess gegen Ellwanger begann 1989 als die genannte Antirassistische Bürgerbewegung (MOPAR) den Verleger vors Gericht brachte. Träger des MOPAR waren die Schwarzenbewegung (Movimento Negro), die »Jüdische Unabhängige Bewegung« und die »Bewegung für Justiz und Menschenrechte Porto Alegres«. Ellwanger ist als Autor und Verleger »anti-Semitic books« weltweit bekannt (U.S. Department of State 2004). Der Antrag auf Haftprüfung basierte auf einem prima facie schlichten, doch in der Praxis effektiven Argument: Nach Ellwangers Verteidigung sollte der Verleger nicht wegen Rassismus, sondern wegen Beleidigung angeklagt werden, denn »seine Angriffe richten sich gegen Juden, und Juden bilden demzufolge keine Rasse« (Milman 2003). Sollte das Plädoyer angenommen werden, so musste der Verleger frei gesprochen werden, denn das begangene Verbrechen- Beleidigung statt Rassismus- wäre verjährt gewesen. Das Verteidigungsplädoyer versetzte die Minister im STF in eine schwierige Debatte, in deren Zentrum eine vermeintlich bereits überwundene Frage stand: Muss man, um Rassismus feststellen zu können, die Existenz von Rassen behaupten? Minister Moreira Alves z.B. stimmte dem Antrag von Ellwangers Verteidigung aus folgenden Gründen zu: »Antisemitismus könne nicht als schwerstes Verbrechen (Port.: crime hediondo) eingestuft werden, denn ein Volk zu diskriminieren sei kein Rassismus. Rasse, behauptet er, sei die Bezeichnung für eine andere Ausprägung eines Merkmals, etwa der Hautfarbe« (Consultor Juridico 2004). Schließlich hat sich aber doch die Ansicht durchgesetzt, dass Rassismus als »sozio-politischer Prozess« bestehen kann, auch wenn es unter Menschen keine Rassen im biologischen Sinne gebe. Damit wurde die Schuld des Angeklagten mit acht gegen drei Stimmen bestätigt. Die zweite Episode bezieht sich auf einen Aufsatz, den eine Gruppe von Biologen der Bundesuniversität Minas Gerais in der Zeitschrift des bedeutendsten brasilianischen Wissenschaftsverbands SBPC (Brasilianische Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft) im Jahre 2000 publizierte. In dieser Arbeit, die breite Diskussionen unter den brasilianischen Sozialwissenschaftlern hervorrief, zeichnen die Biologen »das Molekularbild Brasiliens« nach, indem sie DNA-Proben von 200 als Weiße eingestuften Brasilianern aus verschiedenen Regionen untersuchen. Für die Feststellung der Abstammung berücksichtigen sie zwei Arten von Molekularindikatoren: »Das Chromosom Y ftir die Feststellung väterlicher Abstammungen und die Mitochondrium-DNA, um die mütterlichen Abstammungen festzustellen« (Pena et al. (2000): 18). Da-
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nach wurde das Material mit Befunden mehrerer Studien verglichen, die sich auf unterschiedliche Regionen des Globus beziehen, womit die geographische Herkunft der Abstammungslinien für die weiße Bevölkerung Brasiliens festgestellt wurde. Die Untersuchungsergebnisse bestätigten die Erwartungen der Forscher: Demzufolge kommen etwa 90 % des Chromosoms Y, also der väterlichen Abstammung, aus Europa, insbesondere aus Portugal. Was die Zahlen zur mütterlichen Abstammung anbelangt, also die Mitochondrien-DNA, so fielen die Ergebnisse ganz anders aus: Nur 39 % davon stammen aus Europa, 28 % kommen aus Afrika und 33% aus der indigenen Bevölkerung. Den Autoren zufolge bekräftigen diese Ergebnisse die Sicht jener Historiker, Sozialwissenschaftler und nationalen Ideologen, die auf der »trihybriden Natur« (europäisch, afrikanisch, indigen) der brasilianischen Bevölkerung insistieren. Ferner zeigten die Daten, dass »der europäische Beitrag hauptsächlich durch Männer und der indigene und afrikanische Anteil hauptsächlich durch Frauen geleistet wurde« (ebd.: 25). Die Autoren verbinden mit den Forschungsergebnissen auch eine politische Vision: »Unsererseits ist dies möglicherweise naiv, doch wenn wir annehmen, dass sich viele weiße Brasilianer der Tatsache bewusst würden, dass sie eine indigene oder afrikanische Mitochondrium-DNA haben, sie dann auch die prachtvolle genetische Vielfalt unseres Volks positiv anerkennen würden, und sich so vielleicht eine gerechtere und harmonischere Gesellschaft im 21. Jahrhundert herausbilden könnte.« (ebd.: 25) Beide Episoden sollen hier nicht gründlich analysiert werden. Sie dienen allein als Illustration für Dynamiken und Prozesse, die wir in diesem und in den nächsten Kapiteln untersuchen. Hervorzuheben ist jedoch das Zusammentreffen von naturwissenschaftlichen und politischen Diskursen im Rahmen der Konstituierung und Entwicklung der brasilianischen Nation. Die genannten Episoden weisen auch auf einige zu untersuchende Spannungen zwischen Nationalisten und Kritikern des brasilianischen Nationsmusters hin: Betonen die Ersteren die historische Fähigkeit Brasiliens unterschiedliche Kulturen und Ethnien zu »hybridisieren« und damit zu einem friedlichen Zusammenleben zu bringen, so verweisen die Letzteren folgerichtig auf die mit diesem Nationskonzept assoziierten Probleme wie die Verdeckung des Rassismus oder die Unterdrückung von Minderheiten. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, dem mit der brasilianischen jüngsten Geschichte weniger vertrauten Leser grundlegende Koordinaten zu vermitteln, um die in den darauf folgenden Kapiteln untersuchten
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VOM NORDATLANTIK ZUM BLACK ATLANTIC
Prozesse im historischen Kontext einordnen zu können. Ausgangspunkt hierfür ist der Mesti~agem-Diskurs, der ab den 1930er Jahre zu einer Art brasilianischem Gemeinvokabular, ja zu einem weithin geteilten nationalen Narrativ wurde. Das Lob der Vermischung stellenjüngere Akteure mit neuen Ansichten in Frage. Sie entlarven die Ambivalenzen des Mesti~agem-Diskurses und versuchen, neue Differenzen jenseits des dominierenden Nationaldiskurses zu artikulieren. Unter diesen Positionierungen ist die Entstehung einer sozialen Bewegung der Schwarzen mit ihrem gegenhegemonialen Diskurs hervorzuheben. Sie prangert zunehmend die rassistischen Komponenten im herkömmlichen Nationsbild an und gewinnt bei ihrer Suche nach Chancengleichheit für Schwarze und Weiße mehr und mehr Sympathisanten.
Die Erfindung der
Mesti~agem
Mit dem Erscheinen des bald zum Klassiker avancierten Buches Imagined Communities von Benedict Anderson (1983) erfolgte eine paradigmatische Wende im Rahmen der kulturtheoretischen Forschung zur Nation. Seitdem verlieren die so genannten Primordialisten, die die Nation als eine durch vorpolitische essenzielle Bindungen zementierte Gemeinschaft bezeichnen, gegenüber den Konstruktivisten ihren Einfluss (vgl. Benhabib 1999). Der nunmehr dominanten konstruktivistischen Ansicht zufolge sind Nationen kulturelle Konstrukte, die ihre Existenz einem kontingenten historischen Prozess verdanken, bei dem die Nationsmitglieder unter sich kulturelle und politische Gemeinsamkeiten finden bzw. erfinden. Danach begleitet eine notwendige Erscheinung die Geschichte einer Nation, nämlich die Bezeichnung des Anderen bzw. der Anderen der Nation. Es handelt sich hier nicht unbedingt um ein Feindbild, sondern um Gruppen, die im Rahmen der komplexen Identitätsfindung für alles stehen, was nicht dem »Wir« entspricht. In den Vordergrund rückt also ein idealisierter generalisierter Anderer, der als eine imaginärere Folie fungiert, vor der eine Nation ihr Eigenes kontrastiv entdeckt und konstruiert (Young 1995). Die Diskussion über die Anderen im brasilianischen Nationsdiskurs gewann insofern eine besondere Brisanz, als die Konstituierung der Nation im Kontext der Abschaffung der Sklaverei und der Ankunft bedeutender Einwanderungsströme erfolgte2 . Denn historisch ging die 1822 2
Die Hauptströmungen von Einwanderern, ren nach Herkunftsländern und Zeit wie 1808: 456.000 Einwanderer aus Portugal, derer aus Portugal, 1.619.000 aus Italien,
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die nach Brasilien kamen, wafolgt zusammengesetzt: 15001851-1960: 1.732.000 Einwan694.000 aus Spanien, 250.000
VON DER MESTI(:AGEM ZU DEN NEUEN ETHNIZITÄTEN
vollzogene Unabhängigkeit von Portugal nicht unmittelbar mit der Abschaffung der Sklaverei einher, diese erfolgte erst 1888. Ein Jahr später wurde die Republik proklamiert. Ende des 19. Jahrhunderts standen die Nationsgründer vor einem Dilemma. Nach dem damals neuesten aus Europa rezipierten Wissenschaftswissen brauchte eine moderne Nation das richtige »Menschenmaterial«, um sich adäquat entfalten zu können. Demzufolge wiesen weiße Europäer eine naturgegebene Überlegenheit auf, hingegen repräsentierten Schwarze oder Indigene nur eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten. Für die Gründungsväter der brasilianischen Republik, die sich dem europäischen Wissen verpflichtet meinten, stellte sich als Herausforderung die Frage: Sei die Herausbildung einer tropischen »Zivilisation« mit einer überwiegend aus ehemaligen Sklaven, Indigenen und »Mischlingen« aller Couleur zusammengesetzten Bevölkerung überhaupt denkbar? Die Daten, die die damaligen Nationsideologen beschäftigten, sind aktualisiert in der Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 1: Bevölkerungswachstum in Brasilien nach Zensusgruppen* 15oo** Indigene
4.500.000
1871
1890
1991
2000
440.000
440.000
294.000
734.000
Weiße
-
3.854.000
6.302.000
75.705.000 91.298.000
Schwarze
-
1.976.000
2.098.000
Braunhäutige
-
4.262.000
5.934.000
Gelbhäutige
-
-
-
630.000
762.000
Ohne Angabe
-
-
-
535.000
1.207.000
7.335.000
10.554.000
57.822.000 65.318.000
Gesamt 4.500.000 10.532.000 14.774.000 142.321.000 169.873.000 Quelle: Pena et al. (2000) undfür 1991, 2000: IBGE (2004)
* Die hier aufgeführten Bevölkerungsgruppen entsprechen in wörtlicher Übersetzung der von der brasilianischen Zensusbehörde IBGE benutzten Klassifikation. Auf Portugiesisch:
lndigena, Branco, Preto, Pardo, Amarelo - unter Gelbhäutigen sind vor allem japanische Einwanderer und ihre Nachfahren erfasst. Die Zahlen wurden auf Tausende genmdet.
** Einschätzung nach Pena et al. (2000). aus Deutschland, 229.000 aus Japan (Nach Pena et al. 2000). In der Zeit von 1551 bis 1860 kamen insgesamt ca. 4.029.800 versklavte Afrikaner nach Brasilien. In den gesamten Amerikas waren es ca. I 0.247.000 (vgl. Alencastro 2000: 69).
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VOM NORDATLANTIK ZUM BLACK ATLANTIC
Die Gründungsväter der Nation entwickelten unterschiedliche Konzepte, um die brasilianische Bevölkerung zu einem weißen Volk zu machen. Darauf kommen wir nochmals in Kapitel 6 zurück. Endgültig aber wurde das nationale Dilemma erst in den 1930er Jahren durch den Diskurs der Mestü;agem gelöst, da dieser die bis dahin dominierenden Rassentheorien desavouierte. 3 Der prominenteste Miterfinder des Mesti9agem-Diskurses ist der Sozialanthropologe Gilberto Freyre (1900-1987). Der Schüler des deutschen, in die USA immigrierten Anthropologen Franz Boas rekonstruierte den Bildungsprozess Brasiliens seit der Kolonialzeit (Freyre 1999, zuerst 1933). Er stellte fest, dass das brasilianische nation-building ein gelungener Verschmelzungsprozess dreier Menschengruppen sei, welche ein komplementäres Verhältnis zueinander haben. Somit habe sich eine brasileiridade, also eine Brasilianität gebildet, die sich als eine Einheit der Vielfalt übersetzen lasse, in der jede der drei Gründungsgruppeil einen relevanten Beitrag zur Herausbildung eines »brasilianischen Charakters« geleistet habe. Dank der Geschichte der Portugiesen, die den Osten wie den Westen, Europa, Afrika und Asien in sich tragen, hätten diese drei Haupteigenschaften entwickeln können: Bereitschaft zur Vermischung, Mobilität, klimatische Anpassungsfähigkeit Für die Konstitution des brasilianischen Volkes sei dabei vor allem ihre Fähigkeit, sich mit anderen Völkern zu vermischen, hervorzuheben. Denn nach Freyre pflegten die Portugiesen eine Vorliebe zu dunkelhäutigen maurischen Frauen, die sich unmittelbar auf die brasilianische lndianerin übertrug. Darüber hinaus habe sich der portugiesische Kolonisator darum bemüht, eine vereinte Nation zu konstituieren, die auf der portugiesischen Sprache und der katholischen Religion beruhen sollte (vgl. Araujo 1994). Handelt es sich um den Beitrag des indigenen Elements, so wird vor allem die Rolle der 1ndianerin unterstrichen, die Freyre zufolge neben breiten kulinarischen Angeboten ihren Sinn für Sauberkeit, Arbeitsamkeit und emotionelle Stabilität in die brasilianische Kultur einbringen konnte. Der (männliche) Indianer präge dagegen den brasilianischen Charakter durch seine fehlende Disziplin und die Verkennung des Pri3
In der Literatur wird Mestü;agem in der Regel als eine Ideologie bezeichnet. Im Anschluss an die Ausführungen zum Diskurs in Kapitel 3 wird hier der Terminus Diskurs bevorzugt, um die Konnotation des Begriffs Ideologie in der marxschen Tradition zu vermeiden. Danach hängt Ideologie mit einer falschen oder gefiilschten Darstellung der Realität zusammen. Doch macht es keinen Sinn, die Mestir;agem als falsch oder wahr zu bezeichnen. Sie bildet ein eigenes »Wahrheitsregime«, wonach ihre Behauptungen erst gedeutet und plausibel bzw. wirkungsvoll gemacht werden können.
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vateigentums und der gesetzlichen Ordnung eher negativ. Die Schwarzen wiederum- so Freyre -haben den flexiblen und lockeren brasilianischen Umgangsformen eine Gestalt gegeben. Darüber hinaus lehnte Freyre Ansichten über die geistige Minderwertigkeit der Schwarzen ab und meinte, dass ihre untergeordnete Sozialstellung allein durch historische Umstände zu erklären sei. Diese in ihrer Mestizität monokultureile Brasilianität, wie sie von Freyre begriffen wurde, findet ihre politische Korrespondenz in der Nationalisierungskampagne, die der Diktator Vargas in der Zeit von 1937 bis 1945 ins Werk setzte. Hauptzweck der Nationalisierungskampagne war, die Einwanderer und deren Nachfahren definitiv in die brasilianische Nation zu »integrieren«. Das bedeutete, sie nach dem schon vorherrschenden Brasilianitätskonzept a Ia Freyre zu brasilianisieren. Eine Fülle von politischen Reden attestiert die Empörung über die Einwanderer, die das Jus-Soli-Staatsbürgerrecht Brasiliens angeblich missbrauchten, indem sie emotionelle und kulturelle Bindungen zum Heimatland ihrer Vorfahren pflegen wollten. Neben virulenten nationalistischen Diskursen gehörten zur Nationalisierungskampagne auch konkrete repressive Maßnahmen, wie die Abschaffung des fremdsprachigen Schulwesens und Vereinswesens wie der fremdsprachigen Presse (Campos 1999). Ein Auszug aus einem Buch des Generals Bethlem, der für die Durchführung der Kampagne im ltajai Tal zuständig war, gibt den politischen Ton wieder, der den Nationalisierungskampf animierte: »Wir respektieren die Ausländer durch die Rechte, die wir Ihnen gewährleisten, weil sie hervorragende Beiträge zu unserem Fortschritt leisten. Aber dass wir sie mit unserem gewöhnlichen liebevollen Temperament und mit der Gastfreundlichkeit empfangen, die unseren Charakter eindeutig ausmachen, heißt längst nicht, dass wir auf unser als souveräne Nation gutes Recht verzichten, die moralische und bürgerliche Bildung derjenigen zu führen, die in Brasilien geboren und Brasilianer sind. [... ] Die primäre Bedingung ftir die großartige nationale Verwirklichung ist es, dass ausgeschlossen wird, dass innerhalb unseres Landes einschließlich aller seinen Regionen, sei es aus Schlamperei, sei es aus staatlicher Unsorgfaltigkeit, sei es auch durch den Widerstand fremder Einzelner eine Sprache gilt oder vorherrscht, die nicht unsere Sprache ist. Gleiches gilt für Traditionen, die nicht aus unserer eigenen Vergangenheit hervorgehen, und gloriereiche Ereignisse, die nicht unseren eigenen Fakten entsprechen.« (Zitiert nach Seyferth, 1997: 107) Parallel heißt es bei Freyre: »ln Brasilien soll es keinen Raum für Rassismen und antibrasilianische Ideologien geben. An dieser Stelle wiederhole ich, was ich Anfang 1940 behauptet
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VOM NORDATLANTIK ZUM BLACK ATLANTIC
habe, als ich von meiner ersten Reise nach Rio Grande do Sul und Santa Catarina zurückkam: Die Armee leistet eine sympathische und effiziente Arbeit [die Nationalisierungskampagne]. Es wäre unsinnig, dem Neubrasilianer das Recht einzuräumen, sich in kompakten oder geschlossenen Gruppen zu halten, ohne dass er das grundlegende und wesentliche Stück der brasilianischen Kultur, nämlich den Juso-brasilianischen Kern und die christlichen Gefühle und Formen wahrnimmt.« (Freyre 1942)4 Es ist bemerkenswert, dass die Herausbildung einer über die ethnischen Differenzen hinweg einheitlichen Nation, die während der Vargas-Diktatur keinen deskriptiven, sondern einen normativen Charakter hatte, also als ein zu erreichendes Ziel galt, später zum Selbstbild Brasiliens wurde. Dieses Bild prägte sowohl die kulturelle Produktion als auch die Kulturpolitik bis Ende der 1970er Jahre. Trotz ihrer chronologisch variablen Erscheinungsformen weisen dieser Diskurs und die daraus hervorgehenden Politiken einige unveränderte Merkmale auf. In seiner politischen Dimension verrät der nationale Diskurs seit den 1930er Jahren seine Inspiration am Muster des nation-building Frankreichs. Danach handelt es sich um ein Nationskonzept, das sich als fahig erweist, neue Nationsmitglieder zu assimilieren, da die nationale Zugehörigkeit keine Blutsverwandtschaft voraussetzt (Giesen 1999). Im Gegensatz zum Vorbild werden allerdings einige republikanische Tugenden wie die politische Partizipation und die effektive Gleichheit aller Bürger und Bürgerinnen kaum betont: Der gesetzlich garantierten Gleichberechtigung entspricht ein in der Praxis ungleich verteilter Zugang zu den bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten. Die politi4
Wer sich an dieser Stelle an die zeitgenössische Einwanderungsdebatte in Deutschland erinnert, täuscht sich nicht. Ähnliche Prozesse fanden und finden in Brasilien und hierzulande in ungleichen Zeitlichkeiten statt. Nur: Im Brasilien der 1930er Jahre waren es nicht Türken, die dort kaum auffallen, sondern die Deutschstämmigen, die als assimilierungsresistent, so die Sprache von General Bethlem, galten und damit zur wichtigsten Zielgruppe der Kampagne wurden. Nebenbei sei auch darauf verwiesen, dass ein vergleichbarer nationaler Impetus, der in den 1940er Jahren die brasilianischen Deutschstämmigen betraf, noch in den deutschen Einbürgerungsrichtlinien von 1977 zu finden war. Dort hieß es eine Einbürgerung setzt die »Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse« voraus. In den neuen Richtlinien wird einfach von Integration gesprochen, wobei eine Distanzierung von nichtdeutseben kulturellen Bindungen als Ersatz für die nicht vorhandene »deutsche Abstammung« immer noch von denen erwartet wird, die zu Deutschland staatsbürgerlich gehören wollen. Eine Prüfung zum Nachweis der landessprachlichen Kenntnisse, wie es sie im heutigen deutschen Einbürgerungsrecht gibt, hätte die brasilianischen Deutschstämmigen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Verlegenheit versetzt.
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sehe Dimension des Mesti9agem-Diskurses entspricht dem so genannten Mythos der democracia racial (Deutsch: Rassendemokratie), wonach die Brasilianer sich selbst als eine Gesellschaft beschreiben, in der Menschen aller Hautfarben gleich behandelt werden (Azevedo 1975). Dem Diskurs der Mesti9agem inunanent ist auch eine deutliche geschlechtsspezifische Dimension - wie übrigens in anderen Regionen Lateinamerikas auch (vgl. dazu Martinez-Echazabal 1998). Sowohl in Freyres Arbeit als auch in den Versuchen, eine nationalistische Ideologie im Rahmen der Vargas-Diktatur, des genannten Estado Nova, umzusetzen, wird ein Bild der Frau geprägt, die keine eigene Subjektivität und kein autonomes politisches Leben aufweist. 5 Hier gewinnt die Frau eine vollständige Existenz erst, wenn sie Teil des Lebensentwurfs und Objekt der männlichen Begierde wird. Damit wird nicht behauptet, dass das Patriarchat in Brasilien erst in den 1930er Jahren erfunden wurde. Dennoch entwickelte der Estado Nova eine Reihe familienpolitischer Maßnahmen, welche die Rolle der Frau als Mutter und Ehefrau bestätigen und damit die wachsende Partizipation der Frauen am Arbeitsmarkt politisch neutralisieren sollten (vgl. Carneiro 1990).6 In kultureller Dimension handelt es sich bei dem Mestü;agem-Diskurs um einen Versuch, die Heterogenität zu disziplinieren, indem unterschieden wird, welche kulturellen Ausdrucksformen dem nationalen Geist entsprechen und welche ausgeschlossen werden sollen (vgl. Lesser 1999). Dabei werden Symbole afro-brasilianischer Kulturtraditionen wie der Samba und der Kampfsport Capoeira zu nationalen Symbolen hochstilisiert. In der Behandlung der Rassismusfrage ließ der Mesti9agem-Diskurs den Begriff »Rasse« als Klassifikationskategorie aus der politischen Debatte verschwinden, wobei Ra9a nur noch als Metapher ftir die Nationalität gilt: Man spricht von einer ra9a brasileira, einer brasilianischen »Rasse«, und meint damit die Nation mit ihrer Identität und ihren Sym-
5
6
Schon bei der Bemühung, die Deutschstämmigen zu brasilianisieren, kamen die geschlechtspezifischen Konturen der Mestü;agem zum Vorschein. Oft verwiesen die Vorantreiber der Nationalisierungskampagne auf die »merkwürdigen« deutschstämmigen Frauen, die in Blumenau ihre Freizeit mit den Männem gemeinsam gestalteten und auf den öffentlichen Plätzen Bier trinkend zu sehen waren. Demzufolge widersprächen diese Frauen wesentlichen Aspekten der brasilianischen Kultur (Seyferth 1997). Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beginnen die Stmkturwandlungen, die den Frauen einen neuen wirtschaftlichen Protagonismus verleihen (vgl. Costa 2000: Kap. 10). Dennoch geht unter dem Estado Novo von Vargas die weiterführende Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt - insbesondere in die Textilindustrie - mit dem politischen Lob der Rolle der Frauen als Mutter und Hausfrau einher (vgl. Levine 1998: 120f.).
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bolen. Dies bringt ambivalente Folgen mit sich: Einerseits verliert der biologische Rassismus seine »wissenschaftliche« Legitimität, andererseits bleibt die den sozialen Strukturen innewohnende Chancenungleichheit unangetastet. Auch werden rassistische Vorbehalte, die die Menschen mit sich tragen, nicht thematisiert und damit auch nicht behoben. Gehen wir nun einige Jahrzehnte in der Geschichte fort, um auf neuere Entwicklungen zu kommen, die den Diskurs der Mestü;:agem auf den Kopf stellen.
Kulturelle Heterogenisierung und Überwindung des Mesti~agem-Diskurses Die Mestü;agem als Staatsdiskurs ist in Brasilien zwar noch vorhanden. Er steht jedoch nicht mehr im Vordergrund des Politischen, denn zentrale Prämissen dieses Konstrukts wurden durch jüngste Entwicklungen definitiv in Frage gestellt. Seit Ende der 1970er Jahre ist eine Reihe von Phänomenen zu beobachten, die darauf hinweisen, dass eine wichtige Wende im brasilianischen Nationsbild eingetreten ist. Es handelt sich um eine kulturelle Heterogenisierung, die der Idee einer harmonischen, mischungsfreudigen und werthomogenen Nation ihre Plausibilität entzieht. An dieser Stelle sollen diese folgenschweren Entwicklungen nur kursorisch erwähnt und anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden.
Renaissance der Frauenbewegung Der Frauenbewegung, die Ende der 1970er Jahre wieder entsteht, gelang es durch ihre Einflussnahme auf die Massenmedien, neue Vorstellungen der Gender-Verhältnisseund damit neue Familienmuster erfolgreich in die Öffentlichkeit zu bringen. Die diskursive Dimension dieser Entwicklung belegt eine Fülle empirischer Studien zur brasilianischen Frauenbewegung (vgl. Costa 1997: Kap. 3). Ebenfalls wurde die Suche nach internationaler Vernetzung festgestellt (A1varez 1998). Doch ist auch die strukturelle Reichweite der Transformationen, die mit der Entstehung der Frauenbewegung chronologisch koinzidiert, spürbar: Alleine zwischen 1991 und 2000 wachsen die von Frauen geführten Haushalte von ca. ein Füntel auf ein Drittel aller brasilianischer Haushalte7 . Ein anderer 7
Damit wird selbstverständlich kein monokausaler Zusammenhang zwischen der Entstehung der Frauenbewegung und der Fragmentiemng traditioneller Familienmuster hergestellt. Schließlich hängt der Zuwachs der Haushalte, die von Frauen geflihrt werden, auch mit der Abwesenheit und
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wichtiger Hinweis hierzu ist der Wandel in der Art der Ehegemeinschaften im gleichen Zeitabschnitt. Während die Anzahl der Brasilianer, die in einem Standesamt und/oder in der Kirche ihre Ehe geschlossen haben, gleich bleibt, nimmt zwischen 1991 und 2000 die Anzahl derjenigen, die in informellen Ehegemeinschaften (unifio consensuaf) leben, um fast 100 % zu. Dies deutet darauf hin, dass das im Rahmen des Mestir;agem-Diskurses konservativ geprägte Frauenbild eine bedeutsame Transformation erfährt.
Ausdehnung der religiösen Vielfalt Die Dominanz der katholischen Kirche wird in den letzten Jahren immer mehr herausgefordert. Der Zuwachs der so genannten Pfingstkirchen (Igrejas Pentecostais) ist allgemein bekannt: Während die Anzahl von Katholiken zwischen 1991 und 2000 relativ gleich geblieben ist, stieg die Zahl der Pentecostais (Pfingstler) von 14 Millionen auf 26 Millionen. Auch die Anzahl von Atheisten verdoppelte sich in dieser Zeit. In unserem Zusammenhang ist diese Entwicklung insofern wichtig, als der Mestir;agem-Diskurs die angebliche Fähigkeit der Brasilianer, Differenzen zu harmonisieren, auf den katholischen Hintergrund der Nation zurückgeführt hat (Pierucci 2004).
Wiedereinführung des Begriffes »raBlack Atlantic< (Guimaraes 1995: 43). Darauf kommen wir nochmals weiter unten zurück.
Konstruktion einer Qui/ombo-Ethnie Quilombo nennt man Orte, die geflüchtete Sklaven in meistens schwer zugängigen Gegenden gründeten. Einige Quilombos wurden durch den geleisteten Widerstand gegen die Privatmilizien der Sklavenherren oder
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gegen die Militärs bekannt. In der Geschichte hat der im brasilianischen Nordosten entstandene Quilombo das Palmares eine besondere Stellung: »Gegründet um das Jahr 1600, en·eichte Palmares seine größte Ausdehnung (bis zu 27.000 qkm) um 1640, hatte bis 20.000 Bewohner und trotzte zunächst unter dem Anführer Ganga Zumba, dann unter dem legendären Zumbi vierzig Militärexpeditionen, ehe es 1695 von der portugiesischen Kolonialmacht zerstört werden konnte.« (Weis-Bomfim 2002: 21) Doch die Quilombos schienen bis vor einigen Jahren nur noch eine historische und symbolische Bedeutung zu besitzen. Das änderte sich mit der 1988 verabschiedeten Verfassung, wonach die in Quilombo-Gebieten angesiedelte Bevölkerung einen Anspruch auf das entsprechende Land hat. Damit wurde der Terminus Quilombo zu einem umstrittenen Begriff, um den Anthropologen, Behörden, Parlamentarier und Vertreter sozialer Bewegungen kämpfen. So versuchen u.a. Vertreter des Movimento Negro den Begriff dahingehend zu erweitern, dass jede Landgemeinde, die einen großen Anteil dunkelhäutiger Einwohner aufweist, als Quilombo bezeichnet werden kann. Demgegenüber geht es der Regierung um eine technische Frage, die durch Gegenüberstellung ethnologischer Expertisen entschieden werden soll (Leite 2000). Beobachtet man das Verfahren, nach welchem die Quilombo-Länder legalisiert werden, so ist festzustellen, dass die Quilombolas, also die Quilombo-Einwohner, zu einer neuen Ethnie gemacht werden. Schließlich setzt die Anerkennung eines Quilombo voraus, dass die Gemeinde jene Merkmale aufweist, die den Ethnologen zufolge eine Ethnie ausmachen: »a common proper name«, »a myth of common ancestry«, »shared historical memories«, »elements of common culture«, »a link with a homeland«, »a sense of solidarity«. (Hutchinson/Smith 1996) Trifft die hier vertretene These zu, dass eine Quilombo-Ethnie sich in Brasilien mit staatlicher Hilfe im (Wieder-)Aufbau befindet, so brechen wichtige Stützen des Mesti9agem-Diskurses zusammen. Denn der Staat führt in diesem Fall keine Assimilierungsstrategie, sondern eine »differenzenempfindliche« bzw. differenzenstiftende Anerkennungspolitik durch.
Die Schwarzenbewegung und gegenwärtige Reafri ka n i sieru ngstendenzen Schon zur Zeit der Sklaverei entstanden unterschiedliche Zusammenschlüsse, die die organisierte Solidarität unter der schwarzen Bevölke-
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rung darstellten. Die religiösen Vereinigungen (Jrmandades), eine Art Netzwerk zur Selbsthilfe unter versklavten und freien Schwarzen, waren in der Kolonialzeit die verbreitete und in der Historiographie am Besten dokumentierte Organisationsform. Auch Sklavemebellionen, organisierte Flucht und dauerhafte Flüchtlingssiedlungen waren eine Konstante in der Sklavenhaltergesellschaft Brasiliens. Nach der Abschaffung der Sklaverei erwiesen sich zahlreiche ftir und von Schwarzen herausgegebene Zeitungen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als wichtiges Instrument gegen Diskriminierung und zur Erkämpfung einer besseren Stellung in der Gesellschaft. Bastide (1972, zuerst 1951 ), der die in Säo Paulo erschienenen »schwarzen Zeitungen« untersuchte, stellte fest, dass diesen frühesten Zeitungen nicht in erster Linie die Funktion der Vermittlung von Information über das Zeitgeschehen zukam, sondern dass sie zwei andere Rollen erfüllten: Sie dienten zum einen der Überwindung des von der rassistischen Gesellschaft internalisierten Minderwertigkeitskomplexes. Andererseits widmeten die Zeitungen einen großen Teil ihres Interesses der Berichterstattung über soziale Ereignisse (Hochzeiten, Feste usw.). Damit wollten die »Schwarzen den Weißen beweisen, dass sie ihre Honorabilität und ihr weltliches Leben haben und dass sie darüber hinaus gehobene Umgangsregeln kennen. Kurzum sie führten den Beweis, dass sie keine Wilden waren, wie viele es meinten« (ebd.: 51). In der Zeit von 1930 bis 1937 trat die »schwarze Presse« durch die Entstehung einer artikulierten schwarzen Bewegung in eine neue Phase ein. Es handelt sich um die Frente Negra Brasileif·a (FNB), die Schwarze Front Brasiliens, die 1931 in Säo Paulo entstand und sich bald bis in die Bundesstaaten Mirras Gerais, Bahia, Espirito Santo und Rio Grande do Sul ausdehnte (Reichmann 1999: 14). Die FNB organisierte Alphabetisierungskampagnen, Gesundheitskliniken und Rechtsberatungen für Schwarze. Sie war aber auch durch ihren Nationalismus, Antikommunismus und ihre gegen Einwanderer gerichtete Fremdenfeindlichkeit bekannt. So half sie dem Diktator Vargas bei seinem Machtaufstieg und begrüßte zunächst seine autoritären Pläne. Das begründete die FNB mit dem Argument, dass auch der mythische Führer Zumbi den Quilombo von Palmares alleine regiert hätte. 8 Politisch lässt sich die Position der FNB sowohl durch ihre in den ersten Jahrzehnten der Republik erlebte Frustration erklären, bedingt durch die Dominanz der Agraroligarchien, als auch durch ihre Befürchtung, von den Einwanderem sozial und ökonomisch verdrängt zu werden. 8
Andrews (1992: 159) zeigt, dass die schwarzen Zeitungen den Angriff Hitlers auf den »Jewish cosmopolitanism« begrüßen und für ihre eigene Organisation jegliches demokratisches Verfahren ablehnten. 159
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Wenn sich auch in der »schwarzen Presse« derzeit vereinzelte sozialistische Tendenzen ausmachen lassen, so war doch die politische Position der Zeitungen weitgehend durch die FNB dominiert. Selbst das »Dritte Reich« erschien als mögliches Vorbild für die Aufwertung des rassischen Stolzes. Dazu als Illustration eine Passage aus der Zeitung »A Voz da Ra9a« (Stimme der Rasse), dem Organ der FNB, die für die damalige Stimmungslage innerhalb der Schwarzenbewegung kennzeichnend ist: »Wieso sollen wir uns darum kümmern, dass Hitler in seiner Heimat das schwarze Blut nicht will? Dies zeigt nur, dass das neue Deutschland auf seine Rasse stolz ist. Auch wir Brasilianer haben unsere Rasse. Wir wollen keinen arischen Geschmack. Wir wollen den schwarzen und den Mischlingsbrasilianer, die ihre Nation niemals verraten haben.« (A Voz da Rar;a, Ano 1, Nr. 27, zitiert nach Bastide 1972: 54)
Für die Schwarzenbewegung zahlte sich jedoch die Unterstützung für Vargas nicht aus. Als 1937 der Diktator Vargas die Pressefreiheit aufhob und die politischen Parteien auflöste, mussten auch die »schwarze Presse« und die Organisationen der Schwarzen ihre Aktivitäten einstellen. Erst mit der Redemokratisierung ab 1945 durften die schwarzen Zeitungen wieder erscheinen und neue Organisationen von Schwarzen formiert werden. Zu dieser Zeit entstand das TEN (Teatro Experimental do Negro, zu Deutsch: Experimentelles Theater des Schwarzen), mit dem der noch heute lebende Aktivist Abdias do Nascimento zu einer wichtigen Symbolfigur des schwarzen Protests avancierte. Das TEN suchte bei der damals im französischen Sprachraum wachsenden Bewegung der Negritude Inspiration: Es organisierte Symposien und veranstaltete Theaterworkshops. Diese Aktivitäten fanden allerdings unter der schwarzen Bevölkerung keinen breiten Zuspruch: Das TEN blieb eher eine elitäre Bewegung, die vor allem schwarze Intellektuelle in Rio de Janeiro und Sao Paulo mobilisierte (Barcelos 1999).
Black wird beautiful In den 1960er Jahren stiegen auch die brasilianischen Schwarzen auf den neuen Zug der Zeit auf, der sich mit der US-amerikanischen Welle »Black is Beautiful« in Bewegung gesetzt hatte. Wie Pinho (200 I: 96) zu Recht konstatiert, stellte die Bewegung die symbolische Ordnung auf den Kopf, nach der die mit den Schwarzen assoziierten Körpermerkmale als unästhetisch galten bzw. dargestellt wurden. Seitdem entwickelte sich in Brasilien eine kontinuierliche Umdeutung dieser phänotypischen 160
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Merkmale. Deren Betonung und Hervorhebung werden Teile emer Strategie, um neue ästhetische Muster zu gründen und dabei die herrschenden Schönheitsideale herauszufordern. In einer in der Stadt Belo Horizonte durchgeführten ethnographischen Studie zeigt Nilma Gomes (2003a) die Rolle der Haammformung bei diesen Umdeutungsprozessen. Sie untersucht die so genannten ethnischen Friseursalons (sal8es etnicos, manchmal auch als sa!Oes afro bekannt) und ihre Kundschaft, wobei sie Personen bevorzugt hat, die sich nicht an der Schwarzenbewegung beteiligen. Die sa!Oes etnicos gingen von bereits bestehenden Friseursalons in den armen Vierteln der Stadt aus, die jedoch seit den 1970er Jahren einen klareren identitätsstiftenden Charakter annahmen. Dies lässt sich sowohl an den neuen angebotenen Frisuren, die nun die Eigenschaften der krausen Haare ästhetisch betonen und aufwerten, als auch anhand der politischen Aktivitäten der sa!Oes etnicos ablesen. Es handelt sich »um die Formuliemng eines Programms, das den schwarzen Leuten ein Recht auf Schönheit zuerkennt. Die Veranlassung gemeinwohler Tätigkeiten in den armen Vierteln und Slums, kostenloses Make Up für Tänzer und Aktivisten der Schwarzenbewegung im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen der schwarzen Gemeinde, die Konstruktion eines Behauptungsdiskurses, d.h. eines Diskurs, der die schwarzen ästhetischen Muster anerkennt, sind Beispiele für Tätigkeiten, die von den vier untersuchten Salons durchgeführt werden[ ... ].« (Gomes 2003a: 8) Die Autotin stellt fest, dass der Umgang mit den Haaren (Umformung und Styling) die Kämpfe der Schwarzen gegen die rassistische Gesellschaft und ihre diskriminierenden Praktiken insofern verkörpert, als der Haarschnitt sowohl eine lnternalisiemng der zugeschriebenen Inferiorität durch die Anpassung an die europäisierten Schönheitsideale wie auch einen Raum für Autonomie und die Erfindung gewagter ästhetischer Muster darstellen kann. Danach entstehen die neuen Schönheitsmuster aus dem Spannungsverhältnis zwischen einer sozial geprägten und erwarteten Ästhetik und der Suche seitens der Schwarzen nach neuen Frisuren, die ihnen gemäß erscheinen9 . In diesem Kontext werden die sal8es etnicos zu Orten der kulturellen Verhandlung und der Umdeutung tradierter Vomrteile durch neue Artikuliemng körperlicher Differenzen: 9
In Anlehnung an Studien zu den »salöes etnicos« in Salvador, stellt Santos (2000) fest, dass die gewählten Friseure in der Regel auf eine Stilisierung und Hervorhebung dessen abzielen, was als das »natürliche« Haar eingestuft wird, und damit gleichzeitig ein Bekenntnis einer Identität als Schwarze darstellen: »Das Haar ist eine Art Vermittler zwischen einer afro-natürlichen Ästhetik und einem Diskurs der Negritude« (ebd.: 57).
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»Die ethnischen Friseursalons weisen intern und in ihrer Konstituierung alle Ambiguitäten und Spannungen auf, die mit der Konstruktion einer schwarzen Identität in Brasilien zusammenhängen. Das ist aber noch nicht alles. Sie sind Widerstandsräume. Sie sind vielmehr als bloß kleine Unternehmen oder Orte des Schwarz-Werdens, wie viele es meinen. Sie sind Räume der schwarzen Gemeinde [ ... ]. ln diesen Räumen wird die schwarze Identität als Prozess problematisiert, diskutiert, behauptet, negiert, verdeckt, abgelehnt, umgedeutet und rekreiert. All dies geschieht gleichzeitig. Deshalb versetzen uns die saloes etnicos in den Brennpunkt der Spannungen, aber auch der neuen Schöpfungsmöglichkeiten, die schwarze Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche, junge Leute und Erwachsene erleben.« (Gomes 2003b: 179)
Die Suche nach neuen Darstellungsformen des Körpers gehört zu einem folgerichtigen und komplexen Transformationsprozess, der noch fortdauert und unterschiedliche politische und kulturelle Dynamiken mit einschließt. Im Mittelpunkt dieser Transformationen steht die Aufwertung kultureller Ausdrucksformen, die mit einer imaginierten afrikanischen Herkunft assoziiert werden. Es geht nämlich darum, die afrikanischen Elemente deutlicher hervorzuheben. Diese Umdeutungstendenzen sind im gesamten Land zu beobachten, obgleich sie in den verschiedenen Regionen Brasiliens unterschiedlichen Mustern und Zeitlichkeiten folgen. In allen Fällen besteht allerdings ein labiles Verhältnis zwischen dem schwarzen Körper und der Verbindung zu einer vermeintlich auf Afrika zurückzufuhrenden Kultm, die man als cultura negra - schwarze Kultur- bezeichnet. Im Ballungsgebiet Rio de Janeiro etwa steht die Wiederentdeckung der >schwarzen Kultur< vor allem im Einklang mit der kollektiven Rezeption des Souls und später des Funks aus den USA ab den 1970er Jahren. Hauptakteure waren hier DJs, die über informelle Wege (Flugbegleiter, Reisende usw.) an die neuestenPlatten aus den USA kamen und diese im Rahmen riesiger Tanzveranstaltungen an zentralen Orten der Stadt auflegten. Ab den 1980er Jahren vermehren sich die Produzenten, und der Funk erobert die armen Viertel Rios in solchem Ausmaß, dass die Anzahl von Teilnehmern an den unzähligen »Bailes Funk« an einem einzelnen Wochenende auf über eine Million stieg (Vianna 1988). Funk wird hier als die authentische Musik der Schwarzen rezipiert und die Bailes werden zu einem Ort, an dem das Schwarzsein keinen Nachteil darstellt, wie Livio Sansone (2003: 129) anhand einer vergleichenden Studie der Funkveranstaltungen in Rio und Salvador feststellt: »In the meantime, in the two cities, respondents stress that there is a link between ra9a (race, black skin) and funk - between dancing good and being black. ln reality, the funk dance is a place where black youngsters can feel at
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ease, where the black body, and what many consider the black demeanor, are not penalized, but accepted and often preferred. However, the funk dance is not the stronghold of any form of any militant black identity whatsoever.« In Sao Paulo stellt eher der Hip-Hop den Stil dar, über den die Jugend die Verbindung zur »schwarzen« Kultur sucht. Wie in ihrem Ursprungsort New York Ende der 1970er Jahre verbindet auch die Hip-Hop-Bewegung aus Sao Paulo Breakdance, den Sprechgesang Rap, Graffiti und eine bestimmte Form des DJ-ing, in der die übertragenen Klänge durch eine kreative Handhabung der Platten (skratching, sampling) bereichert werden (vgl. Weller 2003: 12). Wie im Fall des Funks in Rio ist auch in Sao Paulo eine geographische Dezentrierung des Hip-Hops zu konstatieren. Die Bewegung wurde Mitte der 1980er Jahre im Stadtzentrum von Jugendlichen aus den peripheren Bezirken initiiert, die als Boten in Büros oder Ähnliches tätig beschäftigt sind. Wenn dienstlich unterwegs oder während ihrer Arbeitspausen traten sie als Tänzer und Sprühkünstler auf den Straßen und in den V-Bahn-Stationen auf. Daraufhin erreichte die Bewegung die armen Wohnviertel, in denen die Jugend bereits mit dem Konsum der Soul- und Funkmusik im Rahmen der »Bailes Black« in Kontakt gewesen war. Im Unterschied zu der Funk-Bewegung aus Rio zeigte die Hip-Hop-Bewegung eindeutige politische Ansprüche. Ihre Verbreitung erfolgte über organisierte Gruppierungen, die nach dem Muster der Posses aus dem New Yorker Bezirk Bronx neben der Musik auch politische Arbeiten im Sinne eines antirassistischen Engagements leisten. Dennoch gibt es im Hip-Hop aus Sao Paulo anders als beim USamerikanischen Vorbild kein eindeutiges Verhältnis zwischen der kulturellen Bewegung und einer Identitätskonstruktion, die unmittelbar mit einem schwarzen Subjekt zusammenhängt. Anders ausgedrückt: Im HipHop aus Sao Paulo verkörpert der Rückgriff auf den Fundus einer vermeintlichen >schwarzen< Kultur nicht den Anspruch, eine >schwarze Identität< mit zu gründen, sondern vielmehr eine ungerechte Gesellschaft anzuprangern, in der Schwarze, Binnenrnigranten, Einwohner armer Viertel ungleich behandelt werden. In Abgrenzung zu den in die nationale Identitätskonstruktion assimilierten kulturellen Ausdrucksformen wird Hip-Hop zu einer allgemeingültigen Sprache des Protests, welche unterschiedliche sozial Exkludierte anspricht. Dies geht aus dem von Wivian Weller (2003) durchgeführten Vergleich zwischen dem Hip-Hop aus Berlin und aus Sao Paulo deutlich hervor. Sie zeigt auf, dass sich die brasilianischen Hip-Hop-Anhänger schon in ihrer Selbstbezeichnung von der Vorstellung eines durch die Hautfarbe definierten politischen Subjekts distanzieren. Im Unterschied zum politischen Verband der 163
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Schwarzenbewegungen MNU - darauf gehe ich unten ein - ziehen die Hip-Hopperdas Attribut preto (schwarz) dem Begriff Negro vor 10 : »Die Selbstbenennung der Hip-Hop-Jugendlichen als >Preto< bezieht sich jedoch weniger auf phänotypische Merkmale, als vielmehr auf Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihre Erfahrungen als Einwohner der Peripherie. >Preto< steht insofern als übergeordnete Kategorie ftir die drei Ps - Peripherie, Preto und Pobre (arm)- und weniger als Bezeichnung ftir die Hautfarbe [... ]. Für die Rap-Gruppen in Sao Paulo erhält der Begriff >Preto< also neben der ethnischen auch eine milieu- oder klassenspezifische Komponente. Mit dem Begriff >Preto< wird eine Verbindung zwischen der gelernten Geschichte (d.h. des kollektiven Schicksals der Schwarzen als Folge der Entwurzelung und der Sklaverei) und der gelebten Geschichte in der Peripherie hergestellt. [... ]. Die Kategorie >Preto< schließt >Nicht-Schwarzeschwarzen< Gegenstände propagiert werden: Das Netzwerk, das durch NGOs und die an der Fördetung einer Politik der ldentitäten interessierten Stiftungen (Ford, Mac Arthur, lcco etc.) gebildet wird und dabei neue Räume für den Verkehr und die Vermarktung >schwarzer< Objekte eröffnen; die Netzwerke von Candomble-Höfen, die sich über andere Bundesstaaten und Länder ausdehnen; Netzwerke von Künstlern, Capoeira-Spielern, Musikerinnen, Tänzern usw., die die Welt bereisen, ihre >ethnische Begabungen< vorzeigen und damit ebenfalls zu Kommunikations- und Zirkulationskanälen >schwarzerafrikanischen< Identitätszeichen versehen sind. Die Touristen kaufen die Produkte und nehmen die Dienstleistungen in Anspruch. Nebenbei fördern sie neue fantasievolle Angebote und verbreiten den Ruhm Salvadors als Hüter »authentischer« Afrikanität weltweit. 13
Die Schwarzenbewegung und neue antirassistische Errungenschaften Im Zusammenhang mit der kurz skizzierten Belebung einer >schwarzen Kultur< lässt sich seit den 1970er Jahren eine wachsende politische Bedeutung antirassistischer Kämpfe beobachten. Hier ist die Entstehung der Movimento Negro Unijicado (MNU)- Vereinigte Schwarzenbewegung - im Jahr 1979 hervorzuheben. Die MNU konstituierte sich als eine Art Dachverband für unterschiedliche antirassistische Initiativen, die sich seit Mitte der 1970er Jahre in verschiedenen Städten Brasiliens
13 Mittlerweile können auch zahlungskräftige deutsche Reisende von der Wiedererfindung Afrikas in Salvador profitieren: Hierzulande warb neulich ein Veranstalter für seine Pauschalreise nach Salvador mit folgender Botschaft: »Das eigentliche, das wirkliche Brasilien? Das findet sich besonders eindrucksvoll in Bahia und dessen Hauptstadt Salvador. Dort warten traumschöne Tropenstrände, vor allem aber eine faszinierende Kultur, geprägt von den afrikanischen Wurzeln der Menschen. [ . .. ] Sie lernen Künstler kennen und entspannen im schönsten Strandresort des Nordostens. Sie besichtigen die berühmte Wallfahrtskirche Igreja do Bornfirn und sprechen mit einem Priester des Candomble-Kults. Und erleben so Brasiliens Vielfalt, seine Farbenpracht und die ansteckende Lebensfreude« (http://apollo. zeit.de/zeitreisen/zeitreisen_ artikel.php?reise_r_id= 157).
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organisiert hatten. Die Bewegung entstand in einem Kontext, der durch die wachsende Unzufriedenheit mit den Militärregierungen gekennzeichnet war. Zu dieser Zeit konsolidiert sich eine linke Arbeiterbewegung als wichtiger politischer Akteur; eine vom Staat unabhängige Zivilgesellschaft und eine durch die partielle Reetablierung der Pressefreiheit kritische Öffentlichkeit nahmen ebenfalls Konturen an (Costa 1997, 2002, Avritzer 2002). Im Gegensatz zur FNB der 1930er Jahre, die für >eiserne Herrschaften< Sympathie zeigte, konstituiert sich die MNU als eine linksdemokratische Bewegung (vgl. Guimaraes 2002: 99ff.). VomTENder 1950er Jahren unterscheidet sich die MNU auch durch die Kritik des herrschenden Nationaldiskurses: Bestand das TEN auf der vollen symbolischen Integration der Schwarzen in die als hybrid definierte Nationalidentität, so lehnt die MNU jede Assimilation in die Nation radikal ab und erklärt den Mythos der democracia racial zu ihrem Hauptfeind. Für sie stellt das rhetorische Versprechen der Gleichberechtigung von Weißen und Schwarzen nicht nur eine Manipulation der Realität dar, sondern auch ein Herrschaftsinstrument, das die Schwarzen ihre soziale Unterordnung nicht erkennen lässt. In diesem Kontext werden die Begriffe consciencia e conscientizar;iio, Bewusstsein und Bewusstmachung, konstitutive Elemente des Selbstverständnisses der Bewegung. Es handelt sich also darum, die schwarze Bevölkerung über ihre soziale Benachteiligung aufzuklären. Dementsprechend erklärte die Bewegung den Todestag des Quilombo-Anführers Zumbi (20. November) zum »Dia da Consciencia Negra« (Deutsch: Tag des Bewusstseins der Schwarzen), womit der offizielle Jahrestag, der 13. Mai, der auf die Abschaffung der Sklaverei 1888 zurückgeht, einen Teil seiner Symbolik einbüßte14 Andreas Hofbauer ( 1999: 316ff.) zu folge bilden die Begriffe cultura negra (schwarze Kultur) und identidade negra (schwarze Identität) weitere wichtige Orientierungslinien für die Strategien der MNU. Das heißt, die cultura negra stellt keine analytische Kategorie dar: Cultura negra wird als Sammelbegriff für alle kulturellen Manifestationen gesehen, die mit dem Widerstand der schwarzen Bevölkerung gegen die rassistische Unterdrückung assoziiert werden können. Schwarze Identität 14 Hier wird der legendäre Zumbi abennals refunktionalisiert: Galt er für die rechtsgerichtete FNB in den 1930er Jahren als Ikone zentralistischer Renschaft und in den 1940er Jahren als Synonym demokratischer Führung, so werden Zumbi und Palmares 1978 im Rahmen der Kämpfe gegen die Militärdiktatur mit Freiheit und Bekämpfung jeder Unterdrückung gleichgesetzt: »In Palmares verwandeln schwarze Rebellen einen Wald, der für den weißen Mensch, für den Europäer und Sklavenhalter unbewohnbar ist, in ein Lebens- und Freiheitsparadies« (Ausbildungsheft der MNU, zitiert nach Hofbauer 1999: 312).
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wiederum meint keine partikuläre Lebensform oder konkrete ästhetische Vorstellung, sondern ein bestimmtes politisches Bewusstsein - anders ausgedrückt: das Bekenntnis zum Antirassismus, was unterschiedliche Erscheinungsmuster annehmen kann. 15 Trotz ihres Eigennamens hat die Vereinigte Schwarzenbewegung bisher kaum eine einheitliche Handlungskoordination erreicht. Die unterschiedlichen Organisationen veranstalten ihre Aktionen selbst und fühlen sich keinem Dachverband verpflichtet. Jedoch konnten sich anlässlich bestimmter Ereignisse die verstreuten Aktionen zu einem landesweiten Manifestationszug verdichten: Etwa bei den Diskussionen um die 1988 verabschiedete Verfassung, im Rahmen des 1995 gefeierten 300. Todestages von Zumbi und bei den Vorbereitungen auf die 2001 in Durban stattgefundene 3. UNO-Konferenz gegen Rassismus. Die 1988er Verfassung, constituü;:ao cidada (etwa Bürgerverfassung)16 genannt, zelebriert den Übergang zur Demokratie und die Entstehung einer politisch einflussreichen Zivilgesellschaft Vielfältige soziale Beweg ungen waren im verfassungsgebenden Parlament vertreten. Den meisten gelang es auch, ihre Anliegen in den Verfassungstext einzubringen. Auch die MNU gab der Verfassung eine weitere Bedeutung. Als Brasilien 1988 das 100. Jubiläum der Abschaffung der Sklaverei feierte, nahm man das zum Anlass zu einer antirassistischen Mobilisierung und deren Legitimation. Dem politischen Kontext entsprechend entsteht ebenfalls im Jahr 1988 die Palmares-Stiftung, die erste Vertre15 Welche ungeheuerlichen Schwierigkeiten der Umgang mit diesen Konzepten in der politischen Praxis bereitet, kann man am Beispiel des Verhältnisses des MNU zu den Pfingstkirchen erkennen. Während viele schwarzen Aktivisten das Christentum generell wegen der Verbindung zur Sklaverei und die Pfingstkirchen speziell aufgrund ihrer »Assimilitationspraktiken« ablehnen, glauben andere schwarze Persönlichkeiten, wie etwa Benedita da Silva, ehemalige Gouverneurin von Rio de Janeiro, dass die Zugehörigkeit zur Pfingstkirche die Selbsteinschätzung und den Selbstwert schwarzer Menschen förde1t, wie Burdick (1998: 121) konstatiert: »Benedita sees her religion as centrat to her ethnic and political consciousness. >I am not any less negraany less conscious, because I am pentecostal! From my point ofview, I am more conscious, I am more negra, because I am pentecostal!