SUBversionen: Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839406779

Sind jene künstlerischen Konzepte, die im 20. Jahrhundert mit dem Begriff der Subversion operierten, heute veraltet? Wie

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German Pages 406 [408] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
SUBversionen. Eine Einführung
Geschichte, Strategie und Wirkung
Karma Chamäleon. Unverbindliche Richtlinien für die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute
Für eine Subversion der Subversion. Und über die Widersprüche eines politischen Individualismus
Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen
Informationen sind schnell – Wahrheit braucht Zeit. Einige Mosaiksteine für das kollektive Netzgedächtnis
Literatur
Textzwitter, Transvestitismus und Terrorismus. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa am Beispiel von Thomas Meineckes Roman Tomboy
Literarische Zwischenöffentlichkeit? Alexander Kluges erzählerische Reaktionen auf die deutsche Wendezeit
Theater
»ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!« Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch
Geheimnisse retten. Soziologische Beobachtungen zur Berliner Volksbühne
Fotografie
Sub/Versionen von . Zum politischen Einsatz einer Fotoausstellung
Fotografie als subversive Kunst. Zu den fotografischen Strategien von Claude Cahun und Cindy Sherman
Visual Resistance. Die Bilder der Zapatistas als Subversionen des Blickregimes
Film und Fernsehen
Alterierende Räume, unmögliche Perspektiven. Zur Subversion des Kamerablicks durch Computeranimation und ›virtuelle Kamera‹
Drag in Space. Strategien der Geschlechtersubversion in populären Filmen und Fernsehserien
Bildende Kunst und Mode
Avantgardistische und postkoloniale Strategien der Entkanonisierung. Zu Meschac Gabas Museum Of Contemporary African Art
Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker. Zur Aneignung avantgardistischer Praktiken in ehemaligen sozialistischen Ländern seit 1989
Maskierte Identitäten: Verhüllen und Präsentieren als Ästhetik des Politischen
Schlüsse
Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass es funktioniert. Eine Abschlussdiskussion
Kurzbiografien
Personenregister
Sachregister
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SUBversionen: Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839406779

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Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen

Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Drucklegung mit freundlicher Förderung durch die Hans Böckler Stiftung und das Künstlerhaus Edenkoben.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Illustration: dankegrafik, Berlin Redaktion des Registers: Thomas Ernst, Brüssel Satz & Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-677-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald und Julia Tieke

SUBversionen. Eine Einführung

.........................

9

Geschichte, Str ategie und Wirkung Mark Terkessidis

Karma Chamäleon. Unverbindliche Richtlinien für die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Martin Doll

Für eine Subversion der Subversion. Und über die Widersprüche eines politischen Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Mirko Tobias Schäfer und Hans Bernhard

Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen

..

69

......

89

Rena Tangens und padeluun

Informationen sind schnell – Wahrheit braucht Zeit. Einige Mosaiksteine für das kollektive Netzgedächtnis

Liter at ur Thomas Ernst

Textzwitter, Transvestitismus und Terrorismus. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa am Beispiel von Thomas Meineckes Roman Tomboy . . . . . . . . 111 Matthew Miller

Literarische Zwischenöffentlichkeit? Alexander Kluges erzählerische Reaktionen auf die deutsche Wendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Theater Nathalie Bloch

»ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!« Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Tanja Bogusz

Geheimnisse retten. Soziologische Beobachtungen zur Berliner Volksbühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Fotogr afie Karen Wagels

Sub/Versionen von . Zum politischen Einsatz einer Fotoausstellung

...........

203

Patricia Gozalbez Cantó

Fotografie als subversive Kunst. Zu den fotografischen Strategien von Claude Cahun und Cindy Sherman

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Inga Betten

Visual Resistance. Die Bilder der Zapatistas als Subversionen des Blickregimes

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Film und Fernsehen Sebastian Richter

Alterierende Räume, unmögliche Perspektiven. Zur Subversion des Kamerablicks durch Computeranimation und ›virtuelle Kamera‹

. . . . . . . . . . 261

Nadja Sennewald

Drag in Space. Strategien der Geschlechtersubversion in populären Filmen und Fernsehserien

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Bildende Kunst und Mode Gregor Schröer

Avantgardistische und postkoloniale Strategien der Entkanonisierung. Zu Meschac Gabas Museum Of Contemporary African Art

. . . . 303

Anna Schober

Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker. Zur Aneignung avantgardistischer Praktiken in ehemaligen sozialistischen Ländern seit 1989 . . . . . . . . . . . 319 Helga M. Treichl

Maskierte Identitäten: Verhüllen und Präsentieren als Ästhetik des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Schlüsse Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass es funktioniert. Eine Abschlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Kurzbiografien

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Personenregister Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

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399

Durchl aufend un ter allen Tex ten: Florian Neuner

Was tun wenn’s brennt. Aussageverweigerung, Wahl der Mittel

SUBversionen. Eine Einführung Thomas Ernst, Patricia Goz albez C an tó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald und Julia Tieke

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Verschwinden der ›Systemalternative Sozialismus‹ in den Jahren 1989/90 schienen schlechte Zeiten für politische und künstlerische Formen des Widerstands angebrochen zu sein. Francis Fukuyama behauptete 1992 in einem viel beachteten Buch, Das Ende der Geschichte sei erreicht und es sei keine bessere Welt mehr vorstellbar, »die sich wesentlich von der unseren unterscheidet« (Fukuyama 1992: 89). Tatsächlich scheint sich der neoliberale Kapitalismus seither ungebremst global zu verbreiten und den ›flexiblen Menschen‹ zu etablieren.1 Unterdessen wendet sich die ›linke Bewegung‹ einer Revision ihrer Konzepte und Geschichte zu und klopft ihre Begrifflichkeiten daraufhin ab, ob sie unter den veränderten globalen Machtverhältnissen noch tauglich sind. 1994 erscheinen zwei Reader zur Geschichte und zu den Taktiken der Spaß- und Kommunikationsguerilla, die darauf abzielen, »die 1 | Richard Sennett beschreibt, wie die ›Kultur des neuen Kapitalismus‹ diesen ›flexiblen Menschen‹ produziert: »Von den Arbeitnehmern wird verlangt, sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden. […] In Wirklichkeit schafft das neue Regime neue Kontrollen, statt die alten Regeln einfach zu beseitigen – aber diese neuen Kontrollen sind schwerer zu durchschauen« (Sennett 2000: 10f.).

Florian Neuner · Was tun wenn’s brennt. Aussageverweigerung, Wahl der Mittel · Es gibt kein Entkommen.

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Legitimität der Macht in Frage zu stellen und damit den Raum für Utopien überhaupt wieder zu öffnen« (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe u.a. 1994: 6f; vgl. auch AG Spaß muß sein 1994). Weitere Aufsätze und Bücher unterziehen in den 1990er Jahren den Begriff der Subversion einer grundlegenden Kritik bzw. versuchen aus unterschiedlichen Positionen, ihn für die neue historisch-politische Situation fruchtbar zu machen (vgl. Agnoli 1996, Diederichsen 1993, Fanizadeh/Ohrt 1998 und Hoffmann 1998). Erst Ende der 1990er Jahre überwinden die politischen Bewegungen ihre Erstarrungen und entwickeln neue Formen politischen Protests – in diesem Zusammenhang werden verschiedenste subversive Strategien neu entdeckt und genutzt. 1998 wird die NGO Attac in Frankreich gegründet, im November 1999 setzen die militanten Aktionen gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle ein Fanal, in dessen Folge sich neue politische Gruppen und Strategien formieren. In Seattle findet die Eröffnungsveranstaltung 1999 aufgrund erfolgreicher Blockaden vor einem leeren Saal statt, das Treffen des Internationalen Währungsfonds 2000 in Prag muss wegen der Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden und Ordnungskräften abgebrochen werden, beim EU-Gipfel 2001 in Göteborg schießt die Polizei erstmals scharf auf die Demonstrierenden, beim G8-Gipfel in Genua im selben Jahr kommt es zwischen der Polizei und den 300.000 Protestierenden zu schweren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der junge Demonstrant Carlo Giuliani stirbt. Zwar führen diese und viele andere Aktionen nicht zur Abschaffung des globalisierten Kapitalismus, jedoch zu einer Modifikation seiner Strategien. 2 In Süd- und Mittelamerika manifestiert sich der Diskurs für eine andere Globalisierung in populistischen Bewegungen, die konkrete politische Erfolge erzielen. Mit Hugo Chávez, der 1999 zum Staatspräsidenten von Venezuela gewählt wird und eine Bolivarische Revolution installiert, 2 | Ulrich Brand stellt in seiner Auseinandersetzung mit der Konjunktur des Begriffs ›Governance‹ fest, die Durchsetzung dieses Begriffs sei ein Zeichen für »eine Verschiebung innerhalb der neoliberalen Regierungstechniken, die mit dem Glauben bricht, dass Markt- und Konkurrenzkräfte quasi automatisch das allgemeine Wohl befördern. Galten bis vor wenigen Jahren Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Credo, werden heute staatlich initiierte ›Reformen‹ favorisiert. Die neoliberale Politik von Produktivismus und Marktfetischismus bleibt im Grunde genommen unangefochten; neu ist die Anstrengung, mit verstärkter politischer Moderation und vermehrtem Einsatz staatlicher Institutionen die Krisentendenzen und Konfliktpotenziale der traditionellen neoliberalen Mixtur von gesteigerter Warenförmigkeit, intensivierter Konkurrenz und der Expansion des Unternehmensmodells einzudämmen« (Brand 2004: 116).

Die Atmosphäre ist zum Ersticken. Die Entwicklungen sind widersprüchlich & werden es bleiben. Die

T. Ernst, Patricia G. Cantó, S. Richter, N. Sennewald und J. Tieke SUBversionen · Eine Einführung

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sowie Evo Morales, der 2006 zu Boliviens erstem indigenen Staatsoberhaupt gewählt wird und schon im Mai 2006 den Erdöl- und Erdgassektor verstaatlicht, widersetzen sich zwei linkspopulistische Regierungschefs offen dem angeblich globalen kapitalistischen Konsens (wobei sie ihre antikapitalistischen Konzepte mit nationalistischen Parolen unterfüttern; vgl. Zelik u.a. 2004). Als positives Vorbild für den Widerstand gegen die neoliberale kapitalistische Globalisierung bezeichnen einige Globalisierungskritiker/-innen die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), eine indigene Guerillaorganisation in Chiapas in Mexiko, die als Reaktion auf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen am 1. Januar 1994 eine zwölftägige bewaffnete Revolte beginnt und sich gegen die neoliberale Politik und für die Rechte der indigenen Bevölkerung engagiert. ›Eine andere Welt ist möglich‹, das Motto der Zapatisten, wird auch zu einem Motto der globalisierungskritischen Bewegung 3 – und steht Fukuyamas These vom Ende der Geschichte diametral entgegen.

Die Ziele dieses Buches Seit der Jahrtausendwende werden vermehrt neue theoretische Entwürfe alternativer Politikkonzepte in einer als ›postmodern‹ oder ›globalisiert‹ beschriebenen Welt veröffentlicht. Besondere Prominenz erlangt Empire. Die neue Weltordnung (2000) von Michael Hardt und Antonio Negri, in dem eine neue Form politischer Militanz entworfen wird: »Sie greift die Tugenden aufrührerischen Handelns aus zwei Jahrhunderten subversiver Erfahrung auf, ist aber gleichzeitig an eine neue Welt geknüpft, eine Welt, die kein Außen mehr kennt. Sie kennt nur noch ein Innen, eine lebendige und unvermeidliche Beteiligung an den gesellschaftlichen Strukturen, die sich nicht mehr transzendieren lassen« (Hardt/Negri 2003: 419f.).

Zwar ist der Entwurf Hardts und Negris an vielen Punkten berechtigt kritisiert worden, dennoch erscheint uns die Erkenntnis bedeutsam, dass sich aufrührerisches Handeln heute nur mehr innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen zu vollziehen scheint. Zur Beschreibung politisch radikaler und künstlerisch-avantgardistischer Strategien ist in der Vergangenheit immer wieder der Begriff ›subversiv‹ genutzt worden. Vor dem eingangs beschriebenen 3 | So war ›Eine andere Welt ist möglich‹ auch der Titel der globalisierungskritischen Großdemonstration anlässlich des G8-Gipfels in Rostock 2007.

internationale Wirtschaftsordnung ist zweifellos ungerecht & unhaltbar. Die Widersprüche sind überall.

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

historisch-politischen Hintergrund stellt der vorliegende Sammelband daher die Frage, wie sich das Verhältnis von Politik und Kunst in der Gegenwart gestaltet und inwiefern sich der Begriff der Subversion eignet, um dieses Verhältnis zu beschreiben. Sind jene künstlerischen Konzepte, die im 20. Jahrhundert mit dem Begriff der Subversion operierten, heute veraltet? Wie werden sie aktuell erneuert? Welche Effekte haben die gegenwärtigen medialen Umbrüche für die verschiedenen künstlerischen Felder und ihre politische Bedeutung? Existiert eine wirksame künstlerische Subversion überhaupt? Und, wenn ja, in welchem Rahmen kann sie wirksam werden? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich 16 Aufsätze von Wissenschaftler/-innen aus sieben Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande, Belgien, Tschechien, USA), eine Podiumsdiskussion, ein Prosatext und eine Bilderserie, die in diesem Band versammelt sind. Die Beiträge analysieren die Geschichte, Strategien und Wirkungsfelder des Begriffs der Subversion. Sie untersuchen, welche (neuen) subversiven Strategien die aktuellen Kunstformen benutzen, sie setzen die Felder Literatur, Theater, Fotografie, Film, Fernsehen, Bildende Kunst und Mode diesbezüglich miteinander in ein Verhältnis und versuchen, aus diesen konkreten Analysen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Die Herausgeber/-innen möchten mit dem vorliegenden Buch einen Beitrag zur Geschichte, Aktualität und Reflexion subversiver ästhetischer Konzepte in verschiedenen Feldern, mit verschiedenen theoretischen und methodischen Ansätzen und unterschiedlichen politischen Bewertungen liefern. Im Gegensatz zu anderen Sammelbänden der jüngeren Zeit, die eine eher historisierende oder nationale Perspektive einnehmen, 4 geht es uns und den Beitragenden um die Gegenwart, die Anwendung neuerer theoretischer Ansätze sowie eine internationale Perspektive auf unterschiedliche kulturelle Felder vor dem Hintergrund der jüngsten medialen Entwicklungen.

Der Begriff der Subversion Es ist weder möglich noch sinnvoll, den Begriff der Subversion endgültig und eindeutig bestimmen zu wollen; daher zeugen die Beiträge 4 | Dabei handelt es sich um die Sammelbände Linke Mythen (Büsser u.a. 2004), Subversion der Zeichen von Marcel Duchamp bis Prada Meinhof (Lentos Kunstmuseum Linz 2005) und Alles Pop? Kapitalismus & Subversion (Chlada u.a. 2003). Die ersten beiden Bände beschäftigen sich mit ›subversiver Kunst‹ historisierend, der letzte Band untersucht einen nationalen Korpus.

Die Katastrophe ist über uns hereingebrochen. Die überall herrschende Wirtschaftsplanung ist irrsinnig.

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dieses Bandes von den vielfältigen Möglichkeiten, diesen Begriff zu nutzen und zu konnotieren. Als Hintergrund soll dennoch eine kleine Übersicht über vier Bedeutungsfelder des Begriffs Subversion gegeben werden, die sich seit dem 19. Jahrhundert historisch entwickelt und einander nicht abgelöst, sondern nebeneinander gestellt haben.5 Durch die Unterscheidung von vier Formen der Subversion kann der Begriff operationalisierbar gemacht werden, wobei diese vier Kategorien oft vermischt auftauchen. Der erste beschreibbare Begriff der Subversion ist jener der politischrevolutionären Subversion: Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bezeichnen Staatssicherheitsdienste jene Gruppen als subversiv, die mit konkreten Gewaltakten oder der Bildung einer Massenbewegung die herrschende Ordnung in einem revolutionären Akt oder Prozess radikal umstürzen wollen. Der Terrorismus der Roten Armee Fraktion oder von Al-Quaida, aber auch die friedlichen Revolutionsbewegungen von 1989/90 sind Beispiele der politisch-revolutionären Subversion. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich ein künstlerisch-avantgardistischer Begriff der Subversion benennen: Es formieren sich avantgardistische Kunstbewegungen wie der Dadaismus und der Surrealismus, die durch einzelne spielerische Akte exemplarisch die herrschenden Zeichensysteme außer Kraft setzen. Die Situationistische Internationale und jüngere Ansätze der Kommunikationsguerilla wie das Critical Art Ensemble erneuern diese avantgardistischen Strategien unter veränderten medialen Bedingungen. Der minoritäre bzw. Untergrund-Begriff der Subversion existierte bereits in zahlreichen Varianten, bevor er von den Cultural Studies zum wissenschaftlichen Programm erhoben wurde: Seine Konzepte gehen von der Annahme aus, dass eine minoritäre Gruppe, die ethnischen, sexistischen, ökonomischen oder anderen Diskriminierungen unterliegt, mit ihren entsprechend alternativen Lebens- und Sprechweisen und basierend auf ihrer ›minoritären Identität‹ eine fundamentale Veränderung der Mehrheitsgesellschaft erreichen kann. Im Anschluss an den Dekonstruktivismus Jacques Derridas entwickelt sich ab den 1970er Jahren der dekonstruktivistische Begriff der Subversion: Die Vertreter/-innen der Gender Studies und der Postkolonialen Theorie beziehen sich in dieser Tradition auf die These, dass die Befreiung 5 | Eine ausführliche diachrone diskursanalytische Untersuchung der vier Bedeutungsfelder des Begriffs der Subversion findet sich im 2. Kapitel der Dissertation Pop, Minoritäten, Untergrund. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa von Thomas Ernst, die dieser 2007 am Fachbereich II der Universität Trier eingereicht hat und die voraussichtlich 2008 veröffentlicht wird.

Die Techniken der Zerstörung sind unerschöpflich. Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

›minoritärer Identitäten‹ erst durch die Auflösung jener Matrixen und Ordnungsschemata, die sie konstruieren helfen, erreicht werden könne. Damit stellen sie sich in einen Gegensatz zu minoritären Konzepten der Subversion, die minoritäre Identitäten zum Ziel ihrer Emanzipation stärken. In den hier vorliegenden Beiträgen werden sehr verschiedene Typen des Subversionsbegriffs aufgerufen, genutzt oder problematisiert. Die Beitragenden verstehen Subversion als eine avantgardistisch-künstlerische Praxis (Neuner, Schober, Schröer), eine aktionsorientierte NGO-Praxis (Tangens/padeluun), eine Form der Mikropolitik oder des Guerillakampfes (Terkessidis). Sie nutzen soziologische (Bogusz) und medienwissenschaftliche Begriffe (Betten), psychoanalytisch-dekonstruktivistische Konzepte (Treichl), Ansätze der Feministischen Theorie (Gozalbez Cantó) bzw. der Gender Studies (Ernst, Sennewald, Wagels), die Postkoloniale Theorie (Schröer, Terkessidis), die Cultural Studies (Terkessidis) oder gehen von Adornos Negation der modernen Gesellschaft durch die Kunst aus (Miller). Andere Aufsätze entwickeln ihren Subversionsbegriff aus einem popkulturell-ästhetischen Verständnis, wie es z.B. Diedrich Diederichsen formuliert (Bloch, Schröer), oder begreifen Subversion als einen formal-ästhetischen Akt (Richter) bzw. eine Kommunikationsstrategie (Schäfer/Bernhard). Einige Aufsätze stellen den Subversionsbegriff schließlich vollständig in Frage und beschreiben Aporien der Subversion (Ernst), eine Subversion der Subversion (Doll) oder eine Entstellung subversiver Strategien (Schäfer/Bernhard).

Struktur und Beiträge Das Buch gliedert sich in sieben Abschnitte, die von einer Fotoserie und einem Prosatext ergänzt werden. Am Anfang steht eine Sektion, die sich mit Geschichte, Strategie und Wirkung des Begriffs der Subversion auseinander setzt. Den ersten Beitrag liefert Mark Terkessidis (Köln) unter dem Titel Karma Chamäleon. Unverbindliche Richtlinien für die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute. Terkessidis gibt einen Überblick über verschiedene Begriffe und Probleme subversiver Taktiken von den 1960er Jahren bis heute. Er versteht Subversion nicht als einfachen Protest, sondern als eine immer auch ästhetische Taktik. Anhand von zahlreichen Beispielen beschreibt er mit Sinnzersetzung, Verkleidung, Übertreibung, Umkehrung, Stellvertreteraktion und Hybridität sechs subversive Taktiken, deren Wirksamkeit er jedoch problematisiert. Unter den Bedingungen der Kontrollgesellschaft drohe den ›subversiven Identitäten‹ eine schnelle Mainstreamisierung.

vollzieht sich nicht nur durch das Bewußtsein oder die Ideologie, sondern auch im Körper & mit dem

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Von dieser Gefahr einer Absorption subversiver Taktiken ausgehend, stellt Martin Doll (Frankfurt a.M.) die Überlegung an, ob es nicht einer Subversion der Subversion bedarf. Er fragt in seinem Beitrag Für eine Subversion der Subversion. Und über die Widersprüche eines politischen Individualismus, ob selbst zum System geronnene coole und hippe Negationen zugunsten von Strategien aus heterogenen streitbaren Einmischungen, die sich permanent selbst in Frage stellen, verworfen werden sollten. Doll wählt als Ausgangspunkt für seine Überlegungen die Studie The Conquest of Cool von Thomas Frank und zeigt in seinen Betrachtungen, warum der Begriff der Subversion überhaupt eine solch allgemein akzeptierte positive Besetzung erhalten konnte. Darauf auf bauend weist er nach, wie stark sich politischer Aktivismus noch von der Vorstellung traditioneller quasi-fordistischer kapitalistischer Produktionsformen und ihren Folgen leiten lässt und dabei durch die Propagierung eines ›authentischen Individuums‹ selbst gefährdet. Daran anschließend wirft er mit Jacques Rancière die Frage auf, was heute das Politische heißen kann – und gegen welche Ordnungen sich ein politisches Handeln möglicherweise zu richten hat. Auch Mirko Tobias Schäfer (Utrecht/NL) und Hans Bernhard (Wien/A; St. Moritz/CH) reflektieren die Absorption subversiver Taktiken und zeigen in ihrem Beitrag Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen, dass bestimmte subversive Strategien in Politik und Werbung zur Erregung von Aufmerksamkeit für Themen und Botschaften angewendet werden. So haben sich die Ästhetik und die Kommunikationsstrategien des ›Hacktivismus‹, der ›Culture Jammers‹ oder der ›Kommunikationsguerilla‹ als wenig resistent erwiesen gegenüber der Inkorporation in die Kulturindustrie: Subversion ist hier vor allem als Zuschreibung zu verstehen. Nach Schäfer und Bernhard handelt es sich bei diesen als subversiv verstandenen Strategien um Kommunikationstechniken, die dem Transport von Botschaften an Empfänger dienen – wobei die Botschaft selbst austauschbar ist. Sie untermauern ihre Thesen mit verschiedenen Beispielen aus den Bereichen Netzkunst (z.B. Yes Men, SellTheVote.com und eToy), Werbung (Kampagnen von Puma und Volkswagen) und Politik (die Irak-Kampagne der Public-Relations-Agentur Hill & Knowlton). Wirklich subversiv wäre es in ihren Augen, jenen den Kommunikationsstrategien zugeschriebenen subversiven Charakter selbst zu entstellen. Im Gegensatz zu diesen einführenden drei Aufsätzen, die zwar das Gelingen einzelner subversiver Taktiken darstellen, jedoch vor allem die Gefahr ihrer Vereinnahmung beschreiben und über alternative Möglichkeiten politischen Handelns nachdenken, präsentiert der Beitrag

Körper. & es ist eine Täuschung zu hoffen, es könne nicht mehr schlimmer kommen. Dümmer & dümmer,

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Informationen sind schnell – Wahrheit braucht Zeit. Einige Mosaiksteine für das kollektive Netzgedächtnis von Rena Tangens und padeluun (Bielefeld) viele Beispiele konkreter Wirksamkeit subversiver Strategien. Die beiden Netzkünstler/-innen entwickelten in Anlehnung an den französischen Komponisten Erik Satie die künstlerische Strategie des ›Rahmenbaus‹. Ihre Projekte bieten Menschen aus sehr unterschiedlichen Kontexten einen Rahmen für Austausch, Kommunikation und eigene Aktivitäten. So programmierten sie mit anderen Aktivist/-innen des FoeBud e.V. bereits in den 1980er Jahren (d.h. vor der Einführung des World Wide Web) das Mailboxsystem Zerberus, mit dem selbst organisierte, nicht überwachte Bürgernetze zur Kommunikation geschaffen wurden. Seit einigen Jahren vergeben sie jährlich die Big Brother Awards, die ›sieben Oscars für Überwachung‹. Damit werden Firmen, Personen und Institutionen bloßgestellt, die sich durch die Verletzung des Datenschutzes, der informationellen Selbstbestimmung und der Privatsphäre der Bürger/-innen besonders hervortun. Nach diesen eher allgemeinen Reflexionen über den Begriff der Subversion und die Wirksamkeit subversiver Strategien folgen fünf Abschnitte, die sich auf den Feldern Literatur, Theater, Fotografie, Film und Fernsehen sowie Bildende Kunst und Mode mit ganz konkreten künstlerischen Ansätzen zur Subversion beschäftigen. Auf dem Feld der Literatur untersucht Thomas Ernst (Trier; Brüssel/B) unter dem Titel Textzwitter, Transvestitismus und Terrorismus die Verhandlung Subversiver Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa am Beispiel von Thomas Meineckes Roman ›Tomboy‹. Die gesellschaftlich privilegierte Stellung des Mediums Buch ist seit den 1960er Jahren verloren gegangen. Heute kann Literatur kaum mehr in die politischen Institutionen oder die mediale Öffentlichkeit hineinwirken, sie archiviert und verhandelt jedoch innerhalb ihres literarisch-ästhetischen Spezialdiskurses subversiv-politische und sprachlich-ästhetische Konzepte. Anhand des Romans Tomboy von Thomas Meinecke zeigt Ernst, wie in diesem Textzwitter die Grenze zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache experimentell aufgelöst und zudem dekonstruktivistische und politisch-revolutionäre Konzepte der Subversion archiviert und miteinander kontrastiert werden. Der Germanist Mat thew Miller (New York/USA) geht in Literarische Zwischenöffentlichkeit? Alexander Kluges erzählerische Reaktionen auf die deutsche Wendezeit von Adornos ästhetischer Theorie aus, die Kunst als eine Negation der modernen Gesellschaft versteht. Im Anschluss an die letztlich pessimistische Sichtweise Adornos stellt Miller die Gesellschaftsanalyse Oskar Negts und Alexander Kluges dar, die sich um die Rehabilitation einer radikaldemokratischen Form von

frecher & frecher. Von Tod zu Verblödung zu Verblödung zu … Das sind die Konturen der irreversiblen

T. Ernst, Patricia G. Cantó, S. Richter, N. Sennewald und J. Tieke SUBversionen · Eine Einführung

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Politik unter den herrschenden ökonomischen Verhältnissen bemüht. Negt und Kluge entwickeln in einem utopischen Vorgriff eine Theorie der Maßverhältnisse als jener Bedingungen, die gegen alle Wahrscheinlichkeiten eine Selbstbestimmung des Gemeinwesens rekonstituieren könnten. Vor diesem Hintergrund analysiert Miller Alexander Kluges Prosaprojekt Chronik der Gefühle als den Versuch der Herstellung einer literarischen Zwischenöffentlichkeit. Den Begriff der Subversion hält er – so seine Schlussfolgerung – für dieses Konzept einer Rekonstruktion eines gesellschaftlichen Miteinanders für ungeeignet. Im Bereich Theater beschäftigt sich die Germanistin Natalie Bloch (Bielefeld) in ihrem Beitrag »Ich will nichts über mich erzählen!« mit Subversiven Techniken und ökonomischen Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch, dessen Arbeit häufig als subversiv bezeichnet wird. Bloch geht vom ästhetischen und popkulturellen Subversionsbegriff Diedrich Diederichsens aus und untersucht aus theaterästhetischer Perspektive exemplarisch drei Stücke des Autors und Regisseurs. Ergänzend diskutiert Bloch die Nähe Polleschs zum von Hans-Thies Lehmann beschriebenen ›postdramatischen Theater‹, mit dessen Vorstellungen unter anderem die Ablehnung des klassischen Repräsentationstheaters durch Pollesch korrespondiert. Bloch zeigt, dass Polleschs Arbeit Brechts epischem Theater mit seinen Verfremdungseffekten und einer auf klärenden und demonstrierenden Haltung näher steht als aktuellen postdramatischen und subversiven Konzepten. Die Soziologin Tanja Bogusz (Berlin, Jena) richtet ihren Blick im Beitrag Geheimnisse retten. Soziologische Betrachtungen der Berliner Volksbühne – genauso wie Natalie Bloch – auf die Theaterszene der Ostberliner Volksbühne. Als Soziologin problematisiert Bogusz, wie subversive Praxis innerhalb einer festen Institution wie dem Theater überhaupt existieren kann. Dabei berücksichtigt sie auch die Unterschiede der Volksbühnen-Praxis im zunächst staatssozialistischen und dann kapitalistischen Gesellschaftssystem. Da der Subversionsbegriff in der Soziologie kaum Verwendung findet, verortet Bogusz Subversion im Verhältnis der soziologischen Begriffe ›Praktiken‹/›Strukturen‹ und ›Akteure‹/›Institutionen‹. Bogusz kombiniert ihre soziologische Perspektive mit poststrukturalistischen Elementen, die nicht Struktur als allein formgebend bezeichnen, sondern die die Veränderungspotenziale künstlerischer Praxis ernst nehmen. Bogusz stellt dabei Subversion als figurationsbildende Praxis heraus und stellt sie dem soziologischen Begriff der ›Anomie‹ gegenüber. Auf dem Feld der Fotografie geht die Kulturpsychologin Karen Wagels (Marburg) in ihrem Beitrag Sub/Versionen von ›Geschlecht‹.

Krise: die Scheiße & der Müll, der Alltag. Das sind Versuche, die Konturen dieser Krise zu zeichnen. Eine

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Zum politischen Einsatz einer Fotoausstellung der Frage nach, ob ›wirksame‹ Subversion überhaupt existiert, wobei Subversion als politische Praxis verstanden wird, die zum Ziel hat, hegemoniale Strukturen zu stören, umzuleiten oder ad absurdum zu führen. Sie begibt sich anhand der Analyse der Besucher/-innenreaktionen einer Fotoausstellung auf das politische und doch als privat wahrgenommene Terrain des Geschlechterbegriffs. Subversion, so ihre Schlussfolgerung, ist prozessual und nur im räumlichen und zeitlichen Kontext zu erfassen. Von Wagels benannte und untersuchte Elemente der subversiven Prozessualität sind Momente des Irritierens, Provozierens und Affizierens. Sie führen zu Wirkungen, die weder vorhersehbar noch regulierbar sind. Patricia Gozalbez Cantó (Osnabrück) untersucht als Vertreterin der feministischen Kunstwissenschaft Fotografie als subversive Kunst, indem sie sich den fotografischen Strategien von Claude Cahun und Cindy Sherman zuwendet. Die Künstlerinnen bedienen sich der Übertreibung und Parodie sowie verschiedener Additions- und Subtraktionsverfahren um bestimmte Geschlechtsmerkmale bzw. deren Abwesenheit herauszustellen. Beide machen in ihren Bildern verdeckte Strukturen im Geschlechterverhältnis sichtbar. Anhand exemplarischer Bildanalysen zeigt Gozalbez Cantó auf, wie die fotografische Selbstinszenierung genutzt wird, um die Kategorie ›Geschlecht‹ mit ästhetischen Strategien der Subversion zu hinterfragen und geschlechtsspezifische Konstruktionsmechanismen und Repräsentationsstrategien aufzudecken. Einen anderen Ansatz wählt Inga Betten (Frankfurt a.M.), die sich in ihrem Beitrag Visual Resistance. Die Bilder der Zapatistas als Subversionen des Blickregimes der zapatistischen Freiheitsbewegung in Mexiko nähert. Sie betrachtet die (Selbst-)Inszenierungen der Zapatisten anhand der weltweit kursierenden Bilder – Basis ihrer Untersuchung sind die digitalen Fotoarchive der EZLN und des Subcomandanten Marcos, die frei zugänglich im Internet zu finden sind. In ihrer Fokussierung des medienästhetischen Aspektes der zapatistischen Freiheitsbewegung geht sie der Frage nach, was diese Bilder so aufmerksamkeitsstark und geheimnisvoll macht. Die Visualität der Bewegung und ihre Strategie der (Un-)Sichtbarkeit werden in ihrem Beitrag aus einer bildwissenschaftlichen Perspektive analysiert. Dabei versteht sie die Maske der Zapatisten, die pasamontaña, als Ausdruck einer gegen das Blickregime gerichteten subversiven Taktik, die die visuelle Kultur mit Gegen-Bildern konfrontiert. Im Bereich Film und Fernsehen untersucht der Filmwissenschaftler Sebastian Richter (Frankfurt a.M.) in seinem Beitrag Alterierende Räume, unmögliche Perspektiven. Zur Subversion des Kamerablicks durch Computeranimation und ›virtuelle Kamera‹ die Veränderungen

Suche nach Worten: Korruption, Seuche, Frustration usw. Verstümmelung usw. Ich meine: Zerstörung.

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medialer Blickkonstellationen, die im Zuge der von ihm konstatierten Verschmelzung von Spiel- und Animationsfilm zu beobachten sind. In zwei Filmanalysen zeigt er, wie der Kamerablick, der seit über hundert Jahren die Darstellung von Wirklichkeit entscheidend geprägt hat, durch den Einsatz von virtuellen Kameras in Computersimulationen, Videospielen und im Spielfilmbereich sowohl imitiert als auch gleichzeitig unterwandert wird – und wie auf diese Weise die Darstellung von Wirklichkeit in den Bildmedien subversiv umstrukturiert wird. Die Kulturwissenschaftlerin Nadja Sennewald (Berlin) geht in Drag in Space. Strategien der Geschlechtersubversion in populären Filmen und Fernsehserien der Frage nach, ob ästhetische Strategien wie Drag, Travestie und andere Formen der Geschlechtermaskerade tatsächlich das binäre Geschlechtersystem in Frage stellen und alternative Geschlechterkonzepte produzieren helfen. Anhand exemplarischer Filmanalysen untersucht sie, inwiefern dem Thema Drag bzw. Geschlechtermaskerade in der populären Kultur noch subversives Potenzial zugesprochen werden kann oder ob diese Formen der Geschlechter-Parodie nicht im Gegenteil dazu dienen, heterosexuelle Geschlechternormen zu reidealisieren und zu naturalisieren. Schließlich wird auch der Bereich Bildende Kunst und Mode zum Gegenstand von Analysen. Anna Schober (Wien/A) untersucht in Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker. Zur Aneignung avantgardistischer Praktiken in ehemaligen sozialistischen Ländern seit 1989 exemplarisch die zeitgenössische Nutzung von künstlerischen ›Avantgarde-Praktiken‹ anhand der Arbeiten von Aleksandrija Ajduković, Lucia Macari, Alexander Voronzov und der Künstlergruppe Škart, die in Ländern des ehemaligen Ostblocks wirken. Schober geht in ihrer kunstwissenschaftlichen Analyse von der Annahme aus, dass die oben genannten Künstler/-innen ästhetische Strategien wie Montage, Parodie und Verfremdung als Reaktion auf die allgegenwärtigen Medienbilder anwenden. Gregor Schröer (Liberec/CZ) vergleicht in Avantgardistische und postkoloniale Strategien der Entkanonisierung. Zu Meschac Gabas ›Museum of Contemporary Art‹ die Strategien avantgardistischer Künstler wie Marcel Duchamp und Marcel Broodthaers mit den ästhetischen Taktiken des zeitgenössischen Künstlers Meschac Gaba. Ihre künstlerischen Vorgehensweisen werden von Schröer als Kritik an bestehenden Kanonisierungsmustern und an der ›Institution Kunst‹ bzw. an der ›Institution Museum‹ als solcher gelesen. Schröer vertritt die These, dass Gaba mit seiner Arbeit Museum Of Contemporary African Art die ›Institution Museum‹ als Repräsentationsort des künstlerischen Kanons subversiv unterwandert, indem er die koloniale bzw. eurozentrische Wahrnehmung von ›Afrika‹ offen legt.

(Leere Worthülsen sind das: Unsinn.) Es ist unmöglich, sich von einer Welt zu lösen, ohne sich auch von

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Helga M. Treichl (Innsbruck/A) vertritt in Maskierte Identitäten. Verhüllen und Präsentieren als Ästhetik des Politischen die These, dass Mode heute eine Verringerung sozialer und ökonomischer Separationen vortäuscht. Treichl geht davon aus, dass Geschlechtsidentitäten und Gruppenzugehörigkeiten diffuser geworden sind und dass in der Folge auch bestimmte Formen des Sich-Kleidens weniger offensiv, d.h. sich voneinander abgrenzend, präsentiert werden. Subversion begreift sie als ›Modepraktik‹, in der es um Strategien der Nachahmung, Störung und Verschiebung vorhandener Repräsentationsweisen geht. Im letzten Abschnitt, der unter dem Titel Schlüsse steht, dokumentieren wir eine Podiumsdiskussion, die sich um die Reflexion der versammelten Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln bemüht und den Titel »Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass es funktioniert.« Eine Abschlussdiskussion trägt. Der Lyriker und ehemalige Sponti Michael Buselmeier (Heidelberg) berichtet von dem historischen Begriff der Subversion, der noch auf die radikale Beseitigung des kapitalistischen Systems abzielte. Die ›68er-Bewegung‹ sei jedoch von falschen Grundannahmen ausgegangen, weshalb die damaligen subversiven Aktionen gescheitert seien. In den Beiträgen erkennt er, dass Subversion sich heute viel eher affirmativ geriere und auf die Nutzung der neuen Medien vertraue. Im Gegensatz dazu setzt er sich für die Rettung der poetischen Sprache ein. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Franziska Schössler (Trier) nimmt eine wissenschaftliche Perspektive ein und differenziert – innerhalb des künstlerisch-avantgardistischen Begriffs der Subversion – vier verschiedene Graduierungen ›subversiver Kunst‹ mit unterschiedlichen Reichweiten: An den einen Pol stellt sie dabei die Ästhetik, an den anderen das Politische. Sie nennt Beispiele für Formen rein immanent-ästhetischer Subversion, zweitens von Subversion als Institutionenreflexion, drittens für ästhetische Versuche, Kunst und Leben zu fusionieren bzw. Diskursgrenzen zu überschreiten sowie viertens Formen realen politischen Eingreifens. Im Gegensatz zu Michael Buselmeier geht sie davon aus, dass es auch heute noch Tabus und Gegner gibt, wie zum Beispiel die männliche Dominanz in vielen gesellschaftlichen Bereichen, die jedoch immer mehr unsichtbar gemacht werden. Da in weiten Teilen der Gesellschaft an einem bürgerlichen Kunstbegriff festgehalten werde, sei es auch heute noch für Kunstwerke möglich, subversive Wirkungen zu entwickeln. Die Netzkünstlerin Rena Tangens (Bielefeld) beschreibt zahlreiche konkrete Strategien der Subversion, die sie in den FoeBuD e.V.-Aktionen realisieren konnte. Entscheidend sei es, sich mit den

der Sprache zu lösen. Es fehlt nur an Widerstand gegenüber der Gegenwart. Das Begreifen dieser Welt

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gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht abzufinden, klare Ziele zu formulieren, hartnäckig, autonom und auf verschiedenen Ebenen aktiv zu bleiben sowie im richtigen Moment in das ›Window of Opportunity‹ bzw. das ›Window for Change‹ einzusteigen. Das Verhältnis von Kunst und Politik bleibe jedoch problematisch: Wenn sie ihre Aktionen als Kunst kennzeichne, erreichten diese keine Wirkung mehr – deren Etikettierung als politisch sorge jedoch für eine öffentliche Aufmerksamkeit. Der Netzkünstler Hans Bernhard (Wien/A; St. Moritz/CH) bezeichnet seine Aktionen – im Gegensatz zu denen des FoeBuD e.V. – als ›ziellos‹ und versteht sie als ›Experimente in globalen Kommunikationsräumen‹. Dabei sei es immer wieder möglich, Systemschwachstellen bloßzulegen und anzugreifen, meist reagierten die Systeme jedoch auf diese Angriffe, indem sie ihre Schwachstellen beseitigen. Der Begriff der Avantgarde lasse sich – trotz aller gegenteiligen Behauptungen – auch heute noch auf viele Aktionen im Bereich neuer Medien anwenden. Wir freuen uns, dass sich in diesem Buch neben den soeben beschriebenen wissenschaftlichen Aufsätzen auch künstlerische Produktionen finden. Armin Chodzinski (Hamburg) beschäftigt sich als Künstler, Theoretiker und Unternehmensberater mit dem Verhältnis von Kunst und Ökonomie. Zu unserem Thema hat er eine Serie mit fotografischen Arbeiten zusammengestellt, die in diesem Band zum ersten Mal veröffentlicht wird. Der Prosatext von Florian Neuner (Berlin) konterkariert den Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Texte, indem er diese unterläuft und im Untergrund der Buchseiten seine eigene Spur hinterlässt. Was tun wenn’s brennt. Aussageverweigerung, Wahl der Mittel fragt nach den Möglichkeiten eines subversiven Sprechens, Schreibens oder Schweigens in der heutigen Zeit und reflektiert zahlreiche subversive Strategien in der Form eines Prosatextes, der zugleich mit Stilmitteln und literarischen Verfahren experimentiert, die in der Tradition der literarischen Avantgarde stehen. Walter Benjamin stellte fest: »Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muß« (Benjamin 1988: 8). Möge dieses dicke Buch in kleiner Auflage jene verborgenen Nischen erreichen, die wir zu kennen glauben. Wir hätten es nicht gemacht, wenn wir nicht glauben würden, dass es funktioniert.

kann nur auf ihre Infragestellung gegründet sein. (Aus Unsinn & Unglück.) Wo dunkle Spiele der Des-

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Dank Hintergrund dieses Bandes und seiner Beiträge ist eine Tagung, die sich vom 14. bis zum 16. Juli 2006 im Künstlerhaus Edenkoben mit dem Thema SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart beschäftigt hat und als Kooperationsveranstaltung der Hans Böckler Stiftung, des Künstlerhauses Edenkoben und der Universität Trier von der Mikro AG Kultur- und Medienwissenschaften in der Hans Böckler Stiftung, die auch diesen Band herausgibt, organisiert worden ist. Die Tagung hätte nicht durchgeführt werden können ohne die materielle Ausstattung durch die Hans Böckler Stiftung, wofür wir Dr. Eike Hebecker und Renate Peuster danken möchten, durch das Künstlerhaus Edenkoben, insbesondere Ingo Wilhelm, Jutta Schmitt, Claudia Eidinger und Petra Spielmann, sowie durch den Fachbereich II der Universität Trier, insbesondere Prof. Dr. Franziska Schößler, Claudia Kurz und der dortigen Medientechnik. Auch dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne eine großzügige Unterstützung durch die Hans Böckler Stiftung und das Künstlerhaus Edenkoben sowie ohne die logistische Unterstützung durch den Fachbereich II der Universität Trier. Die Tagung und das Buch sind Teil des Kooperationsprojektes zwischen dem Künstlerhaus Edenkoben und der Universität Trier, das von der Landesregierung Rheinland-Pfalz angestoßen wurde. Wir danken den Teilnehmer/-innen der Tagung für die sehr anregenden Gespräche und Diskussionen sowie den Beitragenden dieses Bandes für die produktive Zusammenarbeit. Den Ansprechpartner/ -innen im transcript Verlag in Bielefeld, Karin Werner, Roswitha Gost und Gero Wierichs, sei herzlich dafür gedankt, dass sie für unsere Ideen offen gewesen sind und an ihrer Verwirklichung gearbeitet haben. Wir danken Ellen Backes und Jonas Möhring (dankegrafik Berlin) für die Gestaltung des Tagungsplakats, des Buchcovers und der Illustrationen im Buch und Katja Geiger für das Lektorat der Beiträge. Berlin/Brüssel/Frankfurt a.M./Mülheim/Osnabrück, Juni 2007

Literatur Agnoli, Johannes (1996): Subversive Theorie. ›Die Sache selbst‹ und ihre Geschichte. Berliner Vorlesung. Herausgegeben von Christoph Hünke, Freiburg: Ça Ira. AG Spaß muß sein (Hg.) (1994): Spassguerilla. Reprint, Münster: Unrast.

orientierung gespielt werden. Also, das Problem der Sprache, der schlimmsten aller Konventionen. Also

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autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Blissett, Luther/Brünzels, Sonja (1994): Handbuch der Kommunikationsguerilla, Hamburg: Libertäre Assoziation. Benjamin, Walter (1988): Einbahnstraße, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brand, Ulrich (2004): »Governance«. In: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 111–116. Büsser, Martin/Behrens, Roger/Neumann, Jens/Plesch, Tine/Ullmaier, Johannes (Hg.) (2004): Linke Mythen. testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Heft 12/2004, Mainz: Ventil. Chlada, Marvin/Dembowski, Gerd/Ünlü, Deniz (Hg.) (2003): Alles Pop? Kapitalismus & Subversion, Aschaffenburg: Alibri. Diederichsen, Diedrich (1993): »Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz«. In: Diedrich Diederichsen, Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990–93, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 33–52. Fanizadeh, Andreas/Ohrt, Roberto (Hg.) (1998): Subversion des Kulturmanagements. Die Beute. Neue Folge, Heft 01/1998. Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2003): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York: Campus. Hoffmann, Martin (Hg.) (1998): SubversionsReader. Texte zu Politik & Kultur, Berlin: ID. Lentos Kunstmuseum Linz (Hg.) (2005): Just do it! Die Subversion der Zeichen von Marcel Duchamp bis Prada Meinhof, Wien: edition sirene. Sennett, Richard (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Siedler (5. Aufl.). Zelik, Raul/Bitter, Sabine/Weber, Helmut (2004): Made in Venezuela – Notizen zur Bolivarischen Revolution, Berlin/Hamburg/Göttingen: Assoziation A.

traktieren wir das Problem der Sprache in eben diesem Medium. Was soll denn dabei herauskommen? Wir

haben fast eine Sprache. Die Markierung eines irgendwie sprachkritischen, skeptischen Standpunkts?

Zwischen Wirkungslosigkeit und Systemstabilisierung.

Also Suche nach Worten, nach neuen Formen & Artikulationen. Dieser Text besteht durchweg aus vor-

gefertigten Elementen. (Auf den folgenden Seiten werfen andere Zitate zur Erinnerung & zum Verschwin-

Karma Chamäleon. Unverbindliche Richtlinien für die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute Mark Terkessidis

Der Begriff Subversion hat einen langen Bedeutungswandel hinter sich. Mit diesem Wandel lohnt es sich zu beginnen, wenn es darum geht, was Subversion heißt, wie die Praktiken der Subversion funktionieren und ob Subversion als Strategie im neuen Jahrtausend noch eine Rolle spielen kann. Wenn man ein Fremdwörterbuch aus den 1970er Jahren aufschlägt, dann ist als Bedeutung des Wortes ›Staatsumsturz‹ verzeichnet. In diesem Sinne hat der Begriff Subversion eine Geschichte, die so lang ist wie die Geschichte des Staates selbst, doch die Bezugsgröße des Wörterbuches waren zweifellos die Revolten der 1960er Jahre. Damals kamen Umsturzgedanken aus den Reihen der Künstler und Intellektuellen, welche – ausgestattet mit einem vagen marxistischen Hintergrund – die Verhältnisse als Ganzes kippen wollten. Beispiele sind die Situationistische Internationale, die Gruppe SPUR oder auch die Subversive Aktion. Dabei handelte es sich um relativ kleine Kreise, die ihre Vorbilder in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts hatten, und die ihre heutige Relevanz aus der Vorwegnahme und teilweise auch Mitgestaltung der späteren Revolten beziehen. Bald darauf wurde ›subversiv‹ aber auch eine Zuschreibung von außen. Zumal sich in Lateinamerika das Adjektiv in den 1970er Jahren zum Etikett für jedwede Kritik von ›links‹ entwickelte. Und diese Etikettierung konnte tödliche Wirkung entfalten: Nach der Machtübernahme des Militärs in Chile und Argentinien wurden die Subversiven zu einer Leerstelle in der Gesellschaft – zu ›Verschwundenen‹. Je mehr

den dessen, was die Erinnerung festzuhalten versucht, die eingangs gestellte Frage von neuem auf.) Sinn

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

der politisch-revolutionäre Impetus in den gesellschaftlichen Kämpfen zurückgedrängt wurde, desto mehr änderte der Begriff Subversion seinen Gehalt. Der Staatsumsturz blieb zwar das Ziel der Aktivitäten, aber die Festigkeit der Verhältnisse erforderte nun einen längeren Atem – das ›System‹ sollte nicht mehr von außen attackiert werden, sondern musste von innen ›unterwandert‹ werden, um dadurch eine langsame ›Zersetzung‹ einzuleiten. Das Stichwort vom ›Marsch durch die Institutionen‹ zeugt von dieser neuen Geduld. Doch die Arbeit in den Institutionen schliff die kritische Energie ab. Sie glich, wie Leonard Cohen in seinem Stück First we take Manhattan (1988) einmal gesungen hat, einer Verurteilung zu »twenty years of boredom« (Cohen 1988). Schließlich verlor man das Ziel ganz aus den Augen. Nun hatte sich jenes Umstürzlerische auch immer im Bereich der Ästhetik und der Lebensführung bewegt. Zwischen Fluxus-Happenings, böser Musik, dem Leben in Kommunen und der Auf bruchstimmung der zweiten Frauenbewegung formierte sich eine Kritik des Alltagslebens, die ihre Energie aus der provokativen Herausforderung der alltäglichen, sich unhinterfragt wiederholenden Rituale bezog. Hierbei war ein Angriff auf das ›System‹ möglicherweise ein Horizont, aber oft konzentrierte sich der Einsatz auf den Nahbereich der Subjekte und die Veränderungen blieben im Ausgang offen. Spätestens in den beginnenden 1980er Jahren verlagerte sich die Tätigkeit der Subversion mehr und mehr in den Bereich des Ästhetischen. Subversiv nannten sich in jener Zeit gerne britische Popbands wie Human League, Heaven 17, Scritti Politti oder ABC. Deren musikalische Ausdrucksform bestand »im Über- und Auf-die-SpitzeTreiben, im Imitieren der Konditionen, unter denen Kultur industriell hergestellt wird« (Diederichsen 1991: 76). Bei jenen Popbands wurde die Subversion weitgehend als bewusstes Mittel eingesetzt, doch bald entdeckte eine neue Kulturkritik nicht-intentionale subversive Praktiken in allen Bereichen des Alltagslebens. Das bevorzugte Feld der Cultural Studies wurde die ›popular culture‹, also all jene kulturellen Ausdrucksformen, in denen die Beherrschten mit dem kulturindustriell gefertigten Rohmaterial anders als vorgesehen umgehen. Nach John Fiske etwa leisten jene Beherrschten im Umgang mit Shoppen, Fernsehsendungen, Stars etc. eine Art Widerstand: »Semiotischer Widerstand rührt vom Wunsch der Unterdrückten her, die Kontrolle über die Bedeutungen in ihrem Leben auszuüben, eine Kontrolle, die ihnen typischerweise in ihren materiellen sozialen Bedingungen verweigert wird« (Fiske 2000: 23). Hier spielt der Staatsumsturz überhaupt keine Rolle mehr, vielmehr werden ›progressive‹ Praktiken innerhalb der bestehenden Machtverhältnisse betrachtet. Der Begriff Subversion wird in den Cultural Studies nicht

für den kriegerischen Gebrauch der Worte. Das Bedürfnis nach einem neuen semantischen Feld, vielleicht:

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immer explizit benutzt, aber letztlich hat sich Subversion in vielen Untersuchungen von einer Praxis zu einem Analyseinstrument gewandelt, womit der Begriff vom akademischen Betrieb absorbiert wurde.

Subversion in der Praxis Aber was wäre nun Subversion? Die kurze Begriffsgeschichte hat gezeigt, dass Subversion bestimmter Voraussetzungen bedarf. Subversion ist die Aktivität eines Schwächeren in einem Verhältnis, das geprägt ist von einem definierbaren politischen Raum, einer bestimmten Herrschaftspraxis, von stabilen Routinen und einem dominanten Kollektiv. In diesem Rahmen umfasst Subversion eine ganze Reihe von unterschiedlichen Taktiken. Ursprünglich war der hier vorliegende Text einmal ein Vortrag und die Situation eines Vortrags bei einer wissenschaftlichen Konferenz bot sich in ganz hervorragender Weise an, um die Taktiken der Subversion an einem konkreten Beispiel zu verfolgen. Denn ein Vortrag auf einer Konferenz ist ein sehr traditionelles Alltagsritual, bei dem seit geraumer Zeit erstaunlich stabile Verhältnisse herrschen. Mit Michel Foucault gesprochen, handelt es sich beim Vortrag um ein typisches Arrangement der so genannten Disziplinargesellschaft (vgl. Foucault 1977). Eine Person wird im Raum exklusiv positioniert, auf einem Podest, hinter einem Pult – die Autorität dieser Person ist also physisch gewährleistet. Der Blick dieser Person ist panoptisch, was bedeutet, dass diese Person alle Personen im Raum sehen kann, während die Konvention vorsieht, dass die anderen Personen sich nicht gegenseitig anschauen, sondern nur die Person, die spricht. Im Grunde ist der Vortragende also so etwas wie ein Miniatursouverän. Bei einem Vortrag auf einer wissenschaftlichen Tagung kann die Autorität jener Person durch Fragen aus dem Publikum durchaus hinterfragt werden. In anderen Kontexten ist das gewöhnlich nicht gestattet, im Gegenteil, in der Schule oder im Seminar ist die vortragende Person mit der Macht ausgestattet, zu bewerten und zu strafen. Die Anordnung im Raum geht mit bestimmten Verhaltenszumutungen einher, mit bürgerlichen Verkehrsformen. Während des Vortrages wird nicht geschrieen, gegessen, geknutscht oder gegähnt. Bei manchen Vorträgen werden sogar Husten oder Naseputzen sanktioniert. Gespräche mit Nachbarn gelten als unfein. Dem Verlassen der Veranstaltung haftet ebenfalls ein Geschmack des Unangenehmen an – es wirkt als Störung des Vortrages oder auch als Beleidigung für den Referenten. Eigentlich sollen die Anwesenden nichts anderes tun, als bewegungslos

Schlachtfeld. Muß man mit Worten ebenso zerstören wie mit Taten. Was das hieße. Noch fehlt unsere

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

sitzen bleiben und still zuhören. Der Körper bleibt von der Veranstaltung ausgeschlossen – er unterliegt für die Zeit des Vortrages letztendlich einer ganz erheblichen Disziplinierung. Daher rührt im Übrigen auch das Gefühl, dass die Teilnahme an Tagungen äußerst anstrengend ist: Die eigene Verwandlung in ein Ohr ist tatsächlich körperliche Arbeit, eben weil körperliche Regungen unterdrückt werden müssen. Darüber hinaus stellen die Personen im Raum des Vortrages auch eine bestimmte Form der Gemeinschaft dar, die als ›scientific community‹ bezeichnet wird. Die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft hat eine Reihe von Voraussetzungen. Man muss sich mit einem bestimmten Diskurs auskennen – es hat keinen Sinn, an einer literaturwissenschaftlichen Fachtagung über das Unheimliche bei E.T.A. Hoffmann teilzunehmen, wenn man noch nie ein Buch des betreffenden Autors gelesen hat. Darüber hinaus existieren auch noch eine Reihe von unausgesprochenen Normen. Zum Beispiel wird gewöhnlich eine bestimmte Art erwartet, sich zu kleiden – ein Anzug etwa verleiht der Rede mehr Ernsthaftigkeit als Jeans und Pullover. Zudem ist es gerade in Deutschland weiterhin oft so, dass die mit Autorität ausgestatteten Personen, die Redner also, männlich sind, heterosexuell, ohne Migrationshintergrund und aus mittelständischen, meist bildungsbürgerlichen Familien stammen. Schließlich ist ein solcher Vortrag eine Institution im System der Wissenschaft. Dieses System ist vor allem in den 1960er Jahren einer massiven Kritik unterworfen worden, die sich weniger gegen die Inhalte, Methoden oder Begriffe wandte als vielmehr gegen die Machtwirkungen der Institutionen und des Funktionierens des Wissenschaftsbetriebes. Michel Foucault hat die Probleme so formuliert: »Welche Wissensarten wollt ihr disqualifizieren, wenn ihr fragt: ist es eine Wissenschaft? Welche sprechenden, diskursführenden Subjekte, welche Erfahrens- und Wissensgegenstände wollt ihr ›minorisieren‹, wenn ihr sagt: ›Ich, der ich diesen Diskurs halte, halte einen wissenschaftlichen Diskurs, ich bin ein Wissenschaftler‹?« (Foucault 1978: 64) Diese Disqualifikation und Minorisierung ist dann spürbar, wenn etwa einer Person mit Migrationshintergrund auf einer Konferenz zum Thema ›Integration‹ erklärt wird, dass ihre Aussagen zum Thema nicht ›wissenschaftlich‹ im Sinne von ›Objektivität‹ sein könnten, da sie durch ihren Migrationshintergrund zu sehr emotional verstrickt sei. Tatsächlich objektiviert eine solche Konferenz die ›Ausländer‹, den Gegenstand der ›Integration‹, und gerade die Charakterisierung des Diskurses als Wissenschaft sorgt dafür, dass die ›Objekte‹ zum Schweigen verdammt werden. Daher hat Foucault die »unterdrückten Wissensarten« als Voraussetzung und Quelle seiner »anti-wissenschaftlichen« Genealogien benannt (Foucault 1978: 60ff.).

Sprache. Kommt es darauf an, daß wir unsere eigene Sprache erfinden. Einen neuen Code. Denn die

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Eine solche Herangehensweise bildet auch die Grundlage der Cultural oder der Queer Studies, die aus einer minorisierten Perspektive die Institutionen und Funktionsweisen des Wissenschaftsbetriebes kritisiert haben – auch, um die eigene Objektivierung zu konterkarieren (vgl. Terkessidis 2004: 109ff.). In den USA ist es in den letzten Jahrzehnten daher oftmals üblich geworden, die ansonsten selbstverständlichen Voraussetzungen des eigenen Sprechens zu benennen, sich also etwa als weißer, heterosexueller Mann vorzustellen. In Konferenzen im deutschsprachigen Raum funktioniert das Ritual der Wissenschaft und des Vortrages jedoch in den meisten Fällen ohne eine solche selbstreflexive Komponente. Worum nun würde es gehen bei der Subversion der Vortragssituation? Zunächst ist deutlich geworden, dass es an der Praxis der Vortragssituation vom Standpunkt der Gleichheit und Gerechtigkeit vieles zu kritisieren gäbe – das muffige Ritual, die Herstellung von Autorität, die Unterdrückung der Körperlichkeit, die Ausschließung von bestimmten Gruppen von Menschen. Der Vortrag könnte als Beispiel einer bestimmten Herrschaftsform gelten, der Souveränität nämlich, sowie als Exempel einer bestimmten Machttechnik – der Disziplin. Und schließlich gehört der Vortrag zum System der Wissenschaft, welches wiederum soziale Ausschließungen produziert. Eine Kritik an dieser Alltagssituation würde also eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse implizieren. Bei der Subversion einer solchen Situation müsste es darum gehen, das bekannte und berechenbare Funktionieren zu unterlaufen, indem die üblichen Verhaltenserwartungen nicht erfüllt werden. Jedwede Störung zielt dabei auf eine Erschütterung der Stabilität des Arrangements, bedeutet einen Angriff auf die Routinen, Positionierungen und Normen. Subversion ist stets nicht nur einfacher Protest, sondern immer auch eine körperlich-ästhetische Taktik, um die Verhältnisse zu zwingen, sich zu offenbaren und in ihrer ganzen Falschheit zu erstrahlen. Wie nachhaltig die so herbeigeführte Erschütterung sein wird, das hängt von der Stärke ihrer Träger ab, von der Strategie und von der Kommunikation über das Ereignis. Da die Subversion traditionell aus der Position des Schwächeren heraus betrieben wird, ist ihr konkretes Ziel nicht die augenblickliche Vernichtung des Arrangements, sondern das Auslösen einer Verständigung über die Situation. Durch die Aktionen wird die Struktur der Alltagssituationen offen gelegt, bewusst gemacht und somit veränderbar. In den Medien wird über subversive Aktionen berichtet, so dass andere das Spiel auch nicht mehr mitspielen wollen. Mehr und mehr Leute schließen sich der Protestbewegung an oder beschließen einfach, dass sie im Alltag bestimmte Konventionen nicht mehr einhalten.

Sprache ist der Zufluchtsort der Polizeigewalt. Ist die Frage doch, wie man aus der Sprache in das Leben

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Manchmal ist die Erschütterung nur punktuell. In den 1960er Jahren erwiderte der Kommunarde Fritz Teufel bei einem Gerichtsprozess auf die Aufforderung hin, sich zu erheben: ›Wenn es der Wahrheitsfindung dient‹. Diese Bemerkung desavouierte das Ritual kurzfristig so sehr, dass die Richter auf diese Anweisung verzichteten. Heute geschieht das Aufstehen in deutschen Gerichten wieder völlig unhinterfragt. Andere Rituale ließen sich nach ähnlichen Angriffen nicht mehr reparieren. Wenn auch eine Veränderung des Alltagslebens nicht abzustreiten ist, so ließ sich ein Umsturz des ›Systems‹ in den 1960er Jahren durch solche Angriffe bekanntlich nicht bewerkstelligen. Aber in anderen Fällen ist das sehr wohl gelungen. Guerilla-Taktiken besaßen gegenüber den Konventionen der traditionellen Kriegsführung zwischen stehenden Heeren eine subversive Qualität – und sie führten in China oder Kuba tatsächlich zum kompletten Umsturz der bisherigen Form der Regierung.

Subversion – die Taktiken Da somit die Hintergründe und Zielsetzungen der Subversion geklärt sind, ist die nächste Frage jene nach den Taktiken der Subversion. Das Beispiel bleibt die Situation des Vortrages. Was wären also Taktiken, die dem Arrangement des Vortrages gegenüber eine subversive Kritik formulieren könnten? Selbstverständlich richtet sich die konkrete Subversion stets nach der Perspektive der Person, die sie betreiben will. Eine subversive Taktik würde also jeweils anders aussehen, je nachdem, ob sie vom Vortragenden oder von Teilen des Publikums angewandt würde. Das Vorgehen freilich wäre in seiner Funktionsweise das gleiche. Deswegen wird im Folgenden eine Art Katalog der subversiven Taktiken erstellt – aus der Perspektive eines männlichen Vortragenden, also aus der Sicht einer Person, die mit Autorität ausgestattet ist, aber die dennoch eine subversive Kritik üben möchte am Ritual des Vortrages. Trotz seiner Autorität wäre ein solcher kritisierender Vortragender als der Schwächere anzusehen, denn er greift ja einen weitgehend unhinterfragten Konsens an und hat gleichzeitig nicht die Mittel, das Ritual ganz einfach zu unterbinden. Wie eine solche Kritik aus der Position eines mit Autorität ausgestatteten Schwächeren aussehen kann, das hat etwa Jean-Paul Sartre mit seinen Interventionen während des anti-kolonialen Befreiungskampfes in Algerien gezeigt. Der damals bereits weltbekannte Philosoph verhielt sich subversiv, weil er sich mit seiner scharfen Kritik an der französischen Kolonialpolitik nicht etwa einfach auf die andere Seite schlug und sich so symbolisch aus dem

gelangt. In einer Welt der Rationalisierung ohne Ratio. Aber wozu denn die Sprache retten, wenn es nichts

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Kollektiv der Kolonisatoren entfernte, sondern indem er die eigene Zugehörigkeit nicht auf kündigte und angesichts der Folter schrieb: »Wir sind nicht arglos, wir sind dreckig« (Sartre 1988: 40). Indem er sich mit dem französischen ›Wir‹ identifizierte, zerrüttete er den nationalen Konsens von innen. Nun zu den einzelnen Taktiken: 1. Sinnzersetzung Der Vortragende könnte die Situation unterlaufen, indem er – gemäß des Titels einer Live-LP der Talking Heads – auf hört, Sinn zu machen (Talking Heads 1984). Die Produktion von Sinn wird ja von ihm erwartet, in Form seines Vortrags über ein bestimmtes Thema. Um den Autor als »Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts« (Foucault 1991: 20) anzugreifen, könnte der Vortragende das Reden ersetzen durch Schweigen, Lachen, das Ausstoßen von Lauten, Krachmachen. Oder er könnte das Zuhören erschweren, indem er stammelt, stottert oder mit einer Fistelstimme spricht. Möglich wäre es aber auch, eine Sprache zu sprechen, die im Kontext einer Konferenz in Deutschland gänzlich ungebräuchlich wäre – Albanisch, Altgriechisch oder auch einen lokalen Dialekt. Es wäre aber auch denkbar, das Ritual des Vortrages zu attackieren, ohne den Sinn vollkommen verschwinden zu lassen. Die Vorlesungen des späten Roland Barthes am Collège de France etwa waren regelrechte Exerzitien in der Kunst, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten und gleichzeitig durch Ausweichen, Wiederholen sowie lyrische und fragmentarische Sprechweisen »jede doktrinale Autorität seiner Aussagen zu untergraben« (Marty 2007: 15). In diesem Sinne könnte man sich auch in subversiver Absicht bestimmte ›Schizo-Techniken‹ zu Eigen machen. Diese Techniken beruhen darauf, das Verhalten von Schizophrenie-Patienten nachzuahmen, deren charakteristisches Kommunikationsverhalten nach Bateson u.a. (1969) darin besteht, die wörtliche und die metaphorische Ebene durcheinander zu bringen, um so Eindeutigkeit zu vermeiden. Die Schizophrenen wurden in der Kindheit mit Situationen konfrontiert, in denen klare Botschaften vermieden werden mussten und zudem eine Reflexion der Situation unmöglich war. So übten sie eine Kommunikationsweise ein, deren Charakteristikum das Ausweichen war. Dieses später unkontrolliert auftretende und daher pathologische Ausweichen kann selbst bei den Patienten einen subversiven Effekt erhalten, wenn es sich etwa gegen ein unterdrückerisches Reglement

mehr zu sagen gibt? Aber wenn auch nur die winzigste Chance besteht. (Eine Chance, gegen die Ohnmacht

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im Krankenhaus wendet, das angeblich nur ›zum Wohle‹ des Patienten funktioniert. »Auf der Station eines uneigennützigen und ›großmütigen‹ Arztes befand sich an der Tür dieses Arztes ein Schild mit der Aufschrift: ›Arztbüro. Bitte anklopfen‹. Der Arzt wurde von dem gehorsamen Patienten zur Verzweiflung und schließlich zur Kapitulation getrieben, weil dieser jedes Mal, wenn er an der Tür vorbeiging, gewissenhaft anklopfte« (Bateson u.a. 1969: 40). Die Technik des Ausweichens könnte sich ein Vortragender zunutze machen, indem er mit vielen und jederzeit gut verständlichen Worten eine ausführliche Rede produziert, deren Gehalt und Richtung nicht zu bestimmen wären, und wenn er auf Anmerkungen des Publikums hin ebenso ausweichend antwortet. Wer ein anschauliches Beispiel für letzteres Verhalten benötigt, dem seien manche Interviews mit der Schauspielerin Nastassja Kinski empfohlen oder auch die Pressekonferenzen von Alan Greenspan während seiner Zeit als Chef der US-amerikanischen Notenbank. 2. Verkleidung/Maskierung Der Vortragende könnte sich verkleiden. Er würde seine Autorität ganz empfindlich untergraben, wenn er seine vorbereitete Rede zum Thema in einem Clownskostüm halten würde. Tatsächlich ist der Clown in den letzten Jahren auch zur ikonischen Figur des Antiglobalisierungsprotestes geworden – die Verkörperung eines Clowns im politischen Zusammenhang zersetzt die eigene Identität, zeigt dem Gegner ein Spiegelbild und versinnbildlicht das Gefühl, dass man kein rationales Gespräch mehr führen kann mit jenen, die an den zahlreichen ›Gipfeln‹ der EU, der G8 etc. teilnehmen. Zudem könnte der Redner seinen Vortrag unterlaufen, indem er die Zuschreibung des männlichen Geschlechts verwirrt – etwa indem er in Frauenkleidern auftritt oder indem er in einer Art intoniert, die allgemein als ›tuntig‹ wahrgenommen wird. Tatsächlich würde dieses Vorgehen selbst bei einem liberal eingestellten Konferenzpublikum zunächst unwillkürlich heftiges Befremden auslösen. 3. Übertreibung und Parodie Der Vortragende könnte den Normtypus eines Vortragenden in einem universitären Kontext parodieren, indem er bestimmte Züge einfach ein wenig deutlicher zutage treten lässt. Er müsste dazu eine voluminös angelegte Kathederhaltung vertreten, einen recht komplizierten, das Publikum wenig ansprechenden Vortrag halten, der keine Zweifel

anzukämpfen.) Wenn die Alternative nicht heißen soll: Nachplappern oder Sprachlosigkeit. Denn wir sind

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auf kommen lässt, dass seine Rede von höchster Relevanz ist und dass mögliche Verständnisprobleme stets mit den mangelnden intellektuellen Kapazitäten der Zuhörer zu tun haben. Im Anschluss sollte er Einwände aus dem Publikum delegitimieren, indem er bei den Fragenden ein Ausbrechen aus der Norm feststellt. Die Argumente der Anderen werden dabei als ›zu‹ oder ›noch nicht genug‹ gekennzeichnet. ›Sie sollten nicht zu schnell…‹, ›das ist zu abenteuerlich‹, ›dem Argument fehlt es an…‹ oder ›Sie sollten noch XY lesen‹ wären bekannte rhetorische Figuren. Hinweise wie ›Bleiben wir mal am Boden‹ reduzieren Einwände ebenfalls auf die Ebene von abgehobenem Spinnertum. Wenn man diese Haltung auch nur ein wenig übertreibt, tritt sie sogleich hervor, und wird schnell der Lächerlichkeit preisgegeben. 4. Umkehrungen Um die Situation zu verwirren, könnte der Vortragende die Richtung der Rezeption umkehren. Gewöhnlich ist er es, dessen Rede vom Publikum aufgenommen wird. Er könnte aber diesen Vorgang umdrehen, indem er etwa eine Kamera auf das Publikum richtet. Aus der Position einer Minderheit hat ein solches Verfahren in Deutschland kürzlich die Gruppe Kanak TV angewandt.1 »Wir waren genervt«, schreiben Sunju Choi und Militiadis Oulios, »dass MigrantInnen seit Jahrzehnten immer nur ihre Exotik präsentieren sollten. Dass die weißen Deutschen sie zu Medien-Objekten machen, exotisieren, mit Fragen auf Klischees reduzieren. Nun sollten die Blondies die Erfahrung machen, von der Kamera überfallen, aufgrund ihres Aussehens betrachtet zu werden und sich nicht behände ausdrücken zu können. Daher stellten wir die Fragen teilweise auf Englisch. Auch darin geben wir ihnen die einmalige Möglichkeit, die Reduzierung von außen zu erfahren. Nun diktierten wir, die offensichtlichen Kanaken, die Fragen: ›Gehört es zur deutschen Kultur, Frauen zu schlagen wie Dieter Bohlen oder Drogen zu nehmen wie Christoph Daum?‹ Schließlich hielten wir mit der Kamera die Macht in der Hand« (Choi/Oulios 2005: 224). Tatsächlich zeigt der Film Philharmonie Köln – 40 Jahre Einwanderung, dass diese Taktik die Mehrheitsdeutschen unter den gleichen Rechtfertigungsdruck setzte wie gewöhnlich Migrant/-innen – sie bestritten vehement, dass Gewalt gegen Frauen oder Drogen Bestandteile ihrer Kultur seien (Kanak TV 2001). Gerade im Verhältnis von Minderheiten zu Mehrheiten spielt das Element des Angesehen-Werdens eine immense Rolle, 1 | Zu den Arbeiten der Gruppe siehe www.kanak-tv.de (letzter Zugriff am 12.04.2007).

nicht entschuldigt. Die sprachlose Welt findet auch in der zu sich selbst gekommenen Sprache keine Worte.

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und es kann eine wirksame subversive Taktik sein, die Blickrichtung umzukehren. 5. Stellvertreteraktion Die Routine würde auch zusammenbrechen, wenn der Vortragende, anstatt wie erwartet zu seinem Thema zu sprechen, ein völlig anderes Thema aufgreift. Der Vortragende könnte etwa das ihm gebotene Podium und die Aufmerksamkeit dazu nutzen, auf die Lage der kurdischen Gefangenen in türkischen Hochsicherheitsgefängnissen aufmerksam zu machen. Bei den Stellvertreteraktionen sind den Möglichkeiten der Umwidmung des ursprünglichen Anlasses praktisch keine Grenzen gesetzt. 6. Hybridität Möglicherweise kann aber auch die Person des Vortragenden selbst die Ordnung durcheinanderbringen. In der deutschen akademischen Welt, in der die Szenerie weiterhin beherrscht wird von einheimischen, heterosexuellen Männern, sind »andere Deutsche« (Mecheril/Teo 1994), Homosexuelle und oft selbst Frauen im besten Sinne ›queer‹. Deren Position wird mit Verweis auf ihre vorgebliche Authentizität einerseits besonders honoriert, wenn sie den Konsens unterstützen – allerdings bleibt die Reichweite der Aussagen solcher Personen dann stets auf die ›eigene‹ Gruppe beschränkt. Auf der anderen Seite werden die Aussagen ›minorisierter‹ Personen gerne mit dem Verweis auf ihre mangelnde Objektivität delegitimiert – aufgrund der ihnen zugeschriebenen Authentizität wird unterstellt, dass sie immer parteiisch bleiben. Insofern wirkt gerade das Unauthentische höchst verstörend. In den 1990er Jahren hat Homi Bhabha eine Theorie der Hybridität entworfen, dabei handelt es sich um die folgerichtige Anwendung der Erkenntnisse des französischen Poststrukturalismus auf die Situation von anglophonen Kolonisierten und Migrant/-innen. Folgerichtig deswegen, weil der Poststrukturalismus aufgrund seines Zeitkontextes und seiner Themenstellungen als »Philosophie der Entkolonisierung« (Finkielkraut 1989: 70) bezeichnet werden kann. Um den Prozess der minoritären Identifikation zu illustrieren, zitiert Bhabha ein Gedicht von Meiling Jin, in dem diese davon spricht, sie habe eine »geheime Kunst« gelernt, die »Unsichtbarkeit«. Diese bewahre sie davor, vom hegemonialen ›Du‹ gesehen zu werden, während sie selbst jedoch weiterhin sehen könne: »Nur meine Augen bleiben als Spuk und werden aus Deinen Träumen ein Chaos machen« (Jin, zit.n. Bhabha 1997: 98). Diese exemplarische Konstruktion stellt die gewöhnliche Vor-

Widerstand oder Schweigen. Ist das die Alternative. Oder was? Der Verruf, in den die Sprache gekommen

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stellung von Identität zutiefst in Frage. Während allgemein davon ausgegangen wird, dass dem, was man von einem Ich sieht oder dem, was eine Person sagt, auf einer tieferen Ebene eine sich selbst gleiche Essenz zugrunde liegt, befindet sich hier das Subjekt (die Migrantin) offenkundig nicht an dem Ort, von dem aus es spricht und an dem es gesehen wird. Dabei indiziert diese Spaltung nicht, dass die Migrantin ein befreites, nicht-unterdrücktes Ich hinter einem falschen Bild in Sicherheit gebracht hat. Was hier stattgefunden hat, ist vielmehr eine Art »Verdoppelung« – »die unheimliche Differenz desselben oder die Alterität der Identität« (Bhabha 1997: 110). Durch diesen Akt der Verdoppelung stört die Migrantin die Identitätsvorstellungen des hegemonialen ›Du‹, welches sich nicht zuletzt durch die Abgrenzung vom Anderen begrenzt und definiert. »Diese Störung deines voyeuristischen Blicks«, schreibt Bhabha, »beruht auf der Komplexität und Widersprüchlichkeit deines Verlangens, kulturelle ›Differenz‹ in einem eingrenzbaren, sichtbaren Objekt oder als natürlichen Tatbestand zu sehen, zu fixieren …« (Bhabha 1997: 108). In diesem Sinne würde der Vortragende als ›hybrides‹ Subjekt quasi durch seine schiere Präsenz die Routine des Arrangements stören, subversiv wirken und daher das ganze Arrangement von innen hinterfragen.

Die ›Mainstreamisierung der Subversion‹ Die Beschreibung der letzten subversiven Taktik, die durch ihr unbewusstes Funktionieren ja nicht Teil einer subversiven Strategie sein kann, wirft eine Reihe von Fragen über den heutigen Status der Subversion auf. Bei Bhabha bleibt systematisch unklar, ob sein Verständnis von minoritärer Identifikation eigentlich eine schiere Beschreibung der Identitätskonstruktion unter ungleichen Machtverhältnissen ist oder, wie er immer wieder anmerkt, eine (dann notwendig intentionale) Strategie der Subversion gegen die Macht (vgl. dazu auch Fludernik 1998). Die Frage wäre, ob ›Identität‹ überhaupt subversiv wirken kann, weil ›Identität‹ letztlich nur als Status quo beschrieben werden kann und nicht als Mittel zur Veränderung. Wenn Subversion als Taktik und Strategie aber noch mehr sein soll als ein folgenloses, jährlich wiederholtes Spektakel wie etwa der Karneval im Rheinland, dann müsste die grundsätzliche Veränderung, also der Umsturz, weiterhin zumindest indirekt angestrebt werden. Nun beinhaltet jener Karneval ohne Zweifel eine Geschichte der Subversion – noch heute zeugen die Uniformen vom Willen, sich durch Nachahmung über das Gebaren der napoleonischen Truppen im

ist. (Die schlimmste aller Konventionen.) Woher das Schweigen? Schweigen oder Stillstand. Oder Verwei-

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Rheinland lustig zu machen. Allerdings hat sich der Kontext jener Subversion verändert. Was einmal eine subversive Taktik aus der Position der Schwäche war, wurde nach dem Abzug der Franzosen Teil einer nationalen Tradition und verlor dadurch seinen kritischen Impetus. Ebenso verhält es sich etwa mit dem britischen Pop der 1980er Jahre. Wenn man heute die Platte The Lexicon of Love (1982) der Band ABC hört, deren Klang der Vorstellung entsprach, die einige arbeitslose junge Männer aus Sheffield von Las Vegas hatten, dann sind die Elemente, welche die Platte damals subversiv machten, nicht mehr zu hören. Die herausgestrichene Affirmation der Welt gegen die routinisierte Kritik und Katastrophenstimmung der Labour-Sozialarbeiter, die Feier des Zitierens, des Unoriginellen und Künstlichen gegen den Naturmythos der Hippies sowie die offensichtliche pathetische Übertreibung in Musik und Gesang – all diese Stilmittel haben ihren damaligen Gegner längst hinter sich gelassen und gehören nun bereits seit Jahrzehnten zu den Zutaten eines beliebigen Popsongs. Neben der ›Mainstreamisierung‹ von subversiven Inhalten gibt es aber auch so etwas wie ein Sich-Einrichten in der Subversion, was sich auch in Bhabhas Konzept der Hybridität als problematisch erweist. Stuart Hall hat einmal die Tradition der ›schwarzen populären Kultur‹ durch drei Merkmale charakterisiert. Durch den Ausschluss aus bestimmten Bereichen des Lebens sowie im Austausch mit der weißen Autorität verschoben sich die kulturellen Ausdruckformen von Schwarzen auf drei Bereiche: den Stil – etwa in der Kleidung –, der von einer schlichten Verpackung zum Subjekt des Geschehens aufstieg; die Musik, die den verminten Bereich der ›weißen‹ Sprache ersetzte; und schließlich den Körper, der sich im Zuge der Herausdrängung aus der logozentrischen Welt zum bedeutenden kulturellen Kapital entwickelte (vgl. Hall 2000: 105). Ähnlich wie Bhabha erklärt auch Hall, dass diese schwarze populäre Kultur keine reinen Formen kennt, sondern »das Produkt einer partiellen Synchronisierung« darstellt und »vielleicht subversiver (ist) als sie denkt« (Hall 2000: 106). Freilich kann man einwenden, dass diese Form der Subversion die Situation der Schwarzen in den USA nicht wesentlich verbessert hat. Zweifellos bleibt das Element des Sperrigen und Widerständigen erhalten, doch das hindert niemanden daran, diese schwarze populäre Kultur derweil als authentische Kultur der schwarzen, urbanen Unterschicht zu betrachten. Eine Quelle der penetranten Störung mag darin liegen, ein Potenzial zur Veränderung offenbar nicht. Zudem war es derselbe Stuart Hall, der in einem anderen Text einmal feststellte, dass jene schwarze populäre Kultur in den westlichen Gesellschaften in die Repräsentation eingezogen sei – heute sind die

gerung. Oder: Etwas ist verlorengegangen. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Sprachregelun-

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Bildwelten der herrschenden Unterhaltungskultur gesättigt mit Bildern von Schwarzen (Hall 1994: 59). Spätestens seit Elvis Presley existiert für weiße Jugendliche in den USA ein unterdessen risikoloses Ritual der ›Überschreitung‹ hin zum ›Schwarz-Sein‹ und wieder zurück. 1957 hatte der Schriftsteller Norman Mailer den ›Hipster‹ als einen ›weißen Neger‹ beschrieben, der sich an die Erfahrung der Schwarzen anlehnt. Diese ›schwarze‹ Erfahrung wurde von Mailer teilweise durchaus sensibel analysiert, doch was ihn am meisten interessierte, war die Lektion, die ein Weißer für den Bruch mit den bürgerlichen Verhältnissen lernen konnte. »Die einzige Hip-Moral […] besteht darin, das zu tun, was man empfindet, wann und wo auch immer es möglich ist« (Mailer 1986: 386), schrieb er, und: »Hip ist die Bejahung des Barbarischen, denn die menschliche Natur bedarf einer primitiven Leidenschaft« (Mailer 1986: 387). Wie aus diesen Zitaten deutlich wird, beruht das Ritual der Überschreitung zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Klischees über schwarze Kultur. Darüber hat sich der Rapper Snoop Dog in einer Sendung seiner MTV-Comedy Doggy Fizzle Televizzle kürzlich noch einmal mokiert, indem er ein Programm des ›De-Wiggering‹ entwarf. Der ›white nigger‹, ›wigger‹, wurde darin wieder auf ›weiß‹ reprogrammiert. Der finale Schritt, der das ›De-Wiggering‹ vollendete, war die Identifikation eines weißen Teenangers durch eine ältere Dame bei einer Gegenüberstellung wegen eines Raubüberfalls: ›Der Schwarze da, der war’s‹. Darauf bezeichnete sich dieser wieder als weiß, worauf eine kitschige Wiedervereinigungsszene mit der Familie folgte.

Subversion als Mikropolitik und Guerillakampf Deleuze und Guattari haben für die Lebensweise der Minorität und die subversiven Versuche der Überschreitung durch Mehrheitsangehörige den Begriff des ›Werdens‹ entwickelt. Allerdings wiesen sie darauf hin, dass »Werden nicht bedeutet, etwas oder jemanden zu imitieren oder sich mit ihm zu identifizieren« (Deleuze/Guattari 1992: 371). Tatsächlich gehe es beim ›Tier-‹, ›Frau-‹ oder ›Minoritär-Werden‹ darum, eine ›Zone der Nachbarschaft‹ aufzusuchen, in der gemeinsame oder ununterscheidbare Züge hergestellt werden: »Ein tatsächliches Tier-Werden, ohne dass man in Wirklichkeit zum Tier wird« (Deleuze/Guattari 1992: 373). Diese Bewegung im ›Dazwischen‹ erfordere »viel Askese, Nüchternheit, schöpferische Involution« (Deleuze/Guattari 1992: 381). Es handele sich um eine »aktive Mikropolitik« (Deleuze/Guattari 1992: 397). »Wie die Black Panther sagten, müssen auch sogar die Schwarzen

gen, Rhetorik. Helfen auch nichts. Unsere Begriffslosigkeit, die Verwirrung der Zeichen. Wie der beizu-

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schwarz werden. Sogar die Frauen müssen Frau werden. Sogar die Juden müssen Jude werden (dazu gehört mehr als ein Status)« (Deleuze/Guattari 1992: 396). Mit dem Akzent auf ›aktiver Mikropolitik‹ machen Deleuze und Guattari deutlich, dass die Subversion weder zum Zustand noch zum Ritual gerinnen darf. Dagegen haben Denker wie Michel de Certeau, die in ihrer Ausrichtung wiederum stark mit den britischen und US-amerikanischen Cultural Studies korrespondieren, die subversiven Taktiken gewissermaßen zum Ziel in sich selbst erklärt.7 De Certeau bezeichnet als Taktik die Weise der Schwächeren, einen Vorteil zu erreichen, aber im Vorübergehen, also ohne diesen Vorteil in etwas ›Eigenes‹ oder einen Ort umsetzen zu können. Strategie wiederum setze einen Ort voraus, von dem aus »ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt« (Certeau 1988: 23) seine Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt organisiere. Diese »Taktiken«, die »kulturelle Aktivität von Nicht-Kulturproduzenten«, die aber so etwas wie eine »schweigende Mehrheit darstellen« (Certeau 1988: 20), haben sich nach de Certeau zu einem »Netz der Antidisziplin« fortentwickelt (Certeau 1988: 16). Nun verstand de Certeau sein Buch über Die Kunst des Handelns als »kriegswissenschaftliche Analyse der Kultur« (Certeau 1988: 20), und er bemühte das Bild des Kampfes einer Guerilla gegen eine Besatzungsarmee. Wenn man freilich die kanonischen Schriften des Guerillakrieges studiert, also Mao Tse Tungs Arbeiten über den Guerillakrieg aus den 1930er Jahren und Ernesto Guevaras Der Partisanenkrieg aus dem Jahre 1960, dann bemisst sich in diesen Werken der Grad der Subversion stets am Ziel der subversiven Taktik. Zunächst muss man festhalten, dass der Guerillakrieg sich subversiver Taktiken bedient – es geht um Beweglichkeit, Flexibilität, Initiative, Überraschung und Sabotage. Die Subversion soll das normale Leben so weit wie möglich zum Erliegen bringen. Doch der Einsatz der Mittel bestimmt sich danach, ob die Ergebnisse für das revolutionäre Ziel nützlich sind oder nicht – sei es die Rettung Chinas vor der japanischen Besatzung, die Einführung des Kommunismus oder auch der Wunsch, alle Kriege endgültig abzuschaffen. Mao schreibt in diesem Sinne, dass man sich einem »allgemeinen Guerillatum in der Roten Armee widersetzen« müsse, »dabei aber anerkennen, dass ihre Operationen Guerilla-Charakter tragen« (Mao Tse Tung 1966: 53); und Guevara betont: »Genauer gesagt, ist der Partisanenkrieg nur eine Etappe eines Krieges regulärer Streitkräfte, und deshalb kann durch den Parti7 | Ausführungen über Michel de Certeau finden sich auch in Tanja Bogusz’ Aufsatz in diesem Band mit dem Titel Geheimnisse retten. Soziologische Betrachtungen zur Berliner Volksbühne.

kommen wäre. Wie weit ist man bereit zu gehen? Mit anderen Worten: Hat man radikal zu sein, kann

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sanenkrieg der Endsieg nie errungen werden. Der von hier betrachtete Partisanenkrieg […] entwickelt sich bis zu dem Stadium, wo die sich ständig vergrößernde Partisanenarmee den Charakter einer regulären Armee annimmt« (Guevara 1960: 17).

Subversion in der Kontrollgesellschaft Wenn man nun noch einmal auf de Certeaus ›kriegswissenschaftliche Analyse‹ der kulturellen Praktiken zurückkommt und in seinem Sinne ›Taktiken‹ als Formen der Subversion versteht, dann stellt sich die Frage nach dem Ziel der ›Taktiken‹. Nach der Utopie, wenn man so will. Die gleiche Frage ließe sich an die Analysen der Cultural Studies herantragen, die Alltagspraktiken als »widerspenstige Kulturen« (Hörnig/Winter 1999) beschreiben. Tatsächlich hatten die Cultural Studies ihren Ursprung in der marxistischen Theorie, die sich stets am Ziel der Schaffung einer ›klassenlosen Gesellschaft‹ orientiert hatte. Dieses Ziel ist aber inzwischen abhanden gekommen. Dasselbe lässt sich auch für die zahlreichen Kulturprojekte behaupten, in Kunst, Literatur oder Theater, die in den letzten Jahren versucht haben, den Kulturbetrieb zu überschreiten oder auch zu infiltrieren – jedenfalls als Ritual und Feld von Machtverhältnissen zu kritisieren. Nun hatte de Certeau in seinem Buch, wie erwähnt, mit unausgesprochenem Bezug auf Michel Foucault (s.o.) von einem »Netz der Antidisziplin« gesprochen (Certeau 1988: 16). Dahinter verbirgt sich offenbar die Ansicht, dass die Alltagspraktiken den gesellschaftlich verbreiteten Machttypus von innen aushöhlen würden. Nur zehn Jahre nach dem Erscheinen der Kunst des Handelns analysierte Gilles Deleuze das ›Netz der Antidisziplin‹ bereits als neuen Machttypus – als »Kontrollgesellschaft« (Deleuze 1993). In Deleuzes’ Text wird deutlich, wie das Eigensinnige der ›Taktiken‹ in eine neue Form gegossen wird, in ein neuartiges ›Unternehmens-Regime‹, das nur noch ›Geschäftsführer‹ kennt. Das Rädchen im Gefüge der Disziplin, der hörige Arbeiter und passive Konsument, ist längst ersetzt worden durch den neuen Typus des ›Unternehmens-Individuums‹, von dem Flexibilität und Kreativität im Job erwartet werden, und das Konsum als Aktivität betrachtet, als Arbeit an der eigenen ›Identität‹ und Selbstausstellung. Es geht nun mitnichten darum, zu behaupten, dass dieser neue Machttypus schlimmer sei als die Disziplin – jede Version hat ihre eigenen Unterwerfungen und Befreiungen. Es geht hier nur darum, ob Subversion unter diesen Bedingungen noch funktionieren kann. Wenn Subversion ihren Sinn darin hatte, das ›normale Leben‹ zu zersetzen,

man es sein & wozu? (Das müssen wir von Tag zu Tag neu bestimmen. Von Ort zu Ort.) In aller Folge-

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dann basierte sie auf der Berechenbarkeit des Alltagslebens. In der ›Kontrollgesellschaft‹, im Neoliberalismus, ist diese Berechenbarkeit jedoch nicht mehr vorhanden. Tatsächlich könnte man sagen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst subversiv geworden sind. Dem ›Unternehmens-Individuum‹ wird nicht mehr von mächtigen Institutionen ein sich wiederholendes Alltagsleben und ein vorgezeichneter Lebenslauf oktroyiert, sondern die Individuen sind dazu aufgerufen, genau diese ›Normalität‹ eigenständig zu produzieren. Ein geregeltes Leben mit ausreichenden Mitteln gilt heutzutage als Privileg, und die Stimme, die unisono aus den Randzonen des Westens wie auch aus den Krisengebieten der ganzen Welt dringt, sagt: Vor allem möchte ich einfach nur normal, also einigermaßen berechenbar leben können. Tatsächlich ist die Herstellung von Unberechenbarkeit eine neue Form der Machtausübung geworden. In den reichen Ländern wird die Bevölkerung permanent mit übertriebenen Existenzängsten und Gefährdungen terrorisiert (vgl. Holert/Terkessidis 2002). In der Kriegsführung haben die regulären Armeen die ›Taktiken‹ der Guerilla übernommen. US-Präsident Richard Nixon schuf anlässlich des Vietnamkrieges die sogenannte ›Madman-Theorie‹, die besagte, dass die USA auf Angriffe des Gegners möglichst irrational zu reagieren hätten. Kleine Aktionen der Vietnamesen wurden etwa mit ganz unverhältnismäßiger Militärkraft beantwortet – ein Beispiel war die Bombardierung des Nachbarlandes Kambodscha. Im Jahre 2006 ist es die israelische Armee, die sich der ›Madman-Theory‹ bedient, wenn sie aufgrund der Entführung zweier israelischer Soldaten durch die libanesische Hisbollah-Miliz wochenlang den Libanon bombardiert. Entsprechend besteht die israelische Politik zur Brechung des palästinensischen Widerstandes in den besetzen Gebieten darin, das ›normale Leben‹ der Palästinenser zu zerstören – durch die Sprengung von Wohnungen, Straßensperrungen oder auch durch absichtlich kaf kaeske Genehmigungsverfahren für die Benutzung israelischer Straßen etc. (vgl. Holert/Terkessidis 2006: 196ff.). Nun heißt das nicht – und das hat das Beispiel des Vortrages ja gezeigt –, dass das Alltagsleben auf der Mikroebene nicht weiterhin angefüllt ist mit lauter Ritualen, deren problematische Effekte durch subversive Aktionen offen gelegt werden können. Doch es macht ganz erhebliche Schwierigkeiten, auf den größeren Zusammenhang von ›normalem Leben‹ zu zielen, wenn angesichts der herrschenden Unberechenbarkeit die ›Normalität‹ und nicht der Ausbruch zum Ziel der meisten Menschen geworden ist. In diesem Sinne wird zudem auch das Ritual von den Individuen geradezu begehrt und seine Zerstörung erscheint sinnlos.

richtigkeit & Widersprüchlichkeit, aber ohne Lösungen. So finden sich vielleicht neue Gestalten des Wi-

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Fazit Als Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass subversive Taktiken in konkreten Kontexten durchaus noch funktionieren, dass es aber vom Ziel, also von der subversiven Strategie abhängt, ob diese Taktik auch tatsächlich widerspenstig ist oder bloß die kreative Aktivität eines ›Geschäftsführers‹. Das Ziel muss allerdings nicht immer auf der ›Makroebene‹ liegen, sondern kann auch einen Mikrobereich umfassen. Die subversiven Studenten, die an US-Universitäten die Etablierung von Queer Studies erkämpft haben, hatten klare Vorstellungen davon, was sie erreichen wollten. Als weiteres Ergebnis lässt sich formulieren, dass angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse die Subversion fragwürdig geworden ist, weil die Formen der Herrschaft selbst zersetzend wirken. Wenn eine britische Premierministerin in den 1980ern behauptete, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht geben würde, dann ist die Frage, ob Widerstand in diesen Tagen nicht eher etwas aufbauen muss. Aber diese Frage müsste einen neuen Text beginnen – einen Text, der von einer Politik paralleler Lebensweisen, von der Schaffung eigener Institutionen und von Selbstorganisation handelt.

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Talking Heads (1984): Stop Making Sense, Sire records/Warner. Terkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld: transcript.

che auffindet. Neue Formen & neue Artikulationen. Die Bewußtseinsinhalte vermehrt, präzisiert oder

verändert. (Weil die Möglichkeiten einer wünschenswerten grundlegenden Veränderung nirgends mehr

Für eine Subversion der Subversion. Und über die Widersprüche eines politischen Individualismus Martin Doll

Der Begriff der Subversion, der sich vom Lateinischen ›subversio‹ herschreibt, trägt anfangs die Bedeutung des Umkehrens und Umstürzens. Schlägt man den kursorischen Überblick entsprechender Wortverwendungen im Historischen Wörterbuch der Philosophie nach, so fällt an seiner bewegten Geschichte vor allem ins Auge, dass er zunächst pejorativ gebraucht wird, sei es in der Bibel in der Figur der »subversores« als »Verderber guter Sitten« (Hesekiel 2,6), im Englischen im 14. Jahrhundert als ›subversion of laws‹ oder im Französischen um 1773 als ›subversion de la Societé‹ durch die Herrschenden selbst. Subversion wird dabei in den Zusammenhang einer negativ besetzten Destruktion gestellt. Möchte man den Ausführungen im Lexikonartikel folgen, ist eine positive Umwertung der Rede von der Subversion erst mit dem Pariser Mai 1968 zu verzeichnen, als sie ›programmatischen Charakter‹ erhält. Man könnte hier die Wurzeln des gegenwärtig vorherrschenden Wortgebrauchs vermuten, nämlich ›subversiv‹ als allgemeines Differenzierungskriterium für künstlerische Praktiken zu verwenden, »die die herrschenden Diskurse verlassen« (Gondek 1998: Sp. 571). In seiner ubiquitären Verwendung wird der Begriff schließlich zum Kriterium für eine diffuse Differenz schlechthin und damit zum Nicht-Kriterium. Er hat sich vielleicht darum zur allgemein positiv besetzten Form der Destruktion generalisieren können, weil nichts mehr destruiert wird. Besonders abzulesen ist dieser historische Verwischungsprozess an den sprachlichen Veränderungen der Begriffsverwendung oder viel-

ausgedrückt werden.) Denn in der Sprache ist alles erlaubt. Ach du Scheiße! Nein. Es ist eine große

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mehr -einbettung. Begegnet er anfangs in der Sprachtradition immer bezogen auf etwas, als ein Verderben guter Sitten, als eine Zerstörung der Gesetzeskraft oder gar der Gesellschaft schlechthin und handelt es sich dabei jeweils um die Subversion einer Totalität (aller Sitten, nicht einzelner, der Gesetze, nicht einiger weniger, der Gesellschaft im Ganzen, nicht einzelner Teile), so scheint Subversion heute auf einzelne Diskursfelder gerichtet zu sein, wenn nicht sogar ganz ihr Objekt verloren zu haben. Dies zeigt sich u.a. darin, dass der Begriff zumindest sprachlich eigenständig als eine Subversion an sich gebräuchlich wird, wie eine kurze Auflistung in den letzten Jahren erschienener Titel belegt: Dominik Irtenkauf: Subkultur und Subversion (2003); Walter Grünzweig: Bürokratie und Subversion (2002); Michael Gruteser: Subversion zur Prime-Time (2002). Doch entgegen dieser ›Allerweltsverbegrifflichung‹ hat eine Subversion, um wirksam zu sein, sich an ihrem Ziel zu bemessen oder ist nur dadurch zu definieren, dass sie eine Umkehr oder einen Umsturz der Ganzheit einer bestimmte Ordnung vorantreibt – eine Umkehr, die um die Richtung nicht weiß, ein Umsturz, der am Gegenstand vorbeigreift oder nur Einzeldinge minimal bewegt, löschen sich selbst aus. Dieser begrifflichen Unschärfe sei hier eine kurze heuristische Begriffsbestimmung des Politischen entgegengesetzt: »›Politisch‹ werden all jene Handlungen, Inszenierungen und Sichtweisen genannt, welche die grundsätzliche Offenheit unseres gegenseitigen Austausches nutzen, um strukturelle Prinzipien der Gesellschaft in Frage zu stellen« (Schober 2004: 5f.). Das heißt, eine politische Praxis der Subversion erfordert zuallererst, die attackierte Ordnung – wie sie beschaffen ist, wie sie funktioniert – zu verstehen, bevor sie in Unordnung gebracht werden kann. Wenn ›subversive‹ Praktiken ihr Objekt nicht kennen, besteht zudem die Gefahr, dass sie – in der oberflächlichen Stilisierung zum politischen Aktivismus per se – starre Zeichenregimes und Verhaltensschemata zugleich ent- und verwerfen, die so nicht existieren. Die Koordinaten einer zu unterlaufenden Ordnung zu durchschauen und damit die Ansatzpunkte, sie zu kritisieren, ausfindig zu machen, ist somit eines der zentralen Probleme, das sich vor allem im Zusammenhang mit der Konjunktur politischer Kunst heute stellt und sich insgesamt auf die Agenda des Politischen drängt. Michel Foucault hat dies im Zusammenhang mit seiner Problematisierung der menschlichen Rationalität sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn er davon spricht, dass »Rationalitätsformen […] auf einem Sockel menschlicher Praxis und menschlicher Geschichte beruhen, und weil diese Dinge geschaffen worden sind, können sie unter den Bedingungen, dass man weiß, wie sie geschaffen wurden, auch aufgelöst werden« (Foucault 2005: 545).

Täuschung, ein großer Betrug & in dem Sinne auch etwas Unwirkliches. Selbsttäuschung. Selbsttäuschung

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Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen soll zunächst unter Rückgriff auf die Studie The Conquest of Cool von Thomas Frank ausgelotet werden, warum der Begriff der Subversion überhaupt eine solch allgemein akzeptierte positive Besetzung erhalten konnte. Dafür werden kurz Tendenzen der sechziger Jahre referiert, die sich in ähnlicher Weise bis heute fortschreiben, um damit im zweiten Teil bestimmte gefährlich kongruente Erscheinungsformen des politischen Aktivismus und der Werbung zu hinterfragen. Dabei soll vor allem deutlich gemacht werden, wie stark ersterer sich einerseits noch von der Vorstellung traditioneller quasi-fordistischer kapitalistischer Produktionsformen und ihrer Folgen, einer bürokratischen Normalisierung der Menschen, leiten lässt und wie er sich andererseits durch die Propagierung eines ›authentischen Individuums‹ selbst gefährdet. Daran anschließend soll mit Jacques Rancière die Frage aufgeworfen werden, was heute das Politische heißen kann oder, anders gesagt, gegen welche Ordnungen sich ein politisches Handeln möglicherweise zu richten hat.

Die Kommensurabilität von populärer Gegenkultur mit effizientem Unternehmensmanagement und ihre historischen Wurzeln Das Verhältnis zwischen rebellisch auftretendem Marketing und politischen Strömungen der 1960er Jahre wird nicht selten als ein nachahmendes Absorbieren des ›authentischen‹ kämpferischen Auftretens der Gegenkultur gefasst, wie sich paradigmatisch an einer Überlegung von Stuart Ewen ablesen lässt: »During the 1960s, and at other moments since then […] the rise of alternative subcultures has generated renegade styles – verbal expressions, ways of dress, music, graphics – which particularly captivated young people, traditionally seen as the most lucrative sector of the style-consuming public. This sense of having fallen behind, and the attempt to catch up, shows up in the trade literature of the style industries« (Ewen 1988: 248f.). Es ist die Hauptqualität von Thomas Franks Untersuchungen in The Conquest of Cool, dieses eindimensionale Deutungsmuster grundlegend dadurch zu hinterfragen, dass er systematisch die sich in den 1960er Jahren herausbildenden Transformationen in der Unternehmenskultur und im Product Management analysiert. Dabei setzt er schlüssig auseinander, dass Erklärungen, in denen lediglich von einer feindlichen Übernahme rebellischer Ausdrucksformen ausgegangen wird und die er als CoOptation-Theorie bezeichnet, zu kurz greifen.

& Katastrophe bilden einen verhängnisvollen Zusammenhang. Man kann mit der Sprache keinen Wider-

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Um die unübersehbaren Überschneidungen zwischen dem Formenvokabular der counter culture und den Mitteln korporativer Absatzförderung dennoch begreiflich machen zu können, ist zu fragen, warum erstere überhaupt mit Konsumverhalten in Relation gesetzt werden kann. Laut Frank charakterisierte sich die Protestkultur der 1960er Jahre in ihrer Erscheinung als popular culture nämlich weniger durch gemeinsame machtpolitische Anliegen, sondern kämpfte primär für eine Neuorientierung des Lebensstils: für mehr persönliche Freiheit, d.h. für die Selbstbefreiung von gesellschaftlichen Codes, für die Schaffung eines Bewusstseins für eigene Bedürfnisse und Begehren sowie für deren adäquaten Ausdruck. Anders gesagt, die Gegenkultur in ihrer Mainstream-Variante zielte eher auf eine Revolution durch Lifestyle als durch Politik, auf die ›Subversion‹ des Bestehenden durch Genuss und nicht durch den Umsturz der Machtverhältnisse. Angesichts dieses individualistischen Aspekts der Gegenkultur kann Frank schließlich mit zahlreichen Verweisen auf Managementliteratur und Fachjournale der Werbebranche gegen die Co-Optation-Theorie nachweisen, dass die counter culture nicht von den Firmen frei nach dem Motto »If you can’t beat ’em, absorb ’em« unschädlich gemacht werden sollte, sondern dass ihre Anti-Establishment-Zielrichtung von den Managern als wertvoller Impuls einer für höhere Umsatzmöglichkeiten schon lange als nötig erachteten weitreichenden Neustrukturierung und Flexibilisierung der Unternehmensführung empfunden wurde: weg vom Recht des Älteren, hin zu flacheren Hierarchien und zu freieren Entscheidungsmöglichkeiten, weg von tayloristischem Effizienzdenken, hin zu einer flüssiger funktionierenden Unternehmens- und Konsumentenordnung: »Business leaders […] were drawn to the counterculture because it made sense to them, because they saw a reflection of the new values of consuming and managing to which they had been ministering for several years« (Frank 1997: 26). Individuelle Produkte für individuelle Konsumenten oder für partiellere Marktsegmente sollten das Massenprodukt ersetzen. Daraus entwickelte sich in der Werbung eine massive Aufwertung der Attribute des Rebellisch-, Nonkonformistisch-, Subversiv- und Individuell-Seins – wie wir sie beispielsweise in Deutschland von der Afri-Cola Werbung von Charles Wilp seit 1968 kennen. Die genannten Zuschreibungen wurden dabei nicht selten mit dem Bild einer ewigen Jugendlichkeit verschaltet, die damit vom tatsächlichen Alter abgelöst und zu einer Frage der Haltung erklärt wurde – und des Konsums der richtigen Produkte. Diese Konjunktur des Rebellentums, die Thomas Frank mit den Begriffen Coolness und Hip Consumerism fasst, beruhigte sich ihm zufolge zwar mit der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit in

stand leisten. Man darf nichts tun. Man kann auch nichts tun. Nur eine Überzeugung haben. Warum denn

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den Siebzigern, wurde aber um so heftiger in den Neunzigern wiederbelebt. Besonderes Kennzeichen dieses Hip Consumerism ist, dass paradoxerweise die Kritik an der Konsumgesellschaft und an der Massenkultur als Konsum- bzw. Produktivitätsantrieb fruchtbar gemacht wird. In der Werbung werden daher, ungeachtet der mittlerweile im Vergleich zu den 1960er Jahren noch viel weiter fortgeschrittenen Autonomisierung und Partikularisierung sowohl der Arbeitsplätze als auch der Konsumprodukte im Zuge der Effizienzoptimierungen der Unternehmen, gerne Stereotypen einer einschränkenden, monotonen, seelenlosen, anonymisierenden Massenproduktion und -konsumption, wie sie den Fordismus charakterisierten, als Kontrastfolie benutzt, vor der sich vorbildhaft die rebellischen Werbehelden und das ›rebellische‹ Produkt abheben können. Den aus den genannten Entwicklungen resultierenden allgemeingültig gewordenen Imperativ der Individualität führen buchstäblich Ikonographie und Claim eines BOSS-Spots aus dem Jahr 2000 vor Augen: »Don’t imitate, innovate!« Der Werbefilm lässt dabei deutlich hervortreten, inwieweit ein auf das Streben nach persönlicher Freiheit konzentrierter Nonkonformismus in der Abkehr von seinem Gegenüber, dem überzeichneten Feindbild angepasster Massenmenschen, mittlerweile zum Ideal geworden ist. Dass solche Images Werbeauftritte grundieren, ist jedoch weniger fragwürdig als die Gegebenheit, dass bestimmte zeitgenössische politische Aktionsformen wie das Culture Jamming davon prekär affiziert sind. Dies lässt sich anhand der Kongruenzen, die sich durch die direkte Gegenüberstellung beider Praktiken ergeben, anschaulich machen. Dabei tritt deutlich zutage, dass der vom Streben nach Individualität geprägte ›subversive‹ Kampf gegen häufig als zentralistische Manipulation von Verhaltensweisen verstandene Machtbeziehungen und gegen vermeintlich starre soziale Codes weniger als Mittel gegen eine die Gesellschaft strukturierende Ökonomie fungiert, sondern ihr vielmehr als Konsumimpuls entgegenkommt.

Dissidenz als Werbung Bezeichnenderweise unter dem Claim »marketing for the people« und »establishing a new paradigm in street marketing« artikuliert die US-amerikanische ›Billboard Liberation Front‹ (BLF) ihre Konsumkritik dadurch, dass sie seit 1977 Plakate überklebt und verfälscht, um sich damit angeblich Werbebotschaften anzueignen. Werbung wird dabei in Begriffen der Verschwörung als zentrales Medium

nicht? Das ist eine bloße Buchstabenangelegenheit. Denn wenn nur in der Sprache alles erlaubt ist. (Womit

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einer von den Machenschaften der »High Priesthood of Advertisers« gelenkten Konsumreligion gedacht, die unser Unbewusstes restlos beherrscht: »Advertising suffuses all corners of our waking lives; it so permeates our consciousness that even our dreams are often indistinguishable from a rapid succession of TV commercials« (Napier/Thomas 2006). 1994 benutzte eine Kampagne von Chrysler zur Markteinführung des Plymouth Neon, der laut Agentur an eine Zielgruppe zwischen 18 und 34 gerichtet war, eine BLF-Taktik (vgl. Clear Channel Outdoor 2006): Zunächst war auf den Plakatwänden nur das Fahrzeug auf einem weißen Grund zu sehen, daneben das Wort »Hi«. Um es mit den verkaufsfördernden Attributen des Unkonventionellen, Nonkonformistischen aufzuladen, wurden auf dem Plakat von der Werbeagentur in regelmäßigen Abständen Ps oder ein C und zwei Ls hinzugefügt, so dass sich die Worte »Hip« oder »Chill«1 ergaben; des weiteren wurde es mit gesprühten Pfeilen verändert oder dem Wagen gar ein Irokesenschnitt verpasst.

Chrysler: Manipuliertes Plymouth Neon Billboard, 1994

Im Sommer 2001 machte sich auch die Firma Nike das Image des Subversiven zu eigen, indem sie den Nike Air Zoom mit einer Protestkampagne vermarktete. Auf den Plakaten wurde der Fußballschuh mit dem Claim »the most offensive boots we ever made« gezeigt. Ein anderes Billboard verwies im Stil der BLF auf eine Protestgruppe namens FFFF (Fans for Fairer Football), die auf einer eigens dafür eingerichteten 1 | Der Totenkopf, die »666« und die zusätzliche Veränderung des Wortes »Hip« auf »Hype« sind wiederum einer nachträglichen Intervention der ›Billboard Liberation Front‹ zu verdanken.

wir uns anscheinend abfinden sollen.) Denn alles zu sagen ist nur dann möglich, wenn es die Freiheit

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Website dagegen protestierte, dass die technische Überlegenheit des Sportschuhs gegen sportliche Fairness verstoße (vgl. Antimedia 2006; Borries 2004: 60f.).

Nike: Air Zoom-Kampagne, 2001

Als Musterbeispiel für die nahtlose Integration von Protestemblemen in Verwertungsinteressen, durch die das Individualitätsbegehren des Konsumenten angesprochen wird, ist der 1998 von Viva vorbereitete Relaunch des Senders ›Viva Zwei‹ anzusehen: Unter dem Claim »VIVA ZWEI ist mehr als nur Musik. VIVA ZWEI ist eine Lebenseinstellung« wurde eine radikale Protestgruppe namens G2 ins Leben gerufen, die das neue Image u.a. dadurch verbreitete, dass man in der Maske der Zapatistas in vorgetäuschten Piratensender-Störsequenzen das eigene Programm unterbrach. Begleitet wurde diese Kampagne mit Protestaktionen bei Musikmessen und Tonträgerfirmen, von denen vorab die Presse per Anruf und Fax in Kenntnis gesetzt wurde; dabei wurden Flugblätter verteilt, Parolen wie »Wir wollen das Subversive!« skandiert und ein ›Schocktag‹ angedroht. Am 7. September, wie angekündigt, wurde das Geheimnis gelüftet und die in der Kampagne betriebene ›Subversion‹ als Image für ein völlig anderes Musikfernsehen auf das neu gestaltete Viva Zwei-Programm übertragen.

gibt, alles zu tun. Wenn also wenigstens in der Sprache alles erlaubt ist. Dann ist das doch besser als

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G2-TV-Störaktion, 1998

G2-Flugblatt, 1998

Die Zeichen von Individualität und Nonkonformismus wurden auch von der Firma Apple, deren Image (der coole ›Mac‹ gegenüber dem bürokratischen nerd ›PC‹) sich maßgeblich von der Opposition zum ›Monopolisten‹ und ›Manipulator‹ Microsoft nährt, in einer Internetkampagne – eine 2004 veröffentlichte leicht korrigierte Neuauflage eines nur wenige Male gesendeten Spots aus dem Jahr 1984 – mit ›Insignien‹ der politischen Dissidenz kurzgeschlossen. Der Werbefilm zeigt, wie eine Menge an gleichgeschalteten und verblendeten Zuschauern während einer Massenveranstaltung zum ersten Jahrestag

nichts. Dann ist damit doch nichts gewonnen. Ist das eine bloße Buchstabenangelegenheit. Hier wird ein

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der »Information Purification Directives« von ›Big Brother‹, der auf einem Großmonitor wiedergegeben ist, auf Uniformität eingeschworen wird: »We are one people, with one will, one resolve, one cause.« Eine von der Polizei verfolgte rebellische Protagonistin, die einen iPod trägt, unterbricht schließlich den ideologischen Appell, indem sie das Videobild zerstört. Ein Konsumprodukt – der iPod – wird damit in einer Ästhetik, die deutlich an die Verfilmung von George Orwells 1984 erinnert, zum Motor politischen Aufruhrs bzw. zum Mitagenten gegen Konformismus und Totalitarismus stilisiert.

Apple Spot 1984, 2004

Diese radikale Hipness haben mittlerweile auch die Designer von Videospielen aufgegriffen und brachten 2001 State Of Emergency (SOE) auf den Markt. Darin kann man den Ausnahmezustand während der Proteste bei der Welthandelskonferenz 1999 in Seattle im heimischen Wohnzimmer nachspielen: Zunächst schließt man sich einem »Freedom Movement« an und kämpft als local hero gegen »The Corporation«2, einer finanziell und politisch machtvollen Institution, die »Capital City« beherrscht und ihre Einwohner unterdrückt. Der Trailer zum Spiel ist im Stil einer Wochenschau gestaltet; zunächst ist das Voice-Over des Nachrichtensprechers zu hören: »Welcome to Capital City, a perfect example of happy and stabilized modern living, thanks to the thoughtful and benevolent leadership of The 2 | Ursprünglich war geplant, den Kern des Bösen ›American Trade Organization‹ zu nennen. Wegen der zu großen Ähnlichkeit zur WTO entschied man sich später wohl für den etwas unverfänglicheren Namen. Im Februar 2006 wurde aufgrund des großen Erfolgs State Of Emergency 2 lanciert – konnte allerdings nicht gewinnbringend vermarktet werden. Nach State of Emergency wurde im September 2006 auch der Nachfolger von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. Das Entwickler-Studio DC in Edinburgh hat mittlerweile geschlossen.

Scheißdreck wieder abgezogen, das ist sagenhaft. Was soll das? Spricht daraus die Angst vor den wirk-

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Corporation and the loyalty that you, the people, show as consumers« (Rockstar Games 2006). Doch dann wird das Programm durch den Piratensender des »Freedom Movement« gestört: »The people of Capital City will no longer be enslaved by The Corporation. […] We are not yet free« (Rockstar Games 2006) und die bürgerkriegsähnliche Straßenschlacht beginnt. Rebellion, Aufstand, Protest sind hip und cool und lassen sich problemlos mit dem Trend der Individualisierung und des einzigartigen Selbstausdrucks verbinden. Nicht selten werden dabei, wie gezeigt, Gegenbilder einer durch Verbote und Einschränkungen geprägten repressiv bis totalitaristischen Gesellschaft bzw. eines zu totaler Einförmigkeit führenden Konsumdenkens herauf beschworen. Wenn auch die ›Gegenseite‹, z.B. die kanadische Adbusters Media Foundation, in ihren sogenannten »Anti-Commercials« (z.B. Follow the Flock), in denen sie u.a. aktuelle Werbekampagnen verfremdet oder nachahmt, ähnliche Konformitäts-Stereotypen wie ›die homogene Masse‹ verwendet, so stellt sich die Frage, ob damit nicht letztendlich die Konsumordnung weitergeschrieben wird, gegen die dem Selbstverständnis nach eigentlich vorgegangen werden soll.

Adbusters: Anti-Commercial Follow the Flock

Kalle Lasn – der Chefdenker der Adbusters-Bewegung – rückt in seinem Buch Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen Werbung und Product Placement wie auch schon die BLF in den Kontext einer allgemeinen Verschwörung, wenn er davon spricht, dass die Konsumenten wie Pavlov’sche Hunde mittels Gehirnwäsche konditioniert und programmiert würden. Der Mensch erscheint in diesem Koordinatensystem als ›Schläfer‹, »der in Trance lebt. […] Unter Drogeneinfluß oder

lichen Problemen. Wenn man nicht zu der Einschätzung kommen muß, daß es wieder einmal an der Zeit

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als er noch zu jung war, um sich daran zu erinnern, wurden Gedanken in sein Unterbewußtsein eingepflanzt, mit der Absicht, sein Verhalten zu verändern« (Lasn 2005: 53f.).3 Nur unter dieser zweifelhaften Voraussetzung eines allgemeinen Verblendungszusammenhangs4 kann er überhaupt behaupten, dass ›subversive Anti-Werbung‹ oder ›Subvertising‹, »der Guerillakrieg der Informationen« (Lasn 2005: 129), dazu führten, die Werbebotschaften in ihr Gegenteil zu verkehren, weil dadurch der technisch-telepathische Manipulationsoutput gestört werde: »Sie geben Millionen aus, um ihre Konzerncoolheit zu erzeugen – und wir stehlen ihnen einfach den Strom« (Lasn 2005: 135). Dass dieses ›Subvertising‹ aber wiederum, wie gezeigt, erfolgreich in die GuerillaMarketingstrategien der Konzerne eingepasst werden kann, lässt die von ihm postulierte Adbusting-Wirkung deutlich verblassen. Wenn Lasn zudem gegen die von ihm postulierte totale Fremdbestimmung immer wieder nur ein Ideal des Einzigartigen, Authentischen und »echten Originalen« in Stellung bringt, so verfängt er sich in dieselben Dynamiken, die er eigentlich zu attackieren beabsichtigt. Denn auch dieses Gegenmodell – ein »freies und authentisches Leben« (Lasn 2005: 10), »eine neue Kultur […] mit einer nichtkommerziellen Seele« (Lasn 2005: 14) – wäre danach zu befragen, ob es nicht schon längst selbst zum Topos des Konsumkapitalismus geworden ist. Lasns subversive Strategie lässt sich dann allenfalls als Konsumreform, wenn nicht sogar als Motor der Gestaltung neuer Konsumwelten beschreiben.5 Das Ziel, wie es sich Lasn auf die Agenda schreibt, nämlich »existierende Machtstrukturen zum Einsturz zu bringen« (Lasn 2005: 14), bleibt ihm so zumindest verstellt.

3 | In den 1950er Jahren wurde dieser Mythos vor allem durch den 1957 erschienenen Bestseller von Vance Packard The Hidden Persuaders (New York: McKay) begründet und 1973 von Brian Wilson Key in Subliminal Seduction: Ad Media’s Manipulation of a Not So Innocent America (New York: New American Library) weiter genährt (vgl. Heath/Potter 2005, 40). 4 | Zum Begriff des ›Verblendungszusammenhangs‹ siehe auch Matthew Miller in diesem Band. 5 | Viel Kritik hat Lasn zurecht für seinen 2003 selbst auf den Markt gebrachten ›Black-Spot-Sneaker‹, einer Art No-Logo- oder Anti-Logo-Logo-Schuh als Adbusters-Hausmarke, geernet. Joseph Heath und Andrew Potter schreiben dazu sehr treffend: »Nach diesem Tag wurde jedem klar, dass die von Adbusters verkörperte kulturelle Rebellion das System nicht bedroht – sie ist das System« (Heath/Potter 2005, 13).

ist, mit der Kunst endgültig Schluß zu machen. Mit der Literatur. Daß der sogenannte Ernst der Kunst,

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Über die internen Widersprüche eines politischen Individualismus Um wirksam zu sein, hat sich ein politisches Handeln mit den maßgeblichen Machtdynamiken im gesellschaftlichen Ganzen auseinanderzusetzen und, um Ansatzpunkte zu deren Veränderung zu finden, ein Durchschauen dieser komplexen Strukturen zur Voraussetzung. Die Verfasstheit gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse lediglich als Machtblöcke oder einfach zu verortende Hegemonien zu verstehen, durch die soziale Differenzen eingeebnet und die Beherrschten gleichgeschaltet werden, wie es der Apple-Spot, das BLF-Manifest und auch Lasns Überzeugungen stark überzeichnet nahelegen, bleibt dabei weit hinter ihrem tatsächlichen Funktionieren zurück. Foucault hat seinen Überlegungen zur Machtanalytik klar vorangestellt, dass man sich von einer bestimmten juridisch-diskursiven Vorstellung der Macht lösen müsse, die nur in den Polen der repressiven Unterdrückung, des Verbots und entsprechender Wirkungen des Gehorsams gedacht werde (vgl. Foucault 1977a: 102 u. 124). Durch diese Ablösung kann in Foucaults Modell sichtbar gemacht werden, dass Macht durch verschiedene Differenzierungsmechanismen hindurch verläuft, die als Normierung unter anderen Vorzeichen effizient ist. Sie ist nämlich nicht nur durch Verbote, als Schranke der Freiheit charakterisiert – sie macht sich umgekehrt dadurch sogar akzeptabel: »eine unauf hörliche und lärmende Gesetzgebungstätigkeit« gehört für Foucault zu den »Formen, die eine wesenhaft normalisierende Macht annehmbar machen« (Foucault 1977a: 172). Ihre weitaus effektiveren Wirkungen sind in produktiven Strategien verankert, die durch komplex verzweigte Regulierungs-Prozeduren dazu führen, das menschliche Leben zu transformieren und Zugang zum Körper zu erhalten, so dass der Mensch, sein Körper, »in seinen Fähigkeiten gesteigert, seine Kräfte optimal ausgenutzt« werden (Foucault 1977a: 166; vgl. a. 170). Macht setzt sich somit durch Verfahrensweisen ins Werk, durch die man das Materiellste und Lebendigste am Körper einsetzt und besetzt (vgl. Foucault 1977a: 181). Diese Strategien, die grob als ›Handeln auf ein Handeln‹ (vgl. Foucault 1983a: 220) zu fassen sind, hat Foucault beispielsweise in Bezug auf die ›Sexualität‹ – die schon im 19. Jahrhundert »zur Chiffre der Individualität [wird]: das, was zugleich ihre Analyse erlaubt und ihre Dressur ermöglicht« (Foucault 1977a: 174) – als minutiöses System der Subjektivierung beschrieben, als eine Subjektivierung, die indirekt als Normierung funktioniert, d.h. als Selbstunterwerfung der einzelnen Subjekte unter die Maxime, die ›Wahrheit‹ über sich selbst bzw. die ›wahre‹, ›authentische‹ Sexualität zu finden. Dies ist als machtvoller,

verglichen mit dem Ernst dessen, was passiert ist & was droht, reine Verspieltheit ist. (Nein, laß das. Es

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zunächst unsichtbarer Imperativ zu verstehen, weil die ›Subjekte‹ – dadurch dass sie dazu gebracht werden, ihre Sexualität, ihr ›wahres‹ Ich zu diskursivieren und damit ihren Körper unter permanente Selbstbeobachtung zu stellen – sich viel wirkungsvoller als durch jede repressive Fremdbestimmung selbst kontrollieren: »Was man verlangt und worauf man zielt, das ist das Leben verstanden als Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse, konkretes Wesen des Menschen, Entfaltung seiner Anlagen und Fülle des Möglichen« (Foucault 1977a: 172f.). So paradox wie perfide fungiert in diesem Machtkomplex – in den Worten Foucaults im »Dispositiv des Sexes« – zudem der Impuls zur Befreiung, zur sexuellen Befreiung, als Stärkung der unsichtbar gezogenen Begrenzung des Handlungsspielraums, denn »gegen die Macht, die im 19. Jahrhundert noch neu war, haben sich die Widerstand leistenden Kräfte gerade auf das berufen, was durch diese Macht in Amt und Würden eingesetzt wird: auf das Leben und den Menschen als Lebewesen« (Foucault 1977a: 172; vgl. 190; vgl. Foucault 2001). Als eine Komponente unter vielen in diesem Machtgeflecht ist auch das Phänomen zu fassen, das Thomas Frank mit den Stichworten Coolund Hipness umschreibt und das häufig auch unter den Stichworten kultureller Kapitalismus oder Differenzkapitalismus thematisiert wird: Das Gebot zur Individualisierung bzw. Subjektivierung, das als internalisierte Normierung eine von den einzelnen Subjekten auf sich selbst ausgeübte Kontrollfunktion hat und jeden einzelnen dazu bewegt, sich nach bestimmten Befreiungs-Standards zu verhalten: »Sei einzigartig! Sei Du selbst! Sei frei.« Dieser Imperativ der Individualität, der als freie Entscheidung erlebt wird, ist schließlich wirkmächtiger als jedes Verbot und jede Einschränkung. Ohne Foucaults komplexe Machtanalytik wiederum auf eine plumpe Lokalisierung herunterbrechen zu wollen, lässt sich Werbung als ein Promoter des objektlosen Subversivseins im eingangs skizzierten Sinne in diese vielfältigen Regulierungsmomente einrücken: »Don’t imitate, innovate!« 6 Im Anschluss an Foucaults Überlegungen lässt sich somit verständlich machen, warum in den soeben vorgestellten Werbeformen scheinbar ›politisch‹ eine juridische 6 | Es wird an dieser Stelle jedoch nicht angestrebt, mit den Überlegungen die Debatte, ob Werbung kulturelle Veränderungen bewirkt oder aber sie nur widerspiegelt, für beendet zu erklären. Da sie als öffentlichkeitswirksame Praxis auf Akzeptanz angewiesen ist, können m.E. Werbestrategen und Produktmanager weder als perfide Manipulanten, die das Verhalten der Verbraucher restlos konditionieren, noch als allwissende Propheten, die deren geheime Antriebe bis ins Detail kennen, betrachtet werden. Werbung dient hier also mehr als Dokument und Indikator bestimmter gesellschaftlicher Ideale.

ist kein Spiel.) Daß von nun an alles verändert werden müsse. (Unter dem geht nichts.) Daß es nicht

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Machtvorstellung attackiert werden kann, um zugleich aber auf einer weniger durchschaubaren Ebene viel subtilere auf Individualisierung zielende Machtbeziehungen mit ins Werk zu setzen und ein bestimmtes Konsumhandeln zu befördern. Ob man der klassischen Feindliche-Übernahme-Theorie zustimmen möchte oder – wie dargelegt – eine zeitgleich verlaufende um Effizienz bemühte Umgestaltung der Arbeitsorganisation und der Vermarktungsstrategien mitberücksichtigt: Bestimmte Formen des politischen Aktivismus werden, wenn sie vornehmlich den Machtmechanismen des Imperativs der Individualisierung aufsitzen, problematisch und haben vielleicht auch aus diesem Grund derzeit Konjunktur – die selbstverständlich auf einen gewissen Kreis von Personen oder eine bestimmte ›Zielgruppe‹ eingeschränkt ist. Eine Vielzahl vermeintlich offensichtlich subversiver Praktiken sowie ihre Diskussion und Präsentation in verschiedenen Foren hat in ihrer Coolness und Hipness nämlich eine letztendlich unpolitische Schattenseite, wie sich mit dem weiter oben eingeführten Begriff des Politischen (als Infragestellung struktureller Prinzipien der Gesellschaft) deutlich machen lässt: Attackiert ein Aktivismus lediglich Grundstrukturen, die zumindest in unserer Gesellschaft in dieser Form vor Ort nicht mehr aktuell sind, wie z.B. die tayloristische Arbeitsorganisation oder scheinbar klar verortbare hegemoniale Ordnungen – »Wir schlagen zu, […] indem wir einen Widerstand organisieren gegen das Machtmonopol, dem die Marke gehört« (Lasn 2005: 14) –, so läuft er ins Leere. Mit der Attacke auf bestimmte Homogenisierungen laufen die Adbusters, auch ohne dass ihre Vorgehensweise von der Gegenseite ›appropriiert‹ werden müsste, mit neuen Managementmethoden nämlich eher konform: Schon längst ist – nicht nur in den Führungsetagen – der flexible Berufstätige, der kreative Kopf, der Querdenker, der ungewöhnliche Lösungen vorschlägt, und der ganze Mensch mit seinen individuellen Vorlieben, Neigungen und jeder Menge persönlicher Einsatzbereitschaft gefordert und gefördert (vgl. McKenzie 2001: 63–65). Dass es sich dabei natürlich keineswegs um einen machtfreien Raum handelt, dürfte anhand der weiter oben skizzierten Überlegungen von Foucault einsichtig geworden sein. Eine analoge Diversifizierung gilt für den Konsumenten: Vorbei die Zeiten, in denen er als uniformer Abnehmer von Massenware angesprochen war. Der Verkaufsmotor ist heute eine immer weiter verfeinerte Markt-Segmentierung, die den mündigen Konsumenten in seinen ›ureigensten‹ Bedürfnissen anspricht. Daher bietet das Bild, das die vermeintliche Anti-Werbung zeichnet, keinerlei wirklichen Angriffspunkt gegen diese flexiblen Dynamiken der Arbeitsorganisation, der Wertschöpfung, des Verkaufs und gegen

reicht, die Negation bloß gründlich zu denken, zu reden, zu schreiben. (Aus der Negation in die Position.)

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ihre immensen derzeit spürbaren Konsequenzen für den Einzelnen. Widersetzen kann sie sich mit einem naiv defätistischen Selbstverständnis den gegenwärtigen Machtbeziehungen jedenfalls nicht, weil ihr die subtileren Mechanismen, wie auf ein gesellschaftliches Handeln eingewirkt oder, mit Foucault gesprochen, wie regiert wird, zugleich entgehen. Entspricht ein Aktivismus, wenn er nur als cool und hip sichtbar wird, den strukturellen Prinzipien der Gesellschaft und den Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie, ist er also bestenfalls wirkungslos, schlimmstenfalls jedoch affirmativ: Denn wird eine politische Einstellung lediglich selbst als Zeichen von Individualität, als Lifestyle zur Schau getragen, so kann sie einerseits als beruhigende Haltung, immer schon, zumindest phänomenal, auf der richtigen Seite zu sein, über das fehlende tat-sächlich widerständige Handeln hinwegtäuschen – also nicht zu Aktivismus, sondern nur zu Passivität führen. Andererseits besteht die Gefahr, durch die Bereitstellung zusätzlicher produktiver Differenzen die Logik des Kapitalismus, die ja u.a. darin besteht, mit immer neuen Erscheinungsformen, d.h. Konsumprodukten, für den adäquaten Ausdruck eines freiheitlichen Denkens zu sorgen, sogar voranzutreiben. Der Begriff der Subversion fällt dann auf die Bedeutung seiner Herkunft vom lateinischen Wort subversio aus dem symbolischen Feld des Ackerbaus – also des griechischen oikos, mithin der Ökonomie – zurück, als er im Sinne des Umkehrens der Scholle zur Bedeckung des ausgebrachten Samens gebräuchlich war und damit zur Beschreibung eines produktiven Verfahrens diente, durch das die Saat erst gedeihen kann, um Erträge hervorzubringen (vgl. Gondek 1985: Sp. 567). Ein politisches Handeln, das sich der aus dem Kapitalismus erwachsenden konkreten Macht- und Subjekteffekte bewusst ist und auf ihre Veränderung drängt, erfordert daher zunächst, sich des abgenutzten Begriffs der Subversion zu entledigen, mit dem zwar fortwährend hip und cool der Umsturz eines gesamten Systems proklamiert oder sogar als schon erfolgt dargestellt wird, ohne dass dies wirklich geleistet würde. Damit soll den Akteuren nicht unterstellt werden, dass sie nicht in einem bestimmten Maße selbst reflektieren, dass ihre ›Subversivität‹ nicht mehr für einen Umsturz einer Totalität steht. Anstatt den Begriff aber auf punktuelle Interventionen einzuschränken mit der Absicht, »die Selbstverständlichkeit und vermeintliche Natürlichkeit der herrschenden Ordnung [zu] untergraben«, »geschlossene Diskurse in offene Situationen zu verwandeln« 7 und damit »den Raum für Utopien 7 | Die Rhetorik der Opposition von geschlossen und offen bewegt sich in gefährlicher Nähe zu den bereits ausführlich dargelegten gegenwärtigen

Auf die Gefahr hin, nie irgend etwas Gestalt werden, nichts in einer Form erstarren zu lassen. Das Leben

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überhaupt wieder zu öffnen« (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe u.a. 2001: 7), wird hier für wirkungsvoller erachtet, ihn – da er zum gefährlichen Anti-Label verkommen ist – nicht in Anführungszeichen, sondern in Klammern zu setzen. An seine Stelle wäre ein Begriff des Politischen zu setzen, von dem ausgehend man dem gegenwärtigen Kapitalismus inkommensurable Grundsätze entgegenhält, die er nicht produktiv vereinnahmen kann, und zwar dadurch dass man seiner Individualitätsund Flexibilisierungs-Logik Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüche entgegenstellt. Diese Ansprüche sind ihm inkommensurabel, weil er, um zu funktionieren, permanent dagegen verstoßen muss – trotz oder gerade wegen der ihm zentralen Vorstellung, dass die Verfolgung der jeweils eigenen Interessen dem Allgemeinwohl dienten (vgl. Boltanski/ Chiapello 2006: 49f.).8 Das Wechselspiel aus Gleichheitsvoraussetzung und ihrer Missachtung sowie damit verbundene Ansatzpunkte eines politischen Handelns hat in jüngster Zeit besonders Jacques Rancière mit seinen im Rahmen seiner Philosophie des Politischen formulierten Überlegungen zu Politik und Dissens ausgearbeitet.

Jacques Rancières ›politische Philosophie‹: Das Politische als Streiten für ein Gemeinsames der Gemeinschaft Für seinen buchstäblich radikalen Begriff des Politischen fordert Jacques Rancière ein, ihn als das zu denken, »was [u.a.] von den Bewegungen der Identität negiert« (Rancière 2003: 115) wird. Als Ausgangspunkt für seine Betrachtung nimmt er eine Umdeutung gängiger Wortgebräuche vor und nennt das, was allgemein als Politik vornehmlich in institutionalisierter Form verstanden wird, eine allgemeine Ordnung der Polizei. Gegen diesen Begriff der Polizei, der jedoch keineswegs in der pejorativen Bedeutung eines repressiven Staatsapparates gedacht ist, sondern allgemein als geordnete »Distribution von Stellen und Funktionen, von der eine gesellschaftliche Ordnung gebildet wird« (Rancière 1997: 66), setzt Rancière denjenigen des Politischen oder vielmehr denjenigen eines politischen Streithandelns, eines Handelns, Strategien der Flexibilisierung und damit der Effizienz-Optimierung der Arbeits- und Marktorganisation. 8 | Boltanski und Chiapello stellen dabei kritisch heraus, dass für die vage Gleichung individueller Gewinn = allgemeiner Nutzen zentral ist, den gesamtgesellschaftlichen Wohlstandszuwachs in toto als Bemessungsgrundlage zu nehmen, ohne seine Verteilung zu berücksichtigen (Boltanski/Chiapello 2006: 49).

ist jenseits davon zu gewinnen. Allein die wirkliche Negation der Literatur bewahrt deren Sinn. Alle

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das bestehende gesellschaftliche Ordnungen oder ›polizeiliche‹ Körperund Raumverteilungen, die Aufteilung von sozial und politisch, privat und öffentlich zurückweist: »Als Politisches werde ich […] eine Tätigkeit bezeichnen, von der diese Distribution in Frage gestellt und auf ihre Kontingenz, auf die Abwesenheit ihres Grundes zurückgeführt wird. […] Politisches ist also die Benennung jener Tätigkeit, von der die Ordnung der auf Stellen, Funktionen und Mächte verteilten Körper durch das Einbringen einer Voraussetzung, die dieser Ordnung vollkommen äußerlich ist, aufgehoben wird: Der Voraussetzung von der Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen.« 9 (Rancière 1997: 67ff.)

Ausgehend von einem emphatischen Demokratiekonzept, das den Demos angelehnt an das Verständnis der Griechen zunächst als jene fasst, »die keinerlei Titel auf bieten können, der sie für ihr Gemeinschaftsleben qualifiziert« sieht er das Politische dann als Akzidens, das genau »die Logik unterbricht, wonach herrscht, wer dafür einen Titel hat« (Rancière 2003: 117), ergo als etwas, das in actu den Demos bemächtigt. Damit wird das Politische zur Form eines Streitens um das Gemeinsame, um das Allgemeine: »Nicht um das Streiten für Lösungen als Beitrag in einer bestimmten Situation geht es, sondern es geht um die Situation selbst, den Streit um das, was sichtbar ist oder nicht, […] um das, was […] dem Allgemeinen angehört oder nicht, um die Fähigkeit der Subjekte, dieses Allgemeine zu bezeichnen und sich mit ihm argumentativ auseinanderzusetzen« (Rancière 2003: 118). Das Politische eröffnet somit eine neue Szene, auf der plötzlich Objekte oder Subjekte erscheinen, die vorher – als diejenigen ohne Titel oder Repräsentationsfunktion – nicht berücksichtigt wurden, d.h., dass andere handeln, dass anders gesprochen, dass anderes gesehen wird. Es geht somit um die Einrichtung eines Streitens, das scheinbar selbstverständliche Verteilungen – verinnerlichte »Evidenzen der inega9 | Lohnenswert wäre, diese Voraussetzung mit Derridas Überlegungen zu Gerechtigkeit und Recht zusammenzudenken. Denn Derrida bleibt nicht bei der Dekonstruktion des Rechts, d.h. dabei stehen, Vorstellungen des Rechts über seinen eigenen Ursprung zu zerstören, sondern bringt zwischen Recht und Unrecht ein irreduzibles Drittes ins Spiel, das für ihn nicht dekonstruierbar ist, ja die Dekonstruktion erst ermöglicht: die Gerechtigkeit, die die Erfahrung der Aporie erfordert, »das heißt jener Augenblicke, da die Entscheidung zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten von keiner Regel verbürgt und abgesichert ist.« (Derrida 1991: 34; vgl. a. 30; vgl. Derrida 1995: 45–54)

echten Möglichkeiten der kontrollierten Sprache verkehren sich in ihr Gegenteil. Alle Mittel sind recht.

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litären Logik« –, d.h. eine polizeiliche »Logik der richtigen Distribution von gesellschaftlichen Körpern, die ihren Funktionen gemäß an ihre Stellen verwiesen sind« (Rancière 1997: 84), negiert. Distinktionsgewinne müssen als Beweggründe politischen Handelns mit Rancière verworfen werden und das Politische somit nicht im Individualitäts-Bestreben gesucht werden, sich persönlich zu exponieren, sondern darin, individuell die oben erwähnte Voraussetzung der Gleichheit zu verifizieren. Rancière betont dabei, dass nichts an sich politisch ist, sondern dass das Politische nur durch jenes Gleichheits-Prinzip existiert, das ihm nicht eigen ist: »Die Gleichheit ist kein Gegebenes, das die Politik einer Anwendung zuführt, keine Wesenheit, die das Gesetz verkörpert, noch ein Ziel, das sie sich zu erreichen vornimmt. Sie ist nur eine Voraussetzung, die in den Praktiken, die sie [diese Voraussetzung] ins Werk setzen, erkannt werden muß« (Rancière 2002: 44f.). Das Politische ist im Sinne Rancières somit ein fortwährender Streit um das Allgemeine in mehrerer Hinsicht: Erstens darum, wer für dieses Allgemeine spricht (auch diejenigen, die in einer Gesellschaft sonst nicht zählen); zweitens um das, worin ein gesellschaftliches Allgemeines – das Gemeinsame der Gemeinschaft – zu suchen ist; und drittens darüber, ob dieses Allgemeine durchzusetzen ist und wie die Bestätigung der Gleichheit in die Einrichtung einer Gemeinschaft eingeschrieben werden kann. Diese Praktiken, diese Prozesse finden kein Ende oder können kein Ende finden, wenn man Rancières Thesen mit Foucaults Machtanalytik zusammendenkt. Denn in Gesellschaft zu leben, heißt für Foucault, dass es stets möglich ist, dass die einen auf das Handeln anderer einwirken, ergo dass Machtbeziehungen, polizeiliche Prozesse entstehen und somit die genannte Gleichheitsvoraussetzung fortwährend verletzt wird (vgl. Foucault 1983a: 289f.). Daraus muss sich in jeder erdenklichen Gesellschaft, in der ein Politisches statthat und Form findet, ein permanenter – in Foucaults Terminologie – ›Agonismus‹ (Foucault 1983a: 287) ergeben, weil eine polizeiliche Ordnung beharrlich gegen die unhintergehbare Gleichheitsvoraussetzung verstößt – diese ist immer schon da, wird aber missachtet –, während ein politisches Streithandeln diese unauf hörlich wieder in ihr Recht zu setzen sucht: »Vom Politischen können wir sprechen, wenn es einen Ort und Formen für die Begegnung von zwei heterogenen Prozessen gibt. Erstens, des polizeilichen Prozesses in der oben definierten Bedeutung. Zweitens, des Prozesses der Gleichheit« (Rancière 1997: 67ff., vgl. a. Rancière 2002: 113). Anders gesagt, das Politische versucht diese Gleichheitsvoraussetzung nicht durch Konsensbestrebungen anzuerkennen, sondern ihr – durch Formgebung als Dissens – fortwährend kompromisslos Ak-

Hier wie anderswo geht es darum, das Maß zu überschreiten. Über Art & Weise des Widerstands im Text

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tualität zu geben, indem sie sie »ins Herz der polizeilichen Ordnung«, die der Gleichheit Unrecht antut oder sie verneint, einschreibt.10 Im Gegensatz zu gliedernden und institutionalisierenden Formen der polizeilichen Ordnung hat ein politisches Handeln somit unentwegt buchstäblich mit dem Exzentrischen, dem Missachteten, ins Zentrum vorzustoßen und vorgefundene Symmetrien zu stören. Jede politische Aktion, die für Rancière daher immer eine Weise der Kundgebung, der Offenlegung des Unrechts ist, erfordert, »Bühnen des Dissenses« zu errichten zur »Verweigerung gegenüber dem Gegebenen einer Situation und […] [zur] Einführung von Objekten oder Subjekten […], die dort vorher nicht gezählt worden waren« (Rancière 2003: 119). Diese Bühnen gilt es immer wieder neu zu errichten, die Voraussetzung eines Anteils der Anteillosen immer neu zu inszenieren, denn »[p]olitischer Austausch […] verbreitet sich eben genau da, wo eine […] prä-regulierte Bühne für Themen und Teilnehmer am Allgemeinen nicht besteht. In der Politik besteht der Akt eines Subjekts darin, die Bühne zu schaffen, die den Problemen Sichtbarkeit verleiht« (ebd.). Diese Bühne kann derzeit nicht die prä-regulierte des coolen und hippen Aktivisten sein, der – so souverän wie auch allgemein akzeptiert – im ›postmodernen‹ Kosmos der Zeichen navigiert und kreativ innerhalb der Konsumgesellschaft Subversion betreibt. Denn entsprechende parodistische Wiederholungen oder vielmehr die Zersetzung homogener Identitäten im Guerillakrieg der Informationen und Identitäten korrespondieren mittlerweile mit der ›polizeilichen‹ spätkapitalistischen Form der Subjektivität. Bestimmte Formen der Machtausübung funktionieren reibungslos, wenn die Subjekte sich – gesellschaftlich anerkannt – individuell als ›oppositionell‹ erfahren (vgl. Žižek 1992: 45). Politisch kann ein Aktivismus nur sein, wenn er sich den genannten Identitätszwängen verweigert und im Zentrum der polizeilichen Ordnung den Disput um die Gleichheit in Kraft setzt. Dies kann eine vorgefertigte und festgefügte Subversions-Technik, die auf einübbaren Herstellungsweisen beruht, nicht leisten; denn beim 10 | Hier sei noch einmal auf eine Parallele zu Derrida hingewiesen, der Gerechtigkeit als etwas fasst, das über das Bestimmbare (bereits identifizierbare Gebiete der Moral, der Politik, des Rechts usf.) hinausreicht: »Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen, sie muß noch kommen, sie hat, sie ist Zu-kunft, sie ist die Dimension ausstehender Ereignisse, deren Kommen irreduktibel ist. […] In dem Maße, in dem sie nicht einfach ein juridischer oder ein politischer Begriff ist, schafft darum vielleicht die Gerechtigkeit zu-künftig Offenheit für eine Verwandlung, eine Umgestaltung oder eine Neu(be)gründung des Rechts und der Politik« (Derrida 1991: 56).

etwas auszusagen, bin ich nicht in der Lage. Weiter an Rändern. Ich glaube nicht, daß die Situation mit

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politischen Handeln geht es um ein Streiten, eine Praxis, die in Bewegung sein muss und die, da sie am Ort sich wandelnder polizeilicher Prozesse stattfindet, immer je aktualisierter Mittel und Symbolisierungen bedarf. Ein konformer Nonkonformismus als neue Variante der Boheme, die, verfangen im Konkurrenzstreben um angesehene Lebensstile (vgl. Heath/Potter 2005: 166; vgl. Lamla 2006: 22), fest im Koordinatensystem der polizeilichen Ordnung sitzt, kann dies nicht sein oder, um mit Norbert Bolz zu sprechen, »Konformisten des Andersseins« (Bolz 1999) können dies, da sie unweigerlich immer wieder einer »Norm der Abweichung« (von Osten 2003) gehorchen und damit die produktivitätsfördernden Individualisierungs-Leistungen des Kapitalismus optimieren, nicht erfüllen. Daher ist zu überlegen, ob es nicht einer Subversion der Subversion11 bedarf, d.h., dass bei aktivistischen Formen politischer Dissens-Äußerung allgemein anerkannte und damit selbst zum System geronnene coole und hippe Negationen zugunsten von Strategien aus heterogenen streitbaren Einmischungen, die sich permanent selbst in Frage stellen, sich selbst unterlaufen, verworfen werden sollten. Damit hat ein politisches Handeln einzusetzen, das sich vor dem SubversionsBetrieb schützt – mit einer Streitpraxis, die gewisse Ordnungen in Dienst nimmt, ohne selbst in Dienst genommen werden zu können; die vertraute Selbstverständlichkeiten problematisiert, ohne dabei selbst selbstverständlich zu werden; die Unterschiede markiert, ohne selbst zur Marke zu werden; und die in Differenz zur markt- und arbeitswirtschaftlichen Differenzierungsmaschine Gleichheitsansprüche artikuliert, ohne sich wiederum selbst zu einer inegalitären Logik zu verfestigen. Vielleicht haben es heute nicht als subversiv klassifizierte Aktionsformen zu sein, sondern welche, die – um der Gleichheit der Gemeinschaft willen – sacht, vorsichtig und unspektakulär vorgehen, wie es sich derzeit zum Teil in der Diskussion um die sogenannte ›Prekarität‹ – d.i. die prinzipielle und fundamentale Verunsicherung aller Lebens- und Arbeitsbereiche über traditionelle Klasseneinteilungen hinweg – abzeichnet. Das ›Prekariat‹ ins Recht zu setzen, müsste in Anlehnung an Rancière heißen, in ihrem Namen gegen eine Anteillosigkeit am Wohlstand oder am Allgemeinwohl zu kämpfen und zu erstreiten, die Bedingungen, die den Arbeitsplatz bestimmen, im Verhältnis zur Gemeinschaft neu zu ordnen (vgl. Rancière 1997: 72; Rancière 2002: 44). Doch auch darüber ist noch zu streiten.

11 | Eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der ›Subversion der Subversion‹ findet sich auch im Beitrag von Thomas Ernst in diesem Band.

bloßen Argumenten oder mit gutem Willen gerettet werden kann. Sie sehen: Die Rechnungen gehen nicht

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auf. Sagt Günther Anders. Lenin sagt: Es gibt immer einen Ausweg. Weiter an Rändern. Es ist ja nicht

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alles falsch, was Mao Zedong propagiert hat. Es gab viele Anfänge. Es gab viele Projekte. Diese Art po-

Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen Mirko Tobias Schäfer und Hans Bernhard

Der Einsatz von Medientechnik als ›taktische Medien‹ (Lovink 2003) wird im Kunstdiskurs häufig als subversive Strategie bezeichnet (Arns 2004). Subversion wird hier gleichgesetzt mit analytischer Dekonstruktion und der Konstruktion alternativer Produktions- und Distributionskanäle, also einer praktischen Unterhöhlung der bestehenden Markt- und Verteilungsverhältnisse. Das Subversive wird bei Arns der jungen Medienkunst der 1960er und 1970er Jahre zugeschrieben, wie auch den Netzkünstlern der 1990er Jahre, die wieder in neuen Technologien taktische Medien entdecken. Das Subversive kann hier auf zwei Ebenen lokalisiert werden: einerseits im Kunstwerk selbst, das aufgrund des Einsatzes von Technik und ästhetischen Codes das bestehende Verständnis von Kunst umdrehen kann und Kritik am herkömmlichen Kunstbegriff und dem gesellschaftspolitischen Status Quo formulieren kann; andererseits in der Zuschreibung des Subversiven, also in der Rezeption und der retrospektiven Beurteilung und Bewertung des Kunstwerks. Subversion wird also nicht nur durch die Anwendung bestimmter Strategien definiert, sondern auch durch Zuschreibung. Dadurch entsteht noch kein Kanon des Subversiven, aber dennoch Konnotationen, die das Begriffsverständnis maßgeblich prägen. Die neuen ästhetischen Codes und die Strategien ihrer Konstruktion und Präsentation werden affektiv diesem Subversionsbegriff zugeordnet. Sie formen eine kulturelle Grammatik, einen Zeichenvorrat, der das Bild vom Subversiven prägt.

litischen Denkens ist jedoch heute nicht mehr brauchbar. Diese Art des Schreibens. Die Kämpfe wirken

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Subversion als Zuschreibung Subversion erweist sich oft mehr als Zuschreibung denn als Effekt. Seine diskursive Verortung in der politischen Linken und innerhalb künstlerischen Avantgarden lenkt von der Ambivalenz1 seiner Strategien ab, die auch effizient vom Establishment angewandt werden. Daraus ließe sich schließen, dass das Subversive lediglich eine Kommunikationsstrategie ist, die verwendet wird, um bestimmte Botschaften zu transportieren. Diese Botschaften sind dann letztlich variabel und können von allen gesendet werden. Die Aufmerksamkeit, die den jeweiligen Botschaften zukommt, hängt dann von ihrer geschickten Platzierung in den Medien ab. Der Begriff des Subversiven selbst muss daher sowohl aus der Perspektive der Medienkunst und der Gesellschaftskritik als auch der Medienwissenschaft kritisch hinterfragt werden.2 Computer und Internet erhielten aufgrund ihres hohen Partizipationspotenzials schnell den Status taktischer Medien mit subversiver Wirkung. Die neuen Technologien schienen die Möglichkeiten für künstlerische Produktion und gesellschaftliche Kritik zu vervielfältigen. Subversives Potenzial und gesellschaftskritische Inhalte attestieren zahlreiche Publikationen der medialen Praxis in der Medienkunst und dem Netzaktivismus (Dery 1993; Lasn 2000; Meikle 2002; Lubbers 2002). Die kulturelle Grammatik, d.h. die Bilder und die mediale Praxis, die affektiv als subversiv beschrieben wird, erhält in diesen Texten eine kulturtheoretische Konnotation, indem die Praktiken der ›Kommunikationsguerilla‹, des ›Culture Jammings‹, des ›Netzaktivismus‹ oder des ›Media-Hackings‹ in einen logischen Zusammenhang mit den kulturkritischen Texten von Adorno und Horkheimer, über Roland Barthes, Umberto Eco bis zu Michel de Certeau gesetzt wird.

1 | Zur Ambivalenz des Subversionsbegriffs in seiner Begriffsgeschichte siehe auch Doll in diesem Band. 2 | In diesem Beitrag reflektieren ein Medienwissenschaftler (Schäfer) und ein Medienkünstler (Bernhard) den Begriff des Subversiven und verweisen dabei auf die Erfahrungen, die der Medienkünstler Bernhard mit seiner Künstlergruppe Ubermorgen.com und ihren Aktionen Vote-Auction und SellTheVote machte, sowie auf die Aktion Toywar der Künstlergruppe etoy, mit der Bernhard assoziiert war.

immer schon alt, überholt & anachronistisch. (Man weiß nicht so recht, was der Zweck ist.) Man sollte

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Etappensiege. Subversive Strategien im Netzaktivismus Gesellschaftskritik als Medienkritik zu betreiben ist bereits den scharfen Analysen Walter Benjamins zu verdanken. Adorno und Horkheimer (1947) attackierten – wie übrigens auch Marshall McLuhan (1951) – die Medienproduzenten der USA und beschuldigten sie der Korruption und Manipulation. Roland Barthes fragte in seinem vielzitierten Ausspruch »Ist es nicht besser die Zeichen zu entstellen anstatt sie zu zerstören« und hat damit Aktivisten inspiriert, Medienkritik mit Medienarbeit zu verbinden. Die intellektuelle Dekonstruktion findet inzwischen in der kreativen Gestaltung von Medieninhalten statt und die von Umberto Eco angedachte semiotische Guerilla (Eco 1967) formiert sich konsequent als Kommunikationsguerilla (Blissett/Brünzels 1997). Mit den neuen Technologien (Computer und Internet) wird der etablierten Kulturindustrie die Produktion der User entgegengesetzt. Das Handbuch der Kommunikationsguerilla fasst Taktiken zur Dekonstruktion der kulturellen Hegemonie zusammen und zeigt die Möglichkeiten der kulturkritischen Medienarbeit an zahlreichen Beispielen auf (Blissett/Brünzels 1997) 3. Als ›Hacktivismus‹, ›digitaler Aktionismus‹, ›Media Hacking‹ oder ›Culture Jamming‹ versprechen diese medialen Praktiken ein subversives Potenzial gegenüber Unternehmen und Regierungen. Zahlreiche Beispiele der Netzkunst und des Netzaktivismus wurden für ihre angebliche Subversivität und den angeblich verursachten Schaden angeklagt, vom Publikum gelobt, mit Preisen ausgezeichnet und in den Medien repräsentiert. Das symbolische Kapital von Kunst und Aktivismus sowie das von Technologien verändert sich durch die Konnotation des Subversiven. Die traditionell technik- und medienskeptische Kulturkritik scheint das Subversive zur Legitimation der eigenen Medienpraxis zu verwenden. Das Internet ist dabei zentrales Medium der politischen Artikulation und der Agitationsraum der selbsternannten Kommunikationsguerilla. Computertechnologie und Internet haben die Asymmetrien im Zugang zu Medientechnik und Repräsentationskanälen scheinbar 3 | Das Handbuch der Kommunikationsguerilla, das 1997 in Deutschland unter den Pseudonymen autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe, Luther Blissett und Sonja Brünzels herausgegeben wurde, ist Bastelanleitung und Theoriebaukasten in einem: »Das Konzept Kommunikationsguerilla ist ein Mix aus Ideologiekritik und einer handlungstheoretisch orientierten Theorie der Medienaneignung, deren Referenzpunkte die Arbeiten von Eco und de Certeau sowie implizit die Thesen der Cultural Studies zur kreativen und eigensinnigen Medienrezeption sind.« (Kleiner 2005: 358)

so differenziert bleiben wie möglich. Die Kämpfe sind nicht kommunizierbar. Wieviel Differenzierung ist

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relativiert. Das Internet bot erstmals weltweite Distribution zu vernachlässigbaren Kosten, es war Radio, Fernsehen und Druckpresse in einem. »The Web’s low barriers to entry ensure greater access than ever before to innovative, even revolutionary ideas«, schreiben Jenkins und Thoburn (2004: 12). Der kulturkritische Aktivismus findet im Internet nicht nur die Plattform zur Präsentation von Kritik und der Vernetzung von Gleichgesinnten, sondern auch die Produktionsmittel, um selber Medieninhalte herstellen und vertreiben zu können. Die erfolgreichen und oft viel beachteten Aktionen von Medienkünstlern und Netzaktivisten tragen dazu bei, das Subversive weiterhin affektiv mit Hegemonie- und Kapitalismuskritik in Verbindung zu bringen. Tatsächlich bietet die neue Technologie Möglichkeiten, deren experimentelle Konfigurationen als »Mythinformation« (Winner 1990) zu Legenden des digitalen Zeitalters werden. Dabei verschwindet die Grenze zwischen politischem Aktivismus und Netzkunst. Enthusiastisch werden Internet und Computer verwendet, um politisch Stellung zu beziehen, Unternehmen zu kritisieren, Webseiten zu manipulieren oder Falschinformationen zu verbreiten. Die Yes Men geben sich auf ihrer Website www.gatt.org als die Welthandelsorganisation aus und verkündeten in einer Pressemitteilung deren Auflösung. Auf www. dowethics.com übernehmen sie als Dow Chemicals die komplette Verantwortung für die Chemiekatastrophe im indischen Bophal, die durch das heute zu Dow Chemicals gehörendem Unternehmen Union Carbide verursacht wurde. Die Gruppe RTMark etablierte sich in den 1990er Jahren als Internetplattform, die Sponsoren für Projekte an Aktivisten vermittelte. 4 Unter anderem wurde so eine Aktion der Barbie Liberation Organisation finanziert, bei der Spielzeugpuppen der Firma Mattel manipuliert wurden.5 Das Sprachmodul der Barbiepuppe wurde mit dem der GI Joe Puppe getauscht. Das Spielzeug sollte so für Genderverwirrung sorgen, denn die blonde Barbie sprach nun im aggressiven Kriegerslang während der martialische Soldat von Shopping und Haushalt schwärmte. Eine der aufsehenerregendsten Aktionen, die sich im Spannungsfeld zwischen Netzkunst und Netzaktivismus abspielte war der sogenannte Toywar der Schweizer Künstlergruppe etoy gegen das Nasdaq-notierte Unternehmen eToys.com.6 Nachdem das Unternehmen 4 | Siehe www.rtmark.com/ (letzter Zugriff am 15.4.2007) 5 | Siehe www.rtmark.com/legacy/blo.html (letzter Zugriff am 15.4.2007) 6 | Hans Bernhard, Co-Autor dieses Artikels war an operativen Tätigkeiten im ›Toywar‹ selber nicht beteiligt. Er war ab 1999 in etoy.CORPORATION nicht mehr aktiv. In die Auseinandersetzung mit etoys war er in sofern involviert,

denn möglich? Einmal mehr stehen wir vor dem Paradox der Nicht-Kommunizierbarkeit. Was ist der

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von der Künstlergruppe gefordert hatte ihre Internet-Domain www.etoy. com abzutreten und diesbezüglich rechtliche Schritte unternahm, antworteten die Künstler mit einer Internetkampagne.7 Schwerfel bewertet die Kampagne als Versuch die Möglichkeiten der Kommunikation im Internet auszuloten, und zwar in der Form der ›Randale‹: »Weltweit stellen sich Hacker, Künstler und solidarisch fühlende User hinter das Künstlerseptett von etoy und erklären den virtuellen ›toywar‹, den Spielzeugkrieg. Damit meinen sie ein interaktives Netzspiel, das vornehmlich darin besteht, Scheinattacken gegen die Aktie des bösen Spielzeug-Giganten eToys zu reiten. Dessen Kurs kippt innerhalb weniger Monate vom ursprünglichen Emissionswert achtzig auf unter zwanzig Dollar.« (Schwerfel 2000: 133) Reinhold Grether, der aktiv an der Organisation des Toywar beteiligt war, sieht in den Möglichkeiten des kollektiven Protests ein weitaus größeres Handlungspotenzial, das egalitär jedem Aktivisten Erfolg verspricht. Er lässt sich in seinem Artikel »How the etoy campaign was won« hinreißen: »Flow, wenn zehn bis zwanzig gleichzeitig kommunizierten und Wissen um den Globus jagten. Jeder kann es, Du auch. E-Mail-Finish mit elektronischen Steinschleudern! Hunderte von Toywar-Agenten nehmen das eToys-Management von Toywar aus unter Beschuss!! Bedingungslose Kapitulation!!!« (Grether 2000)

Subversive Kommunikationstrategien als Methode Benjamin wies bereits auf die Ambivalenz von Technik hin und forderte den Künstler auf, seine Produktionen so zu gestalten, dass dabei die Produktionsverhältnisse in Frage gestellt werden, und nicht etwa ein Produktionsapparat beliefert wird, ohne diesen zu verändern (Benjamin 2003: 240). Die Ästhetik und Praxis des Hacktivismus, des Culture Jamming und der Kommunikationsguerilla lassen sich aber erfolgreich in die Produktionsverhältnisse integrieren. Werden dagegen die hier als subversiv beschriebenen Praktiken nicht mehr in einem Bedeutungszusammenhang mit der Ästhetik künstlerischer Avantgarden oder den kreativen gesellschaftskritischen Produktionen einer ›Kommunikationsguerilla‹ definiert, lassen sich als dass er in der Klage des Konzerns eToys gegen die Künstlergruppe etoy als Beklagter aufscheint, wodurch er auch das mit dem Prozess verbundene Mediendispositiv mitgestaltete. 7 | Am Toywar beteiligte sich auch die Plattform RTMark: www.rtmark. com/legacy/etoymain.html (letzter Zugriff am 15.04.2007)

Kältestrom in der Gesellschaft? Was ist wildgewordene Warenproduktion? Könnte man fragen. Was man

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ihre kommunikativen Strategien und ihre tradierten Topoi auch in anderen Bereichen der Medienproduktion und Medienmanipulation nachweisen. Subversive Strategien scheinen in der Medienpraxis Teil einer kulturellen Grammatik zu sein, die sich erfolgreich in anderen Bereichen der Informations- und Mediengesellschaft anwenden lässt. Marketing und Public Relation sind die Bereiche, von denen subversive Strategien absorbiert und effizient im Interesse von Politik und Konzernen für ›Agenda Setting‹ und Lobby-Tätigkeiten verwertet werden. So definiert das Handbuch der Kommunikationsguerilla als Techniken der subversiven Mediengestaltung unter anderem den Fake, die Überidentifikation, die Camouflage, die Collage oder die Affirmation (autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe 1997). Eben diese als subversiv bezeichneten Strategien lassen sich in den Bereichen Kunst, Politik und Wirtschaft zur Kommunikation von Themen feststellen. Diese Bereiche sind in die gesellschaftliche Meinungsbildung und die Produktion von Medienwirklichkeit eingebunden und sind abhängig von ›Aufmerksamkeit‹ als zentralem Faktor in der Logik ihrer Märkte. Im Hinblick auf Subversion ist diese Aufmerksamkeit ein Problem, denn sie wird zur Währung des Informationszeitalters. Subversive Strategien werden daher zunehmend verwendet, um Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema zu generieren. Jeder der Bereiche ist diversifiziert in zahlreiche Teilöffentlichkeiten, Netzwerke, Gruppen und Gemeinschaften, deren Kommunikation oftmals ausschließlich als Binnenkommunikation stattfindet. Auch die subversiven Strategien bleiben meist innerhalb eines Bereiches oder werden nicht einmal als solche wahrgenommen. Obwohl ein beträchtlicher Teil der kommunikativen Prozesse als Binnenkommunikation innerhalb der jeweiligen Teilöffentlichkeiten und sozialen Netzwerke abläuft, erregen immer wieder Themen die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit. Eine intendierte Subversion, die gezielt für eine bestimmte Teilöffentlichkeit konzipiert ist, kann als Provokation auch darüber hinaus Aufmerksamkeit erregen. Hier ließen sich Damien Hirsts Kuhhälften oder Jeff Koons Arbeiten mit der Pornodarstellerin Ilona Staller (Cicciolina) nennen, die auch außerhalb der kunstinteressierten Bevölkerung Aufmerksamkeit erregten, meistens in Form von Empörung, wodurch sie im Binnendiskurs des Kunstmarktes gleichzeitig massiv an Wert zunahmen. Auch die Strategien des Subversiven in Medienkunst und Netzaktivismus spielen mit der Provokation. Die Provokation kann als subversive Strategie gewertet werden um Aufmerksamkeit zu erlangen. Im Bereich der Werbung ist der Benetton Fotograf Oliviero Toscani zu nennen, der großes Aufsehen erregte, indem für seine Kampagnen Bildmaterial verwendete, das in Nachrichten oder Sozialreportagen

aber tun kann, wenn es brennt, willst du wissen. Wenn du merkst, daß kein Entkommen mehr möglich

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gepasst hätte. Die Motive zeigen unter anderem ein überfülltes Flüchtlingsschiff, einen sterbenden Aidspatienten und die blutverschmierte Kleidung eines im jugoslawischen Bürgerkrieg Gefallenen. Toscani collagiert hier die Bildersprache der Nachrichten mit den Kauf-Botschaften der Werbung. Das subversive Potenzial Toscanis ist nicht die erregte Empörung über die Motive, sondern die Verbindung gesellschaftspolitischen Bewusstseins mit den Produkten einer Marke. Im Zeitalter der mechanischen Reproduzierbarkeit ist das Produkt die austauschbare Variable, während das symbolische Kapital und das Imago, die Illusion (oder Aura) des Unverwechselbaren konstruieren. Nach Toscani ist dies zum Allgemeinplatz geworden und in abgeschwächter Form bedienen sich zahlreiche Marken (z.B. Diesel) aus dem Zeichenreservoir gesellschaftspolitischer Debatten. Im Bereich der Medienkunst probierte 2003 die italienische Künstlergruppe One Dot Zero (oder 0100101110101101.org) geschickt ihren Namen mit dem weltberühmten Logo des Sportartikelherstellers Nike zu verbinden. 8 Mit Techniken des Fake und der Überidentifikation wurde ein fiktives Konzept der Firma Nike präsentiert, den Wiener Karlsplatz in ›Nike-Platz‹ umzubenennen und mit einem riesigen Swoosh, dem Nike-Logo, als Denkmal zu markieren. Unterstützung erhielten die Künstler dabei von der Plattform Public Netbase, einem Wiener Verein, der sich in den 1990er Jahren kritisch für eine partizipative Informationsgesellschaft engagierte. Eva und Franco Mattes von One Dot Zero nutzten den Nike-Platz, um, gemäß ihrer Eigendefinition, »mit unkonventionellen Kommunikationstechniken und geringstem Aufwand die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen.«9 Das Konzept wirkte innerhalb der relativ kleinen Teilöffentlichkeit für Medienkunst gut und belohnte die Künstler mit einer Zunahme an Repräsentation auf Festivals, in Galerien und am Kunstmarkt. Public Netbase hingegen versuchte mit der Aktion auf die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes hinzuweisen und inszenierte den Fake als subversives Agenda Setting. Es sei die Aufgabe der Institution Public Netbase, »das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Interesse und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche zur Diskussion zu stellen und durch direkte Intervention in den urbanen und medialen Raum Handlungsfelder zu erweitern.«10 Dieser Erwartung wurden aber 8 | Vgl. zu dieser Aktion der Künstlergruppe One Dot Zero auch die Mitschrift der Podiumsdisskusion u.a. mit Hans Bernhard am Ende dieses Bandes. 9 | Siehe die Selbstbeschreibung von One Dot Zero unter http:// 0100101110101101.org/index.html (letzter Zugriff am 15.04.2007)

ist. (Daß es dazu kommt, ist eine ständige Gefahr.) Daß mit Gewaltlosigkeit nichts mehr zu erreichen ist.

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weder die Medienberichte zur Aktion Nike-Platz gerecht, noch kam es zu einer gesellschaftlichen Debatte um die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes. Die direkte Intervention in den urbanen Raum war ein von One Dot Zero gestalteter und durch Public Netbase betriebener Info-Pavillion, der Passanten über das angebliche Nike-PlatzProjekt des Unternehmens Nike informieren sollte. Diese von One Dot Zero und Public Netbase verwendete Strategie wird auch schon von den Autoren und Autorinnen des Handbuchs der Kommunikationsguerilla beschrieben: »Die Erfindung falscher Tatsachen zur Schaffung wahrer Ereignisse ist eine Methode, die Mechanismen offenzulegen und zu kritisieren, die die hegemoniale Produktion medialer und politischer Bilder von Wirklichkeit bestimmen« (autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe 1997: 58).

Nike-Platz

Die Irak-Kampagne der Public-Relations-Agentur Hill & Knowlton macht deutlich, wie die Erfindung falscher Tatsachen erfolgreich gewählte Volksvertreter manipulieren kann und tatsächlich zur Schaffung wahrer Ereignisse führt. Im Auftrag kuwaitischer Lobbyisten, der Citizens for a Free Kuwait, sollte 1990 der US-amerikanische Kongress für eine Zustimmung zum Krieg gegen den Irak manipuliert werden. Das geschah durch die fingierte Aussage der kuwaitischen 10 | Pressemitteilung von Public Netbase: Nike-Platz: Kunstintervention im urbanen Raum, 10.10.2003, online unter: www.t0.or.at/nikeground/pressreleases/de/002 (letzter Zugriff am 15.04.2007)

Daß es Erfahrungen gibt, aus denen kein Angriff mehr geht. Aber es gibt den Widerstand, & er wird

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Krankenschwester Nayirah vor dem Ausschuss für Menschenrechte des US-amerikanischen Kongresses. Die junge Frau sagte aus, dass irakische Soldaten kuwaitische Babys aus den Brutkästen rissen und auf dem Boden sterben ließen, um die Brutkästen für den Abtransport in den Irak zu demontieren.11 Im Nachhinein stellte sich nicht nur diese Aussage als falsch heraus, sondern die angebliche Krankenschwester entpuppte sich als Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA (Stauber/Rampton 1995: 169–76). Ähnlich den Taktiken der Kommunikationsguerilla erfolgte diese Manipulation durch eine Lüge und die Übertreibung der durch irakische Invasoren begangenen Grausamkeiten. Die Präsentation von Lüge und Übertreibung gelang so glaubwürdig, dass sie die Bereitschaft des Kongresses für den Krieg zu stimmen mobilisierte. Ausschlaggebend war außerdem der Informationsvorsprung, den die Urheber der Lüge bis zur Entdeckung der tatsächlichen Fakten hatten. Dadurch konstruierten sie kurzfristig eine Realität, die den unmittelbaren Einmarsch der USA in den Irak notwendig erscheinen ließ.12 Subversiv ist hier die erfolgreiche Manipulation der Abgeordneten, deren Einschätzung der Sicherheitslage nicht auf verifizierbaren Informationen beruhte, sondern einzig auf der subjektiv glaubwürdigen Falschaussage. Zum Einsatz kamen jedoch Strategien und Methoden, die in der enthusiastischen Literatur zum Medienaktivismus von der autonomen a.f.r.i.k.a. Gruppe bis über Mark Dery, Kalle Lasn und Eveline Lubbers als selbstverständliches Repertoire der Hegemoniekritik beschrieben werden. Ihre Anwendung im politischen Lobbyismus stellt jedoch viel dringender die Frage nach der Manipulation der Öffentlichkeit. Der oben erwähnte Nike-Platz lässt sich bestenfalls als Täuschung oder als Fake beschreiben. Der tatsächliche Sachverhalt einer Kunstaktion oder auch einer auf klärerischen Kampagne sind schnell erschlossen und werden von keinem Beteiligten geleugnet. Im Falle von Hill & Knowlton wird bewusst eine falsche Wirklichkeit konstruiert, die geopolitische Realität nach sich zieht. 11 | Ihre Aussage wurde von Hill & Knowlton gedruckt und als Videoband an Abgeordnete und Presse verteilt: »I volunteered at the al-Addan hospital. While I was there, I saw the Iraqi soldiers come into the hospital with guns, and go into the room where … babies were in incubators. They took the babies out of the incubators, took the incubators, and left the babies on the cold floor to die.« (Zit. nach Stauber/Rampton 1995: 173) 12 | Die Geschichte von den Brutkästen findet sich auch in dem amerikanischen Spielfilm Live from Bagdad (Mick Jackson, HBO, USA 2002) wieder. Erst nach dem Abspann findet sich ein Hinweis, dass die Brutkasten-Geschichte nicht nachgewiesen werden konnte (»allegations were never substantiated«).

immer stärker. Aber was ist das für ein Schwachsinn! Was man aber tun kann. Insistierst du auf der

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Hier zeigt sich auch der Unterschied der Subversion zur Provokation. Während die Provokation ihren tabubrechenden Charakter exponiert, versteckt die subversive Strategie ihr unterminierendes Potenzial. Während die Provokation die Debatte herausfordert, unterläuft die Subversion diese. Subversion will nicht als solche erkannt werden, während die Provokation grundsätzlich als solche erkannt werden muss, um wirken zu können. Subversiv an der professionellen Produktion wahrer Ereignisse in der Irak-Kampagne ist das manipulative Potenzial der emotionalisierenden falschen Tatsachen. Dadurch wurde letztendlich die Debatte verhindert und Entscheidungsträger unter Ausschluss der demokratischen Meinungsbildung zu Handlungen gedrängt. Die Provokation kann Teil einer subversiven Strategie sein, sowie auch die Provokation subversiv wirken kann. Im Falle des Nike-Platz sollte die Empörung über die angebliche Umbenennung des Wiener Karlsplatzes eine Debatte über die tatsächlich stattfindende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes auslösen. Das provozierende Moment war Teil einer kulturellen Grammatik, die den Fake als legitimes Mittel betrachtet, um die politische Realität in Frage zu stellen. Die Auflösung des Fake als Fake ist ein fester Bestandteil dieses Prozesses. Im Falle von Hill & Knowlton hätte die Aufdeckung der Lüge eine kontra-produktive Wirkung für die Ziele der Public-Relations-Agentur nach sich ziehen müssen. Gesellschaftlich problematisch ist, dass selbst nach bekannt werden des Betruges, weder das Image des Betrügers Schaden nimmt noch irgendwelche Konsequenzen zu befürchten sind. In der Werbung wird unter dem Stichwort ›Viral Marketing‹ das Internet als gefälliger Distributionskanal verwendet. Ziel ist es, Botschaften zu kreieren, die dermaßen Aufmerksamkeit provozieren, dass sie von den Usern im Schneeballsystem verbreitet werden. 2003 kursierten Fake Puma-Werbungen im Internet, auf denen ein Mädchen vor einem Jungen kniet, so dass Oralsex assoziiert wird.13 Das Unternehmen distanzierte sich von den Motiven, deren Herkunft Peter Kim, der damalige International Marketing Manager bei Puma so erklärt: »What really happened – a small Eastern European agency affiliated with Saatchi & Saatchi created the ads on spec, trying to win business with a PUMA subsidiary. They got nothing and emailed the ads to friends; from that point it snowballed. As you can guess, when the PUMA powers […] decided to get all corporate on the blogosphere, the whole thing exploded. 13 | Die Fake Werbungen finden sich unter anderem im Archiv des MemeFirst Blogs: www.memefirst.com/puma.html?story=2003012 (letzter Zugriff am 15.04.2007)

Frage. Sagt man dir: Der Bürgerkrieg ist wieder mit voller Wucht ausgebrochen. Das ist eine furchtbare

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[…] Online store sales were up like CRAZY for a couple of weeks. Too bad we didn’t even have the shoes in the ads in stock!« 14

Puma Fake Ad

Ähnliches ist im Falle einer Werbekampagne des Volkswagenkonzerns zu beobachten: Die Polo, small but tough-Kampagne wurde 2005 durch einen im Internet kursierenden Videoclip erweitert. In dem professionell produzierten Werbefilm fährt ein Selbstmordattentäter in einem Polo vor ein Kaffeehaus. Er zündet seinen Sprengsatz im Auto und tötet sich selbst, der Polo jedoch bleibt unbeschädigt: »Polo, small but tough«. Auch hier distanziert sich das Unternehmen und kündigt rechtliche Schritte gegen die Urheber des Videos an. Bis heute konnte das Unternehmen die angeblich Verantwortlichen ›Lee‹ und ›Dan‹ offenbar nicht identifizieren und so bleiben die Urheber eines Films, der von Millionen Menschen gesehen wurde und auch heute noch im Internet abgerufen werden kann, unbekannt.15

14 | Nachzulesen auf Peter Kims Weblog: www.beingpeterkim.com/2006/01/ how_i_learned_t.html (letzter Zugriff am 15.04.2007) 15 | Der Film und die Gerüchte um seine Urheber sind auf nachstehender Webseite zu finden: www.snopes.com/photos/advertisements/vwpolo.asp (letzter Zugriff am 15.04.2007)

Ballerei & Rauch & Material. Ausnahmezustand in Permanenz. Blutige Wirklichkeit sind diese Material-

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Polo, small but tough

Obwohl beide Unternehmen den Verdacht von sich weisen, an diesen Produktionen beteiligt zu sein und dies durch die Ankündigung juristischer Maßnahmen unterstreichen, wird diese ›nicht offizielle‹ Werbung natürlich mit der Marke identifiziert. Trotzt Dementi und der Ankündigung rechtlicher Schritte gegen die unbekannten Urheber, können Marken von der Aufmerksamkeit, die durch Motive erregt wird, die nicht der expliziten Unternehmenskommunikation entsprechen, profitieren. Die Ästhetik der Fake-Werbungen erinnert an die ›Spoof Ads‹ von Adbusters.org, die laut Kalle Lasn als auf klärerische Dekonstruktion der Werbebotschaft zu begreifen sind (Lasn 2000).16 Für die Werbeindustrie scheinen sie jedoch inspirierendes Material im Kampf um Aufmerksamkeit zu sein. Es ließen sich für jeden der genannten Bereiche noch zahlreiche weitere Beispiele anführen. Die Genannten sollten aber bereits ausreichen, um zu erkennen, dass die Strategien des Subversiven nicht allein im Bereich der Netzkunst oder dem Medienaktivismus angewandt werden, sondern genauso effektvoll in Werbung und Politik eingesetzt werden. Gleichzeitig ist zu erkennen, wie eng das Subversive im Bereich der Medien mit Aufmerksamkeit verknüpft ist. Ohne die Erregung von Aufmerksamkeit funktioniert die subversive Strategie nicht, die selbst nicht als solche erkannt werden soll. Aufmerksamkeit wird als Währung der Informationsgesellschaft bezeichnet (Franck 1998). In einer Gesellschaft, in der jeder einzelne Bürger täglich mit über 3000 Werbebotschaften konfrontiert wird und in der zahlreiche Medien, wie Zeitungen, Fernsehsender, Webseiten, Spielkonsolen, MP3 Spieler usw. 16 | Siehe www.adbusters.org. (letzter Zugriff am 15.04.2007)

schlachten. Der allgemeine Kriegszustand ist nichts Zufälliges oder gar Ungewolltes. Wir leben im Krieg.

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um die begrenzte Zeit und das Budget der Konsumenten ringen, wird Aufmerksamkeit zum zentralen Faktor. Auch in der Politik verpufft die bestgemeinte Agenda wirkungslos, wenn es den Politikern nicht gelingt, ihr die notwendige Öffentlichkeit zu verschaffen. Die Anwendung subversiver Strategien dient dann in erster Linie der Erregung von Aufmerksamkeit und dem ›Agenda Setting‹. Wer die subversiven Strategien beherrscht, wird zweifelsohne erfolgreich senden. Es mutet seltsam an, dass diese Fähigkeit bei der traditionell medien- und technikskeptischen Linken vermutet wird und der Begriff der Subversion mit Gegenkultur und Aktionismus assoziiert wird. Diese üblichen Verdächtigen lenken davon ab, dass die Kunst der subversiven Kommunikation bei den Spezialisten der Medien- und Informationsgesellschaft zu lokalisieren ist: In der Werbung, der Public Relation, dem Lobbying und der Politik, oder um es mit einem Zitat von McLuhan zu formulieren: »Ours is the first age, in which many thousands of the best trained individual minds have made it a full time business to get inside the collective public mind. To get inside in order to manipulate, exploit, control is the object now.« (McLuhan 1951: V) Das Subversive ist keineswegs exklusiv im Baukasten für Medienstrategien von Künstlern und Dissidenten zu finden, sondern ist praktisches Werkzeug all jener, deren Aufgabe es ist, in der Informationsgesellschaft Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für ihre jeweiligen Botschaften herzustellen. Dadurch verliert das Subversive seine Konnotation mit Gesellschaftskritik und Rebellentum und ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung mit der Medienpraxis. Der Begriff des Subversiven muss hinsichtlich dieser Realität in Frage gestellt werden.

Subversion zwischen Wirkungslosigkeit und Stabilisierung Subversive Strategien sind ambivalent und werden von Kommunikationsspezialisten jeglicher Profession erfolgreich eingesetzt. Die Strategie selber ist kein Geheimnis, oft wird die angewandte Kommunikationstechnik sichtbar und lässt sich retrospektiv analysieren. Eine erfolgreich angewandte Strategie geht somit ins allgemein zugängliche Arsenal der kommunikativen Möglichkeiten ein und wird Teil der kulturellen Grammatik. Toscanis Strategie, das Produkt aus der Werbung zu entfernen, ist aufgrund des Werbeverbotes zum selbstverständlichen Programm für Zigarettenhersteller geworden. Ihnen gelingt es durch Kulturleistungen wie Konzerte, Plattenlabels, Partys und Sponsoring kulturelles Kapital zu inszenieren, das mit dem unsichtbaren Produkt

Wir sind nicht verrückt. Wir leben im Zustand des Krieges. Es handelt sich ausschließlich um eine Frage

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des Unternehmens in Verbindung gebracht wird. Das Unternehmen Diesel absorbiert Toscanis Plakatieren gesellschaftlicher Debatten in einer abgeschwächten, leicht verdaulichen Form. Die New-MarketsKampagne zeigt Motive, die mit der Realität kommunistischer Länder, China oder Nord Korea, assoziiert werden. Die Lebenssituation der dortigen Bevölkerung wird im deutlichen Kontrast zu den beworbenen Produkten der Firma Diesel dargestellt. Die Produkte stehen gleichzeitig für einen anderen Gesellschaftsentwurf, für die Freiheit des Individuums im Kapitalismus. Ein Motiv zeigt einen Mann mit einem kleinen Jungen, die offensichtlich in Armut leben und unter einer hochgehaltenen Zeitung Schutz vor dem Regenwetter suchen. An der Mauer über ihnen hängt ein Dieselplakat mit der Aufschrift »Escape Now«.

Diesel, Escape Now

Auch der von Public Netbase als gesellschaftskritische Intervention präsentierte Nike-Platz von One Dot Zero unterminierte den Konzern oder seine Marketingstrategien keineswegs. Während Nike USA anfangs noch versuchte, die Urheber rechtlich zu belangen, setzte sich, nachdem das Verfahren wegen eines Formfehlers eingestellt wurde, die Erkenntnis durch, dass ein solches Projekt der Marke Nike keinen Schaden zufügen kann. Nike Italien stand dem Projekt angeblich bereits in der Planungsphase positiv gegenüber. Die Technik mit einer Falschmeldung oder einem Hoax Aufmerksamkeit zu erregen, wird 2003 erfolgreich durch den Game-Hersteller Sega angewandt. Die preisgekrönte Werbekampagne trat als aktivistische Informationskampagne gegen Sega auf und klärte über

der Gewalt. (In dieser Perspektive sind alle Mittel recht.) Wir führen einen Krieg auf Leben & Tod. & wir

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angebliche gravierende psychische Schäden auf, die Beta-Tester durch das Spielen eines neuen Computerspiels erlitten hätten. Stilistisch orientierten sich die Macher der Kampagne an den kritischen Seiten der Blogosphere.17 Mit Fake-Dokumenten, -Videos und zahlreichen Postings wurde der spannende Krimi um Beta 7 inszeniert, einem Beta-Tester, der untertauchen musste, weil er die Öffentlichkeit vor dem neuen Sega Game warnen wollte. Die Webseite klärt über die angeblich gefährlichen, psychischen Folgen des Spiels auf und beschreibt die brutalen Methoden von Sega, diese ›Wahrheit‹ zu vertuschen. Konsequent wird der Leser aufgefordert Protestschreiben an Sega zu senden. Eine Kampagne gegen ein Unternehmen entpuppt sich im Nachhinein als Medien-Hack des Unternehmens selbst, die Marke nahm durch die angeblichen Vorwürfe keinerlei Schaden. Versteht man die subversiven Strategien des Media-Hacking als einen Angriff auf ein System, so sollte davon ausgegangen werden, dass das System durch jeden dieser Angriffe dazu lernt und sich in der Auseinandersetzung verbessert. Der amerikanische Architekt und Medientheoretiker Richard Coyne erläutert das interdependente Verhältnis von Konstruktion und Dekonstruktion am Beispiel von Computerviren: »The potency of this play between construction and deconstruction is exemplified in the computer world through the perpetration of computer ›viruses‹, a subversive movement within computer programming that is not entirely destructive. The constructive/destructive game of the computer hacker places security, robustness, and automated agency on the agenda. As part of an industry of moves and countermoves, it informs the development of operating systems, networks, and programming practices.« (Coyne 2005: 58)

Ähnliches ließe sich für die Strategien des Medien-Hacking oder die Methoden der Kommunikationsguerilla feststellen. Die Verwendung subversiver Strategien etabliert diese als allgemein zugängliches Wissen. Subversive Strategien finden sich daher nicht nur in der Hegemoniekritik oder der künstlerischen Avantgarde, sondern selbstverständlich auch im Produktionsapparat der Kulturindustrie und dem herrschenden Diskurs. Die Techniken des Medien-Hacking, die von den Yes Men, von Ubermorgen.com und eToy verwendet wurden, zeigen den ›angegriffenen‹ Unternehmen und Institutionen Schwachstellen 17 | Der Fake-Weblog findet sich unter: www.beta-7.com/blog/ (letzter Zugriff am 15.04.2007)

verlieren ihn. Eine eigene Logik der Verdichtung. Was man aber tun kann, wenn es brennt, willst du

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ihrer Kommunikation und Medienpraxis auf, die anschließend repariert werden können.

Die Eskalation subversiver Strategien Der stabilisierende Effekt subversiver Kommunikationsstrategien zieht einen eskalierenden Effekt nach sich. Strategien, die einmal konfiguriert und erfolgreich angewandt, analysiert und nachgeahmt oder konfrontiert werden können, erfordern neue und wirkungsvollere Methoden. Ähnlich dem Wettrüsten zwischen Viren-Programmierern und der Antivirensoftware-Industrie entwerfen die Kommunikationsspezialisten neue und bessere Anwendungskonfigurationen ihrer subversiven Strategien. Diese Entwicklung lässt sich auch an den zwei Aktionen Vote-Auction (2000) und SellTheVote (2004) von Ubermorgen. com aufzeigen.18 Sie thematisierten das problematische Verhältnis zwischen Kapitalismus und repräsentativer Demokratie. Dazu wurde das bestehende System überinterpretiert und vorgeschlagen, Kapitalismus und Demokratie zu vereinen. Vote-Auction war letztendlich nicht mehr als eine Webseite die behauptete, man könne die Stimmen der Wahlberechtigten versteigern. Unter dem Slogan »Bringing capitalism and democracy closer together« sollten Wahlstimmen meistbietend versteigert werden. Die amerikanische Wahlbehörde unternahm rechtliche Schritte gegen Vote-Auction und setzte die jeweiligen Firmen, bei denen die verschiedenen Domain-Namen der Webseiten der Auktionsplattform registriert wahren unter Druck, die Seiten abzuschalten. Mit SellTheVote.com (2004), wurde vier Jahre nach Vote-Auction die Aktion von der intellektuellen Dekonstruktion zur tatsächlichen Handlung. Ubermorgen.com verkaufte nun illegalerweise die Briefwahlunterlagen von US-amerikanischen Wahlberechtigten an jene, die von der Wahl ausgeschlossen waren (sowohl Personen aus den USA als auch dem Ausland), um erneut den Demokratieanspruch zu überhöhen und den US-amerikanischen Präsidenten zum legitimen Präsidenten des Planeten zu küren. Wie schon bei Vote-Auction provozierte Ubermorgen. com durch diese Aktion eine Flut von Anklagen und sah sich temporär mit dem geballten Handlungspotenzial des Justizsystems konfrontiert. Letztlich wurden die Verfahren eingestellt, wie auch die Debatten um 18 | Vote-Auction und SellTheVote waren Aktionen von Ubermorgen. com, an denen Hans Bernhard, Co-autor dieses Beitrages in Konzeption und Ausführung maßgeblich beteiligt war, siehe www.vote-auction.net/ (letzter Zugriff am 15.04.2007)

wissen. Es gilt, radikal die Frage des Überlebens & der Zerstörung des Systems zu stellen. Es ist eine

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die Kritik an der repräsentativen Demokratie abebbten. Ubermorgen.com erkannte, dass in einem erneuten Angriff auf die Widersprüchlichkeit des politischen Systems andere Strategien notwendig sein werden, da die bisher angewandten Teil der Kommunikationsroutinen des Systems geworden sind. So können subversive Strategien zu einer Eskalation führen. Gleichzeitig entwickeln sich aber auch die Systeme jener weiter, gegen die eine ursprüngliche Subversion gerichtet war. Zuvor angewandte Strategien werden erkannt und abgewehrt, oder können sich als ineffizient herausstellen.

Subversion als Nebenwirkung Neben der Ambivalenz der Anwendung subversiver Strategien erweist sich auch die Rezeption als heterogen. Aktionen wie Vote-Auction oder SellTheVote.com können als Angriff auf das amerikanische Wahlrecht begriffen werden. Auf einer weiteren Ebene lassen sie sich jedoch als Kritik an der repräsentativen Demokratie lesen und könnten zur kritischen Reflexion beitragen. Während die erste Lesart die Konstruktion von Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit der Medien provoziert, zielt die zweite Lesart auf einen längerfristigen Prozess. Die erste Lesart ist medial verwertbar, während die zweite erst in der gesellschaftskritischen Debatte entfaltet wird. Ein anderes Beispiel für subversive Langzeitwirkung wären die rechtsradikalen Parteien in Deutschland, die in den 1980er Jahren bereits begonnen haben, Asylsuchende mit Wirtschaftsflüchtlingen gleichzusetzen. Damals begegnete ihnen die Empörung des Establishments, das heute zum Großteil die Terminologie übernommen hat und eine Politik der Kriminalisierung der Flüchtlinge betreibt. Insofern stellen die rechtsradikalen Parteien in Österreich und in Deutschland die politische Avantgarde, deren ausländerfeindliche Konzepte teilweise in die Politik der etablierten Parteien inkorporiert werden.19

19 | In Österreich wurden die Nationalisten durch die Koalition aus ÖVP und FPÖ 1999 selbst zum Establishment. Durch das 2006 verabschiedete Ausländergesetz, das auch mit den Stimmen der oppositionellen Sozialdemokraten beschlossen wurde, fand ihre Xenophobie die gesetzgeberische Legitimation.

wütende Auseinandersetzung darüber im Gange, was zu tun ist. Es will alles sorgfältig geprüft sein.

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Subversion entstellen Das Subversive hat offensichtlich viele Gesichter. Die Konnotation mit Kulturkritik, künstlerischen Avantgarden und politischem Aktionismus ist für die Dekonstruktion des Subversiven in unserer Mediengesellschaft nicht hilfreich. Es wurde gezeigt, dass die subversiven Strategien, die der medialen Praxis in Kunst und Aktionismus zugeschrieben werden, auch in Politik und Werbung angewandt werden, um Aufmerksamkeit für Themen und Botschaften zu erregen. Das Subversive dient hier lediglich als eine Technik der Kommunikation, des Transportes von Botschaften von Sendern zu Empfängern. Die Botschaft selber ist austauschbar. Mit der Entwicklung subversiver Strategien zur Kommunikation von Inhalten wird das kulturelle Reservoir dieser Praktiken erweitert. Das Subversive ist also nicht bei jenen zu lokalisieren, die mit dem Subversiven assoziiert werden, sondern bei all jenen, die subversive Strategien anwenden. Die Ästhetik und die Kommunikationsstrategien des ›Hacktivismus‹, der ›Culture Jammers‹ oder der ›Kommunikationsguerilla‹ haben sich als wenig resistent gezeigt gegenüber der Inkorporation in die Kulturindustrie. Anstatt die Zeichen zu entstellen, wie Barthes es noch forderte, muss die Subversivität von Kommunikationsstrategien selbst entstellt werden, um sie so wirkungslos werden zu lassen.

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(Eine unerläßliche Grundlagenarbeit ist das.) Es ist Zeit, die Einzelteile zu betrachten. (Bloß: Wir haben

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empire of signs. Unter: http://project.cyberpunk.ru/idb/culture_jamming. html (letzter Zugriff am 15.04.2007). Düllo, Thomas/Liebl, Franz (Hg.) (2005): Cultural Hacking. Kunst des strategischen Handelns, Wien, New York: Springer. Eco, Umberto (1987): »Für eine semiotische Guerilla«. In: Umberto Eco, Über Gott und die Welt, München: dtv, S. 146–156. Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit, München: Hanser. Grether, Reinhold (2000): Wie die etoy Kampagne geführt wurde. Unter: www. heise.de/tp/r4/artikel/5/5768/1.html (letzter Zugriff am 15.04.2007). Groys, Boris (2002): Über das Neue, Frankfurt a.M.: Fischer. Hebdige, Dick (1987): Subculture or the Meaning of Style, London: Routledge. Lasn, Kalle (2000): Culture Jam. How to Reverse America’s Suicidal Consumer Binge – And Why We Must, New York: HarperCollins. Lovink, Geert (2003): Dark Fiber, Cambridge, MA: MIT Press. Lubbers, Eveline (2002): »Net.activism«. In: Eveline Lubbers, Battling Big Business. Countering Greenwash, Infiltration and other Forms of Corporate Bullying, Foxhole: Green Books, S. 181–192. Kleiner, Marcus S. (2005): »Semiotischer Widerstand. Zur Gesellschafts- und Medienkritik der Kommunikationsguerilla«. In: Gerd Hallenberger/JörgUwe Nieland (Hg.): Neue Kritik der Medienkritik, Köln: Herbert von Halem, S. 316–388. Meikle, Graham (2002): Future Active. Media Activism and the Internet, London/New York: Routledge. Römer Stefan (2001): Künstlerische Strategien des Fake: Kritik von Original und Fälschung, Köln: DuMont. Schwerfel, Heinz Peter (2000): Kunstskandale, Köln: DuMont. Stauber, John C./Rampton, Sheldon (1995): Toxic Sludge is good for you. Lies, damn lies and the Public Relations Industry, London: Constable & Robinson. Toscani, Oliviero (1996): Die Werbung ist ein lächelndes Aas, Mannheim: Bollmann. Winner, Langdon (1990): »Mythinformation«. In: John Zerzan/Alice Carnes (Hg.): Questioning Technology, Philadelphia: New Society Publishers. Unter: www.eco-action.org/dt/mythin.html (letzter Zugriff am 15.04.2007).

nicht mehr viel Zeit.) Es geht um ein Nebeneinanderstellen von Vorstellungen. (In einem ersten Schritt

muß die Differenz ins Extrem getrieben werden.) »Flüssigmachen«; die Dinge in Bewegung setzen. Es

Informationen sind schnell – Wahrheit braucht Zeit . Einige Mosaiksteine für das kollektive Netzgedächtnis Rena Tangens und padeluun

Erik Satie »Meine Musik soll nicht mehr Bedeutung haben als die Wärme, das Licht oder die Möbel in einem Raum«, sagte der französische Komponist Erik Satie (1866–1925) sinngemäß über seine Musique d’Ameublement. Sie soll sich nicht in den Vordergrund drängen, die Menschen nicht faszinieren und passiv machen, sondern einen Rahmen und einen ZeitRaum eröffnen, der ruhig und zugleich anregend ist: Das Publikum wird zur Hauptperson, ganz ohne Animation und Mitmachprogramm. Die Beobachtung ist: Wer den Raum als angenehm empfindet, sich willkommen fühlt und sich Zeit lassen kann, wird irgendwann ganz von selbst Aktivität (vielleicht auch ›nur‹ geistige) entfalten. Eine gute Aufführung von Erik Saties Stück Pages Mystiques braucht mindestens zwei Pianisten und mindestens 15 Stunden. Netzwerke auf bauen, pflegen und gute Software dafür gestalten braucht Jahre. Die Kunst, einen Raum für eine Pages Mystiques-Aufführung einzurichten, nennen wir Rahmenbau, oder auch Art d’ Ameublement: Wir: padeluun und Rena Tangens.

werden bessere Tage kommen. Es lebe der wilde Streik! Wir sind in einer Lage, die so ernst ist, daß wir

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Erik Satie: Der Kopf hinter Art d’Ameublement

Dieses Kunstkonzept Art d’ Ameublement war stets die Leitidee bei all unseren folgenden Projekten: Für die Veranstaltungsreihe PUBLIC DOMAIN, für die Gestaltung des MailBox-Systems BIONIC, beim Auf bau der elektronischen Bürgernetze Z-Netz, /CL und Zamir Transnational Network und bei der Softwaregestaltung für das Zerberus MailBox-Programm. All diese Projekte boten (und bieten) vielen sehr unterschiedlichen Menschen einen Rahmen für Kommunikation, Austausch und eigene Aktivität. Ein gelungener Rahmen liefert nicht fertigen Inhalt, sondern Anregung, Orientierung, Raum für Imagination und eigene Aktion, Freiheit ohne Beliebigkeit. In der Galerie Art d’Ameublement war 1985 eine Veranstaltung mit dem Chaos Computer Club für viele der erste Kontakt mit einer neuen Welt: Online im Rechner der Washington Post die Nachrichten von morgen lesen, war eine ganz neue Erfahrung. Und die Entscheidung war klar: Diese neue Welt wollen wir mitgestalten und sie zu einer lebenswerten Umgebung machen. So entstand die Idee der Veranstaltung PUBLIC DOMAIN.

an Aktionen denken müssen. Wir sind nicht so kaputt, daß wir das nicht wüßten. Wir sollten uns nicht

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PUBLIC DOMAIN Der Name der Veranstaltungsreihe ist Programm: öffentlicher Raum (offen für alle) und öffentliche Angelegenheit (wir machen etwas zu unserer Angelegenheit). Seit 1987 gibt es diese monatliche Veranstaltung, die sich im Spannungsfeld von Zukunft und Gesellschaft, Technik und Umwelt, Wissenschaft und Allgemeinwissen, Kunst und Kultur bewegt.

Logo des FoeBuD e.V.

Die Themen sind vielfältig (www.foebud.org/pd/index.html). Das Publikum, auch hier handelnde Person, gründete flugs noch im selben Jahr den FoeBuD e.V. und beschloss als erstes gemeinsames Projekt ein eigenes Kommunikationssystem: die BIONIC MailBox. Aber der Reihe nach…

FoeBuD FoeBuD heißt: Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs. Der merkwürdige Name ist so etwas wie eine Parodie der grotesken Abkürzungen (z.B. FeTAp mit GebAnz = Fernsprechtischapparat mit Gebührenanzeiger) der Deutschen Bundespost, die seinerzeit noch für die Telekommunikation zuständig war. Und die Hackern, Haecksen und anderen Netzwerkern das Leben mit dem Verbot schwer machte, Modems ohne Postzulassungszeichen (das waren die, die schneller und vor allem bezahlbar waren) an die Leitung anzuschließen.

dazu verleiten lassen, uns mit zynischen Erklärungen zufriedenzugeben. So entsteht wenigstens, wenn

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Das Pesthörnchen

Der Zorn gegen diese Kriminalisierung der freien Kommunikation führte beim FoeBuD zur Schaffung eines neuen Logos, einem Posthorn mit Totenkopf, kurz ›Pesthörnchen‹ genannt – noch heute das heimliche Logo des Chaos Computer Clubs, sozusagen die Flagge der Datenpiraten. Denn wir wollten Austausch, wir wollten kommunizieren. Wir wollten MailBoxen …

MailBoxen MailBoxen dienten in Deutschland schon lange der vernetzten Kommunikation, bevor auch nur das Wort ›Internet‹ bekannt wurde. Der in Deutschland gebräuchliche Name ›MailBox‹ ist etwas irreführend, da es in diesen öffentlichen Kommunikationssystemen eben nicht nur persönliche Postfächer, sondern auch öffentliche Foren, die so genannten ›Bretter‹, gab. Und diese Bretter waren das eigentlich Faszinierende: Sie boten die Möglichkeit, selbst zu veröffentlichen, sich auszutauschen und zum öffentlichen Diskurs. Ab etwa 1984 betrieben experimentierfreudige Menschen (z.B. Kerstin Freund in Wuppertal) MailBoxen mit Minimalausrüstung (Homecomputer, Akustikkoppler und abenteuerlichen Bastelkonstruktionen zum automatischen Telefonhörerabnehmen): Avantgardistische Kommunikationsserver. Anfangs war noch jede MailBox eine Insel für sich. Der Austausch der Brettnachrichten mit anderen Systemen lief damals auf Diskette und per ›gelber‹ Post. Der endgültige Anstoß, auch die verschiedenen MailBoxen per Telefon zu einem Verbund mit gemeinsamen BrettNachrichtenbestand und netzweitem Mailaustausch miteinander zu verbinden, war in Deutschland die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986. Zu dieser Zeit wurde vielen Menschen schlagartig klar, dass

auch auf kleiner Flamme, für die Bevölkerung das Gefühl, daß der Versuch, Widerstand zu leisten, nicht

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die Nachrichten in den offiziellen Medien nicht ihren Bedürfnissen entsprachen und wichtige Informationen aussparten.

Zerberus, Z-Netz und /CL So entstand das dezentral organisierte Zerberus-Netz (später zu Z-Netz abgekürzt). Der Name Zerberus kommt vom dreiköpfigen Höllenhund der griechischen Mythologie. Und symbolisierte damit schon vom Namen her: mehrere Köpfe, mehr Biss und mehr Unabhängigkeit als das hierarchische Fido-Netz. Z-Netz war das erste deutschsprachige MailBox-Netz, das Nicht-Computerthemen in den Vordergrund stellte (z.B. Umweltschutz, Politik, Datenschutz, Verbrauchertipps, Literatur). Über alle wichtigen Entscheidungen, die das Netz betrafen, wurde abgestimmt und auch die Netzkoordination wurde von den beteiligten MailBoxen (später von allen Netz-Teilnehmer/-innen) demokratisch gewählt im Brett/z-netz/koordination/wahlurne. Zweimal im Jahr trafen sich die MailBox-Betreiberteams auch persönlich. Hier wurden Fragen von Technik, Inhalten, Organisation, rechtliche Fragen, die eigenen Regeln, die sich das Netz gibt (die so genannte ›Netikette‹, also der Knigge fürs Netz) und auch die Visionen für die Netze aufgeworfen, diskutiert und gemeinsam weiterentwickelt. In diesen Netzen mit ihrer Selbstorganisation wurde Demokratie ständig herausgefordert, praktisch gelebt und neu erfunden. Bald entstanden diverse Overlay-Netze, die auf den Z-Netz-Strukturen auf bauten, aber andere Inhalte transportierten und eine eigene Koordination hatten: So das T-Netz (für ›teilvernetzt‹, das waren im Z-Netz nicht mehrheitsfähige Bretter, z.B. t-netz/pyrotechnik), das Solinet (Gewerkschaften und Betriebsräte), Grüne, SPD, PDS (von den entsprechenden Parteien) und das Comlink-Netz, das später /CL-Netz hieß. Das /CL-Netz ist noch klarer politisch orientiert als das Z-Netz und hatte schon früh eine Dachorganisation: Kommunikation und Neue Medien e.V., betreut von Gabriele Hooffacker und Peter Lokk aus München. Aus der /CL-Charta: »Öffentlichkeitsarbeit für soziale, ökologische und kulturelle Themen zu schaffen, ist Ziel der MailBoxen im /CL-Netz. Sie dienen der aktuellen Recherche und als Archivsystem für Texte und Informationen zu Antifaschismus, Behinderten, Bildung, Datenschutz, Energie, Frauen, Frieden, Gesundheit, Kultur, Medien, Recht, Soziales, Umwelt, Verkehr, Wirtschaft, von Pressediensten, Greenpeace und amnesty international.« Damit sind auch schon die wichtigsten Brettgruppen im /CL-Netz benannt, die dann jeweils noch in/allgemein,/aktion und/diskussion unterteilt waren. All diese Netzbiotope versammelten sich in der BIONIC-MailBox.

abreißt. Für alle, die der kapitalistischen Ausbeutung & Herrschaft unterworfen sind. Daß die Möglich-

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Die BIONIC MailBox Der FoeBuD nannte seine MailBox BIONIC, unter anderem, weil dem System ein gewisses Eigenleben zugestanden werden sollte. Hier hatte kein allmächtiger Systembetreiber das Sagen, sondern alle aktiven Teilnehmer/-innen. Keine Zensur. Alle Inhalte kommen von den Nutzer/ -innen selbst. Die BIONIC war von Anfang an ein Gemeinschaftsprojekt, das auch gemeinsam von allen Teilnehmer/-innen finanziert wurde. Dadurch war die MailBox nicht nur unabhängig von anderen Geldquellen, sondern vermittelte allen Beteiligten auch, dass ihnen ein Teil des Systems gehörte. Und damit das Gefühl, eine legitime Berechtigung zu haben, dieses System für die eigene Arbeit zu nutzen, Forderungen zu stellen, Vorschläge und Kritik zu äußern und mitzuarbeiten. Dahinter stand auch die Vorstellung, dass jeder Mensch kompetent ist, und sich oft auch so äußern kann, wenn es um Themen geht, die sie oder ihn interessieren, die sie direkt betreffen oder mit ihrem Alltag und ihren Erfahrungen direkt zu tun haben.

Rena Tangens und padeluun vor der BIONIC

Und so entdeckte nach und nach eine bunte Mischung von unterschiedlichsten Menschen die BIONIC als ›ihr‹ Kommunikationssystem: Vom Hacker zum Entwicklungshelfer, der die BIONIC aus Indonesien direkt anruft, vom Umweltzentrum, das hier eine Datenbank über Nitratwerte der Hausbrunnen der Umgebung anlegt bis zu den Hannoveraner Künstlern um Heiko Idensen, die das Zerberus-Hilfesystem kreativ zum Maschinen-Kunst-Hypertext umarbeiten. Ein Gewerkschaftsaktiver bringt das Solinet mit in die Box. Und das Zamir-Netz

keiten der Befreiung gewachsen sind. »Es gibt immer einen Ausweg.« Was man aber tun kann. In diesem

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kam mit FoeBuD-Mitglied Eric Bachman, der ab 1991, als der Krieg in Jugoslawien begann, bei den Friedensgruppen vor Ort Seminare für gewaltfreien Widerstand veranstaltete. Das Projekt, das aus seinem Engagement entstand, wurde so groß, dass es eigentlich ein eigenes Buch verdient:

Das Zamir Transnational Network ›Za Mir‹ bedeutet in den meisten Sprachen, die im ehemaligen Jugoslawien gesprochen werden ›für den Frieden‹. Das Zamir MailBox-Projekt wurde eingerichtet, um Friedens-, Menschenrechts- und Mediengruppen in den verschiedenen Landesteilen eine Möglichkeit zu geben, miteinander zu kommunizieren – und mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten. Das war deswegen so schwierig, weil die Telefonleitungen zwischen den verschiedenen Teilen Ex-Jugoslawiens unterbrochen worden waren: Von Serbien aus war es nicht möglich, ein Gespräch nach Kroatien zu führen. Auslandsleitungen funktionierten aber noch. Dieses Wissen ermöglichte den ›Hack‹, jegliche Embargoverfügungen zu umgehen. Die Nachrichten von der Zamir-BG in Belgrad wurden über die BIONIC in Bielefeld nach Zagreb zur Zamir-ZG geschickt und vice versa. Es gab Zamir -Systeme in Ljubljana in Slowenien, Zagreb in Kroatien, Belgrad in Serbien, Tuzla in Bosnien, Pristina im Kosovo und sogar im mehrere Jahre lang von den Serben belagerten Sarajevo in Bosnien. Für viele Menschen dort war Zamir der einzige Draht nach außen. Die MailBox in Sarajevo hatte drei Telefonzugänge und versorgte damit 5.000 (!) Teilnehmer/-innen. Mehr Telefonleitungen waren schlicht nicht verfügbar: Eine neue Telefonleitung zu bekommen, kostete in Sarajevo zu dieser Zeit nicht 100 DM wie in Deutschland, sondern 1.500 DM und dauerte etwa drei Jahre. Der Ansturm auf die MailBox war nur zu bewältigen, weil die Zerberus-Software stets bewusst ressourcenschonend programmiert worden war und die Teilnehmer/-innen nicht direkt online im System arbeiteten, sondern ihre Nachrichten als eine komprimierte Datei mit einem kurzen Anruf bei der MailBox abholten und dann ihre Post in Ruhe offline auf ihrem Rechner mit einem Pointprogramm bearbeiteten. Damit war der Telefonzugang gleich wieder frei für den nächsten Anruf. Das Zamir Transnational Network traf auf eine Situation, in der Vorurteile, Hass und Angst zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Hintergründe sich fast widerstandslos ausgebreitet hatten. In solchen Zeiten ist die Möglichkeit zur Kommunikation, mit der

permanenten Notstand & Ausnahmezustand . (Das ist blutige Realität, aber es ist gleichzeitig etwas

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Menschen sich erreichen können, neue Bekanntschaften finden oder alte Freundschaften wieder aufleben lassen können, von äußerster Wichtigkeit. Zamir diente deshalb nicht nur dem Austausch von Nachrichten innerhalb der Friedensgruppen, sondern auch dazu, die Menschen in den Gebieten der Kriegsparteien wieder miteinander kommunizieren zu lassen. Es ermöglichte so auch Flüchtlingen, sich gegenseitig wiederzufinden. Das Open Society Institute und die Soros Foundation fanden das Projekt förderungswürdig und übernahmen die immensen Telefonkosten. Zamir wurde weltweit Thema in den Medien (www.foebud. org/archiv/Zamir). Das Zamir-Netz war zwischen 1992 und 1996 das wichtigste unabhängige Kommunikationsmedium in der Region. Es gab vielen Menschen Hoffnung und eine Möglichkeit, sich mitzuteilen. Nicht nur Freunden, sondern auch der Öffentlichkeit. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel war das …

Zagreb Diary Wam Kat, aus der Friedensbewegung in Holland, war nach Kroatien gereist, weil er es nicht mehr ertragen konnte, den Krieg in Jugoslawien im Fernsehen zu sehen. Er landete in Zagreb und wurde Systemadministrator der Zamir-ZG. Ursprünglich wollte er nur ein paar Monate bleiben – es wurden mehrere Jahre. So begann er Anfang 1992 Tagebuch zu schreiben, damit seine Kinder, die er in Holland zurückgelassen hatte, wussten, was ihr Vater macht, während er fort ist. Und er schrieb öffentlich, weil auch der Rest der Welt wissen sollte, was gerade in Ex-Jugoslawien passiert.

Unwirkliches.) Wenn du aber in Widerspruch gerätst, tue nichts. (Zitat, Quelle vergessen) Denn: Tun darf

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Die zwei höchsten Bürohochhäuser in Sarajevo – ausgebrannt, aber standhaft

In seinem Zagreb Diary gibt er ausführliche Schilderungen der politischen Situation, der Kriegshandlungen, wie sie ihm von Leuten direkt berichtet wurden und kommentiert auch die Berichterstattung der lokalen Medien sowie CNN und SKY, die in Zagreb per Satellit empfangen werden können. Er beschreibt auch, was er den Tag über getan hat, seine Arbeit, welche Menschen er getroffen hat, welche Musik er gehört hat. Gerade die Schilderung der alltäglichen Begebenheiten, die sich beim Straßenbahnfahren, Einkaufen oder beim Besuch bei Freunden zugetragen haben, gaben Außenstehenden ein facettenreiches Bild vom (nicht so ganz) normalen Leben in Kroatien und Bosnien. Er berichtet von der Verwirrung durch neue Straßennamen (nach politisch motivierter Umbenennung), von bettelnden Kriegsinvaliden in der Straßenbahn und der Beschämung der Fahrgäste, die nichts geben können, weil sie selbst nichts haben, von Menschen, die sich zum ersten Mal in einem Wahlkampf engagieren und mit selbst gebastelten Plakaten und Klebeband oder einer Tasse voll Leim plakatieren gehen. Von der Bäckerei in Sarajevo, die wegen dauernder Stromausfälle zum ersten Mal die Produktion zeitweilig einstellen musste, was sie sehr betrübte, da die Bäckerei auch ein Symbol für den Durchhaltewillen

man nichts. Man kann auch nichts tun. (Zitat, Quelle unterdrückt) Wenn es aber brennt. Wenn auch nur

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der belagerten Stadt war. Von den Parks in Sarajevo, die nach und nach zu Friedhöfen umfunktioniert wurden und von allen Fleckchen freier Erde innerhalb der Stadt, wo Gemüse ausgesät wurde, um etwas zu Essen zu produzieren. Der Schriftsteller Peter Glaser, auch ein Nutzer der BIONIC MailBox, war vom Zagreb Diary so beeindruckt, dass er 1993 ein neues Projekt ins Leben rief …

Das Europäische Tagebuch Peter Glaser, Schriftsteller gebürtig aus Graz (›dort, wo die guten Schriftsteller für den Export hergestellt werden‹), zu jener Zeit in Hamburg lebend und Nutzer der BIONIC-MailBox, war vom Zagreb Diary fasziniert. Als er 1993 vom Literaturhaus in Wien für die Veranstaltung Worte brauchen keine Seiten um einen Beitrag gebeten wurde, schlug er – anstelle des gewünschten 2-Stunden-Chats – ein Projekt mit Langzeitwirkung vor: Ein europäisches Tagebuch, öffentlich im Brett/ t-netz/tagebuch. Schon bald gibt es hier neben den Texten des Zagreb Diary eine Vielzahl von Beiträgen aus vielen verschiedenen Orten, von Hamburg, Leipzig, Essen, Martinroda, Bielefeld bis Wien. Die Tagebuchtexte sind Momentaufnahmen, die schon kurze Zeit später – im Rückblick – so nicht mehr geschrieben werden könnten. Die entstehenden Geschichten sind zum Teil Miniaturen mit literarischen Qualitäten, die für sich stehen und verstanden werden können. Aber sie sind auch Teil eines kollektiven Gedächtnisses. Geschichte in Geschichten. t-netz/tagebuch ist damit Vorläufer der heutigen Blogs im www. Die Basis war auch damals eine Software, die Freiraum schuf …

Die Zerberus-Software Durch die Entscheidung für das Zerberus-Netz – wegen seiner politischen Inhalte, wegen der dezentralen und demokratischen Struktur und wegen der klaren Ablehnung von Zensur – hatte sich die Verwendung der Zerberus-Software für die BIONIC MailBox quasi automatisch ergeben. Schon bald ergaben sich weitere Anknüpfungspunkte: Vom FoeBuD wurde ein Zerberus-Userhandbuch geschrieben. Und die Zerberus-Programmierer Wolfgang Mexner und Hartmut Schröder waren offen für Kritik und Anregungen zur Software.

die winzigste Chance besteht. (Wenn nun diese Moderne zu Ende ist, dann umso besser. Das nur neben-

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Das Zerberus-Logo

Die erste Anregung, die verwirklicht wurde: Systembetreiber konnten nicht mehr auf dem Konsolenbildschirm mitlesen, was Teilnehmer gerade schreiben oder lesen. Und die persönlichen Postfächer wurden jetzt mit dem Userpasswort verschlüsselt abgelegt, und zwar als Standard für alle. Während es in Fido-Netz-MailBoxen noch zur Policy gehörte, dass die Systembetreiber alles mitlesen konnten und sogar persönliche Nachrichten nach Gutdünken zensierten, wurde so bei Zerberus ein Schritt unternommen, um das Machtgefälle zwischen Techniker/-innen und Nicht-Techniker/-innen bzw. Systembetreiber/ -innen und Teilnehmer/-innen etwas kleiner zu machen. Das Mitlesen von persönlichen Nachrichten wurde damals als Kavaliersdelikt angesehen, da es technisch so einfach war, solange sie im Klartext vorlagen. Bezeichnenderweise wurde die Diskussion darüber, ob das Lesen der Mails anderer Leute einen Bruch des Fernmeldegeheimnisses (Grundgesetz Artikel 10) darstellt, erst geführt, als durch die Technik vollendete Tatsachen geschaffen worden waren: Nach Installation des Zerberus-Updates funktioniere das Mitlesen nicht mehr, beschwerten sich einige Systembetreiber … Genauso sollte es sein. Die Gestaltung der Software hat Einfluss auf das Netz – sie bestimmt maßgeblich die Netzstrukturen und auch die Art und Weise, wie darin kommuniziert wird. Zerberus besaß von Anfang an eine Reihe charakteristischer Merkmale: Zerberus setzte auf ›low tech‹ und ›low cost‹ und hatte seinen Schwerpunkt auf Texttransfer. Es war damit ressourcenschonend sowohl in der Hardware-Infrastruktur als auch in den Telefonkosten, lief (und läuft noch!) äußerst stabil auch unter schwersten Bedingungen, erlaubte nicht-hierarchische, chaotische Netzstrukturen, machte damit Zensur schwer bis unmöglich und hatte bereits ein Bewusstsein für Datensicherheit und Datenschutz. Die Bürgernetze waren die Avantgarde; Firmen folgten ins Netz –

bei.) Wenn es aber brennt (wo die Gesetze der Produktion & des Konflikts herrschen): »Ruhe bewahren«

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und nutzten Zerberus. Von MAN über Nedlloyd Road Cargo bis Siemens. Und sogar bei der Telekom wurde mit dem von Zerberus definierten Datenaustauschformat ZCONNECT programmiert. Das Zerberus-Team wuchs auf sechs Personen an und wurde 1992 eine GmbH – aus Überzeugung ohne all die einige Jahre später für Internet-Firmen üblichen Accessoires: Lügen, Aktien, Drogen, Venture-Kapitalisten – und begann neben der Zerberus-Server-Software die Programmierung eines neuen Mail- und Newsclients, Charon. (Charon ist in der griechischen Mythologie der Fährmann, der die Seelen über den Styx in die Unterwelt, also auch zum Höllenhund Zerberus, geleitet.) Charon sollte auch ungeübten Nutzer/-innen eine kompetente Nutzung des Netzes ermöglichen. Einige Zeit später begann AOL Gratis-CDs mit ihrer Zugangssoftware in jeden Brief kasten zu werfen, damit war der Markt für Mail&News-Software erst einmal ausgetrocknet und den MailBoxen nach und nach die Existenzgrundlage genommen; das Netz als sozialer Raum zur Neuentdeckung direkter Demokratie war AOLs Sache nicht, aber man konnte es sich leisten, jahrelang rote Zahlen zu schreiben. Zerberus wollte das nicht und trennte sich vom Zusatz ›GmbH‹ und – auch dies eher untypisch – mit einem Restguthaben auf dem Konto und in Freundschaft aller Beteiligten.

Wiwiwi nang nang nang – ein interbabylonisches Kommunikationsmodell FoeBuD bekam wegen mangelnder Hacker-/Weltbeherrschungsallüren schon bald den Beinamen »der Club der freundlichen Genies«. 1993 erreichte Art d’Ameublement eine Anfrage vom Künstlerhaus Graz, das uns bat, unsere Arbeit in Kunst und Netzen zur Abwechslung in ein sichtbares Werk zu gießen, das ›ausstellbar‹ ist. Und so bauten wir – mit Hilfe vieler freundlicher Genies – die wiwiwis: eine Raum/KlangInstallation mit einer Satelliten-Graugans-Peer-Group zur Illustration menschlicher und netztechnischer Kommunikationsstrukturen unabhängig von der Landessprache. Jedes wiwiwi hat einen Korpus mit Schwanenhals und eigens entwickelter Elektronik, Flügel mit Solarzellen (unabhängige Stromversorgung für jedes wiwiwi), Watschelfüße und integrierte Lautsprecher. Sie stehen in einer lockeren Gruppe beisammen. Nach Zufallsprinzip sagt irgendeines der Teile »wiwiwi«, worauf alle anderen Elemente mit »nangnangnang« antworten.

lautet die Grundregel jedes Katastrophenplans. & auch unsere. Vergiß das nicht. Ruhe bewahren – Wi-

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Ein wiwiwi nang nang nang

Wiwiwi nang nang nang ist kein Smalltalk – es ist die Basis von Austausch und Verständigung. Ein Gespräch kann eine Möglichkeit sein, sich der eigenen Existenz und der anteilnehmenden Anwesenheit der anderen zu vergewissern. Das Gesprächsthema ist dabei keineswegs gleichgültig, aber es ist nicht unbedingt die wichtigste Ebene der Kommunikation. Konrad Lorenz’ Beobachtungen zur Prägung von Graugänsen (wunderschön geschildert in Das Gänsekind Martina) und Friedemann Schulz von Thuns vier Kommunikationsebenen (Sachinformation, Beziehung, Appell und Selbstoffenbarung) inspirierten uns, unsere eigenen Erfahrungen mit der Kommunikation in den Netzen in dieser Installation umzusetzen. Die wiwiwis begeisterten nicht nur das Kunstpublikum, Kritiker und Presse sondern auch das Personal von zwei Fluglinien so, dass sie uns mit acht Teilen ›Handgepäck‹ (darunter sechs großen grauen Boxen voll mit Elektronik, die dann doch im Gepäckraum verstaut wurden) ohne Aufpreis reisen ließen. Weitere Auftritte hatten die wiwiwis beim European Media Art Festival in Osnabrück, bei Earth Wire in England und auf der CeBIT. Fast wären sie auch von einem großen Elektronikkonzern als Brunnenplastik angekauft worden. Doch kurz vorher platzte dessen Internet-Blase. »Publikum – noch stundenlang/wiwiwi und nangnangnang.« (frei nach Joachim Ringelnatz)

PGP Die Verschlüsselung der privaten Postfächer in der Zerberus MailBoxSoftware war ein erster Schritt, die Netz-Teilnehmer/-innen vor neu-

derstand organisieren. Lautet die Grundregel. Es wird hart. Wir sind in der Scheiße tief drin. Das ist eine

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gierigen Menschen und kontrollwütigen Institutionen (Regierungen, Firmen, Polizei, Geheimdienste) zu schützen. Wenn eine Nachricht bereits einmal als Klartext über eine Telefonleitung gegangen ist (von TeilnehmerIn zur MailBox), dann kann sie nicht mehr als vertraulich angesehen werden. Wirkliche Sicherheit bietet nur eine End-zu-EndVerschlüsselung von SenderIn zu EmpfängerIn. Deshalb wurde in den Bürgernetzen Z-Netz, /CL etc. die Nutzung des Public Key Verschlüsselungsprogramms Pretty Good Privacy, kurz PGP, gefördert. Der FoeBuD gab 1992 das erste deutschsprachige Handbuch zu PGP heraus, das über die Jahre vier aktualisierte und erweiterte Auflagen erreichte. Das Ziel war, durch eine verständliche Anleitung möglichst vielen Menschen nahezubringen, einen ›Briefumschlag für ihre persönliche elektronische Post‹ zu verwenden. Phil Zimmermann, der Programmierer von PGP, freute sich und berichtete 2001 am Rande eines Hackerkongresses, dass die PGP-Community in Deutschland die zweitgrößte weltweit sei. Heutzutage wird oft argumentiert, dass doch sowieso niemand diese Mengen an Mails mitlesen könne. Muss auch kein Mensch tun – Maschinen erledigen dies völlig automatisch, fahnden z.B. nach bestimmten Absendern, analysieren, wer bei welcher Gelegenheit an wen schreibt, oder durchsuchen den Mailtext nach Schlüsselworten (berühmte Schlüsselworte: ›weißes Haus‹, ›Bombe‹, ›übermorgen‹). Wer glaubt, dass das bei großen Datenmengen nicht geht, schaue sich die Internet-Suchmaschine Google noch einmal an und mache sich klar: Aus Terabytes (Schätzungen ändern sich täglich) an Daten, die auf Milliarden von verschiedenen Rechnern im World Wide Web verteilt liegen, werden hier auf eine Suchanfrage in Bruchteilen von Sekunden relevante Treffer gefunden. Und weil der Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft so glatt mit der Digitalisierung und großen Freiheitsrhetorik einhergeht, wird ein neues Projekt fällig: Seit dem Jahr 2000 organisiert der FoeBuD …

Die Big Brother Awards Die Big Brother Awards, »die 7 Oscars für Überwachung« (Le Monde), sind eine Ehrung, die bei den damit Ausgezeichneten nicht eben beliebt ist. Die Big Brother Awards brandmarken Firmen, Personen, Institutionen, die jeweils im vergangenen Jahr besonders böse aufgefallen sind durch Verletzung von Datenschutz, informationeller Selbstbestimmung und Privatsphäre der Bürger/-innen, durch Installation von Überwachungsstrukturen und uferloses Datensammeln.

furchtbare Ballerei & Rauch & Material, das brennt. Es ist immer noch nicht Schluß mit diesen Schwei-

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Der Name ist George Orwells negativer Utopie 1984 entnommen. Obwohl uns Schöne Neue Welt von Aldous Huxley und Der Prozess von Franz Kaf ka die treffenderen literarischen Metaphern zu sein scheinen. Die BBA-Preisskulptur, die von Peter Sommer entworfen wurde, zeigt daher auch nicht zufällig eine Passage aus Huxleys Schöne Neue Welt. Aber erstens wollen wir ja keinen Literaturpreis vergeben, zweitens weckt ›Big Brother‹ auch bei Unbelesenen zumindest die Assoziation von Überwachung, Unfreiheit und Kontrolle, und drittens sind die Big Brother Awards ein internationales Projekt: Sie werden zur Zeit in 16 Ländern vergeben: Australien, Dänemark, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Niederlande, Italien, Japan, Finnland, Österreich, Schweiz, Spanien, Ukraine, Ungarn, USA/Kanada.

Statue und Logo der Big Brother Awards

Die Big Brother Award-Jury besteht aus Persönlichkeiten von verschiedenen Bürgerrechts-, Datenschutz- und Netzorganisationen. Die Preise werden in unterschiedlichen Kategorien vergeben: Politik, Behörden und Verwaltung, Kommunikation, Verbraucherschutz, Arbeitswelt, ein Technik/Szenepreis und einer für das ›Lebenswerk‹. Zu den Ausgezeichneten gehörten u.a. die Payback-Rabattkarte (für das zentrale Sammeln umfangreicher Konsumdaten), der damalige Innenminister Schily (2001 für die Anti-Terrorgesetze, den sogenannten ›Otto-Katalog‹), die Bayer AG (für den Drogentest per Urinprobe bei ihren Auszubildenden), die Deutsche Postshop GmbH (für Arbeitsverträge für die Postagenturnehmer mit Auf hebung der ärztlichen Schweigepflicht), die Informa (für das völlig intransparente Scoringverfahren, das die Kreditwürdigkeit jedes Bürgers in einer Zahl angibt), das Ausländerzentralregister (für institutionalisierte Diskriminierung),

nereien. Wenn es aber brennt. Wenn du merkst, daß kein Entkommen mehr möglich ist. Dann mach auf

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das Bundeskriminalamt (für seine Präventivdatenbanken AUMO, REMO und LIMO), Microsoft (u.a. für Digital Rights Management), TollCollect (für Kfz-Kennzeichenerfassung aller Fahrzeuge) und die Metro AG für ihre Future Store-Initiative zum Test von RFID-Schnüffelchips. Die Big Brother Awards werden heute in Deutschland schon als feste Institution mit Watchdog-Funktion wahrgenommen: Sowohl die Zahl der Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern als auch die Menge und Qualität der Einreichungen/Vorschläge für Nominierungen nehmen beständig zu. Gelegentlich wird Firmen oder Politiker/-innen bereits in der Presse mit einem möglichen Big Brother Award gedroht, wenn sie Projekte ankündigen, die Privatsphäre und Bürgerrechte potenziell gefährden. So geschehen zum Beispiel der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in einer ap-Pressemeldung zur geplanten Patientenkarte. Politik und Verbraucherschutz reagieren auf die von den Big Brother Awards aufgeworfenen Themen, wenn auch zum Teil erst Jahre später. Zum Beispiel in Sachen Kundenkarten: Der Bundesverband der Verbraucherschutzzentralen (vzbv) hat 2003 eine Untersuchung zum Datenschutz bei Kundenkarten durchführen lassen und die Justizministerin Zypries hat sich kritisch zur Datensammelwut der Kundenkarten und der Sorglosigkeit der Bürger/-innen geäußert. Das führt dann direkt zur …

Privacy Card Die Payback Rabattkarte war 2000 der Hauptgewinner bei den Big Brother Awards. Weil Datenschutz so ein trockenes Thema scheint, weil Warnungen (»Kundenkarten gefährden Ihre Privatsphäre«) und Appelle auf Verzicht irgendwie nicht sexy sind und weil wir fanden, dass Widerstand wieder Spaß machen muss – deshalb wurde die Privacy Card erfunden. Der FoeBuD gab eine eigene Plastik-Karte heraus, mit eigenem Design, aber mit einer Payback-Nummer. Endlich eine Karte, mit der Punkte gesammelt werden können, also (anders als bei Verweigerung) der angebotene Rabatt (der ja vorab auf den Preis aufgeschlagen wurde) nicht dem Konzern geschenkt wird, aber dennoch der Einkaufszettel nicht zur Sammlung von personenbezogenen Profildaten verwendet werden kann – jedenfalls nicht sinnvoll. Denn mit der Privacy Card gingen erst 1.000, dann 2.000 Menschen auf dieselbe Payback-Kartennummer einkaufen, sammelten Rabattpunkte und spendeten sie dem FoeBuD für die Organisation der Big Brother Awards. Und sie konnten auf die Frage an der Kasse »Haben Sie eine Karte?« stets mit einem strahlenden »Ja!« antworten. Als Payback den

dich aufmerksam. (»Scheiße« brüllen kann jeder am lautesten.) Dann laß dich nicht einwickeln. Versuche,

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freundlichen ›Hack‹ ihres Systems nach einem halben Jahr endlich bemerkt hatten bzw. ihn durch die zahlreichen Presseberichte zur Kenntnis nehmen mussten, kündigten sie die eine zugrunde liegende Payback-Karte – und dokumentierten damit, dass es ihnen eben nicht um Kundenbindung, Spaß haben und Punkte sammeln geht, sondern ums Datensammeln.

Die Privacy-Card des FoeBuD

Eine andere Karte, obwohl gar nicht von uns, bescherte dem FoeBuD gut zwei Jahre später noch mehr Aufmerksamkeit in In- und Ausland. Es handelte sich um die Payback-Karte des Extra Future Stores in Rheinberg bei Duisburg. Der FoeBuD entdeckte nämlich, dass eben diese Future Store-Kundenkarte mit einem RFID-Chip verwanzt war – ohne jeglichen Hinweis für die Kund/-innen.

Die Metro AG und die RFID-Schnüffelchips RFID (Radio Frequency Identification) sind winzige Chips mit Antenne, die eine eindeutigen Seriennummer enthalten und ohne Sichtkontakt aus der Entfernung (das heißt: auch unbemerkt) ausgelesen werden können. RFID-Chips sollen in einigen Jahren die Barcodes auf den Waren ersetzen. Und sie bringen eine neue Dimension der Überwachung und Manipulation. Mit einer mit RFID-Chip versehenen Kundenkarte wird nicht mehr nur die Liste der Sachen, die man kauft, gespeichert, sondern eine solche Karte kann verraten, wo ich mich gerade auf halte, wie lange und mit wem zusammen. So kann aus der Information, vor welchem Regal, in welcher Abteilung ich länger war, ein Interessenprofil generiert werden, auch ohne dass ich etwas gekauft

möglichst bald die Ruhe wiederzugewinnen. & vor allem: Ab diesem Moment sagst du keinen Ton mehr!

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habe. Und diese Karte kann auch in der Handtasche gelesen werden, ohne dass die Besitzerin es bemerkt. Science Fiction? Nein, bereits gestern in Metros Future Store in Rheinberg. Der fünftgrößte Handelskonzern weltweit (in Deutschland gehören nicht nur der Metro Großhandel dazu, sondern auch Kauf hof, real, Extra, Praktiker, Saturn und Mediamarkt) bekam im Herbst 2003 den Big Brother Award für seine Future Store-Initiative, mit der der Einsatz der RFID-Technologie propagiert wird. Und Metro testete RFID-Chips nicht nur auf einigen Waren im Laden, sondern auch heimlich in ihren Kundenkarten mit ihren Extra-Markt-Kunden als Versuchskaninchen. Bis der FoeBuD gemeinsam mit Katherine Albrecht von der amerikanischen Verbraucherorganisation CASPIAN im Februar 2004 die Schnüffelchips in den Karten entdeckte und den Fall veröffentlichte. Metro zog zurück und musste 10.000 Karten, die seit fast einem Jahr an Kunden ausgegeben worden waren, in normale Plastikkarten ohne Chip umtauschen.

Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts Allerorts werden aus Bürgern ›Kunden‹ gemacht, und ihnen wird suggeriert, Kunden würden besser behandelt. Ein fataler Irrtum. Kunden genießen ihre Rechte nur solange sie etwas kaufen, Bürger haben Grundrechte, die sie schützen – vor staatlichen und anderen Übergriffen. Datensammler an Schnäppchenjäger: Tausche Bürgerrechte gegen ein Linsengericht?

Demonstration vor dem Future Store in Rheinberg

Denn das wäre nun wirklich nicht das erste Mal, daß da ein Spitzel unter euch ist. Auch wenn du ein

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Wir glauben nicht an die Freiheit, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen – und widersprechen damit den Marktfundamentalisten, die meinen, dass die Vertragsfreiheit über den Menschenrechten steht. (»Mit dem Grundgesetz dürfen Sie nicht argumentieren – das haben früher immer die Kommunisten getan.«) Die RFID-Lobby träumt von einer Welt, in der »die Objekte kommunizieren wollen«. Die Waschmaschine mit den Socken, die Eingangstür im Supermarkt mit meiner Kundenkarte, der Seifenspender auf der Toilette mit dem Chip in der Arbeitskleidung (»Did you wash your hands?«), der Kühlschrank schickt mir eine SMS, wenn die Kühlschranktür offen steht (ist einfach viel kommunikativer, als eine selbstschließende Kühlschranktür zu konstruieren) etc. pp … Für jede vorhandene technische Applikation lässt sich nach einigem kreativen Nachdenken auch ein Problem (er)finden. Und unser Innenminister träumt von biometrischen Daten aller Bürger/-innen in ihren Pässen per RFID-Chips gespeichert und auch aus Entfernung auslesbar. Toll, bei der nächsten Demonstration von Globalisierungskritikern kann die komplette Teilnehmerliste samt Namen und Adressen ganz ohne Einkesseln mit einem RFID-Scanner vom Straßenrand aus ermittelt werden. Das ist doch sicher auch im Sinne der Demonstranten. Die RFID-Lobby träumt von einer Welt, in der jedes Objekt eine weltweit eindeutige Seriennummer trägt. Wo analog zum Domain Name Service (DNS) des Internet ein ONS, ein zentraler Object Name Service, eingerichtet wird, also eine gigantische Datenbank für RFIDNummern. Vor Jahren haben wir mit Zerberus und den Bürgernetzen konkret für eine Utopie gearbeitet, jetzt kämpfen wir für die Grundlagen, ohne die eine Utopie nicht einmal mehr gedacht werden kann. Mittlerweile gelten wir als ›watchdog organisation‹ für Bürgerrechte in der digitalen Gesellschaft. Ich habe letzte Woche einmal im Lexikon nachgeschaut, wie ›watchdog‹ eigentlich ins Deutsche übersetzt werden kann. In LEOs steht: Zerberus.

gutes Gefühl zu allen hast. Auch wenn eine Krise nicht zwangsläufig, aber jederzeit möglich ist. Ich warne.

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Kontakt: Art d’Ameublement Rena Tangens und padeluun Marktstr. 18 D–33602 Bielefeld Mail : [email protected], [email protected] Web : www.foebud.org, www.bigbrotherawards.de, www.tangens.de Teile des vorliegenden Textes erschienen in: Pias, Claus (Hg.) (2004): Zukünfte des Computers. Berlin: Diaphanes.

Es warnen viele. Wir sind nicht verrückt. Achte auf andere & zeige dich verantwortlich, wenn sie mit

Textzwitter

Theorie des Nichtidentischen

der Situation noch schlechter klarkommen als du. Redet darüber, daß es sinnvoll ist, ab sofort konsequent

die Schnauze zu halten. […] Es geht um Löcher im Text, um sogenannte Leerstellen. Um die Frage nach

Textzwitter, Transvestitismus und Terrorismus. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa am Beispiel von Thomas Meineckes Roman Tomboy Thomas Ernst

»Die Macht der Benennung«, stellt Pierre Bourdieu fest, »ist von erheblicher Tragweite.« Und er ergänzt: »Worte können […] Verheerungen anstellen« (Bourdieu 1992: 165f.). Tatsächlich erheben sich heute aus der Summe flottierender Zeichen jene Worttürme der Macht, die ihre kleinen Erzählungen über ›wissenschaftliche Erkenntnis‹, ›Gerechtigkeit des Marktes‹, ›die selbstbewusste Nation‹ und ›Zweigeschlechtlichkeit‹ zu hegemonialen Diskursen verfestigen. Benennungen, Worte und Sprache wurden vorrangig im Medium der Literatur verhandelt. Literatur sei heute jedoch, so Jochen Hörisch, angesichts der neuen und neueren Medien wie Fernsehen, Computer und Internet als Medium »minoritär« geworden: »Sie ist ein Anachronismus, ein langsames Medium, ein latenter Luxus, ein Relikt, ein schöner Überfluß. Doch eben auch ein Überfluß von bemerkenswerten Erkenntnis- und Einsichtsmöglichkeiten« (Hörisch 1995: 38). Wie weit reicht die Kraft der Literatur heute noch? Und in welcher Weise arbeitet sie sich an subversiven Konzepten ab? Wie lassen sich die vorherrschenden Worttürme ins Wanken bringen? Welche Sprachspiele eignen sich dazu, den kleinen Erzählungen und Geschichten ein alternatives Ende anzudichten? Der vorliegende Beitrag will untersuchen, auf welchen Feldern und in welcher Weise die deutschsprachige Gegenwartsprosa heute noch ›subversive Wirkungen‹ zu entwickeln versucht. Erstens wird auf einer allgemeinen Ebene beschrieben, auf welchen Feldern literarische Texte

der Struktur & die Rolle, die darin Schweigepausen spielen. (Wenn das nicht reine Verspieltheit ist.)

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in der Gegenwart überhaupt noch subversive Wirkungen entfalten können. Zweitens wird – als ein Beispiel für einen subversiven Text auf der ästhetisch-literarischen Ebene – Thomas Meineckes Roman Tomboy (1998) einer exemplarischen Analyse unterzogen.1 In einem Fazit wird drittens dargestellt, warum es sich auf dem literarischen Feld besser von ›Aporien der Subversion‹ als von einer ›Subversion der Subversion‹ sprechen lässt.

Literarische Felder der Subversion Der Begriff der Subversion hat sich als geeignet erwiesen, um politische Kunst in der Gegenwart zu analysieren, hat jedoch vielfältige und widersprüchliche Bedeutungen angenommen. Dieser Beitrag geht davon aus, dass sich historisch vier Bedeutungsfelder des Subversionsbegriffs entwickelt und nebeneinander gestellt haben. Dabei handelt es sich um eine ›politisch-revolutionäre‹, eine ›künstlerisch-avantgardistische‹, eine ›minoritäre bzw. an einem Untergrund orientierte‹ sowie eine ›dekonstruktivistische Form‹ der Subversion.2 Diese unterschiedlichen Konzepte werden, wie sich zeigen lässt, in Texten der deutschsprachigen Gegenwartsprosa aufgerufen, mit- und gegeneinander verhandelt und auf diese Weise archiviert. Das minoritäre Medium Literatur eignet sich jedoch nicht nur zur Archivierung subversiver Diskurse, sondern inszeniert sich noch immer selbst als subversives Medium. Allerdings hat sich der Wirkungsbereich der Literatur, der sich einst auf das politisch-institutionelle, das medial-öffentliche und das literarisch-ästhetische Feld erstreckte, stark eingeengt. Literarische Texte sind jahrhundertelang durch Bücherverbrennungen und – seit Verbreitung des Buchdrucks – institutionalisierte Zensurapparate vernichtet und verboten worden, im deutschsprachigen Raum wurden während des Nationalsozialismus etwas mehr als 10.000 Titel und in der DDR sogar insgesamt 30.000 Bücher verboten.3 In der demokratisch und kapitalistisch verfassten BRD weist die Liste der In1 | Meineckes Roman Tomboy wird im Folgenden mit der Sigle TB abgekürzt. 2 | Vgl. die Ausführungen über die historisch gewachsenen Bedeutungsfelder des Begriffs der Subversion in der Einführung in diesen Band. 3 | Aus diesem Grunde liegen zahlreiche literaturwissenschaftliche Untersuchungen vor, die die Subversivität von Literatur in der DDR durch den Akt der Zensur zu bestimmen versuchen. Vgl. u.a. Giovanopoulus 2000; Wüst 1989.

Schweigen oder Stillstand. Alltägliche Langeweile & tote Zeit. Oder Verweigerung. Es kommt eine furcht-

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dizierungsstelle für jugendgefährdende Schriften aktuell allerdings nur »334 Bücher, Broschüren und Comics« (Löffler 2003: 17) aus. Über eine mögliche ›subversive Kraft‹ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur können die politischen Institutionen der BRD nur müde lächeln. Gegen die marktwirtschaftliche Verfasstheit des Literaturmarktes und im Kampf um die mediale Öffentlichkeit hatte sich jedoch in den 1960er Jahren in der BRD ein alternatives Druck- und Vertriebsnetz ausgebildet. Abgesehen davon, dass viele Ziele dieser Untergrundliteratur nicht erreicht werden konnten, lassen sich im Nachhinein auch die binären Differenzierungen von ›Untergrundliteratur‹ vs. ›Literaturbetrieb‹ und ›Unabhängigkeit‹ vs. ›Mainstream‹ nicht mehr in dieser dichotomischen Form aufrecht erhalten. Zudem haben sich inzwischen andere Medien, wie vor allem das Internet, entwickelt, mit deren Hilfe eine alternative Öffentlichkeit viel einfacher zu etablieren ist 4 – eine solche mit Hilfe des Mediums Literatur errichten zu wollen, erscheint heute als eine obsolete politische Strategie. Es bleibt somit nur das literarisch-ästhetische Feld als Spezialdiskurs, auf dem Foucault ohnehin die eigentliche Wirkung politischer Literatur verortet,5 und das heute keine breite gesellschaftliche Wir4 | Vgl. die Beiträge von Bernhard/Schäfer und Tangens in diesem Band. Allerdings gibt es auch heute noch unabhängige kleine (Untergrund-)Verlage und Editionen wie Alibri (Aschaffenburg), Blumenbar (München), Krash (Köln), KOOKbooks (Berlin/Idstein), Matthes & Seitz (Berlin), Nautilus (Hamburg), Roadhouse (Hannover), Schwarze Risse/Assoziation A (Berlin/Hamburg), Tropen (Berlin), Trotzdem (Grafenau), Ventil (Mainz), Verbrecher (Berlin), Voland & Quist (Dresden) oder Zu Klampen (Springe), die sich allerdings mit vielfältigen Problemen konfrontiert sehen und zugleich den eigenen politischen Anspruch relativieren. Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag verweist darauf, dass es heute nur noch »allerhöchstens dreißig« linke oder kleine Buchhandlungen gebe, während es zu den Hochzeiten der Studierendenbewegung, so ›Veteran‹ Jörg Schröder vom März Verlag, »noch fünf hundert rote Buchhandlungen plus die Läden mit ›Bücherstuben-Charakter‹, die von ›guten Buchhändlern‹ geführt wurden« (Sundermeier und Schröder, zit.n. Plesch/Ullmaier 2004: 36), gegeben habe. Außerdem sei heute das Label ›Untergrundliteratur‹ von den großen Verlagen absorbiert worden, wie Lutz Schulenburg von der Edition Nautilus feststellt: »Was ist denn Underground? Das schreiben sich ja auch Kiepenheuer & Witsch auf die Fahne« (Schulenburg, zit.n. Plesch/Ullmaier 2004: 37). 5 | Foucault verabschiedet schon 1972 den Typus des ›universellen Intellektuellen‹ und plädiert für einen ›spezifischen Intellektuellen‹: »Heute kommt es dem Intellektuellen […] nicht mehr zu, sich an die Spitze oder an die Seite

bare Ruhe. Ein herrlicher, schrecklicher Frieden, das wahre Genießen der vergehenden Zeit. Widerstand

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kung mehr erreicht. Während sich die Literatur zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch als Leitmedium inszenierte, Bücher in autoritären und faschistischen Staaten massenhaft verboten wurden und mit der Figur des Intellektuellen eine literarische Ikone politischen Handelns präsent war, wurden seit den 1960er Jahren der ›Tod der Literatur‹ (vgl. Michel 1968; Enzensberger 1968), das ›Grabmal des Intellektuellen‹ (vgl. Lyotard 1985) und das ›Ende der GutenbergGalaxis‹ (vgl. McLuhan 1968; Bolz 1993) verkündet. Seither haben die »bildungsbürgerliche ›Mitte‹ und mit ihr die traditionelle Bildungselite […] schrittweise ihre kulturelle Hegemonie« verloren, so dass deren »kulturellen Werte und ästhetischen Standards […] immer weniger als universalisierbar« (Bogdal 2004: 86) gelten können. Im Gegensatz dazu haben sich, so Klaus-Michael Bogdal, verschiedene Milieus mit unterschiedlichen Lesestilen und – daraus resultierend – verschiedene ›Szeneliteraturen‹ entwickelt. Für den deutschen Literaturmarkt heißt dies, dass als ›subversiv‹ zu bezeichnende literarische Schriften nur von einer winzigen Minderheit überhaupt zur Kenntnis genommen werden: Die Satirezeitung Titanic hat eine Auflage von knapp 100.000 Exemplaren, Thomas Meineckes Roman Tomboy hat sich nach Aussage des Autors beim Suhrkamp Verlag ca. 15.000fach verkauft, die bestverkauften Anthologien der Social Beat-Bewegung erreichten nur eine Auflage von 1.000 Stück. Diese Literatur wird also nur von 0,12 bis 0,0001 % der 80 Millionen Bundesbürger/-innen überhaupt wahrgenommen. Innerhalb des marginalisierten Spezialdiskurses ›deutschsprachige Gegenwartsliteratur‹ lassen sich jedoch noch immer verschiedene Richtungen unterscheiden, die sich auf dem literarisch-ästhetischen Feld um die Verhandlung subversiver Konzepte und ästhetischer Strategien bemühen.6 Im Folgenden wird sich dieser Aufsatz exemplarisch dem aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument ist […]. Darum ist die Theorie […] selbst eine Praxis« (Foucault, zit.n. Schlich 2000: 38). 6 | Dazu zählen die hermetische oder avancierte Literatur (Wolfgang Hilbig/1941–2007, Elfriede Jelinek/*1946, Florian Neuner/*1972, Kathrin Röggla/*1971), die experimentelle Popliteratur (Thomas Meinecke/*1955, Linus Volkmann/*1973), die Untergrundliteratur (Kersten Flenter/*1971 und die Social Beat-Bewegung, Bert Papenfuß/*1956), minoritäre Literaturen (Zafer Şenocak/*1961, Yoko Tawada/*1960, Feridun Zaimoğlu/*1964, Raul Zelik/*1968), satirische Literatur (Eugen Egner/*1951, Thomas Kapielski/*1951, Jürgen Roth/*1968, Helge Schneider/*1955, Titanic), Science-

entsteht aus Desertion. Es kommt eine Leere. Wie nach einem Filmriß. & wenn ich mich zusaufe, dann

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Bereich der ›experimentellen Popliteratur‹ zuwenden und den Roman Tomboy von Thomas Meinecke analysieren. Den Hintergrund der Analyse bilden verschiedene poststrukturalistische Theorien, die im Roman selbst thematisiert werden. Nach einer sehr kurzen Einführung in den Roman werden anhand von drei ausgewählten Formmerkmalen und Inhalten des Textes dessen Verhandlung subversiver und ästhetischer Konzepte diskutiert: Zunächst die formale Ebene, auf der sich der Roman um die Auflösung der Grenze zwischen Wissenschaftssprache und Literatur bemüht (Textzwitter), anschließend die inhaltliche Ebene, auf der dekonstruktivistische Konzepte der Subversion (Transvestitismus) und politisch-revolutionäre Konzepte der Subversion (Terrorismus) miteinander verhandelt werden.

Subversive Konzepte in Thomas Meineckes Roman Tomboy Thomas Meinecke wird von der Literaturkritik als ein Autor beschrieben, der an einer »Rückkehr zur Auf klärung« (Tuschick 1998) arbeite, sich dabei jedoch auf der Höhe poststrukturalistischer und postmoderner Theoriebildung befinde. Meinecke formuliere »die Hoffnung auf die Umgestaltung des autonomen Subjekts als handelndes zu einem Subjekt, das sich durch Erkenntnis definiert: Dass gerade die Bedeutungsüberschüsse für immer mehr Wahlmöglichkeiten sorgen und Widerstand ermöglichen« (Messmer 2001). Tomboy spielt im Dreieck von Heidelberg, Ludwigshafen und Odenwald und berichtet vom Leben der Studentin Vivian Atkinson, die ihre Magisterarbeit über die misogynen Auslassungen Otto Weiningers in Form von Fragesätzen anfertigt, sich vorrangig in einem lesbischen, bi- und transsexuellen Milieu bewegt, das zudem ein hohes Interesse an politischen und feministischen Fragen hat. Der Roman bildet eine erzählte Zeit von Frühjahr 1997 bis Frühjahr 1998 ab, in die – neben aktuellen Ereignissen wie einer Lesung von Judith Butler in München im Juni 1997 oder Lady Di’s Tod Ende August 1997 – zahlreiche Reflexionen über verschiedene Probleme der Geschlechter(de) konstruktion eingebettet werden. Fiction-Queer-Literatur (Nadja Sennewald/*1971), Netzliteraturexperimente (Florian Cramer/*1969) und experimentelle oder postdramatische Theatertexte (René Pollesch/*1962, Falk Richter/*1969). Florian Neuners literarischer Beitrag Was tun wenn’s brennt. Aussageverweigerung, Wahl der Mittel, der auch auf dieser Seite unten durchläuft, gibt einen guten Einblick in die ›hermetische oder avancierte Literatur‹ und die Art und Weise, wie diese sich mit subversiven Konzepten auseinander setzt.

desertiere ich ja auch aus der sogenannten Realität, aus der herrschenden Gesellschaft. Im Heurigen-

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Textzwitter – die Auflösung der Grenze zwischen Wissenschaftssprache und Literatur Tomboy ist eine spezifische »Mixtur von Zitat und Narration« (Baßler 2002: 147), ein »Textzwitter aus Erzählung und theoretischer Spekulation« (Winkels 1998), der die Grenze zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache auflöst.7 Dies fällt dem Roman leicht, weil er sich primär auf wissenschaftliche Theorien bezieht, sie referiert, zitiert oder imitiert, die selbst der logozentrischen, nüchternen, traditionellen Wissenschaftssprache kritisch gegenüber stehen und demgegenüber auch in der Gestalt ihrer eigenen Sprache »ein allgemeines Plädoyer für die Differenz« (Münker/Roesler 2000: X) halten wollen. Die wissenschaftliche Wissensproduktion befindet sich in einer Geltungskrise, wie Jean-François Lyotard in seinen Untersuchungen Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (1979) und Der Widerstreit (1983) zu zeigen versucht hat: »Die Wissenschaft spielt ihr eigenes Spiel, sie kann die anderen Sprachspiele nicht legitimieren. […] Vor allem aber kann sie sich auch nicht selbst legitimieren, wie es die Spekulation angenommen hatte« (Lyotard 1994: 119). Diskursarten lieferten Regeln zur Verkettung ungleichartiger Sätze – es gebe jedoch keinen übergeordneten Diskurs, der als höchste Instanz über die richtige Verkettung von Sätzen bestimmen könnte. Genauso wie ›die Wissenschaft‹ in verschiedene Fakultäten, die Fakultäten in verschiedene Fächer und die Fächer in verschiedene Schulen zersplittert sind, die untereinander in einem Widerstreit stehen, seien dies auch die einzelnen Sätze. Als eine mögliche Konsequenz dieses Verlustes der Geltung wissenschaftlicher Sätze ließe sich die Möglichkeit denken, ›wissenschaftli7 | Um nur ein Beispiel für die Mischung von narrativer und wissenschaftlicher Sprache zu nennen, sei hier die Einleitung in einen sexuellen Akt zwischen der bisexuellen Korinna Kohn und der ›eigentlich‹ heterosexuellen Vivian Atkinson zitiert: »Keine Angst, Viv, sagte Korinna Kohn, als sie den Dildo aus ihrem Rucksack zog, dies hier ist auch ein Zeichen meiner persönlichen Akzeptanz heterosexueller Muster, nenne mich meinetwegen, mit Frauke Stöver, zwangsheterosexuell. Vivian Atkinson erinnerte sich, vor gar nicht allzu langer Zeit bei Judith Butler gelesen zu haben, mit dem sinnbildlich lesbischen Phallus werde das Verhältnis zwischen der Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs und der Gesetzgebung der Zwangsheterosexualität auf der Ebene der symbolischen und körperlichen Morphogenese angefochten. […] Also hob die Richterstochter ihre metallisch glänzende Purpur-Robe und schnallte sich das permanent erigierte, lehmfarbene Kunststoffglied um den nackten Körper« (TB 215).

stüberl »Zum Lois« oder im »Ritter-Eck«. Strategisches Saufen. Neue Formen & neue Artikulationen.

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che‹ und ›literarische‹ Sätze in einem Text zu vereinen, der die Grenze zwischen den beiden Sprech- und Schreibweisen auf hebt. Ganz im Sinne Lyotards verweist auch Meinecke darauf, dass sich die Unterschiede zwischen Literatur und Wissenschaft nivellieren: »Bei einigen Donna-Haraway-Sachen z.B. denke ich, das ist eher Science-Fiction im eigentlichen Sinne, also Wissenschaft als Fiktion. Andersherum handeln ja viele Theorien davon, dass selbst die Wissenschaften nichts anderes als eine narrative Erzählform sind« (Meinecke, zit.n. Brombach/Rüdenauer 1998). Zugleich begrüßt er ausdrücklich, dass er sich den wissenschaftlichen Anforderungen an seine Texte gegenüber verweigern kann, gerade weil sie eine spielerische Darstellung beinhalten: »Ich bin immer heilfroh, wenn ich keine wissenschaftliche Conclusio finden muß« (Meinecke, zit.n. Brombach/Rüdenauer 1998). Damit verweigert sich Meinecke gegenüber den noch immer vorhandenen Geltungsansprüchen der wissenschaftlichen Sprache und ihrer Regelsysteme, die auf die Produktion von ›Wahrheit‹ zielen. Er unterminiert in seiner Literatur diese Geltungsansprüche dadurch, dass er wissenschaftliche Theorien und Sprechweisen eingliedert in einen Erzählfluss, der sie gleichberechtigt neben Popmusikbezüge und populärkulturelle Zitate stellt und die von Wissenschaft (und teilweise auch Literatur) beanspruchte Hierarchie von Sprechweisen auflöst. Die Form des Theorie-Literatur-Textzwitters ermöglicht somit eine Sprachreflexion, wie sie gerade im Medium der Literatur möglich ist und die traditionellen ›Wahrheitsideale‹ des Wissenschaftsbetriebs und seiner Sprachregelungen problematisiert, parodiert und dekonstruiert. Die Sprache des Romans unterminiert jedoch nicht nur die Geltungsansprüche der Wissenschaftssprache bzw. erweitert sie um neue Aussage- und Schreibweisen, vielmehr wird die (Alltags-)Sprache selbst zum Gegenstand des Romans. Rezensent/-innen und der Autor behaupten, dass Tomboy in einer ›politisch korrekten Sprache‹ geschrieben sei: »›So unsexy Dinge wie politisch korrekte Wortwahl sind mir schon was wert.‹ Also hat Meinecke auch seinen Roman in freiwilliger Selbstkontrolle auf diskriminierende Passagen durchforstet und die weitverbreitete Usance, bei Frauen den Vornamen durch den bestimmten Artikel zu ersetzen (›die Irigaray‹), rückgängig gemacht« (Nüchtern 1998).8 8 | Meinecke stellt fest: »Man kann heute in der Tat nicht mehr so schreiben wie Anfang der Achtziger, aber auch nicht wie Mitte der Achtziger oder von mir aus auch wie vor 1989. […] In Mode & Verzweiflung gibt es zum Beispiel ›den Neger‹ – das geht nun mal als Wort heute nicht mehr. Es mag lästig sein, aber da muss man eben ›Afroamerikaner‹ schreiben« (Meinecke, zit.n. Büsser 1998: 131).

(Sollten die Gedanken aufgerauht & angestachelt werden.) Die Handlung durch Unmengen leeren Schwei-

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In der Tat wird in Tomboy über die Schwierigkeit der Variation oder Dekonstruktion maskuliner und femininer Substantivendungen nachgedacht: als »Kellnerin, beziehungsweise Kellner« (TB 63) wird der/die Transvestit/-in Angela/o bezeichnet; das Binnen-I als Lösungsmöglichkeit wird thematisiert, aber nicht weiter reflektiert: »die drei FreundInnen, durch Hans mit großem Binnen-I« (TB 231); Vivian verweist erstaunt darauf, dass »die Windows 95-Rechtschreibung doch tatsächlich vorschlug, den Terminus Frauenrechtler in Frauenrechtlerin zu verbessern« (TB 149) – also einen Akt auszuführen, der über die Korrektur der Sprache eine geschlechtliche Re-Identifizierung nach sich zöge; zudem sind die »Eigennamen [Luce Irigaray und Jacques Lacan, T.E.] und die Vokabel Phallogozentrismus […] der Rechtschreibung von Windows 95 unbekannt« (TB 239). Die ›politische Korrektheit‹ der Sprache und das akademische Interesse der Figuren in Tomboy verharren jedoch nicht in emanzipatorischem Ernst, denn die Fixierung der Figuren auf wissenschaftliche Theorien und eine exakte Sprache wird immer wieder Gegenstand einer gewissen Komik, indem die diffizilen theoretischen Ausführungen mit simplen Alltagsgeschehnissen kombiniert werden.9 Der biedere, analytische Ernst der traditionellen Wissenschaft wird also konterkariert – ganz im Sinne der eher spielerischen dekonstruktivistischen Verfahren, die den Protagonist/-innen selber viel Spaß machen und die vom Erzähler in einen ironischen, komischen Kontrast zu Alltagstätigkeiten gesetzt werden, wenn sie zu ausschweifend entwickelt werden. Transvestitismus – Gender Studies und Angela/o Der Roman spielt größtenteils in einer Frauen-Lesben-WG, deren Bewohnerinnen Vivian, Frauke, Ilse, Pat und Korinna sich intensiv mit den Gender Studies und also Theorien beschäftigen, die auf die Dekonstruktion der hegemonialen, binären Geschlechtermatrix abzielen. In Tomboy wird die Hierarchie der Geschlechter- und Sexualitätsmodelle umgedreht: Nimmt in der deutschen Gesellschaft 9 | Z.B. wird ein längeres Zitat aus einem Interview mit Pierre Bourdieu von Korinna kommentiert: »Frechheit, sagte Korinna Kohn, schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und trug das rote Bändchen wieder hoch. Brachte Batterien mit herunter, denn Heiners islamische Küchenuhr war stehengeblieben« (TB 237). Und das Streitgespräch über die Geschlechtsidentität Angela/os bringt auch die Umwelt ganz durcheinander: »Jedenfalls brachte der nervös gewordene Kellner die Rechnung, bevor die lärmende Runde auch nur annähernd aufgegessen hatte« (TB 90).

gens unterbrechen. (Welche Handlung?) Wir könnten das unterbrechen. Wir werden das unterbrechen.

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von 1996/97 (und auch noch heute) die binäre und heterosexuell codierte Geschlechtermatrix eine hegemoniale Position ein, während homo-, bisexuelle oder queere Lebensweisen minoritär sind, so wird in Tomboy eine ebensolche Gruppe aus hetero-, homo- und bisexuellen Frauen, einer/m Transvestitin/en (Angela/o Guida) sowie einem sich cross-dressenden Mann (Hans Mühlenkamm) ins Zentrum gesetzt, während Frauen, die emanzipatorischen Politikkonzepten oder dem Differenzfeminismus der 1970er Jahre anhängen, sowie Männer, die patriarchale Verhaltensweisen zeigen, an den Rand gedrängt, karikiert und ausgeschlossen werden. Die Konstruiertheit der Kategorie ›Geschlecht‹ wird im Roman auf verschiedene Weisen vorgeführt: Die Figuren referieren und reflektieren die wichtigsten Grundannahmen und Streitpunkte der Gender Studies; ein patriarchaler Theorie-Diskurs, der ein misanthropes Frauen-Bild konstruiert, wird dargestellt und dekonstruiert (Vivian arbeitet sich in ihrer Magisterarbeit am Beispiel Otto Weiningers ab); durch Maskeraden, Cross-Dressing, vestimentäre Akte werden Geschlechter- und Sexualitätskategorien verschoben oder durchbrochen; der Transvestitismus wird als Unterminierung der binären Geschlechtermatrix vorgeführt (am Beispiel von Angela/o). Dieser letzte Punkt soll – exemplarisch – ein wenig ausführlicher erläutert werden, denn an der Figur der/des Transvestitin/en Angela/o wird – parallel zur Auseinandersetzung der Protagonistinnen mit Jennie Livingstons Film Paris Is Burning 10 – gezeigt, wie die binäre Geschlechtermatrix in der Praxis der Transvestiten subvertiert wird. Judith Butler setzt eine parodistische Praxis der Travestie und des Kleidertauschs einerseits, die nur »die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität« (Butler 1991: 202) offenbart, von einer weiter reichenden Praxis ab, die aufzeige, dass »das unvergängliche, geschlechtlich bestimmte Selbst durch wiederholte Akte strukturiert ist, die zwar versuchen, sich dem Ideal eines substanziellen Grundes der Identität anzunähern, aber in ihrer bedingten Diskontinuität, gerade die zeitliche und kontingente Grundlosigkeit dieses ›Grundes‹ offenbaren« (Butler 1991: 207). Diese Praxis beschreibt Marjorie Garber in ihrer Untersuchung Verhüllte Interessen. Transvestitismus und kulturelle Angst (1993), die in Tomboy an zahlreichen Stellen direkt oder indirekt zitiert wird,11 am Beispiel des Transvestitismus. Es sei »eine der konsistentesten und wirkungsvollsten Funktionen des Transvestiten in der Kultur […], 10 | Der Film Paris is Burning entstand zwischen 1987 und 1989 und dokumentiert Drag Balls von Latinos und Afro-Amerikanern in New York. 11 | Vgl. u.a. TB 8, 9, 87, 154.

[…] Rechnen Sie immer wieder mit kurzen Verzögerungen. Heißt es im Radio. In der Kneipe. Es geht

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den Ort der […] ›Kategorienkrise‹ anzuzeigen« (Garber 1993: 30), und diese ›Kategorienkrise‹ ist nach Garber »die Grundlage von Kultur überhaupt« (Garber 1993: 31): »Mit ›Kategorienkrise‹ meine ich ein Misslingen von definitorischer Distinktion, eine Grenzlinie, die durchlässig wird und Grenzübertritte von einer (dem Anschein nach distinkten) Kategorie zu einer anderen erlaubt: schwarz/weiß, Jude/Christ, adlig/bürgerlich, Herr/Knecht, Herr/Sklave. Der Binarismus männlich/weiblich […] wird im Transvestismus selbst in Frage gestellt oder ausgelöscht […]. Das scheinbar spontane oder unerwartete oder zusätzliche Auftreten einer transvestischen Figur in einem Text […], zeigt […] eine Kategorienkrise an, einen unlösbaren Konflikt oder eine epistemologisch harte Nuss, welche der komfortablen Binarität die Festigkeit nimmt und das sich daraus ergebende Unbehagen auf eine Figur verschiebt, die bereits den Rand bewohnt, ja, die Marginalität inkarniert.« (Garber 1993: 31)

Garber versteht Kultur also als ein System von Binarismen, deren Konstruiertheit durch das Offenlegen ihrer notwendigen Begrenzungen deutlich wird. Auf dem Feld der Geschlechter-Binarität leistet dies die Figur des Transvestiten, die durch ihr Auftreten auf irgendeinem kulturellen Feld (Garber geht von einem weiten Textbegriff aus) die Begrenzungen der Binaritäten einerseits erst anzeigt, andererseits ›verflüssigt‹. Die Figur der/s Transvestitin/en Angela/o Guida spielt eine zentrale Rolle in Tomboy, an ihr und mit ihr werden zahlreiche Grundannahmen des dekonstruktivistischen Feminismus diskutiert. Zugleich wird an ihr jedoch auch die Alltagspraxis einer Figur präsentiert, die die Konstruiertheit von Geschlechteridentitäten vorführt und exemplarisch die zahlreiche ›Kategorienkrisen‹ des binären Musters ›männlich/weiblich‹ auslöst. Bereits das Auftauchen Angela/os im Roman wird mit der Geschichte verbunden, dass sie/er einmal eine Veroner Go-Go-Tänzerin vertreten habe, was Vivian zu folgenden Fragen veranlasst: »Was hatten die Genossen dabei nun vor Augen geführt bekommen? Was hatten sie gesehen? Angelo? Eine Frau? Das Weibliche? Ließe sich, mit oder gegen Donna Haraway, behaupten, das geschätzte Publikum sei durch Angelas famosen Auftritt getäuscht oder gar betrogen worden?« (TB 58). Die Fragen werden nicht beantwortet, sondern eröffnen nur einen Verständnisrahmen, innerhalb dessen die Frage, welche Geschlechtlichkeit Angela/o zuschreibbar wäre, vertieft werden kann. Dass sich dafür im Sinne einer feststehenden Binarität der Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ keine klaren Lösungen finden lassen, zeigt an, dass die Figur der/s Angela/o der Geschlechter-Binarität ihre Festigkeit raubt.

gegen Gelsenkirchen. Oder so. Am Tresen. Die Leiterin der Bundeswarnzentrale zieht eine positive Bilanz

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Vivian reflektiert die Kleiderwahl und Selbstzuschreibungen Angela/os und bemüht sich, die entsprechenden Wechsel nachzuvollziehen: Wenngleich »völlig flachbrüstig« (TB 150), trage sie/er einen ›weiblich‹ konnotierten Body, und folglich einen »Schwanz«, der »weiblichen Geschlechts war« (TB 151). Später wandelt sich Angela/o vom Mann-Frau- zum Mann-Frau-Mann-Transvestiten: Frauke berichtet Vivian per Postkarte »von Angelas neuester Grille, der Male Impersonation […]. Sie nennt sich an diesen Tagen Angelo, […] sieht aus wie die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach« – wobei sich Vivian fragt, ob diese ›Männlichkeitsinszenierung‹ nicht auch schon wieder gebrochen wird, »ob Angela feminine Dessous unter Angelos maskulinem Outfit trägt« (TB 205). Einige Zeit später vollzieht Angela/o wieder eine Female Impersonation, schlägt »ihre makellos rasierten Beine übereinander« und klatscht »entzückt in ihre manikürten Hände« (TB 243). Die Figur Angela/os zeigt exemplarisch, wie Krisen der binären Kategorien ›männlich/weiblich‹ in einem literarischen Text erzeugt werden und die Festigkeit der Geschlechterbinaritäten subvertiert werden kann. Tomboy lässt sich entsprechend als ein Text lesen, der in diesem Sinne zahllose Kategorienkrisen erzeugt und somit das Konzept dekonstruktivistischer Subversion vorführt, reflektiert und archiviert. Terrorismus – eine Nebenerzählung In einer Art Nebenerzählung wird in Tomboy über die terroristischen Aktivitäten von Pat Meier, einer Außenseiterin der FrauenLesben-WG, und ihrem Nachbarn Bodo Petersen berichtet,12 deren Geschichte für Moritz Baßler eine »reale Subversion in der Tradition der Revolutionären Zellen« darstellt und die darum »einen dezenten, aber unüberhörbaren Kontrapunkt zur pastichehaften Archivierung des Gender-Diskurses« (Baßler 2002: 142) setze. Diese Nebenerzählung soll exemplarisch ausführlicher dargestellt werden, um zu verdeutlichen, dass Meineckes Roman neben dem Konzept der dekonstruktivistischen Subversion auch die politisch-revolutionäre Form der Subversion aufruft und diese Konzepte miteinander verhandelt. Es lässt sich also von einer indirekten Auseinandersetzung zwischen Transvestitismus und Terrorismus sprechen.

12 | Die Geschichte von Pat Meier wird in TB 35, 70–75, 96–102, 145, 155–157, 162f., 226 erzählt.

der Sirenenprobe. 99,08 % der Sirenen hätten Laut gegeben. Ich habe aber nichts gehört. Ich bin anschei-

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Meier und Petersen gehören einer älteren Generation als die anderen Figuren an, Pat Meier ist Jahrgang 1954 und hat sich dem Dekonstruktivismus gegenüber noch nicht geöffnet, verfolgt eher die materialistischen, linksradikalen und terroristischen Konzepte der 1970er Jahre weiter. Sie »hatte oberhalb der Dossenheimer Steinbrüche einen sogenannten festen Ausguck installiert, im schwer zugänglichen Gestrüpp, von welchem aus sie überwiegend nachts, mit Hilfe diverser optischer Analysegeräte, die am westlichen Horizont wahrhaft gigantisch vor sich hin stinkende Badische Anilin- & Soda-Fabrik, BASF, ausspionierte« (TB 35). Pat Meier bewegt sich in einer subversiven Szenerie: Das schwer zugängliche Gestrüpp, überwiegend nachts aufgesucht – als Ort; optische Analysegeräte – als Hilfsmittel zur Grenzüberschreitung; die BASF – als ein einem Drachen ähnlicher Feind (»gigantisch« und »stinkend«). Pat Meier, die äußerst kritisch zum Chemieriesen IG Farben und deren Nachfolgern Bayer, Hoechst AG und BASF steht (und eine »1972er Kampfschrift der RAF […] an ihrem Busen trug«; TB 71), lernt Vivians Nachbarn Bodo Petersen kennen, als dieser mit Vivian in jenem Steinbruch herumklettert, in dem zufällig auch Pats Unterstand steht. Petersen arbeitet ausgerechnet bei BASF und lobpreist anfangs sein Unternehmen für »all die zivilisatorischen Errungenschaften der chemischen Industrie« (TB 72). Doch schon bei diesem ersten Treffen kann Pat Meier Bodo Petersen für ihre Perspektive interessieren, indem sie ihn durch ihr Fernrohr blicken lässt – Petersen selbst ist unglücklich, dass es bereits 1957 »aus betrieblichen Gründen, wie es hieß, werkpolizeilich untersagt worden« war, »Fotografien von seiner Arbeitsstätte anzufertigen« (TB 74). Danach tauchen Pat Meier und Bodo Petersen gleichsam in den Untergrund des Erzählten ab, denn weder für die anderen Personen noch für den auktorialen Erzähler ist deutlich, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden fortentwickelt: »War es eigentlich okay, daß er sich seinen geliebten Betrieb von einer politischen Extremistin madig machen ließ? Hatte er sich gar in Pat Meier verguckt? Beziehungsweise sie in ihn? Oder hielt sie, die Zielstrebige, ihn sich nur, um ihn, den Ahnungslosen, nach und nach zum Hochverräter umzuschulen? Waren denn seine heimlichen Fotos vom Steinbruch aus nicht bereits Werksspionage, ja Sabotage gewesen?« (TB 101). Die Sache wird noch mysteriöser, als Vivian ihren Nachbarn Petersen und Pat Meier zusammen zu hören meint: »Vivian vernahm, synchron mit einem Hustenanfall Bodo Petersens, ein helles Lachen aus dem Treppenhaus. Sollte das etwa Pat Meiers Stimme sein? Die niemand in Handschuhsheim je hatte richtig lachen hören? Vivian schloß ihre Tür zum Flur« (TB 145f.). Pat Meier wird als eine verbiestert-schrullige Alt-Linke beschrieben,

nend nicht geweckt worden von der Sirenenprobe. Im Ernstfall hätte das ja wohl geheißen, daß ich gar

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während Petersen offenbar schon (von ihr bzw. der von ihr verkörperten Revolution) ›infiziert‹ worden ist. Einige Zeit später sieht Vivian »in der Morgendämmerung«, wie Pat Meier »auf der ausgestorbenen Edinger Hauptstraße« aus Petersen Wohnung verschwindet, denn sie sieht just »im selben Moment Herrn Petersens Licht verlöschen. Komisch, wirklich komisch, amüsiert sich« Vivian (TB 155). Am nächsten Morgen klingelt Vivian bei Petersen, dieser trägt noch seinen Schlafanzug, der »auffallend verfleckt« sei, was Vivian sich fragen lässt: »Hatten die beiden Chemie-Fans im Bett mit irgendwelchen Säften herumexperimentiert?« (TB 156). Als Vivian Atkinson am Ende des Romans zu ihrem Wohnhaus zurückkehrt, sieht sie »Einsatzfahrzeuge der Polizei vor der Haustür« (TB 249) sowie, »oben angekommen, […] Bodo Petersens aufgebrochene Wohnungstür; mehrere Kriminalbeamte durchsuchten seine Schränke, verwüsteten seine Einrichtung« (TB 249f.). Dabei finden die Beamten »einige alte Playboy-Magazine«, doch das ist ihnen »Nichts, meldete ein junger Polizist einem älteren und zuckte ratlos mit seinen Schultern, rein gar nichts« (TB 250) – was sowohl Petersen als auch die Polizisten außerhalb des dekonstruktivistischen Feminismus stellt, dem dieser Fund nicht ›nichts‹ wäre. Überhaupt wird Bodo Petersen von Vivian als unangenehmer Typ gezeichnet, dem eine Reflexion der Geschlechterverhältnisse wie auch ein gepflegtes Äußeres ein Gräuel sind – ganz im Gegensatz zu Vivian, Frauke, Korinna und Hans, was das Konkurrenzverhältnis zwischen den unterschiedlichen politischen Konzepten der beiden Gruppen noch verstärkt.13 Das Buch endet mit einem neunzeiligen Absatz, der die ›dekonstruktivistische Subversion‹ der Geschlechterkategorien der ›politischrevolutionären Subversion‹ des Terrorismus gegenüber stellt: Einerseits sieht Vivian durch ihr Fenster, »wie die Polizeifahrzeuge in Edingens Hauptstraße einbogen«, zum Zwecke ihrer Vernehmung, während die terroristisch umtriebigen Bodo Petersen und Pat Meier schon inhaftiert sind. Zweitens verabreden sich Angela und Vivian, am morgigen Tag ins MS Connexion zum Tanzen – und schließen mit der entscheidenden Frage: »Was werden wir tragen?« (TB 251) Während also die politisch-revolutionäre, terroristische Subversion, die sich in direkte Opposition zu den Staatsorganen und Konzernen stellt, die Inhaftierung und das Verschwinden der Aktivist/-innen nicht in den Untergrund, sondern in die völlige staatliche Kontrolle zur Folge hat, kann die dekonstruktivistische Subversion ihre Spiele weiterspie13 | Die Geschichte von Bodo Petersen wird in TB 70–75, 96–102, 145f., 156f., 192, 250 erzählt.

nichts mitbekommen hätte von diesem: Ernstfall. Der Ernstfall ist der Ort des Unmöglichen. Aber leben

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len – lustvoll, optimistisch, ungebrochen. Diese Kreuzung der beiden Subversionskonzepte steht an prominenter Stelle, am Ende des Buches, kann jedoch auf unterschiedliche Weisen gelesen werden: Als Abgesang auf die terroristischen Konzepte, die symbolisch zum Verschwinden gebracht werden; aber auch als Hinweis, dass die dekonstruktivistische Subversion zwar auf politische Effekte zielt, womöglich aber vor allem dem privaten Vergnügen dient.

Von einer Subversion der Subversion über die affirmative Subversion zu den Aporien der Subversion Die Subversion der terroristischen Nebenerzählung durch die dekonstruktivistische Haupterzählung ist allerdings nicht alles – auch diese wird wieder subvertiert. Der Text wird von einer als männlich zu beschreibenden auktorialen Erzählfigur zusammengehalten, die einen ›männlichen Blick‹ auf das Erzählte wirft und den dekonstruktivistischen Enthusiasmus der Wohngemeinschaft ironisiert und problematisiert. Zudem enthält der Text zahlreiche ironische, parodistische und nonsenshafte Passagen, die ein mögliches didaktisches Verständnis des Textes, der eine Einübung der Gender Studies und ihrer Verfahren sein könnte, konterkarieren. Aus diesem Grunde wurde der Text auch von vielen Rezensent/-innen als Parodie auf die Gender Studies gelesen und von vielen Gruppen kritisiert.14 Der Roman Tomboy bietet jedoch beides: Er referiert, reflektiert und archiviert Positionen der dekonstruktivistischen Subversion; zugleich ironisiert und subvertiert er diese wieder und führt gerade in dieser gebrochenen Konstruktion politische Gehalte im Medium der Literatur vor. Es erscheint jedoch unzutreffend, diese Verfahren als eine ›Subversion der Subversion‹ zu bezeichnen, denn diese Denkfigur suggeriert eine problematische Temporalität: Einem (früher) als subversiv bezeichneten Akt, der diese Qualität heute verloren hat, müsse (jetzt) ein entgegengesetzter, konterrevolutionärer Akt der ›Subversion der Subversion‹ folgen, der dann die ›eigentliche Subversion‹ bedeuten würde. Diese Denkfigur beschreibt nur die inhaltliche Entleerung und formale Absorption einstmals subversiver oder avantgardistischer Akte, die durch politische, mediale oder gesellschaftliche Veränderungen ihre 14 | In seinem folgenden Roman Hellblau (2001) hat Meinecke folgerichtig auf eine auktoriale Erzählfigur verzichtet und diese auf drei ich-erzählende Figuren aufgesplittet.

wir nicht ohnehin im Zustand des Krieges? In einer blutigen Wirklichkeit. Eine dünne Schicht Ernstfall.

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subversive Kraft verloren haben und nun eben als historisch obsolet ›entlarvt‹ werden.15 Zutreffender lässt es sich im Bereich der dekonstruktivistischen Subversion von der ›affirmativen Subversion‹ sprechen. Judith Butler beschreibt in ihrer Performanztheorie von Geschlecht, dass die Geschlechtsidentität als ›Anschein einer inneren, festen Substanz‹ durch unzählige wiederholte performative Akte auf dem, im und um den Körper produziert wird. Entsprechend lasse sich eine solche Form ›gezähmter Wiederholungen‹ (z.B. eines Machogehabes), die »als Instrumente der kulturellen Hegemonie« dienen, von »Formen parodistischer Wiederholung«, die »verstörend wirken« (Butler 1991: 204), unterscheiden. Diese störende Form dekonstruktivistischer Subversion, wie sie an der Figur Angela/o in Tomboy durchgespielt wird, realisiert ihre subversive Verschiebung also durch einen Akt der affirmativen Wiederholung, der jedoch durch Übertreibung oder Parodie eine Kategorienkrise auslöst, somit eine subversive Qualität gewinnt und durchaus im Kontext einer Subversion durch verschobene oder übertriebene Affirmation gelesen werden kann (vgl. auch Geier 2002). Besonders plausibel erscheint die Rede von den ›Aporien der Subversion‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wie sie sich auch in Meineckes Roman zeigen. Subversive Konzepte werden präsentiert, archiviert, mit- und gegeneinander diskutiert, das eine subvertiert das andere. Die vorgeführten Konzepte werden wiederum von der Erzählerfigur ironisiert und parodiert – ein solcher literarischer Text erscheint als Komplex subversiver Konzepte, Motive und Figuren, die einander widersprechen und die Einnahme einer Position der ›Wahrheit‹ oder die Präsentation einer ›Lösung‹ unmöglich machen. Auf diese Weise gibt das minoritär gewordene Medium Literatur den Anspruch auf, engagiert, konkret, nachhaltig und direkt in die gesellschaftlichen Verhältnisse hinein zu intervenieren, und schreibt sich selbst die Rolle zu, subversive Konzepte und ästhetische Strategien zu archivieren, zu reflektieren und dabei jede Anmaßung einer neuen Utopie oder Wahrheit direkt wieder in Frage zu stellen. Solange Worte noch immer Verheerungen anstellen, wird man auch Literaturen an der Frage bemessen können, ob sie ›Sinn‹ oder ›Un-Sinn‹ machen, eine ›Lösung‹ oder nur die ›Aporien‹ konstruieren, ob und wie sie die Worttürme der Macht zu unterbuddeln versuchen. Frei nach der situationistischen Gruppe Subversive Aktion steht auf dem Banner subversiver Literaturen: ›Der Sinn der Bewegung ist ihr Scheitern‹ (vgl. Böckelmann/Nagel 2002). Wenn »die bedeutsamste 15 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Martin Doll in diesem Band.

Ist das. Es sind die Welten der Bewaffnungen, erdrückende Realität & Scheinwelten gleichzeitig. & diesen

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Neuerung« heutiger militanter Bewegungen, wie Antonio Negri und Michael Hardt behaupten, darin besteht, dass sie »die Tugenden aufrührerischen Handelns aus zwei Jahrhunderten subversiver Erfahrung« (Hardt/Negri 2003: 419) aufgreifen und neu verknüpfen, dann kann diese spezifische Form des minoritären und musealen Mediums Literatur einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Literatur Baßler, Moritz (2002): Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: Beck. Böckelmann, Frank/Nagel, Herbert (2002) (Hg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Frankfurt a.M.: Neue Kritik. Bogdal, Klaus-Michael (2004): »Deutschland sucht den Super-Autor. Über die Chancen der Gegenwartsliteratur in der Mediengesellschaft«. In: Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher (Hg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg: Synchron, S. 85–94. Bolz, Norbert (1993): Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink. Bourdieu, Pierre (1992): »Das intellektuelle Feld: Eine Welt für sich«. In: Pierre Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 155–166. Brombach, Charlotte/Rüdenauer, Ulrich (1998): »Gesampeltes Gedankenmaterial. Der Romancier Thomas Meinecke im Gespräch«. Frankfurter Rundschau, 21.3.1998. Büsser, Martin (1998): »›Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur‹ – Gespräch mit Thomas Meinecke«. testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Heft 6/1998, Mainz: Ventil, S. 130–135. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Enzensberger, Hans Magnus (1968): »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend«. In: Kursbuch 15, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 187–197. Garber, Marjorie (1993): Verhüllte Interessen. Transvestitismus und kulturelle Angst, Frankfurt a.M.: Fischer. Geier, Andrea (2002): »Weiterschreiben, Überschreiben, Zerschreiben. Affirmation in Dramen- und Prosatexten von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz«. In: Ilse Nagelschmidt/Alexandra Hanke/Lea Müller-Dannhausen/Melani Schröter (Hg.), Zwischen Trivialität und Postmoderne. Literatur von Frauen in den 90er Jahren, Frankfurt a.M. u.a.: Lang, S. 223–246. Giovanopoulus, Anna-Christina (2000): Die amerikanische Literatur in der

Widerspruch in sich auszuhalten, das Gefühl zu haben, man müßte eigentlich etwas ganz anderes tun,

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DDR. Die Institutionalisierung von Sinn zwischen Affirmation und Subversion, Essen: Die Blaue Eule. Hörisch, Jochen (1995): »Verdienst und Vergehen der Gegenwartsliteratur«. In: Christian Döring (Hg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 30–48. Löffler, Sigrid (2003): »›Ich übergebe der Flamme die Schriften von…‹ Feuer und Verbote in der Bücherwelt. Ein Streifzug aus Anlass der deutschen Bücherverbrennungen vor siebzig Jahren, am 10. Mai 1933«. In: Literaturen, Heft 5 (2003), S. 6–17. Lyotard, Jean-François (1985): Grabmal des Intellektuellen, Graz/Wien/Böhlau: Passagen. Lyotard, Jean-François (1994): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen (3. Aufl.). McLuhan, Marshall (1968): Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf/Wien: Econ. Meinecke, Thomas (1998): Tomboy. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Meinecke, Thomas (2001): Hellblau. Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Messmer, Susanne (2001): »Eine elegante Einladung zum Dialog. Thomas Meinecke schreibt an seinem Projekt der postkolonialen Literatur weiter«. Die Tageszeitung, 03.09.2001. Michel, Karl Markus (1968): »Ein Kranz für die Literatur«. Kursbuch 15, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 169–186. Münker, Stefan/Roesler, Alexander (2000): Poststrukturalismus, Stuttgart; Weimar: Metzler. Nüchtern, Klaus (1998): »DJ Gender Studies«. In: Falter, Heft 39 (1998). Plesch, Tine/Ullmaier, Johannes u.a. (2004): »Linke Verlage in Deutschland. Eine Gesprächsrunde«. In: Martin Büsser/Roger Behrens/Jens Neumann/ Tine Plesch/Johannes Ullmaier (Hg.), Linke Mythen. testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Heft 12 (2004), Mainz: Ventil, S. 32–39. Schlich, Jutta (2000): »Geschichte(n) des Begriffs ›Intellektuelle‹«. In: Jutta Schlich (Hg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 11. Sonderheft, Tübingen: Max Niemeyer, S. 1–113. Tuschick, Jamal (1998): »Mehr Groove im Diskurs. DJ und Schriftsteller Thomas Meinecke im Literaturhaus«. Frankfurter Rundschau, 08.12.1998. Winkels, Hubert (1998): »Was ist Sache, Mann? Die Frau. Thomas Meinecke betreibt den Geschlechterdiskurs in Romanform«. Die Zeit, 08.10.1998. Wüst, Karl Heinz (1989): Sklavensprache. Subversive Schreibweisen in der Lyrik der DDR 1961–1976, Frankfurt a.M. u.a.: Lang.

aber trotzdem seine individuellen, täglichen Sachen zu regeln (eingebückt in die Vereinzelung), das erzeugt

oft einen Schwebezustand zwischen Normalität & Katastrophe. Die Katastrophe wird gleichsam normal.

Literarische Zwischenöffentlichkeit? Alexander Kluges erzählerische Reaktionen auf die deutsche Wendezeit Mat thew Miller

Der folgende Beitrag geht von Theodor W. Adornos Theorie der modernen Kunst als einer Theorie der Subversion aus. Während Adorno die Subversionskraft der Kunst als deren negative Haltung gegenüber der Gesellschaft begreift, knüpfen Oskar Negt und Alexander Kluge an Adornos Kritische Theorie an, um deren Tragfähigkeit für ein erweitertes Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse zu revidieren. Aus Negts und Kluges gemeinsamer Arbeit folgt ein radikaldemokratisches Politikverständnis, das Kluges literarischer Produktion zugrunde liegt, insbesondere seiner literarischen Bearbeitung der deutschen Wende, die ich anhand von Kurzprosatexten aus seiner Chronik der Gefühle analysieren werde. In Kluges Arbeit vollzieht sich ein Wandel von der ästhetischen Negation der Gesellschaft zur ästhetischen Untersuchung möglicher menschlicher Handlungsräume, die bei Adorno zu wenig Beachtung gefunden haben. Negt und Kluge begreifen die sich täglich vollziehende Enteignung allgemeiner gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten als Auswirkung einer kompromittierten Öffentlichkeit. Angesichts dieses Sachverhalts wird die Herstellung einer vertrauenswürdigen Öffentlichkeit, die demokratische Teilnahme an der Gesellschaft unterstützt, als ›subversiv‹ gedeutet. Anders als im herkömmlichen Sinne der Subversion, die gesellschaftlich Erstarrtes durch Negation (Adorno) oder Dekonstruktion (wie es bei poststrukturalistisch inspirierten Positionen der Fall ist) in Bewegung zu bringen versucht, findet man in Kluges literarischem Schaffen den umgekehrten Ansatz. Durch die Herstel-

& nie ohne ein paar Promille. Die permanente Katastrophe. & gleichzeitig funktioniert der Alltag weiter:

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lung einer literarischen Zwischenöffentlichkeit soll die überwältigende Realität angehalten und zerlegt werden, um wieder eine haltbare und sinnstiftende Orientierung zu gewinnen. Wenn der Begriff der Subversion auf Kluges literarische Arbeit angewendet werden kann, so in dem Sinne, dass seine Herstellung literarischer Zwischenöffentlichkeit die subversive Auswirkung hat, Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in Richtung politischer Selbstbestimmung zu fördern.

Adornos Subversionskonzept: Kunst als Negation der modernen Gesellschaft Subversionskraft wurde der modernen Kunst in der ästhetisch-philosophischen Konzeption Theodor W. Adornos zugeschrieben, vor allem in dessen posthum erschienenen Werk Ästhetische Theorie. Darin sieht Adorno in der Kunst ein Negationspotenzial und die Möglichkeit, Kritik an der fortbestehenden Unheilsgeschichte der modernen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Laut Adorno ist »authentische Kunst mit ihrem Spannungsverhältnis zwischen sinnlich expressiver Mimesis und geistig-rationaler Konstruktion eine subversiv-utopische Kraft, die begriffslos gegen den universalen Verblendungszusammenhang Widerstand leistet«, wie es knapp zusammengefasst in einem Beitrag zum Thema Authentizität im historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe heißt (Müller 2005: 57). Der Verblendungszusammenhang, gegen den es anzukämpfen gilt, suggeriert für Adorno den Massen die historisch bedingte spätkapitalistische Gesellschaftsform als alternativlos. Die verzerrte Erscheinung der Gesellschaft basiert auf eine bis zurück auf Karl Marxens Theorie des Warenfetischismus gehende und von Georg Lukács in dessen Verdinglichungstheorie ausgearbeitete Annahme, der Kapitalismus verschleiere seine eigenen Konstitutionsbedingungen. Der Schleier, d.h. die Verblendung, verhindert es, den eigentlichen Mechanismen der Produktion und Reproduktion dieser Gesellschaftsform auf den Grund zu gehen und in sie verändernd einzugreifen. Adorno sieht die Medien als Kulturindustrie mit der ideologischen Aufgabe vertraut, zur Reproduktion dieser Gesellschaftsform beizutragen, indem sie wortwörtlich die Bevölkerung durch die Aufrechterhaltung des verblendenden Schleiers unter-halten. Obwohl Adorno sich seltener des Begriffs der Subversion bedient, kann dieser durchaus auf seine Theorie übertragen werden. Die Übertragung bedeutet die Verschwisterung der Subversion mit dem Gestus der Negation. Dies ist der spezifische Dreh, den Adorno der Subversion als umwälzender Praxis hinzufügt: Er setzt eine dialektische Bezug-

Arbeiten, Lebensmittel einkaufen usw. Wie auch nicht. In Thekengespräche verwickelt. Ist man vielleicht.

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nahme auf ein zu Negierendes voraus. Adorno verwebt Dimensionen künstlerischer und politischer Subversionen ineinander. Aus seiner Perspektive auf die moderne Industriegesellschaft und deren Verhältnis zum innerästhetischen Fortschritt resultiert die negierende Aufgabe der Kunst: »Modern ist Kunst, die nach ihrer Erfahrungsweise, und als Ausdruck der Krise von Erfahrung, absorbiert, was die Industrialisierung unter den herrschenden Produktionsverhältnissen gezeitigt hat. Das involviert einen negativen Kanon, Verbote dessen, was solche Moderne in Erfahrung und Technik verleugnet; und solche bestimmte Negation ist beinahe schon wieder Kanon dessen, was zu tun sei.« (Adorno 1997b: 57)

Negativ ist die Gesellschaft selber, die sich gegen die Interessen der Menschen in ihr verselbstständigt. Die Kunst kann diese Negativität bloßlegen, muss aber auch – gemäß ihrer eigenen Produktionsweise – »dem Hochindustrialismus sich gewachsen zeigen, nicht einfach ihn behandeln« (Adorno 1997b: 57). Deswegen ist moderne Kunst auch »Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete« (Adorno 1997b: 39). Verleugnet Kunst die Gesellschaft, von der sie sich abzusetzen versucht, so fällt sie soweit hinter diese zurück, dass sie entweder nur noch in Irrelevanz verharrt oder affirmativ die bürgerliche Form des Kunstgenusses reproduziert. Durch die negative Haltung, die die Kunst gegenüber der bei Adorno stets als Monströses erscheinenden Gesellschaft bezieht, wird sie zum Statthalter des Utopischen, ohne dieses darstellen zu können. Aus diesem Verhältnis zwischen dem Ästhetischen und Nicht-Ästhetischen ergibt sich das Innovationspostulat der modernen Kunst. Dieses Postulat besagt, dass Kunst mit immer neuen Mitteln provozieren muss, um Auswirkungen auf die Rezipienten zu erzielen. Adornos Handhabung dieses Postulats bindet subversive Kunst an die ständige Erneuerung der eigenen Kräfte und Mittel im Wettkampf mit dem fortgeschrittensten Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Da das gesellschaftliche Training den Menschen die Anpassung an und Integration in die bestehende Form der Gesellschaft einbläut, zielen ästhetische Praxen darauf ab, dem entgegen zu wirken, indem sie überhaupt »die Augen aufschlagen« können (Adorno 1997b: 48). Die Erneuerung solcher Praxen wird aber dadurch erschwert, dass Provokation und Opposition schnell aufgenommen und vom System verwertet werden. Was einmal als künstlerisch gewährleisteter Einspruch gegen die bestehende Gesellschaft erscheint, ist es schon bald nicht mehr. Obwohl Adorno und Horkheimer in ihrer gemeinsam geschriebe-

In dieser oder jener vergessenen Kneipe. Seit 10 Uhr Vormittag saufe ich schon. Hauptsache, ich bin

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nen Dialektik der Auf klärung bei der Analyse der Kulturindustrie keinen progressiven Gehalt in den vorhandenen Verwendungsweisen der Medientechnik entdecken können, ließe sich der Ansatz von Adornos Ästhetische Theorie heute durchaus im Hinblick auf Fragen künstlerischer Interventionen in der durchmedialisierten Welt applizieren. Diese Perspektivänderung könnte sogar aus dem grundlegenderen Problem, welches aus Adornos Konzeption des dialektischen Verhältnisses zwischen künstlerischer und politischer Subversion hervorgeht, heraushelfen. Das Problem besteht nämlich darin, dass in Adornos Theorie die kunstimmanent vollzogenen Negationen vorangegangener ästhetischer Lösungen auf Prozesse der fortwährenden Negation in der Gesellschaft verweisen. Die »authentischen Kunstwerke sind Kritiken der vergangenen« (Adorno 1997b: 533), schreibt Adorno, und verweist also, grob formuliert, auf ihre Negation des Humanen, das für Adorno einst einen progressiven Wahrheitsgehalt in sich barg. Die Struktur dieses Verweises wirkt sich verheerend aus auf die mögliche Erneuerung künstlerischer Gestaltungen andauernder gesellschaftlicher Konflikte. Denn Adorno bindet die Funktion der künstlerischen Negation an eine in die Katastrophe treibende Geschichtsphilosophie1, fordert aber gleichzeitig, dass die ästhetische Negativität die realgesellschaftliche überbieten müsse. So kommt die künstlerisch zu gewährleistende Negation der Gesellschaft in die Gefahr, eine wilde Negation statt einer bestimmten zu betreiben. Die Negativkraft der Kunst kehrt sich zuvörderst gegen den Kanon der eigenen ästhetischen Möglichkeiten selber. Auf sie ist kein Verlass: die Mittel für erfolgreiche Interventionen verbrauchen sich. Die Innovationsmöglichkeiten der künstlerischen Produktionsmittel scheinen sich zu erschöpfen. Adornos Theorie beschreibt den Weg der Kunst in eine radikalisierte Negativität, bei der ihr inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten abhanden kommen. Samuel Becketts Dramen, in denen keine Lösungsmöglichkeiten auch nur angedeutet werden, fungieren als eine Art Telos von Adornos Theorie. Der Anschein solcher Konturen von Adornos Theorie der Kunst ist deswegen seltsam, weil Adorno in seiner Negativen Dialektik eine herausragende Theorie des Nichtidentischen entwickelt. Für Adorno deutet das Nichtidentische auf eine dem Denken und den Gegenständen, mit denen es sich beschäftigt, innewohnende und unauflösliche 1 | Der oft zitierte Satz aus Adornos Negative Dialektik: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe« legt seinen geschichtsphilosophischen Pessimismus nahe (Adorno 1970a: 314).

gesund. Sagt der Wirt. Jeder nach seinen falschen Bedürfnissen. Er habe gute Leberwerte. Aber den Tod

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Uneinigkeit, welche (ob philosophisch oder politökonomisch) ihrer systembedingten Verwertung entrinnt und sich ihr gegenüber widersetzt. Nun scheint das Widerstandspotenzial des Nichtidentischen, das Adorno in der Negativen Dialektik aufrechterhält, in der Ästhetische Theorie insofern verloren zu gehen, als er die Negation der Gesellschaft durch die moderne Kunst bis auf einen Punkt dargestellter Indifferenz verfolgt. Deswegen wird in manchen Darstellungen Adornos philosophischer Ästhetik vorgeworfen, dass sie, ungeachtet des in ihr enthaltenen Begriffs des Nichtidentischen, das Widerstandspotenzial moderner Kunst zu eng schnürt (vgl. Roberts 1991). Mit ihrer Weiterentwicklung kritischer Theoriebildung versuchen Negt und Kluge, dem bei Adorno unzureichend ausgearbeiteten Widerstandspotenzial Gehör und Stichhaltigkeit zu verschaffen. Das schließt eine Theorie des Politischen mit ein, die für die hier als subversiv zu bezeichnende Funktion von Kluges literarischer Arbeit von Bedeutung ist.

Gesellschaftstheorie nach Negt und Kluge In Anlehnung an die Kritische Theorie Adornos gehen Negt und Kluge von einer stark antagonistischen Schematisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus. In ihrem gemeinsamen Hauptwerk Geschichte und Eigensinn stellen sie Elemente einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft vor, um Widerstandsbereiche in dem von Marx analysierten kapitalistischen Gesellschaftssystem zu untersuchen. Bei Marx lag das Gewicht der Analyse auf dem Kapital selbst und dessen Auswirkungen auf die menschliche Arbeitskraft, die die Bildung von Kapital überhaupt erst ermöglicht. Negt und Kluge folgen der impliziten Suggestion von Marx, der Mensch sei samt seiner Arbeit mehr als er in diesem System erscheint. Weil sich aber das Ausgegrenzte vom Blickwinkel des Systems aus schlecht freilegen lässt, ändern Negt und Kluge die Perspektive und richten ihr Hauptinteresse auf die verborgenen widerständigen Aspekte des vielseitig arbeitenden Wesens Mensch. Als Ausgangspunkt wählen sie die Diskussion der ursprünglichen Enteignung und deren Analyse durch Karl Marx. In Negts und Kluges Ausarbeitung dieser Analyse treffen sich Adornos Theorie des Nichtidentischen und Marxens Beschreibung der Enteignung. Während Marx vor allem am Beispiel Englands die historische Enteignung im Auge hatte, nach der die Landesbevölkerung vom Grund und Boden und damit von den Produktionsmitteln der eigenen Existenz als auch vom Gemeinwesen getrennt wurde (vgl. Negt/Kluge 2001b: 38ff.), folgen Negt und Kluge

werde er nicht überleben. Es ist eine Tatsache, daß ich oft mehrere Monate lang ständig betrunken war

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Adorno darin, dieses Phänomen der Trennung als ein dem Kapitalismus innewohnenden und sich wiederholenden Vorgang zu verstehen. In seinem Buch Negative Dialektik hat Adorno auf die ambivalente Spannung im Trennungsprozess, der konstitutiv für die Reproduktion des Systems sei, aufmerksam gemacht: »Daß es aber gleichwohl des nicht unter die Identität zu Subsumierenden – nach der Marxschen Terminologie des Gebrauchwerts – bedarf, damit Leben überhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhältnissen, fortdauere, ist das Ineffabile der Utopie« (Adorno 1997a: 22). Adorno geht also von einem dem System äußerlichen nicht-identischen Substrat aus, welches im Trennungsprozess einen identifikatorischen Stempel aufgedrückt bekommt. Die Funktionsweise des Systems zielt auf Identitätsherstellung, um die Welt für die Warenproduktion zuzurichten und dem Warenaustausch zu übergeben. Der darin nicht aufgehende Rest bleibt als Nichtidentisches übrig. Bei Adorno scheint aber gerade in diesem Passus der Stellenwert des Nichtidentischen ambivalent zu sein. Denn das potenziell oppositionelle Nichtidentische dient auch als Futter für ein System, welches aus der Auseinandersetzung mit Opposition und Widerspruch nur gestärkt hervorgeht. Es ist diese Tendenz, die ein mit dem Wort des ›Ineffabilen‹ angedeutetes Darstellungsverbot über die Utopie verhängt. Solche Verwertung des möglichen Oppositionellen hatte auf ähnliche Weise Heiner Müller im Gespräch mit Kluge über demokratische Systeme angeregt, welche er als allzu passenden Überbau des alles fressenden Kapitalismus beschrieb (vgl. Kluge 1996: 44). Nun gehen Negt und Kluge auch vom Erscheinungsbild eines Nichtidentischen aus, verankern dessen Widerstandspotenzial aber darin, dass sie es als Bedürftiges, auf eigene Identität Zielendes auffassen: »Wenn wir von Identität sprechen, so geht es für deutsche Verhältnisse um das Bedürfnis, d.h. den Mangel an Identität. […] Soweit wir von Identität handeln, sprechen wir von einer Eigenschaftskette, die sich im Zustand radikaler Bedürfnisse befindet, also der Substanz nach: von Nicht-Identität« (Negt/Kluge 2001b: 376). Schließlich setzt der kapitalistische Prozess der Enteignung ein »ursprüngliches Eigentum« voraus, einen ganzen Zusammenhang »menschlicher Eigenschaften, und zwar: der Vorstellung von etwas Eigenem (Identität, Subjektivität), von Sprache, Gemeinwesen (Assoziation), der Arbeits- und Lebensvermögen, zuletzt auch subjektive Vorbedingung für Trennung« (Negt/ Kluge 2001b: 30, Herv. v. Verf. herausgenommen). In diesem Zitat werden die Folgen der Enteignung offenbar: Die Trennungsprozesse führen zum Verlust der Möglichkeit, über die eigene Lebensweise, Arbeit und Erfahrungen zu verfügen und diesen Sinn zu verleihen.

& auch in der übrigen Zeit viel trank. Es geht gegen Gelsenkirchen. Oder so ähnlich. Der Taxifahrer steht

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Wenn man die Perspektive auf diese in die Geschichte der menschlichen Arbeitskraft eingehende und aufgehobene Eigenschaften richtet, eröffnen sich Vorräte an subjektiven Vermögen, die sich gegen die als schmerzlich empfundenen Trennungsprozesse wehren wollen.2 Negt und Kluge fassen die aus diesen Vermögen stammende Widerstandskraft im Begriff des Eigensinns zusammen. Während Geschichte im Buchtitel auf die kontinuierliche Phase der Zurichtung der Arbeitskraft für die kapitalistische Warenproduktion verweist, deutet Eigensinn auf den Widerstand dagegen hin, der sich als Protestgefühl äußert. D.h., die Trennungen werden seitens derjenigen, die sie erleiden, zunächst emotional nachvollzogen. Ganz ohne groß angelegte Gesellschaftstheorie oder Reflexion erfährt der Mensch die Auswirkungen der Enteignung als Verlust. Der Frust darüber steigert sich zu einem Gefühl, welches zunächst unbeholfen auf mannigfaltige Art und Weise gegen Trennungsprozesse auf begehrt. Negt und Kluge nehmen derlei Protestgefühle in ihre Widerstandstheorie auf, um diese in ihrem ganzen Umfang stark zu machen. Auf diesem Gefühl des Protests basieren alle realistischen Orientierungsversuche: »In einer antagonistischen Realität ist eine realistische Haltung dadurch gekennzeichnet, dass sie den Anti-Realismus der Gefühle – deren Protest gegen unerträgliche Verhältnisse – als den Motor für Realismus anerkennt« (Negt/Kluge 2001b: 112). Die Existenz derartiger Protestgefühle wird auch in Adornos oft rhetorisch bissig auftretender Theorie behauptet. Bei Adorno führt das Protestgefühl zu einer pathetisch aufgeladenen Schreibweise einschließlich dessen beliebter gesellschaftsverurteilender Stichwörter wie ›Verblendungszusammenhang‹, ›Freiluftgefängnis‹ und ›kein richtiges Leben im Falschen‹. Indes haben sich die Protestgefühle bei Adorno längst in die Produktion fortgeschrittener Kunst hermetisch sublimiert. Durch die ausgebliebene Theoretisierung politischer Praxis bei Adorno, der jegliche Praxis im universalen Verblendungszusammenhang untergehen sah, bleibt wenig ersichtlich, was das spezifisch Politische an Adornos Theorie sein könnte. Seine Ästhetische Theorie legt jedenfalls eine negativ-symbolische Funktion der Kunst fest, die keinen Raum für Praxis mehr übrig lässt. 2 | Andernorts bejahen Negt und Kluge die Resistenzkraft der Menschen als den subjektiven Faktor: »In der Auseinandersetzung zwischen Lebenswelt und Systemwelt ist jede Theorie absurd, die nicht die abgründig verankerten Prämissen des subjektiven Faktors kennt und durch Zulassung einer Masse von Besonderheiten eine Art gravitative Gegenwirkung zum Allgemeinen berücksichtigt« (Negt/Kluge 2001a: 990).

schon in der Kneipe & will den Betrunkenen abholen. (Es handelt sich um ein völlig mit Alkohol durch-

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Um über diese paradoxe Sackgasse Adornos hinauszugehen, formulieren Negt und Kluge Bedingungen für die produktive Artikulation und Entfaltung des auf die gesellschaftliche Organisation gerichteten menschlichen Widerstands. Deshalb soll im Folgenden Negts und Kluges Theorie politischer Maßverhältnisse als Bedingungen demokratischer Öffentlichkeit dargestellt werden.

Unerfüllte Öffentlichkeitsbedingungen: Negts und Kluges Theorie politischer Maßverhältnisse Wie Adorno sehen Negt und Kluge noch immer einen Verblendungszusammenhang, dessen aktuellste Form sie in ihrem Buch Maßverhältnisse des Politischen als ›Religion der Realität‹ bezeichnen. Heute nehme im Unterschied zur Auf klärung des 18. Jahrhunderts anstelle der Religion die Realität einen Vorsitz der Weltdeutung wahr: »Diese Betonwelt der Realität […] enthüllt sich als eine quasireligiöse Gewalt. Angesichts dieser Gewalt ist Unglaube, skeptischer Widerwille, der erste Akt von Auf klärung« (Negt/Kluge 2001a: 694).3 Allerdings gehen Negt und Kluge mit diesem Befund eines alles umfassenden ideologischen Gebildes zurückhaltender als Adorno um. Als Teil der Religion der bestehenden Realität sei das emphatisch Politische »in einen Verwaltungszweig« (Negt/Kluge 2001a: 719) umgewandelt worden. Dieser produziere Ausgrenzungen mit schwer wiegenden Auswirkungen bis hin zur Tabuisierung »alle[r] Formen von Basisöffentlichkeit, in der sich kollektive Organisationsformen als Alternativen zum bestehenden System herauszubilden beginnen« (Negt/Kluge 2001a: 741). In Maßverhältnisse des Politischen versuchen Negt und Kluge eine radikaldemokratische Form von Politik zu rehabilitieren, bei der das Politische weniger als Substanz und schon gar nicht als berufliche Sphäre aufgefasst wird, sondern als ein Zusammenhang bestimmter Maßverhältnisse: Dies sind Bedingungen, die gegen alle Wahrscheinlichkeit eine Selbstbestimmung des Gemeinwesens ermöglichen könnten. Um diese Bedingungen einzuführen, nehmen Negt und Kluge zuerst Rekurs auf die so genannten ›politischen Rohstoffe‹. Entgegen allem Anschein geht das emphatisch Politische in einen beruflichen Sachbereich nicht verloren, sondern verlagert sich in unsere Gefühle. Deren 3 | Zum Realitätsbegriff vgl. sowohl Negt/Kluge 2001b: 509ff. als auch Kluges Aufsatz Die schärfste Ideologie: dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft in Kluge 1975: 215ff.

tränktes Subjekt.) Die Kellnerin erklärt dem Taxifahrer, wo der Betrunkene sein Portemonnaie eingesteckt

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Intensitätsgrad bildet für Negt und Kluge den Rohstoff des Politischen, der sich auszudrücken versucht und sich aus den Protestgefühlen und im Reibungsprozess mit anderen verallgemeinern muss. Soll diese Rohstoffquelle nicht versiegen, braucht es unter anderem »Zeit, erkennbare Orte, Autonomiefähigkeit der Subjekte, einschließlich einer glücklichen Verbindung von Spontaneität und Dauer, ein gegenständliches Gegenüber, den freien Wechsel zwischen Rückzug und der Konzentration der Kräfte. […] Die Parameter (Formen) vereinigen sich zum Politischen in emanzipatorischer Richtung dann, wenn sie ein Maß zueinander finden« (Negt/Kluge 1992: 10). Erst nach der Erfüllung dieser Kriterien können emanzipatorische Prozesse initiiert werden. Negts und Kluges Behandlung des Politischen grenzt keinen Stoff aus. Es kann ein jegliches Interesse politisch werden, wenn sich die von ihnen als notwendig anvisierten Bedingungen erfüllen. Demokratietaugliche Maßverhältnisse werden aber fortlaufend von der Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsform zerschlagen und müssen mühsam durch Öffentlichkeitsarbeit rekonstruiert werden. Diese Arbeit sieht sich der Schwierigkeit ausgesetzt, dass in der heutigen Öffentlichkeit ein ideologischer Raubkrieg gegen unsere Gefühle betrieben wird. In ihrem 1972 erschienenen Buch Öffentlichkeit und Erfahrung beschreiben Negt und Kluge neue Organisationsformen der Kulturund Bewusstseinsindustrie als Produktionsöffentlichkeiten, die wirtschaftlichen Privatinteressen verhaftet sind. In dieser Funktion bilden Medien wie Presse, Fernsehen und Film einen wesentlichen Teil des Reproduktionsprozesses der bestehenden Gesellschaftsordnung. Die Produktionsöffentlichkeiten übernehmen die Arbeit des für das kapitalistische System notwendigen Trennungsprozesses, indem sie Lebenszusammenhänge aufspalten. Während immer neue Teile des Lebenszusammenhangs für dessen Integration in die Gesellschaft von den Produktionsöffentlichkeiten vororganisiert werden – von der Industrialisierung der Zeit in der frühkindlichen Erziehung bis hin zur Produktion von Vorschriften des Glücks in der Liebe –, wird der Rest ausgegrenzt. Was nicht dem bestehenden System angeglichen werden kann, erscheint schlicht als unverständlich und wird als Privates, d.h. als etwas der Gesellschaft Äußerliches, abgestempelt. »Die Bereiche, die die für den Produktionsprozess und den Legitimationsüberbau nicht unmittelbar notwendigen menschlichen Tätigkeiten betreffen, unterliegen so einer organisierten Verelendung« (Negt/Kluge 2001a: 360). Auf diese Weise arbeitet die heutige Öffentlichkeit gegen unsere in verunstalteter Form zurückgebliebenen Wünsche. Entweder organisiert sie unsere Gefühle für deren Integration in das System oder sie sperrt sie in eine Privatsphäre der Intimität ein. Sie gestattet dem mit

hat. Der Betrunkene, der mehrere Stunden damit verbracht hat, die Kellnerin zu begrapschen, sich immer

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sich selbst nichtidentischen Restbestand menschlicher Sehnsüchte kein Widerstandspotenzial. Lebenszusammenhänge werden auseinandergezerrt und die freie Entfaltung der eigenen Erfahrungen verhindert. Es treten nur Missverhältnisse in Erscheinung. Vor diesem Hintergrund wird die Dringlichkeit von Negts und Kluges Theorie der Maßverhältnisse deutlich. Das Widerstandspotenzial braucht verlässliche und standhafte Möglichkeiten, um sich öffentlich zu entfalten. Gegenüber der in der Realität vorherrschenden Verunmöglichung des Widerstands durch Ausgrenzung wäre die Herstellung einer vertrauenswürdigen Öffentlichkeit, in der die Maßverhältnisse des Politischen erfüllt werden könnten, subversiv. Anders als im herkömmlichen Sinne der Subversion, die gesellschaftlich Erstarrtes durch Negation in Bewegung zu bringen versucht, verfolgen Negt und Kluge den umgekehrten Ansatz, den unfassbaren überwältigenden Charakter der Realität (einschließlich der Verunmöglichung unserer eigenen Handlungsperspektiven 4 ) anzuhalten, damit Menschen wieder eine haltbare Orientierung gewinnen und ihre Handlungsfähigkeit als autonome Subjekte wiedergewinnen können.

Kluges Herstellung literarischer Zwischenöffentlichkeit Für die Rekonstitution einer vertrauenswürdigen Öffentlichkeit spielt nach Kluge die Literatur eine wichtige Rolle. Wie in einem Rückzugsgefecht kündigt er am Anfang seines Buchs Die Lücke, die der Teufel läßt an: »Bücher sind die letzte Wagenburg der Subjektivität, in deren ›Urgeschichte‹ die schärfsten Waffen gegen das FALSCHE IN DER WIRKLICHKEIT zu finden sind« (Kluge 2003: 7; Kapitale i. Orig.). Solange wir sowohl mit der Enteignung unserer Erfahrungen als auch der Mittel, mit denen wir uns eines Ausdrucksvermögens überhaupt zu vergewissern suchen, konfrontiert werden (vgl. Negt/Kluge 2001a: 742), sind Rückzuge wie Ausdrucksverweigerung und die Suche nach Glück im begrenzten Privatleben verständlich – dies sind aber Symptome eines kranken Gesellschaftszustandes. Gerade das marginalisierte Private ist ein Schlüsselbereich, in den Kluge einhaken will. Er bezeichnet diese Zone als Intimität. Intimität meint für Kluge nicht nur die Welt der Gefühle, sondern auch deren sanfte Verhandlung in der Literatur, die er als intimes Medium kennzeichnet. Kluge hält den 4 | Im Vorwort zu seinem Buch Die Lücke, die der Teufel lässt bezieht sich Kluge auf die allgemeine Erfahrung, nach der Menschen ihren eigenen Handlungsraum einbüßen, ohne den Grund dafür zu erkennen (Kluge 2003: 7).

wieder hinter die Theke zu drängen & an sie heranzumachen. »Wenn jemand zuschlägt, dann bin ich es«,

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Bezug auf ›vor-öffentliche‹ Formen von Subjektivität und Intimität für notwendig, zumal dort die Instrumente gebaut werden, die in der Öffentlichkeit die Öffentlichkeit substanzreich machen (ebd.: 955). In Geschichte und Eigensinn wird der Stellenwert der Intimität für die Öffentlichkeitsarbeit folgendermaßen bestimmt: »Intimität ist der praktische Prüfstein für die Substanz von Öffentlichkeit. Diese Prüfung führt so lange zu der Feststellung: Dies ist nicht meine Öffentlichkeit, als nicht, entgegen der Widerstandslinie, Öffentlichkeit intime Substanz aufnimmt. In dieser Hinsicht ist die Intimität, so weit sie sich aufs Ganze richtet, bereits jetzt praktischer Kritiker und Stachel von emanzipatorischer Öffentlichkeit.« (Negt/Kluge 2001b: 944; Herv. d. Verf.)

Demzufolge existiert die Intimität keineswegs nur für sich, sondern wird stets in einen Bezug zum gesellschaftlichen Zusammenhang gesetzt. Im Übrigen können nur Spähmethoden mit spitzfindigem Unterscheidungsvermögen prüfen, welche vor-öffentlichen Mittel noch hilfreich sein könnten. Kluge glaubt nicht, dass diese spontan entstehen, sondern knüpft an deren in der Literatur bewahrten Vorrat an, den es durch fortgesetzte Produktion weiter zu entwickeln gelte. Auf Gefühle pocht Kluge weder aus Gründen der Sentimentalität noch aus einer politischen Romantik heraus. Die Tatsache, dass Gefühle als Reaktionen auf Trennungsprozesse entspringen, beeinträchtigt sie keineswegs, sondern verleiht ihnen eine Rolle innerhalb von Widerstandsstrategien. Gefühle interessieren Kluge deshalb nicht vorrangig als symptomatische Effekte des Systems, sondern vielmehr im Hinblick auf die Formen des menschlichen Verhaltens, die sie ermöglichen – oder eben verunmöglichen. Deswegen ist es wichtig zu sehen, dass das Gefühl, laut Kluge mögliches Bindeglied zwischen Politik und Ästhetik, sich an der Schnittstelle kompromittierter Produktionsöffentlichkeiten – sprich: Bewusstseinsindustrie, Berufspolitik, Ideologie des Wirklichkeitssinnes – und einer die Interessen eines Gemeinwesens verkörpernden und tragenden Öffentlichkeit befindet. Als Rohstoff des Politischen finden Gefühle geeignete Gefäße zunächst in ihrer literarischen Bearbeitung. Der Begriff der Zwischenöffentlichkeit verweist auf den Prozesscharakter der Herstellung einer vertrauenswürdigen Öffentlichkeit, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann. Solche Literatur ist keinem politischen Imperativ oder Programm unterworfen. Die Literatur Kluges besinnt sich aber – hier hallt die historische Avantgarde nach – auf andere Aufgaben, die über die Kunst im engeren Sinne hinausführen. Beispiele für die von Kluge

sagt die Kellnerin, »& wenn ich nicht da bin, der Lois.« Wenn normales &/oder abweichendes Verhalten

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konstatierten widerstreitenden Bestimmungen der Gefühle – Produktionsöffentlichkeiten vs. literarische Zwischenöffentlichkeit – könnte man in jeder seiner Geschichten beschreiben. Noch spannender wird es aber in Zeiten eines offenkundigen gesellschaftlichen und politischen Wandels. Ein solcher Wandel kann für die Subjekte sowohl einen Realitätsverlust als auch einen Realitätsgewinn darstellen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Produktion anti-realistischer Gefühle, die an Rändern der vermeintlich zentralen Ereignisse politischer Wenden zu finden sind. Denn sie beinhalten alternative Vorstellungen vom menschlichen Miteinander, die Anhaltspunkte für ein revolutionäres Potenzial bilden.

Kluge und die Wende 1992 veröffentlicht, antwortet Maßverhältnisse des Politischen auf die deutsche Wende, besonders auf die ›Wende in der Wende‹. Damit beschreiben Negt und Kluge das Paradox, wonach die erzwungene Auflösung der DDR zu einem beträchtlichen Teil auf politischen Handlungen beruht, die letztlich in einer raschen Entwicklung zu einem Verlust politischer Handlungsfähigkeit der Massen geführt zu haben scheint. Kluge vollzieht diese Zeit des Wandels literarisch nach. Sein Kapitel Verfallserscheinungen der Macht in der Chronik der Gefühle enthält eine Reihe von Kurzprosatexten, die vor allem die Wende von 1989 zum Thema haben. In diesem Zusammenhang interessieren mich vor allem die erste und letzte Geschichte des Kapitels: Nikolaus 1989 und Verweigerter Reisekostenersatz. Die erste umspannt auf zirka 15 Seiten ein gelungenes Panorama unterschiedlicher als ›Frontberichte‹ gekennzeichnete Szenen, die einen Tag nach der Maueröffnung spielen. Vor dem Hintergrund einer ominös anmutenden Wetterlage, von der sich die dringlicheren Angelegenheiten der in die Krise geratenen Tagespolitik absetzen, treten nicht etwa Demonstranten auf, sondern die Anhänger des untergehenden alten Systems: DDR-Anhänger befinden sich als Protagonisten in der überwiegenden Mehrzahl. Die Erzählerhaltung ist, wie bei Kluge üblich, kühl und distanziert. Dennoch gilt das Erkenntnisinteresse Kluges der Frage, was aus der ›Erfahrungswelt DDR‹ gerettet werden kann. Es geht keineswegs um ein Für oder Wider der ›Wiedervereinigung‹ selber – die stark antagonistische Schematisierung der programmatischen Bestrebungen Negts und Kluges wird in Kluges Prosa zugunsten einer ausgewogenen Vermittlung aufgehoben –, wohl aber darum, die Prozesse von 1989 als Spielraum historischer Möglichkeiten zu beschreiben.

sanktioniert & vorgeschrieben ist. Hier wird ein Scheißdreck wieder abgezogen, das ist sagenhaft. Die

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Den Funktionären ist die subjektive Valenz der Bürger in dieser Zeit durchaus bewusst: Deren Protestenergie vermischt sich mit der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest, christliche und sozialistische Symbole treffen ein letztes Mal in der fragwürdigen Dekoration einer Betriebsfeier aufeinander. Der Genosse Beelitz sinnt, wie in jedem Dezember, über die Unmöglichkeit nach, dem notwendig falschen Bewusstsein, auf welches die christliche Dekoration antwortet, etwas Attraktiveres entgegen zu setzen. Der Genosse Friedewald, der die Attraktion »eines rutenbewehrten Nikolaus« nicht zu ergründen vermag, gibt zu, dass »man Karl Marx nicht in Schokolade gießen« (Kluge 2000: 166) kann. Junge Mitglieder des Marx-Lese-Kreises VEB Plaste befürchten die Auswirkungen, die die Anziehungskraft dieser Feiertage für die Menschen haben könnte. Für sie wird die bevorstehende Westanbindung von der Verwandlung politischer Hoffnungen in Konsumsehnsüchte gesteuert. Denn die Lichterketten der Adventszeit erwecken die Erwartung von etwas Besonderem, bedeuten aber eine »ideologische Diversion« von der »der Westen profitiert« (Kluge 2000: 154). 2 Überhaupt sind die Belange der Lese-Kreis-Mitglieder interessant. Wegen ihrer Anlehnung an eine evangelische Gruppe in Wittenberg vor 1989 noch verpönt, bilden sie jetzt eine Fraktion der Partei. Mit dieser Angabe verweist Kluge auf die Vielfalt der in dieser Zeit vorhandenen Protestenergien und auf die Unterschiedlichkeit der möglichen Gruppierungen. Die jungen Marxisten, orientiert an den Pariser Manuskripten, artikulieren neue Programmpunkte, mit lutherischer Innigkeit beziehen auch sie Frontstellung: »Sie wollten ein anders Resultat im ›Kampf der Systeme‹ als dasjenige, das sich naturwüchsig ergab, wenn sich das Staatsgebiet der DDR in Form eines Anschlusses dem Westen auslieferte« (Kluge 2000: 157f.). Um desgleichen zu verhindern, geht es »also um Eroberungsarbeit auf der SUBJEKTIVEN STRECKE« (Kluge 2000: 155; Kapitale i. Orig.). Der militärische Beiklang der Sprache der Militanten fällt auf. Überhaupt haben sie Schwierigkeiten, sich schnell in der neuen Situation 2 | Ein wiederkehrendes Thema im Prosawerk Kluges ist die fremdbestimmende Organisation der ›Freizeit‹ durch Feiertage, vgl. die Erzählung Die Ostertage 1971 in Chronik der Gefühle (Kluge 2000, Bd. II: 504ff.). In Maßverhältnisse stellen Negt und Kluge immer wieder die Behauptung auf, dass die Protestenergie der DDR-Bürger nicht länger als bis zum Weihnachtsfest in ihrer revolutionären Form bestehen bleiben könne. In Nikolaus 1989 liest man dazu z.B.: »Die Einteilung des Jahresablaufs in Veranstaltungen zeigt sich immun gegenüber politischen Änderungen« (Kluge 2000: 156). Das Weihnachtsfest saugt revolutionäre Protestenergie ab.

Gewalt zerbricht jede andere Lösungsmöglichkeit. Das ist die Schuld des Gewaltaktes selbst. Bekanntlich

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zu orientieren. Unklar ist, inwiefern man sich mittels eines solchen Wortschatzes (Front, Eroberung, Feststellung des Gegners) erfolgreich politisch betätigen könnte. Im nächsten Abschnitt, der den Zwischentitel Was heißt unter diesen Umständen ›An die Front‹? trägt, greifen die Lese-Kreis-Mitglieder auf grundsätzliche Fragen zurück: »Es geht um: – Analyse des Gegnerbildes – Analyse der Gegenmaßnahmen gegen die Tücke des Gegners – Der eigene Angriff – Entschluß – Ausführung« (Kluge 2000: 156)

Die bedächtige Vorarbeit, bei der der erkenntniskritische Aspekt — folgerichtig? — gegenüber dem praktischen überwiegt, wird von den Umständen bereits überholt: »Was heißt ›An die Front‹, wenn es um die Wirkung der ›invisible hand‹ geht, der unsichtbaren Hand, d.h. der Gesellschaft im Kopf der vielen Millionen, die den Markt im weitesten Sinn bilden?« (Kluge 2000: 156). Wie in Negts und Kluges Theorie verlagert sich auch hier die Front in die Empfindungswelt der Menschen. Die Mitglieder beteuern, dass man die »Offerten dieses Markts« im Innern der Menschen für Geld nicht kaufen könne, dass aber »DIE FRONT BEZEICHNET [IST] DURCH DEN FAKTOR ZEIT. Das West-TV, von dem du gesprochen hast, ist nur eine ›ungeheure Warensammlung‹, eine Rotte von Zeitgeistern, sie antworten auf angestaute Empfindungen in den Menschen« (Kluge 2000: 157; Kapitale i. Orig.). Die Mitglieder bemerken schnell, dass sie selbst weder die Zeit haben, neue adäquate Gegenbilder zu erzeugen, noch die Öffentlichkeit, um sie zu verbreiten. Der Erzähler weist sie – fast großväterlich – darauf hin, dass sie die neu entstehenden Medien »im Schoße der DFF-Sender« unterschätzen. Sie verpassen die Chance, sich mit anderen kommunikativ zu vernetzen. Recht behalten Lesekreis-Mitglieder aber beim Thema ›Zeitverlust‹: Sie erkennen ein Missverhältnis zwischen dem Zeitmaß ihrer »Bearbeitung historischer Erfahrungen« und der Bedrängung des Augenblicks (Kluge 2000: 157). Es gibt eine »Inkongruenz des Subjektiven und Objektiven«, derentwegen die »Antworten der Menschen regelmäßig zu früh oder zu spät [kommen]; sie stehen selber in keinem Maßverhältnis zum Objektiven. Das ist der Grund, warum der revolutionäre Prozess in der Novemberrevolution 1918 ebenso wie in der Novemberrevolution 1989 das Weihnachtsfest nicht übersteht«, schreiben Negt und Kluge in Maßverhältnisse (Negt/Kluge 2001a: 699).

trinkt man, um zu vergessen. […] Was ist passiert? Was ist mir passiert? Jetzt kommt das Subjekt ins

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Man sieht leicht, dass die Probleme der Mitglieder des zwischenöffentlichen Lese-Kreises unter anderem aus den Mängeln passender Maßverhältnisse – vor allem in der Frage des politischen Gegenübers und in der des Zeitmaßes – resultieren. Angesichts dieser Situation werden die Fragen des Lese-Kreises nur grundsätzlicher, »schwieriger als DIE FRAGEN EINES LESENDEN ARBEITERS« (Kluge 2000: 158; Kapitale i. Orig.). Kein Kanon möglicher Antworten ist mehr präsent. Nichts weniger steht auf der Tagesordnung als die Revision jener Begriffe, die der Revolutionstheorie zugrunde liegen. »Was ist Front? Was ist Marxist? […]« usw. (ebd.). Das Projekt zeugt von einer komischen, fast naiven Haltung auf der einen und zugleich von einer ernsthaften und beharrlichen kritischen Bemühung auf der anderen Seite. Mehrmals liest man die in den Fußnoten enthaltene Forderung: »Leseliste anfertigen aus Originaltexten für nächste Woche« (Kluge 2000: 157f.). Kluges Panorama-Text schließt, bevor diese Arbeit getan ist. Eine Unterscheidung zwischen den theoretischen Grundlagenwerken des DDR-Sozialismus und ihrer praktischen Realisierung, von der man sagt, sie habe wenig mit den ersteren zu tun, wird auch in der letzten Geschichte des Kapitels Verweigerter Reisekostenersatz wieder hervorgehoben. Kurz vor dem Dezember-Parteitag der SED, auf dem das Politbüro zurücktrat, haben Auslandskundschafter der DDR in London siebzehn unbekannte Fragmente von Karl Marx, die auf einer Auktion in Mittelengland versteigert werden, in ihren Besitz genommen. Sie gingen davon aus, dass der Fund »noch entscheidenden Wert in der Krise der sozialistischen Republik« haben könnte (Kluge 2000: 304). Dieser Fund erinnert an die Entdeckung der Pariser Manuskripte Ende der 1920er Jahre, die einen gegenüber Kritik offenen Marx zeigen. Auch die jetzt gefundenen Fragmente präsentieren einen skeptischen Marx, der in Kluges fiktiver Anekdote, einen Text von Montaigne kommentierend, unter anderem beteuert, dass der verteidigende Kommandant einer belagerten Festung auf gar keinen Fall aufgeben sollte. Der Zweifel richtet sich gegen das Vertrauen zum Gegner. Ein Sekretär des Zentralkomitees hegt dabei keine Hoffnung, irgendeines der PolitbüroMitglieder für diesen Fund interessieren zu können, und weiß, dass »wir die Fragmente früher hätten finden müssen« (Kluge 2000: 305). So bleibt der Dienst der beiden Auslandskundschafter ohne Belohnung. Sie müssen für ihre Reisekosten selbst auf kommen. In seiner literarischen Bearbeitung der deutschen Wende stellt Kluge fest, dass die Texte vor allem des frühen Marx nicht von der historischen Erfahrung der DDR eingelöst wurden, dass sich ihr Entwurfscharakter und ihre orientierende Funktion aber in dieser Erfahrung zeige, wie z.B. im gefühlsmäßigen Ansatz einiger fiktiver

Spiel: Ich habe das Gefühl, daß man da nie rauskommt. & daß es immer weitergeht mit der Angst & der

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DDR-Protagonisten. Auch wenn Kluges Protagonisten in ihrer Naivität komisch erscheinen, so vertreten sie doch die in Negts und Kluges Theorie dargelegten Notwendigkeiten. Auch Negt und Kluge nehmen immer wieder Rekurs auf die Originaltexte als analytische Quelle und als uneingelöstes Programm, um Langzeitperspektiven zu entwickeln und gesellschaftlichen Inkongruenzerscheinungen auf den Grund zu gehen. In diesem Zusammenhang sind besonders die Erzählungen mit den Protagonisten in Verfallserscheinungen der Macht aufschlussreich. Geschichte produziert stets Reste: die uneingelösten Sehnsüchte der handelnden Subjekte. Die Protagonisten haben in der Praxis der Wende weder Zeit noch Gelegenheit, solchen Sehnsüchten Gehör zu verschaffen, bevor diese in der neuen (alten) Ordnung, d.h. von den Produktionsöffentlichkeiten (deren Summe ein Deutschland ergibt 3 ), verschluckt oder ausgegrenzt werden. In Nikolaus 1989 ist eine Marion Gellert bei der Betriebsfeier zu Gast und hält »ein Weiterleben von Ideen ›nach deren Tod‹ für möglich« (ebd.: 156). Das Weiterleben der Ideen; die sich nicht rentierende Reise nach London; »der ärztliche Dienst« (Kluge 2000: 167), der für einen Wirtschaftsfunktionär der DDR – der den Verkauf seiner Kenntnisse an den Westen verweigert und sich auf dem Weg zum Krankenhaus begibt, Schlimmes über seinen Gesundheitszustand ahnend – »als einziges vom Sozialismus bleibt« (ebd.): Diese Zeilen lassen sich alle auch im übertragenen Sinne lesen. Sie halten eigensinnig an einem zukunftsorientierten Entwurf fest, der gerade in der DDR-Realität verschwiegen und nicht eingelöst wurde. Die Grammatik der Revolution, wie eine weitere Geschichte des Kapitels nahe legt, ist zersplittert. Das bestätigt ein Mitarbeiter Gregor Gysis, der im Prater des Prenzlauer Bergs auf Sigrid trifft, die einen Text zur Revolution verfasst: »SIGRID: Revolutionen können mehr grammatische Formen entwickeln, als in einem Grammatiklehrbuch stehen? REENTS: Davon gehe ich aus. […] SIGRID: Gibt es den revolutionären Konjunktiv? […] Optativ? Wunschform? REENTS: Ist in der Revolution die Hauptsache. […] Wenn man Revolutionen untersucht […] stößt man auf 186 verschiedene grammatische Zustände, zum Teil sprachlich schwer zu fassen.« (Kluge 2000: 186) 3 | Der mittlere historische Teil von Geschichte und Eigensinn heißt »Deutschland als Produktionsöffentlichkeit«.

Einsamkeit, dem Saufen, den Bullen & der ganzen Scheiße. Ich glaube, man kommt da niemals raus. Sagt

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Der Passus ist beispielhaft für Kluges Anliegen, dem in Geschichte und Gegenwart versteckten revolutionären Potenzial nachzugehen, um mögliche Anknüpfungspunkte für subversives Verhalten zu bestimmen. Revolutionäre Energie fragmentiert sich in zellenartige Einzelteilchen, diese lagern als Rohstoff, für den es Maßverhältnisse wiederherzustellen gilt. Kluges erzählerische Verhandlung der Wendezeit befindet sich in Übereinstimmung mit seiner eigenen Theorie. In den Kurzprosatexten werden dazu durch ihre narrative Veranschaulichung die Gefühle – nicht zuletzt die der Lesenden – noch direkter angesprochen. Leicht wird es in der Tat nicht sein, die Fragen des Lese-Kreises neu und den neuen Zusammenhängen entsprechend zu beantworten, aber Negt und Kluges eigene Theorie liefert Richtlinien dafür. Dabei dient ihnen die Herstellung von an die Menschen angepassten demokratietauglichen Maßverhältnissen als Fluchtpunkt ihres politischen Interesses. Obwohl unklar bleibt, wie die abstrakten und komplizierten globalen Verhältnisse des 21. Jahrhunderts zu demokratiekonformen Maßverhältnissen entwickelt werden können, formulieren Negts und Kluges Richtlinien einen wichtigen Anspruch. Außerdem bestimmen sie die Beteuerung der ›Schwierigkeiten‹ als einen Teil der Ideologie des Realen, gegen die sie Einspruch erheben. Diese Arbeit resultiert aus ihrer Angst um das gänzliche Auf bröckeln des Gemeinwesens, für dessen Schutzbedürftigkeit und Rekonstitution sie in Maßverhältnisse des Politischen argumentieren.

Schlussbemerkung und Ausblick Die Feststellung der Fragmentierung revolutionärer Energie ermöglicht eine veränderte Perspektive auf revolutionäre Prozesse in der Geschichte. Negts und Kluges umfangreiche Theorie durchforscht Geschichte, um die vielfältige und vielschichtige menschliche Arbeit, die sich in ihr vollzieht, zu ergründen. Dabei interessieren sie sich für die Bedingungen, unter denen Geschichte einen anderen Ausgang nehmen könnte. Die vorgefundenen Ansätze von Protest und Auf begehren bilden einen Vorrat für alternative Steuerungsmöglichkeiten der Gesellschaft. Dabei ist der Rekurs, den sie auf Gefühle nehmen, sehr angebracht. Die Gefühle, deren Rolle oft unterschätzt wird, entstammen keinem Jenseits, sondern wachsen aus unserem gesellschaftlichen Leben heraus und beeinflussen unser eigenes Handeln in dieser Gesellschaft. Sie werden aber – man braucht nur die verstümmelten Gefühlsformen wie Angst oder Verletzbarkeit zu erwähnen – von der

der Skinhead. Aus all dem Unglück, dem Unsinn. (Weil er es nicht mehr aushält.) Ich träumte vom In-

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Politik in der ganzen Welt maßlos missbraucht. Sich dieser Situation stellend bieten Kluges Erzählungen keine Handlungsanweisungen an, sondern verweisen unterdessen, wie die gemeinsame ausgearbeitete Theorie von Negt und Kluge, immer auf den Lebenshorizont des Lesenden, damit er oder sie prüfe, was aus solchen Geschichten im Rückbezug auf das eigene Leben von Gebrauch sein könnte. Damit es nicht dabei bleibt, macht sich Kluge auf eine literarische Entdeckungsreise nach dem verschütteten revolutionären Potenzial in Geschichte, Gegenwart und Sprache. Im Gegensatz zu Adorno, der moderne Kunst an die Negation bindet, stellt Kluge dieses Potenzial in literarischer Textgestalt aus, um es zu retten. In solch verminderter Form können gesellschaftsverändernde Perspektiven aufrechterhalten werden. Man kann durchaus darüber diskutieren, ob ein solches Unternehmen in dieser Form nötig oder hilfreich ist. Kluges oft in ihrem Antagonismus gegenpolig erscheinende Theorie wird zuweilen einer altlinken Romantik bezichtigt. Will man aber die fortbestehende Antagonismen in Gesellschaft und Gegenwart nicht zur Kenntnis nehmen, arbeitet man der Religion der Realität vor. Ohne gesellschaftstheoretische Beurteilungsmaßstäbe bleibt wenig ersichtlich, weshalb emphatisch verstandene Subversion überhaupt betrieben werden sollte. Vielleicht braucht es in der Tat keine solche Begründung, es gibt auf jeden Fall Formen von Subversion, die auf eine umfassende Theorie der Gesellschaft verzichten. Performativen und dekonstruktivistischen Verfahren wird oft Subversionskraft zugewiesen, ohne dass man ihnen gleichzeitig auch die Intention zuschriebe, eine politisch wirksame Funktion ausüben zu wollen. Produktiv setzen sich solche Formen der Subversion auf jeden Fall von ›alteuropäisch‹ anmutenden intentional gesteuerten Strategien ab – auch Kluges eigene Geschichten kritisieren die Unzulänglichkeit intentionsbegründeter Praxen. Negt und Kluge würden aber vermutlich einen Subversionsbegriff bemängeln, der sich politischer Strategien bzw. Motivationen zu entledigen oder sie zu verleugnen sucht. Subversion ohne gesellschaftstheoretische Verankerung bzw. politische Vorstellungskraft kommt stets in die Gefahr, zu verblassen oder hohler Effekt einer desorientierten Spätmoderne zu sein. Meines Erachtens ist eine sozialtheoretisch orientierte Kunst bestens dazu geeignet, unserem Bedürfnis an haltbaren Oppositionen im Ansatz entgegenzukommen und die Gestaltung gegenläufiger Wünsche zu erleichtern – auf eine Art, für die Adornos Theorie nur einen Impuls liefert, ohne aber konkrete Gestaltungsmöglichkeiten zu bieten. Solange Theorie und Praxis sich nicht in einem hierarchischen Verhältnis befinden, solange keine Bevorzugung der Epistemologie, in der sich Theorie keineswegs erschöpft, besteht, und man sich wahrhaft

die-Fresse-Schlagen. Ich trank aus der Flasche, in die ich vorhin gekotzt hatte. Von der Brücke am

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zwischen Theorie und Praxis hin und her bewegt, können sie einander auch in ihrer Differenz befruchten. Letztendlich ist der Begriff der Subversion für die literarische Arbeit Kluges, die ich dargestellt habe, untauglich, es sei denn, er bezeichnet genau die Art von Gegenproduktion, die durch die Herstellung von literarischer Zwischenöffentlichkeit als Subversionsraum das Verschwinden von Handlungsräumen zum Halten bringt bzw. diese Räume sogar vergrößert und die Gestaltung der Gefühle in Richtung politischer Selbstbestimmung erlaubt und unterstützt.

Literatur Adorno, Theodor W. (1997a): Negative Dialektik. In: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, 20 Bände, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1997b): Ästhetische Theorie. In: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, 20 Bände, Bd. 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kluge, Alexander (1975): Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kluge, Alexander (1996): Ich bin ein Landvermesser. Gespräche mit Heiner Müller. Neue Folge, Hamburg: Rotbuch. Kluge, Alexander (2000): Chronik der Gefühle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kluge, Alexander (2003): Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Müller, Harro (2005): »Authentisch/Authentizität«. In: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7, Stuttgart: Metzler, S. 40–65. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1992): Maßverhältnisse des Politischen: 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (2001a): »Maßverhältnisse des Politischen. Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen«. In: Oskar Negt/Alexander Kluge (2001), Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (2001b): »Geschichte und Eigensinn«. In: Oskar Negt/Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins. Roberts, David (1991): Art and Enlightenment. Aesthetic Theory after Adorno, Lincoln: University of Nebraska.

Die Arbeit, die dem Text zugrunde liegt, wurde mit Unterstützung des Berlin Program for Advanced German and European Studies der Freien Universität Berlin geleistet. Die alleinige inhaltliche Verantwortung liegt

Bahnhof pinkelte ich runter auf die Idioten. (Eine alltägliche, nächtliche Praxis.) Unter dir die Scheiße

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

beim Autor. (Es wird in keiner Weise die Meinung der Freien Universität wiedergegeben.)

& der Müll, der Alltag. & ich pinkelte runter auf die Idioten. An so einem Abend war das scheißegal.

…von der Sehnsucht nach Widerständigkeit oder: How to suceed in Business without really tryin’ it! Armin Chodzinski

Abb. 1: Ohne Titel. Wien, 2001 Abb. 2/3: Maßnahmen zur Kulturalisierung der Hafencity Hamburg I und VI – Baugrube SAP. Hamburg, 2001 Abb. 4: Ohne Titel. Wien, 2001 Abb. 5: Incentive III. Rhodos, 2002 Abb. 6: Dienstreise. Donautal, 2001 Abb. 7: Betriebsfeier. Hamburg, 2001 Abb. 8: Workshop-Pause. Frankfurt, 2002 Abb. 9: Incentive III. Rhodos, 2002

Mitten im Schreck. In dem Bewußtsein, in keinem Bereich Herr über die eigene Tätigkeit, das eigene Leben

zu sein. Mitten in der Schreibarbeit. Mit Hilfe anonymer Zitate. Anonymer Zitate & entwendeter Texte.

Aufs Papier geworfener oder geklebter Zitate, gekürzt, zerschnippelt, zerknüllt, wiederaufgenommen. Aus

literarischen Texten, Groschenromanen & manchmal wer weiß woher. Hier wird ein Scheißdreck wieder

»ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN ! « Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch Natalie Bloch

René Pollesch gilt seit einigen Jahren als einer der ›wichtigsten‹ zeitgenössischen Theatermacher,1 auch weil er sich radikal vom so genannten Repräsentationstheater verabschiedet hat, das bis heute die gängigen Vorstellungen von Theater speist. Das jahrhundertealte Repräsentationstheater, das auf der Darstellung einer zweiten Welt beruht, lebt nach Pollesch von der Lesbarkeit und der Kommunizierbarkeit der dargestellten Bilder und Geschichten. Es verhandelt die Themen, die gerade aktuell sind (egal ob in Uraufführungen oder Klassikern) unter den herrschenden und selbstverständlich gewordenen Normen und Sichtweisen. Mit »unserer momentanen zufälligen Existenz auf der Bühne« (Hegemann 2005: 3) und mit dem, was Pollesch und seine Schauspieler bewegt, haben sie nichts zu tun (Hegemann 2005: 7). Pollesch hat daher eine eigene Theaterpraxis entwickelt, in der er eine »ungesicherte Kommunikation« (Hegemann 2005: 7) herstellen und Themen verhandeln will, »die sich noch nicht als Themen ausgewiesen haben« (Hegemann 2005: 7). Wird von der Sprache und den szenischen Mitteln des Theatermachers René Pollesch gesprochen, so kommt die Rede in Sekundärliteratur und Presse stets auf den zumeist nicht näher spezifizierten 1 | Pollesch erhielt für Teil 8–10 der Theaterserie world wide web-slums den Mülheimer Dramatikerpreis 2001 ebenso 2006 für Cappuccetto Rosso zusammen mit dem Publikumspreis. Für seine Prater-Trilogie wurde er in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Dramatiker des Jahres 2002 gewählt.

abgezogen, das ist sagenhaft. Unter dem Einfluß des Alkohols. Mitten im Schreck. Angesichts von soviel

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Begriff der Subversion. 2 Tatsächlich verwendet und thematisiert Pollesch in seinen Theatertexten und seiner Theaterpraxis ästhetische Verfahren, die mit subversiven Motiven korrespondieren, wie sie Diederichsen in seinem Aufsatz »Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz« (1993) anführt. Diederichsen stellt darin fest, dass der Begriff der Subversion zwar aus der Mode gekommen sei (im Gegensatz dazu scheint er zur Zeit hochaktuell zu sein), aber seine »strategische und taktische Implikation immer noch Perspektive und Selbstverständnis derjenigen Künstler bestimmen, die den Bezug auf die Welt, das Reale oder die Geschichte noch nicht aufgegeben haben« (Diederichsen 1993: 33). Nach Diederichsen ist Subversion ein auf eine bewusste Taktik und Strategie gerichteter Unterbegriff von Dissidenz und damit eine uneinverstandene Handlungsform, die »nicht identisch mit dem Ganzen« ist (Diederichsen 1991: 34), sich aber gleichwohl der Mittel der Herrschenden bedient, also im Gestus des »Als-Ob« operiert. Eine bewusste Distanz bspw. zur bürgerlichen Theorie und Ästhetik sowie zur Praxis und Politik der Herrschenden geht dieser Haltung voran. Zentrales Merkmal des aus dem Militärischen stammenden Begriffs der Subversion sieht Diederichsen demnach darin, dass diese Strategie für den Feind nicht erkennbar ist, sich ihm als konsistente Lesart anbietet und, wie erwähnt, als Strategie bewusst gewählt und verwendet wird. Diederichsen nennt hier verschiedene Techniken, die sich mit einer Subversion reklamierenden, künstlerischen Praxis decken. Anhand von Textauszügen aus drei Pollesch-Stücken (Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr 1998, Sex 2002, Cappuccetto rosso 2005) möchte ich unter theaterästhetischer Perspektive3 einen Blick auf Polleschs Umgang mit folgenden von Diedrichsen als subversiv bezeichneten Motiven richten: die Auflösung und Zersetzung des Textes, die Affirmation oder Scheinaffirmation und die Kategorie der Komplizierung. Dabei soll es jedoch nicht nur darum gehen, wie die theoretischen Vorgaben Diederichsens ihre Anwendung oder Modifikationen in der Theaterpraxis Polleschs finden, sondern auch darum, welche Aussagen sich in der 2 | Carl Hegemann (2005: 10) sagt bspw. in einem Interview mit Pollesch: »Auch dein Theater affirmiert die Gegenwart, indem es sie in einem kleinen Bereich subversiv unterläuft.« Zu Polleschs Inszenierung von Pablo in der Plusfiliale äußert sich Göpfert (2004) ein wenig ironisch: »In all das Privat-, Polit- und Ökonomiegeschwatze ist selbstredend und subversiv ein Unbehagen an der sozialpolitischen Realität und ihren aktuellen Veränderungen eingeschleust.« 3 | D.h., die spezifische Theaterpraxis Polleschs, ihre szenischen Verfahren, werden in die Untersuchung einbezogen.

Blödsinn & Gemeinheit. Kann man sich natürlich jeden Tag besaufen. Fluchtlinien entwerfen. Aber Flucht

Natalie Bloch »ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!«

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theatralen Transposition dieser Verfahren über die Situation des Subjekts und seine Handlungsfähigkeit in der Gegenwart treffen lassen. Der Begriff der Subversion wird im Folgenden also nicht in einer weit gefassten Bedeutung verwendet (wie sie durch Presse und Feuilleton mäandert), das heißt, er wird nicht auf einen wie auch immer gearteten kritischen Bezug auf die Welt, das Reale ausgeweitet werden, quasi als Bezeichnung einer letzten Form von politischem Widerstand. Damit ist keinesfalls gemeint, dass kein Widerstand mehr möglich ist, dieser wird lediglich nur unter den oben genannten Bedingungen als ›subversiv‹ begriffen. Ich werde den Begriff der Subversion, Diederichsens folgend, im engeren Sinne fassen und darauf auf bauend fragen, ob Pollesch als subversiver Autor bezeichnet werden kann. Meine These ist, dass die szenischen und textuellen Verfahren Polleschs nur bedingt subversive ›Funktionen‹ übernehmen, denn es kommt ihnen weniger eine unterminierende strategische Bedeutung (im Sinne der Subversion) als vielmehr eine zeigende und demonstrative Funktion im Sinne Brechts zu, die ich anschließend erläutern werde. Für diese Arbeit ist besonders interessant, dass sich die Theaterstrategien Polleschs gegen das Repräsentationstheater zu Wehr setzen. Diese Ablehnung rückt Polleschs Theaterkonzept in die Nähe des sogenannten postdramatischen Theaters nach Lehmann (1999), 4 ebenso eröffnet es eine Bezugslinie zum epischen Theater Brechts. Um erörtern zu können, inwieweit sich in Polleschs Theaterpraxis Berührungspunkte zu dieser oder jener theatralen Diskursform feststellen lassen, soll hier zunächst die Theaterpraxis Polleschs kurz umrissen werden.5

Das Theater von René Pollesch Polleschs Erfolgsserie begann 1998, seitdem inszeniert er an den renommiertesten Häusern im deutschsprachigen Raum. Die Stücke 4 | Lehmann entwickelt seine Beschreibungskategorien in erster Linie für eine Aufführungsanalyse, sieht allerdings parallel dazu die gleichen Abwendungen von der dramatischen Form in Theatertexten, insbesondere auch bei denen bis dato mit dem Etikett ›postmodern‹ versehenen Autor/-innen Heiner Müller und Elfriede Jelinek (Lehmann 1999: 29). 5 | Auch wenn die im Folgenden dargestellte Strategie Polleschs auf viele seiner Abende zutrifft, so existieren auch hier natürlich Ausnahmen. In Cappuccetto Rosso lassen sich Ansätze von Figuren und Handlung erkennen, was in der Presse schon die Vermutung auf kommen ließ, Pollesch würde sich nun dem Repräsentationstheater zuwenden.

kann es nicht geben. Die wirklichen Alternativen sind verdunkelt. Der Rausch ersetzt die Revolution.

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entstehen in Zusammenarbeit mit den Schauspielern und aus diesem Grund verweigert Pollesch auch die Erlaubnis seine Stücke nachzuspielen, da sich dieser Probenprozess im Endprodukt ausdrücke und nicht übertragbar sei.6 Es liegt also kein von der Aufführung losgelöster Theatertext vor, der jenseits dieser Bestand hätte. Seine Theaterproduktionen tauchen stets in einen riesigen immanenten Pollesch-Kosmos ein, der nach bestimmten Regeln funktioniert. Die grotesk-hysterischen Serien und Theater-Soaps scheinen auf den ersten Blick das Serienformat des Fernsehens zu adaptieren: »gerne treten sie in Serien und Rudeln auf und nicht immer muss man Teil eins kennen, um sich über Teil zwei diskutierend amüsieren zu können« (Diederichsen 2002: 57).7 Doch das Serienformat und der Medienbezug, die sich häufig schon in den Titeln ausdrücken (World Wide Web-Slums 1–10, No-Soap, Splatterboulevard, Snuff-Comedy) bringen nicht Fernsehen auf die Bühne, sondern nach Birgit Lengers (2004: 150) handelt es sich hier »um eine subversive mediale Maskierung«. Tatsächlich ließe sich in der Polleschen Adaption und Verfremdung von Medienformaten ein Motiv der Subversion im Sinne Diederichsens (1991: 36) feststellen, das dieser als den »Fall der inneren Zersetzung« bezeichnet. Pollesch führt nämlich die Allianz von Vorabend-Trash und Bürgertum vor, indem er die von der Serie transportierten Vorstellungen, auf die er sich bezieht und die aufs deutlichste das bürgerliche Geschichtsbewusstsein abbilden – wie teleologisch fortschreitende Handlung, individuell handlungsfähige Akteure, überschaubare Geschichten und Fatalismus – radikal negiert. Die Serie als ›seichte‹ Abendunterhaltung wird bei Pollesch intellektuell angereichert und in neue Wahrnehmungsbereiche verschoben, bei gleichzeitiger Beibehaltung ihres trashigen Charakters. Zum einen verarbeitet Pollesch in seinen Serienfolgen soziologisches Theoriematerial, das er immer an seine Darsteller/-innen bindet (wie zum Beispiel Theoreme der Gender-Debatte und Theorien zur Ökonomie der Erlebnis- und Dienstleistungsgesellschaft). Die Darsteller/-innen versuchen, diese Theoreme auf ihre eigene Situation zu übertragen und sich mit ihnen in ihrem Leben zu orientieren.8 Zum anderen bricht 6 | Als Ausnahmen sind mir Teil 2–4 der Prater-Saga (2005) bekannt: Twopence-Twopence und die Voodoothek (Teil 2) wurde von Jan Ritsema inszeniert, In diesem Kiez ist der Teufel los (Teil 3) von Gob Squad und Diabolo. Schade, dass er der Teufel ist (Teil 4) von Stefan Pucher. 7 | Man kann jederzeit in eine dieser Soaps einsteigen, chronologische Zusammenhänge und fortschreitende Entwicklungen existieren nicht. 8 | Die Schauspielerin Caroline Peters, die seit vielen Jahren mit Pollesch arbeitet, sagte mir im Interview auf die Frage, was sie an der Zusammenarbeit

Bekanntlich trinkt man, um zu vergessen. & so kann Alkoholismus als Avantgardetechnik beschrieben

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Pollesch mit jeglicher individualisierenden Spiel- und Sprechweise, was deutlich in eine Linie zu Brechts Verfremdungseffekt gestellt werden kann: Der Text wird zumeist in gleichbleibendem Tonfall und in rasendem Tempo auf Anschluss gesprochen, einzelne in Versalien gedruckte Textpassagen werden geschrieen9 : »ein entsubjektiviertes Sprech-Theater, in dem speech und speed zusammenfallen wie im Denken auf Drogen. Keine Dialoge zwischen den Charakteren auch keine Monologe, sondern mit sich selbst dialogisierende Sprache: Diskurstheater.« (Karschnia 2006) Häufig wird eine Trennung von Text- und Aktionsebene vollzogen. Während der Text zumeist ohne irgendein ihn begleitendes körperliches Handeln gesprochen wird, wird in sogenannten Clips, welche die Stücke schon rein optisch segmentieren (und die den musikalischen Bezug schon im Wort tragen) eine Spielebene eingezogen, die immer wieder improvisiert zu sein scheint.10 Die hier vollzogenen Aktionen sind verzweifelt sinnlos, erinnern an Übersprungshandlungen und sind absurd und komisch, man spielt bspw. Schafe auf der Alm in Heidi Hoh oder schleudert Platten oder Bücher durch die Gegend.

Zwischen Postdramatik und epischem Theater Die Trennung bzw. Isolierung der theatralischen Ebenen korrespondiert mit den Theaterzeichen, die Lehmann (1999) für das postdramatische Theater anführt und die den Fokus vom Dargestellten auf die Form der Darstellung verschieben (vgl. Poschmann 1997: 8f.). Wie gezeigt, gilt für Polleschs Theatertexte, dass sie mit konventionellen dramatischen Strukturen11 und szenischen Verfahren – und mit Pollesch schätze: »Dass man mit ihm und den anderen Schauspielern über Dinge redet, die man liest oder erlebt, unter denen man vielleicht leidet und dass diese Dinge einem dann in den Texten wieder begegnen. Und das alles immer als ein verzweifelter, verteufelter Witz« (Peters 2006: 1). 9 | Allerdings gibt es auch Polleschabende, an denen nicht oder kaum geschrieen und mitunter auch geflüstert wird, wie bspw. in Soylent Green (2003). 10 | Denn häufig gibt es keine Angaben, wie der Clip auszusehen hat. 11 | Pfister (1988: 22) entwickelt ein Kommunikationsmodell für dramatische Texte, das ausgehend von der ›Absolutheit‹ eines dramatischen Textes gegenüber Autor und Publikum zwar hinsichtlich ›episierender‹ Tendenzen eingeschränkt wird, immer aber an der Definition des Dramas als ›gesprochener Handlung‹ festhält, in der die fiktive Sprechsituation »situativ gebunden« (Pfister 1988: 24) ist.

werden, wirkt doch der Alkohol als auflösendes Medium von Erinnerung & Kunst. Denn bekanntlich trinkt

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hier treffen sie auf die Stilmittel des postdramatischen Theaters – konsequent brechen: Auf einen erkennbaren Fabelverlauf, psychologische Charaktere und eine klare Handlung wird verzichtet. Das postdramatische Theater »will oft keine andere Wirklichkeit mehr zeigen, sondern in erster Linie, wie Jens Roselt sagt, eine Situation schaffen, die selbst wirklich ist« (Malzacher 2006: 26). Auch attestiert Lehmann (1999: 262) dem postdramatischen Theater nicht ein schlichtes ›gegen den Text sein‹, sondern eine »Öffnung des Textes, seiner Logik und seiner zwanghaften Architektur«, welche den Verknüpfungen verschiedenster Sprach- und Spielebenen in Polleschs Theater zu entsprechen scheinen. Diese Übereinstimmungen bleiben jedoch stilistischer Art, denn Pollesch verfolgt Absichten und Zwecke, die dem postdramatischen Theater entgegenstehen, das Lehmann immer wieder mit Begriffen wie »Ritual« (Lehmann 1999: 96), »Zeremonie« (Lehmann 1999: 116), »Intensität« (Lehmann 1999: 364), mit »magischen Bildern« (Lehmann 1999: 110), sogar mit »Metaphysik« (Lehmann 1999: 106) in der Tradition Artauds in Verbindung bringt. Tatsächlich lässt sich anhand der Theaterpraxis Polleschs konstatieren, dass sie den postdramatischen Verzicht auf das Thematisieren (von Welt) nicht mit vollzieht. Der Bruch mit den Grundgegebenheiten des Theaters und den Konventionen des Dramas zielt bei Pollesch nie auf ›Autonomie‹ im Sinne einer Parallelwelt wie die ›neue‹ Theaterrealität, die Lehmann ins Auge fasst und die nicht mehr ein »wie immer auch verfeinerter, verdichteter, artistisch geformter Widergänger […], das Double einer anderen Realität« sein will (Lehmann 1999: 54). Immer geht es Pollesch um ›die‹ Welt, die er und seine Schauspieler/-innen erleben, um ihre Realität, die in einem Widerspruch zu dem steht oder in eine Verstrickung zu dem gerät, was gemeinhin als Welt gilt. Verständlich, dass der theatralen Diskursform des Postdramatischen oft vorgeworfen wird, dass das Politische fehle, denn Auf klärung, Moral und Verantwortung scheinen hier nicht zu existieren (Lehmann 2002: 16). Doch Lehmann siedelt das Politische gerade in dieser »Unterbrechung des Politischen« an: »Das Politische kommt im Theater zum Tragen, wenn und nur wenn es gerade auf keine Weise übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik, Syntax und Begrifflichkeit des politischen Diskurses in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. […] Nur die Unterbrechung des Regelhaften gibt die Regel zu sehen« (Lehmann 2002: 17). Theatertexte von Autor/-innen wie Elfriede Jelinek, die mit konventionellen Strukturen radikal brechen, zielen häufig auf eine solche Unterbrechung des Regelhaften, auf eine »Durchbrechung des Reiz-

man ja, um zu vergessen. Kann es passieren, daß einem das Trinken nur sehr wenig Zeit zum Schreiben

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schutzes« (Schößler 2004: 28),12 um einen politischen Gegenwartsbefund zu liefern. Die These Lehmanns, das Dargestellte müsse in den herrschenden Diskurs unübersetzbar sein, mündet allerdings auch trotz dieses scheinbar rebellisch anmutenden Wahrnehmungsschocks häufig in einem »selbstbezüglichen Spiel der Zeichen« (Lehmann 1999: 116), denn wie sollen sie sich in konkrete Zusammenhänge übertragen lassen oder an die Erfahrungen des Einzelnen anschließen? Auch hier scheinen sich die beiden Ebenen – herrschender Diskurs und ästhetischer Ausbruch – berührungslos gegenüberzustehen. Pollesch bezieht sich im Gegenzug dazu (mit seinen sich mit postdramatischen Stilmitteln häufig deckenden ästhetischen Verfahren) dezidiert auf eine Lebensund Arbeitswelt und kreist um die Themen der Orientierungslosigkeit und Überforderung des Menschen in Zeiten der scheinbaren Freiheit des Konsums und der Demokratie, in einem komplizierten und undurchsichtigen Kosmos der Technik und Globalisierung. Ein Gegner ist in dieser Gesellschaft kaum zu lokalisieren: Mit dem Chef ist man entweder ›per Du‹ oder man ist es selbst, das Ich ist in multiple Instanzen zerfallen und Selbst- und Beziehungsmanagement sind multimedial vermittelt und wissenschaftlich begründet, ersetzen Traditionen und Familien. Dementsprechend gibt es im Theater Polleschs auch kein fiktionales Außen mehr, die Darsteller stehen keiner Handlung, Figur, Geschichte mehr gegenüber, die sie auf eine wie auch immer geartete Weise darstellen können. Der Bezug zum Außen schleicht sich allerdings durch die Hintertür wieder ein, nämlich darin, wie sich dieses ›Außen‹ im »Eigenmaterial«, d.h. im Einzelnen, spiegelt/ausprägt (vgl. Theater heute Jahrbuch 1999: 51). Dieses Verfahren scheint dazu zu führen, dass das Theater Polleschs immer wieder als subversiv bezeichnet wird. Durch das Einbringen des ›Eigenmaterials‹ der Darsteller/-innen (dessen, was der oder die Einzelne an Wünschen und Erfahrungen mitbringt) kann Pollesch keinesfalls unter den Verdacht geraten »allzu folgsam nachzuplappern, was öffentlich, medial, im schablonisierten Diskurs als ›politisch‹ qualifiziert wurde« (Lehmann 2002: 12). Als ein Theater im Sinne des Agitprop lässt sich sein Theater also keineswegs beschreiben, andererseits versucht es aber auch nicht, eine neue, nach anderen Gesetzen funktionierende Gegenwelt, zu schaffen, wie Lehmann (2002: 7) es für das ›Politische‹ des postdramatischen Theaters postuliert. 12 | Schößler bezieht sich hier auf das Theater von Elfriede Jelinek, das versuche, »durch den Schock, durch die Suspension alltäglicher Erklärungsmuster den Reizschutz der Erinnerung, die Deckgeschichten des Alltagsbewusstseins zu durchbrechen (Schößler 2004: 28).

läßt, was ja vielleicht auch gut ist. Da man lange getrunken haben muß, bis einem etwas wirklich Her-

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Ebenso wie Brecht, der vom politischen Denken forderte, dass es »plumpes Denken« sein müsse (zit.n. Lehnmann 2002: 7), hat Pollesch dieses Problem gekonnt gelöst, indem er eine eigene ästhetische Form entwickelt hat. Brechts episches Theater passte ziemlich genau zu seinem politischen Ansatz, das den neuen Menschen ja erst herausbilden sollte, ein Prozess zu dem der Zuschauer über den Weg der Reflexion angestoßen werden musste. Die gebrochene, simultane Wahrnehmung die Brecht durch die Trennung der theatralen Ebenen und diverse Verfremdungseffekte einführte, hat eine gänzlich andere Funktion als die des postdramatischen bei Lehmann (1999). Es geht darum, ein kritisches Bewusstsein beim Zuschauer zu schaffen, weshalb sich meines Erachtens ein Bezug Polleschs zu Brecht und nicht zum postdramatischen Theater herstellen lässt. Polleschs Separierung der verschiedenen Ebenen dient nicht der Herstellung eines in sich geschlossenen Wahrnehmungs- und Rezeptionskosmos wie im postdramatischen Theater, sondern bezieht sich explizit auf eine Lebens- und Arbeitswelt – ebenso wie das Theater Brechts.13 In Brechts epischem Theater wird in dem Auseinanderdriften von Sprache und Gestus, das Sprechen als Ideologie, Attitüde oder in zeitgemäß soziologischem Vokabular als Habitus entlarvt. Brecht fokussiert nicht auf das Fremde, sondern auf das Eigene, das selbstverständlich gewordene, das mit einem fremden Blick wahrgenommen werden soll. Polleschs Theaterabende erhalten ebenfalls durch die szenischen Verfremdungsverfahren eine Zeigefunktion, welche die ökonomischen Prozesse mit ihren Zwängen ausstellen und zum Thema haben, man könnte hier davon sprechen, dass die Ökonomie des Individuellen in dekonstruierender Weise vorgeführt wird. Frank M. Raddatz spricht in einem Gespräch mit Pollesch von einer »Dekonstruktion des Subjekts«, die er als Fortsetzung der Montagetechnik Brechts (welche die Verfremdung der Wahrnehmung über bestimmte Montage- und Zeigetechniken meint) sieht (vgl. Pollesch 2007: 198). Pollesch bestätigt, es gehe ihm darum, dass sich der- bzw. diejenige auf der Bühne mit seiner/ihrer 13 | Lehmann (1999: 48) ordnet das Theater Brechts nicht dem postdramatischen Theater zu, da Brecht die Fabel ins Zentrum seines Theaters stellte: »Das postdramatische Theater ist ein post-brechtisches Theater. Es situiert sich in einem Raum, den die Brechtschen Fragen nach Präsenz und Bewusstheit des Vorgangs der Darstellung im Dargestellten und seine Frage nach einer neuen ›Zuschaukunst‹ eröffnet haben. Zugleich lässt es den politischen Stil, die Tendenz zur Dogmatisierung und die Emphase des Rationalen im Brechttheater hinter sich, steht in einer Zeit nach der autoritativen Geltung von Brechts Theaterkonzept.«

vorragendes einfällt. Denn alles, was zur Zeit gedruckt wird, ist voll & ganz dem kleinbürgerlichen Geist

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Subjektivität auseinandersetze und nicht mit einer vorgegebenen Rolle und dabei um die Frage, »wie kommt diese Konstruktion zustande, dass wir diese Verabredungen für uns selbst halten, für unseren freien Willen, für das, was wir sind und wollen?« (Pollesch 2007: 197)

Affirmation und Kommunikationsverweigerung in Zeiten der ökonomischen Durchdringung des Menschen Als subversive Strategie nennt Diederichsen die Scheinaffirmation, das heißt die scheinbare Affirmation bestehender Verhältnisse oder Verfahren bei ihrer gleichzeitigen ironischen Brechung. Inwieweit die von Polleschs Darsteller/-innen betriebene Affirmation gebrochen oder ironisch ist, soll im Folgenden untersucht werden. Die Frage, was der Mensch in Zeiten seiner umfassenden ökonomischen Ausbeutung noch ist oder sein kann, steht im Zentrum der Theatertexte Polleschs (vgl. auch Meyer-Gosau 2003: 10). Doch das mit Haut und Haar vernutzte und verwertete, durch Diskurse und Sprechweisen gebeutelte Restsubjekt scheint bei Pollesch kaum eine andere Wahl zu haben, als die ihm auferlegte Subjektivität entweder zu affirmieren oder die Kommunikation zu verweigern, ein Sachverhalt, den die Pollesch-Spieler/-innen als ihr Hauptproblem benennen und gegen den sie protestieren. So klagt Inga in »Sex«: »In Arbeitsverhältnissen, in denen marktfähige Subjektivität das Produkt ist, ist es irgendwie mehr Arbeit, nicht offen zu sein, weil damit gleichzeitig die eigene Person abgewertet wird. Das sieht irgendwie nicht gut aus, wenn ich das, was meine Subjektivität ist, nicht kann oder verweigere. Das ist so eine anstrengende Arbeit. Aber die muss gemacht werden!: ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!« (S 65)

Hier wird klargestellt: Die Position des sich autonom dünkenden Subjekts ist vom Markt generiert, Subjektivität wird über ihn erzeugt und von ihm sanktioniert. Ebenso wie die Geschlechterkategorien und Rollenzuweisungen: Sophie: Sex ist bezahlbar. Und das kaufst du hier, Sex in diesem Bordell. Caroline: Und da wird Subjektivität als Mann oder Frau verkauft. Inga: Obwohl du Subjektivität als Mann oder Frau GESCHENKT BEKOMMST! Und wie immer bekommt man etwas geschenkt, was man nicht HABEN WILL! (S 65)

verpflichtet. & es ist immer noch nicht Schluß mit diesen Schweinereien. (Hybride Identitäten, flexible

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Wie so häufig bei Pollesch explizieren die Sprecher/-innen mit erstaunlicher Klarheit die Ausweglosigkeit ihrer Situation und damit ihre unausweichliche Affirmation, gegen die sie wiederum protestieren. Affirmation ist also kein ästhetisch-subversives Verfahren, das den Frauen zur Verfügung steht, sondern Resultat ihrer Zwangslage, gegen die sie sich wehren, indem sie diesen Zusammenhang benennen. Die Darsteller/-innen wollen auf keinen Fall das, was Diederichsen (1993: 38) als Beweggrund für die Affirmation anführt, nämlich »grenzenloses Einverständnis mit der Machtausübung zu verkünden, denn dass die Scheiße mit sich selbst identisch bleibt, ist ihr mehr Grund zur Freude als wenn sie durch den Dialog mit Oppositionellen die Gelegenheit bekommt, sich selbst als reformfreudig zu inszenieren.« Polleschs Darsteller/-innen schreien stattdessen »ICH WILL DIESES LEBEN NICHT MEHR FÜHRN!« (H 61). Damit sind sie natürlich auch keine Oppositionellen, zu brüllen ist lediglich das Einzige, was ihnen noch an Widerstandsmöglichkeit geblieben ist. Eine weitere subversive Strategie, die diskutiert, aber nicht angewendet wird, ist die der Kommunikationsverweigerung. Jede Form von Kommunikation oder, im Falle Ingas, von »Offenheit« bezüglich ihrer Subjektivität ist paradoxerweise »nicht möglich, weil sie sich nicht auf dieselben moralischen und kommunikativen Grundlagen festlegen kann, die der Macht zugrunde liegen« (Diederichsen 1993: 38). Logisch ist als Reaktion auf dieses Dilemma sowohl für die subversive Strategie als auch für Inga, die Kommunikationsverweigerung (Inga: ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!).14 Die Erwägung der Kommunikationsverweigerung wird in Cappuccetto Rosso variiert, hier geht es um die mediale Verarbeitung des Holocausts im Eichinger Film Der Untergang und ihre Auswirkungen auf die persönlichen Erfahrungen der Sprecherin: »Also die ganze selbst erarbeitete Auf klärung meiner Jugend soll nur dazu dienen und gedient haben, das Nazipersonal entschlüsseln zu können, mit dem Eichinger Geld verdient? Diese Erfahrung, die ich für mich halte, macht der jetzt zu Geld. Diese ganze Entschlüsselung des Naziparks. Dann wäre es doch besser gewesen die ganzen Täter zu vergessen. So dass mit 14 | Und auch Diederichsen (1993: 39) stellt fest, dass »mit der Technologisierung von Kommunikation und Transparenz, durch die fortschreitend besser gelingende Zusammenarbeit von Soziologie und Polizeiwissenschaften und der Verbreitung der Erkenntnisse beider Disziplinen durch die Medienmacht« Kommunikationsverweigerung der einzige Ausweg zu sein scheint.

Hierarchien.) Es ist alles so, wie es immer sein wird & wie es immer schon sein hätte sollen. (Mimikry,

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ihnen kein Geld mehr zu verdienen ist. Den ganzen Holocaust vergessen.« (C, o. Seitenangabe)

Vergessen scheint hier funktional das Gleiche zu sein wie die Kommunikationsverweigerung, denn die mediale Vermarktung des Holocausts bedient sich der Sozialisation des oder der Einzelnen, beutet ihre oder seine Erfahrungen aus und dockt an diese ihre Nazi-Angebote an und kann – möglicherweise – nur im Versuch des Vergessens ausgebootet werden. Doch wird diese subversive Strategie nur erwogen, da sie, wie auch Diederichsen klarmacht, in einer elitären Abschottung münden muss. Ein Grund, warum sie auch bei Pollesch munter weiter reden.

Der Widerstand des Restsubjekts (kommt also aus einer anderen Ecke) Pollesch verweist auf Widerstandspotenzial, auch wenn er dafür keine subversiven Praktiken reklamiert. Der renitente Rest, der hier schreit, was er nicht möchte (»ICH WILL DIESES LEBEN NICHT MEHR FÜHRN!« [H 61]) und sich in sinnlosen Aktionen ausagiert, deutet auf ein Restsubjekt, das vehement versucht, sich in den komplexen diskursiven Vorgängigkeiten zu orientieren. Obwohl an Körpercomputer angeschlossen, durch Diskurse und Sprechweisen gebeutelt 15 geht das Subjekt nicht in diesen Verhältnissen unter, denn es kann immerhin noch im Versuch des Anschlusses und der Übersetzung der gegenkulturellen Theorien auf die eigene Lage (vgl. Diederichsen 2003: 59) die Lautstärke aufdrehen und lauthals protestieren (was im Theaterraum oft sehr komisch wird). Die Darsteller/-innen verkörpern also weder Rollen noch sind sie reine Sprachkörper wie bei Jelinek 16, 15 | Pollesch (2003: 334): »Marketing ist zu unserer zweiten Natur geworden«. 16 | Der Eindruck von Sprachkörpern in den Theatertexten Jelineks wird schon durch die ohne einen einzigen Absatz erfolgenden Textblöcke geweckt, die sich nicht auf einen individuellen Sprecher zurückführen lassen. Durch die Verknüpfung verschiedenster Zitate, Sprechweisen und Diskurspartikel wird ein Rückschluss auf ein sprechendes Subjekt sogar gänzlich unmöglich. Dieser Umstand hat Konsequenzen für die Rezeptionssituation von Jelineks Theaterstücken: Indem der vielstimmige Polylog in theaterästhetischer Hinsicht an einen Körper oder auch an mehrere gebunden wird (wie bspw. die auf Massen verteilten Chöre im Sportstück), werden die Sprecher/-innen zu Resonanzkörpern oder zu Echoräumen, durch die der Text quasi ins Freie ge-

Ambivalenz, Hybridbildung, gebrochene Identitäten usw.) Weil die staatlichen Stellen mit wenig Gegenwehr

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was sich auch darin zeigt, dass in der szenischen Realisation immer wieder auf die Darsteller/-innen hinter den Texten verwiesen wird, auf ihre körperliche Präsenz hinter den Diskursen und Rollen. Die Schauspieler/-innen stehen als echte Menschen auf der Bühne, d.h., sie geben nicht vor, jemand anderes zu sein als sie sind und reden sich häufig mit ihren privaten Vornamen an.17 Die Inszenierungspraxis ist häufig auf Überforderung angelegt, in den Textgebirgen, die sie so schnell wie möglich sprechen müssen, verlieren die Darsteller/-innen immer wieder den Faden und müssen sich an die Souffleusen wenden, die im Höchsteinsatz sind, um den Anschluss an die voranpreschenden Diskurse wieder zu finden. Es wird so auf die physischen Grenzen des Körpers verwiesen (ebenso wie in den Clips, die häufig Verschnaufpausen für die Schauspieler/ -innen und Zuschauer/-innen zu sein scheinen) 18. Die Rückkopplung der Diskurse und des Sprechens an den Körper der Darsteller/-innen und dessen Kapazitäten, lässt ihn in seiner Fehlbarkeit individuell hervortreten. Auch hier tritt wieder die Brechtsche Zeigefunktion in den Vordergrund: Das Gesprochene und sein körperlicher Resonanzraum als Gegenpart führen zu einer Irritation der Wahrnehmung, die jegliche Form der Einfühlung verhindert. Zusammenfassend lässt sich für die Darsteller/-innen sagen, dass sie protestieren, demonstrieren und auf begehren, während sie mit ihrer vermeintlich ›eigenen‹ Subjektivität ringen. Dabei wird vorgeführt, dass die einstmals subversiven Strategien (wie die Affirmation und Kommunikationsverweigerung) keinen Ausweg aus den vorgegebenen Subjektivierungsprozessen bieten19 und daher von den Sprecher/-innen entweder gezwungenermaßen angewendet werden (wie die Affirmation) oder als sinnlos verworfen werden (wie die Kommunikationsverweigerung). Anders verhält es sich mit der Kategorie der Komplizierung, welche als ein formaler Aspekt in der Sprache der Darsteller/-innen zu lokalisieren ist und durchaus als subversiv bezeichnet werden kann, wie im Folgenden gezeigt werden soll. langt, und bleiben dennoch in ihrer Körperlichkeit beredt. Auch nutzt Jelinek oftmals die Präsenz des ›stummen‹ Körpers, um an ihm körperliche Gewalt vorzuführen. 17 | Aus diesem Grund verweigert Pollesch auch die Erlaubnis seine Stücke nachzuspielen. 18 | Vgl. hier auch Bloch 2004: 67ff. 19 | Mit dem Begriff »Subjektivierungsprozess« soll das gemeint sein, was das Subjekt dazu bringt, sich selber auf eine bestimmte Art zu konstruieren: »Befehle, die wir für uns halten und die in uns installiert sind« (Pollesch 2007: 197).

rechnen müssen, können sie sich Kriminalisierungsversuche leisten, die in Zeiten starker Massenbewe-

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Komplizierung in der Diskursschleuder Die Sprache der Darsteller/-innen lässt sich mit der nach Diederichsen »essentiell subversiven Taktik der Komplizierung von Verhältnissen« (Diederichsen 1993: 40) beschreiben. Diese Taktik beruht auf der »richtigen Einschätzung, dass letztlich nichts so schwer im Magen liegt, wie solche Komplexitäten, die nicht funktionell in die Naturwissenschaften und andere nützliche Tätigkeiten eingebunden sind. Subversive tendieren daher dazu, durch Wechseln der Bezugsrahmen, Abstraktionsebenen etc. transparent gehaltene Diskurse zu komplizieren, ohne in die Ebene der Sinnlosigkeit der Kommunikationsverweigerung einzutreten« (Diederichsen 1993: 44).

Das Problem der Komplizierung besteht nach Diederichsen allerdings darin, dass sie sich (ebenso wie alle anderen Strategien der Subversion) schon längst durchgesetzt hat, als wäre ›sie‹ das Ziel (vgl. Diederichsen 1993: 46). Kontingente Komplexität bestimmt den täglichen Überlebenskampf der »Nichteinmalmehrausgebeuteten« (Diederichsen 1993: 46). Die subversive Strategie der Komplizierung braucht daher bei einer auf »Kommunikation und Transparenz und Informationshandel gegründete[n] Macht […] eine höhere hermetische Sprache, ihr Gegner muss also nicht verschwiegene Fakten hervorbringen […], sondern er muss vorhandene Fakten lesen« (Diederichsen 1993: 47f.). Genau hier setzt Pollesch mit seiner Form der diskursiven Komplizierung an, wie der folgende exemplarisch zu betrachtenden Textauszug aus Heidi Hoh belegt: Susanne: Nebenjobs brauchen Alltagstechnologie. Anja: Ausbeuterjobs brauchen neue Technologie. Und dann hast du all diese Sachen an dir herumhängen, Körpercomputer, und die machen einen Job, während du sie mit dir herumträgst. Weil du das irgendwie kannst, Computer mit dir rumtragen. Computer erledigen Jobs, und du trägst sie herum. Susanne: Trage Computer rum! Rolli: (baut sich vor den Zuschauern auf) JA, GUT, DA HABT IHR EUREN VERFICKTEN KÖRPERCOMPUTER! (bleibt an der Rampe) Anja: UND JETZT TIPP DAS IN DEINEN SCHEISSKÖRPERCOMPUTER EIN! (H 37)

Auf den ersten Blick scheint dieses Beispiel nicht übermäßig kompliziert zu sein und sich recht schlüssig rezipieren zu lassen, indem quasi

gungen nicht durchsetzbar gewesen wären. Ein weiteres Anziehen der Schraube. Ist das. Weil jede neue

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das Absurde der modernen Arbeitswelt karikiert wird. Tatsächlich aber lässt sich diese Passage nicht auf ›normale‹ Art lesen, die auf Sinn, Verständigung und Eindeutigkeit ausgerichtet ist, wie folgende Analyse zeigen soll. Ein marktkonformer ökonomischer Diskurs (Nebenjobs brauchen Alltagstechnologie), der stets auch aus dem Mund, der doch unter ihm leidenden Frauen Befehle austeilt (Trage Computer rum! UND JETZT TIPP DAS IN DEINEN SCHEISSKÖRPERCOMPUTER EIN!), wird konfrontiert mit einem politisch kritischen Gegendiskurs (Ausbeuterjobs brauchen neue Technologie.) und einem trotzig individualistischen mit Kraftausdrücken angereicherten Auf begehren (JA, GUT, DA HABT IHR EUREN VERFICKTEN KÖRPERCOMPUTER!). Die hier vorgenommene klare Trennung einzelner Diskurse wird wiederum kontaminiert durch die Verschmelzung verschiedener Diskurspartikel, über die Wiederholung einzelner Satzteile – fast in jeder Replik werden Begriffe aus der vorangegangenen aufgenommen. Dies zeigt zum einen, dass ein sprachlich, diskursiver Ausbruch nicht möglich ist, zum anderen wird der Begriffs- und Diskursapparat jedoch so lange gegeneinander geschleudert, bis er auseinander zu fliegen scheint und neue abstruse Kombinationen des Protestes entstehen (AOL-TIMEWarner-Mega-Deal-Dissidenten). In ähnlich ›verrückter‹ Weise sprechen und empfinden auch Sophie, Caroline und Inga in Sex: Inga: Shoppe in mir herum! Caroline: Ja, und das ist SEHR INTENSIV! Sophie: Ich will in dir einkaufen gehen und das ist irgendwie das Beste, das ich mir für mein Leben vorstellen kann. Inga: Ich will in dir einkaufen gehen, oder in mir. Ich will IN MIR EINKAUFEN GEHEN! Caroline: Geh in dir einkaufen! (S 68)

Auch hier verschleifen sich einzelne Satzteile so exzessiv (»Ich will in dir einkaufen« wird von allen drei Sprecher/-innen wiederholt und parallel dazu immer wieder ein wenig variiert), dass ein Ausbruch schier unmöglich ist. Der hedonistische, marktgerechte Aufruf Ingas zu konsumieren (der sich übrigens durch den gesamten Text zieht), wird hier offensiv in die privatesten Beziehungen verlegt und stellt damit bürgerliche Werte auf den Kopf bzw. auf die Beine. Das Shoppen, d.h. das Bezahlen und Erhalten von Waren, ist nicht mehr auf einen äußeren Vorgang bezogen, der sich auf Dinge oder auch Körper (Prostituierte) bezieht, sondern ebenso die Emotionen, die Wünsche, das

Ordnung als Unordnung gesehen & entsprechend behandelt wird. Indem die Möglichkeiten & Grenzen des

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Begehren, das scheinbar ›Ureigenste‹ stehen zum Verkauf frei. Man ›geht‹ nicht mehr shoppen, sondern tut das direkt in sich selber – alles hat seinen Preis. Eine Absurdität, die sich nicht denken lässt, zugleich aber klarstellt, wie sehr die individuelle Subjektivität ein Produkt von Markt und Konsum ist, dessen, was sich gut verkaufen lässt. Sophie springt hier gleich an, genau das will sie mit bzw. in der scheinbar von ihr begehrten Caroline tun, in ihr ›Herumshoppen‹. Caroline brüllt – quasi als Verkaufsstrategie – »das ist SEHR INTENSIV!« und zeigt damit einmal mehr, wie sehr sie die Selbstvermarktungsstrategien verinnerlicht hat, gegen die sie wiederum wütend anbrüllt. Sophie bringt die paradoxen Verhältnisse als geschliffenen, fast schon eingängig gewordenen Slogan auf den Punkt: »Ich will in dir einkaufen gehen und das ist irgendwie das beste, das ich mir für mein Leben vorstellen kann.« Mantraartig wird dieser Imperativ wiederum von Inga und Caroline wiederholt, auch hier gepaart mit einem Aufschrei, der eine individuelle Wehrbereitschaft zur Schau stellt (Ich will IN MIR EINKAUFEN GEHEN!). Die Fremdheit und Paradoxie des thematisierten Sachverhaltes – in sich oder jemand anderem einzukaufen – wird in einem sprachlichen Normalisierungsprozess in die Subjektivität der drei Frauen, ihr Selbstverständnis eingebaut. Was im ersten Moment kaum entzifferbar scheint, entlarvt zugleich die Konstruktion von Gefühlen, Wünschen und Begehren die als SEHR INTENSIV verkauft werden. Das, was sie für sich halten, ihr Inneres, gehorcht dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, determiniert von marktgerechter Weiblichkeit und gefühlsbestimmter Ökonomie. Insgesamt lässt sich sagen, dass mit einer gängigen Lesbarkeit der Verhältnisse und Themen gebrochen wird, das Thematisierte erweist sich als komplex und absurd und zwingt zu einem neuen Blick auf das, was wir für ›normal‹ halten.

Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Darsteller/-innen der Inszenierungen Polleschs subversive Strategien aus ihrer (den Machtverhältnissen) immanenten Perspektive beschreiben und erörtern und sie damit als Resultat einer immer komplexer gewordenen, durch Systemimperative kolonialisierten Lebens- und Gefühlswelt ausstellen – als Strategie gegen diese scheinen sie nicht mehr zu taugen. Im Sprechen von Polleschs Darsteller/-innen sind die subversiven Motive – wie Affirmation, Zersetzung etc. – in erster Linie Resultat der desorientierten Situation des Einzelnen, des diskursiven Überflusses und des Zwangs

Denkens & Handelns geregelt sind. Aber es gibt den Widerstand, & er wird immer stärker. & nie ohne

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zu Spaß und Konsum. Allenfalls unter dem Aspekt der Komplizierung ließe sich ihr Sprechen als subversiv bezeichnen, aber auch dies hat meines Erachtens eher einen auf klärenden, demonstrativen Charakter. Pollesch führt subversive Verfahren also vor, bewegt sich aber – bis auf die Technik der Komplizierung – kaum in ihnen. Den ehemals subversiven Strategien (Affirmation, Kommunikationsverweigerung, Komplizierung) steht außerdem Polleschs Theaterpraxis gegenüber, in der die Darsteller/-innen ihren Widerstand durch anarchische Spielfreude (meistens Clips) und trotziges Auf begehren (Brüllen, Fluchen) zum Ausdruck bringen. Im Sinne Brechts, dessen Verfremdungsverfahren immer wieder in modifizierter Form zur Anwendung gelangen, geht es Pollesch um das Aufzeigen, den Protest, die Demonstration. Pollesch ist, wie sein Vorläufer Brecht, eher ein Regelbrecher und ein Rebell als ein Subversiver, denn er verwendet weder den subversiven Grundgestus des »Als-Ob«, noch nimmt er eine Trennung von Strategie und Ziel vor, wie sie für die Subversion nach Diederichsen kennzeichnend ist. Diese Funktionsverschiebungen der ehemals subversiven Techniken bei Pollesch, liegt meines Erachtens darin begründet, und hier folge ich Diederichsen (1993: 50), dass Subversion als Strategie in unserer Gegenwart, die mit einem »neue[n] postindustriellen Komplexitätsterror« zu kämpfen hat, keine Position des Abstands bzw. der Überlegenheit gegenüber der »flüssige[n] allgegenwärtige[n] Machttechnologie« (Pollesch 2003: 333f.) beanspruchen kann. Subversion als Strategie muss nach Diederichsen (1993: 50) aufgegeben werden, denn dieser Begriff versucht »immer eine Distanz, einen Bruch, eine Verschiebung zwischen einen politischen oder symbolischen Akt und seine Verursacher zu treiben«. Auch lässt sich einer produktiven Macht im Sinne Foucaults kaum noch bspw. Komplizierung als subversive Strategie gegenüberstellen, denn diese würde möglicherweise nur neue und bessere Produktangebote auf den Markt werfen und das Sortiment erweitern. Mit diesen Erwägungen soll nicht der Begriff der Subversion als künstlerische Praxis abgelehnt werden, sondern lediglich seine strategischen Implikationen in Frage gestellt werden. Überlegenswert ist dennoch, ob subversive Strategien im Theater überhaupt noch möglich sind. Folgt man den Bestimmungen Diederichsens müsste der/die Subversive auf dem theatralen Feld – da es sich hier in erster Linie um ein ästhetisches Kampffeld handelt und es darum geht, ästhetische Positionen zu besetzen – die anerkannten (ästhetischen) Dogmen übernehmen und gegen sich selber wenden, das Feld quasi von Innen heraus zum Implodieren bringen. Sobald er/sie die Regeln zu auffällig brechen würde, wäre er/sie enttarnt. Dies wäre

ein paar Promille. Selbst wenn ich einmal nüchtern bin, scheint mir das Leben irgendwie unwirklich. Sagt

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allerdings nur möglich, wenn es eine Orthodoxie auf diesem Feld noch gäbe, sei es eine konventionelle oder eine avantgardistische. Mit diesem Umstand steht und fällt die Frage nach der Subversion, denn wenn es keinen hegemonialen Diskurs gibt, könnte man auch nicht mehr subversiv sein. Interessant ist hier, zu erwägen, inwiefern der Regelbruch bspw. des postdramatischen Theaters selber schon zur Regel geworden ist und insofern ein neues Dogma aufgestellt hat – möglicherweise würden sich hier neue Räume für subversive Strategien eröffnen. Wenn dies so wäre, könnten vor diesem Hintergrund Schlingensiefs Sponti-Aktionen als subversiv bezeichnet werden, die ohne Programm nur noch den Regelbruch inszenieren und zugleich bestens ins gesellschaftliche System integrierbar sind, wie Carl Hegemann (2001: 646) treffend formuliert: »Jede revolutionäre und gleichzeitig künstlerische Betätigung landet in der Sackgasse.[…] Schlingensief gehört allerdings bei allem, was er macht, zu den ganz wenigen, die Missstände und Ungeheuerlichkeiten unserer Lebensformen auf den Punkt bringen und die investigatives und subversives Theater machen. Man kann sich nicht mit ihm beschäftigen, ohne gleichzeitig die Verhältnisse zu entlarven. Im Übrigen werden seine Skandale von der Presse kaum noch skandalisiert, sondern z.B. im Wirtschaftsteil der Welt als zeitgemäß empfunden. Schlingensief ist ein Teil der Gesellschaft, wichtig für ihr Funktionieren. Früher gab es Hofnarren. Diese haben sozialhygienische und kompensatorische Aufgaben. Die Revolution und die Subversion ist in den normalen gesellschaftlichen Ablauf integriert.« Polleschs Theater aber geht einen anderen Weg, es greift das Theater und den darin ausgestellten Menschen in seiner quasi naturgegebenen Legitimation an.

Literatur Bloch, Natalie (2004): »Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns«. Der Deutschunterricht, 02/2004, S. 57–70. Diederichsen, Diedrich (1993): Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n‹ Roll, Köln: Kiepenheuer und Witsch. Diederichsen, Diedrich (2002): »Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch«. Theater heute, 03/2002, S. 56–63. Göpfert, Peter Hans (2004): »Aldi Dente. Im Supermarkt des Lebens«. In: Berliner Morgenpost, 28.05.2004. Hegemann, Carl (2001): »Das Theater retten, indem man es abschafft? Oder:

der Skinhead. Ich machte mir in die Hose. (Aus Angst & Verwirrung.) Ich spürte, wie die Pisse in den

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Die Signifikanz des Theaters«. In: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin: Alexander Verlag, S. 638–649. Hegemann, Carl (2005): »Neues und gebrauchtes Theater. René Pollesch im Gespräch mit Carl Hegemann«. Unter: www.rowohlt.de/sixcms/media. php/200/pollesch_interv_hegemann.114129.pdf (letzter Zugriff am 31.3.2007). Karschnia, Alexander (2006): »Brecht frei: 1:1 ist jetzt vorbei!« Die Tageszeitung, 09./10.09.2006, Beilage, ohne Seitenangabe. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Lengers, Birgit (2004): »Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Text und Kritik, Sonderband, München: Richard Boorberg Verlag, S. 143–155. Meyer-Gosau, Frauke (2003): »Ändere dich Situation!« In: René Pollesch, www-slums, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 9–26. Peters, Caroline (2006): »›Ich verausgabe mich gern.‹« Caroline Peters im Gespräch mit Natalie Bloch. Stück für Stück 3, 31. Mülheimer Theatertage, S. 1. Pollesch, René (2003): »Verkaufe dein Subjekt! René Pollesch im Gespräch mit Anja Dürrschmidt und Thomas Irmer«. In: René Pollesch, www-slums, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 331–339. Pollesch, René (2003): www-slums. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Pollesch, René (1999): Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. In: René Pollesch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 29–100. (Sigle H) Pollesch, René (2002): »Sex«. Theater heute, 03/2002, S. 64–69. (Sigle S) Pollesch, René (2005): »Cappuccetto Rosso«. Unveröffentlicht (Sigle C) Pollesch, René (2007): »Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina«. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags. In: Frank M. Raddatz, Brecht frißt Brecht, Leipzig: Henschel Verlag, S. 195–213. Schößler, Franziska (2004): Augen–Blicke. Erinnerungen, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen: Gunter Narr Verlag.

Stoff drang. Ich träumte vom In-die-Fresse-Schlagen. (Unter dem Einfluß des Alkohols.) Am gewöhnlichen

Geheimnisse retten. Soziologische Beobachtungen zur Berliner Volksbühne Tanja Bogusz

»Allgemein sind utilitaristische Theorien über Institutionen dann, wenn alles darauf ankommt, sie aus dem Chaos der Meinungen herauszuhalten, selbst destruktiv, schon weil sie die Frage zugleich aufwerfen und offenlassen, wer denn die Zwecke der Gesellschaft auszusprechen berechtigt ist.« Arnold Gehlen (Gehlen 1956/86: 66) »Einerseits fackeln sich die Schauspieler jeden Abend auf der Bühne ab, andererseits hat es eine große Lässigkeit. Ich bin zum Theater gegangen, weil ich nicht arbeiten möchte.« Sophie Rois (Laudenbach 2004: 64)

Prolog Die Ostberliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz behauptet seit der Intendanzübernahme durch Frank Castorf 1992 eine herausragende Position im Berliner Kulturleben. Der Chefszenograph des Hauses, Bert Neumann, überschreitet das Theaterfeld durch den Auf bau von kleinen, temporären Satellitenstationen außerhalb der kulturellen Hochburgen Berlins und hat sich zusammen mit dem Intendanten darauf spezialisiert, Menschen und Elemente des Urbanen: Baucontainer, Obdachlose, Groschenromane, Rockkonzerte, politische Foren, Monoblockstühle und

Wahnsinn führt niemand uns heil vorbei. Es fehlt eine gemeinsame Sprache der Kämpfe. Scheinen die

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Hochkultur skrupellos aneinander zu montieren. Die hier geschaffenen Ereignisse werden auf der Bühne über eine betont unpädagogische, populistische und zugleich äußerst klug platzierte politische Ästhetik geschaffen, die sich seit dem Ende der DDR unermüdlich auf ihre staatssozialistische Herkunft beruft. Ist das subversiv? Die Skepsis, so etwas wie ›subversive‹ Praktiken ausgerechnet in einer Theaterinstitution vorzufinden, hat ihre Ursache im Gegenstand: Schließlich stellen ›Subversion‹ und ›Institution‹ in den klassischen Dichotomien der Moderne, insbesondere aber auch in den Selbstzuschreibungen sich als ›subversiv‹ verstehender Gruppen, zwei sich ausschließende Handlungspole dar. ›Subversion‹ wird mit Beweglichkeit und Überraschung affiziert; ›Institution‹ hingegen mit Statik und Routine. Zwischen dem von dem Volksbühnen-Ensemblemitglied Sophie Rois pointiert formulierten berufsbedingten Anti-Utilitarismus und Arnold Gehlens Kritik an einem Verständnis von Institutionen, das die gesellschaftlichen Bedürfnisse, aus denen sie entstehen ausblendet, bestehen zahlreiche Übereinstimmungen historischer wie sozialer Natur. Diese herauszuarbeiten, erfordert nicht nur eine genauere Bestimmung dessen, was (künstlerische) Institutionen und ihr Selbstverständnis überhaupt kennzeichnet, sondern auch ihre Einbettung in die jeweiligen zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Der folgende Text beschäftigt sich mit der Frage, ob die soziale Bedeutung und der Erfolg der Berliner Volksbühne im Zusammenhang mit spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen steht, wie diese entstanden sind und welche Auswirkungen das auf die künstlerischen Praktiken hatte, die sich im Zentrum der deutschen Hauptstadt dauerhaft etablieren konnten. Schließlich wird zu klären sein, ob diese Praktiken als ›subversiv‹ zu bezeichnen sind. Der Text gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil skizziere ich die hier eingenommene soziologische Perspektive zur Idee der Subversion, die den ›Subversionen‹, also ihrer Praxisformen, vorauseilt. Im zweiten Abschnitt beschreibe ich die französische Bohème des neunzehnten Jahrhunderts als Sozialfigur, die für die Kulturproduzenten der Moderne zur wichtigsten Orientierungsgröße avancierte und konzentriere mich dabei auf ihre institutierenden Aspekte. Damit kontrastierend befasse ich mich im dritten Teil mit den normativen Bezugsgrößen der Volksbühne, indem ich einen Ausflug in die Kultur des Staatssozialismus unternehme und dabei die dort praktizierten inoffiziellen Unterwanderungsstrategien skizziere. Im vierten Teil formuliere ich hypothetisch die soziale Funktion der Volksbühne in den Jahren nach der deutschen Vereinigung. Abschließend stelle ich mir im fünften Teil die Frage, ob die Praxis der ›Subversion‹ unter den thematisierten

Kämpfe eine unverständliche, fremde Sprache zu sprechen, die nicht kommunizierbar ist. Denn so war

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Gesichtspunkten mit der institutionellen Grundstruktur einer ›stabilisierten Spannung‹ (Arnold Gehlen) – mithin einer spezifischen Form von ›Ordnung‹ – vereinbar ist.

1. ›Subversionen‹ aus soziologischer Sicht Das kulturelle Profil der Ostberliner Volksbühne ist das Ergebnis der Vereinigung zweier politischer Systeme. Aber ›Subversion‹ konnte in so verschiedenen Gesellschaften wie dem Staatssozialismus und dem Kapitalismus kaum dasselbe meinen. Dieser Tatbestand hat nicht nur Folgen für die gängige Vorstellung von Institutionen als Ordnungsinstanzen, sondern ebenfalls kontextuell bedingte Rückwirkungen auf die Idee von ›subversiven‹ Praxisformen, denen wir auf der Spur sind. Hier bestätigt sich auch die von den Herausgeber/-innen dieses Bandes einsichtig formulierte Programmatik, nach der von ›Subversionen‹ nur im Plural gesprochen werden kann. Der Plural gesteht der ›Subversion‹ eine Restkontingenz zu, die sich aus ihrer Semantik und ursächlichen Intention ergibt (was bliebe wohl von ›Subversionen‹ noch übrig, die ganz und gar ausgedeutet sind? Nichts!); doch sollte ihre Vervielfältigung kein Freibrief für deskriptive Beliebigkeit sein (dann wäre alles ›subversiv‹ und die Idee gerinnt zur modischen Attitüde). In Bezug auf die Berliner Volksbühne scheint es daher naheliegend, die Koordinaten zu bestimmen, die Subversionen sinnhaft strukturieren. Das soziologische Interesse richtet sich also darauf, herauszufinden, wie die Reichweite subversiver Praxisformen in einer künstlerischen Institution zu bemessen ist. Den Begriff der Subversionen wissenssoziologisch aufzuarbeiten, ist ein Forschungsdesiderat und kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Die großen soziologischen Paradigmen verweisen ohnehin fast ausnahmslos unter Aussparung des Subversionen-Begriffes auf Praktiken, die für das Spannungsverhältnis zwischen ›Ordnung‹ und ›Abweichung‹ und den Unterwanderungsstrategien gegenüber legitimen Handlungsorientierungen konstitutiv sind. Aus den daran geknüpften Grundannahmen lassen sich gleichwohl einige zentrale soziologische Positionen zu unserem Thema herausfiltern. In der Geschichte der Soziologie stehen sich, grob vereinfacht, zwei große Denktraditionen gegenüber. Sie stritten und streiten sich um die Frage, ob die Aufgabe der Soziologie darin besteht, soziale Praktiken ausgehend von einer ihnen zugrundegelegten Gesellschaftsstruktur zu erklären, oder ob nicht vielmehr das Ziel darin liegen müsste, diese Praktiken selbst als strukturbildend zu begreifen, d.h., ihnen auch einen Aspekt zuzugestehen, der neue faits sociaux hervorzubringen

es nicht. Ein im Handgemenge verletzter Polizist wird weggeführt. Gleich danach kommt ohne Vorwarnung

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imstande ist. In diesem Kontext ist das Thema der Abweichung ein altes soziologisches Sujet. So suchten insbesondere Émile Durkheim (um 1900) und Robert K. Merton (um 1940) mit ihren Analysen ›anomischer‹ Verhaltensformen spezifische Krisenzustände sowie paradigmatische Außenseiterpositionen in den französischen und US-amerikanischen Gesellschaften zu kontextualisieren. Die meisten zeitgenössischen Soziolog/-innen, zu denen auch noch die schon-fastKlassiker Anthony Giddens, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu zu zählen sind, richteten ihr Augenmerk darauf, den weder von Durkheim noch Merton befriedigend gelösten Widerspruch zwischen Sozialstruktur und Praxis aufzulösen und eine Theorie zu entwickeln, die eine Logik der Wechselbezüge herzustellen beanspruchte. Dabei wurde – bei aller Verschiedenheit der drei Ansätze – ›Struktur‹ auf der Ebene ihrer extremsten Ausprägung – etwa in den Institutionen – als handlungsleitendes und somit letztlich -determinierendes Gerüst der Praktiken und Aktionen von Individuen und Gruppen verstanden, während ›Praxis‹ selbst auch das Moment des Abweichenden, der Überraschung und des Innovativen zulässt. Veränderung ist demnach möglich, jedoch nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen. Von einer jüngeren Soziolog/-innen-Generation wird daher kritisiert, dass die grand theories den Fokus auf die strukturellen Voraussetzungen sozialen Handelns legten, was dazu führe, soziale Praktiken und Dynamiken im allgemeinen, vor allem aber auch fundamentale Umwälzungsprozesse konstitutiv auszublenden (vgl. Beck 1997: 303). Insbesondere poststrukturalistisch informierte Soziologien bemühen sich seit einigen Jahren verstärkt um eine Integration abweichender Verhaltensformen in eine betont dezentrierte, d.h. von der Unterschiedlichkeit sozialer Praktiken und Bedürfnisse ausgehende Theoriebildung (vgl. Moebius 2003). Die wohl prominentesten Ansätze, (auch) so etwas wie subversives Verhalten zu erklären, hatten Michel de Certeau (»Die Kunst des Handelns«) und Hans Joas (»Die Kreativität des Handelns«) Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre vorgelegt. Insbesondere de Certeau plädierte für eine ›Rückkehr der Akteure‹ in die soziologische Analyse, d.h. für eine akteurszentrierte Perspektive, die zwischen aktiven ›Strategien‹ und passiven ›Taktiken‹ des Unterwanderns institutionell und politisch vorgegebener Handlungsorientierungen unterschied und die er in das Zentrum der soziologischen Untersuchung rückte. Er bezog sich dabei maßgeblich auf die klandestinen Untergrundbewegungen, die in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern der 1970er und 1980er Jahre gegen ihre Diktaturen auf begehrt hatten. De Certeau bildet jedoch eine seltene Ausnahme. In den meisten soziologischen Studien wird der Begriff der ›Abweichung‹ gegenüber den ›Subversio-

der Generalangriff mit dem Kommando: »Knüppel frei!« Das ist blutige Realität, aber es ist gleichzeitig

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nen‹ vorgezogen, denn der ›subversive‹ Nimbus einer sympathetischen Affirmation illegaler Praktiken läuft dem wissenschaftlichen Neutralitätsanspruch zuwider.

2. Vorbild und Sozialfigur: Die französische Bohème Kehren wir noch einmal zu den ›Schon-fast-Klassikern‹ zurück. Wie ging es in der Folge von Durkheim und Merton mit der Beobachtung von abweichenden Praktiken weiter? Dass das Übertreten tradierter Investitionsformen in kapitalistischen Gesellschaften nicht nur die innere Dynamik ihrer Wirtschaft antreibt, sondern auch in anderen sozialen Feldern System hat, wurde insbesondere von den Soziolog/innen erkannt, die sich mit der westeuropäischen Geschichte der Kunst- und Kulturproduktion seit der Moderne beschäftigt hatten. Pierre Bourdieu griff in seinen kunstsoziologischen Analysen, die er in seinem Werk Les règles de l’art (1992) vorlegte, den Anomie-Terminus von Durkheim wieder auf. Bourdieu beschäftigte sich mit der Frage, wie es überhaupt zur Herausbildung der Gruppe der Künstler und Schriftsteller als eine sowohl auf ihre Tätigkeit wie auf ihren Lebensstil beharrende Zunft gekommen war. Er bezeichnete das Verhalten der französischen Bohémiens, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eigene, inoffizielle Kulturkreise gebildet hatten, um sich von dem bürgerlichen Prinzip der Nutzorientierung abzugrenzen, als institutionnalisation de l’anomie (vgl. Bourdieu 1992: 191). Damit trieb er die eingangs beschriebene Gegensätzlichkeit von Struktur und Praxis in einer einzigen Formel auf die Spitze. Zunächst fällt die Zweigesichtigkeit des Ausdrucks auf, der ›Ordnung‹ und ›Abweichung‹ miteinander vereint. Bourdieu bot selbst keine Interpretation des Institutionenbegriffes an. In der Folge von Arnold Gehlen wurde man hingegen innerhalb des kulturanthropologischen Paradigmas früher auf dessen semantische Doppelgeltung aufmerksam. So plädierte insbesondere Gehlens Schüler und Kritiker Karl-Siegbert Rehberg für einen Institutionenbegriff, der Geschichtlichkeit und symbolische Transzendierungsleistungen betont (vgl. Rehberg 2001). Auch Bourdieu zielte mit der institutionnalisation de l’anomie nicht auf das ›starre Gehäuse‹ im Sinne Max Webers, sondern auf den Prozess der Institutierung, also auf die genealogische Herausbildung und den Wandel einer spezifischen Sozialfigur – dem Kulturproduzenten der Moderne. Diese Sozialfigur differenzierte sich in Frankreich zu einer Zeit heraus, in der das Land von permanenten Unruhen und Bürgerkriegen

etwas Unwirkliches. Aber warum taucht der Kampf immer wieder mit neuer Kraft auf? Sowas ist ziellos.

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überschattet war und deren Auswirkungen auf den Gemütszustand der Bevölkerung von den zeitgenössischen Chronisten als das Mal du siècle beschrieben wurde. Trotz ihrer politischen Heterogenität lag die Vorbildfunktion der französischen Bohème für alle nachfolgenden Künster/-innengenerationen in einer paradox anmutenden Programmatik zwischen Melancholie und Utopie, wie Arsène Houssaye 1885 im Rückblick auf sein Leben in der Bohème bezeugt »Que dit-on par le monde? Eh! Qu’importe! Nous sommes/Dans la verte oasis, loin du désert des hommes« (vgl. Meyer 2001: 48). Es ist diese auf Eigengeltung konzentrierte Haltung, die sich zur Hauptorientierung der westeuropäischen Kulturproduktion verstetigen sollte. Sie beansprucht andere ›Versionen‹ des Lebens und des Arbeitens und sie entwickelt soziale Techniken der Kooperation und der Abgrenzung, um die offiziell anerkannten Praktiken zu unterlaufen (durch melancholisch konnotierten Rückzug) oder sich ihnen programmatisch zu widersetzen (durch die Formulierung einer Utopie). Das gibt der Bohème im Zuge ihrer Herausbildung und Verstetigung einen sowohl passiven wie aktiven Charakter, der in der institutionnalisation de l’anomie einsichtig zum Ausdruck kommt. Die zunächst inoffiziellen Verkehrskreise der Bohème ersetzten ihren schwachen Organisationsgrad. Gegen das allgegenwärtige Diktum der bürgerlichen Ordnung ruft der Bohémien Philotée O’Neddy in einem Gedicht von 1833 aus: »De haine virulente et de pitié morose/Contre la bourgeoisie et le Code et la prose […]« (aus Meyer 2001: 40). Hier bildet sich die Idee eines künstlerischen Professionsethos ab, das sich zur systematischen Abweichung von utilitaristischen Produktions- und Lebensformen, insbesondere denen der classe normative, der Bourgeoisie, berufen fühlt. Erst dieses Ethos ermöglichte die Verselbstständigung des Feldes der Kulturproduktion Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Es fußte auf der Überzeugung, dass die künstlerische Anerkennung nur dann Berechtigung findet, wenn sie sich deutlich von den staatlichen und marktwirtschaftlichen Instanzen und Wertvorstellungen abgrenzt. Zusammenfassend kann somit angenommen werden, dass der Prozess der institutionnalisation de l’anomie durch zwei Faktoren mobilisiert wurde, die auch für die Konstituierung von solchen Figurationen zentral sind, die eine besondere Affinität für ›subversive‹ Praktiken aufweisen: 1. Die Abgrenzung bestimmter Gruppierungen von einer dominanten offiziellen Ordnung, die – (nicht-konforme) Akteure aus den gesellschaftlich relevanten Institutionen und Verkehrskreisen ausschließt bzw. ihnen den Zugang verwehrt. Der innere und äußere Druck, der schließlich zur radikalen Delegitimierung der offiziellen Ordnung führt, erwächst häufig in Phasen politischer Krisen.

Die Folge davon sind vor allem Massaker in einem bis dahin nicht vorstellbaren Ausmaß. Alle Mittel sind

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2. Die erst durch die Abgrenzung nach außen mögliche Konstituierung eigener, selbstreferentieller Handlungsorientierungen, die nur diese als Wertmaßstäbe anerkennt und sie praktisch, bzw. performativ umsetzt – in der Produktionsweise und der Soziabilität des geteilten Alltagslebens. An den damit verbundenen impliziten Strategien erweist sich das Selbstverständnis der Figuration und der langfristige Effekt ihrer Praktiken. Um Abweichung, Subversionen bestimmen zu können, bedarf es einer ziemlich klaren Bestimmung von dem, was das ›Offizielle‹, das ›Allgemeine‹ sein sollte. In heutigen Gesellschaften, in denen auch ›Ordnung‹ nicht mehr im Singular auftritt, weil sie durch die stabile Flexibilität des Pluralismus abgefedert wird, sind ihre normativen Richtschnuren ungleich schwerer auszumachen. Es überrascht daher nicht, das gerade Michel de Certeau weniger Skrupel hatte, sich dem Terminus der ›Subversion‹ zu nähern; hatte er es doch mit politischen Diktaturen und deren unübersehbaren Normgeltungen zu tun, was widerständige Praktiken eindeutiger abzuheben schien. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum gerade die Figuration, aus der sich die Leitungsebene der Berliner Volksbühne zusammensetzt, den unwillkürlichen Gedanken an subversive Handlungsformen nahe legt – schließlich entwickelte sich, wie Frank Castorf und Bert Neumann unermüdlich beteuern, auch ihre Praxis aus den Erfahrungen, die sie in und mit einer ›Konsensdiktatur‹ – der DDR (vgl. Rehberg 2004: 143ff.) – gemacht haben. Ein auf zwanghaften Konsens ausgerichtetes Gesellschaftssystem bringt andere Bedürfnisse nach Parallelwelten und Subversionen hervor, als dies im Nebeneinander marktwirtschaftlicher Vielfalt denkbar ist. Hier wird die permanente Neuerfindung ästhetischer Formen und Produktionsweisen, die einst durch die Bohème initiiert worden war, als Strategie der Exklusivität geschätzt. Die Entwertung dieser Strategie gehörte hingegen in den realsozialistischen Ländern zur allgemeingültigen Ethik der Kulturproduktion.

3. Blick zurück ohne Zorn: Künstlerisches Selbstverständnis im Staatssozialismus Das Avantgardeprinzip der ständigen Erneuerung und /-innovation, dass sich im Westen spätestens um 1900 durchgesetzt hatte, galt nicht nur den Führern der russischen Oktoberrevolution, sondern auch ihrer kulturellen Avantgarde als Relikt einer überwundenen historischen Epoche. Die russische Kunstlinke, die unter dem Kürzel LEF firmierte

recht, um sich zu vergessen: Drogen, Alkoholismus, Wahnsinn usw. Der Rausch ersetzt die Revolution.

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und Produktionskünstler/-innen, Konstruktivist/-innen und Futurist/ -innen versammelte, brachte ihr Selbstverständnis mit den Worten Boris Arvatovs 1926 folgendermaßen auf den Punkt: »Die LEF-Künstler wollen nicht Raritäten oder Luxusgegenstände schaffen, nicht sog. ›Kunstgegenstände‹ im Gegensatz zu den Dingen des täglichen Lebens. Das Ziel der LEF-Künstler ist die Umwandlung der gesamten Kunst in die Gestaltung der materiellen Kultur der Gesellschaft in engem Kontakt mit der technischen Intelligenz.« (Arvatov 1972: 48)

Das ist eine völlig neue Herangehensweise an die Profession des Künstlers und an seine gesellschaftliche und institutionelle Einbindung. Die von der Bohème eingeforderte Autonomie wird von der russischen Kunstlinken als bürgerliches Relikt einer Weltentsagung verachtet, gegen das sie Fortschrittsoptimismus und Popularisierung setzt. Es geht um die praktische Realisierung der kommunistischen Utopie. Sie sollte früh an ihre Grenzen stoßen. Nachdem Stalin die russische Avantgarde, die den Konkurrenzkampf um die politische Vormachtstellung verlor, zu Beginn der 1930er Jahre weitgehend eliminiert hatte, verleibte er ihre revolutionären Produktionsprinzipien einer populären Staatskunst in das Großprojekt der Sowjetunion ein; gleichwohl unter Anleihe des »besten, was die bürgerliche Kunst hervorgebracht« (zit.n. Groys 1988: 32) habe. Schon Lenin waren manche Vorschläge der russischen Kunstlinken zu radikal: Auf den Vorschlag der LEF-Musiker, sämtliche Musikinstrumente zu zerstören und eine ganz und gar funkelnagelneue, revolutionäre Musik zu kreieren, die auf den berauschenden Klängen der Fabriksirenen beruhen sollte, antwortete Lenin in einem Brief: Er bedaure, doch er liebe das Klavier ebenso wie die Violine.1 Unter Stalin setzte sich die Doktrin des sozialistischen Realismus durch, die in Anlehnung an Friedrich Engels ›typische‹ Menschen in ›typischen‹ Situationen darzustellen hatte und zur allgemeingültigen avantgardistischen Ästhetik erklärt wurde. Das sowjetische Staatswesen sah sich per Dekret nicht nur als politische, sondern auch als 1 | Diese Anekdote habe ich während des Vortrages von Dmitri Zakharine notiert: »Die vertonte und die stumme Wirklichkeit. Eine Revolution der Lautwahrnehmung zwischen 1920 und 1930« den er im Rahmen der Tagung »Imagination und Illusion« des SFB »Norm und Symbol« am 4. Mai 2006 an der Universität Konstanz gehalten hat. Zakharine berichtete mir hinterher, dass Lenin dem Antragssteller Avraamov diese Nachricht über den Vorsitzenden der Creznycajnaja komnissija, Dzerzinski ausrichten ließ.

Verlust der Mittel. Oder einfach: Kotzen aus Grauen, der Anfang einer Befreiung. Denn der Wille dagegen

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kulturelle Avantgarde. Selbst wo die offiziellen ästhetischen Vorgaben zunehmend durchlässiger wurden, enthielten sie nie die disparate Vergleichzeitigung möglichst unterschiedlicher Praktiken wie im Westen, die immer wieder neue Avantgarden produzierten. In einem Land, in dem die tatsächliche Revolution stattgefunden hatte, hatten seine Staatsführer für die im Westen weiterhin andauernden und sich immer weiter ausdifferenzierenden ›permanenten symbolische Revolutionen‹ (Bourdieu) in den Künsten nur ein müdes Lächeln übrig. L’art pour l’art – die Kunst als Selbstzweck – wurde durch ein immer gegenwärtiges gesellschaftliches Auftragsmodell abgelöst, das auch und in besonderem Maße für die Kunstproduzenten galt, die sich diesem Modell am heftigsten widersetzten – für die Künstler also, die sich dem Prinzip der ›Kritik durch Affirmation‹ verschrieben: Einer übertriebenen Genauigkeit im Umgang mit den paradiesischen Versprechungen der kommunistischen Utopie, die es der Zensur besonders schwer machte, Verbote auszusprechen und Verfolgungen einzuleiten. Es war die naheliegendste Form der Abweichung – der Subversion – und sie war weit verbreitet. Die kleine Schwester der Sowjetunion, die Deutsche Demokratische Republik, übernahm das Erbe der sozialistischen Moderne als Avantgardeprinzip. Sie war in doppelter Hinsicht ein ›Kunststaat‹. Ihre künstliche Errichtung nach dem Zweiten Weltkrieg war zugleich von Beginn an durch die Protegierung der Künste selbst geprägt. Die Künste nahmen einen herausragenden Status innerhalb des Staatsgefüges ein, der den Kunstproduzenten eine hervorragende Ausbildung und eine privilegierte Stellung ermöglichte. Die sozialistische Regierung brauchte und schätzte ›ihre‹ Künstler, deren Streben nach Eigengeltung den Zielen des Kommunismus zugeordnet werden sollte. Kunst in der DDR stand – wie gebrochen auch immer – stets in einem Verhältnis zu ihren gesellschaftspolitischen Rahmungen. Das ist entscheidend für die Produktionsstrategien, die sich nach dem Mauerfall an der Ostberliner Volksbühne durchsetzen sollten. Die staatssozialistische Kulturproduktion beruhte somit im Gegensatz zum Westen auf einer allgemeingültigen kommunal-avantgardistischen Wirklichkeitsorganisation, deren Veralltäglichung gleichwohl staatlich-institutionell überformt blieb. Die Bedürfnisse nach Eigengeltung der Künstler und Schriftsteller blieben jedoch weiterhin virulent und führten zur Bildung kleiner Parallelgesellschaften, die sich allerdings nur selten gegen den Sozialismus richteten – hier liegt der wohl deutlichste Unterschied zur französischen Bohème und ihrer Opposition gegen die classe normative. Kunst in der DDR, die etwas auf sich hielt, bewegte sich immer an der Nahtstelle zwischen offizieller

zu sein, bedarf eines Körpers, der vollkommen unfähig ist, sich einer Befehlsgewalt zu unterwerfen, sich

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und inoffizieller Kunst – egal in welchem Rahmen Kunstproduktion stattfand. Um ihre institutionelle Anbindung kamen die Kulturproduzenten nicht herum – das betraf auch die Strategien der Distanzierung gegenüber der Überpädagogik der ›Konsensdiktatur‹. Insbesondere an den Theatern versuchte man die Herzen und Köpfe des Publikums gleichwohl gegenüber der hölzernen Doktrin des sozialistischen Realismus zu gewinnen, dessen Normgeltungen in der späten DDR zunehmend verblassten. Das ermöglichte gewisse Handlungsräume, die Robert Darnton zutreffend beschrieb: »Tatsächlich gab es nicht ein System, sondern zwei: eine formale Struktur, in der die Planung an oberster Stelle stand, und ein menschliches Netz, in dem Menschen die Regeln umbogen.« (Darnton 1990: 9) Die scharfe Kontrolle, der das DDR-Theater als wichtiges öffentliches Medium unterstand, gab seinen Produzenten zugleich das Gefühl einer relativ hohen Bedeutung. Das erklärt, warum die Theaterschaffenden der DDR zu den Impulsgebern der Wende gehörten – und umso enttäuschter von ihrem Ausgang waren. Ihre späten Appelle an die politische Führung für ›mehr Demokratie‹ wurde jahrzehntelang durch die Illusion der Macht zurückgehalten, die ihr hohes intellektuelles und ökonomisches Niveau auf eine reelle Einflußnahme auf die Politik hoffen ließ. Im permanenten va-et-vient zwischen dem ›Offiziellen‹ und dem ›Inoffiziellen‹ formierte sich eine innere Opposition, deren Grenzen für viele erst offenkundig wurden, als die realpolitische Grenze fiel. Noch in ihren Subversionen – nicht als ›Angriff gegen‹ sondern als ›Unterlaufen von‹ vorgegebenen Handlungsspielräumen – blieb gerade den Theaterschaffenden der DDR gar nichts anders übrig, als innerhalb ihrer institutionellen Grenzen zu verbleiben, wobei die Bühnenbildner sich im Zuge der kulturpolitischen Wende der 1980er Jahre auch als freie Künstler selbstständig machen und damit ihr Handlungsfeld erweitern konnten. Doch auch in ihren rückblickenden Selbstzeugnissen wird deutlich, dass auch sie den realsozialistischen Auftrag zur gesellschaftlichen Auf klärung sehr ernst nahmen – wenn auch häufig auf ganz andere Weise, als von der Staatsführung gewollt.

4. Lust an Überforderung: Die Volksbühne nach der Wende Die Kulisse, vor der sich die Kunstproduktion der Berliner Volksbühne im Laufe der 1990er Jahre in Szene setzen wird, zeichnet sich durch den krisenhaften Zustand einer neuen alten Hauptstadt aus, die nicht nur politisch, sondern auch kulturell gespalten war. Über vierzig Jahre lang wurde Kunst in Berlin in zwei verschiedenen politischen

an familiäres Leben anzupassen, an Fabriksdisziplin, an die Regulierungen eines traditionellen Sexual-

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Systemen betrieben. Mit der Ernüchterung, die Anfang der neunziger Jahre nach der Vereinigungseuphorie einsetzte, blieb das Gespenst des Kommunismus als kommunikatives Rätsel zurück – als ›Mauer in den Köpfen‹. Mit dem Ende der DDR verschwand – quasi über Nacht – aus Sicht der ostdeutschen Bevölkerung nicht nur ein Staat, den sie endlich abgeschafft sehen wollten, sondern auch ihr mentales Koordinatensystem. Das Gefühl, im vereinten Deutschland Bürger zweiter Klasse zu bleiben, wurde durch die rigorose ›Abwicklung‹ der DDR und der mit ihr einhergehenden Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland nur verstärkt. Die neue classe normative war von den Idealen und Werten des westlichen Kulturrahmens durchdrungen und ließ wenig Zeit und Spielraum für eine behutsame Revision realsozialistischer Perspektiven. Es handelte sich um ein Szenario, das für eine Neuauflage der institutionnalisation de l’anomie kaum prädestinierter hätte sein können: Eine Gesellschaft im Umbruch und ein mentales Wechselbad zwischen Euphorie und Utopieverlust, das für viele ehemalige Angehörige der Intelligenzija aus Ost und West selbstreferentielle Systeme freisetzte, die zu ihrer Institutionalisierung drängten. Das Erleben eines derart tiefen, ebenso befreienden wie brutalen Epochenschnittes nährte das Bedürfnis nach Räumen, in denen jene Umwälzungen weitgehend handlungsentlastet buchstäblich aus-gelebt werden können. Es ist die richtige Zeit für eine postsozialistische Bohème. In der Gegenwärtigkeit des marktwirtschaftlichen Pluralismus wird diese Stimmung von den Regierungsinstanzen aus Politik und Kultur zwar nicht durchgängig, doch an den entscheidenden Stellen genau erkannt. Inmitten der Vereinigung steht auch die Fusion der beiden Berliner Theaterfelder Ost und West auf der Tagesordnung. 1991 gibt die Stadt ein Gutachten über die Situation der Berliner Theater in Auftrag. Dort heißt es: »Wir schlagen vor, daß das Land Berlin die Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz einer jungen Truppe, vermutlich mit Ex-DDR-Kern, gibt: einer Truppe, die ihr Theater machen will. Die sozialen, kulturellen Schocks und Wirrnisse unserer Lage könnten sich gerade in Berlin umsetzen: in einen neuen, erhellenden und verstörenden Blick des Theaters. Die Truppe der Volksbühne Ost würde ungefähr so viel Geld brauchen wie die Volksbühne West zuletzt bekam, vielleicht weniger im ersten und zweiten Jahr. Bis zum Beginn des dritten Jahres könnte sie entweder berühmt oder tot sein; in beiden Fällen wäre die weitere Subventionierung unproblematisch.« (Nagel 1991: 16)

Ivan Nagels Stellungnahme macht deutlich: Das Theater, diese wohl institutionalisierteste Form der Kunstproduktion, ist ein Ort sozio-

lebens. Trank er also aus der Flasche, in die er vorher gekotzt hatte. Das sei doch scheißegal, das komme

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symbolischer Praxis. Der städtische Auftrag, der sich an die ›Truppe Ost‹ richtet, liegt in der Übertragung der »sozialen und kulturellen Schocks und Wirrnisse« eines Vereinigungsprozesses, dessen krisenhafte Züge unübersehbar sind. Es ist diese in ihren Normgeltungen irritierte gesellschaftliche Lage, die den Ruf nach einer ›Truppe Ost‹ plötzlich einleuchtend erscheinen lässt. Nagels Kommentar verweist zugleich auf die konkrete Bedeutung des Theaters im öffentlichen Raum: Es soll den institutionellen Rahmen für eine verschwindende Wirklichkeit zur Verfügung stellen, deren Logistik von der Wirtschaft und Politik zwar eilig entsorgt wurde, die jedoch für die Kultur ein Potenzial bereithält, das für den satten Westen noch manche Überraschung bereithält. Nagel, der aus Ungarn stammende Grand Seigneur des westdeutschen Theaters optiert dabei auf die Auswirkungen einer strukturellen Krisenhaftigkeit, die es gerade auf der Ebene der Kultur produktiv einzufangen gelte. Die von den Gutachtern herbeigerufene Truppe nahm den Auftrag an. Sie verfügte über ein höchst geschultes Wissen darüber, dass institutionalisierte Kunstproduktion tradierte Produktionsformen höchst effektiv unterlaufen kann. Selbstbewusst griffen die neuen Köpfe der Volksbühne ohne vertränte Rückschau auf altbewährte Techniken der Abweichung zurück, die vielleicht gerade weil sie schon immer institutionell gerahmt waren, viel subversiver wirkten als in den – in westlichen Subkulturen häufig präferierten – gesellschaftlichen Randzonen, wo sie ohnehin nur eine Minorität erreichten. Die sich am Rosa-LuxemburgPlatz etablierende Montage aus Konzerten, Performances, Lesungen, Theateraufführungen, Tanzabenden und politischen Veranstaltungen wurde rasch zu einem Markenzeichen, das ein Publikum aus Ost und West anzog. Schon wenige Monate nach der Intendanzübernahme durch Castorf war im Berliner Stadtraum klar, dass dieses »Gebäude von schlagender Häßlichkeit« ein bedeutendes kulturelles Kraftzentrum inmitten Berlins hervorbringen würde, das keine gefälligen Antworten auf komplexe gesellschaftliche Fragen zu geben bereit ist. Diese Kulturproduzenten erkannten die institutionelle Rahmung ihrer Praxis nicht nur an, sondern nahmen sie zur Grundlage einer permanenten Schwellenbewegung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang, die zwischen scheinbar schrankenlosem Individualismus und kommunaler Popularität oszillierte. Als symbolische Wirklichkeitsorganisation systematisierten die Volksbühnen-Produzenten der 1990er Jahre die – im Feld der Kulturproduktion ohnehin zur Normgeltung erhobene – ›Entgrenzung‹ im doppelten Sinne, indem sie die politische Grenze zum inneren Bezugspunkt ihrer performativen Praxis machten. Bert Neumann beschreibt die damit verbundenen Mobilisierungsressourcen:

doch sowieso alles wieder hoch oder zum Arschloch raus. Es war Krieg. Da passieren seltsame Dinge. Es

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»Die Lust an der Überforderung hat mit unserer DDR-Biographie zu tun. Wir sind in einem Land aufgewachsen, in dem alles wahnsinnig pädagogisch war, dauernd wurde einem gesagt, wie alles sein soll. Darauf hatten wir keine Lust mehr. Das gilt für unsere [Volksbühnen-, T.B.] Plakate genauso. Ich halte eine bestimmte Form von Geheimnis bei der Kunstproduktion für notwendig. Die forcierte Verständlichkeit von etwas hat mich noch nie interessiert. Das bedeutet, die Leute für blöder zu halten als sich selbst und das finde ich immer unehrlich.« (Brand Eins 2005: 115)

In einer Gesellschaft, die durch die Redundanz der ›permanenten symbolischen Revolution‹ geprägt ist, ist dieses Beharren auf dem Unverstellten nur möglich, indem die früheren Beschränkungen und die damit verbundenen Taktiken der Abweichung nunmehr als zeitgeschichtlicher und ästhetischer Vorsprung ausgeschöpft werden. Doch diese Lust an der Überforderung speiste sich nicht nur aus der Vergangenheit. Es ging auch darum, die intellektuelle Deutungshoheit über die Geheimnisse dieser Abweichungen zu gewinnen, statt sie den ›Ostalgikern‹ oder den Stasiakten zu überlassen. Der verkrampften Ethik einer ›autonomen‹ Kunst westlicher Couleur hielt die Truppe Ost dabei ihre Gewohnheit entgegen, aus der Nähe zur politischen Macht, von der sie finanziell abhingen, ein weniger genialisches als pragmatisches Professionsethos zu formulieren – als städtischen oder auch ›kommunalen‹ Auftrag. Der aus der Bundesrepublik stammende Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen kommentiert die Anziehungskraft der Volksbühne: »Ihr Glanz kam aus dem Inneren, aus einer spezifischen sozialen Organisation einer spezifischen Ästhetik. Ein Staatstheater machte also genau das, was Szene und Subkulturen gerade verloren hatten.« (Diederichsen 2003: 36) Die VolksbühnenProduzenten sahen sich ganz im Sinne Gehlens eindeutig berechtigt, den gesellschaftlichen Zweck ihrer Institution klar und deutlich auszusprechen. Kurz nach Bekanntwerdung seiner Intendanzübernahme antwortet Frank Castorf auf die Frage, was er für ein Theater machen will: »Ich denke, es könnte Spaß machen, ein Programm vorzustellen in einer Zeit, die, abgesehen von der Programmhaftigkeit des Marktes und des Geldes, kein Programm mehr hat. Über Utopien nachdenken zu dürfen, die jetzt als Gesellschaftsmodell verlorengegangen sind. Das kann man nur dann wirklich praktizieren, wenn man ein Steuer in der Hand hält.« (Wilzopolski 1992: 314)

ist eine Demütigung für jeden. Die herrschende Niedertracht. (Unterschiedliche Methoden & Grade der

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5. Subversionen als ›stabilisierte Spannung‹ War es möglich, zu DDR-Zeiten gerade das Theater als Transportmedium nicht-konformer politischer Haltungen zu nutzen und das Umbiegen von Regeln noch ein bisschen weiter zu treiben, als es die inoffiziellen Alltagspraktiken erlaubten, so stellte sich spätestens mit der deutsch-deutschen Vereinigung die Frage: Was ist an einem Theater noch subversiv? Haben nicht auch gerade die Künste und die Literatur der DDR zur inneren Stabilität der ›Konsensdiktatur‹ beigetragen? Und müsste man heute nicht erst recht der These zustimmen, dass das marktwirtschaftliche System, zu dem auch das Kunstsystem gehört, ja gerade von Regelbrechungen und koextensiven Praktiken lebt, weil erst sie imstande sind, nicht nur die Expansion des Kapitals sondern auch das Primat der kulturellen Komplexitätssteigerung anzutreiben? Nur ein Denken, das zwischen Struktur und Praxis trennt und dabei den Strukturen den eindeutigen Vorzug gegenüber den Veränderungspotenzialen gibt, die sich aus spezifischen Praktiken erst ergeben können, kann diese Annahmen als gültig anerkennen. Wie ich hoffe, gezeigt zu haben, ist dieses Denken zu Recht als überholt anzusehen. Wenn irgendwo, so steht zu vermuten, dann hat das subversive Moment, das sich in der Volksbühne verstetigte, seinen Ursprung in einer institutionellen Doppelung, deren staatssozialistisch bedingte künstlerische Produktionstechniken sich erfolgreich durchgesetzt haben. Die Zweigesichtigkeit nicht nur des Institutionen-, sondern auch des Subversionen-Begriffes wird an einem Gegenstand wie der Volksbühne besonders offenkundig – handelt es sich doch nicht nur um eine spezifische personengebundene Figuration, sondern zugleich auch um einen organisatorisch gebundenen kulturellen Produktionsort. Damit komme ich nun abschließend zur Relation zwischen der praktizierten institutionnalisation de l’anomie und der Institution im Sinne einer ›stabilisierten Spannung‹. Wie am Beispiel der französischen Bohème dargelegt, sind Subversionen als Techniken der Abgrenzung und die damit verbundene Konstituierung selbstreferentieller Handlungsorientierungen nicht freischwebend, sondern schon aufgrund ihrer Intentionalität auf Strukturbildung ausgerichtet. Im Gegensatz zum strukturlastigen Terminus der Anomie, der ein passiver und zuschreibender ist, ausgehend von einer Perspektive, die spezifische Normgeltungen postuliert, sind Subversionen figurationsbildende Praktiken. Das epistemische Dilemma zwischen Struktur und Praxis wird hier obsolet und mit ihr auch der Widerspruch zwischen Ordnungen und Abweichungen. Abweichungen, die auf gesellschaftliche Intervention abzielen, müssen sich instituti-

Ausbeutung & Unterdrückung.) Es ist immer noch nicht Schluß mit diesen Schweinereien. Das muß alles

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onalisieren, wollen sie effektiv sein. Sie können daher auch innerhalb von Institutionen stattfinden, die diese Praktiken ermöglichen, ebenso wie die illegalen politischen Gruppen in Lateinamerika Schutzräume auf bauten, um sich vor staatlicher Verfolgung zu schützen – was sie nicht daran hinderte, an ihrem Anliegen weiterhin festzuhalten. So wie viele Kulturproduzenten in der DDR gerade in der Ausnutzung ihres privilegierten Sozialstatus mentale Räume der Doppeldeutigkeit, der politischen Kritik und der Ironie schufen, um nicht nur ihr Publikum, sondern ebenso die allgegenwärtige Partei zur Reflexion anzuregen – Heiner Müller ist das dafür wohl beste Beispiel – kann auch die künstlerische Institution der Gegenwart Parallelwelten erzeugen, deren Uneindeutigkeiten produktive Formen der Irritation hervorzurufen imstande sind. Weder der Ostblock noch Institutionen sind als monolithische Einheiten zu verstehen. Die Dauer ihrer Beständigkeit ist ebensowenig zu begreifen wie ihre Endlichkeit, wenn ihre inneren Spannungen unter einen Strukturbegriff subsumiert werden, der für die Praxis – und damit für die Lebenswelt der in ihnen agierenden Menschen – keinen Spiel-Raum zulässt. Es ist dieser Raum, in dem Subversionen möglich sind. Die Berliner Volksbühne ist ein solcher Spielraum. Der von Ivan Nagel formulierte Auftrag zur performativen Differenzproduktion an die ›Truppe Ost‹, die ›ihr‹ Theater machen sollte, fußte auf einer gesellschaftlichen Gesamtsituation, in der sich die Sehnsucht nach Grenzziehung, die Ursache jedes subversiven Handelns ist, mit dem Auf bau einer stabilisierten Spannung verbinden konnte. Vor dem Hintergrund der sozio-ökonomischen Abwicklung der DDR wurden durch ihre Kunstproduzenten Legitimationskrisen sichtbar gemacht, die sie zuvor auf der anderen Seite der Mauer in symbolische Formen gebracht hatten. Das ›Theater des Realen‹, als das Hans-Thies Lehmann das postdramatische Theater bezeichnet, traf in der Volksbühne auf eine ausgesprochene postsozialistische Haltung, die schon deshalb überraschend war, weil sie mit Strategien des Unterlaufens von tradierten Repräsentationsmustern vertraut war, die man im Westen nicht kannte. Die sich hier verstetigte stabilisierte Spannung drückt sich noch in der antipädagogischen Programmatik des ›lässigen Abfackelns‹ als gesellschaftlich virulentes Bedürfnis aus, das Castorf zur Leitidee seiner Institution umdeutete: »Wenn Kunst etwas kann, ist es, ein Krisenbewußtsein zu schaffen, statt Krisenbewußtsein zu sublimieren.« (Castorf 1995) Innerhalb der Institution Volksbühne bedeutete das: Die Geheimnisse der subversiven Abgrenzungstechniken, die innerhalb der Konsensdiktatur zu wichtigen Handlungsorientierungen wurden, in das

weg. & aber demnächst? Bleibt nur noch das Nichts, leere Worthülsen, der Unsinn. Das Risiko bleibt. Jetzt

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marktwirtschaftlich geprägte Kulturfeld hinüber zu retten. An der Volksbühne wurde exemplarisch deutlich, dass der Einzugsbereich des Subversiven gerade in einer institutionalisierten und nur deshalb möglichen Parallelwelt liegen kann, die als Basis für öffentliche Interventionen genutzt wird. Vielleicht meinte René Pollesch eben diesen Bereich, als er für eine seiner zahlreichen Volkbühnen-NebenstättenAufführungen den Satz schrieb: »Du liebst in mir einen Ort, an den du niemals gehen würdest.« (Pollesch: 2004) Das, was diesen Spielraum bildete, gehört zu den bewahrenswerten Geheimnissen, die den Utopieverlust nach 1989 erfolgreich überdauerten.

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weiter. Bloß wie? »Es gibt immer einen Ausweg.« Diese Entwicklung erfolgt unter solchen Umständen, in

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einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten & Erschütterungen … Was soll das? Im

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für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag, S. 9–26. Simmel, Georg (1983): Schriften zur Soziologie, 1888–1917, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Stäheli, Urs (2000): Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld: transcript. Stallybrass, Peter (1990): »Boundary and Transgression: Body, Text, Language«. Boundary and transgression in the medieval culture, Stanford: Stanford French Review Spring-Fall, S. 9–23. Wilzopolski, Siegfried (1992): Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs. Eine Dokumentation, Berlin: Zentrum für Theaterdokumentation und-information.

Ernstfall, wenn man in der Scheiße sitzt. Wenn man mit Festnahmen, Hausdurchsuchungen, Strafbefehlen

& Prozessen rechnen muß. Die Institutionen funktionieren, auch wenn sie zusammenbrechen.

(Da versteh ich was nicht.) Alles ist anders, & doch scheint sich nichts geändert zu haben. Es muß von

Sub/ Versionen von < Geschlecht >. Zum politischen Einsatz einer Fotoausstellung K aren Wagels

»… die Kategorie der Intention [wird] nicht verschwinden, sie wird ihren Platz haben, aber von diesem Platz aus wird sie nicht mehr den ganzen Schauplatz und das ganze System der Äußerung [l’énonciation] beherrschen können.« (Jacques Derrida, zit. in Butler 1997: 37; Herv. i. Org.)

Die Schreibweise im Titel deutet es an: Im Folgenden wird es darum gehen, einen poststrukturalistischen Blick auf das Konzept der ›Subversion‹ – als politische Praxis und Effekt – zu werfen. Poststrukturalistisch insofern, als meine Überlegungen an kritische Reflexionen der Kategorie ›Intention‹ anschließen, in denen ihre Reichweite austariert wird. Auf dem Feld des Politischen bedeutet dies nicht etwa eine Absage an ›Intentionalität‹ oder an den Stellenwert und die Notwendigkeit politischer Praxen. Vielmehr geht es mir zunächst um die Grenzen einer Politik, die meint, ihre Effekte im Voraus kalkulieren zu können – und sich damit außerhalb des zu verändernden Feldes stellt. Das politische Terrain, auf dem ich diesen Gedanken nachgehe, ist 1 als sinnlich fundierte Kategorie. erscheint unserer Wahrnehmung selbstverständlich gegeben, ist im 1 | Wenn im Folgenden von die Rede ist, soll mit der Schreibweise die kategoriale Einfassung zum Ausdruck gebracht werden: Im hegemonialen Verständnis ist binär organisiert (entweder/oder),

ungeheuren Unterdrückungs- & Zerstörungspotentialen ausgegangen werden. Das Schlachtfeld ist bekannt.

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Alltag unmittelbar präsent, und selbst da, wo es vordergründig keine Rolle spielt, strukturiert es Relationen und Empfindungen. Die Ebene, die es hier zu problematisieren gilt, ist die unmittelbar körperliche: Es wird zu zeigen sein, inwieweit Heteronormativität als Regulativ, über das funktioniert, an Verkörperung gebunden – und dies zugleich Ort und Motivation transformierender Praxen ist. Diese Konzeption von Geschlechtlichkeit bildet den Hintergrund für eine politisch engagierte Fotoausstellung, die ich schließlich heranziehe, um potenziell subversive ›Bewegungen im Hegemonialen‹ nachzuzeichnen. Fokussiert werden Prozesse, in denen Dissenssituationen zu Irritationen, Provokationen und Affizierungen Anlass geben (können). Die Ebene ist der Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren, und die Prozesse – so mein Fazit – vollziehen sich in einem Zwischenraum von Sichtbarem und seiner Bedeutung. In dieser Form von Politik geht es darum, raumzeitliche Bedingungen zu schaffen, unter denen sich ›etwas‹ ereignen kann – um dieses Argument zu entwickeln, beginne ich mit einer oft und immer wieder gestellten, durchaus skeptischen Frage aus der Diskussion um Subversion, die die folgenden Überlegungen anleiten wird:

Existiert wirksame Subversion überhaupt? Hierbei scheinen zwei Aspekte von Relevanz zu sein: I. Wann wird von Subversion gesprochen – was macht diese, in Abgrenzung zu anderen politischen Praxen, aus? Assoziativ fallen hier zunächst die Begriffe des ›Unterlaufens‹ oder ›Unterwanderns‹ ein. Damit verbunden zu sein scheint, sich in bestimmter Weise auf Machtstrukturen zu beziehen oder einzulassen, das heißt, aus diesen heraus zu agieren, ihre Mechanismen aufzudecken und Systeme mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Es ist ein Eingriff in geregelte Funktionsweisen machtvoller Strukturen – mit dem Ziel, diese zu stören, umzuleiten oder ad absurdum zu führen. Impliziert ist ein spezifischer Umgang mit und Begriff von Macht, der noch auszuführen ist. Diese Überlegungen verweisen auf den zweiten Aspekt in der eingangs gestellten Frage: II. Worauf sind subversive Aktionen oder Strategien gerichtet, operieren sie überhaupt mit einem festgelegten Ziel – und woran lassen sich Wirkungen festmachen? persongebunden (und damit ›Ausdruck‹ einer Person) und unveränderbar (konstant ab Zuweisung bei Geburt).

Das offene Kampffeld. Das Terrain, auf dem Widerstand & Alternativen entstehen können. Fahren wir

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Die Frage nach der Wirksamkeit führt zu einem Nachdenken darüber, welche Effekte konkret erzielt werden sollen, auf welchen Ebenen diese angesiedelt bzw. beobachtbar sind, und wie – und mit welchen Folgewirkungen – sie sich verteilen. Zur Disposition stehen damit Vorstellungen von Intentionalität, Linearität und Kausalität, wie sie in Verbindung mit politischem Handeln gedacht werden, ebenso wie Überlegungen zur Kontrollier- und Integrierbarkeit subversiver Effekte. Denken ohne ›außen‹ Um die beiden genannten Aspekte – den Bezug auf die Struktur und darin wirksam werdende Effekte – zusammenzuführen, soll an dieser Stelle als vorläufiges Fazit mit Butler (1991) formuliert werden: »Wenn Subversion möglich ist, dann nur als eine, die von den Bedingungen des Gesetzes ausgeht, d.h. von den Möglichkeiten, die zutage treten, sobald sich das Gesetz gegen sich selbst wendet und unerwartet Permutationen seiner selbst erzeugt.« (Butler 1991: 141f.) Butler führt hier einen singulären strukturalistischen Begriff von ›Gesetz‹ an und bezieht sich damit auf eine körperpolitische Konzeption, in der ›das Gesetz des Vaters‹ eine zentrale Stellung einnimmt. 2 In der kritischen Auseinandersetzung wendet sie allerdings – mit Bezug auf Foucault – den darin angelegten Repressionsmechanismus produktiv: Das Gesetz hat demnach keine ausschließlich prohibitive Funktion, sondern bringt in dem Akt der Unterdrückung bzw. Verwerfung zugleich das Objekt, das es verneint – in diesem Fall die Weiblichkeit –, erst hervor. Insofern es also keinen Bereich gibt, der dem Gesetz äußerlich ist, müssen wir vielmehr – so Butlers Argument – »die ganze Vielschichtigkeit und Subtilität des Gesetzes in Betracht ziehen und uns von der Illusion eines wahren Körpers jenseits des Gesetzes kurieren« (Butler 1991: 141). Subversion steht demnach in Relation zum Hegemonialen – dies ist die Perspektive, unter der ich im Folgenden das Potenzial des Subversionsbegriffs ausloten werde. Damit sei nicht gesagt, dass »die Wirklichkeit des subversiven Akts […] sich in seiner Relation zur Hegemonie [erschöpft]«, worauf Haase u.a. (2005: 11; Herv. d. Verf.) kritisch hinweisen. Auf die je spezifische Wirklichkeit queeren Lebens soll allerdings an dieser Stelle nur verwiesen werden, wenn es mir darum geht, ›Bewegungen im Hegemonialen‹ nachzuzeichnen. Politische 2 | Butler diskutiert hier die Körperpolitik Julia Kristevas, potenziell aber geht es um »jede Theorie, die behauptet, dass die Bezeichnung auf der Verleugnung oder Verdrängung eines weiblichen Prinzips basiert« (Butler 1991: 141).

durch die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs, des Ersten auch, Normandie, Belgien. Überall Soldaten-

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Fluchtlinie bildet ein Begriff von , wie er im Folgenden entwickelt wird. als politisches Terrain »Bedeutung […] entsteht aus der Anwendung sprachlicher und sozialer Regeln, Normen und Codes. Als solche ist sie Teil sozialer Wirklichkeit und entfaltet eben dort Wirksamkeit – nicht zuletzt in Form materieller Effekte.« (Engel 2002: 128) als gesellschaftlich bedeutsames Konzept zeichnet sich aus durch eben diese Zitatförmigkeit. Dabei ist die materielle Dimension von besonderer Relevanz: wird nicht nur sprachlich-diskursiv zu einer sozialen Tatsache, sondern findet seinen Ausdruck in der ›Verkörperung‹: 3 Es ist an die (Selbst)Wahrnehmung und Inszenierung des Körpers gebunden. Die hegemoniale Version folgt dabei einer binären Logik: wird als Zweigeschlechtlichkeit gedacht – eine Vorstellung, die institutionalisiert und durch machtvolle Diskurse abgesichert ist (zu nennen sind hier insbesondere die Medizin, Psychiatrie, Sexualforschung und Rechtssprechung). Dass diese Diskurse wissenschaftlich re/produziert sind – und zwar über die Disziplingrenzen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften hinweg – beinhaltet einen wichtigen Kern in der Konzeptualisierung von : Sie operieren mit einem Wahrheitsanspruch, der sich über einen ›objektivierten Naturbegriff‹ legitimiert. So galt ›der Körper‹ unter der Voraussetzung ahistorischer Kategorien der Biologie lange Zeit – und gilt vielfach immer noch – als Basis und Ursache, als Garant von und dessen Authentizität. 4 Diese Vorstellung ist keineswegs statisch – ganz im Gegenteil ist von einem ständigen Ringen, Aushandeln und Shiften in den Vorstellungen zu auszugehen. Dass es hierbei um die – auch gewaltförmige – ›Herstellung‹ kohärenter Körper geht, zeigen nicht nur die gegenwärtigen Kämpfe um das Transsexuellengesetz oder um die medizinisch-chirurgischen Eingriffe an als intersexuell definierten Personen.5 Auch alltägliche Praxen einer Annäherung an 3 | Für eine Fokussierung der leiblichen Dimension von Verkörperung und ein Zusammendenken phänomenologischer und poststrukturalistischer Ansätze vgl. Jäger 2004. 4 | Diskursanalytische Historisierungen dieses Körperbegriffs finden sich bspw. bei Duden 1987; Honegger 1991; Laqueur 1996; Sarasin 2001. 5 | Vgl. hierzu die differenziert geführten Diskussionen in den Sammelbänden: NGBK (Hg.): 1–0-1 intersex. Das Zweigeschlechtersystem als Men-

friedhöfe, Bunker. Schlachtbeschreibung: die Schwierigkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, die Lage

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idealisierte Vorstellungen von Frau- und Mannsein – wenn etwa Muskeln gestählt6 oder Haare entfernt werden – ebenso wie (intendierte) Überschreitungen dieser Vorstellungen in feministischen und/oder queer-politischen Kontexten7 verweisen – affirmativ oder produktiv – auf den Herstellungsprozess von (kohärenten) Geschlechtskörpern und machen zugleich die hierin wirkende Norm sichtbar. Heteronormativität Stabilität und Kohärenz in der Erscheinung sind Voraussetzung für Wahrnehmbarkeit und Denkbarkeit – von Butler (1991) als kulturelle ›Intelligibilität‹ bezeichnet – und beziehen sich auf eine ›angemessene‹ Passung von Körpern. Mit Angemessenheit betone ich, dass der Prozess des Wahrnehmens von Passung und die darin wirksame Norm kontextabhängig ist und in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, kulturellen Räumen, historischen Situationen zu unterschiedlichen Ausformulierungen führt. Das heißt auch, dass das Konzept der Passung nicht nach einem dichotomen Prinzip – des entweder/oder – funktioniert, sondern eher einen ›Bereich‹ des Möglichen absteckt. Passung in diesem Sinne unterliegt einer sozialen Bewertung – und somit machtförmigen Aushandlungs- und Veränderungsprozessen. Die so gefassten Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsprozesse in Bezug auf werden pointiert in dem folgendermaßen konzeptualisierten Begriff von Heteronormativität zum Ausdruck gebracht: »[…] Die H[eteronormativität] drängt die Menschen in die Form zweier körperlich und sozial klar voneinander unterschiedener Geschlechter, deren sexuelles Verlangen ausschließlich auf das jeweils andere gerichtet ist. H[eteronormativität] wirkt als apriorische Kategorie des Verstehens und setzt ein Bündel von Verhaltensnormen. Was ihr nicht entspricht, wird diskriminiert, verfolgt oder ausgelöscht (so in der medizinischen Vernichtung der Intersexualität) […].« (Wagenknecht 2004: 189f.; Herv. d. Verf.) schenrechtsverletzung (2005) sowie polymorph (Hg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive (2002). 6 | Vgl. Wirtz (2006), die das Phänomen ›Fitness‹ danach befragt, »inwiefern es in unsere heutige Zeit und gegenwärtige Vorstellungen geschlechtlicher Körper hineinpasst« (Wirtz 2006: 26). 7 | So verortet Schirmer »im Kinging das Potenzial, die Naturalisierung und Festschreibung geschlechtlicher Identitäten zurückzuweisen oder zu unterlaufen.« (Schirmer 2007a: 90); vgl. auch Schirmer (2007b).

richtig zu interpretieren. (Das einzige, was man nicht machen kann, ist den Überblick behalten & zugleich

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Den Mechanismus dieser Formation zweigeschlechtlicher Ordnung beschreibt Butler (1997) als eine Funktion des Ausschlusses: Die Norm konstituiert sich über das, was kulturell verworfen ist, und »beinhaltet zumindest zwei unartikulierte Figuren der verwerflichen Homosexualität, und zwar die des verweiblichten Schwulen [ fag] und die der phallizisierten Lesbe [dyke]« (Butler 1997: 141; Herv. i. Org.) – und an anderer Stelle wird präzisiert: »diese Figuren für Verworfenheit schließen genau die Art komplexer Verschränkungen von Identifikation und Begehren vorab aus, die über den binären Rahmen selbst hinausgehen und ihn in Frage stellen könnten.« (Butler 1997: 150) Auch an dieser Stelle soll der Fokus nicht auf die so konzipierte ›Art komplexer Verschränkungen‹ gerichtet werden, sondern auf die Funktionsweise von ›Intelligibilität‹: Der Bereich des kulturell Verworfenen ist konstitutiv für das, was denkbar erscheint – eine Perspektive, die den Blick auf die Mechanismen und ›Selbstverständlichkeiten‹ der heteronormativen Ordnung lenkt.8 Verstehbarkeit Um also den Bedingungen und Wirkweisen von Subversion in Bezug auf ein so gefasstes Konzept von nachzugehen, sollen im Folgenden die Logik und das Funktionieren von ›Verstehbarkeit‹ in den Blick genommen werden: Was bedeutet die oben zitierte Annahme von Heteronormativität als ›apriorische Kategorie des Verstehens‹, und was impliziert ein so gefasstes ›Gesetz‹ an subversiven Möglichkeiten? Als a priori – im historisierten Sinne – kann mit Foucault (1997) konzeptualisiert werden, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt und die Bedingungen definiert, unter denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird. Wenn wir also von Heteronormativität als apriorischer Kategorie des Verstehens – und damit als machtvolle Verankerung eines binären Geschlechterkonzepts – ausgehen, dann beschreiben wir ein ›Wahrnehmungsmuster‹, in das zunächst alle Personen eingeordnet werden – und sich selbst einordnen. Wahrnehmungsprozesse und Begründungsfiguren funktionieren im Modus des Selbstverständlichen: »Der Geschlechterunterschied ist begründet in der Natur, verbreitet in der Welt und kennt nur Ausnahmen, die sein einfaches Gegebensein wieder bestätigen.« (Hirschauer 2001: 47; Herv. d. Verf.) Wie also kann auf einer Wahrnehmungsebene interveniert werden, so dass der Blick 8 | Für eine kritische Diskussion des ›konstitutiven Außen‹ bei Butler vgl. etwa Engel (2002).

arbeiten.) Können Reiterboten die Lage einschätzen helfen, können Fehleinschätzungen der eigenen

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nicht nur auf ›Ausnahmen‹ im Sinne des oben angeführten ›konstitutiven Außen‹ gelenkt wird – ohne dabei den Wahrheitsgehalt der binären Optik grundlegend in Frage zu stellen –, sondern der Prozess des Wahrnehmens selbst zum Thema wird? Anders formuliert: Wie kann der – fragende – Blick auf die Betrachtenden zurückführen?

Sub/Versionen Differierende Schreibweisen haben den Vorteil, dass sie den Prozess des Denkens nicht nur anregen, sondern auch sichtbar machen. Sie zeigen an, dass einem Begriff keine ›wesenhafte‹ Bedeutung innewohnt, sondern sich die Produktion seiner Bedeutung im Gebrauch – immer wieder neu – vollzieht. Begriffe haben somit niemals nur eine Bedeutung, sondern sind eingebunden in den Kontext einer Praxis. Um nun die eingangs gestellte Frage nach der Existenz wirksamer Subversion auf dem so umrissenen politischen Terrain wieder aufzunehmen, soll der Begriff der Subversion hier in spezifischer Weise aufgefächert werden: Wenn von ›Sub/Versionen‹ die Rede ist, so verweist das ›Sub‹ als Präfix auf etwas Nicht-Hegemoniales, auf etwas darunter Liegendes, auf Nischen oder Ränder – und bleibt über diesen Verweisungszusammenhang dem Hegemonialen verbunden. ›Versionen‹ bezeichnen unterschiedliche Ausführungen oder Artikulationen von etwas, transportieren eine Idee von Vorläufigkeit und Veränderbarkeit in der Zeit, verfügen dennoch über materielle Präsenz. Eine Annäherung an das, was Sub/Versionen ›vermögen‹, aber auch, welche Grenzen sie berühren und dadurch sichtbar machen, soll anhand von Erfahrungen mit einer Fotoausstellung versucht werden, die im Januar 2006 in der AusstellungsHalle 1a, Frankfurt a.M., für eine Woche zu sehen war und in der Folge in verschiedenen queer-feministischen Kontexten wie dem Ladyfest in Frankfurt a.M., dem workshop Queere Kunst. Theorie. Politik. in Hamburg oder dem queer monday in Hamburg diskutiert wurde.

Chancen im Kampf die Schlacht entscheiden. Z.B. Solferino, werde ich aufgeklärt, der überforderte Franz

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geschlechter/kon/fusionen9 geht zurück auf ein Fotoprojekt, in dem sich zehn Personen (inklusive der Autor_in) aus dem im weitesten Sinne queer-politischen Spektrum in Frankfurt a.M. organisiert haben. Motiv war, Alltagssituationen zu reinszenieren – ohne dabei schon konkrete Bilder vor Augen zu haben, die es ›darzustellen‹ oder zu inszenieren galt. Vielmehr konnte, gemeinsam mit der Fotografin Neus Gilabert Bertomeu, eine Begleitung im Alltag realisiert werden – davon ausgehend, dass hier die Widersprüche und Brüche zu finden sind, die mit einhergehen. Aus den so entstandenen Fotos wurden für die Ausstellung 30 Bilder ausgesucht, die (1) irritieren, d.h. nicht 9 | Über die Lesben Informations- und Beratungsstelle LIBS e.V. in Frankfurt a.M. konnte das Projekt mit finanzieller Unterstützung durch: Hannchen-Mehrzweck-Stiftung, Berlin – Frauenreferat, Stadt Frankfurt a.M. – Stipendiatischer Solidaritätsfonds, Hans-Böckler-Stiftung – FrauenLesben Referat im AStA der Universität Frankfurt a.M. – Hessisches Sozialministerium, Wiesbaden realisiert werden. © Lesben Informations- und Beratungsstelle LIBS e.V., Frankfurt a.M.

Joseph, der kurz zuvor den Oberbefehl übernommen hatte & die Lage nicht richtig einschätzte. Ist es von

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auf den ersten Blick lesbar sein sollten, und (2) zur Kommunikation herausfordern sollten, indem keine – identitäre – Bezeichnung zur Verfügung gestellt wurde: So trugen weder die einzelnen Bilder noch die Ausstellung insgesamt einen Titel, der eine identitätspolitische Positionierung beinhaltet hätte.

Kommunikationsraum Durch diese Konzeption10 entstand während der Ausstellungswoche11 ein ›Kommunikationsraum‹, 12 in dem – von den ca. 100 Besuchenden – die verschiedensten Bezeichnungen für die einzelnen Bilder gefunden wurden. Die Wirkmacht der kategorialen Einfassung von wurde dabei von einigen Betrachtenden selbst formuliert: Sie ertappten sich, bei fast jedem Bild eine Antwort auf die Frage ›Mann oder Frau‹ zu suchen (wobei sie von sich dachten, darüber längst hinaus zu sein) – ebenso wurde darüber nachgedacht, ›wer‹ die Person auf dem Bild ist und auf welchen anderen Bildern sie noch zu sehen ist (als ob dies zu einer ›Wahrheit‹ der Person und ihrer Geschlechtlichkeit führe). Die Alltäglichkeit der Fotos sorgte dafür, dass sie den Betrachtenden intim und persönlich erschienen. Hierdurch war schnell klar, dass es sich nicht um ein Spiel mit Geschlechteraccessoires handelt – wie der Titel der Ausstellung suggerieren könnte – sondern um ›Verkörperungen‹. In diesem Sinne soll auch nicht danach gefragt werden, welche Zeichen als signifikant für die Zuschreibung von erachtet wurden – dies war weder Intention noch Herausforderung in der Ausstellung. Vielmehr geht es im Folgenden um die Prozesse, die sich zwischen den Betrachtenden und den Bildern abspielten, ganz im Sinne Deleuze’ (1987), wenn er feststellt: »Sichtbarkeiten definieren 10 | Die Konzeption wurde realisiert von den Teilnehmenden des Fotoprojekts, die sich in wissenschaftlichen, künstlerischen und/oder alltagspolitischen Praxen mit auseinandersetzen. 11 | Die Ausstellung wurde feierlich eröffnet mit einer Vernissage, zu der die Teilnehmenden des Fotoprojekts und das LIBS eingeladen hatten. Zu den Öffnungszeiten während der Woche waren Teilnehmende des Projekts anwesend und ansprechbar. 12 | Gespräche, Kommentare und Diskussionen mit Besuchenden wurden in einem Nachtreffen der Fotoprojekt-Teilnehmenden ausgewertet. Die folgende Beschreibung und Analyse ist somit als intersubjektiv entstandene Selektion an Themen zu verstehen, die einen Ausschnitt darstellt und sich mit jedem Kontext, in dem die Ausstellung gezeigt wird, verändert.

einem Ballon aus schon sehr viel besser möglich, sich einen Überblick zu verschaffen. Aber was machen

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sich nicht durch das Sehen, sondern sind Komplexe von Aktivität und Passivität, von Aktion und Reaktion, ans Licht tretende multisensorielle Komplexe.« (Deleuze 1987: 84) Irritationen, Provokationen, Affizierungen Eine Person – uns den Rücken zugewandt – hockt vor einem auf Sattel und Lenker stehenden Fahrrad. Sie ist offensichtlich dabei, dieses Fahrrad zu reparieren – die Arme Richtung Kette, mit einem Fläschchen Öl neben sich auf dem Boden – und hat es sich bequem gemacht, auf einem niedrigen Hocker breit sitzend, mit den Füßen fest auf dem Boden. Ihr Oberkörper ist zum Fahrrad hin gestreckt – die Linien der starken Rückenmuskulatur treffen sich mit den Trägern des langen Abendkleides und wiederholen sich in dem Muster, das die Speichen der Räder bilden. Der erste Gedanke von vielen – ›Frauen und Technik – schon wieder – und muss sie nun auch noch im Kleid da sitzen?‹ wurde schnell verworfen: Den Titel und Kontext der Ausstellung bedenkend, konnte eine solch eindeutige Zuordnung nicht die Intention sein – was dazu führte, sich neu auf das Bild einzulassen.

Auf den ersten Blick sahen die Betrachtenden genau das, was sie bereits wussten. Diese unmittelbare Evidenz ist einem aktiven Suchen nach Irritation gewichen, einem Prozess also, der eher eine ›Bewegung‹ des

wir jetzt daraus? Welche Art von Aktionen heute möglich ist, ist schwer zu beantworten. (Es reicht auch

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Schauens war. Beim erneuten Betrachten des Bildes fiel insbesondere die Symmetrie der Linien ins Auge – Ruhe und Souveränität in der Tätigkeit ausstrahlend. Im Zentrum der muskulöse Rücken und das breitbeinige Sitzen – nichts dagegen einzuwenden, auf diese Weise ein Fahrrad zu reparieren. Dass die Person weiß, was sie tut, wird unterstützt von dem nächsten kleineren Bild, das einen Blick über die Schulter der Person erlaubt und so einen näheren Einblick in die Szene bietet: Mit einer Hand – einen silbernen Ring am Daumen – die herunterhängende Fahrradkette haltend, scheint sie mit der zweiten – ein breites, nietenbesetztes Lederband am Handgelenk – die verschmierte Zahnbürste gegen ein anderes Werkzeug zu tauschen. Titel und Kontext der Ausstellung führten dazu, das Bild neu auf sich wirken lassen. Die sinnliche Ebene bot dabei einen Zugang für die Suchbewegung – und für die Bereitschaft, neu zu schauen. Wenn der erste Blick eine Kritik am ›Thema‹ des Bildes beinhaltete (›über die Frauen-und-Technik-Diskussion sind wir doch schon hinaus‹), so erfordert die weitere Betrachtung, die wahrgenommene Kopplung (Frau repariert Fahrrad) zunächst zurück zu stellen. Die eindeutige Zuordnung ›Frau‹ beruht auf der weiblichen Konnotation des Abendkleides, das in der Regel dazu benutzt wird, den Körper auf spezifische Weise dem betrachtenden Blick zu präsentieren. Das vorliegende Bild durchquert diese Vorstellung, indem das Kleid in einen ungewohnten Kontext – der handwerklichen Arbeit – gesetzt ist und zudem eine körperliche Präsenz transportiert, die nicht auf den Betrachtenden gerichtet ist. Eine so beschriebene ›Bewegung‹ des Schauens beinhaltet die Möglichkeit, gesellschaftlich konstituierte Wahrnehmungsmuster nicht nur sichtbar und spürbar zu machen, sondern die Grenzen dessen, was wir unter Weiblichkeit verstehen (können), zu erweitern. Ganz anders die Reaktionen auf das nächste Bild: Eine Person – in Nahaufnahme, den Torso von der Seite fotografiert – hält ihre Arme über den Kopf, der leicht zurückgelehnt ist. Die Lichtquelle trifft auf den Rücken, so dass Gesicht und Dekolleté davon unberührt bleiben. Die Person lächelt nicht, sondern scheint in sich zu ruhen – ein Bild, das Entspanntheit, vielleicht sogar Genuss ausstrahlt. Die Andeutung eines schwarzen Spitzen-Dessous verstärkt den Eindruck einer lustvollen Selbstbezüglichkeit. An den sich in der Achselhöhle kringelnden und leicht verklebten Haaren schieden sich dann die Geister: Die Reaktionen auf das Bild waren unmittelbar und affektgeladen – sowohl positiv berührt (›endlich werden mal Haare gezeigt‹) bis hin zu abgestoßen (›das muss ich mir nicht ansehen‹). Diese starke Polarisierung war auch in den Gesprächen während der Ausstellung nicht aufzubrechen: Die unmittelbaren Affekte organi-

nicht, wenn wir Scheinaktionen durchführen.) Weiter, bloß wie? Von Exzeß zu Exzeß. Schritt für Schritt,

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sierten in stringenter Weise die Wahrnehmung und Beurteilung des Bildes und ließen keinen Raum für ein Nachdenken darüber, was diese Reaktionen möglicherweise mit dem durch die Arrangierung deutlich weiblich konnotierten Körper zu tun haben könnten.

In beiden Argumentationen ist die hegemoniale Weiblichkeitsnorm (des unbehaarten Körpers) – als Negativ- oder Positivfolie – bereits mitgedacht und macht sie in dieser Vehemenz überhaupt erst sichtbar. Dass es hier um die Definitionsmacht von Weiblichkeit geht, wird wiederum verstärkt durch die selbstbezügliche Pose der Person: Statt Irritation hat dieses Bild nur Provokation hervorgerufen, die jegliche Bewegung unmöglich machte. Dass sich die Affekte an eben diesem Bild entzündeten, war von den Ausstellenden weder geplant noch erahnt: Aus ästhetischen Gründen in die Ausstellung aufgenommen, bedurfte dieses Bild – zumindest im Prozess der Auswahl – keiner weiteren Diskussion. Die eklatante Dissonanz zu den Reaktionen während der Ausstellung zeigt, dass hier Punkte berührt werden, die den – umkämpften – Stellenwert einer tiefen Überzeugung oder ›Wahrheit‹ haben und kaum einer Diskussion zugänglich sind. Ähnlich, allerdings auf einer anderen Argumentationsebene und damit auch eine Herausforderung an die Ausstellenden, waren die Reaktionen auf folgendes Bild: Drei Personen in Jeans und kurzen Jacken, nebeneinander breitbeinig stehend, von hinten fotografiert, sich gegenseitig an den Hintern fassend. Auch dieses Bild gab zu heftigen Reaktionen Anlass, inklusive der Interpretation als sexistisch und übergriffig. Ein erstes Innehalten brachte in den Gesprächen der Verweis darauf, dass diese Personen sich sehr nahe

auf schwierigen Umwegen. Im Augenblick erscheint der Zustand der Welt finster. Die klassische Idee der

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zu sein scheinen: Sie stehen Körper an Körper, fast aneinander angelehnt, eine Person hat den Arm locker auf die Schulter der Nachbarperson gelegt. Sie schauen sich an und lachen: Anlass war die spontane Ansage während des Fotografierens, ›sich an den Arsch zu fassen‹ – wobei eine Person gar nicht auf die Idee kam, dass damit die Nachbarperson gemeint sein könnte, und sich an den eigenen Hintern fasste.

Diese Geschichte, die während der Ausstellung kursierte, war notwendig, um das Bild auf eine Weise zu rekontextualisieren, die nicht zu der unmittelbaren Wahrnehmung passte und diese ein Stück weit relativierte – genau das war das Problem. Der Blickkontakt und die Kommunikation der Personen auf dem Bild, aber auch die Beziehung der Körper zueinander konnten zu einem erneuten Schauen verleiten – das dann in Opposition stand zu einer politischen Überzeugung und Praxis, die eben diesen Griff aus sexistischen Situationen kennt und bekämpft. Auch im folgenden Bild – mit umgekehrtem Vorzeichen – stand der Vorwurf des Sexismus im Raum: Zwei Personen – die eine im Hintergrund, frontal fotografiert und direkt – lächelnd – in die Kamera schauend, die andere, weiter vorne stehend, in einer Kopf bewegung aus dem Bild raus erfasst und deshalb nicht klar zu erkennen. Insgesamt verbreitet das Bild eine Atmosphäre freundlichen Chaos’ (ein Fernseher steht – neben anderen Dingen – auf dem Boden, Klamotten liegen auf einem Stuhl verteilt). Die Person im

Gegenmacht & die Vorstellung vom Widerstand gegen die moderne souveräne Macht im allgemeinen wird

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Hintergrund steht in schwarzen Spitzenstrümpfen leicht in den Knien gebeugt – der durchscheinende Slip des Dessous-Sets (genannt: die ›Tiger-Lilly‹) erlaubt den Blick auf eine Menstruationsbinde. Die Person im Vordergrund trägt eine hellgraue Bundfaltenhose und ein weißes T-Shirt, sie schaut aus dem Bild raus und bleibt somit unpersönlich – fast schemenhaft. Auch dieses Bild wurde als sexistisch bezeichnet: Muss denn die Inszenierung, die an jeder Bushaltestelle auftaucht, hier wiederholt werden? Weitere einhellige Meinung der Betrachtenden: Wie mutig es doch ist, sich ›so‹ in einer Ausstellung zu zeigen.

Die geäußerten Überzeugungen sind interessant in der Kombination: Das Bild zeigt ein Motiv, das extrem öffentlich ist: eine Person in eindeutig weiblichen Dessous, die selbstbewusst in die Kamera schaut – ein Blick, der inzwischen in sexistischen Reklamen durchaus Anwendung findet. Dennoch entsteht hier nicht der Eindruck, dass es um eine Inszenierung für den Betrachtenden geht. Dies hängt möglicherweise mit der zweiten Dimension des Bildes zusammen, denn das Motiv ist zugleich ein in hohem Maße Privates: eine Person zuhause in Unterwäsche, mit in der Regel tabuisierter, hier aber sichtbarer Menstruationsbinde, zudem im unaufgeregten Zusammensein mit einer zweiten, männlich konnotierten Person. Die Alltäglichkeit der Szene bricht mit der Möglichkeit eines voyeuristischen Blicks, der durch den weiblich konnotierten Körper zunächst aufgerufen wird.

immer weniger denkbar. »Eine widerwärtige Gesellschaft! Ganz verkommen offenbar!« Scheiß auf den

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Diese in den Diskussionen um die Bilder aufgezeigten ›Effekte‹ der Irritation, Provokation und Affizierung sollen nun auf ihre subversive Dimension hin befragt werden.

Bewegungen im Hegemonialen Geschlechtlichkeit ist – mit und über den Versuch einer kategorialen Einfassung – vielschichtig, und mit Derrida (1997) ließe sich formulieren, »wenn die tabellarische Totalisierung unmöglich ist, dann liegt das an der Struktur des Entwurfs selbst, aller Entwürfe, deren introjektive Vielfältigkeit weder der linearen und zeitlichen Ordnung der Sukzession noch der Ordnung einer nebeneinander stellenden Gleichzeitigkeit entspricht.« (Derrida 1997: 16) Intention der Ausstellung war – eine Passage aus dem Ankündigungstext zitierend: »den Blick auf die vielfältigen Weisen eines Dazwischen zu lenken«, und – so kann nach den Erfahrungen mit der Ausstellung ergänzt werden – gesellschaftlich strukturierte Blickregime13 sichtbar und spürbar zu machen. »Was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt, und umgekehrt.« (Deleuze 1987: 92) Indem die Bilder keine eindeutige Bezeichnung zulassen, ist die Ausstellung an diesem ›gap‹ zwischen Sichtbarem und Sagbarem verortet. Sie hat zum Ziel, unmittelbare Evidenzen zu verunsichern und möglicherweise zu transformieren. Der Versuch, über ins Gespräch zu kommen und ihm seine Selbstverständlichkeit zu nehmen, läuft auf verschiedenen Ebenen ab: So öffnet der gap zwischen Sichtbarem und Sagbarem den Blick für die Vielschichtigkeit von Geschlechtlichkeiten, in der die binäre Vorstellung des Weiblichen/Männlichen auf komplexe Weisen eingeht und einer Umarbeitung unterzogen wird. Auch zeigt sich, dass die Darstellung und Wahrnehmung von Geschlechtlichkeit – weit davon entfernt, Ausdruck einer ›Person‹ zu sein – in Beziehungen entsteht, sowohl in den Bildern selbst wie auch zwischen Bild und Betrachtenden. Last but not least sind die stattfindenden Prozesse und Effekte abhängig vom Kontext – der sich sowohl räumlich als auch über die Anwesenden mit ihren je spezifischen Denkmustern definiert. Die Betrachtenden nehmen einen aktiven Part in diesen Prozessen ein – was bedeutet, sich auf die Relationalität von Geschlechtlichkeit einzulassen. In dieser Form von Politik geht es darum, raum-zeitliche Bedingungen zu schaffen, unter denen sich ›etwas‹ ereignen kann. Eine so gefasste ästhetische Erfahrung verweist immer auf einen 13 | Vgl. die Ausführungen von Inga Betten in diesem Band.

Job, den Frust, den Dreck. Sagt der Skinhead. Die verfickte Vergangenheit. Solange es Mädchen & Bier

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gesellschaftlich konstituierten Bedeutungshorizont. Subversion heißt hier, das Denken auf einer sinnlichen Ebene herauszufordern – mit der Intention, das selbstverständlich Gegebene in einen Dissens zu transformieren.

Bedingte Intentionalität Um auf die eingangs gestellte und im Folgenden auf dem politischen Terrain differenzierte Frage zurückzukommen – Existiert wirksame Subversion? – so lässt sich resümieren: Wenn überhaupt, dann als eine, die in Prozessen lokalisiert und nur von hier aus in ihren Wirkungen – räumlich und zeitlich bedingt – zu beschreiben ist. Die benannten Momente des Irritierens, Provozierens und Affizierens sind Herausforderungen an Wahrnehmen und Denken, sie vollziehen sich in »Komplexen […] von Aktion und Reaktion« (Deleuze 1987: 84), und sie führen zu Wirkungen, die weder vorhersehbar noch regulierbar sind. Fassen wir mit Foucault die Prozesse der Formung, Gestaltung und Transformation als ästhetische Werte, die sich auf ›Existenz‹ beziehen (vgl. Schmid 1991: 26), dann kann mit ›Ästhetisierung‹ der Prozess bezeichnet werden, in dem man sich selbst aktiv verändert: »Man muss das Verstehbare auf dem Hintergrund des Leeren erscheinen lassen, Notwendigkeiten verneinen und denken, dass das Vorhandene noch lange nicht alle möglichen Räume ausfüllt. Das hieße, aus der Frage: Womit kann man spielen und wie ein Spiel erfinden? eine Herausforderung machen, an der man nicht vorbeikommt.« (Foucault 2001: 131; Herv. d. Verf.)

Wirksame Subversion besteht demnach in einer Konfrontation mit sich selbst, die den gesellschaftlich konstituierten Rahmen von Verstehbarkeit, wenn nicht hinterfragt, so doch in seiner performativen Dimension sicht- und spürbar macht.

Literatur Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1987): Foucault. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

gibt. (Jeder nach seinen falschen Bedürfnissen.) Die fragmentarische Suche nach einer neuen Lebensweise.

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Einer anderen Welt, einem anderen Leben, anderen Schweinereien. Ein Netz von Erinnerungen, Obsessi-

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postskriptum: geschlechter/kon/fusionen ist organisierbar – auch als PowerPoint-Präsentation: [email protected]. An dieser stelle mein herzlicher Dank an alle Beteiligten des Fotoprojekts für das vertrauensvolle Zusammen-Arbeiten und inspirierende Gemeinsam-Denken; besonderen Dank auch an Trixi Schwarzer, Mica Wirtz, Heike Raab, Uta Schirmer, Mechtild Bereswill, den Stipendiat_Innen des Marburger Graduiertenkollegs, dem kulturwissenschaftlichen Kolloquium bei Ina Merkel und den Herausgeber_Innen des Bandes für anregendes und strukturierendes Feedback bei der Entstehung dieses Textes.

onen, unklaren Gedanken, Überlegungen & Befürchtungen. Keine Ahnung warum & für was. Ich dachte

Fotografie als subversive Kunst . Zu den fotografischen Strategien von Claude Cahun und Cindy Sherman Patricia Goz albez C an tó

Feministische Kunst/Fotografie als subversive Taktik Das fotografische Werk von Claude Cahun und Cindy Sherman soll im Folgenden vor dem Hintergrund feministischer Kunst/Fotografie betrachtet werden. Feministische Kunst/Fotografie fokussiert den Erfahrungsraum von Frauen und befasst sich mit Themen wie ›weiblicher Körper‹, Identität, Sexualität, Subjektivität und Gewalt gegen Frauen. Lisa Tickner beschreibt feministische Kunst wie folgt: »Feminist art is work that is rooted in the analyses and commitments of contemporary feminism and that contributes to a critique of the political, economic and ideological power relations of contemporary society« (Tickner 1996 zit.n. Paul 2006: 481). Der Begriff der feministischen Kunst entwickelte sich in den späten 1960er Jahren und wurde eng mit der zweiten Frauenbewegung verknüpft 1. Feministische Kunst wurde zur Zeit der Studentenbewegung größtenteils mit subversiven Überschreitungen gleichgesetzt. Mittels schockierender Strategien sollte Kritik 1 | An dieser Stelle soll jedoch daran erinnert werden, dass sich bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einige Frauen künstlerischer Medien bedienten, um ihre feministischen Forderungen zu artikulieren. Sie setzten sich für die Selbstbestimmung von Frauen und für die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Situation ein (vgl. in diesem Zusammenhang u.a. die Werke von Alice Lex-Nerlinger, Hannah Höch und Claude Cahun).

mir nur: »Der kann mich mal.« Doch darum geht es nicht mehr. Völlig anders ist die Situation in dem

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am bestehenden Gesellschaftssystem und vor allem an normativen Geschlechterrollen geübt werden. Als zentrale politische Forderung formulierte beispielsweise die Künstlerin VALIE EXPORT, »die Befreiung der Wirklichkeit von männlichen Ideologien voranzutreiben« (EXPORT 1975, zit.n. Fleck 1982: 327). Die Auseinandersetzung mit Geschlechteridentitäten als künstlerischer Strategie entwickelte sich seit den 1970er Jahren2 . In den 1980er und 1990er Jahren verlagerte sich das Interesse auf die Dekonstruktion von Weiblichkeits- bzw. Geschlechterstereotypen. Zudem geht es seit den späten 1990er Jahren auch um die ›Strategie der Geschlechtertransgressionen‹, welche das Ziel verfolgt, das Zweigeschlechtermodell aufzulösen und den Weg für multiple Geschlechterkonzepte zu ebnen. Feministischen Künstler/-innen geht es u.a. um ein Sichtbarmachen ihrer Interessen bzw. Erfahrungen und um die Analyse bestehender Machtstrukturen und Hierarchien zwischen den Geschlechtern. Die Kunstkritikerin Abigail Solomon-Godeau erklärt, »daß innerhalb phallozentrischer, androzentrischer oder auch patriarchalischer Gesellschaftsordnungen – die Stellung des bewußten Sehens von der Stellung des männlichen Subjekts determiniert ist« (Solomon-Godeau 1997: 48). Feministische Kunst/Fotografie verfolgt das Ziel, den Blick auf den ›weiblichen Körper‹ bzw. massenmediale Repräsentationen von ›Weiblichkeit‹ zu hinterfragen und Geschlecht (Gender) als soziales bzw. kulturelles Konstrukt aufzudecken. Dabei werden subversive Techniken wie Parodie, Maskerade und Übertreibung eingesetzt, um eine Kritik an ›traditionellen‹3 Frauenbildern und an der Konstruktion von Geschlechterideologien zu üben. Feministische Künstler/-innen zielen auf eine Entnaturalisierung von ›Weiblichkeit‹ bzw. auf eine Auflösung von konventionellen Geschlechterrollen ab. Zudem soll das heteronormative Ordnungsprinzip grundlegend in Frage gestellt werden. Die Aufgabe feministischer Kunst/Fotografie erklärt Solomon-Godoeau wie folgt: »feministische Analysen müssen, wie jede ernsthafte intellektuelle Forschung, latente Bedeutungsinhalte und verborgene Programm2 | Wobei Claude Cahuns Arbeiten aus den 1920er und 1930er Jahren eine Ausnahme bilden, da sie diese Taktiken bereits vorwegnahmen. 3 | Als traditionelle Bilder können beispielsweise die Verkörperungen des ›Ewig-Weiblichen‹ gesehen werden, die Frauendarstellungen in ein duales Prinzip (Heilige und Hure) einteilen. Demnach scheint es nur reine, keusche und tugendhafte oder triebhafte bzw. sexuell aktive Frauen zu geben (vgl. Spickernagel 1988: 340). Differenziertere bzw. vielfältigere Darstellungsformen von ›Weiblichkeit‹ lässt dieses duale Prinzip nicht zu.

Augenblick, in dem du unmißverständlich klarmachst, daß du die Aussage verweigerst. Darum geht es

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punkte untersuchen, das Okkulte, Unausgesprochene und insbesondere das mittels Ideologie längst Vertraute« (Solomon-Godeau 1997: 48). In diesem Sinne soll anhand einiger exemplarischer Fotografien von Claude Cahun und Cindy Sherman analysiert werden, welche Parallelen und Unterschiede eine historische und eine gegenwärtige feministische Position in Bezug auf ihre ästhetischen Subversionstaktiken aufweisen. Ich gehe dabei von der Annahme aus, dass beide Künstlerinnen zwar ähnliche Subversionsstrategien und künstlerische Themen einsetzten, ihre Arbeiten jedoch unterschiedliche Ziele verfolgten.

Zur Aktualität der Arbeiten von Claude Cahun Das fotografische Werk der französischen Künstlerin Claude Cahun (1894-1954) hat seit seiner Wiederentdeckung Ende der 1980er Jahre große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Cahun bewegte sich unter anderem als Fotografin, Schriftstellerin und politische Aktivistin in der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde im Paris der 1920er und 1930er Jahre. Die aktuelle Fülle an neu erscheinenden Publikationen zu Cahuns Fotoarbeiten verleitet zur Frage, warum ihre Bilder auf heutige Rezipient/-innen noch immer eine große Anziehungskraft ausüben. Die Aktualität ihrer fotografischen Selbstporträts ergibt sich meines Erachtens vor allem aus der Unmittelbarkeit ihrer Fotografien. Ohne historische Hintergrundinformationen erscheint es auf ikonographischer Ebene möglich, einen direkten Zugang zu ihren Bildern bzw. Bildthemen zu finden. Bezüglich der aktuellen Debatte um die Konstruktion von Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit haben Cahuns Selbstinszenierungen einen erstaunlichen Gegenwartsbezug 4 . Dieser manifestiert sich auch in den Arbeitsstrategien, die sie als Künstlerin bzw. Fotografin verwendet: Die Doppelstrategie des Reduzierens und Anhäufens von (Geschlechts-)Merkmalen.5 Diese Taktiken des Abziehens und Entfernens auf der einen Seite und des Addierens und 4 | Dorothee Messerschmid bemerkt in ihrem Aufsatz Claude Cahun. Anmerkungen zu den Maskierungen einer Dissidentin, dass Cahuns androgyne Fotografien beinahe als visuelle Veranschaulichungen von Judith Butlers dekonstruktivistischer Theorie gelesen werden könnten (vgl. Messerschmid 2002: 30). 5 | Cahuns Biograph François Leperlier erwähnt bereits 1997 diese beiden Taktiken der ›Subtraktion‹ und ›Akkumulation‹, welche Cahun in ihrer fotografischen Arbeit anwendet. Leperlier analysiert diese Doppelstrategie jedoch nicht anhand konkreter Bildbeispiele (vgl. Lerperlier 1997: 16).

jetzt. Es ist ein Gebot der Vernunft, total & umfassend gar nichts zu sagen. Es geht darum, den Kampf

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Sammelns auf der anderen Seite, gehören zu den Strategien, die in der feministischen Kunst nach wie vor relevant sind.6 In ihren Fotografien arbeitet Cahun mit visuellen Zeichen der sexuellen Uneindeutigkeit bzw. mit androgynen Bildcodes, welche die Dyade männlich/weiblich hinterfragen und ironisch brechen. Ihre theatralischen Selbstinszenierungen vor der Kamera offenbaren mehr, als die damaligen dualen Geschlechtervorstellungen erlauben, denn die Künstlerin wechselt nicht nur das Geschlecht und springt zwischen männlich und weiblich, sondern kombiniert die geschlechtsspezifischen Attribute nach Belieben. In einigen ihrer Selbstporträts reduziert sie die körperlichen Geschlechtsmerkmale beinahe auf einen Nullpunkt und kreiert auf diese Weise ein neues bzw. ›drittes Geschlecht‹. Cahun scheint es in ihrer Arbeit vor allem um das Herausarbeiten polymorpher Identitäten zu gehen, die nicht mehr zwingend an die Vorgaben der binären Geschlechtermatrix gebunden sind. Ihre beharrliche bildimmanente Fragestellung bezüglich der Geschlechtszugehörigkeit und der Konstruktion von Geschlecht antizipiert bereits spätere feministische und postmodernistische Ansätze.7 Im Folgenden beabsichtige ich anhand einiger exemplarischer Bildanalysen aufzuzeigen, wie Cahun die Doppelstrategie des Addierens und Subtrahierens von (Geschlechts-)Merkmalen in ihren Selbstporträts anwendet und damit die damalige Geschlechterordnung subversiv unterwandert. Abgesehen davon interessiert mich, inwiefern diese formal-ästhetische Taktik bis in die Gegenwart hinein ihre Aktualität bewahrt bzw. inwieweit heute ähnliche Ansätze und Arbeitsweisen in der feministischen Kunstproduktion existieren. Diesbezüglich werde ich weiter unten einige Fotografien der zeitgenössischen amerikanischen Künstlerin Cindy Sherman exemplarisch untersuchen und sie mit denen von Claude Cahun vergleichen.

Claude Cahuns Subtraktionsverfahren Eine subversive Bildstrategie, die sich Cahun in ihren fotografischen Selbstporträts immer wieder zu Eigen macht, ist der Bruch mit stereo6 | Vgl. u.a. die Werke/Projekte von zeitgenössischen Künstlerinnen wie Inez van Lamsweerde und Alba D’Urbano, welche diese Strategien zum Teil in ihren künstlerischen Arbeiten anwenden. 7 | Vgl. hierzu theoretische Ansätze von Judith Butler (Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) und Carol Hagemann-White (Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren..., 1988).

vorzubereiten. Um Experimente mit Gegenentwürfen. Denn jetzt ist der Zusammenbruch. Jetzt hält keine

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typen Weiblichkeitsbildern aus den Massenmedien der 1920er und 1930er Jahre. 8 Ihre Distanzierung von weiblichen Idealbildern der Epoche bzw. von kulturellen Bildrepertoires geschieht meist durch die Subtraktion von Geschlechtsmerkmalen. Betrachten wir die fotografische Inszenierung aus dem Jahre 1917 (Abb. 1), erkennen wir Cahun vor einem mit Pflanzenmustern bedruckten Stoff. Abb. 1: Claude Cahun Selbstporträt, um 1917

Sammlung Jersey Museums Service, Jersey/Courtesy of the Jersey Heritage Trust Collections

Die Künstlerin ist nur mit einem Männer-Unterhemd bekleidet und hebt ihren rechten Arm in die Höhe. Dabei gibt der nach oben erhobene Arm den Blick auf ihr Achselhaar frei. Cahuns Kopf ist leicht zur Seite gedreht und der nach unten deutende Blick fixiert einen Punkt außerhalb des Bildrahmens. Auffällig bei dieser Selbstinszenierung ist Cahuns sehr kurze Stoppelfrisur. Auf ihrem Kopf befindet sich ein möglicherweise aus Pflanzen gebundener Kranz. Einzelne Teile dieses Kranzes fallen ihr wie Haarsträhnen ins Gesicht. Mit dem Stoff aus 8 | Man denke nur an die medial vermittelten Frauenbilder der so genannten ›Neuen Frau‹, die häufig mit kurzen Haaren (Bubikopf), Hängekleid und Seidenstrümpfen dargestellt wurde und als Sinnbild bzw. Symbol für Modernität und Fortschritt stand.

Hoffnung mehr. (Das sage ich verzweifelt.) Die Plünderung von Geschäften & das Niederbrennen von

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Pflanzenmustern im Hintergrund und dem Kranz als Kopfschmuck, scheint sie ironisch auf die konventionelle Verknüpfung bzw. die Gleichsetzung von Frau/›Weiblichkeit‹ und ›Natur‹ anzuspielen. Die Frau als ›Natur‹ wurde häufig pflanzengleich, unschuldig, kindlich oder jungfräulich dargestellt. Obschon sich Cahun hier mit Pflanzen in Beziehung setzt, zeigt sie gleichzeitig deren Künstlichkeit auf, indem sie sich vor dem bedruckten Stoff und nicht in der freien Natur inszeniert. Die auf diese Weise gemachte Gegenüberstellung von Frau und artifizieller Natur deutet auf die Künstlichkeit bzw. das kulturell Konstruierte der so genannten ›weiblichen Natur‹ und auf die Naturalisierung von ›Weiblichkeit‹ hin. Cahun irritiert die Betrachter/-innen vor allem durch die Zurückweisung des damaligen Schönheitsideals. Alles was auf ›Weiblichkeit‹ bzw. ›weibliche Schönheit‹ verweisen konnte, wurde weitestgehend aus der Inszenierung eliminiert bzw. subtrahiert. Der Verzicht auf Haare, Make-up, Schmuck und geschlechtsspezifischer Kleidung als Marker für Femininität kann im Kontext der 1920er und 1930er Jahre als Widerstand gegen das binäre Geschlechterkonzept und das konventionelle Schönheitsdiktat gelesen werden. ›Weiblichkeit‹ wurde nicht nur mit ›Natur‹, sondern auch mit ›Schönheit‹ gleichgesetzt. Doch die Auffassung von ›weiblicher Schönheit‹ veränderte sich in den 1920er und 1930er Jahren insofern, als dass sie nicht mehr ›nur‹ als gottgegeben betrachtet wurde. Die Biologie spielte zwar nach wie vor eine große Rolle, doch kamen in den 1920er Jahren zahlreiche Schönheitspräparate auf den Markt, welche der ›Natur‹ ein wenig nachhelfen sollten. Mit massenhaften Werbeanzeigen für Kosmetikprodukte in den Zeitschriften und Magazinen der Epoche wurde immer wieder darauf verwiesen, so Katharina von Ankum, dass jede Frau bezüglich ihrer äußerlichen Erscheinung »eine self-made woman und damit ihres Glückes Schmied« (vgl. von Ankum 2000: 175) sein konnte. Gleichzeitig wurden visuelle Idealbilder als Richtwerte geliefert, welche die Kriterien für ›weibliche Schönheit‹ messbar machen sollten. Auch Cahun machte sich das Prinzip der ›self-made woman‹ zu Eigen, mit dem Unterschied, dass sie massenmedial vermittelte weibliche Schönheitsvorstellungen zurückwies und sich fernab vom Idealbild neu erfand. Besonders deutlich wird die Ablehnung der damaligen Schönheitsideologie von Seiten der Künstlerin, wenn man ihre Fotografien mit denen von klassischen (Hollywood-)Filmdiven der 1920er und 1930er Jahre vergleicht. Man denke nur an die Bilder von Greta Garbo, Marlene Dietrich, Josephine Baker9 9 | Vgl. Abb. 6

Eigentum (= Diebstahl) sind nicht bloß Metaphern. Diese Dynamik produziert eine extrem offene Situation.

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und Mistinguett 10. Diese Schauspielerinnen, die das Bild der ›Femme fatale‹ (der ewigen Verführerin) verkörperten, erfüllten für zahlreiche Frauen der Epoche eine Vorbildfunktion. Im Gegensatz zu den medialen Repräsentationen von ›Weiblichkeit‹ wirkt Cahuns Inszenierung umso radikaler, denn sie scheint auf alle konventionellen Weiblichkeitsinsignien vollständig zu verzichten. Der Pflanzenkranz, der sonst in Verbindung mit Frauendarstellungen vorwiegend als Kopfschmuck in Erscheinung tritt und als Indiz für Jungfräulichkeit gelesen werden kann, taucht bei Cahun lediglich als unidentifizierbares Geflecht auf. Die symbolische Bedeutung des Haarkranzes als weibliches Schmuckaccessoire kann in diesem Zusammenhang nur ironisch gelesen werden. Der zerfranste Kranz dient keineswegs der Verschönerung der Figur, ganz im Gegenteil hat man den Eindruck, als wolle er auf die Vergänglichkeit der Natur bzw. auf den Tod verweisen. Des Weiteren persifliert Cahun auch die verführerische Pose des nach oben gehobenen Arms, der vor allem die Brustpartie strecken und betonen soll. Diese klassische Haltung ist aus Venusdarstellungen bekannt und steht für die weibliche Verlockung als solche. Cahun parodiert diese feminine Verführungspose, indem sie sie zwar aufgreift, ihre äußerliche Erscheinung jedoch nicht an das Bild der klassischen Venus anpasst. Auf diese Weise kombiniert sie eine traditionell-weibliche Pose mit einem Frauenbild, welches auf sämtliche Insignien von ›Weiblichkeit‹ verzichtet. Die Strategie der Parodie bzw. der Persiflage dient ihr dazu, ›Weiblichkeit‹ und ›Schönheit‹ nicht mehr zwingend als Einheit zu denken. Als weiteres Beispiel der Subtraktionsstrategie kann das Selbstporträt von Cahun, welches um 1920 entstanden ist (Abb. 2), gesehen werden. Auf diesem erscheint die Künstlerin ungeschminkt und mit kahl rasiertem Kopf, womit sie erneut die geschlechtsspezifischen Zeichen auf ein Minimum bzw. auf einen Nullpunkt reduziert. Der Verzicht auf Haare symbolisiert, wie oben beschrieben, eine radikale Absage an das Schönheitsdiktat der Epoche. Die Glatze verweist zudem auf den menschlichen Kopf als Gefäß des Verstandes bzw. der Ratio. Als ›Dandy‹11 in Pose gesetzt, steht Cahun in einem Männeranzug geklei10 | Mistinguett (1875-1956) war eine populäre französische Schauspielerin und Sängerin, die in Paris lebte und in den 1920er und 1930er Jahren den Höhepunkt ihrer Karriere feierte. Sie galt als weibliches Idealbild zahlreicher Pariser Frauen. 11 | Der ›Dandy‹ erscheint erstmalig um 1800 und zeichnet sich besonders durch seine extravaganten und narzisstischen Selbstinszenierungen aus. Dabei spielen seine visuelle Ausstrahlung (vor allem durch die elegante Mode) und

Zuerst werden die Läden geplündert, in denen es Alkohol & Waffen gibt. Die Situation war somit prekär.

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det, der Betrachterin frontal gegenüber und fixiert diese eindringlich. Dabei irritiert vor allem ihr selbstbewusster und resoluter Blick in die Kamera, der für die damalige Zeit in Bezug auf Frauendarstellungen eher untypisch erscheint. Ihre Augen starren geradezu auf den imaginierten Betrachter und scheinen diesen gleichzeitig als Voyeur enttarnen zu wollen. Die Künstlerin deckt auf diese Weise das Spiel des Sehens und Gesehenwerdens auf und scheint sich im Moment der Inszenierung über ihre aktive Rolle (als diejenige, die ihrerseits die Betrachter/-innen betrachtet) bewusst zu sein. Ihre frontale Position dem Rezipienten gegenüber strahlt gemeinsam mit der aufrechten Haltung, dem in die Hüfte gestemmten Arm, dem direkten Blick und der zur Faust geballten Hand eine strenge Disziplin und Entschiedenheit aus. Wir scheinen es hier mit einer Frau zu tun zu haben, die sich ihren eigenen Rahmen setzt (symbolisch dafür kann auch das Tuch an der Wand gesehen werden, welches zusätzlich ein Rahmen im Rahmen darstellt). Auf der einen Seite entledigt sich die Künstlerin auf dieser Fotografie aller weiblichen Indizien, auf der anderen Seite dagegen verwendet sie männliche Geschlechtsmarker wie beispielsweise den Herrenanzug. Der Anzug steht im Kontext der 1920 und 1930er Jahre nicht nur als Symbol für Männlichkeit und Macht, in lesbischen Kontexten12 diente er auch als Kennzeichen, um als Lesbe in der ›lesbian community‹ erkannt zu werden.

seine Manieren eine zentrale Rolle. Die Figur des ›Dandy‹ lebt ähnlich wie die der ›Diva‹ von ihrem unverwechselbaren Charisma. Sie hebt sich stark vom Bürgertum ab. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Straumann erklärt das Verhalten des Dandys wie folgt: »Er schwingt sich zum Richter über Moral und Manieren auf und brüskiert andererseits die Bourgeoisie, indem er sich in der Art des Bohemiens – keine Tabus anerkennend – über gesellschaftliche Normen und Regeln hinwegsetzt.« (Vgl. Straumann 2002: 80) 12 | Cahun lebte über vierzig Jahre mit ihrer Lebensgefährtin und künstlerischen Partnerin Suzanne Malherbe zusammen.

Ein Zwischenfall, der Verkehrspolizisten & Fußgänger gegeneinander aufbringt, entwickelt sich zu zwei

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Abb. 2: Claude Cahun Selbstporträt, um 1920

Sammlung Richard & Ronay Menschel, New York

Die männlich konnotierte Kleidung dient bei Cahun jedoch nicht, wie es häufig bei der Darstellung der so genannten ›Garçonne‹13 der 1920er Jahre der Fall war, zur Erotisierung von Weiblichkeit. Cahuns androgyne Ästhetik scheint eher auf eine Vielfalt lebbarer weiblicher Identitäten aufmerksam machen zu wollen. Die Inszenierung behält jedoch eine seltsame Ambivalenz, die sich in der Kombination aus der männlichen Mode, und der eher weiblich konnotierten Haltung (die Standbein/Spielbein-Position) ausdrückt. Sicherlich scheint die Künstlerin die Figur des ›Dandy‹ nicht ganz zufällig gewählt zu haben. Diese nahm im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts meist 13 | Der Begriff ›Garçonne‹ tauchte gleichzeitig mit dem Roman La Garçonne von Victor Margueritte auf, welcher 1922 in Frankreich erschien. Der Roman trug wesentlich zur sexuellen Selbstbestimmung der Frauen bei, da er offen über Sex, Lesbianismus und Drogen berichtete. Die ›Garçonne‹ wurde in den Massenmedien der 1920er und 1930er Jahre vor allem als Modeerscheinung wahrgenommen. Sie bezeichnet einen modernen Frauentypus, meist gekennzeichnet durch kurzes Haar (Bubikopf oder Herrenhaarschnitt) und männlich konnotierte bzw. androgyne Kleidung (vgl. Drost 2003).

Tage anhaltenden spontanen Aufständen. Zum Beispiel. Ständig verstärkte Ordnungskräfte sind nicht in

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

eine radikale, selbst erwählte Außenseiterposition ein, um sich vom Bürgertum bzw. von gesellschaftlichen Konventionen zu distanzieren. Allerdings beruhte das Dandytum, wie die Literaturwissenschaftlerin Barbara Straumann verdeutlicht, auf gesicherten finanziellen Mitteln, die es erlaubten, freiwillig eine derartige gesellschaftliche Rand-Position einzunehmen (vgl. Straumann 2002: 81). Auch Cahun verfügte über eine solche finanzielle Rücklage,14 die es ihr gestattete als ›privilegierte‹ Individualistin zu agieren und ihre eigenen (Geschlechter-)Vorstellungen zu artikulieren. Diese Artikulation geschieht jedoch nicht, um ihre intellektuelle Macht zu betonen, wie es der ›Dandy‹ zu tun pflegte, sondern um ihren Visionen bezüglich neuer Geschlechterkonzepte Ausdruck zu verleihen. Gewissermaßen beanspruchte Cahun durch das Hineinschlüpfen in den Männeranzug auch eine Teilhabe an gesellschaftlicher Macht, die vorwiegend Männern vorbehalten war.

Cahuns Additionsverfahren Neben der oben beschriebenen Reduktionsstrategie bediente sich die Künstlerin in ihrer Arbeitsweise auch der Additionstaktik. Dieser Moment des übertriebenen bzw. ironischen Anhäufens von geschlechtsspezifischen Zeichen wird vor allem auf jenen Bildern sichtbar, die in einem theatralischen Zusammenhang stehen.15 Durch das Theater boten sich Cahun vielfältige Möglichkeiten, mit verschiedenen Verkleidungen, Identitäten und Maskeraden zu experimentieren. Als Beispiel für die Additionsstrategie von geschlechtsspezifischen Kennzeichen kann die Fotografie aus dem Jahre 1929 (Abb. 3) betrachtet werden, auf der Cahun in die Rolle der Elle (die Frau) aus dem Theaterstück Barbe bleue schlüpft. Die Künstlerin trägt ein langes Kleid, welches an der Brustpartie wie ein Mieder zusammen geschnürt ist. Die dicken blonden Zöpfe, die kranzartig um den Kopf gelegt sind, erinnern an 14 | Sie kam aus einer wohlhabenden jüdischen Großbürgerfamilie und konnte sich später mit ihrem Erbe das Gut La Rocquaise auf der Kanalinsel Jersey kaufen, wo sie sich mit ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbe niederließ (vgl. Leperlier 1997: 14). 15 | Cahun spielte als Schauspielerin im Jahre 1929 in der Theater-Kompanie Le Plateau unter der Leitung von Pierre Albert-Birot in drei verschiedenen Theaterstücken mit. Gemeint sind die Theaterstücke Barbe bleue, Banlieue und Le Mystère d’Adam. Im gleichen Jahr der Aufführungen (1929) fotografiert sie sich erneut in den Kostümen und interpretiert die Figuren noch einmal neu.

der Lage, die Straßen wieder unter Kontrolle zu bringen. (Sie verstehen einzig die Sprache der Gewalt.)

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die Frisur des ›Gretchens‹ aus Faust.16 Kleid und Frisur scheinen aus dem 19. Jahrhundert zu stammen, womit eher ein ›traditionelles‹, bürgerliches Frauenbild beschrieben wird. Besonders auffällig ist an dieser Inszenierung Cahuns stark geschminktes Gesicht: Ihre weiß gepuderte Haut wirkt beinahe wie Porzellan. Die Augen sind schwarz umrandet und verschwinden hinter den dunklen Augenlidern. Über diesen erscheinen zwei dicke Linien, welche die Augenbrauen ersetzen sollen. Der bogenförmig geschminkte Mund wirkt genauso ausdruckslos wie der Blick der Figur. Offensichtlich scheint es der Künstlerin hier nicht nur darum zu gehen, die Über-Inszenierung bzw. die Konstruktion von ›Weiblichkeit‹ herausstellen zu wollen, sie macht vor allem auf die Kombination von Maskerade/Überzeichnung auf der einen Seite und Leere/Emotionslosigkeit der Figur auf der anderen Seite aufmerksam. ›Weiblichkeit‹ wird durch die übertriebene Anhäufung von Eigenschaften parodiert und als leere Hülle bzw. als Maske entlarvt. Das Aufgreifen der Puppen- bzw. Marionettenästhetik 17 (die Künstlerin erscheint wie an Fäden gehängt) könnte zudem auf eine Fremdsteuerung der weiblichen Figur verweisen. Dadurch dass der Torso der Figur ohne Arme (diese verschwinden hinter ihrem Rücken) und somit handlungsunfähig erscheint, wird der Eindruck der Außenlenkung noch verstärkt. Bemerkenswert erscheint jedoch, dass die Addition geschlechtsspezifischer Eigenschaften hier ebenfalls auf der Basis des Subtraktionsprinzips funktioniert, denn Cahun setzt die überzeichneten weiblichen Attribute auf einen Körper auf, der bezüglich der Geschlechtsmerkmale, bereits auf ein Minimum reduziert wurde. So dient beispielsweise das geschnürte Mieder, welches als eindeutig sexualisierendes Kleidungsstück gilt, nicht dazu, die weiblichen Brüste hervorzuheben. Vielmehr irritiert das Korsett insofern, als dass es gar keine Brüste zum Vorschein bringt (weder die nackten, noch die sich unter dem Stoff abzeichnenden Brüste). Das eng geschnürte Mieder verweist somit nicht auf den sexualisierten weiblichen Körper, vielmehr wird auf das Fehlen von Weiblichkeitsattributen aufmerksam gemacht, was wiederum zu Irritationen bei den Betrachter/-innen führt.

16 | Die Figur des ›Gretchens‹ repräsentierte die keusche, jungfräuliche und ›traditionelle‹ Frau, welche der modernen, ›Neuen Frau‹ der 1920er Jahre diametral gegenüberstand. 17 | Zu Cahuns Marionettenästhetik vergleiche auch Welby-Everard 2006: 5ff.

Sie plündern alle erreichbaren Waffenläden & können danach sogar auf Polizeihubschrauber schießen. &

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart Abb. 3: Claude Cahun Selbstporträt, 1929

Sammlung Jersey Museums Service, Jersey/Courtesy of the Jersey Heritage Trust Collections Abb. 4: Claude Cahun Selbstporträt, 1929

Sammlung Jersey Museums Service, Jersey/Courtesy of the Jersey Heritage Trust Collections

aber demnächst? Keiner vermag ohne Anklage, ohne Gewaltandrohung mit dem anderen umzugehen.

Patricia Gozalbez Cantó Fotografie als subversive Kunst

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Ein weiteres Beispiel für die geschlechtsspezifische Akkumulation von Eigenschaften ist die Fotografie aus dem Jahre 1929 (Abb. 4), auf der wir Cahun in der Rolle des Monsieur (der Mann) in dem Stück Banlieue sehen. Ihr kurzer Herrenhaarschnitt ist streng mit Pomade zurückgekämmt und sie trägt ein Jackett, Hemd und Krawatte. Jedes Attribut von ›Männlichkeit‹ scheint genauestens beobachtet und adaptiert worden zu sein. Zum ausdruckslosen Blick und der frontalen Position der Figur erklärt die Kunsthistorikerin Miranda Welby-Everard: »Like the transfixed Elle in Barbe Bleu, the Monsieur is both, physically frozen (the frontal stance) and psychologically frozen in terms of the empty face as he, like her, even in the opening tableau, stares into the void« (Welby-Everard 2006: 12). In der Rolle des Monsieur wird zudem die wichtige Bedeutung des Mediums Theater als Transformationsmittel (bezüglich der Geschlechtlichkeit) deutlich. Die von Cahun gespielte überzeugende ›Männlichkeit‹, die weniger durch eine Übertreibung der männlichen Attribute als vielmehr über den gezielten Einsatz einzelner Merkmale zum Ausdruck gebracht wird, zeigt hier die dünne Linie zwischen Realität und Fiktion auf. Demgegenüber kann Cahuns Auseinandersetzung mit dem damaligen Frauenbild auf der Fotografie aus dem Jahre 1927 (Abb. 5) als satirisch überspitzt betrachtet werden. Auf dieser ist Cahun in der Rolle einer Gewichtsheberin zu sehen. Stellen wir dieses Bild dem Porträt von Josephine Baker (Abb. 6) aus dem Jahre 1926 gegenüber, so stellen wir fest, dass eine gewisse Ähnlichkeit bezüglich der Weiblichkeitsattribute (Frisur, Make-up etc.) unübersehbar ist. Die Künstlerin malt sich feine Augenbrauen, übertrieben lange Wimpern, modelliert sich zwei mit Pomade geformte Löckchen und schminkt sich einen herzförmigen Mund. Um die ironische Darstellung von ›Weiblichkeit‹ auf die Spitze zu treiben, zeichnet sie sich auf die blassen Wangen kleine Herzen und befestigt zwei gummiartige Brustwarzen auf ihr T-Shirt, die wie winzige künstliche Prothesen wirken. Auf dem T-Shirt ist außerdem der Schriftzug »I am in training, don’t kiss me« zu lesen. Cahun demaskiert hier auf ironische Weise die Sexualisierung des weiblichen Körpers. Sie parodiert die konventionellen Zeichen der sexuellen Differenzierung, indem sie die Weiblichkeitsmerkmale als artifiziell herausstellt. Nacktheit wird hier nicht als solche dargestellt, sondern durch die Prothese (die unechten Brustwarzen) repräsentiert. Mittels des Additionsverfahrens wird ›Weiblichkeit‹ als Konstrukt bzw. als Artefakt (repräsentiert durch die künstlichen Prothesen) bloßgestellt.

Lassen wir die Soziologen über die Absurdität & die Trunkenheit einer solchen Revolte lamentieren. (Das

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Abb. 5: Claude Cahun Selbstporträt, um 1927

Abb. 6: Josephine Baker, 1928

Privatsammlung, Paris

D’Ací i D’Allà, Mai 1928, S. 158

Cindy Shermans Subversionsstrategie Eine ähnliche Technik der Übertreibung bzw. Parodie geschlechtsspezifischer Merkmale benutzt auch die zeitgenössische Fotografin Cindy Sherman. Die amerikanische Künstlerin verwies bereits Ende der 1970er Jahre mit ihrer Foto-Serie der Untitled Film-Stills (auf der sie immer selbst als Protagonistin zu sehen ist) auf die kulturelle bzw. mediengeleitete Konstruktion des Frauenbildes. Sherman übt in ihren fotografischen Inszenierungen Kritik an der Repräsentation von ›Weiblichkeit‹ und macht sehr deutlich auf die Maskerade bzw. Künstlichkeit von Frauendarstellungen aufmerksam. Mittels des Additionsverfahrens, das heißt übertriebenen Make-ups, Perücken, künstliche Prothesen etc. unterstreicht sie das Artifizielle weiblicher Inszenierungen. Vor allem hinterfragt sie mit ihren Bildern jedoch die Vorstellung einer stabilen, weiblichen Identität. Auf der Fotografie Untiteld #276 (Abb. 7) aus dem Jahre 1993, welche zur Serie der Fashion Pictures gehört, trägt Sherman ein langes, transparentes Kleid. In einer breitbeinigen Pose sitzend, ist sie mittig ins Bild platziert. Das Gesicht ist stark geschminkt und die Figur trägt eine lange blonde Perücke, die ihr bis zu den Hüften reicht und mit einem Blumenkranz geschmückt ist. In ihrer linken Hand hält sie drei weiße Callas, deren Blüten sich unterhalb ihrer Scham befinden.

subversive Potential, das in dieser Situation steckt.) Der Zeitpunkt des Gewaltausbruchs ist kein Zufall.

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Die Weiblichkeitsmarker sind überdeutlich inszeniert: lange Haare, transparentes Kleid, starkes Make-up, eine ›verführerische‹ Pose und der Blumenkranz bzw. die Callas als Symbol der ›weiblichen Schönheit‹ und Jungfräulichkeit. Auch die Drapierung des Kleides verweist auf die weibliche Verführung als solche: Das Kleid ist über die Knie gezogen, so dass die langen Strümpfe sichtbar werden. Die Figur trägt keine Schuhe und befindet sich vor einer mit Stoff bezogenen Wand und einem Kissenlager. Abgetrennt wird dieser hintere Raum durch zwei lange Vorhänge, die links und rechts von oben ins Bild hineinragen. Die dargestellte Figur wird zweifellos als Femme fatale in Szene gesetzt. Dennoch verweisen zahlreiche Details auf einen Bruch mit dem Bild der ›klassischen Verführerin‹. Die Mimik beispielsweise und vor allem die Augen wirken leer und ausdruckslos. Es scheint, als sei die Figur körperlich ausgelaugt, was noch durch die Pose des stützenden Arms an der Hüfte unterstrichen wird. Die Glaubwürdigkeit dieser übertriebenen Inszenierung muss jedoch von den Rezipient/-innen angezweifelt werden. Zu stark wird der Moment des Sich-in-Szene-Setzens sichtbar und zu deutlich sind die Zeichen für ›Weiblichkeit‹ gesetzt. Die Methode der Akkumulation dient hier dazu, ›Weiblichkeit‹ als Maskerade und kulturelles Konstrukt zu enttarnen. Zudem erschrickt der Ausdruck der Figur eher, als dass er die Phantasien eines männlichen Betrachters beflügelt. Die verführerische Pose steht diametral zum leeren Gesichtsausdruck, dem unförmigen Körper und zu den Brust-Prothesen. Ähnlich wie bei Cahun benutzt auch Sherman BrustProthesen aus Plastik, welche sich deutlich unter dem transparenten Kleid abzeichnen. So betont der Essayist Ulf Erdmann Ziegler »sobald Sherman Sexuelles zur Darstellung bringt, benutzt sie entweder Körpermasken oder Kunststoffpuppen« (Erdmann Ziegler 1995: 35). Die ›Körpermaske‹, die Sherman hier anwendet, beschränkt sich nicht wie bei Cahun auf die Brustwarzen, sondern ersetzt den kompletten Torso, der durchsichtig durch das Kleid schimmert. Nacktheit und Sexualität werden demnach mit Hilfe von Prothesen repräsentiert. Der Einsatz von in diesem Fall ›echt‹ wirkenden Körper-Prothesen verweist zudem auf die Vermengung von realem und artifiziellem Körper. Die Frage, was überhaupt noch ›echt‹ ist am dargestellten Körper bzw. an der gezeigten Inszenierung, führt zwangsläufig zur Frage, was an Weiblichkeitsinszenierungen im Allgemeinen ›echt‹ bzw. ›natürlich‹ ist. Mittels der Akkumulationsstratgie durch übertriebene bzw. offensichtliche Verkleidung wird sowohl bei Sherman als auch bei Cahun ›traditionelle Weiblichkeit‹ hinterfragt und ironisch gebrochen. Sherman beschreibt in einem Interview, dass sich die Fashion Pictures auf reale Typen beziehen, welche vergeblich versuchen einem Klischee zu entsprechen

Es geht noch immer um Eigentum. Ich bin bewaffnet. Was soll das? Überall artikuliert sich Widerspruch

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(vgl. Sherman zit. n. Lorek 2002: 124). Dieses Streben danach, einem determinierten weiblichen Vorbild entsprechen zu wollen, wird in Shermans Inszenierung als ermattende Anstrengung vorgeführt. Wie bei Cahuns Elle sind Blick und Mimik emotionslos und demonstrieren das Maskenhafte der weiblichen Verkörperungen. Die Subtraktionsstrategie kommt bei Sherman dagegen ganz anders als bei Cahun zum Einsatz. Während Cahun körperliche Geschlechtsmarker reduziert bzw. entfernt, lässt Sherman den weiblichen Körper vollkommen verschwinden. Jedoch inszeniert sie Objekte und Kleidungsstücke, die eindeutig weiblich konnotiert sind und ohne den weiblichen Körper in Erscheinung treten. Beim Foto Untitled #168 (Abb. 8) aus dem Jahre 1987, welches zur Serie der Desasters gehört, erkennen wir auf einem Sandboden in scheinbar chaotischer Unordnung verschiedene Utensilien. Im Zentrum des Bildes ist ein weibliches (Business-)Kostüm (Rock, Blazer und Bluse) auf dem Sand ausgebreitet, welches den Anschein erweckt, als stecke noch ein menschlicher Körper in der Kleidung. Dies wird zudem noch durch die sich abzeichnenden Körperformen (Hände und Beine) im Sand verstärkt. Der weibliche Körper verschwindet hier vollständig von der Bildfläche. Lediglich die Weiblichkeitsmarker wie Kleidung (Kostüm und Damenschuh), Schmuck (Kette und Ring) und Schminke (ein Kästchen mit Lidschatten) erscheinen gewissenhaft in Szene gesetzt. Die Spuren eines unter dem Sand befindlichen Körpers deuten außerdem auf eine tote Figur bzw. auf einen Leichnam hin. Zwangsläufig gelangt man zur Frage, was mit diesem weiblichen Körper geschehen sein muss und ob ihm Gewalt angetan wurde. Denn während man die Gliedmaßen wie Hände und Füße unter dem Sand zu erkennen glaubt, scheint der Kopf vom Rumpf abgetrennt worden zu sein. Die Subtraktion des weiblichen Körpers geht bei Sherman jedoch mit einer Akkumulation zusätzlicher Objekte einher. So tauchen im oberen Bereich des Bildes einige elektronische Geräte wie Bildschirm, Drucker, Tastatur, sowie Kabel und zerknüllte Papierbögen auf. Das Verschwinden des weiblichen Körpers wird hier gleichzeitig mit den Medieneinflüssen bzw. mit der digitalen Bilderwelt in Verbindung gebracht, womit die Grenze zwischen ›realem‹ und fiktionalem Körper aufgelöst wird.

gegen Ausbeutung. (Es gibt keine isolierten Phänomene.) Es gibt viele Möglichkeiten. Gegen den Feind.

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Abb. 7: Cindy Sherman Untitled #276, 1993

Courtesy of the Artist and Metro Pictures

Abb. 8: Cindy Sherman Untitled #168, 1987

Courtesy of the Artist and Metro Pictures

Der uns bekannt ist. So daß es an allen Knotenpunkten zu Krisen kommt. Zu Phasen der Destabilisierung.

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Zusammenfassung Sowohl bei Cahun als auch bei Sherman kann der Aspekt der Vielseitigkeit als subversive Strategie betrachtet werden, denn die Künstlerinnen lassen sich nicht auf eine determinierte ›weibliche Identität‹ reduzieren. Beide treten in Personalunion als Fotografin, Schauspielerin, Maskenbildnerin, Regisseurin etc. auf und interpretieren auf ihren fotografischen Tableaux unterschiedlichste Darstellungen von ›Weiblichkeit‹. Den Künstlerinnen geht es darum, den Facettenreichtum von ›Feminitäten‹ aufzuzeigen und die Sehnsucht nach der ständigen körperlichen Veränderbarkeit zu verdeutlichen. Diese Variationsbreite spiegelt sich auch in ihrer Arbeitsweise wieder, denn beide arbeiten multimedial und interdisziplinär. Genauso wenig wie sie sich in ihren fotografischen Selbstporträts auf eine bestimmte Identität reduzieren lassen, verweigern sie es, sich auf ein determiniertes Tätigkeitsfeld zu spezialisieren. Cahun und Sherman machen wie selbstverständlich Gebrauch von den unterschiedlichen Medien und Disziplinen, die sie interessieren und die sie experimentell miteinander in Beziehung setzen. Wie wir gesehen haben, laden Cahuns und Shermans Selbstporträts dazu ein, Grenzen zu öffnen und neu über ›Geschlechterkonzepte‹ bzw. ›-konstruktionen‹ nachzudenken. Der Vergleich der fotografischen Arbeiten verdeutlicht, dass Cahun, im Unterschied zu Sherman, das Zweigeschlechtermodell hinter sich lässt und versucht, ein ›drittes Geschlecht‹ einzuführen. Damit geht Cahun im Gegensatz zu Sherman noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur verdeckte Strukturen im Geschlechterverhältnis aufdeckt und dekonstruiert, sondern mit alternativen Geschlechtermodellen experimentiert. Mit diesen fotografischen Statements kreiert sie einen eigenen Raum, in welchem sie selbstbestimmt agieren kann. Cahuns Taktik der Subtraktion von Geschlechtsmerkmalen unterläuft die konventionellen Kategorisierungsmuster von männlich/weiblich bis hin zur Auflösung des bipolaren Geschlechtermodells. Die übertriebene Akkumulation von Geschlechtseigenschaften weist außerdem auf eine Distanzierung und auf eine Unterwanderung der traditionellen Rollenbilder hin. Mit Hilfe der Doppelstrategie nimmt Cahun auf unterschiedliche Weise Abstand vom medienvermittelten Schönheitskanon der 1920er und 1930er Jahre. Zwar gibt sie durch ihre theatralischen Inszenierungen zu verstehen, dass sie sich durchaus bewusst darüber ist, was als ›typische‹ männliche oder weibliche Repräsentation gilt, doch kann sie nur ironisch auf die ›traditionellen‹ Geschlechterbilder ihrer Epoche reagieren. Um den Medienbildern etwas entgegenzusetzen, entwirft

Daß das, was da ausbricht, kein Zufall ist. Oder doch. An sich haben diese Ereignisse keinen Kausalzu-

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sie sich neu, fernab von massenmedialen Schönheitsvorgaben. Mit diesen fotografischen Selbstentwürfen scheint sie sich auch den sozialen Konventionen und Räumen, welchen Männern und Frauen in der damaligen Gesellschaft zugewiesen wurden, entziehen zu wollen. Das noch nicht klar Definierte lässt ihr dabei eine gewisse Freiheit in ihrer Gestaltung. Für Cahun stellt die fotografische (Geschlechter-)Performance einen Raum dar, den noch niemand vor ihr betreten hat und der noch selbstbestimmt gestaltet werden kann. Auch wenn die Künstlerin niemals eine fotografische Karriere anstrebte und sich nicht im professionellem Milieu18 der Fotografinnen und Fotografen der 1920er und 1930er Jahre bewegte, so bediente sie sich des Mediums, um auf facettenreiche Weise Aspekte der Identität zu erforschen. Zudem eignete sich die Fotografie für Cahun besonders, um das Imaginäre, die Welt der Träume, des Surrealen, der Visionen, aber auch die Welt des Theaters, im Gegensatz zum Realen zu reflektieren. Die Kamera19 wurde von der Künstlerin auch als Mittel zur Selbstsuche und zur Selbsterkennung eingesetzt. Die Kunstkritikerin Laura Cottingham erklärt: »Indem sie [Cahun] Photographie als Medium benutzte, war sie dazu in der Lage, visuell und konzeptionell mit Ideen und Erfahrungen zu experimentieren, die andere bestehende Formen kultureller Produktion entweder nicht begünstigten oder allzu schwer feststellbar machten« (Cottingham 1997: 27). Demnach bot sich das Medium Fotografie für Cahun als geeignetes Ausdrucksmitte,l um die Identitätsfrage bzw. Fragen der Geschlechtszugehörigkeit visuell zu bearbeiten. Cahun löst sich weitestgehend von gesellschaftlichen ›Weiblichkeitsimaginationen‹ und lässt in ihren Inszenierungen etwas sehr Eigenwilliges zum Vorschein kommen. Besonders auf den Fotografien der ›Subtraktionsreihe‹ bemerkt man eine verblüffende Direktheit in ihrem Gesichtsausdruck. Sie scheint den Betrachter/-innen unmaskiert gegenüber zu treten. Ihr individueller Ausdruck lässt sich dabei nur schwer mit dem damaligen weiblichen Schönheitskonventionen vereinen. 18 | Wahrscheinlich trug Cahuns nicht-professioneller Umgang mit der Kamera dazu bei, dass sie sehr unbefangen und experimentierfreudig mit dem fotografischen Medium umging. Die Künstlerin betonte immer ihren Amateurstatus bzw. ihren Dilettantismus, was ihre Arbeit als Fotografin betraf. 19 | Cahun benutzte vermutlich eine Taschen-Faltkamera von Kodak (Typ 3), welche zwischen 1900 und 1915 auf den Markt kam (vgl. James Stevensen 2006: 47). Diese ermöglichte durch ihr handliches Format eine neue Form des Sehens und Arbeitens (im Gegensatz zu den schweren Plattenkameras des 19. Jahrhunderts, die bis zu 60 kg wogen und die kaum alleine bewegt werden konnten).

sammenhang, aber sie gewinnen doch eine Brisanz, die dann wiederum die Einzelereignisse miteinander

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Sherman dagegen lehnt sich ausschließlich an bereits vorhandene Klischeebilder bzw. Geschlechterstereotype aus den Medien und aus der Kunstgeschichte an. Diese herkömmlichen (Weiblichkeits-)Repräsentationen werden von ihr aufgedeckt, wobei die Konstruktionsmechanismen des bipolaren Ordnungssystems gleichzeitig erörtert und dekonstruiert werden. Shermans exemplarische Beispiele verdeutlichen, dass die Strategien des Anhäufens und Reduzierens von Geschlechtercodes in der feministischen Kunstproduktion gegenwärtig noch eine zentrale Rolle spielen. Obwohl Sherman und Cahun sich ähnlicher subversiver Taktiken bedienen, geben sie in ihren Arbeiten unterschiedliche Ausblicke. Während Cahun Körperkonzepte jenseits kultureller und gesellschaftlicher Geschlechtercodes anstrebt und ihre Vorstellung bezüglich alternativer Geschlechtermodelle artikuliert, orientieren sich Shermans Inszenierungen stark an der binären Geschlechtermatrix und fokussieren vor allem auf die Bloßlegung visueller, geschlechtsspezifischer Konstruktionsmechanismen und Repräsentationsstrategien. Auf diese Weise legt sie das Artifizielle tradierter ›Frauenidentitäten‹ offen und persifliert den männlichen Blick auf ›Weiblichkeit‹. In ihren späteren Werken 20 kommt es außerdem zu einer Verstümmelung bzw. Zerstückelung und schließlich zu einem Verschwinden des weiblichen Körpers. Die (De-) Konstruktion von Weiblichkeitsstereotypen steht bei Sherman auch mit einer Gewaltausübung auf den weiblichen Körper in Verbindung. Abschließend bleibt die Frage offen, inwiefern wir wieder eine feministische Kunst/Fotografie benötigen, die alternative Geschlechterbilder bzw. Vorbilder liefert. Denn nach der Dekonstruktion von Geschlechterbildern bedarf es auch neuer Ideen und Modelle für visionäre Leitbilder. Hier war Cahun vielen aktuellen Künstler/-innen bereits weit voraus.

20 | Hier seien vor allem die Serien der Sex Pictures und der Desasters genannt.

verknüpft. Öffnen sich neue Räume, neue Flüsse & Häfen. Könne man an neue Anfänge, neue Kapitel,

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Literatur Ander, Heike/Snauwaert, Dirk (Hg.) (1997): Claude Cahun. Bilder, München: Schirmer/Mosel. Blessing, Jennifer (Hg.) (1997): Rrose is a Rrose is a Rrose. Gender Performance in Photography, New York: The Solomon R. Guggenheim Foundation. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Degele, Nina (2004): Ganz schön inszeniert. Überlegungen zu Heteronormativität und Schönheitshandeln. Feministische Studien, 1/2004, S. 6-21. Downie, Louise (Hg.) (2006): Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, New York: Aperture. Drost, Julia (2003): La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur, Göttingen: Wallstein. EXPORT, VALIE (1982/1975): »Notiz zur Entstehung der Ausstellung ›Magna. Feminismus: Kunst und Kreativität‹«. In: Robert Fleck, Avantgarde in Wien. Die Geschichte der Galerie nächst St. Stephan Wien 1954-1982. Kunst und Kunstbetrieb in Österreich, Bd. 1, Wien, S. 327. Felix, Zdenek/Schwander, Martin (Hg.) (1995): Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975-1995, München: Schirmer/Mosel. Hagemann-White, Carol (1988): »Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren...«. In: Carol Hagemann-White/Maria S. Rerrich (Hg.), FrauenMännerBilder. Männer und Männlichkeit in der feministischen Diskussion, Bielefeld: AJZ, S. 224-235. Lasalle, Honor/Solomon-Godeau, Abigail (1992): Surrealist Confession. Claude Cahuns Photomontages. Afterimage, 19/1992, S. 10-13. Leperlier, François (2004): »La manía de la exepción o el rechazo de los géneros en Claude Cahun«. In: Valérie Picaudé/Philippe Arbaïzar (Hg.), La confusión de los géneros en fotografía, Barcelona: Editorial Gustavo Gili, SA. Leperlier, François (2002): Claude Cahun. Écrits, Paris: Jean Michel Place. Leperlier, François (1997): »Der innere Exotismus«. In: Heike Ander/Dirk Snauwaert (Hg.) (1997), Claude Cahun. Bilder, München: Schirmer/Mosel, S. XI–XVIII Lichtenstein, Therese (1992): A Mutable Mirrow: Claude Cahun. Artforum International, April 1992, S. 64-67. Loreck, Hanne (2002): Geschlechterfiguren und Körpermodelle: Cindy Sherman, München: Silke Schreiber. Messerschmid, Dortothee (2002): Claude Cahun. Anmerkungen zu den Maskierungen einer Dissidentin. Frauen Kunst Wissenschaft, 33/2002, S. 28-35.

neue Seiten glauben. Gewisse Analogien & paradoxe Zufälle. Man sollte doch froh sein, daß sich überhaupt

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Monahan, Laurie J. (1993): Claude Cahuns radikale Transformationen. Texte zur Kunst, 11/1993, S. 101-109. Paul, Barbara (2006): »Feministische Interventionen in der Kunst und im Kunstbetrieb«. In: Barbara Lange (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Vom Expressionismus bis heute, München: Prestel, S. 480-497. Stevensen, James (2006): »Claude Cahun: An Analisis of her Photographic Technique«. In: Louise Downie (Hg.), Don’t Kiss Me. The Art of Claude Cahun and Marcel Moore, New York: Aperture, S. 46-55. Straumann, Barbara (2002): »Queen, Dandy, Diva. Eine Geschichte der theatralischen Selbstentwürfe vom höfischen Schauspiel bis zur Photographie«. In: Elisabeth Bronfen/Barbara Straumann (Hg.), Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München: Schirmer/Mosel, S. 69-87. Welby-Everard, Miranda (2006): Imaging the Actor. The Theatre of Claude Cahun. Oxford Art Journal, Vol. 29, 1/2006, S. 1-24.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Claude Cahun: Selbstporträt um 1917, 10,5 x 8 cm; Sammlung Jersey Museums Service, Jersey. Abb. 2: Claude Cahun: Selbstporträt um 1920, 10, 9 x 8,2 cm; Sammlung Richard & Ronay Menschel, New York. Abb. 3: Claude Cahun: Selbstporträt 1929, 12 x 9 cm; Sammlung Jersey Museums Service, Jersey – Sammlung Musée des Beaux-Arts, Nantes – Sammlung Marc Blondeau, Paris. Abb. 4: Claude Cahun: Selbstporträt um 1929, 10,5 x 8,5 cm; Sammlung Jersey Museums Service, Jersey. Abb. 5: Claude Cahun: Selbstporträt um 1927, 12 x 9 cm, Privatsammlung, Paris. Abb. 6: Josephine Baker in D’Ací i D’Allà, Mai 1928, S. 158. Abb. 7: Cindy Sherman: Untitled #276, 1993, Farbfotografie, 204,5 x 154,9 cm. Abb. 8: Cindy Sherman: Untitled #168, 1987, Farbfotografie, 210,9 x 152,4 cm.

etwas tut. Machtverhältnisse verschieben sich, & neue Kräfteverhältnisse richten sich ein. & der Sog

Visual Resistance. Die Bilder der Zapatistas als Subversionen des Blickregimes Inga Bet ten

Only revolutionairies wear masks! Eine Einleitung

Foto: Oriana Eliçabe

Am 1. Januar 1994 ereignete sich im Süden Mexikos das, was man als den Beginn eines revolutionären Prozesses bezeichnen kann, der bis heute in den Gemeinden von Chiapas (einem Bundesstaat im Süden Mexikos) voranschreitet. Damals besetzten notdürftig bewaffnete und maskierte Indígenas1, Ureinwohner Südamerikas, mehrere Dörfer und 1 | Die Bezeichnung Indígena oder indigene Bevölkerung bezieht sich

wäre schließlich unwiderstehlich. Aber weiß man, was das ist: die Revolution? Oder auch bloß: das Ver-

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Städte des Bundesstaates. Die Zapatistas, die sich nach dem Bauernanführer der Mexikanischen Revolution, Emiliano Zapata, benannt haben, fordern das Ende einer Politik der Ausbeutung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung. Ihr Ziel ist weder die politische Machtergreifung, noch der militärische Sieg. Sie kämpfen, um Aufmerksamkeit zu erregen, um die unmenschlichen Lebensbedingungen der Indígenas, die Ausbeutung, den Rassismus und das Elend aufzuzeigen. Mit ihren bewaffneten Aktionen, der Veröffentlichung und Verbreitung zahlreicher Kommuniqués sowie der Produktion von Bildern und Symbolen haben die Zapatistas es geschafft, die mediale Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Das ausdrucksstärkste Kennzeichen dieser Bewegung ist die von der EZLN 2 , der nationalen zapatistischen Befreiungsarmee, in der Öffentlichkeit getragene pasamontaña 3 . Die schwarze Maske, die, mit Ausnahme der Augen, Kopf und Hals der Akteure bedeckt, war ursprünglich als Sicherheit vor Repression durch die Staatsmacht 4 geauf Menschen, die in enthnisierte Gruppen kategorisiert werden. »Indígenas werden mit angeblicher Rückständigkeit oder Ursprünglichkeit gleichgesetzt. Als soziale Gruppe von Kleinbauern haben sie teilweise Traditionen aus der vorspanischen und Kolonialzeit (die Trachten), sprechen oft eigene Sprachen, unterliegen in vielen Bereichen einer Marginalisierung und Ausgrenzung. Im Gegensatz zu den alten rassistischen Bezeichnungen Indio oder Indianer teilweise auch als Eigenbezeichnung im Gebrauch.« (Gruppe Demontage 1998: 135) 2 | EZLN steht für Ejército Zapatista de Liberación Nacional. 3 | Die pasamontaña ist eine Art Ski- oder Motorradmütze, meist aus Wolle, die das ganze Gesicht bedeckt, mit einem Schlitz für die Augen und eventuell den Mund. »Hinter der zapatistischen Maske verbergen sich die Gesichter, die so lange nicht gesehen werden wollten, um sich zu zeigen. Mit ihren Masken halten die Zapatistas der mexikanischen Dominanzkultur und ihrem ›HeileWelt-Mythos‹ einen Spiegel vor.« (Kerkeling 2003: 281) 4 | Die Zapatistas sind mittlerweile halbkreisartig vom mexikanischen Bundesheer umstellt. Von Palenque im Norden über das chiapanekische Hochland – mit besonders hoher Truppendichte in der Region Chenalh – reichen die Stellungen bis zu Ciudad Cuauhtémoc an der Grenze Guatemalas. Ein weiterer Ring in Form mehrerer großer Militärlager schließt sich direkt um das Hauptquartier in der Nähe der Ortschaft La Realidad im Lakandonischen Dschungel. Nach dem Massaker von Acteal, bei dem 45 Bewohner eines Flüchtlingslagers von paramilitärischen mexikanischen Truppen umgebracht worden waren, starben in Chiapas mindestens 60 weitere Zapatistas durch politisch

langen nach Revolution? In dieser Hinsicht war ich sehr bescheiden. Wie kann die Möglichkeit der Befrei-

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dacht und ist damit nicht nur Symbol, sondern zugleich Element des Kampfes. Mittlerweile ist sie zum Widerstandssymbol der Zapatistas avanciert und besitzt großen Wiedererkennungswert. Die pasamontaña ist Sinnbild für ein Spiel mit Identität und eine Politik der (Un-)Sichtbarkeit. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass die zapatistische Bewegung bislang hauptsächlich im politisch-theoretischen Kontext diskutiert wurde. Es erstaunt umso mehr, da ihre mediale Präsenz im Internet, in Zeitungen und anderen Printmedien zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Kampfes geworden ist. Als Zeichen des Widerstands erobert das Bild der maskierten Zapatistas die Medien. Ihre Popularität zeigt sich »nicht nur in den Schlagzeilen, auf Häuserwänden und Titelseiten – wo seine [die des Subcomandanten Marcos’] Augen, in Ermangelung anderer sichtbarer Gesichtsteile, oft auf Übergröße herangezoomt werden, sondern auch auf Feuerzeugen und Flaschenöffnern, auf Schlüsselanhängern und Brief beschwerern. Erwerben kann man ihn als Souvenir längst nicht mehr nur in Gestalt der bekannten Wollpuppen von den Straßenverkäuferinnen in San Cristobal, sondern auch in den Foyers verschiedener Vier-SterneHotels in der Landeshauptstadt, wahlweise in teures Bernstein gegossen, als maschinell hergestelltes Plastikfigürchen oder als Konterfei, das Strümpfe, Mützen oder T-Shirts ziert.« (Huffschmid 1995: 181f.)

Berücksichtigt man diesen Aspekt, scheint gerade eine Untersuchung interessant, die die medienästhetischen Aspekte des zapatistischen Befreiungskampfes betrachtet. So ist es den Zapatistas – auch nach eigener Aussage – gelungen, gerade durch das Tragen der pasamontaña international wahrgenommen zu werden. Eine Analyse, die sich mit den medialen Strategien der (Selbst-)Inszenierung der Zapatistas beschäftigt, steht bislang jedoch aus. Die visuelle Präsentation der Zapatistas geht weit über einen dokumentarischen Ansatz hinaus und ist essenzieller Bestandteil des politischen Kampfes. Die Zapatistas haben ihre eigene ästhetische Form des politischen Kampfes etabliert. Auch in ihren Bildern lässt sich das taktische Spiel mit Ein- und Vieldeutigkeit, das Spiel mit Identitäten, mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ablesen. Dieser Umgang und ihre starke mediale Präsenz unterscheiden die Zapatistas von motivierte Gewalt. In Chiapas operieren mehr als zwölf staatlich organisierte Gruppen, die für die Vertreibung von mindestens 20.000 Indígenas aus ihren Dörfern verantwortlich gemacht werden.

ung heute Wirklichkeit werden? Schritt für Schritt, Sprung für Sprung, Tritt für Tritt. In Widersprüchen

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

früheren Guerillabewegungen und sind Elemente ihres Kampfes. Ein wesentlicher Austragungsort des medial inszenierten Kampfes ist das Internet. Hier wurden bis heute zahlreiche Portale eingerichtet, auf denen die Historie des Aufstands und die vom Sprecher der EZLN, Subcomandante Marcos, verfassten Kommuniqués sowie Pressemitteilungen nachzulesen sind und Diskussionsforen eingerichtet wurden, an denen sich jede/r beteiligen kann. Vor allem dient das Internet als internationale Plattform, als Ort in der Virtualität, der nicht nur das Spiel mit Anonymität und Identität erweitert. Es wird zur medialen Bühne – zu einem Ort der (Re-)Präsentation –, die die Protagonisten zur eigenen visuellen Darstellung nutzen und nicht zuletzt als visuell strategischer Ort die Verbreitung von Bildern ermöglicht.

Masken als visuelles Zeichen. Eine Untersuchung aus bildwissenschaftlicher Perspektive Der folgende Text wird sich auf den medienästhetischen Aspekt der zapatistischen Freiheitsbewegung konzentrieren und der Frage nachgehen, was die Bilder der Maskierten so aufmerksamkeitsstark, so geheimnisvoll macht. Die Visualität der Bewegung und ihre Strategie der (Un-)Sichtbarkeit soll aus einer bildwissenschaftlichen Perspektive analysiert werden. Basis dieser Untersuchung sind vor allem die digitalen Fotoarchive der EZLN 5 und des Subcomandanten Marcos6, die für alle frei zugänglich im Internet zu finden sind.7 Die Bilder der Maskierten changieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Einerseits verhüllt die Maske das Gesicht der Zapatistas und entzieht sie damit der personalisierten Sichtbarkeit. Andererseits ist die pasamontaña ein dominantes visuelles Zeichen. Die pasamontaña wirft die Frage auf, was durch sie in den Bildern sichtbar wird und was

5 | Vgl. hierzu: http://galeria.EZLN.org.mx/ (letzter Zugriff am 12.01.2007) 6 | Vgl. hierzu: www.submarcos.org/gallery/ (letzter Zugriff am 12.01.2007) 7 | Darüber hinaus wurden weitere Plattformen (bspw. von DDB STOCK PHOTOGRAPHY [www.ddbstock.com/]; Indymedia [http://chiapas.indymedia. org/search-process.php3?medium=image]; BBC News [http://news.bbc.co.uk/1/ hi/world/americas/1052429.stm]; [letzter Zugriff jeweils am 12.01.2007]) und private Bildarchive wie www.flickr.com (letzter Zugriff am 04.03.2007) und Presseportale in die Untersuchung aufgenommen.

& auch in Fehlern. & man weiß nicht so recht, was der Zweck ist. Wahrscheinlich hat es auch gar keinen

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im Verborgenen bleibt. Einleitend soll aus diesem Grund der ›Bereich des Sichtbaren‹ näher definiert werden. Wie sich zeigen wird, enthält dieser zwei wesentliche Komponenten: Das, was gesehen werden kann und wie es gesehen wird: einerseits das Bild, andererseits den Blick. Beide Kategorien sind der Politik untergeordnet, sie dienen der Ausübung von Macht. Blicke werden gelenkt, Bilder manipuliert. Was sind die Bedingungen von Sichtbarkeit in einer visuellen Kultur, die immer wieder von sich behauptet, alles sichtbar machen zu können? Was wird von wem, wie gesehen? Lange Zeit wurde der Blick als Garantie für Transparenz idealisiert. Die aktuelle Theorie der Visual Culture geht dagegen von einer Reihe von Filtern aus: soziale Normen und kulturelle Ideale, die sich zwischen Betrachter und Objekt realisieren. Dieser Aspekt der symbolischen Dimension des Blicks wird von Kaja Silverman in ihrer Theorie des ›Blickregimes‹ analysiert. Sie beschreibt den Blick als schon immer von kulturellen Konventionen durchsetzt und konzipiert das Feld des Sichtbaren als eines von zutiefst fotografischem Charakter. Für Silverman bestimmt das kulturelle Bildrepertoire die Wahrnehmung des Subjekts, indem es dem Subjekt bestimmte ›vor-gesehene‹ Sichtweisen aufdrängt oder zumindest nahe legt. Darüber hinaus widmet sie sich dem Werden des Subjekts, welches sich dem Anderen als Bild zu präsentieren sucht. Die Konstitution des Subjekts wird von Silverman als Anpassung an ideale und normative Erscheinungsformen gedacht, wie sie von jeder Kultur etabliert werden und sich in Darstellungskonventionen festgeschrieben haben. Mit dieser These stellt sich die Frage, wie sich das Subjekt der Vereinnahmung durch Bilder widersetzen und dem durch die Kamera verkörperten Blickregime entziehen kann. Das Handeln der Zapatistas ist kein Handeln gegen das Blickregime, vielmehr handeln sie innerhalb des Blickregimes. Sie stellen sich nicht aus einem angenommenen Außen heraus einer Macht entgegen, sondern verhalten sich ›in‹ ihr. Sie irritieren, manipulieren und handeln innerhalb der Logik dieser Macht. Welche Funktionen der Maske machen sich die Zapatistas zu eigen, um den gesellschaftlichen Machtmechanismen zu begegnen? Warum erscheint die Maske als ein adäquates Mittel der Subversion, als kriegerische Taktik so unschlagbar? Welche Brüche der kulturellen Norm kommen im visuellen Erscheinungsbild dieser Guerilla-Gruppe zum Tragen? Es soll geklärt werden, ob und, wenn ja, wie es ihnen gelingt, dem Blickregime zu begegnen.

Sinn. Fast alles ist eine Lüge. Zweifelsohne tut Handeln not. Auf dem Gipfel des falschen Bewußtseins.

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Foto: Oriana Eliçabe

Kaja Silvermans Theorie des ›Blickregimes‹ In Anlehnung an die Theorie von Kaja Silverman wird unter Blickregime zunächst eine bestimmte Organisation und Formierung von Blicken (etwa die Durchsetzung bestimmter Perspektiven oder Positionen des Betrachters) verstanden, eine Strukturierung der Möglichkeiten des Sehens, durch die nicht nur Macht ausgeübt wird, sondern die auch das Feld des Sichtbaren nach bestimmten Regeln organisiert. Für Silverman, die das Blickkonzept Jacques Lacans (vgl. Lacan 1987) aufgreift und weiterführt bzw. um eine strukturelle und kulturelle Ebene erweitert, funktioniert der Blick zunächst ähnlich dem Blick in Michel Foucaults panoptischem Modell: Er ist ein Disziplinarapparat, welcher den Individuen ›Subjektpositionen‹ zuweist. Sie geht von dem kulturell geprägten Blick, dem ›cultural gaze‹ aus und verweist damit auf die sozialen, kulturellen und ideologischen Implikationen des Blicks. Er repräsentiert größtenteils die vorherrschende hegemoniale Ordnung, welche versucht, über die Produktion von Bildern einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, der die aktuellen Machtstrukturen legitimiert und sichert. Neben den materiellen Produktionsverhältnissen ist die Produktion von gesellschaftlich relevanten Bildern zu einem primären Medium politisch-ökonomischer Hegemonie geworden. Das Bild wird als eine konstitutive Oberfläche der Visualisierung von Welt, als visuelles Mediensystem, das Subjekte hervorbringt und ihnen ihren Subjektstatus zuweist, in den Blick genommen. Die strukturelle Ebene des Blicks beschreibt Silverman als eine technisch vermittelte Form des Sehens, als Blick durch die Kamera.

Durch die Erschwertheit des Kampfes ist dessen Erforderlichkeit ja nicht ausgelöscht. Günther Anders

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Der Technisierung des Blicks folgt dementsprechend die Neuordnung des Blickregimes, d.h. eine neuartige Einfassung des Subjekts als Erscheinungsform der Bilder. Das Ergebnis ist eine visuelle Prägung der Körper wie der Subjekte, eine Neupositionierung des Subjekts im Feld des Sichtbaren und Sozialen. Es kommt aber nicht nur dazu, dass der Sucher sich zwischen »die Erscheinungsformen des Wirklichen« (Silverman 1997: 48) und den Blick schiebt und so das Gesehene nach fotografischen Kategorien strukturiert. Ebenso bietet das Subjekt sich der Kamera dar, es präsentiert sich wie im Schauspiel, bietet sich der Kamera als Objekt an. »Wir lernen, uns selbst mit den Augen der Kamera zu sehen.« (Sonntag 1980: 84) Roland Barthes unterstreicht diese These, indem er die Erfahrung des Gesehenwerdens in das Auftreten meiner Selbst als ein Anderer (Barthes 1989: 21) münden lässt. Das Subjekt macht die Erfahrung, als Bild zu erscheinen, das durch die Kamera zum Vorschein gebracht wird. Wenn wir uns als Bild wahrnehmen, werden wir uns unserer Positionierung im Feld des Sichtbaren bewusst. Das Subjekt präsentiert sich dem Blickregime in einer bestimmten Weise: Es posiert, setzt sich in Pose. Auch wenn die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs auf ein passives Verhalten hindeutet, so liegt in diesem Zusammenhang die Betonung auf der Handlung des ›sich in Pose setzen‹. Es ist kein passiver Prozess, dem das Subjekt ausgeliefert ist, sondern die Form kann von ihm selbst bestimmt werden. Die Pose lässt sich als eine Form der Maskerade beschreiben. Der Körper schlüpft in eine Darstellung, er wird zur Darstellung, zum Ausdruck der Selbstinszenierung. Der Begriff des ›Images‹ ist in seiner Doppeldeutigkeit für Die Gesellschaft des Spektakels (vgl. Debord 1986) sehr prägnant. Das Konzept des Spektakels beschreibt die Reduktion der Vielheit der Perspektiven zugunsten einer einzigen Form des Sehens: der Schaulust. Der entscheidende Aspekt von Guy Debords These ist das Zur-Schau-Stellen der Einzelnen und die damit einhergehende Theatralisierung des gesellschaftlichen Lebens. Die Bedeutung des Zuschauens, des Sehens, das das Erleben in der Gesellschaft des Spektakels ablöst, rückt immer mehr ins Blickfeld. Die Vorstellung auf der einen, die Zuschauer auf der anderen Seite konstituieren das Wahrnehmungsregime des Spektakels. Dementsprechend kommen dem Posieren vor einer imaginären oder realen Kamera, der Gestaltung des Selbst als Bild, dem ›Self-Design‹ unter dem Blickregime eine herausragende Stellung zu. Heutige Subjekte werden durch die auf sie gerichteten Objektive immer wieder daran erinnert, ihr eigenes Image zu produzieren, in dem sich ihre Identität äußert und abbildet. Wenn Guy Debord die Gesellschaft des Spektakels als eine beschreibt, in der »alles, was unmittelbar erlebt

antwortet: Der dritte Band meiner Antiquiertheit des Menschen wird leider ein Kapitel über die »Anti-

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wurde, […] in eine Vorstellung entwichen« (Debord 1986: 13) ist, meint er die Konstitution des Subjekts-als-Schauspiel. Subjekte können als Objekte des Blickregimes bezeichnet werden, und eben diese Tatsache verbindet sie mit dem Schauspieler auf einer Bühne. Dieser ist den Blicken der Zuschauer ausgesetzt und kann meist die Beobachter bzw. Zuschauer selbst nicht sehen. Er ist sich aber ihrer Betrachtung, ihren Blicken durchaus bewusst und verhält sich in seiner Rolle. Das Experimentieren mit verschiedenen Rollen und Schlüpfen in unterschiedliche Identitäten, scheint der Performanz des Subjekts entgegen zu kommen. Es lässt keine Eindeutigkeit mehr zu, sondern experimentiert mit der Vieldeutigkeit der subjektiven Inszenierung. Subjekte lassen sich nicht mehr auf nur eine Möglichkeit festschreiben. Sie haben die Potenzialität ihrer Handlungen entdeckt und sind sich der Blicke, die stetig auf sie gerichtet sind, bewusst.

Der Kampf der Zapatistas als Medienguerilla Die Figur des Subcomandante Marcos ist ein Beispiel für den strategischen Entwurf eines Subjekts: Er ist die Konstruktion eines fiktiven Subjekts, eine medial inszenierte Figur, die geschaffen wurde, um von jeder/m angeeignet zu werden. Ermöglicht wird diese visuell-spielerische Taktik nicht zuletzt durch die Maskierung.

Foto: Oriana Eliçabe

quiertheit der Revolutionen« enthalten müssen. Um die ganze Wahrheit der gegenwärtigen Welt sagen &

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An einem Beispiel der im Internet kursierenden Bilder wird dies besonders deutlich: Ein Mann in abgenutzter dunkler Kleidung sitzt auf einem Stück Waldboden, das von dicken Wurzeln überzogen ist. Seine Beine sind angewinkelt. Sein Blick fixiert einen Punkt außerhalb des Bildraumes, seine Hose ist in die geschnürten Wanderschuhe gesteckt, sein Hemd bis zu den Oberarmen hochgekrempelt. Mit Ausnahme der Augen sind Kopf und Hals von einer schwarzen Maske bedeckt. Auf dem Kopf trägt er zusätzlich eine abgetragene Baseballkappe, die tief in die Stirn gezogen ist. Um den Hals hängt ein zerschlissenes Tuch, das mittig geknotet ist. Sein rechter Arm ist leicht angewinkelt auf seinem rechten Knie abgestützt. Mit der Hand zeigt er in Richtung des Betrachters. Sein linker Arm ist locker über das andere Knie gelegt. Der Handrücken stützt eine Kalaschnikow, die vom Waldboden bis zur linken Schulter am Körper angelehnt ist. An beiden Handgelenken trägt der Mann eine Uhr, über die Schultern zwei Patronengurte, die mit Munition bestückt sind. Dieses Bild spielt mit den Blicken des Betrachters und produziert etwas, was als ›populäre Anonymität‹ zu beschreiben ist. Bewaffnet mit scharfer Munition und einer schwarzen Maske, wird die Figur des Subcomandante Marcos vor den Kameraobjektiven als anonyme Ikone stilisiert. Anders als bei Che Guevara ist hier kein Gesicht zum Symbol einer Bewegung geworden. Vielmehr sind es die Maskierung und die produzierte Anonymität – und damit die visualisierte Gleichstellung aller Protagonisten, die hier ausgestellt werden: »Die pasamontaña ist eine pasamontaña und jeder Mexikaner kann sich eine pasamontaña überziehen und Marcos werden […].« (Durán de Huerta 2001: 12f.) Mit dem Tragen der pasamontaña kann jede/r auf Ebene der äußeren Erscheinung die (fiktive) Identität des Subcomandanten Marcos annehmen. Genau genommen handelt es sich jedoch nicht um den Switch von einer Identität zu einer anderen. Vielmehr trifft die Form des Experimentierens mit anderen Identitäten, das Spiel, das Sichausprobieren, welches in der traditionellen Maske bereits angelegt ist, zu. Jede/r, der eine pasamontaña überzieht, kann so teilhaben an der Figur bzw. wird zu einem Teil der Figur des Subcomandanten. Die Figur wird zum hybriden Körper, der sich aus einer Summe zapatistischer Kämpfer zusammensetzt. Marcos entzieht sich hartnäckig der Personalisierung, sichtbar wird nur seine Vieldeutigkeit, er kann nicht lokalisiert oder identifiziert werden. Jede/r könnte Marcos sein, hinter jeder Maske der Zapatistas könnte er sich verbergen, der Name der Figur Marcos kann von jeder/m angeeignet werden, es gibt keine zwangsläufige Verbindung zwischen diesem Namen und einem

mehr noch das Projekt ihrer totalen Subversion formulieren zu können. Bald ist das Spiel für immer aus.

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bestimmten Gesicht8 : »It is a revolution with many local agendas, a revolution with a hundred faces and experiences, a revolution without a formal name or a grand narrative at present. As Bishop Samual Ruiz of Chiapas says, ›The Zapatistas emerged without faces because they represent many unseen faces from elsewhere which are now emerging as new subjects.‹«(Burbach 2001: 114) Dennoch spiegelt sich in den Bildern der Zapatistas die Individualität jedes Einzelnen wieder. Die Maske verhilft ihnen zu einem unpersonalisierten kollektiven Gesicht. Die Wiedererkennung funktioniert nicht mehr auf Basis der Identifikation des Gesichts. Identität oder vielmehr Individualität äußert sich durch Kleidung und Accessoires, die zu Symbolen werden.

Foto: Oriana Eliçabe

Die Bilder der Maskierten Die Körperhülle hat sich in der Gesellschaft des Spektakels zu einer wichtigen Kommunikationsoberfläche entwickelt. Die äußere Hülle ist zum visuellen Ausdruck der kommunizierten Innerlichkeit geworden. Ihr kommt Bedeutung als ästhetische Repräsentation und Ausformung des Selbst zu. Da ihrer Gestaltung eine so große Bedeutung zugemessen wird, ist sie nicht mehr nur die (Ver-)Hüllung. Kleidung ist ein Hilfsmittel zur Gestaltung der eigenen Identität. Die Nationale Zapatistische Befreiungsarmee zeigt sich auf Fotografien meist in militärischer Kleidung: In gedeckten Farben (jedoch keinen Tarnmustern), einfachen Hemden und Hosen, wie man sie z.B. von der 8 | So skandierten die Teilnehmer eines Protestmarschs in Mexiko-Stadt am 11. Februar 1995: »Wir sind alle Marcos.« (Vgl. Montalbán 2001: 226)

(Aber es ist sehr viel Gewalt im Spiel.) Die Zeit, die soviel versprach & doch nichts hielt. Nichts Neues

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Bundeswehr kennt, mit großen aufgesetzten Taschen, mit einem roten (oder andersfarbigen) Dreieckstuch um den Hals gebunden. Das Gesicht ist durch die schwarze Wollmaske oder ein paliacates9 vermummt. Zusätzlich tragen viele Zapatistas eine weitere Kopf bedeckung. Sie verzichten auf die für das Militär kennzeichnenden Abzeichen, die den Rang des Uniformträgers anzeigen. Es scheint keine einheitliche, von oben auferlegte Kleidervorschrift zu geben. Die Kleidungsstücke zeugen vom Kampf im lakandonischen Urwald. Sie sehen ungeordnet, abgenutzt, beschmutzt, abgetragen und gebraucht aus. Dies ist nicht nur den Bedingungen des Kampfes geschuldet, sondern verweist ebenso auf die essenziellen Lebensverhältnisse der Protagonisten. Die Zapatistas tragen keine militärische Uniform im klassischen Sinn. Uniformen zeichnen sich einerseits durch ihre visualisierte Rangordnung und andererseits das Prinzip der Reihung aus, die nach klaren Ausschlusskriterien funktionieren. Durch die Einheitlichkeit suggerieren sie Egalität, geben aber dennoch Aufschluss über den Rang ihres Trägers. Die Zapatistas hingegen präsentieren sich vieldeutig. Einzig durch die Vermummung stellt sich Einheitlichkeit her. Allen gemeinsam sind die unkenntlich gemachten Gesichter. Das militärische Element wird zusätzlich durch die meist an einem Gurt über die Schulter getragenen Waffen, die schussbereit schräg vor dem Körper gehalten werden, unterstrichen. Im militärischen Kontext, in dem die Uniform nicht nur hierarchische Strukturen visualisiert, sondern auch ein starkes Wiedererkennungszeichen ist, verweist ihre Form auf die Bedeutung als Einheit stiftendes Element. Sie steht in engem Zusammenhang mit militärischem Drill, Disziplinierung, Kennzeichnung einer Einheit, der Tarnung und Repräsentation einer Gruppe. Unter dem Begriff der Uniform lassen sich Stichworte wie Einheitlichkeit, Gleichförmigkeit, Monotonie und Standardisierung subsummieren. Betrachtet man in diesem Zusammenhang das äußere Erscheinungsbild der Zapatistas, so fällt auf, dass das Grundelement der pasamontaña, bzw. der Vermummung zwar immer wieder auftaucht, dieses jedoch nie völlig im Erscheinungsbild übereinstimmt und häufig in kleinen Details abweicht. So zum Beispiel durch Unterschiede in Materialität und Form der pasamontaña. In Bezug auf die äußere Erscheinung der EZLN lässt sich dementsprechend festhalten, dass sie keineswegs eine einheitliche oder uniforme Gruppe darstellen. Vielmehr verkörpern sie den Typus der Guerilla-Krieger und liefern so ein Gegen-Bild zur Vorstellung vom Soldaten als disziplinierter, kalter, gleichgeschalteter und einheitlicher Tötungsmaschine. 9 | Spanische Bezeichnung für Dreieckstuch.

kann auf diesen Trümmern noch aufgebaut werden. Es gab viele Anfänge. Es gab viele Projekte. Potenti-

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Foto: Oriana Eliçabe

Das Auftreten des Subcomandanten Marcos bei Interviews oder öffentlichen Treffen bedient sich einiger Erkennungsmerkmale von Emiliano Zapata. Die Zapatistas beziehen sich nicht nur in ihrer Namensgebung auf den Bauernführer, sie wecken kollektive Erinnerungen und beleben den in Vergessenheit geratenen Mythos wieder. Sie nutzen die Kraft der revolutionären Bilder und geben ihnen eine neue Geschichte.

Maskenbilder erobern die Medien

Foto: Oriana Eliçabe

Das Besondere an den Fotografien der zapatistischen Kämpfer sind die durch die Maske produzierten Leerstellen, die Lücken, die nicht eindeutig ausformuliert sind. Der Betrachter kann den Bildinhalt, die Zeichen

ale der Insubordination & der Revolte. & nie ohne ein paar Promille. Es ist eine unruhige Umbruchszeit

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und die in ihnen angelegten Erzählungen nicht in einer flüchtigen Betrachtung erfassen. Vielmehr sind es Fotografien, die keine offensichtliche Geschichte haben, die für den Betrachter abruf bar oder lesbar ist. Sie veranlassen den Betrachter zum Nachdenken und zu einer detaillierten Betrachtung. Diese Irritationen und Andeutungen verwirren den Betrachter. Roland Barthes beschreibt die Wirkung dieser von ihm als ›Schockfotografien‹ beschriebenen Bilder wie folgt: Sie gehen über den Zeichencharakter hinaus und hallen im Gedächtnis nach. Diese Herausforderung versetzt »den Leser des Bildes in ein Erstaunen, das weniger intellektuell als visuell ist, weil es ihn an den Außenflächen des Schauspiels, an seinem optischen Widerstand, festhält und ihn nicht sofort zu dessen Bedeutung führt.« (Barthes 1999: 106) Solche Bilder erscheinen auf den ersten Blick fremdartig. Wie gebannt blickt der Betrachter auf sie und versucht, ihr Rätsel zu entschlüsseln. Bilder »benutzen das Moment des Wiedererkennens wie auch das der Überraschung, indem sie dem Betrachter eine Reflektionsfläche für seine Selbstwahrnehmung als sich erkennendes, erinnerndes, als schockiertes Subjekt bieten.« (Broeckmann, 1996: 116) Ein Grund, warum den Bildern der Zapatistas diese ungebrochene Aufmerksamkeit entgegenkommt, ist demnach darin zu finden, dass die Verhüllung ihres Gesichts eine Störung im Bild hervorruft, für die der Betrachter eine Erklärung sucht. Der Betrachter versucht die Zeichen der Bilder zu lesen. Die pasamontaña suggeriert ein ›Dahinter‹ eine Leerstelle, die gefüllt werden will. Die Unsichtbarkeit des Gesichts irritiert und weckt gleichzeitig unsere Neugier. Wir sehen, dass wir etwas nicht sehen können und wollen wissen, was sich hinter der pasamontaña verbirgt. Die Schaulust wird durch das Geheimnis geweckt, denn die Maske macht ein Dahinter sichtbar und lässt es gleichzeitig im Verborgenen. Auf den Bildern der Zapatistas wird ihre Identität als Geheimnis inszeniert. Die ausbleibende Identifikation durch die visuelle Blockade verstärkt den Reiz des Geheimnisses. »Die Maske ist der treffendste Ausdruck [der] Doppeldeutigkeit: ›Sie ist Symbol und Erscheinung dessen, was da ist und zugleich nicht da ist; unmittelbarste Gegenwart und absolute Abwesenheit in Einem.‹« (Otto 1960: 84) Letztendlich entzieht die Maske dem Blickregime nicht nur sein Objekt, sie zieht zugleich die Blicke auf sich. Über den Blick werden die Beobachter in ihren Bann gezogen, sind fasziniert und können nicht mehr von ihr lassen. »Das, was man anblickt, ist das, was sich unmöglich sehen lässt.« (Lacan 1987: 191) Das, was wir sehen ist lediglich ein schwarzer Fleck mit zwei Augen. Wir bedienen uns der eigenen Phantasien um dieses Begehren bzw. die Abwesenheit des ›sprechenden‹ (vgl. Deleuze/Guattari: 1992) Gesichts zu kompensieren.

mit vielen Suchbewegungen. Da krieg ich eine Ahnung, daß das hier nicht alles ist. (Jetzt kommt wieder

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Fazit Die Präsenz des Blickregimes fordert das Subjekt unentwegt dazu auf, das eigene Image neu zu gestalten. Unter den kritischen Blicken des Publikums inszeniert sich das Subjekt als Bild, welches die Form seiner Wahrnehmung bereits vorwegnimmt. Bilder sind die Manifestation der Bühne, auf der sich das Subjekt präsentiert. Es bedient sich zur Selbstdarstellung bestehender kulturell ›vor-gesehener‹ Bilder und greift auf einen Fundus zurück, der sich in stetiger Wiederholung zirkulär verbreitet. Die Pose ist der Versuch, das eigene Bild im Rollenspiel selbst zu bestimmen. Dies gelingt nur bedingt, da das kulturelle Bildrepertoire dem Subjekt seine Subjektpositionen zuweist. Das Subjekt schöpft aus diesem Repertoire und kombiniert einzelne Versatzstücke, um das eigene Bild zu gestalten. Es entwirft die eigene Maskerade, die nicht nur die Innerlichkeit von der Äußerlichkeit trennt, sondern auch als Repräsentation der eigenen Identität fungiert. Die Maskerade ist somit nicht nur Verhüllung, sie ist die Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Als ›Herr der Spiegel‹ zeigt Marcos (und mit ihm alle Zapatistas) genau das. Die Zapatistas halten einer Gesellschaft des Spektakels, in der die Gestaltung der Hülle zum elementaren Bestandteil geworden ist, einen Spiegel vor. Die pasamontaña ist die ›offen-sichtliche‹ Visualisierung dieses Umstands. Darüber hinaus hat sie den Indígenas zu einem Bild verholfen, das international wahrgenommen wird und somit Teil der Bildzirkulation des westlichen kulturellen Bildrepertoires geworden ist. Als feste Bestandteile dieses kulturellen Bildrepertoires gehören Gesichter zu der alltäglichen Bilder- und Wahrnehmungswelt. Die Konfrontation mit der ausgestellten Unkenntlichkeit der zapatistischen Gesichter erregt Aufmerksamkeit und irritiert die Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten. Der Kampf der Zapatistas stellt gleichzeitig auf ästhetischer und politischer Ebene die herrschenden Machtverhältnisse in Frage. Die Zapatistas machen das Wahrnehmungsregime des Spektakels sichtbar und fordern die Macht in einem Spiel um (Spiegel-)Bilder und Zeichen heraus. Sie affizieren ein anderes Sehen, ermöglichen andere Perspektiven auf die Vorstellungen des Spektakels. Als Ensemble wecken sie Schaulust und spielen mit Formen der Subjektivität und Identität. Die pasamontaña ist Ausdruck einer subversiven Taktik gegen das Blickregime, subversiv, da sie die visuelle Kultur mit Gegen-Bildern konfrontiert. Es ist eine Taktik, die sich durch das Spiel mit Sehgewohnheiten und Identitäten auszeichnet. Sie produziert eine Störung im Bild und irritiert Sehgewohnheiten, die stetig durch die mediale Bildzirkulation bestätigt werden. Im Bild begegnen die Zapatistas der

das Subjekt ins Spiel.) Daß da noch etwas anderes ist. Daß ich einen Blick dafür habe, daß keine Situation

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massiven Sichtbarkeit der visuellen Kultur mit einer undurchdringlichen Maske. Durch die Unsichtbarkeit ihrer Gesichter ist es ihnen gelungen, der Nichtrepräsentanz in der Bildzirkulation zu entgegnen und ihren Forderungen und Zielen Ausdruck zu verleihen. Es ist eben diese Leerstelle am Körper, die zu einem sichtbaren Zeichen für ihren Widerstand geworden ist. Wir haben es hier mit Verschleierung und Sichtbarkeit gleichermaßen zu tun. Das muss nicht zwangsläufig ein Widerspruch sein, vielmehr ist es hier dem Doppelcharakter des visuellen Zeichens geschuldet. Das Zeichen zeigt und verweist immer auf ein Anderes. Die Verschleierung des Gesichts durch die pasamontaña macht die Intentionen der Zapatistas, die weit über die Individualität ihrer Protagonisten hinausgehen, sichtbar. Die Maskierten signalisieren so, dass ihre kollektiven Absichten wichtiger sind als ein individuelles Gesicht. Mit dem Verhüllen ihres Gesichts entwerfen sie ein Modell der revolutionären Opazität. Mit der pasamontaña entgehen die Träger der Überwachung, gleichzeitig weckt sie Schaulust und spielt mit Formen der Subjektivität, die unter den Blicken der Macht entstehen.

Literatur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/ Berlin: Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung. Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (1999): »Schockfotos«. In: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie III 1945–1980, München: Schirmer & Mosel, S. 105–108. Benjamin, Walter (1963): »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 45–64. Burbach, Roger (2001): Globalization and Postmodern Politics. From Zapatistas to High-Tech Robber Barons, London: Pluto Press. Debord, Guy (1986): Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat. Daniel, Claus (1981): Theorien der Subjektivität. Einführung in die Soziologie des Individuums, Frankfurt a.M./New York: Campus. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater, München: Piper. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M.: Campus. Huffschmid, Anne (1995): Subcomandante Marcos. Ein maskierter Mythos, Berlin: Elefanten Press.

ausweglos ist & daß ich mein Leben umgestalten kann. Angesichts einer Reihe subversiver sozialer Be-

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Kerkeling, Luz (2003): ¡La lucha sigue! [Der Kampf geht weiter] EZLN – Ursachen und Entwicklungen des zapatistischen Aufstands, Münster: Unrast. McNeill, Daniel (2003): »Masken – eine Quelle für Identitäten«. In: Daniel McNeill, Das Gesicht. Eine Kulturgeschichte, München: Goldmann. Montalbán, Manuel Vázquez (2001): Marcos – Herr der Spiegel, Berlin: Wagenbach. Olschanski, Reinhard (2001): Maske und Person. Zur Wirklichkeit des Darstellens und Verhüllens, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Otto, Walter (1960): Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt a.M.: Klostermann. Silverman, Kaja (1997): »Dem Blickregime begegnen«. In Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: ID. Sonntag, Susan (1980): Über Fotografie, Frankfurt a.M.: Fischer Tb.

Linkliste http://galeria.EZLN.org.mx (letzter Zugriff am 12.01.2007) www.submarcos.org/gallery (letzter Zugriff am 12.01.2007) www.ddbstock.com (letzter Zugriff am 12.01.2007) http://chiapas.indymedia.org/search-process.php3?medium=image (letzter Zugriff am 12.01.2007) http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/americas/1052429.stm (letzter Zugriff am 12.01.2007) www.flickr.com/search/?q=Zapatistas (letzter Zugriff am 04.03.2007) www.f lickr.com/photos/orianomada/sets/1326387 (letzter Zugriff am 04.03.2007)

wegungen von hoher Intensität. Eine andere Welt, ein anderes Leben, andere Schweinereien. Eine Chance,

gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Ich war froh, wenn ich von allen in Ruhe gelassen wurde. (Kommt

wieder das Subjekt ins Spiel: das Ich & die anderen.) Alles, was ich wollte, war Toleranz. In dieser Hinsicht

Alterierende Räume, unmögliche Perspektiven. Zur Subversion des Kamerablicks durch Computeranimation und ›virtuelle Kamera‹ Sebastian Richter

Der Blick der Kamera hat seit über hundert Jahren die Darstellung von Wirklichkeit entscheidend geprägt. Der Film fügt der Wahrnehmung etwas substanziell Neues hinzu – bisher ungesehene Blicke auf die physische Realität. Er enthüllt Wirklichkeit: »Der Film macht sichtbar, was wir zuvor nicht gesehen haben oder vielleicht nicht einmal sehen konnten. Er hilft uns in wirksamer Weise, die materielle Welt mit ihren psycho-physischen Entsprechungen zu entdecken. Wir erwecken diese Welt buchstäblich aus ihrem Schlummer, ihrer potentiellen Nichtexistenz, indem wir sie mittels der Kamera zu erfahren suchen.« (Kracauer 1985: 389). Wirklichkeitsvorstellungen sind auf diese Weise durchdrungen vom filmischen Prinzip. Mit Hilfe von optischen Aufzeichnungsmedien wurde das Feld des Sichtbaren stetig erweitert. Immer neue Bereiche des Wirklichen wurden im Bild ›realisiert‹, die ohne den Blick einer Kamera unvorstellbar gewesen waren. Fotografische und filmische Darstellungskonventionen und Inszenierungsprinzipien sind auf diese Weise zum ›Normalmodus‹ medialer Sichtbarkeiten geworden: »Not only is film more than a medium of art or entertainment, […] but it plays a key role in shaping viewers’ notion about ›reality‹ itself.« (Black 2002: 7) Konkurrenz bekommt das filmische Prinzip seit einigen Jahren von computergenerierten Bewegungsbildern, die sich anschicken, das Primat des Kamerablicks zu brechen. Durch den Einsatz von virtuellen Kameras in Computersimulationen, Videospielen und im Spielfilmbereich kommt es zu einer grundlegenden Umstruk-

war ich sehr bescheiden. (Ich hatte ja auch vor, meine Homosexualität bis an mein Lebensende zu ver-

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turierung medialer Blickkonstruktionen. Der vorliegende Beitrag betrachtet diese Umstrukturierung aus einer Perspektive, die sich ebenso an bildwissenschaftlichen wie auch an film- und medienwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden orientiert. Da es speziell um die Umwertung des filmischen Blicks geht, stehen dessen formale und ästhetische Inszenierungs- und Darstellungsstrategien im Mittelpunkt. Sich mit der Bildlichkeit von Filmbildern beschäftigen heißt dabei, die Bildebene als Bedeutungsträger ernst zu nehmen und das Gesehene darzustellen, ohne es im gleichen Schritt in einen narrativen Gesamtkontext einzubinden. Ausführliche Beschreibungen des visuell wahrgenommen Bildinhalts machen folglich einen wesentlichen Anteil des Analyse-Instrumentariums aus. Um anhand der Bildbeschreibungen die untergründigen Umstrukturierungen des Kamerablicks darstellen zu können, wird zudem der technische und medienspezifische Erscheinungs- und Herstellungszusammenhang der untersuchten Bildwelten dargelegt. Die Handlungsebene wird dagegen bewusst nicht zum Gegenstand der Untersuchung in diesem Aufsatz gemacht. Gegenstand dieser bildwissenschaftlichen Medienanalyse sind zwei sehr unterschiedliche Spielfilme, die beide mit computeranimierten Bewegungsbildern und virtueller Kamera arbeiten: The Polar Express (USA 2005) und Panic Room (USA 2002). Bei The Polar Express handelt es sich um einen Film, der ausschließlich mit computergenerierten Bildern arbeitet. Die Bildästhetik von Panic Room wird dagegen von gefilmten Aufnahmen bestimmt – jedoch sind vollständig computeranimierte Sequenzen in den Film integriert. An beide Filme soll die Frage herangetragen werden, wie die Inszenierung des Bildraums durch den Einsatz computergenerierter Visualisierungen den überkommenen Blick der Filmkamera subversiv umstrukturiert.

Subversion als formal-ästhetische Kategorie Der spezielle Fokus dieses Beitrages liegt auf der Untersuchung der subversiven Wirkung computergenierter Bildwelten auf den Kamerablick. Der Begriff der Subversion wird in diesem Fall ausdrücklich nicht an inhaltlichen Kategorien festgemacht oder in Zielsetzungen einzelner Akteure oder Gruppen gesucht. ›Subversion‹ wird im Folgenden vielmehr als eine rein formal-ästhetische Kategorie verstanden, deren Relevanz über den Bereich des Ästhetischen hinaus sich jedoch in ihrem massiven Einfluss auf die von Bildmedien geprägte Vorstellung von Wirklichkeit erweist.

stecken.) Fast alles ist eine Lüge. Zweifelsohne tut Handeln not. Egal, wie verpfuscht mein Leben war

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Die Filmanalysen werden zeigen, dass es durch den Einsatz von ›virtuellen Kameras‹ zu einer subversiven Umstrukturierung filmischer und fotografischer Darstellungsweisen kommt. Subversiv ist diese Umstrukturierung deshalb, weil die computergenerierten Bilder den bekannten filmischen Ausdrucksmöglichkeiten vermeintlich nichts wesentlich Neues hinzufügen, da sie den Blick der Kamera nachzuahmen oder zu simulieren scheinen. Eine genaue Analyse von Herstellung und Ästhetik zeigt jedoch, dass diese Einschätzung trügt: Unter dem Deckmantel von sogenannten ›fotorealistischen‹ Oberflächen und überkommenen Inszenierungsprinzipien wird der visuelle Code filmischer Darstellung neu geordnet: Der filmische Blick – so die These dieser Überlegungen – wird in animierten Bewegungsbildern unmerklich und von innen heraus unterwandert. Diese Unterwanderung hat Folgen für Perspektiven, Blickfeld, Zeit- und Raumdarstellungen medialer Bildwelten, die sich mittelbar auf die durch die optischen Bildmedien geprägte Vorstellung von Wirklichkeit auswirkt.

Spielfilm und Animation Computer und Kino – das lässt die meisten Menschen vor allem an Explosionen, Naturkatastrophen, Raumschiffe, Aliens, Superhelden, kurz an all das denken, was unter dem Label ›digitale visuelle Effekte‹ oder kurz ›VFX‹ läuft. Allerdings sind digitale Bilder oft längst nicht mehr das, was als Effekt zum ›eigentlichen‹ Film hinzutritt. Als bestes Beispiel dienen Filme wie Sin City (USA 2005) oder Sky Captain and the World of Tomorrow (USA 2004), die vollständig auf reale Studio-Sets oder Aussendrehs verzichten und stattdessen reale Schauspieler in realistisch animierte 3D-Welten integrieren. Hier sind es nicht mehr die am Computer generierten Bilder, sondern die real gefilmten Schauspieler, die zum eigentlichen Effekt geworden sind. Die genannten Filme stellen damit nicht nur die Grenze zwischen Computeranimation und ›Realfilm‹ vollkommen in Frage, sondern zeigen auch, dass digitale Bilder im Filmbereich heute viel mehr leisten, als vom Effektbegriff abgedeckt wird. »Kaum noch werden wir in naher Zukunft von Spezial- oder Sondereffekten reden, die als Ergänzung eines real aufgenommenen Bildes verstanden werden können. Vielmehr interpretiert die zur Verfügung gestellte digitale Technik reale Bildkomponenten in toto neu und wertet sie um. Es findet eine Annährung an die Animation statt: an das künstlich bewegte Bild an sich.« (Giesen 2000: 7)

oder noch werden würde. Mit den bescheidenen Mitteln, die zur Zeit die unseren sind. Gegen die Ohnmacht,

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Der Unterschied zwischen ›Realfilm‹ und Animation ist in vielen Bereichen der Filmproduktion inzwischen kaum noch zu erkennen, frühere Trennlinien sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt worden. Durch die fast vollständige Digitalisierung der Filmproduktion ist eine neue Kategorie von Bewegungsbildern entstanden, in der Computeranimation und ›Live Action‹ (am Set gefilmte Bildanteile) untrennbar zusammengewachsen sind. Wenn es um digitalisierte oder digital hergestellte oder bearbeitete Bilddaten geht, scheint es deshalb sinnvoll, anstatt von ›digitalen visuellen Effekten‹ besser von ›hybriden Bewegungsbildern‹ zu sprechen. Hybride Bewegungsbilder speisen sich per Definition aus verschiedenen Datenquellen (z.B. gefilmte Sequenzen, animierte 3D-Figuren, Bewegungsaufnahmen mit Hilfe von Motion Capture und zweidimensionale Computergrafiken), erscheinen aber als ein geschlossener Bildraum.

Raumdarstellung im Film Der räumliche Effekt der Bewegung als Mittel der Raumdefinition war bis zum Auf kommen computergenerierter Bilder nur dem Film gegeben. Das entscheidende Tiefenindiz liefert dabei nicht die Bewegtheit der gefilmten Objekte. Die Räumlichkeit des filmischen Bildes wird maßgeblich durch die Bewegung der Kamera selbst konstituiert: »Der entscheidende Unterschied zwischen Photographie und Film besteht darin, daß der Blickpunkt der Bewegung versetzt werden kann und der Stagnation der Schärfen und Standortfixierung entgehen kann […].« (Virilio 1986: 28f.) Die Bewegung der Kamera betrifft die Wahrnehmung des gesamten Bildraums und reißt die Tiefendimension auf. Sie macht die Tiefenstaffelung des Bewegungsbildes erfahrbar, die Objekte im Raum lokalisierbar und den räumliche Gesamtzusammenhang transparent. Zudem wird durch Perspektivverschiebungen, die neue Blickwinkel nach sich ziehen, die Plastizität der Objekte erhöht.1 Ein besonders eindrucksvolles Mittel zur Rauminszenierung ist die 1 | Das Perspektivzentrum der Kamera kann auf zwei kontinuierliche verändert werden: durch einen Kameraschwenk (horizontal und vertikal) oder in der Fahraufnahme. Schwenk und Fahrt haben gemeinsam, dass sie sukzessive neue Bildelemente freigeben. Während die Kamera beim Schwenk in ihrer Position verharrt, entgrenzt die Fahraufnahme das Bild in jede Bewegungsrichtung. Obwohl Kamerafahrten ebenso geläufig wie vorhersehbar sind, gehören sie deshalb immer noch zu den »eindrucksvollsten Gesten der Apparatur« (Prümm 2004: 236).

die mir in letzter Zeit deutlicher & schmerzhafter als je zuvor bewußt geworden ist. Ich hatte ja vor,

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Fahraufnahme, bei der sich die Kamera physisch in den Raum hinein begibt, den sie gleichzeitig abbildet. Sie macht ihn im wahrsten Sinne des Wortes ›erfahrbar‹. Die Fahrt besitzt keinen festen Standpunkt, sie sprengt kontinuierlich den Bildrahmen und verflüssigt die Räume. Sie fängt Bewegungen ein, die sich vor der Kamera ereignen und folgt ihnen, um sie in den Focus der Zuschauer zu bringen (vgl. dazu Deeken 2006; Winkler 1992: 81ff.).

Animation, virtuelle Kamera und Raumdarstellung Im Laufe der Filmgeschichte wurden Aufnahmeapparate immer kleiner und beweglicher gemacht, um ihre Bewegungen besser steuern und kontrollieren zu können. Die fortschreitende Mobilisierung und Miniaturisierung der Kamera bedeutet einen Gewinn an Freiheit, was die Rauminszenierung betrifft, und manchmal auch einen Gewinn an Spontaneität. Die mobilisierte Kamera erschließt und dynamisiert den Filmraum immer weiter und ermöglicht in ihrer Bewegung und Beweglichkeit immer neue Raumeindrücke, Perspektiven und Blicke, die zuvor visuell nicht erfahrbar waren. 2 Almuth Hoberg beschreibt 2 | Die Entwicklung der Kameratechnik kann als eine Geschichte der Mobilisierung des Blicks gelesen werden: Zu Beginn der Filmgeschichte war die Kamera meist unbewegt an einen festen Beobachtungsstandpunkt gebunden, wurde aber bald mit Hilfe von Pferden, Zügen oder anderen Hilfsmittels mobilisiert. Spätestens ab 1914 wurde die Kamera für Griffiths Monomentalfilme auf einen eigenen Schienenwagen verfrachtet, um Menschenmassen, Pferde und Fahrzeuge in Bewegung verfolgen zu können. Daraus entwickelte sich der Dolly (Fahrstativ), der bis heute ein wichtiges Instrument für Fahraufnahmen ist. Zudem mobilisierte der Kamerakran den Kamerablick ab spätestens den 1940er Jahren. Auch die Einführung kleiner Kamerasysteme, die vom Kameramann auf der Schulter oder in der Hand getragen werden konnten, trugen zur weiteren Mobilisierung bei und waren in den 1960er Jahren vor allem bei den verschiedenen avantgardistischen Strömungen sehr beliebt, da durch ihre Beweglichkeit ein neuer, scheinbar authentischerer Blick auf Wirklichkeit ermöglicht wurde. Die Handkamera befreite sozusagen die Fahrt von den Schienen – und die Steadicam verband in den 1970er Jahren die Beweglichkeit der Handkamera mit dem erschütterungsfreien Lauf des Fahrstativs. Die Motion Control Kamera wiederum ermöglichte mit ihrer Computersteuerung zur gleichen Zeit die unbegrenzte Wiederholung ein und der selben Bewegung. Digitale Kamerasysteme haben die Aufnahmegeräte seit den 1990er Jahren weiter verkleinert und mobilisiert, ein Umstand, der sich filmästhetisch in

meine Homosexualität bis an mein Lebensende zu verstecken. Jeder muß Antworten für eine Situation

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die Mobilisierung und Miniaturisierung filmischer Aufnahmesysteme deshalb auch als »Entmaterialisierung«, deren letzte Instanz das in Computersoftware übersetzte Prinzip der virtuellen Kamera bildet: »[D]as ungebundene künstliche Auge wird zum ›augenlosen Auge‹, zu einer in Rechenprogrammen niedergelegten Ansicht von Bewegungen, die keine reale physische Bewegung weder des Apparates noch des Abgebildeten benötigt: nur die von elektrischen Impulsen, die schwerelos, immateriell im Inneren der Maschine stattfindet.« (Hoberg 1999: 49)

Diese Beschreibung, die die ›virtuelle Kamera‹ computeranimierter Bildwelten als Weiterentwicklung und gleichzeitig vorläufigen Endpunkt der Mobilisierung der Filmkamera sieht, verdeckt, dass mit der virtuellen Kamera ein Medienwechsel verbunden ist – und mit diesem auch ein Wechsel des visualisierten Raumes. Während mobilisierte Film- (und Video-)kameras den ›physikalischen‹ Raum erkunden und erfahren, handelt es sich bei der ›virtuellen Kamera‹ um eine Software, mit deren Hilfe in einer computergenerierten Animation bestimmte Parameter der Visualisierung festgelegt werden können. Es werden synthetische Bewegungsbilder möglich, die die Veränderung des Bildraums der Grafik so erscheinen lassen, als sei dieser von einer sich durch den Raum bewegenden Filmkamera aufgenommen. Betrachtet man die Computergrafik aus der Perspektive der Filmgeschichte, dann simulieren computergrafische Bewegungsbilder auf diese Weise die Darstellung von Räumlichkeit und die Raumbehandlung einer Filmkamera. Begriffe wie ›Kamerafahrt‹, ›Schwenk‹, ›Zoom‹ u.ä. werden deshalb auch im Zusammenhang mit fließenden Perspektivveränderungen innerhalb computergenerierter Visualisierungen verwendet. Computeranimierte Raumdarstellung ist jedoch nicht durch ein geschlossenes System von Raumindikatoren festgelegt, das im Prinzip einer äußeren Kamera verbürgt und festgeschrieben ist – wie es beim filmischem Raum der Fall ist (vgl. Winkler 1992: 84). Der Raum der Animation ist vielmehr als offenes System zu verstehen, das veränderbar ist und dessen Inszenierung nicht zwangsläufig den optischen Gesetzen der Filmkamera folgen muss. Der Unterschied von virtueller Kamera und filmischen Aufzeichnungssystemen wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass kontinuierliche Perspektivverschiebungen des Bildausschnitts in Animationen Bewegungen wie Dogma 95 niedergeschlagen hat. Inzwischen scheint es kaum ein technisches Gerät mehr zu geben, in das keine noch so kleine Kamera eingebaut ist (vgl. z.B. Deeken 2006; Schernickau 2006; Prümm 2004).

finden, auf die er nicht vorbereitet ist. Was sich abspielt, ist irrational. Einmal mehr muß ein neuer Typus

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keine ›Fahrt‹ einer ›Kamera‹ anzeigen, sondern dass es sich bei Bewegungen in Animationen immer um Objektverschiebungen handelt. Der Bewegungseindruck entsteht durch eine stetige Neuberechnung von Raumkonstellationen und nicht durch Bewegungsaufzeichnung oder Raumerkundung im filmischen Sinne. Um beim Betrachter den Eindruck von Bewegung hervorzurufen, verschiebt der Computer grafische Objekte in ihrer Relation zueinander, unter Berücksichtigung der Beleuchtungssituation. Bei Animationen kann im strengen Sinne deshalb nicht von Bewegungen gesprochen werden, die abgebildet oder vollzogen werden: »[D]ies gilt auch dann, wenn der Betrachter den Eindruck gewinnt, dass eine ›Kamerafahrt‹ gezeigt würde. Tatsächlich werden hierbei nur Objektverschiebungen und Objektgrößen- und -ansichtsveränderungen gezeigt.« (Pieper 1994: 58)

Aus den Augen, aus dem Sinn: Raumverwandlungen in The Polar Express The Polar Express handelt von der Zugfahrt einer Gruppe von Kindern zum Nordpol, wo sie in der Nacht vor dem Weihnachtsmorgen Santa Claus treffen sollen. The Polar Express ist ein vollständig computeranimierter Spielfilm, der in seiner Ästhetik auch deutlich als solcher zu erkennen ist. Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen der Zuschauerblick verunsichert wird, da der Film Elemente des Live Action-Films und der Animation vereint und eine hybride Bildästhetik schafft, die eine Genreeinteilung schwer macht.3 In einer Sequenz, die 3 | Obwohl es sich um einen vollständig computeranimierten Film handelt, wurde im Vorfeld damit geworben, das fünf Rollen mit ein und demselben Hollywoodstar (Tom Hanks) besetzt seien. Der Widersprüchlichkeit dieser Aussage – ein vollständig computeranimierter Film ohne Kamerabilder, in dem trotz allem ein Hollywoodstar mitspielt (und dann noch in fünf Rollen) – wurde mit dem Verweis auf die eingesetzten Technologien zur Erstellung der Computeranimationen begegnet. Hanks leiht denen von ihm ›verkörperten‹ Rollen nicht nur seine Stimme oder sein Aussehen, sondern ›spielte‹ einige der computergenerierten Figuren tatsächlich selbst. Grundlage für die Animation der Figuren in The Polar Express ist eine Weiterentwicklung des Prinzips der Motion Capture, die sogenannte Performance Capture, mit deren Hilfe bestimmte individuelle Bewegungsmuster aufgezeichnet und auf computergenerierte Figuren angewendet werden können. Ziel ist es, den persönlichen Stil des Hollywoodstars, seine Individualität und seine Emotionen – sozusagen die Essenz seines Schauspiels – zu digitalisieren und zur Grundlage von

von Widerstand erfunden werden. (Weil die Unfähigkeit, Widerstand zu leisten, dumm macht & dazu

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in der Produktionsphase den Arbeitstitel ›The Ticket Ride‹ trug, wird eine Zugfahrkarte auf ihrem Weg durch die Lüfte verfolgt. An dieser ca. zwei minütigen Einstellung ohne sichtbaren Schnitt (›Plansequenz‹ oder ›Sequenzeinstellung‹) lässt sich sehr gut zeigen, wie animierte Perspektivverschiebungen sich auf der einen Seite filmischer Darstellungskonventionen und Inszenierungsstrategien bedienen, um diese auf der anderen Seite gleichzeitig immer wieder zu unterlaufen. Bemerkenswert sind hier vor allem jene Momente, in denen sich ohne Unterbrechung der ›Kamerafahrt‹ die räumlichen Konstellationen unauffällig verschieben und sich Darstellungsparameter der virtuellen Kamera unmerklich ändern. Da sich die subversive Wirkung der Bilder gerade im unmerklichen Unterlaufen filmischer Darstellungskonventionen entfaltet, wird in den folgenden Sequenzbeschreibungen von ›Fahrten‹, ›Schwenks‹ und ›Bewegungen‹ der virtuellen Kamera die Rede sein – obwohl es sich, wie oben gezeigt, eigentlich um Objektverschiebungen und Veränderungen des Raumes handelt. Die Beschreibung einer animierten Sequenz im Stile einer herkömmlichen Filmsequenz entspricht der durch den Blick der Kamera geschulten Wahrnehmung des Zuschauers: Auch im Wissen um den Herstellungsaspekt der computergenerierten Perspektivverschiebungen werden diese als Bilder einer sich bewegenden Kamera wahrgenommen. Die Sequenz beginnt in einer Halbnahen eines Jungen, der versucht, im Schneetreiben auf einer Plattform zwischen zwei Waggons eines altmodischen Zuges sein Gleichgewicht zu halten. In einer Hand hält er ein großes goldenes Zugticket, das in den folgenden zwei Minuten zur ›Hauptfigur‹ der Bildsequenz wird. Plötzlich löst die Fahrkarte sich aus den Fingern des Jungens und wird vom Wind mitgerissen. Die virtuelle Kamera folgt dem Flug des Tickets, das an den erleuchteten Fenstern eines Waggons entlang getrieben wird. Im Wageninneren sieht man den Jungen, der das Ticket verfolgt. An dieser Stelle erlaubt sich die Animation einen ersten, fast unmerklichen Eingriff in die Darstellungskonventionen optischer KameAnimationen zu machen. Zu diesem Zweck waren 64 Infrarot-Kameras und 16 Videokameras auf das Performance Capture-Set gerichtet. Die Kameras arbeiteten wie ein großes Facettenauge zusammen. Damit dieses komplexe Verbundsystem aus Sensoren jede noch so kleine Regung in der Darstellung eines Schauspielers registrieren konnte, befanden sich im Gesicht eines jeden Schauspielers 151 kleine Marker sowie 80 Marker auf dem Körper, deren Positionsveränderungen in einem Blickwinkel von 360 Grad aufgezeichnet werden konnten (vgl. auch Fordham 2005).

führt, daß die eigenen Fähigkeiten nicht genutzt werden.) Warten auf Anschluß. Ruhe bewahren. Schritt-

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rasysteme. Während optische Medien nur diejenigen Raumpunkte als scharfe Bildpunkte wieder geben, die sich in einer bestimmten gemeinsamen Gegenstandsweite zur Linse befinden, werden hier von einander unabhängige Bildebenen scharf gestellt: Sowohl das fliegende Ticket als auch der Junge im Wageninneren sind gestochen scharf zu erkennen. Die Figuren, die auf den Bildebenen dazwischen und dahinter dargestellt sind, sind dagegen unscharf – nach optischen Gesetzen eine Unmöglichkeit. Zudem ist der Junge im Vergleich zu den anderen Wageninsassen in deutlich brillanteren Farben und ein ganzes Stück heller dargestellt. Durch diese in filmischen Bewegungsbildern unmögliche Inszenierungsstrategie wird die Aufmerksamkeit der Betrachter geschickt und fast unmerklich auf die beiden wichtigsten Bildelemente gelenkt. Punktuelle Schärfebereiche, die mit einer solchen leicht abweichenden Beleuchtungssituation gekoppelt werden, gehören nicht zu den Ausdrucksmöglichkeiten optischer Kamerasysteme. 4 Schließlich wird das Ticket in den Nachthimmel hinaus getrieben. Das Bild öffnet sich zu einer Totalen. Die punktuellen Schärfebereiche werden zugunsten einer eindeutigen Gewichtung der Bildebenen aufgehoben: Der Schärfefokus verschiebt sich auf das davon fliegende Ticket, während der Zug und eine Gebirgslandschaft mit Brücke und Schlucht in relativer Unschärfe in den Blick kommen. Die Kamera schwenkt mit der Flugbahn mit, bis letztlich nur noch das Ticket sanft schwebend und goldglänzend vor einem leeren blauschwarzen Himmel zu sehen ist. Für einen kurzen Moment scheinen die virtuelle Kamera und das Bild still zu stehen. Die sanft um die eigene Achse trudelnde Fahrkarte schwebt in der Bildmitte vor einem dunklen, kaum konturierten Hintergrund. Als das Ticket langsam zu Boden zu sinken beginnt, nimmt auch die virtuelle Kamera ihre Fahrt wieder auf. Plötzlich kommen die Kronen eines Tannenwaldes ins Bild. Jeglicher Bezug zu vorherigen Bildelementen ist verloren gegangen. Der Raum, der zuvor da war, ist verschwunden. Wo ist die Gebirgslandschaft? Wo ist die Brücke? Wo ist der Zug? Die Großaufnahme des Tickets vor dem Nachthimmel, die das Ticket von der Umgebung isolierte und jeden räumlichen Bezug kurzzeitig auflöste, wurde dazu genutzt, den gesamten Bildraum neu zu konfigurieren. Unmerklich hat sich die räumliche Konstellation verändert, ohne dass der Bezug des Waldes zu den vorherigen Landschafts4 | Solche punktuellen Veränderungen von Schärfebereichen, Farbgebung und Beleuchtungssituationen werden nicht nur in Animationen angewendet, sondern sind seit einigen Jahren auch in digital nachbearbeiten ›Realaufnahmen‹ zu finden.

halten mit der Wirklichkeit. Die Form, in der das Politische heute seinen Ausdruck finden kann, ist jedoch

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bildern deutlich würde.5 Das Ticket sinkt zu Boden, von der Kamera in einer senkrechten Fahrt immer mittig im Bild gehalten. Kurz bleibt das Bild stehen: Die Fahrkarte liegt zentriert im Vordergrund des Bildes unbewegt auf der unberührten Schneedecke am Waldboden, im Hintergrund sind die Stämme einer Reihe von Tannenbäumen zu erkennen. Plötzlich rast hinter den Baumstämmen von links nach rechts der Zug wieder durch das Bild. Vor den Baumstämmen taucht ein Wolfsrudel auf, das den Zug zu verfolgen scheint. Das Ticket wird vom Geschwindigkeitssog der rennenden Tiere mitgerissen, die Kamera folgt seiner Bewegung mit einem Reißschwenk und nimmt ihrerseits die Verfolgung des Rudels, des Tickets und des Zuges auf. Das Bild öffnet sich wiederum in eine Totale. Der Zug fährt auf eine Brücke zu, die über ein tiefes Tal führt. Als er die lange Brücke quert, rennt das Wolfsrudel mit unverminderter Geschwindigkeit einen verschneiten Hang hinunter – und verschwindet. Das Ticket löst sich aus dem Sog der rennenden Tiere und steigt nach oben empor. Wieder treibt es kurzzeitig friedlich in der Nachtluft. Die virtuelle Kamera verlangsamt ihre Fahrt und kommt ebenfalls fast zum Stillstand. Im Hintergrund nähert sich, wie aus dem Nichts auftauchend, ein Raubvogel in atemberaubendem Tempo. Der Vogel schnappt mit seinem Schnabel nach dem Ticket und reißt es mit sich. Die virtuelle Kamera heftet sich an den Adler und nimmt dessen Geschwindigkeit auf. Der Adler navigiert in waghalsigen Drehungen und Pirouetten. Brückenpfeiler und steil abfallende Felskanten kommen an den Rändern des Bildes, das vom Vogel fast vollkommen ausgefüllt wird, in den Blick. An dieser Stelle nutzt die Animation die extreme Großaufnahme, um den Raum wiederum neu zu konfigurieren. Durch das Close-Up des Adlerkopfes wird der räumliche Zusammenhang aufgehoben. Wie schon in der Großaufnahme des Tickets vor dem schwarzen Nachthimmel geht beim Betrachten der Bilder die Raumorientierung verloren. Erst als sich die Perspektive der virtuellen Kamera leicht verschiebt und sie den Adler in Aufsicht in den Blick nimmt, kommt die Umgebung wieder ins Bild. Der Flug führt durch eine Schlucht auf einen Wasserfall zu. Auffällig ist sofort die extreme Tiefeninszenierung der Bilder, die in den vorherigen Abschnitten keine große Rolle gespielt hat. Die Bilder erinnern nun an jene aus dem Cockpit eines Raumschiffs aus Star Wars, in denen außer der durchflogenen Landschaft nur die ›Nase‹ des Fluggerätes zu sehen ist. 5 | An dieser Stelle zitiert die Animation ein filmisches Stilmittel – ein Schwenk in den Himmel wird oft dazu genutzt, um in einer Überblendung einen unsichtbaren Schnitt zu setzen – und variiert diese Inszenierungsstrategie gleichzeitig.

überhaupt nicht klar. Es gibt viele Möglichkeiten. Es entwickelt sich kein Gesamtkonzept. Die Gewalt aber

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Kurz vor dem Wasserfall gewinnt die Kamera gegenüber dem Adler an Höhe und schwenkt gleichzeitig nach unten, so dass sie seinen Kopf nun senkrecht von oben zeigt. Einen Moment schwebt der Adler über den herabfallenden Wassermassen, dann stürzt er sich, dem Wasserstrom folgend, in die Tiefe. Ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, folgt die Kamera dem Adler im freien Fall nach. Ein Blick in eine tiefe, bodenlose Schlucht, deren steile Felswände am Bildrand entlang rasen, öffnet sich. Der Flug der Kamera endet in einer Großaufnahme des Adlers, wie er in einem Nest auf einer Felsennadel landet und seinen Jungen, der mit aufgerissenem Schnabel wartet, mit dem Ticket füttert. Im Anflug der Kamera auf das Nest fällt eine Zweiteilung des Bildes auf, die durch ungewohnte Unschärfebereiche in der Inszenierung hervorgerufen wird: Während Nest, Vögel und die umgebenden Gebirgsformationen klare Konturen aufweisen, verschwindet der Boden der Schlucht in Unschärfe. Nicht von ungefähr – dieser Bereich wird auf diese Weise für eine weitere Neukonfiguration des Raumes ›freigehalten‹, die sofort folgen wird. Nur kurz verharrt die Kamera auf Nest, Adler und seinem Jungen. Dann fährt sie senkrecht an der Felsenspitze hinunter, verliert die Vögel aus dem Blick und schwenkt gleichzeitig nach oben. Ihr Blick ahnt voraus, was passieren wird. Das Ticket wird zusammengeknäult aus dem Nest gespuckt. Die Kamera stürzt rückwärts weiter nach unten, den Blick nach oben in einer Großaufnahme auf die goldene Kugel gerichtet. Dann fängt sie ihren Sturz ab, bleibt kurz in der Schwebe, lässt das Ticket vorbei fallen und folgt seinem Fall schließlich mit einem Schwenk um 180 Grad. Das Bild öffnet sich zu einer Halbtotalen, in der zu sehen ist, wie das Ticket an einem, von oben nicht sichtbaren, Berghang im Schnee aufschlägt und sofort weiterrollt. Um die Fahrkarte herum bildet sich eine Schneekugel, die nun, immer größer werdend, den Abhang entlangrollt. Die Kamera nimmt den Weg der Schneekugel aus einer seitlichen Perspektive ins Bild, bis diese über einen Felsvorsprung hüpft und in der Luft zu Pulverschnee zerfällt. Wiederum wird die Großaufnahme genutzt, um einen neuen Raum zu eröffnen: Anstatt des Wasserfalls und der spitzen Felsformationen zeigt die virtuelle Kamera einen verschneiten, bewaldeten Berghang. Das befreite und wieder völlig aufgefaltete Ticket segelt in der Luft langsam zu Boden. Die Kamera begleitet es in einer senkrechten Fahrt auf seinem Weg nach unten. Der Felsvorsprung entpuppt sich als Einfahrt zu einem Tunnel, aus dem – kaum dass er in den Blick der Kamera gekommen ist – auch schon der Zug entgegengeschossen kommt. Die Kamera folgt dem taumelnden Flug des Tickets unter den Waggons hindurch – bis es schließlich durch

zerbricht jede andere Lösungsmöglichkeit. Die Handlungen verlieren ihren Sinn. Wenn man sagt: Die

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eine offene Tür in das Innere jenes Waggons gezogen wird, in dem die Sequenzeinstellung ihren Ausgangspunkt genommen hat. Anhand der geschilderten Sequenz wird deutlich, wie die ›Raumbehandlung‹ die Fahrten von virtueller und physikalischer Kamera voneinander unterscheidet. Obwohl die virtuelle Kamera in der beschriebenen Sequenzeinstellung den Bildraum in einer Fahrt zu erkunden scheint, gibt es keine Wege, die nachvollzogen werden könnten: Die Bilder der virtuellen Kamera lassen keinen kohärenten räumlichen Zusammenhang entstehen. Eine Logik des Bildraumes ist nicht zu erkennen – obwohl sich diese durch den geschickten Einsatz konventioneller Inszenierungsstrategien in der Wahrnehmung der Zuschauer herstellt. Während klassische Sequenzeinstellungen als Raumerkundungen und Raumchoreographien angelegt sind, in der immer auch Zusammenhänge inszeniert oder aufgedeckt werden, geht es in der Ticket-Ride-Sequenz von The Polar Express damit nicht um Wege oder Raumerfahrungen, sondern um Raumveränderungen, mit denen möglichst spektakuläre Bewegungsbilder erzielt werden können. Nicht der Weg durch den Raum wird choreografiert, geplant und erkundet – vielmehr ist es der Raum selbst, der alteriert und sich anpasst.

Montage ohne Schnitt: Raumkonstruktionen in Panic Room Innerhalb der Geschichte des Animations- und Trickfilmes ist diese Instabilität des Raumes nichts Verwunderliches, sondern sogar eine der grundlegenden Voraussetzungen für 2D-Animationen wie Zeichenoder Legetrick, in denen der zweidimensionale Raum stetig im Hinblick auf eine immobile Kameraposition hin umgruppiert und reorganisiert wird.6 Innerhalb der Geschichte des Realfilmes ist eine solche Raumbe6 | Im Zeichentrickfilm verändert sich grundsätzlich der Bildraum, während die Kamera unbewegt bleibt. Der Tricktisch, auf dem die Animation entsteht, besteht aus einer (beweglichen) Arbeitsplatte, auf die die Animation gelegt wird, einer Beleuchtungseinrichtung und einem Stativ für die festgestellte Kamera, die senkrecht von oben auf die Tischplatte blickt. Sie filmt das gezeichnete Material im Einzelbildmodus, während Figuren und Objekte zwischen den Aufnahmen verschoben und umgruppiert werden. Die Raumsituation in einer Computeranimation lässt sich ähnlich beschreiben. Hier ›zeichnet‹ der Animator mit Hilfe des Computers und ein Softwareprogramm ›legt‹ die perspektivischen Raumzeichnungen in schnellster Geschwindigkeit ›unter‹ die virtuelle ›Trickkamera‹, die selbst unbewegt ist, so dass der Eindruck einer Fahrt durch den Raum entsteht. Tobey Crockett spitzt diesen Vergleich

Kieler Matrosen & alle auf der Welt, die sich auf die Revolution vorbereiten, sind Emissäre der neuen

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handlung hingegen relativ neu. Virtuelle Kamerafahrten, die nahtlos mit jenen einer optischen Kamera verbunden sind, werden erst seit einigen Jahren in kamerabasierten Spielfilmen eingesetzt. Innerhalb dieser Filme werden die animierten Sequenzen dabei oft nicht als das wahrgenommen, was sie sind – nämlich Animationen. Vielmehr werden sie als das gesehen, was sie nicht sind – nämlich Fahrten einer Filmkamera. Diese nahtlose Kombination von animiertem und gefilmtem Material führt zu einer neuen Präsentationsform im Spielfilm, dessen hybride Konstruktion sich in der Rauminszenierung niederschlägt. Anhand einer Sequenz aus Panic Room, die in der Produktionsphase des Films ›The Big Shot‹ getauft wurde, lassen sich einige der Konsequenzen dieser hybriden Konstruktion für die Darstellung von Raum und Zeit zeigen. Es handelt sich um eine fast zweieinhalb-minütige Sequenzeinstellung, in der die Kamera ohne jegliche physikalische Beschränkungen ein vierstöckiges Haus durchfährt, das den Spielort des Films darstellt. Sie verfolgt drei Einbrecher auf ihrer Suche nach einem Zugang zum Haus. Der Blick der Kamera ahnt voraus, kennt keine Beschränkungen und wandert durch Räume und Gegenstände, als hätten diese keine Materialität. Ihre Bewegungen haben eine Präzision und ein Timing, die ihren Blick frei von jeder Personalität werden lassen – ihre Bilder wirken kontrolliert, geplant und haben eine unheimliche Exaktheit, die der gesamten Szenerie etwas Bedrohliches verleiht. Obwohl schnell klar wird, dass die im Folgenden beschriebene Sequenz aus Panic Room nicht (nur) von einer physikalischen Kamera gefilmt worden sein kann, ist es unmöglich zu entscheiden, an welchen Stellen Wechsel zwischen Animation und kamerabasierten Bildern erfolgen. In der Sequenzbeschreibung wird deshalb durchgehend das Wort ›Kamera‹ zur Beschreibung von Perspektivverschiebungen verwendet. zu und kommt zu dem Schluss, dass damit der Raum selbst zur Kamera wird. Sich auf den lateinischen Ursprung des Wortes rückbeziehend, entwickelt er sein Konzept der »camera as camera«, das den Bewegungseindruck computergenerierter Animationen an den Raum bindet und nicht an den Agenten einer wie auch immer vorgestellten virtuellen Kamera, deren Bewegungen den Raum durchmessen und dem Blick freigeben: »[C]omputer graphics technology has enabled a new sense of participatory space, the camera, which can act not only as witness, but also as a scribe and even as an author of new material. The Latin word camera means ›room‹ ›or vault‹, and by extension we can think of it as a kind of ›space‹, a ›black box‹. When I use the phrase ›camera as camera‹, I am saying that the space itself is a camera; thus the space itself is simultaneously producing representations of space and representational space itself.« (Crockett 2006: 2)

Poesie. Wenn man das sagt. Wenn Rosa Luxemburg heute noch leben würde, dann wäre sie mit uns einer

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Das erste Bild der Sequenz zeigt in leichter Aufsicht eine schlafende Frau in ihrem Bett. Die Kamera zieht sich zurück, das Bild öffnet sich zum Schlafzimmer hin. Während dieser Rückwärtsbewegung passiert sie die Schlafzimmertür, quert den Treppenabsatz, fährt zwischen den sehr eng gesetzten Stäben einer Balustrade hindurch und lässt ihren Blick schließlich im Treppenhaus nach unten schwenken. Gleichmäßig schwebt die Kamera auf diese Weise ins Erdgeschoss und sucht sich in flüssiger Bewegung ihren Weg in den Eingangsbereich des Hauses. Zielsicher fährt sie auf eine vergitterte, dreigliedrige Fensterfront zu. Die Scheiben sind von Regentropfen bedeckt. Als die Kamera diese in einer Nahaufnahme und ordentlich kardriert ins Bild gebracht hat, hält sie in ihrer Bewegung inne, als ob sie auf etwas wartete. Und richtig: Ein Auto hält, ein Mann steigt aus, nähert sich, blickt durch das mittlere Fenster und geht weiter in Richtung der Eingangstür. Sofort nimmt auch die Kamera ihre Fahrt wieder auf. Sie folgt dem Mann zur Tür – fast scheint es, als wolle sie ihn einholen. Sie nähert sich der Tür dabei immer mehr an, nimmt Griff und Schloss in Großaufnahme ins Bild und dringt schließlich mit ihrem Blick in den Zylinder ein. Die Kamerafahrt führt den Betrachter ins Innerste des Türschlosses. Im gleichen Moment, als die Kamera das Innerste des Zylinders erreicht hat und der kleine, lichte Fleck des Außenlichts größer zu werden beginnt, wird von außen ein Schlüssel in das Schloss geschoben. Die Kamera ändert sofort ihre Bewegungsrichtung, als ob sie bereits wüsste, dass der Schlüssel nicht passen wird. Sie verlässt das Schlüsselloch wieder und fährt an der Fensterfront vorbei zurück. Gerade als sie das letzte der Fenster ins Bild bringt, drückt sich das wütende Gesicht eines zweiten Mannes an die Scheibe. Wieder hält die Kamera kurz inne. Der Mann sagt etwas, doch der Ton dringt nicht in den Innenraum des Hauses. Als das Gesicht von der Scheibe verschwindet, nimmt auch die Kamera ihre Fahrt wieder auf und schwenkt hinüber zur Küche. Tische, Stühle, Küchenmöbel und eine Anrichte kommen ins Bild. Dazu ein Fahrrad, nicht ausgepackte Kartons, ein Messerblock, eine Kaffemaschine. Die Kamera kümmert sich nicht darum, was ihr im Weg steht. Auch in diesem Moment scheint sie zu wissen, wohin sich die Männer bewegen werden: Zielsicher steuert sie auf eine weitere Fensterfront zu, die an hinteren Ende des Raumes sichtbar wird. Die Kamera beschleunigt. Ihr Weg führt unbeirrt geradeaus. Sie weicht den Gegenständen, die sich in der Küche befinden, nicht aus, sondern rast in einer unmöglichen Fahrt haarscharf an ihnen vorbei: Durch den Griff einer Kaffeemaschine, zwischen Ober- und Unterschränken der Anrichten hindurch, knapp an einer Stuhllehne entlang. Manchmal scheint es, als fahre sie förmlich durch die Gegenstände hindurch.

Meinung. Wenn man das glaubt. Wenn einmal Gewalt hereinbricht, ist nicht absehbar, welche Folgen sie

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Als die Kamera das andere Ende der Küche erreicht, hält sie vor einer Verandatür inne und wartet einen Augenblick. Kurz darauf kommt jener Mann, der schon versucht hat, die Eingangstür aufzuschließen, und rüttelt an den Griffen der verschlossenen Tür. In einer Fahrt entlang der Wand verfolgt die Kamera die Suche des Mannes nach einer Möglichkeit, in das Haus einzudringen. Vor einer weiteren Tür hält sie ein weiteres Mal inne und beobachtet den Mann, wie er beginnt, die Feuerleiter hinaufzulaufen. Als der Mann fast aus dem Bild verschwunden ist, nimmt die Kamera ihre Verfolgung wieder auf. Sie steigt nach oben, nimmt die helle Deckenleuchte kurz in den Blick und taucht dann in die Zimmerdecke ein. Zunächst ist die Struktur der Deckenpaneele im Bild zu sehen, dann erreicht die Kamera den Hohlraum der Holzdecke zwischen den Stockwerken. Das Licht der Lampe schimmert von unten durch die Ritzen, Stromkabel werden sichtbar, Deckenbalken rahmen das Bild. Schließlich taucht die Kamera aus dem Fußboden im ersten Stock auf und hat sofort eine neue Tür im Blick, die mit einer Eisenstange verrammelt ist. Durch ihr Fenster wird der Mann sichtbar, der kurz auch an dieser Tür rüttelt, die Feuerleiter zum nächsten Stockwerk zu sich herunter zieht und weiter klettert. Um ihn nicht zu verlieren, beschleunigt die Kamera und taucht durch die nächste Zimmerdecke hindurch in jenes Stockwerk, in dem ihre Jagd durch das Haus begann. Sie wirft einen kurzen Blick auf die noch immer schlafende Frau, schwenkt dann ins Treppenhaus und setzt ihren Weg nach oben durch die Halle fort. Ihr Blick sucht die Decke, wo ein kuppelartiges Oberlicht einen regnerischen Nachthimmel erahnen lässt. Noch ist kein Mensch zu sehen. Doch als die Kamera näher fährt, taucht auch der Mann wieder auf. Er blickt kurz nach unten und verschwindet dann weiter über das Dach. Die Kamera scheint zu wissen wohin: Schnell schwenkt sie hinüber auf eine angelehnte Tür im Dachgeschoss des Hauses. Sie fährt auf sie zu, durch sie hindurch in eine kleine Kammer und bleibt – eine Dachluke in Nahaufnahme fest im Blick – abwartend stehen. Kurz darauf wird ein Metallstab durch die Ritze zwischen Luke und Rahmen geschoben. Ein kurzes Auf blitzen, Funken – die Luke öffnet sich. Das Gefühl, das beim Betrachten dieser Bilder entsteht, ist ein merkwürdiges: Glauben und Unglauben mischen sich. Die Räume des Hauses werden präsentiert, als handele es sich hier um ein computergeneriertes Modell, in dem jede Perspektive auf das Geschehen erlaubt ist. Der Kamerablick ist ein analytischer, der von jeder Beschränkung der Subjektivität gelöst ist. Da klar ist, dass Fahrten durch Gegenstände und Wände physikalisch undenkbar sind, erstaunt es nicht, dass ein Großteil der Bilder

hat. Wenn man – kurz gesagt – nicht auf dem Weg in den Terrorismus landen will. Die Poesie wiederzu-

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dieser Sequenz nicht einer physikalischen Kamera entspringen. Es sind Animationen, die unter der Verwendung von Referenzfotografien am Computer erzeugt wurden. Der Einsatz von Computeranimation und virtueller Kamera ermöglicht in Panic Room eine Verbindung von zwei gegensätzlichen Strategien der Raumdarstellung im Film – das Prinzip der Montage wird mit dem Prinzip der Sequenzeinstellung verknüpft.7 Unter dem Aspekt der Herstellung betrachtet handelt es im Falle von ›The Big Shot‹ um eine Montagesequenz, in der gefilmtes Material mit einer virtuellen Kamerafahrt verbunden wurde. Da aber gefilmte und animierte Bildebenen nahtlos zu einem neuen virtuellen Handlungsraum kombiniert werden, entsteht der Eindruck, dass es sich um einen kontinuierlichen Bildraum handelt. Bei dieser ›Montage ohne Schnitt‹8 mit Hilfe von Computeranimationen wird disparates Material miteinander verknüpft, ohne dass eine zeitliche oder räumliche Unterbrechung sichtbar wird. Auf der sichtbaren Ebene der Bilder ist nicht festzustellen, wo die Schnittstellen liegen. Es ist unmöglich zu entscheiden, in welchem Moment animiertes und gefilmtes Material aufeinander treffen. Der entstehende virtuelle Handlungsraum wird ununterscheidbar von physikalischer und virtueller Kamera durchmessen: »Regardless of the particular combination of live-action elements and computer-generated elements that make up the composited shot, the camera can pan, zoom, and dolly through it.« (Manovich 2001a, 153)

Wirklichkeitsinszenierungen jenseits des Kamerablicks Die hybriden Bewegungsbilder, die seit einigen Jahren im Kino zu sehen sind, sind ein Amalgam aus Animations- und Spielfilm. Sie sind 7 | Während die Montage den Raum in voneinander unabhängig gefilmten, gegeneinander montierten Bildfolgen zeigt, macht die Sequenzeinstellung den Raum in einer ungeschnittenen Bildfolge erfahrbar. 8 | Das grundlegende Prinzip der Montage ist das Verknüpfen von zwei zu unterschiedlichen Zeitpunkten gefilmten Sequenzen in der Schnittstelle, an der das letzte Bild der einen und das erste Bild der anderen Sequenz aufeinandertreffen. Alle Montageformen haben eines gemeinsam: Sie zeigen eine Unterbrechung des Kontinuums einer Einstellung an. Béla Balázs prägte im Gegensatz dazu den Begriff der »Montage ohne Schnitt« für Bildfolgen »ohne scharfe Abgrenzung«. Neben der Möglichkeit der Blende ist für ihn die »panoramierende Kamera«, also eine sich bewegende Kamera, eine der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten, Bildfolgen ohne scharfe Abgrenzungen zu schaffen (vgl. Balázs 2001a: 54).

erfinden kann dasselbe sein, wie die Revolution aufs Neue zu erfinden. Wenn aber schon die Unterdrück-

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in Bezug auf ihre Wirklichkeitsinszenierung als subversiv zu bewerten: Hybride Bewegungsbilder knüpfen auf der einen Seite an herkömmliche Darstellungsparameter an und verbinden nahtlos Materialien unterschiedlicher Herkunft. Hinter einer oberflächlich konventionellen Bildorganisation verbirgt sich auf der anderen Seite jedoch eine grundlegende Umstrukturierung filmischer oder fotografischer Darstellungsweisen. Das Filmisch-Fotografische wird nicht nachgeahmt, simuliert oder verdoppelt, sondern es werden neue Perspektiven auf Wirklichkeit geschaffen. Diese Verschiebungen lassen sich in The Polar Express und in Panic Room vor allem anhand der Rauminszenierung nachweisen. Die Raumerfahrungen durch die Filmkamera werden durch die unbeschränkten Raumveränderungen des Modells ergänzt. So erweist sich der Eindruck, dass das von der Kamera verfolgte Objekt in The Polar Express eine Strecke zurückzulegen scheint, bei genauerem Betrachten als falsch. Auch wenn der Zuschauerblick die Bilder als die einer den Raum erschließenden Kamera wahrnimmt, wird in dieser Sequenz eindeutig kein zusammenhängender Raum mehr ›erfahren‹. Der Raum ist nicht als fixierte Entität inszeniert, die mit der Kamera erschlossen werden kann. Vielmehr wird er als wechselhaft-instabile Konstellation präsentiert, die an den Rändern und außerhalb des Blickfeldes immer wieder unmerklich alteriert. Die Aktivität liegt hier nicht mehr auf Seiten einer Kamera, die sich in einen Raum hineinbewegt: Es ist der Raum selbst, der sich verändert und in Bezug auf die stillgestellte Zuschauerposition vor der Projektion immer wieder neu konfiguriert wird. Auch in Panic Room ist es der alterierende Raum, der den Blick der Kamera von allen Begrenzungen befreit. Durch den nahtlosen Übergang von Animation und Live Action werden in der beschriebenen Sequenz im Sinne des menschlichen Blicks und der optischen Kamera unmögliche Bilder ›realisiert‹. In der doppelten Unmöglichkeit – der Unmöglichkeit, die Nahstellen zu erkennen, und der Unmöglichkeit, dass es sich hier um einen klassischen Kamerablick handelt – enthüllt sich das Prinzip, dass diesen Bildern zu Grunde liegt: Sie knüpfen an das Realitätsversprechen der kontinuierlichen Sequenzeinstellung an und verbinden es mit dem Blick der virtuellen Kamera, die das Geschehen immer als Modell visualisiert, dass beliebig veränderbar ist. Beide Filme wenden Darstellungskonventionen kamerabasierter Bilder an, um ihren computerbasierten Visualisierungen einen Realitätseffekt zu verleihen. Indem sie ihn auf diese Weise gleichzeitig imitieren und brechen, unterwandern sie einen zur Norm geronnenen filmischen Blick. Die Fahrten wirken auf der einen Seite so, als seien sie von einer sich durch den Raum bewegenden Kamera aufgenommen

ten nichts zustandebringen. Jede Revolution entstand durch Poesie, wurde zunächst mit der Kraft der

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

– der Look der Bilder und die Bewegtheit des Bildausschnittes deuten darauf hin. Auf der anderen Seite präsentieren sie den Bildraum nach Inszenierungsparametern, die der Kameraaufnahme bislang nicht möglich waren und in vielen Fällen deren medientechnischer Logik vollkommen widersprechen. Die von Black beschriebene Dominanz des Kamerablicks wird auf diese Weise unmerklich abgelöst von Bildwelten, die die Ästhetik von Live Action-Aufnahmen mit jener computergestützter Animationen verbinden. Dies ist insofern relevant, als dass diese subversive Umstrukturierung mittelbare Folgen für die Vorstellungen von Wirklichkeit mit sich bringt: Längst ist es nicht mehr der Kamerablick, sondern sind es hybride Visualisierungen, die unsere Sicht auf die Welt prägen. Welche genauen Auswirkungen diese Perspektivverschiebung in der Inszenierung hybrider Bewegungsbilder auf die Vorstellung von Wirklichkeit haben wird, ist aus heutiger Perspektive dabei noch nicht abzusehen.

Literatur Balázs, Bela (2001): Der Geist des Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Black, Joel (2002): The Reality Effect. Film Culture and the Graphic Imperative, London u.a.: Routledge. Crockett, Tobey (2006.): The ›Camera‹ As Camera: New Subjectivities in 3D Virtual Worlds. Dissertation (PhD Thesis), University of California (Irvine). Unter: http://worlds2.tcsn.net/tcwf/text/thesis.html (letzter Zugriff am 20.02.2007). Deeken, Annette (2006): »Travelling – mehr als eine Kameratechnik«. In: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: Text + Kritik, S. 297–315. Giesen, Rolf (2000): »Künstliche Welten im Film«. In: Rolf Giesen/Claudia Meglin (Hg.), Künstliche Welten. Tricks, Special Effects und Computeranimation im Film von den Anfängen bis heute, Hamburg/Wien: Europa, S. 7–9. Hoberg, Almuth (1999): Film und Computer. Wie digitale Bilder den Spielfilm verändern, Frankfurt a.M./New York: Campus. Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Manovich, Lev (2001): The Language of New Media. Cambrigde/London: MIT Press. Pieper, Matthias (1994): Computer-Animation. Inhalt, Ästhetik und Potential einer neuen Abbildungs-Technik, Regensburg: Roderer. Prümm, Karl (2004): »Das schwebende Auge. Zur Genese der bewegten

Poesie gemacht. Wenn man das glaubt. Hier wie anderswo geht es darum, das Maß zu überschreiten. Die

Sebastian Richter Alterierende Räume, unmögliche Perspektiven

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Kamera«. In: Harro Segeberg (Hg.), Die Medien und ihre Technik. Theorien – Modelle – Geschichte, Marburg: Schüren, S. 235–256. Schernickau, Mirko (2006): »In Bewegung – der schwebende Blick der Steadicam«. In: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: Text und Kritik, S. 316–334. Virilio, Paul (1986): Krieg und Kino, Logistik der Wahrnehmung. München/ Wien: Hanser. Winkler, Hartmut (1992): Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ – Semantik – ›Ideologie‹, Heidelberg: Winter.

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Konventionen & Regeln zu überschreiten. In der Sprache ist das ja durchaus zu schaffen. In einer befrei-

ten Sprache, die ihren Reichtum wiedererlangt & mit dem Zerbrechen ihrer eigenen Zeichen zugleich die

Drag in Space. Strategien der Geschlechtersubversion in populären Filmen und Fernsehserien Nadja Sennewald

»Leute glauben, was sie sehen«, meint Toddie, nachdem er die erfolglose Opernsängerin Victoria in den schwulen Travestiestar Victor verwandelt hat und diese ihre Glaubwürdigkeit als Mann anzweifelt (Victor/Victoria. USA 1982). Toddies Bemerkung illustriert in knapper Form den Prozess der Geschlechtszuschreibung, wie er vom Soziologen Stefan Hirschauer beschrieben wird: »Ein ›Mann‹ ist ein legitimer Darsteller von Männer-Bildern, genauer: ein durch eine kompetente Darstellung (in den Augen eines Betrachters) legitimierter und zur Kontinuierung verpflichteter Darsteller eines Männer-Bildes.« (Hirschauer 1993: 52) An dieser Stelle sollen die Dekonstruktion und Rekonstruktion von bestimmten Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern durch Maskerade untersucht werden, um zu klären, ob und inwiefern dem Thema der Geschlechtermaskerade in der populären Kultur subversives Potenzial zugesprochen werden kann. Als Beispiele dienen zwei Episoden der populären Fernsehserie Star Trek – Deep Space Nine, die einer vergleichenden Betrachtung mit Hollywood-Travestiefilmen unterzogen werden, namentlich Königin Christine (USA 1933), Manche mögen’s heiß (USA 1959), Tootsie (USA 1982), Victor/Victoria (USA 1982), Yentl (USA 1983) und Mrs. Doubtfire (USA 1993).1 Dabei interessiert 1 | Ich betrachte dabei explizit Travestie-Filme und im Gegensatz dazu keine Narrationen, in denen die Einzelschicksale transsexueller Charaktere

Worte, die Musik, die Schreie, die Gesten, die Malerei, die Mathematik & die Tatsachen wiederentdeckt.

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vor allem die Wiederholung von bestimmten narrativen Strukturen und ästhetischen Motiven, die als Marker für ›Femininität‹ bzw. ›Maskulinität‹ dienen. 2

Subversion und Feminismus Als Strategie, die Konstruiertheit von Geschlecht kenntlich zu machen, wird im Diskurs der Feministischen Theorie für eine Politik der Parodie oder der Subversion eingetreten: »Wenn einerseits jede politische Position selbst ein Produkt des androzentristischen Diskurses3 darstellt, andererseits aber gerade dieser Herrschaftsdiskurs überwunden werden soll, dann müssen die Kategorien dieses Diskurses zwar benutzt, aber subversiv unterminiert werden.« (Frey/Dingler 2002: 19) Die so genannte ›Dritte Welle‹ der Feministischen Theorie 4 versucht, postmoderne Theorieansätze und politische Strategien miteinander zu verknüpfen. Durch die Dekonstruktion der Vorstellungen über oder Darstellungen von Geschlecht soll dessen sozial konstruierter Charakter offen gelegt werden. Dabei soll nicht, wie es oft missverstanden wird, die Existenz der Kategorie ›Geschlecht‹ verleugnet werden, sondern deutlich gemacht werden, dass und inwiefern diese immer im Kontext des Politischen konstituiert ist (vgl. Frey/Dingler 2002: 13). Subversion wird hierbei als ›Unterwanderung‹ begriffen, die langsam den hegemonialen Diskurs über Geschlecht zu infiltrieren und dramatisch umgesetzt werden, d.h., Filme wie Boys don’t Cry (USA 1999) werden nicht mit einbezogen. 2 | Für die Identifizierung dieser Motive eignen sich Fernsehserien in besonderem Maße, da hier in der Regel Varianten des an anderer Stelle (in Filmen) bereits Erfolgreichen wiederholt werden. 3 | Androzentrismus ist die hegemoniale Perspektive, das (weiße) männliche Subjekt als Norm zu setzen und alles andere (Nicht-Männer, Nicht-Weiße) als von der Norm abweichend zu verstehen. 4 | Als die ›erste Welle‹ des Feminismus können liberalfeministische Strömungen bezeichnet werden, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem gleiche Rechte und Chancen für Frauen forderten. Die ›zweite Welle‹ (auch: ›zweite Frauenbewegung‹), die ab den 1970er Jahren im Westen einsetzte, wurde bestimmt vom Differenzparadigma, das nach wie vor von unveränderlich zwei Geschlechtern ausging; ›weibliche‹ Eigenschaften und Fähigkeiten sollten hier aufgewertet und umdefiniert werden. Die Theorien differierten jedoch stark darin, ob die Geschlechterbinarität biologistisch (z.B. im Ökofeminismus) oder als kulturell und sozial geprägt verstanden wurde.

Wahrnehmung der Wirklichkeit. Welcher. Denn unter der Kontrolle der Macht bezeichnet die Sprache

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damit zu verändern vermag. Seit Judith Butlers Grundlagen-Werk ›Das Unbehagen der Geschlechter‹ (1991) hält sich die These, Drag und andere Formen der Geschlechtermaskerade seien an für sich subversiv, da sie die binäre Matrix in Frage stellen, unterwandern und den Blick öffnen für andere Konzepte der Geschlechtlichkeit. Die Auflösung der binär organisierten Identitäten durch Geschlechter-Parodie und Travestie sei, so interpretiert beispielsweise Roedig Butlers Vorschläge, »politisch subversiv und entspräche einem radikaldemokratischen Ideal. Mit Parodie, Travestie und queer-Praktiken5 will Butler den feministischen Kampf beerben.« (Roedig 1997: 51, Herv. i. Org.) 6

Subversion, Drag und Medien Ob eine zwangsläufige Verbindung zwischen Drag und Subversion besteht, d.h., ob durch die mit transvestitischen Techniken hergestellten Uneindeutigkeiten die dichotomen Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung (Mann/Frau, Kultur/Natur, Geist/Körper, Gut/Böse) benannt, in Frage gestellt und letztendlich verändert werden können, wird im Folgenden anhand der medialen Darstellung des Themas untersucht. Mit ›Drag‹ und ›Travestie‹ werden eine umfassende Aufmachung durch Kleidung, Körpersprache und Verhalten gefasst, die sich auf ein anderes als das Alltagsgeschlecht der betreffenden Person bezieht.7 Eine Veränderung der Geschlechtszuweisung von außen erfolgt demnach durch eine veränderte Gewichtung bestimmter geschlechtlich codierter Attribute. Entscheidend ist dabei, dass nicht nur Personen, sondern auch Objekten eine Geschlechtsbedeutung zugeschrieben wird. Diese Sexuierung gilt zum Beispiel für Kleidungsstücke, Frisuren, Gesten, Körperhaltungen, Tätigkeiten, Örtlichkeiten, Namen, Pronomen etc. (vgl. Hirschauer 1993: 27). Hirschauer weist darauf hin, dass im Prin5 | ›Queer‹ wurde im Englischen ursprünglich abwertend für Homosexuelle verwendet. Im Zuge der Schwulen- und Lesbenbewegung erfuhr der Begriff eine positive Aneignung durch die Bewegung. Heute ist ›queer‹ ein Sammelbegriff für ›schwul, lesbisch, bisexuell, transsexuell‹, wobei auch sexuelle Identitäten oder Lebensentwürfe mit einbezogen werden können, die in keine der genannten Kategorien fallen. 6 | Zu einer sehr differenzierten Bezugnahme auf Butlers SubversionsBegriff siehe den Aufsatz von Karen Wagels in diesem Band. 7 | Die Betonung liegt hier auf dem ›Alltagsgeschlecht‹. Transsexualität, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität nicht übereinstimmen, ist hier explizit nicht mitgemeint.

immer etwas anderes als das authentisch Erlebte. Wir schlagen die wirkliche Befreiung der Sprache vor.

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zip ›alles‹ für eine Geschlechtsattribution sexuiert werden könne, da es letztlich die Betrachter/-innen sind, die sich Geschlechtsmerkmale aussuchen, um Zuschreibungen vorzunehmen. Es bleibt anzumerken, dass ein erheblicher Unterschied zwischen dem transvestitischen Akt im ›Real Life‹ und in dessen medialer Repräsentation besteht. Trotzdem ist eine Untersuchung der Geschlechterbilder in den Medien höchst aufschlussreich, da es sich bei Medienprodukten um kulturelle Manifestationen handelt, in denen Ideologien aufzufinden sind, die Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsens sind. Die hegemonialen Vorstellungen von Geschlecht lassen sich daher im massenmedialen Diskurs sehr verdichtet auffinden.

Alien Gender: Die Ferengi Die Protagonist/-innen der beiden ausgewählten Star Trek – Deep Space Nine-Episoden sind Ferengi, welche zum Stammpersonal der Serie gehören. Die Ferengi sind intrigante, verschlagene Figuren, die besessen von materiellen Dingen sind. Die Gestaltung ihres Aussehens kennzeichnet sie sowohl als ›komische‹ Figuren als auch als Aliens, die ›weniger‹ humanoid sind als z.B. Menschen. Der Kopf ist überdimensional groß und wirkt deformiert, die Ohren sind riesig und die Zähne spitz wie bei einem kleinen Raubtier. Ihr Körper ist zwergenhaft. Sie sind animalisiert und damit ethnisch markiert, wirken dabei aber nicht bedrohlich, sondern hässlich und lächerlich. Sowohl durch ihr Aussehen als auch durch ihr Benehmen werden sie zu Karikaturen der ›gierigen Kapitalisten‹.8 Die Ferengi-Allianz dient oft als Kontrastfolie zur menschlich dominierten Sternenflotte, welche stets als moralisch und gesellschaftlich überlegen dargestellt wird. In der Ferengi-Gesellschaft ist innerhalb des Star-Trek-Universums die Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen am stärksten vollzogen und die Rechte der Frauen sind am stärksten 8 | Es gibt rege Diskussionen darüber, ob das Aussehen und Verhalten der Ferengi antisemitische Stereotype bedienen. Der Soziologe Wilson benennt antisemitische Sterotype wie folgt: »overtly malevolent and clearly anti-Semitic [stereotypes portray] Jews as pushy, covetous, clannish, ill-man-nered [sic!], ruthless, dishonest, mercenary, grasping, overbearing, sloppy, loud, moneyloving, and uncouth.« (Wilson 1996: 465) Winn zieht anhand dieser Auflistung Parallelen zwischen antisemitischen Stereotypen und der Darstellung der Ferengi. (Winn 2003: www.kinema.uwaterloo.ca/winn031.htm [letzter Zugriff am 22.04.2007]; vgl. auch Bernardi 1998: 171ff.)

Wurde die Kritik der alten Welt in der Sprache dieser Welt vorgenommen (der Sprache, die in Verruf ge-

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eingeschränkt. Ferengi-Frauen (genannt ›Weibliche‹) sind strengen Regeln und Verboten unterworfen und leben quasi in Gefangenschaft. Sie dürfen das Haus nicht verlassen und keine Kleidung tragen. Die genannten Faktoren machen Ferengi zu den idealen Protagonisten von Geschlechtertausch-Folgen, denn die ›Gegensätze‹ zwischen den Geschlechtern können hier extremer inszeniert werden als mit einer Spezies, bei der gesellschaftliche Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern praktiziert wird.

Mann-zu-Frau-Travestie Die Episode Die Beraterin (1998) ist ein Filmzitat der bekannten Travestiekomödie Manche mögen’s heiß von 1959. Quark (Armin Shimerman), ein Ferengi-Mann, wird zu einer Frau ›gemacht‹. Er soll als Frau beweisen, dass Frauen fähig sind, profitorientiert zu denken und zu handeln, und ihnen daher die gleichen Rechte in der Ferengi-Verfassung zugestanden werden sollten. In der besprochenen Folge wird interessanterweise von vorneherein davon ausgegangen, dass es möglich ist, eine Frau zu ›machen‹, so der Ausdruck der Protagonisten, als sie feststellen, dass so schnell keine ›echte‹, d.h. biologisch legitimierte, Ferengi-Frau herbeizuschaffen ist. Worin dieses ›eine Weibliche machen‹, also die bewusste Konstruktion von Weiblichkeit, besteht und wie sie funktioniert, gilt es zu untersuchen. Bereits in der ersten In-Szene-Setzung des männlichen Ferengis Quark als sein weibliches Alter Ego Lumba werden einige Konstruktions-Elemente mit der Kamera aufgezählt. In einer langsamen Bewegung fährt die Kamera den ganzen Körper von oben nach unten ab, ohne jemals das Gesicht zu zeigen und verharrt an einzelnen Stellen. Zunächst werden Ohrringe angebracht, es findet der (›weiblich‹ konnotierte) Prozess des Schmückens statt. Die Kamera fährt weiter nach unten und verharrt auf Höhe der Brüste. Unter den Brüsten befindet sich an der Kleidung ein Perlengehänge, was die Kurvatur der Brüste betont – zusätzlich kratzen Hände an der Brust und die Perlen klacken deutlich hörbar gegeneinander. Die Brüste werden nicht nur gezeigt, sondern durch das Kratzen, die Kleidung und das Geräusch der Perlen auf unterschiedliche Art und Weise hervorgehoben. Perlen und Glitter befinden sich außerdem an typischen Schmuck tragenden Körperstellen wie den Ohren, dem Hals und den Handgelenken. Lumba trägt einen floralen, eng anliegenden Hosenanzug, der die Figur betont. Die Kamera fährt weiter nach unten und pausiert bei den im Schoß überkreuzten Händen. Während die eine Hand auf den Schoß klopft, ist gleichzeitig ein Kommentar aus dem Off zu hören: »Dr. Bashir hat

kommen ist) & dennoch gegen sie, d.h.: tatsächlich in einer anderen Sprache. Dialektik also. Die geschei-

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ganze Arbeit geleistet. Ich würde die Operation einen vollen Erfolg nennen.« Durch die Gleichzeitigkeit des Bildes (Hände im Schoß) und des Gesprochenen wird angedeutet, dass im Bereich der Geschlechtsorgane evtl. auch operiert wurde, d.h., entweder eine Kastration oder ein Austausch der Geschlechtsorgane stattfand. Die Kamera fährt an den Beinen entlang bis zu den Füßen. Diese, zunächst parallel, werden überkreuz gestellt, was den Körper in eine instabile, weiblich codierte Haltung bringt. An den Füßen befinden sich weitere Weiblichkeitsaccessoires: Stöckelschuhe. Begleitet wird die Kamerafahrt von leichter, perlender Musik. Quark wird zu Lumba

Deep Space Nine 623: Die Beraterin. USA 1998

›Die Frau‹ wird hier durch die Kamera, die die Weiblichkeitsattribute auf visueller Ebene aufzählt, dargestellt als ein – wie Garber es nennt – »aus einer Sammlung Einzelteile zusammengesetztes Artefakt« (Garber 1993: 74). Die hergestellte Frau Lumba kann gelesen werden als ein Artefakt aus Schmuck und ›weiblicher‹ Kleidung, wobei auch körperliche ›Accessoires‹ wie operativ hinzugefügte Brüste und eingenommene weibliche Hormone hinzukommen. Durch die Überbetonung der ›Femininität‹ von Lumbas/Quarks Ausstattung verweisen die genannten Accessoires von Anfang an auf eine ›Künstlichkeit‹ der neu erworbenen Weiblichkeit. Die Umwandlung von Quark zu Lumba durch die Addition von Femininitäts-Attributen weist markante Bildnachbarschaften zu anderen Mann-zu-Frau-Travestiefilmen auf. Sowohl in Tootsie als auch in Mrs. Doubtfire werden während des Prozesses der Verkleidung Abschnitte des Körpers in Großaufnahme gezeigt, während sie bearbeitet werden, um maskulin codierte Attribute zu entfernen und feminin codierte Attribute hinzuzufügen.9 So wird in Tootsie das Rasieren der Beine gezeigt, 9 | Zur Konstruktion von Geschlecht mittels Additions- und Subtraktionsverfahren siehe auch den Aufsatz von Patricia Gozalbez Cantó in diesem Band.

terte Dialektik läßt vermuten, daß es eine wahre Dialektik gibt. Wenn man das glaubt. Daß sich die Worte

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das Zupfen der Augenbrauen, das Biegen der Wimpern mit der Zange, das Lackieren der Nägel und das Frisieren der Perücke. Hier fällt auf, dass nicht die ›Femininität‹ an sich, sondern die Werkzeuge, mit denen ein bestimmtes Aussehen, das als feminin gilt, erzeugt wird, in Szene gesetzt werden. Michael Dorsey alias Dorothy Michaels (Dustin Hoffman) bedient sich hierbei sogar medialer Vorbilder: Aus Zeitschriften ausgeschnittene Fotos idealschöner Frauen, die bestimmte Körper- und Gesichtspartien fragmentiert darstellen, hängen als Vorlage an seinem Garderobenspiegel. Offen gelegt wird hier sowohl die Hergestelltheit idealer Femininität als auch die Zeitaufwändigkeit dieses ritualisierten Herstellungsprozesses. Die Attribute, die als Marker für ideale weibliche Schönheit gelten, werden dabei nicht als ›natürlich‹, sondern als ›gemacht‹ gekennzeichnet: Haarlose Beine, wohl geschwungene Augenbrauen, lange, gebogene Wimpern etc. Mrs. Doubtfire alias Daniel Hillard (Robin Williams) wird sogar noch aufwändiger kreiert. Der Bruder der Hauptfigur – ein schwuler Maskenbildner – und dessen Freund probieren an Daniel zunächst verschiedene Weiblichkeitsmodelle aus: Einen Vamp mit CleopatraFrisur, eine jüdische Granny, eine Diva, die an Barbara Streisand erinnert, und schließlich Mrs. Doubtfire, die solide und warmherzige Gouvernante. Die ersten drei Modelle wirken grotesk, denn unter ihnen steckt ganz offensichtlich ein verkleideter Mann – ein Transvestit. Diese offensichtlich transvestitischen Varianten von Femininität werden durch die Homosexualität des Maskenbildners und seinen stereotypen ›schwul‹-affektierten Habitus in einen homosexuellen Kontext gesetzt. Erst ein Ganzkörperanzug mit Speckrollen und Brüsten, eine LatexGesichtsprothese, eine Perücke und falsche Zähne machen Daniel zur glaubwürdigen Mrs. Doubtfire. Hinzu kommen durch Nahaufnahmen ebenfalls fragmentiert aneinander gereihte Attribute wie blickdichte Strumpf hose, orthopädische Schuhe, Strickjacke, Brosche, Handtasche und eine Brille.10 Den heterosexuellen Familienvater in eine so explizit ent-sexualisierte (alte) Frau zu verwandeln, ist eine narrative Notwendigkeit, denn Mrs. Doubtfire darf sich als Hollywood-Familienkomödie keine Ambivalenzen leisten, die die Figur als homoerotisch lesbar machen könnten. Daniels – heterosexuelle – männliche Identität wird im Gegenteil affirmiert, da es augenscheinlich so schwierig ist, aus ihm eine glaubhafte Frau zu machen. 10 | Doane geht auf die Bedeutungsüberfrachtung von Brillen auf den Nasen von Filmheldinnen ein. Brillen stehen ein für: »verdrängte Sexualität […], für Wissen, für Sicht und Sichtbarkeit, Intellektualität, und Unattraktivität« (Doane 1994: 79).

nicht unterwerfen lassen. Wenn man es versteht, sich die Waffen des Feindes anzueignen & gegen ihn

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In allen untersuchten Mann-zu-Frau-Travestiefilmen wird der Verkleidungsprozess als Collage aus Elementen inszeniert, die als Marker für Femininität stehen, was verdeutlicht: »Femininity is always drag, no matter who paints on the nail polish and mascara.« (Solomon 1993: 145, Herv. i. Org.) Die Inszenierung dieses hyperfemininen Idealbildes durch Fragmentierung und Montage greift dabei auf die filmische Konvention zurück, den weiblichen Körper und seine Attribute durch den Blick der Kamera zu fetischisieren.11

Wie eine Frau fühlen Nicht nur Quarks/Lumbas Körper, auch die sozialen Interaktionsweisen sind nach der Operation verändert. So ist ihm/ihr das Aussehen auf einmal wichtig, Fakten und Zahlen sind ihm/ihr zu schwer, um sie sich zu merken, er/sie kichert, wenn er/sie von Männern angesprochen wird und leidet generell unter Stimmungs- und Gefühlsschwankungen. Das veränderte Verhalten wird innerhalb der Narration mit ›den Hormonen‹ begründet. Implizit wird behauptet, das als ›weiblich‹ gelesene Verhalten stünde in einem direkten Zusammenhang mit ›weiblichen‹ Hormonen, d.h. der als unveränderlich behaupteten biologischen ›Natur‹ der Frau. Die angebliche hormonelle Determiniertheit der ›Frau‹ entspringt dem medizinischen Diskurs Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts. Hier entstand die Diagnose, dass die »Menstruation […] einer der stärksten Gründe für nervöse Übererregung bei Frauen ist.« (Laqueur 1992: 247; vgl. auch Honegger 1991: 141). Die Diagnose, so Laqueur, leitete sich aus einer Gleichsetzung der tierischen Brunstzeit und der menschlichen Menstruation ab, was dazu diente, die Frau als vom Mann biologisch radikal unterschiedliches Wesen zu konstruieren und die unterschiedliche soziale Stellung von Mann und Frau damit zu begründen: »So ließ sich die Gleichsetzung von Menstruation und Brünstigkeit zur Basis für eine Argumentation gegen die Teilhabe von Frauen an solchen öffentlichen Aktivitäten machen, die beständige und tagtägliche Aufmerksamkeit erforderten.« (Laqueur 1992: 245) Auch wenn Quarks Verhalten eine typisch transvestitische Karikatur von 11 | Der Regisseur der DS9-Episode, Alexander Siddig, inszenierte die Körperlichkeit Lumbas/Quarks bewusst so wie die Marilyn Monroes: »My favourite scene was the Marilyn Monroe (from ›Some Like It Hot‹) – which started off at Quark’s feet – with a slow pan to show the breasts, and then up to the earrings.« (Cailan 2002) Siddig schildert die Kamerafahrt in umgekehrter Reihenfolge als tatsächlich gezeigt.

zu kehren. Es kommt daher wesentlich darauf an, daß wir unsere eigene Sprache erfinden. (Man weiß

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Femininität darstellt, wird sein Verhalten durch die Behauptung, es läge an den hinzugefügten Hormonen, biologisch begründet und damit ›typisch weibliches Verhalten‹ an sich naturalisiert. Damit wird implizit die Annahme der Ferengi-Gesellschaft, ›Weibliche‹ würden sich nicht für das öffentliche, d.h. das Geschäftsleben, eignen, unterfüttert.

Wie eine Frau laufen Nach Operation und Verkleidung gilt es für Quark noch einige Defizite zu beheben. ›Weibliche‹ Intonation und Stimmlage und bestimmte Bewegungsabläufe wie Gehen und Sitzen müssen erst eingeübt werden. Quarks Bemühungen, ›weiblich‹ zu laufen, werden durch Stolpern und Umknicken lächerlich gemacht und kontrastiert mit den Bewegungen einer anderen Figur, die einem traditionellen, femininen Weiblichkeitsbild entspricht. Die Thematisierung des ›weiblichen‹ Ganges findet sich bereits in der stilbildenden Komödie Manche mögen’s heiß. So werden in der ersten Einstellung, in der Joe (Tony Curtis) und Jerry (Jack Lemmon) zu Josephine und Daphne geworden sind, zunächst ihre Beine von hinten gezeigt – in Stöckelschuhen und Seidenstrumpfhosen. Etwas wackelig trippeln sie mit kleinen, kurzen Schritten am Bahnhof entlang. Beide schwingen beim Gehen ihre Schultern nach vorne, die Schritte scheinen außerdem mehr in die Höhe als in die Weite zu führen. Kontrastierend wird der Auftritt von Sugar (Marilyn Monroe) dagegen gesetzt, die mit betontem Hüftschwung an Daphne und Josephine vorbei gleitet. Und so stellt auch Daphne/Jerry fest: »Wie die sich bewegt! Wie ein Pudding! Wie eine Götterspeise auf Beinen. Als ob die irgendetwas eingebaut haben, irgendeinen Apparat. Na, das sind ganz anders konstruierte Lebewesen.« ›Falsche‹ und ›echte‹ Weiblichkeit werden hier am Beispiel des Gangs nebeneinander gesetzt. Die unterschiedliche Körpersprache von Männern und Frauen wird hier nicht als kulturelles und soziales Produkt verstanden, sondern auf den Körperbau (die ›andere Konstruktion‹) zurückgeführt, womit die Geschlechterbinarität naturalisiert und ihre Differenz betont und bestätigt wird. Die Thematisierung des weiblichen Ganges und die Unmöglichkeit für biologische Männer, diesen zu bewerkstelligen, findet sich in allen untersuchten Mann-zu-FrauKomödien: Tootsie wird immer wieder umknickend gezeigt, und Mrs. Doubtfire bekommt Rückenschmerzen von den Damenschuhen. Beide bewegen sich genau wie Daphne und Josephine mit kleinen, kurzen Schritten, herausgestreckter Brust und schwingenden Schultern.

nicht so recht, was der Zweck ist. Wahrscheinlich hat es auch gar keinen Sinn.) Damit hat sich die Macht

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Frau-zu-Mann-Travestie Anders als bei Mann-zu-Frau-Narrationen wird im umgekehrten Fall die Verkleidung als Mittel zum sozialen Aufstieg verwendet. Die Frau, die sich als Mann verkleidet, verfolgt laut Lehnert »in der Regel bestimmte Absichten, die zu erreichen ihr in Frauenkleidern, also als Frau, kaum möglich wäre.« (Lehnert 1994: 41) Garber nennt dies die »Geschichte vom Vorankommen« (Garber 1993: 103). So verkleidet sich Yentl (Barbra Streisand) als Mann um zu studieren, Victoria (Julie Andrews) verkleidet sich als Mann, um eine Showstar-Karriere zu machen und sogar Königin Christine (Greta Garbo), die keinen sozialen Aufstieg anstrebt, denn sie ist ja schon Königin, verkleidet sich als Mann, um den Zwängen ihrer Stellung zu entkommen. Pel (Helene Udy), eine Ferengi-Frau, verkleidet sich in der DS9-Episode Profit oder Partner! (1993) als Mann, um sich überhaupt in der Öffentlichkeit bewegen und Profit machen zu können, denn Ferengi-Frauen haben keine Rechte, sind ans Haus gebunden und dürfen keine Kleidung tragen.

Einblenden Äußerlich wirkt Pel wie ein typischer Ferengi-Mann. Er ist zwar ein wenig kleiner als die anderen Ferengi und seine Stimme ist heller als die von anderen männlichen Ferengi, aber geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen. Er tritt bereits in der ersten Szene auf und fällt weder durch sein Verhalten noch optisch aus der Gruppe Karten spielender Ferengi-Männer heraus. Dieses Einblenden in die Gruppe wird durch seine Kleidung noch verstärkt, deren Schnitt, Stoffe und Farben sich auch in der Kleidung der anderen anwesenden Ferengi wieder finden. Genau das Gleiche findet sich in dem Hollywoodfilm Yentl, die allein dadurch, dass sie als typischer Student gekleidet ist, die Brüste abgebunden hat und kurze Haare trägt, nie für eine Frau gehalten wird. Das Einblenden, die Unauffälligkeit ist ein entscheidendes Element für das ›Passing‹ (das Gelten) als Mann: »Nicht die Verkleidung als solche garantiert also den Erfolg, sondern die betonte Unauffälligkeit des Verhaltens und das Verschwinden in der Menge – eine sozusagen zweite Ebene der Verkleidung, die notwendig zur ersten hinzukommen muß, weniger, um als Mann zu gelten, sondern um als Nicht-Mann nicht erkannt zu werden.« (Lehnert 1994: 144)

der Dialektik endgültig aufgelöst. Wir leben in der Sprache wie in verbrauchter Luft. Daß das, was sprach-

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Pel (links) unter männlichen Ferengis

Deep Space Nine 207: Profit oder Partner! USA 1993.

Zeichen für Männlichkeit Die Erkennungsmerkmale oder Zeichen, die Pel zum Mann (in der Geschlechterlogik der Ferengi) machen sind einerseits hinzugefügte ›männliche‹ Zeichen und andererseits subtrahierte ›weibliche‹ Zeichen. Männliche Erkennungsmerkmale, die in Pels Fall hinzugefügt werden, sind: Seine Kleidung (und zwar Kleidung überhaupt!), seine Ohren, seine ›männliche‹ Körpersprache, sein profitorientiertes Verhalten und seine Anwesenheit auf DS9. Subtrahiert sind erst mal nur seine/ihre Brüste. Die Ohren sind das einzige körperliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den Ferengi-Geschlechtern, auf das wiederholt Bezug genommen wird. Aufgrund ihrer kleineren Ohren wird Frauen die zentrale Fähigkeit Profit zu machen, abgesprochen. Eine kulturelle Fähigkeit (Geschäftstüchtigkeit) wird hier an ein biologisches Merkmal (die Ohrgröße) geknüpft, um Geschlecht zu naturalisieren. Große Ohren stehen nicht nur für ›Männlichkeit‹ schlechthin, sondern an die Ohren ist auch die männliche Ferengi-Sexualität geknüpft, was ihre Bedeutung erotisch auflädt. Die Ohren der Ferengi sind phallisch codiert, kleine Ohren und damit Frauen werden als defizitär begriffen. Pels Körpersprache zeichnet sich insgesamt durch Unauffälligkeit und Zurückhaltung aus. Nach Solomon trägt diese Untertreibung der Körpersprache zur Darstellung von Männlichkeit bei: »If in part that’s because of the characters’ class status, it’s also another indication that

lich konstruiert worden ist, nunmehr zu einem dauerhaften körperlichen Voranschreiten im Streben nach

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masculinity need not be – often must not be – exaggerated to be performed. While the actors worked on sitting with their knees apart and broadening their gestures, in emotional terms, performing maleness means reducing facial expressiveness, reining in exuberance, holding back – the opposite of what drag queens do.« (Solomon 1993: 148) Die auch bei Pel vorhandene Zurückhaltung der Körpersprache wird nur durch einzelne raumnehmende Gesten gebrochen. So schafft sich Pel zum Beispiel entschieden mit dem Ellenbogen Platz, um einen Konkurrenten aus dem Bild zu drängen und sichert sich damit nicht nur innerhalb der Narration seinen Machtanspruch, sondern auch visuell: Er/sie verbleibt zentral im Bild, der Konkurrent ist ›draußen‹.

Bettgeschichten Ein typisches Element in Travestie-Narrationen ist das Bett, das geteilt werden muss, weil kein Platz mehr in der Herberge ist. Sowohl die Situation der scheinbar gleichgeschlechtlichen Partner im Bett als dem symbolischen Ort des Begehrens als auch das ›Erwischtwerden‹ sind typisch für Travestie-Komödien. Laut Garber »handelt es sich bei den meisten Bett-›Entdeckungen‹ um ein Paar von zwei ähnlich gekleideten Figuren von vermeintlich gleichem Geschlecht, welchen die Notwendigkeiten des Plots – irgendeine Spielart von ›kein Platz in der Herberge‹ – abverlangt haben, ein gemeinsames Bett zu teilen.« (Garber 1993: 287) Entscheidend ist hier wieder die Gleichzeitigkeit der Perspektiven. Innerhalb der Handlung ist es ein Mann, der einen Mann begehrt, gleichzeitig sind die Betrachter/-innen bereits darüber informiert, dass Pel kein Mann ist. Ein doppeltes Lesen der Liebesgeschichte zwischen Pel und Quark als schwul (für die Figuren innerhalb der Handlung) und nicht schwul (für die Zuschauer/-innen) steigert die Komik der Situation. Garber weist darauf hin, dass sich im Bett als Ort der Entdeckung oder Fast-Entdeckung durchaus mehr als zwei Personen befinden. Das Bett sei überfüllt mit: »1) dem naiven oder unschuldigen Partner, 2) dem Transvestiten in seiner oder ihrer übernommenen Rolle und 3) dem Mann oder der Frau innerhalb der transvestitischen Verkleidung, der/die das Entdecktwerden fürchtet und zugleich wünscht und so sehr wünscht wie fürchtet, Verlangen zu zeigen.« (Garber 1993: 287) Es geht nicht nur um die Körper, die sich ein Bett teilen, sondern vor allem um die Vorstellungen von diesen Körpern und um die Identitäten, die damit verbunden sind. Pel ist gleichzeitig ein schwuler

Freiheit wird. Die Poesie soll als die wirkliche Veränderung dieses Zustands verstanden werden. Sie ist

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Mann und eine heterosexuelle Frau. Es wird implizit die Frage aufgeworfen, wer wen warum begehren darf, und welches Begehren nicht stattfinden darf. Die Beantwortung dieser ambiguosen Frage wird jedoch umgangen, denn Pel wird von seinem Chef, in den sie sich verliebt hat, sowohl als schwuler Mann abgewiesen als auch, später, als heterosexuelle Frau. Die mit zu vielen Identitäten überfüllten Betten finden sich in Varianten in fast allen untersuchten Filmen und führen meist zu falschen Schlüssen von beobachtenden Dritten. Yentl teilt sich mit ihrem Kommilitonen Avigdor ein Bett und besteht darauf, dass Männer »Rücken an Rücken« zu schlafen haben. Als Victor/Victoria und King zusammen im Bett überrascht werden, macht es sie zum schwulen Paar, obwohl hier eine heterosexueller Liebesbeziehung vorliegt. Sogar der Kammerherr des spanischen Botschafters zeigt in Königin Christine Überraschung, als die ›beiden Herren‹ zusammen im Bett liegen und nicht aufstehen, sondern eine heiße Schokolade trinken möchten. Und schließlich kämpft Tootsie alias Michael mit ihren/seinen als ›lesbisch‹ dekodierbaren Neigungen, als er mit seiner Kollegin Julie ein Bett teilt.

Enthüllungen In allen Travestie-Narrationen gibt es den entscheidenden Moment der Enthüllung: Die Zuschauer/-innen sind meist von Anfang an oder werden zu Beginn der Narration über das ›wahre‹ Geschlecht der Protagonist/-innen informiert, was sie nicht nur zu sympathisierenden Mitwisser/-innen macht, sondern auch ideologisch garantiert, dass alles seine (hetero-)sexuelle Ordnung hat. Oft werden einzelne Figuren im Laufe der Narration eingeweiht und gegen Ende das ›wahre‹ Geschlecht in einer dramatischen Enthüllung offenbart. Der Moment des grundsätzlichen Fallenlassens der Maskerade ist narrativ zwingend notwendig: »[…] the point at which the cross-dresser breaks the disguise by ripping off the wig and revealing who s/he ›really‹ is is reassuring for both the audience and the character coming out of disguise. The necessary concomitants of this dismantling scenario, this transvestite striptease, are the categorical instatement of difference and the simplification of the cross-dresser’s gendered identity.« (Bruzzi 1997: 175f.)

nichts anderes als die befreite Sprache. Die Poesie, die von allen gemacht wird, als die einzige Poesie. Wo

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Die transvestitischen Figuren offenbaren sich durch das Zeigen ihres ›echten‹ Körpers. In Mann-zu-Frau-Narrationen geht dies typischerweise mit dem Abreißen der Perücke einher: So reißt sich Dorothy Michaels vor laufender Kamera die Perücke vom Kopf; Mrs. Doubtfire verrutscht die ganze Maske samt Frisur. Das wichtigste Utensil der Geschlechtermaskerade sind in den genannten Beispielen immer die Perücken (die bei den haarlosen Ferengi wegfallen), die immer wieder zu Fast-Enthüllungen führen, da sie verrutschen, abfallen oder verkehrt herum aufgesetzt werden können und damit komisches Potenzial entfalten. Das zentrale Accessoire für Mann-zu-Frau-Drag besteht nicht in z.B. Brüsten, sondern ausgerechnet in der Frisur, die bei Männern und Frauen ganz unterschiedliche Stile und Längen haben kann. Victor macht die Geste jedoch als Klischee deutlich, indem ›er‹ (Girl plays Boy plays Girl) sich nach einer Travestie-Nummer die Perücke abreißt, unter der kurze Haare zum Vorschein kommen, die ›er‹ sich mit einer männlichen Geste nach hinten streicht. Mit langen und kurzen Haaren als Zeichen für Femininität bzw. Maskulinität wird hier spielerisch umgegangen. Allerdings weist Victor später mit einer anderen Geste, die wiederum typisch für Frau-zu-Mann-Narrationen ist, nach, dass ›er‹ doch eine ›sie‹ ist: Er (sie) zeigt ihre Brüste. Die Brüste als Beweis des Frauseins enthüllen ebenfalls Yentl, Königin Christine und Pel, diese allerdings in einer Szene, die nur für Zuschauer/-innenaugen bestimmt ist, da Brüste in dem Geschlechterdiskurs der Ferengi keine Rolle spielen – relevant ist hier allein die Größe der Ohren. Anders Quark: Hier bricht die analysierte Episode mit den Bildkonventionen, indem Quark nicht körperlich nachweist, dass er männlichen Geschlechts, sondern im Gegenteil, dass er weiblichen Geschlechts ist. Er zeigt seine Brüste, um seine körperliche sexuelle Differenz zu belegen und seine vorherigen erotischen Annäherungen an den männlichen Ferengi Nilva zu legitimieren. Ambivalent ist hier auch das Ende: Brunt: »Ich sage Ihnen, das ist nie und nimmer eine Weibliche!« Nilva: »Sie kommt der Sache jedoch nahe genug für mich!«

Diese doppeldeutige Aussage von Nilva ist wieder eine direkte Referenz auf Manche mögen’s heiß. Osgood (Joe E. Lewis), der Verlobte von Daphne/Jerry, meint zu Jerrys/Daphnes Enthüllung, er sei ein Mann, nur: »Na und? Niemand ist vollkommen.« (»Nobody’s perfect.«) Das subversive Element der beiden Narrationen, so könnte argumentiert werden, steckt in der Aussage, dass das ›biologische‹ Geschlecht von Quark/Lumba und Jerry/Daphne für das Begehren von Nilva bzw.

sind wir? Sind wir verrückt geworden? Die Dadaisten haben als erste den Worten ihr Mißtrauen erklärt

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Osgood irrelevant ist. Diese Ambiguität des Begehrens kreiert laut Bruzzi eine Disruption in der normativ heterosexuellen Narration: »This is a moment of phallic panic, when the mere possession of a penis under his dress is not enough to assure the conventional dissolution of Jerry’s transvestite image. The panic signals the most terrifying fissure of all, that someone can desire the ambiguous, ’third term body.« (Bruzzi 1997: 158)

Manche mögen’s heiß, die stilbildende Vorlage, ist tatsächlich der einzige Film, in dem Jerry zwar seine ›wahre‹ Identität als ›Mann‹ enthüllt, aber nicht gezeigt wird, dass er in diese tatsächlich zurückkehrt.

Fazit Die abschließende Frage ist, ob und inwiefern dem Thema ›Drag‹ in der populären Kultur subversives Potenzial zugesprochen werden kann. So betont auch Butler: »[…] daß es keine zwangsläufige Verbindung zwischen drag und Subversion gibt und daß drag so gut im Dienst der Entnaturalisierung wie der Reidealisierung übertriebener heterosexueller Geschlechtsnormen stehen kann. Im günstigsten Fall ist drag der Ort einer bestimmten Ambivalenz, die die allgemeinere Situation reflektiert, wie man in die Machtverhältnisse, von denen man konstituiert wird, einbezogen ist und wie man demzufolge in die gleichen Machtbeziehungen verwickelt ist, die man bekämpft.« (Butler 1995: 169f., Herv. i. Org.)

Die Analyse hat ergeben, dass ein Mann, der zur Frau wird, und eine Frau, die zum Mann wird, in narrativ grundsätzlich unterschiedlichen Kontexten stehen. Pel verkleidet sich, weil sie anders ist, weil sie mit ihrer sozialen Stellung nicht zufrieden ist (ebenso Yentl, Victoria und Christine). Pels Geschlechterwandel ist wesentlich stärker an soziale Komponenten wie das Verhalten gebunden. Die Verkleidung geschieht durch das Tragen von (Männer-)Kleidung und durch ›männliches‹ Verhalten: Sie bewegt sich in der Öffentlichkeit und macht Profit. Das einzige zusätzliche Accessoire sind synthetische Ohrmuscheln, ihre Phallus-Prothese, die sie an- und ablegen kann. Genau diese Anmaßung, männliche Ohren zu tragen, führen auch zu ihrer Enttarnung. Quarks Umwandlung dagegen ist vorwiegend an den Körper gebunden: Seine Ohren werden operativ verkleinert, Brüste werden operativ hin-

– mit dem davon untrennbaren Willen, das Leben zu ändern. (Auch sie haben die Welt, in der sie lebten,

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zugefügt, seine Hormone werden verändert. Dann erst geht es um die Einübung des sozialen Verhaltens wie Sprechweise und Körpersprache. Hinzu kommt die feminin codierte Kostümierung. Während in den untersuchten Filmen bei der Frau soziale Gründe als Motivation für die Verkleidung als Mann angeführt werden, steht ein als Frau verkleideter Mann dagegen immer in einem homoerotisch konnotierten Travestie-Kontext. Daraus folgt, dass Männer, die sich als Frauen (ver-)kleiden, Geschlecht oft parodieren, und Frauen, die sich als Männer (ver-)kleiden dazu neigen, Geschlecht darzustellen: »If men dressed as women often parody gender, women dressed as men, on the other hand, tend to perform gender.« (Solomon 1993: 145f., Herv. i. Org.) Pel muss, um als Mann zu gelten, hauptsächlich darauf achten, nicht aufzufallen. Pels Verkleidung als Mann ist mehr auf das Nicht-FrauSein konzentriert als aufs Mann-Sein. Quarks Spiel dagegen ist sehr übersteigert. Er stellt keine Frau dar, sondern einen Frauendarsteller. Quarks Verkleidung transformiert ihn ebenfalls nicht in das andere Geschlecht, eine Frau, sondern macht ihn zum Transvestiten. Die Rückverwandlung in das ›wahre‹ Geschlecht ist narrativ zwingend notwendig. Transvestitisches Verhalten darf ›Spaß‹ oder ›Sinn‹ machen, solange es einen bestimmten Zweck erfüllt und nur einen begrenzten Raum und eine begrenzte Zeitspanne einnimmt. Nachdem dieser Zweck erfüllt ist und das Moment von ›Weiblichkeit‹/ ›Männlichkeit‹ im jeweils eigenen Selbst erkannt ist, muss die Normalität, d.h. die heterosexuelle Differenz, wieder hergestellt werden (vgl. Garber 1993: 103). Auch hier gibt es allerdings einen Unterschied: Quark darf tatsächlich seine ›Weiblichkeit‹ in der Travestie entdecken. Er fühlt sich jetzt »einfühlsamer, mitfühlender und fürsorglicher« und darf als moralisch geläuterter Ferengi in sein altes Leben und in sein männliches Selbst zurückkehren. Das gleiche passiert mit Daniel und Michael. Für diese (in der Narration vormals erfolglose Schauspieler) ermöglicht die Rolle als ›Tootsie‹ bzw. die als ›Mrs. Doubtfire‹ sogar den Durchbruch im Fernsehen, d.h., sie werden zu beruflich erfolgreichen und damit zu besseren Männern. Pel dagegen entdeckt nicht etwa ihre ›Männlichkeit‹, sondern ebenfalls ihre ›Weiblichkeit‹ – indem sie sich ihren Chef verliebt und ihre Verkleidung fallen lässt. Pel scheitert an ihrem als ›typisch weiblich‹ und heterosexuell codierten Begehren. Die Liebe ist es, die sie den Entschluss fassen lässt, wieder als Frau zu leben – allerdings im Gamma-Quadranten, wo sie den gesellschaftlichen Regeln der Ferengi nicht unterworfen ist. Pel geht ins Exil, ihr Geliebter will ihr dorthin nicht folgen. Ihre filmischen Vorgängerinnen ereilt das gleiche Schicksal. Königin Christines Liebster, für den sie die Krone aufgegeben hat,

für schlecht befunden, haben sie abgelehnt & bekämpft.) Von wegen: Poesie. Von �Poesie� möchte ich lieber

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stirbt, sie geht ins Exil. Yentl weist ihren potenziellen Partner zurück, denn sie will immer noch studieren und wandert in die USA aus, geht also quasi ins Exil. Frau-zu-Mann-Narrationen sind in der Regel keine Komödien, sondern Dramen mit komödiantischen Elementen, denn letzten Endes wird der Verstoß gegen die Geschlechterordnung durch die sich Männlichkeit anmaßende Frau streng bestraft. Quark dagegen ist als Lumba eine komische oder sogar lächerliche Figur. Auf der Top 100 Comedy Movies-Liste des American Institute of Film rangieren Manche mögen’s heiß auf Platz eins und Tootsie auf Platz zwei.12 Und so stellt auch Lehnert fest: »Die Tatsache, daß in unserer Kultur Männer als das ›stärkere Geschlecht‹ gelten, führt dazu, dass ihre Verkleidung als Frauen in aller Regel negativ bewertet wird. Sie bedeutet einen sozialen Prestigeverlust, der in Komödien fruchtbar gemacht werden kann, jedoch kaum tragisches Potential enthält.« (Lehnert 1997: 20) Die direkte Verknüpfung von sozialen Rollen und sozialer Macht und Handlungsfähigkeit wird in beiden Varianten der Geschlechter-Travestie deutlich. Die filmische Inszenierung der Travestie-Narrationen kann an einigen wenigen Stellen so verstanden werden, dass auf die Abhängigkeit der Geschlechtsidentität von kulturellen Praktiken und Zeichen zumindest hingewiesen wird. Ein Beispiel sind die Kamerabewegung und der Schnitt, die den Verkleidungsprozess der Mann-zu-Frau-Travestien als Collage inszenieren, und die jeweils hinzugefügten Weiblichkeitsattribute aufzählen. Ob dies ein Akt der Subversion ist, bleibt jedoch zweifelhaft.

Literatur Bernardi, Daniel Leonard (1998): Star Trek & History. Race-Ing toward a White Future, New Jersey: Rutgers. Bruzzi, Stella (1997): Undressing Cinema. Clothing and Identity in the Movies, London/New York: Routledge. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag. Cailan (2002): »Siddig Recalls His Directing Experience«. Unter: www.trektoday.com/news/240502_02.shtml (letzter Zugriff am 16.02.2007). 12 | http://en.wikipedia.org/wiki/AFI %27s_100_Years…_100_Laughs (letzter Zugriff am 22.04.2007)

nicht sprechen. Poesie – das klingt nicht nur harmlos & obsolet. Lächerlich. Von Dichtung ganz zu

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Doane, Mary Ann (1994): »Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers«. In: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 66–89. Frey, Regina/Dingler, Johannes (2002): »Wie Theorien Geschlechter konstruieren«. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Alles Gender? Oder was? Theoretische Ansätze zur Konstruktion von Geschlecht(ern) und ihre Relevanz für die Praxis in Bildung, Beratung und Politik, 2. Auflage, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, S. 7–25. Garber, Marjorie (1993): Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Hirschauer, Stefan (1993): Die soziale Konstruktion von Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honegger, Claudia (1991): Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750–1850, Frankfurt a.M./New York: Campus. Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M./New York: Campus. Lehnert, Gertrud (1994): Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur, Würzburg: Königshausen und Neumann. Lehnert, Gertrud (1997): Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Roedig, Andrea (1997): »Judith Butler – ein Sohn ihrer Zeit. Versuch über die Verwirrung der Geschlechter als Zeitphänomen«. In: Gisela Völger (Hg.), Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturverlgeich, Band 1, Köln: Rautenstrauch-Joest-Museum Köln, S. 47–54. Solomon, Alisa (1993): »It’s never too late to switch. Crossing toward power«. In: Lesley Ferris (Hg.), Crossing the Stage. Controversies on cross-dressing, London/New York: Routledge, S. 144–154. Wikipedia. The Free Encyclopedia (2007): http://en.wikipedia.org/wiki/ AFI %27s_100_Years…_100_Laughs (letzter Zugriff am 22.04.2007). Wilson, Thomas C. (1996): »Compliments will get you nowhere: Benign stereotypes, prejudice and anti-Semitism«. Sociological Quarterly 37, S. 465–480. Winn, J. Emmett (2003): »Highly Offensive Ferengi: Racial Issues and Star Trek’s Multicultural Deep Space Nine in Film«. Unter: www.kinema.uwaterloo.ca/winn031.htm (letzter Zugriff am 16.02.2007).

Filme Königin Christine. USA 1933. Regie: Rouben Mamoulian. Buch: H.M. Harwood, Margaret P. Levino.

schweigen. Um Kunst zu machen, ist es recht spät. Alle Künste sind mittelmäßige Spiele & ändern nichts.

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Manche mögen’s heiß. USA 1959. Regie: Billy Wilder. Buch: Billy Wilder, I.A.R. Diamond. Mrs. Doubtfire. USA 1993. Regie: Chris Columbus. Buch: Randi Mayem Singer. Star Trek – Deep Space Nine, Episode 207: Profit oder Partner! USA 1993. Regie: David Livingston. Buch: Ira Steven Behr, Hilary J. Bader. Star Trek – Deep Space Nine, Episode 623: Die Beraterin. USA 1998. Regie: Alexander Siddig. Buch: Ira Steven Behr, Hans Beimler. Tootsie. USA 1982. Regie: Sydney Pollack. Buch: Don McGuire, Larry Gelbart Victor/Victoria. USA 1982. Regie: Matthew Diamond, Blake Edwards. Buch: Blake Edwards Yentl. USA 1983. Regie: Barbra Streisand. Buch: Barbra Streisand.

Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war, nichts kommt wieder. Hat sich wirklich etwas verändert?

Wenn man jetzt sagt, daß sich die Sphären des Ökonomischen, des Politischen & des Kulturellen zuneh-

mend überschneiden & einander einschließen. Daß dieser externe Standpunkt nicht mehr existiert. Wenn

man von einer wachsenden Ununterscheidbarkeit ökonomischer & kultureller Phänomene spricht. Von

Avantgardistische und postkoloniale Strategien der Entkanonisierung. Zu Meschac Gabas Museum Of Contemporary African Art Gregor Schröer

Avantgarde? Subversiv? Postkolonial? Unter ›Avantgarde‹ werden in der Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung zunächst einmal jene Kunst-Ismen zusammengefasst, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Plan traten (Expressionismus, Dadaismus, Surrealimus etc.). Peter Bürger hat sie in einen umfassenden Theorierahmen eingeordnet. Bürger fasst die Avantgarden nicht nur als Kritik an vormaligen Kunststilen auf, sondern als Zweifel an der ›Institution Kunst‹ an sich. Zur ›Institution‹ wird Kunst laut Bürger durch die Genese ihrer ›Autonomie‹, die mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, samt dem sich entfaltenden Kunstmarkt. Hinzu kommt im 18. Jahrhundert die Entstehung der Ästhetik als Wissenschaftsdisziplin, die dazu beiträgt, dass die Kunst der Lebenswelt abstrakt gegenüber tritt. Sie wird zu einer bürgerlichen Institution erhöht,1 zu einem »Leitmedium« (Grimminger 2000: 418), das, aus dem ästhetischen Reservat heraus, die kulturelle Selbstvergewisserung bürgerlicher Ordnungsmuster idealiter künstlerisch reflektieren soll. Zu sehen ist dieser »transzendentelle Sollanspruch« (Grimminger 2000: 418) noch heute in Form eines Kant-Zitats am Giebel der alten Frankfurter Oper: »Dem Wahren, Schönen, Guten«. 1 | Vgl. Bürger 1974. Hier lässt sich nur eine holzschnittartige Skizze der Bürgerschen Theorie wiedergeben.

fehlenden Grenzziehungen. Ich lese das in dem Buch, das ich in Köln geschenkt bekommen habe. Es gibt

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Diesem Kulturmuster gegenüber formiert sich vor dem Hintergrund von Erstem Weltkrieg, Industrialisierung und Urbanisierung, welche die traditionellen bürgerlichen Lebensverhältnisse und Wertesysteme unterminieren, eine kulturelle und politische Opposition – die Avantgarde-Bewegungen. Mit ihnen, so Bürger, tritt die »Institution Kunst« in das Stadium ihrer »Selbstkritik« ein (Bürger 1974). Es werden neue ästhetische Ausdrucksformen erprobt. Letztlich soll die Grenze zwischen Kunst und Leben eingerissen, die scheinhafte Autonomie der Kunst zerbrochen werden (Bürger 1974: 67ff.). Das Kunstschaffen der Avantgarden gebärdet sich demnach aggressiv und antitraditionell. Ihre Artefakte stellen laut Bürger als Kunst ihren eigenen »Kunstcharakter« durch ihre »Montage-Form« (Bürger 1974: 97ff.) zur Debatte und unterwandern so den gesellschaftlich etablierten Status von Kunst mit ästhetischen Mitteln innerhalb der künstlerischen Sphäre. Wenn zu den Praktiken künstlerischer Subversion, wie Diederichsen schrieb, auch »das Zerreißen von Formen, wobei diese erkennbar bleiben/bleiben sollen« (Diederichsen 1993: 35) gehört, 2 dann lässt sich das Kunstschaffen der Avantgarden nach Bürgers Lesart durchaus als subversiv bezeichnen. Denn in den avantgardistischen Werken ist Kunst nicht mehr ein Reflexionsmedium kultureller Selbstvergewisserung, sondern, ganz im Gegenteil, ein Reflexionsmedium kultureller Irritation, eben weil die Orientierung stiftende, kanonisierende Funktion von Kunst ikonoklastisch, mit ästhetischen Strategien, unterlaufen wird. Diese Spur soll im Rahmen dieser Überlegungen bis zu Meschac Gabas Museum of Contemporary African Art verfolgt werden.3 Gaba unterwandert subversiv, so die Kernthese der hier angestellten Überlegungen, den Repräsentationsort des künstlerischen Kanons schlechthin, das Museum. Er modelliert es um und verfremdet es, 2 | Diederichsen listet an dieser Stelle eine ganze Reihe von ästhetischen Praktiken auf, die subversive Kennzeichen tragen. Sie können hier nicht ausführlich verhandelt werden, weshalb ich nur den oben erwähnten Aspekt, der mir für den hier umrissenen Kontext am wichtigsten erscheint, herausgreife. 3 | Meschac Gaba wurde 1961 im westafrikanischen Benin geboren. Er lebte vor allem in Cotonou und war dort in Kontakt mit der Kunstszene. Anfang der 1990er Jahre war er zu einem Studienaufenthalt in Frankreich, wo er das Musée de l’Afrique et de l’Océanie in Paris besuchte, bevor er Mitte der 1990er Jahre zum Studium an die Rijksakademie nach Amsterdam kam. Dort entwickelte er auch die Idee zu seinem Museum Of Contemporary African Art, das er über mehrere Jahre hinweg schrittweise fertig gestellt hat (vgl. Gaba 2001: 13–14 & 41).

keinen Standpunkt, der sich außerhalb des monetär gestalteten Raumes verorten ließe, heißt es dort.

Gregor Schröer Avantgardistische und postkoloniale Strategien …

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wobei er nicht zuletzt die museale, koloniale Wahrnehmung von ›Afrika‹ ins Visier nimmt, der, wie von postkolonialen Theoretikern mehrfach beschrieben und kritisiert wurde, 4 häufig eine aus eurozentristischer Perspektive erfolgte, exotisierende Konstruktion von Andersheit zu Grunde lag. In seiner Museumsarbeit bedient sich Gaba ähnlicher, museumskritischer ästhetischer Praktiken, wie sie bereits von Avantgardekünstlern, namentlich von Marcel Duchamp und Marcel Broodthaers, verwendet wurden. Daher wird der erste Schritt dieser Ausführungen ein Einblick in deren Arbeiten sein. Dann werden Genese und Funktion der in bürgerlicher und auch kolonialer Hinsicht kanonisierenden Einrichtung Museum behandelt. Diese Vorüberlegungen sollen sich insofern als hilfreich erweisen, als sich vor ihrem Hintergrund besser diskutieren lassen dürfte, ob und wie Gaba die erwähnten Kanonisierungsleistungen von Museen aus postkolonialer Perspektive und unter Verwendung künstlerischer Strategien avantgardistischer Herkunft zu unterlaufen vermag.

Avantgardistische Strategien der Entkanonisierung: Marcel Duchamp und Marcel Broodthaers Marcel Duchamp gilt als geradezu exemplarischer Avantgardekünstler. Anhand seiner Arbeiten lässt sich die avantgardistische Auflösung der Dichotomie von Kunst und Leben aufgrund des Zweifels an der ›Institution Kunst‹ schlüssig darstellen. Ein beispielhafter Ausdruck dessen sind Duchamps legendäre ›Ready-mades‹, das Stilisieren von Alltagsgegenständen zu Kunstwerken. Duchamp unterlief mit dieser Strategie, dem Kanon seine alltägliche, ›antikünstlerische‹ Gegenthese – etwa in Form eines Pissoirs – entgegenzustellen, sowohl das traditionelle Diktum künstlerischer Originalität, als auch die institutionalisierte Trennung von Kunst und Alltag. Gerade ›Ready-mades‹ lassen sich als Institutionskritik verstehen. Sie zielen nicht nur auf die Fragwürdigkeit künstlerischer Wertung ab, sondern – durch die Thematisierung des musealen Umfeldes, in dem Duchamp seine ›Ready-mades‹ ausstellte – auch auf die institutionellen Gegebenheiten der Kunstpräsentation, wie sie sich eben vor allem im Museumskontext kristallisieren (vgl. Gamboni 1998: 269ff.). Es war der Zweite Weltkrieg, der Duchamp 1941 gewissermaßen zwang, eine explizite Auseinandersetzung mit dem Museum vorzunehmen. Bei seiner Emigration in die USA arrangierte er 69 Miniatur-Re4 | Vgl. beispielhaft: Hall 1994: 155ff.

Dem Geld entgeht nichts. Nun habe ich das Buch ja immerhin geschenkt bekommen. Aber sei’s drum. Es

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produktionen seiner Arbeiten unter dem Titel Box in a Valise neu und packte sie in einen Koffer, um sie mitzunehmen – als mobiles Museum seiner selbst, deklariert als ›household goods‹. Dadurch, dass Duchamp ›künstlerische‹ und ›antikünstlerische‹ Gegenstände – Box in a valise beinhaltete Reproduktionen eigener Bilder, ›Ready-mades‹ und deren Reproduktionen, wie auch einige seiner Übermalungen – handwerklich als Miniatur reproduziert, führt er nicht nur das Diktum künstlerischer Originalität ad absurdum, er setzt zudem die räumliche Ordnung eines konventionellen Museums außer Kraft, indem er ihr ein mobiles Museum entgegenstellt. Eigentlich dreht Duchamps Box in a Valise das Verhältnis von Kunst und ihrem Auf bewahrungsort um. Das Museum ist nicht mehr der Hort der Kunst, es selbst wird Kunst – und damit auch etwas Künstliches. Das hehre, objektiv kanonisierend anmutende Museum wird durch die Zurschaustellung seines eigentlich fiktionalen Charakters mit den Mitteln der Kunst angezweifelt (vgl. Judovitz 2005). Duchamp nutzt die Form des Museums, um sie zu unterlaufen und so die Fragwürdigkeit von Kunst im Rahmen ihres musealen Präsentationsortes bloßzustellen. Er läutet damit eine fortwährende künstlerische Auseinandersetzung mit dem Präsentationsort Museum ein (vgl. Kravagna 2001). In dieser Reihe steht auch der belgische Surrealist Marcel Broodthaers, der in den 1960er und 1970er Jahren mit einem Zyklus von Rauminstallationen unter dem Namen Musée d’Art Moderne einen weiteren Schritt zum ästhetisch-subversiven Spiel mit dem Museum vollzog. Broodthaers’ begehbares Musée d’Art Moderne war zuerst in Brüssel zu sehen, wurde aber eine mobile Installation, die – mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten – in Galerien, Museen und auch in Privatwohnungen gezeigt wurde (vgl. Goldwater/Compton 1989: 179ff.). Broodthaers stellte – in Museumsform – vor allem typisches Museumsinventar aus, zum Beispiel leere Sockel. Er nahm dabei im Grunde genommen eine Transformation des genutzten Raumes vor. Das Museum an sich wird der Kunstwerke entblößt und ganz auf seinen funktionellen Rahmen, den Raum, reduziert – der aber gleichzeitig zum Kunstwerk erhoben wird. So werden Betrachtende mit der Funktion des Museums an sich konfrontiert, wobei ihre eigentliche Erwartungshaltung durchkreuzt, der traditionelle Rezeptionsvorgang gestört wird. Der Surrealist Broodthaers, so will es scheinen, betrachtet gerade die musealen Kanonisierungsleistungen als Einschränkung der menschlichen Wahrnehmung, die er dadurch gleichermaßen irritiert und herausfordert, dass er die Produktionsmechanismen eines Kanons sichtbar macht, sie geradezu bloßstellt. Sein Musée d’Art Moderne hat Marcel Broodthaers selbst einmal so kommentiert: »Das

gibt keinen Standpunkt außerhalb des Systems. Ein System, eine abstrakte Form beherrscht uns. Es gibt

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übliche Museum und seine Repräsentanten stellen einfach eine Form der Wahrheit dar. Über dieses Museum zu sprechen heißt, über die Bedingungen der Wahrheit zu reden.« (Broodthaers 2001: 42) Beide, Duchamp und Broodthaers, stellen Kunst und Museum in Frage. Sie agieren parallel innerhalb der Institution Kunst und gegen die Institution Kunst und wählen sich für ihr Doppelspiel den repräsentativsten Ort der Kunst aus, das Museum. Ihre subversiven ästhetischen Praktiken lassen sich insofern als avantgardistische Strategien der Entkanonisierung beschreiben, als sie die Wertmaßstäbe jedweder Kanonisierung außer Kraft setzen. Beide üben somit Kritik an kulturellen Repräsentationsmustern und an deren institutionalisierten Überlieferungsmechanismen. Um die Entstehung dieser Muster und Mechanismen, insbesondere um die Genese des Museums, das in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt, soll es nunmehr gehen.

Das Museum als bürgerliche und koloniale Institution der Kanonisierung Die Genese des Museums hängt eng mit der Entwicklung des Bürgertums und der mit ihm verbundenen Repräsentationsmuster zusammen. Dies lässt sich zur Zeit der ersten bürgerlichen Revolution in Europa, der Französischen Revolution, exemplarisch beobachten (vgl. BernardGriffiths/Chemin/Ehrard 1992). Von Belang für den Verlauf der Revolution war nicht nur die offensichtliche Krise des Absolutismus, sondern auch der Einfluss des auf klärerischen Denkens, ein damals oppositionelles Denken, das die Überlebtheit der Ordnungsmacht intellektuell anschaulich machte. Es entfaltete sich jenseits der Höfe und wissenschaftlichen Institutionen des Absolutismus, zum Beispiel in Salons und Freimaurerlogen (vgl. Maier/Schmitt 1988). Hier verkehrte auch einer der Exponenten der Auf klärung: Voltaire. Ihm war ein vorwärts strebendes Denken zu Eigen, das auf die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft vertraut. Sein kurzes Traktat Neue Betrachtungen über die Geschichte ist von diesem Optimismus geprägt. Voltaire entwirft darin das Idealbild eines mündigen Bürgers, der kraft der Ratio nach den tiefer liegenden Kausalitäten des Weltgeschehens sucht. Gleichzeitig kritisiert er die Hofgeschichtsschreibung als eine überkommene Selbstdarstellung der absolutistischen Herrschaftsordnung (vgl. Voltaire 1970: 258ff.). Gegen diese Selbstdarstellung im Absolutismus richtete sich während der Französischen Revolution die Aggression der Auf begehren-

keine kritische Kunstpraxis, die nicht ein Teil dieses Systems wäre. & aus dem Kunstbereich kann man

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den. Sie entlud sich in Bilderstürmen auf königliche Monumente und Standbilder. Im weiteren Verlauf der Revolution hatte das Bürgertum erstmals den politischen Spielraum, sich selbst eine symbolische Ordnung zu geben. Der Umgang mit Kunst aus dem Dunstkreis des Absolutismus war während der Revolution ambivalent. Zwar waren Denkmäler als Symbole der überkommenen Ordnung organisierten Bilderstürmen ausgesetzt, aber Kunst sollte auch für die Ziele der Revolution eingebunden werden (vgl. Hofmann 1983: 62ff.). Es wurde debattiert, wie mit den ehemals königlichen Denkmälern umzugehen sei. 1792 wurde schließlich der einstige Königspalast, der Louvre, zum nationalen Museum erhoben und dort wurden die Machtsymbole des Absolutismus, nun als Zeugnisse nationaler Kunstfertigkeit und des kulturellen Erbes, neu arrangiert (vgl. Gerbod 1992). So ist es bis heute geblieben. Es wird deutlich, dass Museen auch die Machtverhältnisse zeigen, innerhalb derer sie fungieren. Den entsprechenden strukturellen Rahmen garantiert der Nationalstaat. Kunst erfährt so eine Umdeutung. War sie und ihre Präsentationsweise Ausdruck der Machtfülle des absolutistischen Souveräns, unterliegt sie nun dem Votum eines neuen, des bürgerlichen Souveräns, der einen musealen Kanon etabliert. Es erinnert an die Überlegungen Voltaires, dass der bürgerliche Souverän mittels der reflektierenden Ratio die absolutistisch geprägten Herrschaftssymbole selbstbewusst historisiert. Die ›Institution Kunst‹, die eher eine ideelle Größe bürgerlicher Wertvorstellungen reflektiert, wird somit durch eine konkrete, politisch konstruierte Institution, durch das Museum, ergänzt. Die Institution Museum gerät so zu einer steinernen, kanonisierenden Verkörperung der ›Institution Kunst‹. Die museale Kanonisierung und Umwertung, welche im Verlauf der Französischen Revolution prototypisch zu beobachten ist, hat die Art und Weise, wie Kunst in Europa und von Europa aus betrachtet und gewertet wird, tief geprägt. Ein Beispiel dafür, wie sich das optimistisch vorwärts strebende, auf das Potenzial der Vernunft bauende Denken in der europäischen Geistesgeschichte weiterhin verankert hat, ist neben Voltaire auch Hegel. Gerade Hegels Kategorien künstlerischer Wertung sind im Kontext historisierender Musealisierung zu lesen. Hegels Ästhetik liest sich wie seine Geschichtsphilosophie und seinem Geschichtsbild lässt sich durchaus Eurozentrismus nachsagen. Hegel sieht die Welt als Wanderstrecke des Weltgeistes. Diese Route verläuft von Asien nach Europa (Hegel 1986a: 134). Die Geschichte, auch jene der Kunst, ist also eingleisig. Auf seinem Weg lässt der Weltgeist jeweils historisch kategorisierbare Artefakte zurück, bevor er in Europa zu sich selbst kommen soll (Hegel 1986b: 107ff.). Dabei spielt Afrika, insbesondere das, wie Hegel sagt, »eigentliche Afrika« südlich

ja jederzeit wieder zurück, ohne etwas zu riskieren. & wenn man meint, Schreiben (oder Malen oder was

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der Sahara, keine Rolle. Es ist »kein geschichtlicher Weltteil« (Hegel 1986a: 129) und am »Neger« findet Hegel »nichts an das Menschliche Anklingende« (Hegel 1986a: 122). Dieser Eurozentrismus lässt sich in der Tradition abendländischen Denkens nicht nur bei Hegel vorfinden. Der postkoloniale Theoretiker Stuart Hall hat in der westlichen Geistesgeschichte eine diskursiv etablierte Konstellation kultureller Zuschreibungen ausgemacht, die er auf die Formel »Der Westen und der Rest« bringt.5 In diesem bipolaren Denkschema – dessen Ursprung in der Frühneuzeit, im so genannten »Zeitalter der Entdeckungen« liegt – wurde die kulturelle Eigenart des vorgefundenen »Anderen«, seine »Differenz«, aus einer eurozentristischen Position heraus ignoriert und oftmals abqualifiziert. Die Kontakte mit den »äußeren Welten« formierten ein westliches »Identitätsbewusstsein« (Hall 1994: 149). Und diese Identität sah sich selbst als modellhaft an. Im westlichen Denken gab es nur den eigenen Weg zur Zivilisation. Die »entdeckten Wilden« standen in der so konstruierten kulturellen Hierarchie unter Europa (Hall 1994: 172). Diese Facette europäischen Denkens, diese lange Tradition kultureller Hierarchisierung, diente letztlich als Legitimation für den Beutezug des Kolonialismus, der auch als »zivilisatorische Mission« gerechtfertigt wurde. Den »entdeckten Wilden« musste demnach erst einmal Kultur angediehen lassen werden, denn ihnen selber wurde sie abgesprochen.6 In Hegels Denken, so lässt sich zeigen, ergibt sich eine Verbindung von eurozentristisch inspirierten und bürgerlichen Kategorien kultureller Wertung. Einerseits wird bei Hegel die räumliche Institutionalisierung und Kanonisierung kultureller Erzeugnisse im Museum theoretisch flankiert. Gleichzeitig zeigt sich in Hegels Kategorien 5 | So der Titel einer Abhandlung von Stuart Hall, die hier nur schematisch skizziert werden kann, vgl. Hall 1994: 137–179. Hall bezieht sich u.a. auf die Diskursanalyse Foucaults. Ein Diskurs lässt sich als ein Arrangement von Macht generierenden Wissensbeständen und sich daraus ableitenden Sprechund Handlungsweisen auffassen, die einander praktisch wie theoretisch durchdringen. Eine prägnante Zusammenfassung der Foucaultschen Analyse, jener Verknüpfung von ›Wissen‹ und ›Macht‹ hat Foucault selbst unter dem Titel Historisches Wissen der Kämpfe um Macht vorgenommen, zu finden in: Foucault 1978: 55–74. 6 | Die Legitimation des Kolonialismus als zivilisatorische Mission, die auf einer stereotypen Konstruktion des »Anderen« beruht, analysiert Homi Bhabha, ebenfalls unter Bezugnahme auf die Diskursanalyse Foucaults, in dem Aufsatz »Die Frage des Anderen«, vgl. Bhabha 2000: 97–123.

weiß ich) sei per se Widerstand, dann ist einem nicht zu helfen. Es reicht nicht, wenn wir Scheinaktionen

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kultureller Wertung auch jenes eurozentristische Denken, das im Kolonialismus eine bedeutende Rolle spielen sollte. Letztlich eröffnet die postkoloniale Lektüre Hegels eine interessante Perspektive auf manche museale Arrangements, die sich nun unschwer als Verräumlichung kultureller Machtkonstellationen erkennen lassen. Die Zeugnisse der kolonialen Eroberungszüge seit der Frühneuzeit ließen sich schon vor der Französischen Revolution in einem musealen Umfeld besichtigen, in den so genannten ›Kuriositätenkabinetten‹ europäischer Adelshäuser (vgl. Mauriès 2002). Und nach der Revolution, im Anschluss an Napoleons Ägyptenfeldzug, dienten die von ihm nach Paris gebrachten exotischen und exotisierten Beutestücke nicht zuletzt als »Bestätigung von Kriegskunst und Eroberung.« (Weissberg 1996: 504) Das Museum als bürgerliche Institution künstlerischer und kultureller Wertung steht also, vor und nach dem Einschnitt der Französischen Revolution, auch in einer eurozentristischen Tradition. Diese Geisteshaltung war im Zuge des Kolonialismus für afrikanische Kulturen und Kulturerzeugnisse verheerend. Sie wurden von den Kolonisatoren als Heidentum und Aberglaube denunziert, zerstört und bekämpft (vgl. Bender 1980). Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass traditionelle bildende Kunst aus Afrika südlich der Sahara häufig eine kulturell integrative Funktion hatte.7 Kunst, Religion und Alltagsleben bildeten in traditionellen afrikanischen Gesellschaften häufig ein Integration stiftendes, soziokulturelles Konglomerat, dessen Stabilität durch ein komplexes Geflecht von Regeln und Bräuchen gewährleistet wurde. Eben deshalb war der koloniale Übergriff, der auch den – durch die sich selbst zugeschriebene ›zivilisatorische Mission‹ gerechtfertigten – Angriff auf traditionelle afrikanische Kunst beinhaltete, eine existenzielle Bedrohung dieser Traditionen. Die ihnen entspringenden Artefakte wurden – unter kalkulierter Verkennung ihres kulturellen Wertes – systematisch herabgewürdigt oder auch zerstört, was wesentlich zur Desintegration afrikanischer Kulturen beitrug. Diese Abwertung hinderte die Kolonisatoren allerdings nicht, Artefakte zu sammeln und einen lukrativen Handel mit europäischen Museen zu betreiben, die an Kunst aus Subsahara-Afrika interessiert waren. Und der Handel mit »exotischer afrikanischer Kunst« blüht auf den Kunstmärkten bis heute, oftmals auch auf illegalen Wegen. So 7 | Das Thema ist äußerst komplex und mit Klischees beladen. Die folgenden Ausführungen sind nur als Skizze zu verstehen und beziehen sich auf einzelne Studien, die in Westafrika durchgeführt wurden (vgl. Bender 1980; Ghomsi/Tagne 2000; Rohde 1990), sowie auf eigene Recherchen in Kamerun.

durchführen. (Wo ist der Standpunkt zu finden, von dem aus Kritik möglich & wirkungsvoll wäre?) Da

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berichtete die kamerunische Wochenzeitung Le Messager im Oktober 1999 beispielsweise von Kunstdiebstählen aus der Bamiléké-Chefferie von Bandjoun im Westen Kameruns (vgl. Ghomsi/Tagne 2000: 92). Der im Zuge der Kolonisierung begonnene ›Kulturaustausch‹ führte mit der Zeit gleichwohl zu einem vorsichtigen Perspektivwechsel. In Bernatzkis Handbuch der angewandten Völkerkunde ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu lesen: »Die Erhaltung der arteigenen Kunst ist eine vordringliche Aufgabe der Kolonisation, denn gerade in Afrika sind unersetzliche Kulturblüten der Menschheit durch europäischen Einfluß unwiderruflich vernichtet worden.« (zit.n. Bender 1980: 18) Und weiter: »Ohne zielbewußte und energische Einflußnahme der Kolonisatoren wird auch der letzte Rest arteigener Kunst einer oft gedankenlosen Zerstörung zum Opfer fallen.« Die Erkenntnis, dass der europäische Einfluss ganze Kulturen in Afrika desintegriert hat, trübte damals nicht die Koloniallogik an sich. Die Kolonisation sollte sich aber einem weiteren Aufgabenfeld widmen, der »Erhaltung« dessen, was sie vorher zerstörte. Die historische Rückschau zeigt, dass die »erhaltenen« Artefakte unter kolonialer Aufsicht letztlich einen musealisierten und daher »mumifizierten« Status zugewiesen bekommen haben, der die kulturelle Desintegration noch unterstreicht, wie Frantz Fanon in seinem Aufsatz Racism and Culture feststellte (Fanon 1970: 44). Im Zuge der Kolonisation vollzieht sich letztlich, durch Musealisierung und Mumifizierung einst lebendiger afrikanischer Kulturen, eine Institutionalisierung von afrikanischer Kunst nach europäischem Muster, wie sich anhand des Zitats aus dem oben erwähnten Handbuch für angewandte Völkerkunde unschwer erkennen lässt. Das bedeutet, dass die durch die Kolonisation etablierten kulturellen Kategorien zum kanonischen Wertmaßstab geworden sind. Die traditionelle Sozialstruktur, deren originärer Ausdruck afrikanische Kunst war, ist allerdings destabilisiert. Die Kunstwerke, die nun in europäischen und auch afrikanischen Museen als archaische Relikte zu bestaunen sind, werden, in durchaus kolonialer Tradition, oftmals auch heute noch lediglich als exotisches Schmuckstück wahrgenommen.

Meschac Gabas Museum of Contemporary African Art Meschac Gabas Museum of Contemporary African Art, das 2002 teilweise auf der Documenta in Kassel zu sehen war, lässt sich als querdenkerische Replik auf koloniale und museale Kanonisierungsmechanismen auffassen. Gabas Museum ist alles andere als eine zu Stein gewordene

dürfte was falsch laufen. »Bei euch ist es Kunst!« sagt wenig verständnisvoll der Punk, der eben doch

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Institution. Es ist zwar begehbar wie ein konventionelles Museum, dabei aber mobil und virtuell zugleich. Gabas Museum wandert von Ausstellungsort zu Ausstellungsort und ist gleichzeitig permanent im Internet präsent. Es ist eine Art Zwitter aus physischer und virtueller Präsenz und hat dabei insgesamt zwölf Abteilungen, vom Museumsshop über die Bibliothek bis zum Museumsrestaurant. Und alle Abteilungen zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie mit einem kompletten Museumsbetrieb assoziiert werden können, dass dort aber nirgendwo einfach Kunst ausgestellt wird – im Grunde sogar gar nicht. Gabas Museum konstituiert sich vielmehr, wie auch Broodthaers’ Musée d’Art Moderne, aus der Interaktion zwischen Rezipierenden und Präsentiertem, wobei auch Gaba vor allem die Repräsentationsmechanismen, die ein Museum ausmachen, thematisiert. Im Zuge dieser avantgardistisch anmutenden Praxis irritiert Gaba systematisch mit ständigen Perspektivwechseln auf afrikanische Kunst und den afrikanischen Kontinent an sich (vgl. www.museumofcontemporaryafricanart.com; letzter Zugriff am 09.06.2007). Ein Antrieb zu seinem Museum war, so hat Gaba in einem Interview8 ausgeführt, sich mit der eurozentristischen Sichtweise auf den afrikanischen Kontinent zu beschäftigen. Allerdings will er, wie er sagt, eher Fragen stellen als beantworten. Die Art und Weise, wie er seine Fragen stellt, ist in der Form seines Museums angelegt, das sich aus unterschiedlichen Quellen speist. Zum einen greift Gaba die Bildungsfunktion des Museums europäischer Tradition positiv auf. Aber: »I say that people who gave me that education didn’t give us everything. They shut me up inside tradition.« (Gaba 2001: 18) Dieses Einschließen lässt sich auch als eine Folge des kulturellen Übergriffs des Kolonialismus, die stereotype Gegenüberstellung von Eigenem, Maßstab setzenden und Fremdem, Rückständigen, die Fanon ›Mumifizierung‹ einst lebendiger Kulturen genannt hat (Fanon 1970: 44), auffassen. Gaba will sich weder einschließen lassen, noch Traditionen übergehen. Er spielt mit diesem Widerspruch kraft eines Ausgangspunkts, den er im erwähnten Interview herausstellt: »In Africa, art is narrative. People want you to talk about it, they want you to explain what you do.« (Gaba 2001: 14) Dieses interaktiv-narrative Moment, das schon in traditioneller afrikanischer Kunst eine große Rolle gespielt hat, verknüpft er mit der künstlerischen Praxis von Duchamp und Broodthaers. Beide beschäftigten sich wie Gaba mit der Beschaffenheit von Museen als Institutionen kultureller Interaktion. Aber mit seiner Herangehensweise grenzt Gaba sich, bei 8 | Das Interview ist in englischer Sprache dokumentiert in: Gaba 2001: 14ff.

immer schneller mit der Polizei zu tun bekommt als der Kunstaktivist, der für sich die »Freiheit der Kunst«

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aller Anlehnung, von Duchamp und Broodthaers ab. Von Duchamps Museum übernimmt er zwar die Idee der Mobilität, »because I’m a traveller« (Gaba 2001: 15), wie auch Duchamp einer gewesen ist. Gaba sieht sich selbst aber als ein im sozialen Kontext Agierender (Gaba 2001: 18), mit Duchamp scheint ihn weniger zu verbinden. Näher scheint ihm Broodthaers zu sein, dessen Einfluss auf seine Museumsarbeit Gaba auch einräumt: »I use Broodthaers’ idea without adopting his approach.« (Gaba 2001: 16) Broodthaers’ Ansatz war es, mit seinem Museum die »Bedingungen der Wahrheit« zur Diskussion zu stellen (s.o.). Gaba will die »Wahrheit« des Eurozentrismus ins Visier nehmen. Und so durchbricht er diskursiv etablierte, kulturelle Kategorien und wehrt sich auch gegen stereotype kulturelle Zuschreibungen, ob sein Museum nun eher europäisch oder afrikanisch geprägt sei. »I think that attentive African artists who don’t allow themselves to be limited by ethnography can identify with my work.« (Gaba 2001: 16) Der Kern seines Ansatzes lautet wie er an gleicher Stelle unterstreicht: »Have the courage to decide for yourself who you are!« Letztlich bedient Gaba sich überall. Er entwirft ein mobiles Museum wie Duchamp, wobei er das Museum selbst zum Kunstgegenstand erhebt und es somit fiktionalisiert. Dafür greift er das Verfremdungsverfahren Broodthaers’ auf, um zudem den virtuellen Charakter seines Museums durch die Präsentation im Internet zu unterstreichen. Gaba konzipiert sein Museum so, dass es gleichzeitig durch und gegen europäische und eurozentristische Kanonisierungsleistungen seine Form erhält. Auf diesem Wege nimmt Gaba auch eine Traditionslinie auf, die sich bereits im Kulturschaffen von afrikanischen Befreiungsbewegungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat.9 Gaba spinnt diesen Faden aber auch weiter. Seinem Museum liegt – u.a. durch avantgardistisch inspirierte, künstlerische Verfahren – ein narratives Muster zu Grunde, in dem sich auch traditionell anmutende, afrikanische Elemente finden lassen. Es ist eine Mischung aus unterschiedlichsten kunst- und kulturgeschichtlichen Traditionen, die ursprünglich einander ausschlossen, die er aber in seinem Museum zusammenbringt. Ein exemplarischer Blick in die Museums-Bibliothek mag zur Konkretisierung dieser Gedankengänge dienen und vielleicht auch beispielhaft erläutern, welche Arten von Verfremdungsmustern in allen zwölf Abteilungen von Gabas Museum zum Tragen kommen. 9 | Eine sehr gute Quelle für diesen Themenkomplex ist der Katalog The Short Century. Independence an Liberartion Movements in Africa 1945–1994, der zur gleichnamigen Ausstellung herausgegeben wurde, die 2001 u.a. in Berlin zu sehen war (vgl. Enwezor 2001).

in Anspruch nehmen kann. & Videofilme von irgendwelchen Demonstrationen in der Galerie zeigt. Oder

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Gabas Bibliothek ist, wie das ganze Museum, ein interaktiver Raum, der – auch kraft ästhetischer Praxis – zur Informationsbeschaffung dienen kann. Die dort versammelten Bücher, die immer auf irgendeine Weise Afrika zum Thema haben, sind zugänglich und können benutzt werden. Sie wurden nicht gezielt angeschafft, sondern sind Spenden von diversen, ebenfalls mit Afrika befassten Institutionen. Das Ziel ist es, diese Bücher irgendwann tatsächlich einer Bibliothek in Afrika zur Verfügung zu stellen (Gaba 2001: 177). Zudem ist Gaba selbst Herausgeber eines Buches mit Essays über sein Museum mit dem Titel Museum Of Contemporary African Art, Vol. 1. So gesehen ist die Bibliothek, wie das Museum an sich, nicht abgeschlossen. Unterstrichen wird das durch ausgestellte Computer, dem Sprung vom gedruckten zum digitalen Medium. Dass Gaba hierin einen dynamischen Prozess sieht, verdeutlicht er ästhetisch dadurch, dass seine Computer auf Fahrrädern installiert sind. Doch neben dieser ästhetisch evozierten Erkenntnis kann anhand der Computer auch einfach Recherche betrieben werden. Die Rechner sind voll einsatzfähig. Gaba wirft auch einen Blick zurück, indem er einen Sarg zwischen den Büchern platziert, mit dem Kopf hörer verbunden sind. Dieser Blick zurück mag ein wenig melancholisch sein, kitschig ist er keineswegs, eher zynisch. Es ist ein bekanntes, in Afrika zirkulierendes Sprichwort, dass, wenn ein Mensch stürbe, eine ganze Bibliothek stürbe. Und genau dieses Sprichwort ist auch aus dem Sarg heraus zu hören, neben einigen biographischen Angaben über Gaba selbst, die scheinbar sein Vater auf Band gesprochen hat.10 Der Sarg ist eine eingängige Vergegenwärtigung der vergangenen, oftmals zerstörten, oralen Tradition afrikanischer Literatur und Kultur, deren vitaler, ephemerer Charakter im Museum nicht fixiert werden kann, aber an die spannungsreich erinnert werden kann. Die ganze Bibliothek vermittelt den Eindruck eines Kontinentes im Übergang, dem sich auf viele Arten genähert werden kann, ohne immer nur einfache Gegenüberstellungen von Tradition und Moderne zu bemühen. Was sich aus der Kombination all dieser ästhetischen Verfahren – in der Bibliothek und in Gabas Museum insgesamt – ergibt, ist ein hoch artifizielles, narratives Beziehungsgeflecht verschiedenster Afrika-Konstruktionen. Unterschiedlichste Formen künstlerischer und kultureller Repräsentation sowie dahinterstehende Überlieferungsmechanismen werden miteinander konfrontiert. Nicht zuletzt durch 10 | Der Kopf hörer-Text ist als Soundfile der Internetpräsenz von Gabas Museum abruf bar, sobald der virtuelle Museumsraum Library betreten wird (vgl. www.museumofcontemporaryafricanart.com).

so etwas. So kommen wir anscheinend nicht von der Stelle. Welche Hilfe können Künstler sein, wenn

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diese ästhetisch evozierte Irritation und Uneindeutigkeit unterwandert Gaba aus postkolonialer Perspektive eurozentristische Sichtweisen auf Afrika. Das feststehende Museum ist eine Fiktion, wie auch ein eurozentristisch festgeschriebener Blick auf Afrika. Er wird durchbrochen, indem er durch einen einfache kulturelle Zuschreibungen überwindenden Rückgriff auf europäische und afrikanische Kulturtraditionen subversiv unterlaufen wird. Was Gaba betreibt, ließe sich mit Homi Bhabha vielleicht als »kulturelle Grenz-Arbeit« bezeichnen (Bhabha 2000: 10): Eine solche vermittelt sich kraft »eines aufrührerischen Aktes kultureller Übersetzung« (Bhabha 2000: 10), der kanonische Zuschreibungen unterläuft – zum Beispiel jene Illusion, dass sich immer scharfe, kulturelle Grenzziehungen finden lassen können, wie sie der Kolonialismus diskursiv praktiziert hat (Bhabha 2000: 99ff.). Und so wird – durch die künstlerische Verbindung postkolonialer und avantgardistischer Strategien subversiver Entkanonisierung – das Museum Of Contemporary African Art zu einem Ort, an dem Gaba jenseits bipolarer kultureller Fremd- und Selbstzuschreibungen operiert und auf diesem Wege einen beweglichen, polyphonen Kanon projiziert, der ein vielschichtigeres Bild von afrikanischer Kunst und auch Afrika an sich liefert, als sonst oftmals medial vermittelt wird.

Da capo: Avantgarde? Subversiv? Postkolonial? Meschac Gaba ließe sich vielleicht einer neuartigen ›Avantgarde‹ zuordnen, der in der internationalen Kunstkritik der letzten Jahre einige Aufmerksamkeit zuteil wurde. Skizziert wurde vielfach das Bild eines neuen Typus von Kunstschaffenden, die Wandelnde zwischen den Kulturen seien. Dieser Gedanke dürfte auch den weltweiten kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen geschuldet sein, die unter dem Schlagwort ›Globalisierung‹ zusammengefasst werden. Und es stimmt ja: In vielerlei Hinsicht unterminiert die ›Globalisierung‹ permanent sowie weltweit den jeweils lokal vorfindbaren kulturellen Kanon. Vor diesem Hintergrund wurden die eben jenem Avantgarde-Konzept zugeordneten Kunstschaffenden als global agierende, kulturelle Seismographen einer entstehenden Weltgesellschaft charakterisiert. Sie seien idealiter lokalen Normen entbunden, jeder Art von kulturellen Einflüssen gegenüber offen und – wenn nun auch die postkoloniale Perspektive einbezogen werden soll – prinzipiell kulturell gegen den Strich Agierende, die manchen Kanon zumindest vibrieren machten (vgl. Sheps/Dziewior/Thienemann 2000).

schon die Unterdrückten nichts zustandebringen? Denen sie eine Stimme geben wollen. Oder so ein Quatsch.

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›Kulturelle Grenz-Arbeit‹ im Sinne Bhabhas erhielte somit eine ziemlich positive Konnotation. Und der Gedanke ist durchaus reizvoll. Er ist vielleicht auch nicht unbegründet – schon deshalb, weil die Arbeiten dieser Kulturschaffenden Kunst nicht mehr als Reflexionsmedium kultureller Selbstvergewisserung, sondern, ganz im Gegenteil, als Reflexionsmedium kultureller oder besser: interkultureller Irritation erscheinen lassen würden. Sie würden kanonisierte Kulturtraditionen, sozusagen in avantgardistischer Manier, selbstbewusst und produktiv, künstlerisch unterlaufen. Dieses Bild ließe sich durchaus auf Gaba und andere afrikanische Kulturschaffende der Gegenwart projizieren.11 Dass eine dergestalt zwischen den Kulturen oszillierende Kunstproduktion nicht nur positiv konnotiert ist, sondern auch prekär sein kann, hat Simon Njami im Rückblick auf die kulturellen Umwälzungen, die afrikanische Kulturtraditionen erfahren haben, prägnant herausgestellt: »African artists have no choice but to accept the fact that in one way or another they will always be foreigners.« (Njami 2005: 55) ›Kulturelle Grenz-Arbeit‹ wäre in diesem Sinne also nicht nur ein selbstbewusster Eklektizismus, sondern Resultat einer ambivalenten Existenz zwischen allen Stühlen. Neben dieser Ambivalenz trifft der Denkansatz eines frei schwebenden und produktiven kulturellen Eklektizismus auch empirisch auf Grenzen. Der Kultursoziologe Ulf Wuggenig hat den realen Einfluss von Kunstschaffenden, die nicht der ›westlichen Kultursphäre‹ zuzurechnen sind, im westlichen Kulturbetrieb untersucht. Ein Ergebnis war, »dass der summierte Anteil aller nicht aus dem Nordwesten stammenden Künstler/-innen auch in den Jahren 2000 und 2001, dem Gipfel der Kurve, sich lediglich auf 10 % beläuft. Damit wurden die in den frühen 1970er Jahren bereits erreichten Anteile nur um 2 % überboten« (Wuggenig 2003: 61). Gerade diese Ambivalenzen machen es lohnenswert, sich mit den Arbeiten von Kunstschaffenden wie Meschac Gaba auseinander zu setzen. Gaba versteht es, mit seinem Museum den Blick unter die schillernde Oberfläche der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse zu lenken – konkret unter die Oberfläche dessen, als was Afrika und afrikanische Kunst gern vermarktet wird. Auf diesem Wege legt er künstlerisch durchaus subversiv den Finger in eine Wunde. Und er bohrt tief genug, um zumindest zu irritieren.

11 | Einen guten Überblick über afrikanische Gegenwartskunst bietet der Katalog Africa Remix der gleichnamigen Ausstellung, die in den Jahren 2004 und 2005 u.a. in Düsseldorf und Paris zu sehen war (vgl. Njami 2005).

Oder was weiß ich. Das ist eine Lüge. Fast alles ist eine Lüge. Ich lese das in dem Buch, das ich in Köln

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Literatur Bender, Wolfgang (1980): »Kunst und Kolonialismus in Nigeria«. In: Ulli Beier (Hg.), Neue Kunst in Afrika. Das Buch zur Ausstellung im Mittelrheinischen Landesmuseum Mainz, Berlin: Reimer, S. 11–23. Bernard-Griffiths, Simone/Chemin, Marie-Claude/Ehrard, Jean (Hg.) (1992): Révolution francaise et ›vandalisme révolutionnaire‹, Paris: Universitas. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg. Broodthaers, Marcel (2001): »Musée d’Art Moderne. Département des Aigles«. In: Christian Kravagna (Hg.), Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln: König, S. 42. Bürger, Peter (1974): Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Diederichsen, Diedrich (1993): »Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz«. In: Diedrich Diederichsen, Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock`n`Roll 1990–93, Köln: Kiepenheuer und Witsch, S. 33–52. Enwezor, Okwui (Hg.) (2001): The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945–1994, München u.a.: Prestel. Fanon, Frantz (1970): Toward the African Revolution, Middlesex: Penguin Books. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve. Gaba, Meschac (Hg.) (2001): Museum of Contemporary African Art. Library Of The Museum, Vol. 1, Amsterdam: Artimo. Gamboni, Dario (1998): Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert, Köln: DuMont. Gerbod, Paul (1992): »Vandalisme et anti-vandalisme du pouvoir politique de 1789 à 1795«. In: Simone Bernard-Griffiths/Marie-Claude Chemin/Jean Ehrard (Hg.), Révolution francaise et ›vandalisme révolutionnaire‹, Paris: Universitas, S. 293–298. Ghomsi, Emmanuel/Tagne, René (2000): Bandjoun à l’heure de la mondialisation, Yaoundé: Africa Multi Media. Goldwater, Marge/Compton, Michael (1989): Marcel Broodthaers, Minneapolis: Walker Art Center. Grimminger, Rolf (2000): »Avantgarde, Anarchismus und die Ordnungen der Institution. Konfliktkulturen um die Jahrhundertwende«. In: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta: Rodopi, S. 417–447. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986a): Werke 12. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

geschenkt bekommen habe: Der einzige Weg der Heilung ist derjenige der Gegenwelt. &: Das einzige Er-

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986b): Werke 13. Vorlesungen über die Ästhetik, Band I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hofmann, Werner (Hg.) (1983): Luther und die Folgen für die Kunst, München: Prestel. Judovitz, Dalia (2005): »Duchamp’s ›Luggage Physics‹. Art on the Move«. Unter: www3.iath.virginia.edu/pmc/current.issue/16.1judovitz.html (letzter Zugriff am 22. 04. 2006). Kravagna, Christian (Hg.) (2001): Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln: König. Maier, Hans/Schmitt, Eberhard (Hg.) (1988): Wie eine Revolution entsteht: die Französische Revolution als Kommunikationsereignis, Paderborn: Schöningh. Mauriès, Patrick (2002): Das Kuriositätenkabinett, Köln: DuMont. Njami, Simon (Hg.) (2005): Africa Remix. Contemporary Art of a Continent, London: Hatje Cantz Publishers. Rohde, Eckart (1990): Chefferie Bamiléké. Traditionelle Herrschaft und Kolonialsystem, Münster: Lit. Sheps, Marc/Dziewior, Ylmaz/Thienemann, Barbara (Hg.) (2000): Kunstwelten im Dialog. Von Gaugin zur globalen Gegenwart, Köln: DuMont. Voltaire (1970): Kritische und satirische Schriften, München: Winkler. Weissberg, Liliane (1996): »Zur Ausstellung des Fremden. Literaturkritik als cultural studies«. In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft?, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 499–531. Wuggenig, Ulf (2003). »Das Empire, der Nordwesten und der Rest der Welt. Die internationale zeitgenössische Kunst im Zeitalter der Globalisierung«. In: Gerald Raunig (Hg.), Transversal. Kunst und Globalisierungskritik, Wien: Turia + Kant, S. 53–67.

eignis, auf das wir immer noch warten, ist die Errichtung oder genauer: die revolutionäre Erhebung einer

Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker. Zur Aneignung avantgardistischer Praktiken in ehemaligen sozialistischen Ländern seit 1989 Anna Schober

»Denn weil die Fische so verschieden sind, müssen auch die Lockmittel zahlreich und mannigfach sein.« (Titus Clemens von Alexandria 1936: 8)

Am Beginn der Recherche zu diesem Text 1 stand keine These, sondern ein Bündel von Fragen, die alle um zeitgenössische Nutzungen der Avant-Garde-Tradition sowie um deren Neubewertung und Transformation kreisten. Diese Fragen führten mich auf mehrere Recherche-Reisen in verschiedenste Länder des ehemaligen Ostblocks, sowie zu Begegnungen mit dort arbeitenden Künstlern und Künstlerinnen (vor allem aus Serbien, Moldawien und Sibirien), die zunächst präsentiert und in Beziehungen zu einem weiteren Netz an Fragestellungen und Konzepten gesetzt werden. Erst in einer Art Nachtrag, am Ende des Textes, werden dann allgemeine Thesen und übergreifende Konzepte extrahiert. Der Text transportiert demnach nicht als gleichsam neutraler ›Träger‹ Beispiele sowie inhaltliche Einschätzungen, Thesen und Konzepte, sondern vermittelt diese auch durch die Form, in der er operiert. 1 | Eine erste, umfangreichere Fassung dieses Textes auf Englisch ist erschienen als: Schober 2005. Er entstand im Rahmen des Forschungsprojektes Ästhetische Tricks als Mittel politischer Emanzipation, das (2003–2006) vom FWF. Austrian Science Fund gefördert worden ist. Eine Monografie mit dem Titel Verführen durch Dekomponieren. Das politische Potenzial ästhetischer Tricks erscheint 2008.

mächtigen Organisation. (Was da so nun zum Stehen kommt, will eben genau so Teil dieses Textes sein.)

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Seit Beginn der 1990er Jahre ist in den diversen, sich zum Teil überlagernden, zum Teil aber auch strikter als bisher abschottenden öffentlichen Räumen ehemaliger sozialistischer Länder eine Vielzahl an neuen ›Bilderkörperpressen‹ 2 aufgestellt worden. MTV war mit der ›Wende‹ sofort massiv in Cafés, Kiosken, Wartesälen, Aufenthaltsräumen und Restaurants präsent, erhielt bald aber Gesellschaft von anderen Programmen wie Fashion-TV und Eurosport. Zugleich sind mit dem Zugänglich-Werden von Kabelfernsehen MTV und FashionTV rasant in die privaten Haushalte vorgedrungen. Darüber hinaus greifen nun auch viele andere neue Bilder-Werkzeuge auf die Körper zu. So ist in den Jahren der Reform in der Sowjetunion nach 1986 (›Perestroika‹ und ›Glasnost‹) und seit den ›samtenen Revolutionen‹ 1989 in anderen osteuropäischen Ländern das Plakat als Medium der Meinungsbeeinflussung massiv wiederentdeckt worden – und zwar sowohl von Reformern innerhalb der kommunistischen Parteien als auch von politischen Gruppierungen außerhalb dieser. Denn Plakate waren relativ günstig und einfach, d.h., ohne die Mobilisierung eines größeren bürokratischen Apparats im Stadtraum zu platzieren und zudem waren die anderen öffentlichen Medienkanäle wie Fernsehen und Radio durch ihre langjährige Unterstützung der Regimes diskreditiert (Andjelković Chalovska 1998: 31f.). Zu diesen politisch motivierten Nutzungen gesellte sich ein massiver ökonomischer Gebrauch des Mediums als Werbeträger des sich ausbreitenden Konsumismus. In beiden Fällen übernahmen die Plakate eine pädagogische Funktion: Das eine Mal wurden den Menschen Konzepte einer ›Zivilgesellschaft‹ nahe gebracht, das andere Mal elementare Bestandteile des Konsums. Heute verdecken, wie in westlichen Ländern auch, riesige, mit Blicken, Körperteilen und Dingen spielende Werbebilder ganze Hausfassaden 2 | Der Begriff ›Body Press‹ wurde vom Künstler Dan Graham in einer gleichnamigen Arbeit (1972–1975) in engen Zusammenhang mit Prozessen des – aneinander gekoppelten – Produzierens von Körperwahrnehmungen und -repräsentationen gesetzt. Jean-Luc Nancy nahm diese Metapher in seine Auseinandersetzung mit dem Körper, nicht verstanden als ein ›Objekt‹, sondern als Existenzstätte und unendliche Ausdehnung, auf, wobei er das Augenmerk darauf legt, dass die verschiedenen Körper, mit denen wir tagtäglich umgehen (die der anderen, wie unser eigener, sich entziehender oder unsere imaginierten Körper) durch Bildmedien genauso geprägt und zugerichtet werden wie durch andere, alltägliche Werkzeuge und Trainingstechniken. Dazu: Nancy 2003, 38. Zum Zusammenspiel von wahrgenommenem, imaginiertem und demonstrativem Körper sowie zur Rolle, die dabei von den Medien eingenommen wird, siehe auch: Schober 2001: 36ff.

Wenn es aber brennt, dann tausche mit deinen Mitgefangenen Namen & Adressen aus. Dann solltest du

Anna Schober Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker

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in den Innenstädten oder säumen die großen Ausfahrtsstraßen und werben dabei für so Unterschiedliches wie Mobiltelefone, Banken, Turnschuhe oder Nivea-Creme. Abb. 1: Novosibirsk, Winter 2003

© Anna Schober

An dem heftigen, in den Zentren und Durchfahrtsorten ehemaliger sozialistischer Länder zu beobachtenden Konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Vorbeiziehenden, nehmen neben diesen Bildplakaten auch die Leuchtreklame, eine neue erzählerische Innen- und Außengestaltung von Architektur, ein Untermalen von Shopping-Arealen mit Musik sowie die vielen neu gestalteten Geschäfte teil, in denen die beworbenen Güter jetzt greif bar nahe gerückt werden. Die Bilder, Bauten und Musikstücke wecken Gefühle, Wünsche, Fantasien, Tagträumereien und Abwehrhaltungen, die dann durch ein Betreten der Geschäfte realisiert werden können. Für ein Sich-Neu-Zusammensetzen und Sich-Abgeben an Objekte und Stile stehen nun eine Vielzahl von Shops zur Verfügung, die Namen wie Miss Sixty, Replay, Nike, Esprit, Luis Vuitton oder Eurostyle tragen. Dennoch ist in Belgrad, Moskau, Novosibirsk oder Chisinau die Durchdringung des öffentlichen und privaten Raumes mit den neuartigen Bild- und Soundwelten nicht ganz so homogen und umfassend wie in Städten der westlichen Welt. Die in Hochglanz aufgezogenen, kompakten Szenen überlagern sich mit den Outfits der Städte aus sozialistischer Zeit. Hier und da blitzen an einer Fassade riesige Wandmalereien auf, die von lokalen Künstlern gestaltet wurden und einem anderen ästhetischen Sprechen verpflichtet sind. In Belgrad können wir heute immer noch mancherorts auf abstrakte oder halb-abstrakte

wissen: Gegenüber der Polizei bist du nur verpflichtet, Angaben zu deiner Person zu machen, & das sind

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Malereien, geometrische Kompositionen in ehemals kräftigen Farben oder floral-organische Gebilde treffen (Abbildung 2); in Moskau dagegen auf mit Schablonen auf Wänden angebrachte Werbebilder, die auf die Süßigkeiten oder Waschmittel der Planwirtschaft aufmerksam zu machen hatten. Im Unterschied zu den riesigen Plakaten, die heute vom Zentrum bis zur Peripherie in relativ gleichmäßiger Dichte eingeblendet werden, sind diese Relikte von Straßenbildern einer anderen Zeit ausnahmslos an den großen Einkaufsstraßen im Zentrum sowie an ausgewählten Verkehrsknotenpunkten platziert. Heute sind sie ausgeblichen, abgeblättert und kommen manchmal auch einfach nur deshalb zum Vorschein, weil sich vor ihnen eine Baulücke auftut, in der wohl bald ein neues Gebäude vor dem alten Bilderwerk hochgezogen werden wird. Abb. 2: Fassaden aus real-sozialistischer Zeit, Belgrad 2004

© Anna Schober

Zu diesem Nebeneinander der Bilder gesellt sich eine neue Schichtung von Architekturen. Vor und neben die Gebäudekomplexe aus realsozialistischer Zeit wurden vielfach größere und kleine Bauwerke gesetzt, die in Serbien unter dem Überbegriff ›nicht-bürokratische Architektur‹ (Prodanović 2001: 106f.) gefasst worden sind und die sowohl aus Einzelgeschäften und kleineren Shopping- und Bürozentren in postmoderner Säulenarchitektur mit klassizistischen Giebeln besteht, als auch aus Kiosken, Pizzaständen, kleinen Cafés oder fantasievoll gestalteten Verkaufsbuden für Waren aller Art. Dazu gesellen sich oft überraschende Veränderungen im Verhältnis von Außen- und Innenleben der Bauten. Auch hier zeigt sich eine neue Doppelbödigkeit:

ausschließlich Name, Meldeadresse, Beruf, Geburtsdatum & -ort, Familienstand sowie Staatsangehörigkeit.

Anna Schober Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker

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Eine Schule, eine Bibliothek oder ein Kulturzentrum vermitteln vom äußeren Erscheinungsbild her noch die Ordnung des alten Systems, innen können jedoch oft ganz andere, unvorhersehbare Praktiken aufgefunden werden: Psychoanalytische Ausbildungsprogramme, Probeaktivitäten und Präsentationen von Performance-Kunst, Workshops für visuelle Kultur oder Marketing. Diese ›doppelten‹ Gebäudestrukturen werden so zu temporären Existenzstätten für mehrgleisige, wiederholt zerbrochene und wieder neu zusammengesetzte Leben. Weitere Parallelsysteme entstehen durch das enge Nebeneinander von teuren Markengeschäften mit solchen, die Billigstwaren führen, von Luxusrestaurants und niedrig-preisigen Eckkneipen, von einem langsamen Arbeitsrhythmus in den eingesessenen Institutionen und einem hektischen, stark beschleunigten in den neu gegründeten Firmen. Und bis vor kurzem wurden sowohl die Feste aus sozialistischer Zeit gefeiert, als auch die neuen nationalen, ethnischen und religiösen. Künstlerinnen und Künstler, Performancegruppen und Designkollektive durchstöbern die aktuell entstehenden Bilder-, Sound-, Tast- und Geschmackslandschaften nach neuen, den geänderten Verhältnissen adäquaten Formen und ästhetischen Taktiken. Sie lassen sich von den neuen ›Bildfahrzeugen‹3 und den dort präsenten Images provozieren und inspirieren, nehmen manches auf und lehnen anderes ab, sie wandeln ab und suchen vor allem auch die bislang verdrängten oder zumindest zurückgedrängten Traditionen nach Möglichkeiten des Sprechens ab. Mit ihren Aktionen und Produktionen bringen sie Körper in neuer, verfremdender Weise auf die Bühne der Stadt, um der allgemeinen Umformung der Gemeinschaft ganz spezifische Richtungen geben und die üblichen Optionen bestreiten zu können.

Montieren und Identifizieren Die serbische Fotografin Aleksandrija Ajduković verfolgt mit ihrer Kamera die Tiger-Werdung von Frauen – sie setzt Tiger-Ladies ins Bild (Abbildung 3). Ihre Fotos zeigen Hüftporträts von Mädchen und Frauen unterschiedlichen Alters vor Plakatwänden und Hausfassaden platziert, die sich in Kleidungsstücken im Wildkatzenmuster präsen3 | Bilder können insofern auch als ›Fahrzeuge‹ bezeichnet werden, als sie das Potenzial haben, uns in Bewegung zu versetzen und in ein, bislang unbekanntes ›Anderswo‹ zu transferieren – was wir dann gewöhnlich mit einer Anpassung an dieses Anderswo, d.h. in eine neue Form der Selbstdarstellung übersetzen.

& sonst nichts! Keinen Ton mehr! […] Unterbrechungen & Schweigepausen. Entstehen. Löcher im Text.

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tieren. Die auf der Straße beim Einkaufen, auf dem Weg zur Arbeit oder einfach beim Spazieren Angesprochenen zeigen Gekauftes oder Selbstgeschneidertes überlegt kombiniert. Sie posieren als Katzen, Jägerinnen, Königinnen, wilde Gespielinnen, sanfte Schmusewesen, herausfordernd, verpackt, geschmückt, nicht-dezent, kokett Hautübergänge schaffend, das Wilde verdeckend, aber fast immer mit dazu geschminkten, betonten, offensiv blickenden Augen. Meist ist es nur der Oberkörper, der in ein Wildkatzenoutfit gehüllt ist: Entweder in ein mehr oder weniger eng anliegendes T-Shirt, eine legere Bluse, eine Kuscheljacke, eine ärmellose Weste; manchmal ist es aber auch nur eine Haube im Tiger-Look oder ein Mantel, die ein Auftreten krönen. Nur ältere Damen ab ca. 60 zeigen sich in lange Leoparden-Look-Kleider gehüllt, die den ganzen Körper wie eine Schale umschließen. Die stets etwas anders und dennoch ähnlich gewandeten Körper sind auf diesen Fotos momenthaft in ihrer immer anderen, neuen Ankunft in der Gegenwart fixiert. Dabei sind die Körper über das Außen auch durch ein Innen verbunden. Sie stammen von Ereignissen ab, mit denen sie gewisse Äußerlichkeiten in das Innere hineingenommen und zugleich im Inneren angesiedelte gemeinsame Wünsche, Abwehrhaltungen, Begehrlichkeiten und Träume veräußerlicht haben. Abb. 3: Aleksandrija Ajduković Tigrice/Tiger Ladies 2000–2002

© Aleksandrija Ajdukovi´c

Leerstellen. Suche nach Worten. Leere, Müdigkeit & Verzweiflung. Mit geschlossenen Augen vor dem

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Auf den Fotos werden diese auch sexuell neu bedeuteten Körper aus der Menge der Passantinnen herausgehoben – sie erscheinen manchmal mit geballter Faust und oft mit in die Hüfte gestemmten Händen. Als Serie dokumentieren sie eine poetische Bewegung, die das Stadtgewebe durchfließt und sich, an manchen Punkten, mit MTV, Fashion-TV und den Tigern von manchen Warlords4 visuell verschränkt. Tiger-Ladies gibt es nicht nur in Belgrad, Moskau oder Chisinau, sondern auch in Wien, Amsterdam oder Paris. Aber während in den Städten der westlichen Welt solche Stile der Selbstdarstellung zum Beispiel bis zum Exotismus der 1920er Jahre zurückverfolgt werden können, markieren sie in den ehemaligen sozialistischen Ländern einen Bruch: Diejenigen, die ›vorher‹ in mehr oder weniger uniforme Kleider gehüllt zu sein hatten, zeigten nach der Wende ein gesteigertes Verlangen, ihre Körper exzessiv mit jenen Zeichen des Wohlstandes und der Sexualität zu beladen, die in der Zeit des Sozialismus abschätzig als Hinweise auf ein dekadentes, kapitalistisches Ausbeutungssystem gelesen worden waren (Drakulić 1991: 35). Unter Anwendung der ästhetischen Technik der Montage identifiziert Aleksandrija Ajduković solche fantasmopoetischen ›Trashprozesse‹5 der Straße, die heute fast weltweit in ähnlicher Form auftreten, die aber nichtsdestotrotz hier, in ihrer Umgebung, ganz spezifische Bedeutungen und Erinnerungen wecken. 4 | Die von Zeljko Raznjatović (besser bekannt als ›Arkan‹, verheiratet mit der populären Turbofolk-Sängerin Ceca) geführten paramilitärischen Einheiten wurden ›Tigers‹ genannt. Die ›Tigers‹ gingen aus der militanten Anhängerschaft des Fußballvereins Roter Stern Belgrad, dessen Boss Arkan war, ab etwa 1990/1992 hervor. Ceca ist bekannt dafür, in der Öffentlichkeit mit im Tiger-Look eingefärbten Kontaktlinsen aufzutreten. 5 | Jacques Derrida bezieht sich mit dem Begriff ›fantasmopoetische Prozesse‹ auf einen solchen Diskurs des Fetischs, d.h. der erhöhenden Aufladung von Dingen, der in Analogie zur religiösen Welt steht. Damit weist er darauf hin, dass das sich in der Moderne herausbildende Sehen im 19. Jahrhundert beginnt, eine Form des Glaubens zu beinhalten, die sich nicht mehr auf einen Gott außerhalb der Welt bezieht, sondern auf die greif baren Dinge in der Welt. Etwas hat nun sichtbar, zeigbar und im Licht des Tages angesiedelt zu sein, um die Gläubigen in Bewegung versetzen zu können, d.h. um zu motivieren und enthusiastisch zu stimmen. Siehe: Derrida 1995: 249f. ›Trash-Prozesse‹ nimmt am umgangssprachlichen, aus dem Englischen kommenden, mittlerweile auch im Deutschen gebräuchliche Begriff ›Trash‹ Anleihe, was soviel wie ›Plunder‹, ›billige Massenware‹ bedeutet – womit betont wird, dass Momente des Glaubens und Bewegt-Werdens auch von völlig unscheinbaren oder gewöhnlich abgewerteten Dingen ausgehen können.

Ausmaß des Desasters. […] Wenn es aber brennt. Wenn auch nur die geringste Chance besteht, in dieser

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Da hier weibliche Körper versammelt und zusammengebracht werden, lässt Ajduković eine geschlechtlich konnotierte Gemeinschaft von Körpern entstehen, einen Weiber-Clan aus Königinnen, Jägerinnen, aggressiven, angreifenden, weichen, fauchenden, sich darbietenden, sich entziehenden Geschlechtswesen, die sich gegenseitig stützen, die miteinander repräsentieren, aber dennoch auch in sicherer Distanz voneinander bleiben. Auf diese Weise bilden sie einen, wenn auch zerstreuten Kollektivkörper und eine Art Gegengewicht zu den neuartigen Männerclans, die in diesem Environment ebenfalls Raum greifen. Dabei verlieren sich die Tiger-Ladies im Belgrad der 1990er Jahre sowohl zwischen den Trägern und Trägerinnen der billigen Diesel-Culture-Kleider-Imitate aus der Türkei als auch zwischen den Angehörigen einer neureichen Business-Klasse, den Dizelaši, die in teuren Diesel-Originalen als Stars auftreten. Sie bewegen sich zwischen den Sportiven, den Ladies, den Alternativen, den Punks, den Miss-Sixty-Nachbauten und den dezent gekleideten Angehörigen der älteren Generation. Die so erneut, wenn auch in anderer Ausformung entstehenden ›Schichten‹ sind durch Bildwelten, Popmusik, Videos, Illustrierte und die dort heraustretenden Körper verbunden, sie vermengen sich und bleiben dennoch differenziert.

Parodieren Die moldawische Künstlerin Lucia Macari sucht die Antwort auf die mit der Wende auch in ihrer Umgebung massiv neu aufgestellten, aus Bildern gebauten ›Körperpressen‹ im privaten, fast schon intimen Raum. Zentrales Element dieser Antwort ist eine Kollektion kleiner, sorgfältig und aufwendig gearbeiteter Modeartikel, die Macari für einen bislang in der Modeindustrie stiefmütterlich behandelten Körperteil, den männlichen Penis, geschneidert hat. Einen Teil dieser Kollektion nähte sie beispielsweise aus feinem, transparentem, schwarzem Netzstoff und bestückte ihn dann mit Anthrazit-farbenen und rosa Perlen, einem silbernen, mit Strass verzierten Anhänger und einer kleinen goldenen Masche. Solche ›großen Roben für den Abend‹ (Abbildung 4) stehen neben Kleidungsstücken, die eher dem Casual-Look verpflichtet sind: etwa ein aus elastischem, beigem T-Shirt-Stoff gefertigtes Alltagsoutfit, das – ähnlich wie Hüftgürtel und Strümpfe – mit Bändern und weißen Plastikhaltern am Penisansatz befestigt wird. In einem Fotoshooting inszenierte Lucia Macari diese Kollektion mit einem Modell. Der Penis wurde in Form gebracht, die Körperhaare rasiert und frisiert, verschiedene Posen ausprobiert und die einzelnen Kollektionsteile in

entsetzlichen Situation einzugreifen. Wenn selbst sehr kluge & politisierte Menschen nicht verstehen,

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diversen Varianten im Stil von Hochglanzmagazinen ins Bild gesetzt. Das Ergebnis, eine Serie von Penismode-Fotos, veröffentlichte Macari unter dem Titel High Fashion, was im lokalen Kontext des State Institute of Art of Moldowa in Chisinau zum Eklat führte. Abb. 4: Lucia Macari Große Abendrobe, High Fashion 1998

© Lucia Macari

Herausgefordert zu dieser Unterwäschekollektion der anderen Art wurde Macari von den Tausenden, nun auch aus den neuen moldawischen Privatfernsehsendern, den Magazinen, den Fashion-TV- und MTV-Programmen auf die Betrachterinnen und Betrachter zu schreitenden, viel nackte Haut, wehende Haare, wiegende Schritte und Drehungen zeigenden Körpern. Die neuen Medienkanäle in Moldawien stellten – ähnlich wie jene in Serbien und Russland – seit 1989 ebenfalls den neu entdeckten sexualisierten, geschlechtlich offensiv bezeichneten Körper zur Schau. Auch hier fanden die Inszenierungen in den Medien ein Pendant in den neuen Glamour-Outfits der Straße, der Diskotheken, Nachtclubs und privaten Parties der Krisenzeit. Die Körper wurden in diesem Kontext zu Statt-Haltern eines neuen, mit Geschlechtlichkeit verknüpften Sinns. Durch den simplen Eingriff des Austauschens des weiblichen Geschlechts mit dem männlichen holte Macari aus diesen ›Sinn-Körpern‹ einen neuen, anderen, zwiespälti-

was los ist. Der Kunsttheoretiker beklagt den Mangel an Ambivalenzen, die Fetischisierung aktivistischer

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gen Sinn heraus. Denn zum einen stellte sie das Obszöne 7 an dieser Geschlechtlichkeit, Glamour und Nonchalance forcierenden Sinnproduktion in einer von Armut, Krise und gesteigertem Überlebenskampf gekennzeichneten Welt heraus. Die sich an den Oberflächen der Körper sammelnden Zeichen von Reichtum, Luxus, Star-Welt, Sich-Wohlfühlen und Entspannt-Sein wurden verhöhnt und damit als das Scham- und Sittlichkeitsgefühl der Menschen möglicherweise verletzende Zeichen lesbar. Sie wurden so als ›schwere Zeichen‹ entzifferbar, welche die Körper lähmen und am Weitergehen hin zu etwas Anderem hindern. Zum anderen affirmierte High Fashion diese neue Bezeichnungspraxis von Körpern, feierte sie fast schon und dehnte sie auf das andere Geschlecht aus – auf alle Geschlechter – wobei gleichzeitig die Grenzen zwischen den Zeichen der Geschlechter verwischt wurden. Die an femininer Luxus- und Wohlfühlwäsche orientierten Peniskleider stellten sich neben die in den Illustrierten, in Filmen, der Werbung oder am Kosmetikmarkt kursierenden Bilder von sich ausgiebig reinigenden, pflegenden und schmückenden Männern und traten mit diesen Bildern in eine Beziehung gegenseitiger Teilhabe ein. Gesten der Selbstkultur, der Körperkultur, der Mode und gewisser Softpornomagazine wurden auf diese Weise sowohl vor Augen geführt, als auch dis-figuriert. High Fashion ist somit sowohl mit den ›Körperpressen‹ der Medien verbunden, als auch mit den neuen, veränderten Selbstkulturpraktiken der Konsumierenden. Nach 1989, aber vor allem nach den umfassenden ökonomischen Krisen der 1990er Jahre 7 haben in Moldawien, aber auch 6 | ›Obszön‹ ist, so der Kunsthistoriker Peter Gorsen, was das Scham- und Sittlichkeitsempfinden verletzt. ›Pornografisch‹ dagegen ist, was die Sexualität stimuliert. Dennoch sind beide nicht ganz voneinander zu scheiden: es gibt auch eine ›obszöne Pornografie‹ sowie eine ›pornografische Obszönität‹: Gorsen 1972: 33. 7 | Der Höhepunkt der Inflation in Serbien war in etwa 1994 erreicht und betrug 313,563,558.0 %, d.h. es gab eine tägliche Inflationsrate von durchschnittlich 62,02 % und eine stündliche von durchschnittlich 2,03 %. Dazu: Gordy 1999: 171f. In Moldawien, einer Region, die schon in der Zeit der UDSSR kaum industriell entwickelt, sondern vor allem von der Agrarwirtschaft her definiert war, fiel der GDP (gross domestic product) zwischen 1988 und 1994 um 44 %, zugleich stieg der ›poverty headcount‹ zwischen 1987/88 und 1993 von 4 % auf 65 %. Im Vergleich fiel der GDP in Russland im selben Zeitraum um 38 % und der ›poverty headcount‹ stieg von 2 % (1987/88) auf 21 % (1993). Dazu: Milanovic 1996: insbes. 178f. Die Rubelabwertung und das gleichzeitige Versagen des Staates als regelnde Ausgleichsinstanz Mitte 1998 führte dann zu einer weiteren, enormen ökonomischen Krise in Russland, die ihren Höhe-

Gesten. Ja, wenn ich dir in die Fresse schlage, dann kann man schon von einem Mangel an Ambivalenzen

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in Russland und Sibirien veränderte Arbeitsformen und Jobbeschreibungen, ein krisenbedingtes Ausführen unterschiedlichster Arbeiten nebeneinander, transformierte Systeme der Warenbeschaffung, neuartige Bewegungsformen, andere medizinische, sportliche oder hygienische Techniken sowie psychoanalytische, esoterische oder religiöse Prozeduren zu einer massiven Umformung der wahrgenommenen, der imaginierten sowie der demonstrativen Körperwelten beigetragen. So forcierten die neuen nationalistischen und ethnischen Bewegungen, die nach 1989 entstanden, genauso wie die neuen Medienkanäle eine Umdefinition der Körper, bei der die Differenz zwischen den Geschlechtern durch eine Vermehrung der Zeichen der Unterscheidung vergrößert wurde. Die während des Sozialismus so wichtige Differenz zwischen Kapitalisten und Kommunisten wurde in ethnische und religiöse Differenzen transformiert und diese wurden wieder von der Geschlechterdifferenz überlagert (Salecl 1996: 417ff.). In Serbien, Kroatien, aber auch in Moldawien8 verbreitete sich zunehmend eine Unterscheidung zwischen ›nationalen Heroen‹, ›echten‹ Vertretern und Vertreterinnen der eigenen ethnischen Gruppe und ›wirklichen Männern‹ sowie den ›effeminierten‹, ›verweichlichten‹, fast schon ›geschlechtslosen‹ Vertretern des männlichen Geschlechts. Und zugleich waren es nun oft die ›(vermännlichten) Frauen‹, denen zugeschrieben wurde, die eigene Nation oder Ethnie an einer besseren, befreiteren, wohlhabenderen Zukunft zu hindern, indem sie zu sehr dem Sozialismus verhaftet blieben, keine oder nicht genügend Kinder gebaren oder berufstätig bleiben wollten. High Fashion nimmt diese im Gesellschaftskörper zu beobachtende Faszination an geschlechtlich differenzierten Zeichen auf und verarbeitet sie in parodistischer Form, verwirrt sie und verliert und verbindet sich so innerhalb dieser beweglichen neuen Welt der Körper.

Übertreiben und Verfremden Der Körper als Ort neuer Techniken und Praktiken steht auch im Zentrum der Arbeit des sibirischen Künstlers und Designers Alexander punkt etwa 1999 hatte und die Mittelklasse de facto enteignete. Dieser ›Crash‹ hat auch umliegende Ökonomien wie jene von Moldawien schwer belastet. 8 | Zu den Übergangsprozessen seit den späten 1980er Jahren und den interethnischen Konflikten in Moldawien (zwischen der Rumänisch-sprachigen Mehrheit, einer starken Pro-Russischen Massenbewegung sowie Pan-Rumänischen Extremisten), die im transdniestrischen Konflikt zwischen 1990 und 1994 kulminierten: Crowther 1997: 282ff.

sprechen. Wenn das System nicht umgestürzt wird. Wenn die Kellnerin im Heurigenstüberl »Zum Lois«

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Voronzov. Voronzov ist zunächst als Teil von Pandoktrina aufgetreten, einer Künstlergruppe, die seit 1996 ihr Handeln und Beobachten innerhalb kollektiver Transformationsprozesse zu forcieren und zu reflektieren begann. Seit der mit der Hyperinflation einhergehenden Krise im Jahr 1999 ist die Gruppe nur lose in Kontakt geblieben, einige ihrer Mitglieder sind aber weiterhin mit kleinen Performances und dabei entstehenden Fotoserien in der Öffentlichkeit präsent. Abb. 5: Alexander Voronzov Freikörperkultur 2000–2001

© Alexander Voronzov

In Freikörperkultur (2000–2001) 9 zum Beispiel werden die neuen Techniken des Körpers wie unter einem Vergrößerungsglas im Detail beobachtet und durch die Anwendung bestimmter ästhetischer Tricks re-modelliert. Auf diesen Fotos sieht man nackte Menschen (ein Mann und zwei Frauen) spätnachmittags in Mitten einer sommerlichen Fluss9 | Als Titel für diese Serie fungiert der deutschsprachige Begriff ›Freikörperkultur‹, was damit erklärbar ist, dass die DDR als einziges realsozialistisches Land als Mekka für FKK-Praktiken weithin bekannt war und die FKK-Kultur in Deutschland sowohl auf sozialistische als auch faschistische Subkulturen seit der Jahrhundertwende zurückgeführt werden kann.

sagt: »Du hättest dabei sein sollen, wie ich ihn am Samstag rausgeschmissen habe! Da brauche ich den

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Strand-Szenerie (Abbildung 5). Ihre Posen orientieren sich an den spielerischen Körperstellungen, wie sie etwa aus den FKK-Fotoserien der 1920er Jahre oder aus späteren Softporno-Fotokalendern aus der Zeit des Realsozialismus bekannt sind. In diesen Körperszenerien gibt es jedoch Fremdkörper – in allen Performances verwendete und auf allen Fotos sichtbar werdende Utensilien, die eine Nähe zu Kleidung aufweisen, auch wenn ihre ästhetische Form den zentralen Qualitäten von Kleidung sehr fern steht. Große metallene Körperzonen-Verstärker, die um Busen, Münder, Augen, Nasen oder Vaginas geschnallt sind, stören diese Szenerie aus Weichheit, Erotik und Natürlichkeit. Diese Körperzonen-Verstärker nehmen zum Teil bekannte Formen an: Da ist einmal eine riesige Herzform, die den Busen wie ein Panzer umschließt, an der aber auch ›Fenster‹ aufgeklappt werden können, um die nackten Brüste dahinter sichtbar und greif bar zu machen. Dann gibt es auch vergitterte Riesenbrillen mit schnabelartigen Nasenverstärkern, die dem Gesicht einen vogelartigen und der Nase einen phallischen Charakter verleihen. Aber auch metallische Riesenbrustpaare mit vergitterten Durchblicken können um den Kopf geschnallt werden, was, werden diese Teile von einer nackten Frau getragen, zu einer ›Verdoppelung‹ der Brüste führt. In solchen Performances, die Alexander Voronzov in den Jahren 2000 und 2001 wiederholt und an unterschiedlichen Orten durchgeführt und dabei fotografisch und filmisch festgehalten hat, werden bestimmte Techniken des Körpers durch das Einführen verfremdender Elemente übertrieben und überspitzt. Die Zurichtung des Körpers, sein Sich-Einfügen in neue Rollen, Haltungen oder Bilder, die ihn als einen ›befreiten‹ und ›natürlichen‹ bedeuten, wird über die angeschnallten Apparate forciert vorgeführt. Der Einsatz von Körperzonen-Verstärkern ist somit zentrales Mittel dieser verfremdenden 10 Übertreibung. Es werden Scharniere eingesetzt, Vergrößerungen angebracht, spitze Kanten geschaffen. Stellen, an denen die Techniken den Körper berühren, werden markiert. Auf diese Weise kann eine Ahnung von der Besessenheit, mit der solche Körpertrainingsprozesse in unserer Gesellschaft stattfinden, aus den bekannten Szenen herausgetrieben werden (Klossowski 1986: 83f.). Diese Apparate machen damit etwas an den Szenerien erfahrbar und ›sehbar‹, das zwar immer vorhanden 10 | Die ästhetische Form der Verfremdung definiert etwa Bertolt Brecht folgendermaßen: »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.« (Brecht 1970: 117)

Lois nicht dazu.« Alles das gehört zum Gewaltumfeld. Ist alles Gewalt. Was sich abspielt, ist irrational.

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ist, meist jedoch im gewohnten Fluss alter und neuer Stereotypen verschluckt bleibt. Zugleich ist die so herausgetriebene Ahnung von der Besessenheit solcher Prozesse nur eine mögliche Ahnung. Die Bilder verbleiben auch in den stereotypen Schemata, arbeiten mit ihnen und tradieren sie so weiter. Es gibt also auch, im Fall von Freikörperkultur, eine Dichte, ein mehrgleisiges Zeigen. Kunst tritt hier als Lebensform auf und zugleich als Beobachtung von Lebensformen und deren Transformation in einer Zeit sozialen und politischen Umbruchs. Freikörperkultur führt vor, dass ein solcher Umbruch in den Existenzstätten der Körper geschieht und eine veränderte Welt der Körper hervorbringt. Nacktbaden war in den ehemaligen sozialistischen Ländern mit Ausnahme der DDR, wo sie allerdings zur Massenbewegung geworden war, verboten oder nur sehr eingeschränkt wie etwa in den Touristenressorts in Rumänien oder im ehemaligen Jugoslawien erlaubt. In der Sowjetunion war FKK gänzlich untersagt und unter Strafe gestellt – Aufsichtsorgane patrouillierten regelmäßig die als Nacktbadezonen bekannten Strandabschnitte (Schluter 2002: 98ff.). Erst mit Michail Gorbachov, Perestroika und Glasnost konnten sich hier FKK-Kulturen ungestraft verbreiten und verbanden sich dann mit veränderten Hygienegewohnheiten und -produkten, etwa der langsam aufgegriffenen Verwendung von Deodorants, einer transformierten medizinischen Versorgung und einer Neuentdeckung der Privatsphäre im öffentlichen Raum. Die aus der staatlich proklamierten Gleichheit hervorgehende Uniformität wurde schrittweise, wenn auch nicht überall zur gleichen Zeit, zugunsten einer Betonung des ›Individuums‹ und des ›Individuellen‹ aufgegeben (Drakulić 1991: 80f.). Damit waren zugleich die überlieferten Geländer brüchig geworden, anhand derer sich die Körper zusammensetzen und in die Gemeinschaft einfügen konnten. Der oder die Einzelne war diesbezüglich auf sich selbst zurückgeworfen und zudem einer ungewohnten Fülle von neuen Techniken der Körperbearbeitung ausgesetzt. Vorontsov geht mit Arbeiten wie Freikörperkultur offensiv mit den vielen neuen ›Ereignissen‹ des Alltags um, auch, um dem neu entstehenden Gemeinschaftskörper andere Sinnmöglichkeiten zuzuführen.

Tiefstapeln und die Präsenz von Kollektivkörpern Belgrad 2004: Gefundene und erfundene Songs – »Der Kakao wartet auf die Tasse Milch«, »I care for myself … and for the day … and for the whole city«, »Plastika« und Revolutionslieder der 1960er Jahre erklingen aus den Kehlen von Horke Škart, dem Lumpenorchester Škart, das

& das ist auch ein Element dieser Gewaltatmosphäre in der Welt. Obgleich diese Gesellschaft doch um

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nach den erfolgreichen Anti-Milošević-Protesten im Herbst 2000 von der Künstler- und Designergruppe Škart 11 ins Leben gerufen worden ist (Abbildung 6). Dieses Orchester wird von Jugendlichen gebildet, die ein in Zeitungen veröffentlichter Aufruf zusammen getrommelt hat. Beteiligt sind darüber hinaus auch die Musiker der populären Belgrader Rock-Band Jarboli und die Mitglieder von Škart selbst. Horke Škart tritt dabei nicht als Orchester im eigentlichen Sinn auf, sondern begleitet mit kleinen Performances andere Events des öffentlichen Lebens in Belgrad zu Beginn des 21. Jahrhunderts – sie inszenieren etwa ›Anhängsel‹ von Dichterlesungen, politischen Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungseröffnungen, Musikfestivals oder von Auftritten anderer Musiker oder veranstalten selbst Konzerte und Performances. Zudem reist die Gruppe gemeinsam durch die Städte Serbiens, aber auch Kroatiens, Montenegros oder Makedoniens und agiert dabei mit kleinen, spontanen Auftritten in der Tradition von Straßenmusikanten. Während all dieser öffentlichen Ereignisse tragen die Sänger und Sängerinnen alte ausgewaschene T-Shirts und bunte Pyjama-artige Hosen, manchmal sind sie aber einfach durch ihre, an sich meist schon sehr auffällige, da betont ›kreativ‹ zusammengesetzte Alltagskleidung optisch miteinander verbunden. Dann und wann werden diese Auftritte auch durch kleine verfremdende Performance-Elemente unterbrochen: Während eines Liedes heben plötzlich alle gleichzeitig Schilder mit darauf gemalten Schriftzügen hoch oder Einzelne ziehen sich zum gleichen Zeitpunkt T-Shirts über den Kopf, um darunterliegende Aufschriften auf Tank-Tops und Unterhemden sichtbar zu machen. Auf diese Weise agiert der durch Kleidung, Gesang und kleine, gemeinsam ausgeführte Performance-Schritte zusammengehaltene Kollektivkörper innerhalb der sich neu zusammensetzenden Öffentlichkeit Serbiens. Er dockt sich an Initiativen anderer an, macht sich dabei als etwas Eigenes sichtbar und hörbar und versucht, über Querschläge der Wahrnehmung, die weitere Involvierung von Anderen zu provozieren.

11 | Škart sind seit 1992/93 in Belgrad aktiv. Ständige Mitglieder sind Dragan Protić und Ðorđe Balmazović. ›Škart‹ bedeuted ›Lumpen, Abfall‹.

uns zusammenbricht. So muß der Widerstand pausenlos auf irgendeine Art durchgeführt werden. Die

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart Abb. 6: Horke Škart Lumpenorchester Škart, 2003

© Škart

Sowohl das Outfit von Horke Škart, als auch die Beiläufigkeit des eigenen Auftretens und die Musik oder die Texte der Songs fügen sich zu einer ›Lumpenästhetik‹ zusammen, einer neuen Ästhetik der Armut, die auch für die sonstige Arbeit von Škart bezeichnend ist. Als Designer gestaltete die Gruppe schon seit Beginn der 1990er Jahre fast das gesamte PR- und Werbematerial für jene Oppositionsgruppen und Kulturprojekte, die während des Regimes von Slobodan Milošević in den ›Untergrund‹ gegangen sind. 12 Für diese Zusammenhänge produzierten sie Bücher, Einladungskarten, Begleithefte und Plakate, ausschließlich in ›ärmlichen Materialien‹ (meist graues oder braunes, manchmal aber auch rosafarbenes Recyclingpapier), in einfachen, im Stil der Bauhaus- und russischen Revolutionsästhetik stehenden Formen, simplen, plakativen Farben (weiß, schwarz und rot oder grün und schwarz), gefertigt mit den billigsten und heute zum Teil altertümlich anmutenden Herstellungsverfahren (etwa mit alten Druckerpressen). Als Künstlergruppe setzte Škart diverse Initiativen im Stadtraum, die sowohl versöhnlich als auch provozierend gestimmt waren. Die den verschiedenen Design-Produkten, künstlerischen Aktionen und sozialen Initiativen von Škart eigene ›Ästhetik der Armut‹ weist andere, in ihrer Umgebung vorherrschende ästhetische Angebote und Konventionen zurück. Die Lumpen-Werdung aller Erscheinungen und 12 | Die Arbeit dieser Gruppen wurde zum Teil von internationalen Hilfsorganisationen, zum Teil aber auch vom Soros Center finanziert – für Letzteres ist in dieser Zeit auch der Name ›Alternative Ministry of Culture‹ geprägt worden.

Kunstkritiker sind schon froh, wenn endlich mal etwas passiert. Aber sie wollen nicht begreifen, daß es

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Produkte wendet sich gegen den mit dem ›frischgefangenen‹ Kapitalismus einhergehenden Glanz und Glamour, wie ihn in diesem Kontext beispielsweise auch die neuen Turbofolk-Queens und andere Angehörige der in jüngerer Zeit entstandenen Neureichen-Klasse verkörpern, gegen Warenfetischismus, moderne Kommunikationstechniken oder gegen den massiven Einzug von ›Selbstmarketing‹. Dennoch bleiben all diese ästhetischen Interventionen von Škart mit den Erscheinungen und Prozessen, die sie bestreiten, zugleich auch verbunden. Denn auch ein ›Tiefstapeln‹, ein ›dressing down‹ bzw. die Lumpen-Werdung der Erscheinungen muss sich über sichtbare Zeichen vermitteln, eben über Gesten der Ablehnung, Zurückhaltung, Zurückweisung und über das Skizzieren von Konnotationslinien zu anderen Bewegungen der Kunst und des Designs (russische Revolutionskunst, Dadaismus, Avantgarde-Bewegungen generell), die ebenfalls von Ablehnung und vom Zurückstoßen des Überlieferten zehren. Über diese Zeichen wird wiederum das eigene Selbst bedeutet, der Körper mit ganz spezifischen Markierungen beschwert: Diese Einfachheit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und soziale Aufmerksamkeit wird zum Kennzeichen eines Selbst, zum Beweis einer je ›eigenen Existenz‹ (Schober 2001: 63ff.). Die von Škart so sehr forcierte Geste der Zurückweisung von gängigen Konventionen stellt also wie die anderen auf den Straßen Belgrads nun sichtbar werdende Stile der Selbstdarstellung das je eigene ›dichte Innere‹13 gegenüber allem Äußeren in den Vordergrund, wobei Letzteres gleichzeitig als ›überflüssiger Schnickschnack‹ abgewertet erscheint. Auf diese Weise haben die Mitglieder von Horke Škart in ihren betont ausgeflippten Frisuren, ungewöhnlichen, modischen, bis ins Detail durchgestylten Kleiderhüllen und witzigen T-Shirts – auch wenn sich ihre Performances und Aktionen zugleich in ganz andere Richtungen ausbreiten – an ähnlichen Formen der Selbst-Kultur teil, wie sie die von ihnen bestrittenen Körperwelten prägen. Die von ihnen verwendete Ästhetik bildet außerdem eine Brücke zu jenen Traditionen von Selbstkultur, die während des Sozialismus bestanden und die ebenfalls von einer Zurückweisung von Konventionen des Kapitalismus sowie der Inszenierung von ›gleicher Armut‹ lebten – was wiederum 13 | Ein zentraler Mythos der Moderne besteht darin, dass das Selbst als ein Doppeltes gedacht wird: Ein ›reiches‹ und ›dichtes,‹ d.h. mit Erfahrungen, Eigenschaften und Wissen gefülltes ›Inneres‹ wird einem Äußeren entgegen gestellt, das zwar geringer geschätzt, dem aber dennoch die Funktion zugesprochen wird, auf dieses Innere hinzuweisen – durch Kleidung, wie durch Gesten, Bewegungen oder Körperhaltungen und Mimik. Dazu: Schober 2001, 63ff.

wieder einmal an der Zeit ist, mit der Kunst endgültig Schluß zu machen. Wieder einmal. Daß jede Art

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zeigt, dass all diese ästhetischen Erscheinungen zu mehr als nur einer Geschichte führen. Das erneute Aufleben einer Fantasie von ›gleicher Armut‹ verbindet sich in den Produktionen von Škart mit einer Wiederbelebung des Ideals von nicht-hierarchischer Kollektivität, wie es in den regelmäßigen gemeinsamen Proben und Auftritten, kollektiv unternommenen Reisen, gemeinsam durchgeführten Programmgestaltungen sowie in einer Fülle von gemeinsamen Aktivitäten ›dazwischen‹ zum Ausdruck kommt, die langsam zu einer Art von ›kollektivem Leben‹ zusammenwachsen. Auch diese Fokussierung auf Gemeinschaftlichkeit richtet sich wiederum gegen bestimmte Erscheinungen der Gegenwart – gegen Vereinzelung, Egoismus, Einzelkämpfertum, Ich-AGs. Gleichheit und Gemeinsinn wird so über die Körper der Sängerinnen und Sänger auf die Straße gebracht und dort mit Konzerten und spontanen Auftritten in der Öffentlichkeit präsent gehalten. Auch dabei partizipiert Škart an breiteren, kollektiven Prozessen. Denn die Auftritte von Horke Škart zeigen Ähnlichkeiten zu anderen öffentlichen Selbst-Schaustellungen, wie sie in Belgrad in den 1990er Jahren zu beobachten waren: den Straßentheaterperformances des DAH-Theaters und den Mahnwachen und Protestperformances der Women in Black oder von anderen NGOGruppen.

Nachtrag: Formale Kunstgriffe und die Verkettung der Bilder Aleksandrija Ajduković, Lucia Macari, Alexander Voronzov, Škart sowie das Lumpenorchester Škart setzen die ästhetischen Kunstgriffe der Montage, der Parodie, der Übertreibung und der Verfremdung sowie des gleichmachenden ›Tiefstapelns‹ als Antwort gegen die in ihrer Umgebung nun so massiv präsenten, über Bilder und Medien laufende Körpertrainingsprozesse ein. Ihre Arbeiten verbindet ein Glaube an die Macht und Möglichkeit des formalen Zugriffs. Dieser Glaube bricht innerhalb eines komplexen historischen Transformationsprozesses hervor und wird zunehmend als Kraft der Veränderung wirksam. Zwar gibt es schon seit der Antike historische Beispiele einer Thematisierung der Mächtigkeit von Form, aber erst mit dem neuen Problematisch-Werden des In-der-Welt-Seins in der Neuzeit, wird Form als Mittel der Auseinandersetzung mit dieser Welt massiv aufgegriffen. Das Sein ist nun nicht mehr wie in der Antike von den Göttern mitgetragen, noch wie im Mittelalter von einem Gott mitgestiftet, sondern die Menschen sind zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen und müssen Sinn und Selbst innerhalb der Erschei-

von Forschung den Widersprüchen der Gegenwart unterworfen ist. Daß man sich nicht in einem Werk,

Anna Schober Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker

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nungen der Welt ›finden‹. Mit der Französischen Revolution, den ihr folgenden Emanzipationsbewegungen und einem parallel sich vollziehenden Bruch mit überlieferten Traditionen und Religionen breiten sich Praktiken der selbstverantwortlichen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und des Setzens von Welt zunehmend aus. Künstlerische Formen werden zu einem zentralen Vehikel dieser neuen Sinn-Suche und Welt-Setzung. Die seit dem 19. Jahrhundert zu verzeichnenden Kriege, Massenwanderungen, umfassenden Umwälzungen in Arbeit, Fortbewegung und Kommunikation sowie die weitreichenden Umgestaltungen der Lebensräume durch die kapitalistische Warenvermarktung oder durch bürokratische Zuweisungsstrategien fragmentieren die überkommenen Zusammenhänge dann noch weiter und richten die Körper neu zu. Zugleich bringen diese Prozesse den Glauben an die politische Effektivität bestimmter ästhetischer Formen in neuer Form und massiver Stärke hervor – was sich in der das gesamte 20. Jahrhundert durchziehenden steten Neuerfindung einer avantgardistischen ›Tradition‹ niederschlägt (vgl. Schober 2004: 181ff.). Die in diesem Text vorgestellten Beispiele zeigen, dass dieser Glaube an die politische Macht und Möglichkeit avantgardistischer ästhetischer Tricks auch nachdrücklich in die seit 1989 geschehenden Umwälzungen in Ländern des ehemaligen Ostblocks involviert ist. Inmitten einer verwirrenden Menge an neuen Gesten, Zeichen, Bildern und Körpern werden solche ästhetische Taktiken offensiv genutzt, um den Sinn im Fluss erfassen und das Unkalkulierbare eines Berührens von Körpern kalkulieren14 zu können (Nancy 1997: 9f.). Dabei setzen die von den Künstlern und Künstlerinnen aufgegriffenen ästhetischen Formen der Montage, der Parodie, der Übertreibung bzw. der Verfremdung so viele Geschichten in Gang wie sie Berührungen erheischen. Dennoch: Auch wenn alle künstlerischen Anstrengungen dahin gehen, die Unkontrollierbarkeit herausragender Wahrnehmungsmomente15 zu kalkulieren, bleibt, wie die kleinen Milieustudien gezeigt 14 | Signifikante Ereignisse der Wahrnehmung durchbrechen den gewöhnlichen Fluss der Bilder, dem wir meist eher teilnahmslos und abgebrüht gegenüberstehen, indem sie berühren, involvieren und verbinden. Sie können jedoch nicht ›produziert,‹ sondern nur ›angepeilt‹, ›kalkuliert‹ werden. Ob sie eintreten oder nicht, hängt nicht vom Willen oder der Intention der Kunstschaffenden oder anderer Agierender ab, sondern von der Kontingenz des Sich-Ergebens. 15 | Solche signifikante Momente der Wahrnehmung, an denen Sinn momenthaft auf blitzt, hat Walter Benjamin (Benjamin 1977: 193ff.) als ›Chock‹ und Roland Barthes als ›punctum‹ (Barthes 1985: 36) bezeichnet.

sondern nur ganz & gar verwirklichen kann. Daß Künstler dazu bereit sein müssen, etwas ganz anderes

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haben, der lebendige Sinn unberechenbar. Denn die Bilder verstehen sich oft besser, als jene, die sie ausschicken: Auch wenn ästhetische Eingriffe in den öffentlichen Raum mit der Intention zur Subversion entworfen werden, können sie zugleich mit dem Setzen von Herausforderung und Provokation auch an der Etablierung aktueller, ästhetischer und politischer Hegemonien mitwirken – indem sie andere im öffentlichen Raum präsente Bilder, Formen und Handlungen aufgreifen, sich mit ihnen verketten und sie sowohl in verschiedenen Richtungen weiter tradieren als auch umformulieren. Und umgekehrt können auch ganz alltägliche, zunächst unspektakuläre Bilder herausragende Ereignisse der Rezeption hervorrufen, die neben der genießenden, affirmierenden Dimension auch Irritation, Unsicherheit und einen Wunsch und Willen zu Neukonzeption mit sich führen. Bildwelten und ästhetische Formen können demnach nicht fein säuberlich in ›subversive‹ versus ›affirmative‹ eingeteilt werden, sondern haben auf stets zwiespältige Weise an der Herstellung eines Status Quo teil. Einer Untersuchung der pluralen, vielschichtigen Involvierung von Formen und Wahrnehmungsereignissen in die Umgestaltung von Welt steht jedoch die bereits erwähnte, starke, faszinierende und immer wieder neu aktualisierte ›Tradition der Avantgarde‹ entgegen, die – wie die Beispiele und Querverweise gezeigt haben – ganz unterschiedliche Milieus miteinander in Beziehung setzt und die von der Sehnsucht nach und vom Glauben an bestimmte ästhetische Formen als Mittel politischer Emanzipation getragen wird. Dabei werden Unsicherheit und Möglichkeit immer wieder in Gewissheit und Erreichtes verwandelt – was nicht ausschließt, dass dabei dennoch präzise Formulierungen für das Signifikante der Jetztzeit gefunden und politische Anstöße gesetzt werden. Aleksandrija Ajduković, Lucia Macari, Alexander Voronzov, Škart und Horke Škart arbeiten alle in mehr oder weniger losen, benannten oder unbenannt bleibenden Gemeinschaftskörpern. Sie kuratieren neben der eigentlichen künstlerischen Arbeit Ausstellungen, produzieren Veranstaltungen, arbeiten an Diskussionszirkeln mit und versehen die so involvierten Gemeinschaftskörper mit Bildern, Sätzen, Konzepten und Fantasien. Die von ihnen eingesetzten ästhetischen Kunstgriffe versuchen, Momente des Anfangs zu setzen und Öffentlichkeit innerhalb einer in Umbau befindlichen Welt der Körper herzustellen. Das Kalkulieren des Berührens von Körpern ist also auch der Versuch, in einer Welt, in der Privatheit erneut und massiv zur Mode geworden ist, Prozesse der Formierung von Gemeinschaftskörpern zu ermessen.

zu tun. (Von was ist die Rede?) Daß allein ununterbrochenes & unerbittliches Schaffen & Zerstören die

Anna Schober Lumpendesign, Penismode und Körperteilverstärker

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Literatur Andjelković Chalovska, Nada (1998): The Power of Poster. New Moment. Magazine for Art And Advertisment 10, S. 31–33. Barthes, Roland (1985): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1977): »Über einige Motive bei Baudelaire«. In: Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 185–229. Bertold Brecht (1970): »Über experimentelles Theater (1939/40)«. In: Werner Hecht (Hg.), Über experimentelles Theater, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 103–121. Crowther, William (1997): »The politics of democratization in postcommunist Moldova«. In: Karen Dawish/Bruce Parrott (Hg.), Democratic changes and authoritarian reactions in Russia, Ukraine, Belarus, and Moldova, Cambridge: Cambridge University Press, S. 282–329. Derrida, Jacques (1995): Marx’ Gespenster, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Drakulić, Slavenka (1991): Wie wir den Kommunismus überstanden – und dennoch lachten, Berlin: Rowohlt. Gordy, Eric D. (1999): The Culture of Power in Serbia. Nationalism and the Destruction of Alternatives, Pennsylvania: Pennsylvania State University. Gorsen, Peter (1972): Sexualästhetik. Zur bürgerlichen Rezeption von Obszönität und Pornografie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Klossowsi, Pierre (1986): Die Ähnlichkeit (La Ressemblance), Bern/Berlin: Gachnang & Springer. Milanovic, Branko (1996): »Poverty and Inequality in Transition Economies«. In: Bartolomiej Kaminski (Hg.), Economic Transition in Russia and the New States of Europe, New York: M. E. Sharpe, S. 171–205. Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin: diaphanes. Nancy, Jean-Luc (1997): Kalkül des Dichters. Nach Hölderlins Maß, Stuttgart: Verlag Jutta Legueil. Prodanović, Mileta (2001): Stariji i lepši Beograd, Beograd: Stubovi Kulture. Salecl, Renata (1996): National Identity and Socialist Moral Majority. In: Geoff Eley u.a. (Hg.), Becoming National. A Reader, New York/Oxford: Oxford University Press, S. 417–424. Schober, Anna (2001): Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern, Frankfurt a.M.: Campus. Schober, Anna (2005): Lumpen Design, Penis Fashion and Body-Part-Amplifiers. Artistic responses to the new image-environments in former socialist countries since 1989. Performance Research 10, S. 25–37. Schober, Anna (2004): »Politik der Form. Korrelationen und Brüche im lesbaren Text der Avantgarde«. In: Herbert Hrachovec/Wolfgang MüllerFunk/Birgit Wagner (Hg.), Kleine Erzählungen und ihre Medien, Wien: Turia + Kant, S. 180–197.

Suche nach zeitweilig brauchbaren Gegenständen ermöglicht. Die Grundlagen der Ökonomie untergräbt

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Schluter, Daniel P. (2002): Gay Life In The Former USSR. Fraternity Without Community, New York/London: Routledge. von Alexandria, Titus Clemens (1936): Die Teppiche (Stromateis), Basel: Schwabe.

Abbildungsverzeichnis Bild 1: Novosibirsk, Winter 2003. © die Autorin Bild 2: Fassaden aus real-sozialistischer Zeit, Belgrad 2004. © die Autorin Bild 3: Aleksandrija Ajduković, Tigrice/Tiger Ladies 2000–2002. © Aleksandrija Ajduković Bild 4: Große Abendrobe, Lucia Macari, High Fashion 1998. © Lucia Macari Bild 5: Alexander Voronzov, Freikörperkultur (2000–2001). © Alexander Voronzov Bild 6: Horke Škart/Lumpenorchester Škart, 2003. © Škart

& die Werte zerstört bzw. deren Bildung verhindert. Flucht kann es nicht geben, wohl aber die Änderung

Maskierte Identitäten: Verhüllen und Präsentieren als Ästhetik des Politischen Helga M. Treichl

These ist, dass Kleider(moden) – in ihrer doppelten Funktion von Verhüllen und Präsentieren – heute zum einen eine Indifferenz und Gleichgültigkeit zeigen. Mode tut, als ob ökonomische, soziale und politische Trennungen sich verringert hätten. Auf der Ebene der Produkte wie der Entwürfe gibt sie sich den Anschein des Inklusiven und Integrativen. Damit verhüllt sie existierende Machtverhältnisse und negiert Ausschluss- wie Verwerfungsverfahren auf verschiedenen Ebenen. Das Bekleiden zeigt dabei aber auch etwas: Es bringt das zur Aufführung, was in Identitäten bislang außen vor gelassen, abgewertet und auf andere projiziert wurde. Mode stellt heute auch de-zentrierte Identitäten aus und bemächtigt sich dadurch ihres abgespaltenen Teils. Sie bricht hier mit dem bürgerlichen ›Ideal‹ der Moderne, dem die Postmoderne gegenüber und zur Seite gestellt wird (vgl. Dunn 1991; Bignell 2001). Im Folgenden wird dieser These in einer psychoanalytischen und poststrukturalistischen Haltung nachgegangen, indem die Maskerade der Mode tentativ mit der Maske des Geschlechts gleichgesetzt und konfrontiert wird; Anleihen aus den Gender Studies, dem Dekonstruktivismus sowie der Kultursoziologie dienen der Differenzierung und Konturierung der Analyse: Wenn Mode als Subversion des modernen Begriffs von Politik verstanden werden kann, wie verhält es sich mit der Mode in der Postmoderne, die sich als Ästhetik des Politischen ausgibt und vorgibt, Politik – besser – zu ersetzen?

aller Lebensbedingungen. Auf Erfolg im Kunstsystem kann man ebensowenig hoffen wie auf Veränderung

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Mode, Moderne und Geschlecht In der starken Geschlechtertrennung der bürgerlichen Gesellschaft, die sich besonders offen-sichtlich auch in der Kleiderordnung widerspiegelt, sind Sein und Schein als zwei Seiten einer Medaille lediglich imaginär verbunden, deren ›eine‹ dem männlichen Allgemeinen und deren ›andere‹ dem weiblichen Be- bzw. Gesonder(t)en zugeordnet ist. Das (weibliche) Geschlecht scheint in seiner Inszenierung, Maskierung und diskursiven Herstellung dazu angehalten, den flüchtigen, oberflächlichen Schein der Ästhetik der Mode(rne) zu verkörpern: Seit der bürgerlichen Revolution steht Mode für Weiblichkeit und Sexualität – ›sexuelle Differenz‹, sei es die der Frau, sei es die der weiblich konnotierten ›anderen‹ im psychoanalytischen Sinne. In diesen ›anderen‹ materialisiert sich pejorativ Eitelkeit, Ausschweifung, Luxus, Oberfläche und Dekadenz. Als vormals dem Adel zugeordnet, der zugleich feminisiert und abgewertet wurde, wird Mode in der Folge zu dem, was der Seriosität des Bürgers entgegensteht (Vinken 1993: 18f.). Mode dient unter anderem dazu, strukturelle Differenzen auszudrücken wie herzustellen (Simmel 1905). Sie repräsentiert eine Trennung, welche die hegemoniale Logik der Herstellung von Identität, die auf die Spiegelung der einen in den anderen wie die Auslagerung von Unerwünschtem auf die ›anderen‹ nicht verzichten will, eindrucksvoll zur Schau stellt und in Szene setzt. Aus diesem Grund schreibt Barbara Vinken der (Männer-) Mode über lange Zeit ein revolutionäres Potenzial zu – etwa indem der ›Dandy‹ in einem Feiern des eitlen Scheins wie einer Ablehnung der Inkarnation des Prozesses der »Ähnlichkeit aller männlichen Wesen« (Vinken 1993: 29) Grundfesten der bürgerlichen Geschlechter- und Sphärentrennung in Frage stellte. Sich als Mann modisch zu kleiden bedeutete dabei, sich in das »Zeichen des Weiblichen« (Vinken 1993: 29) zu stellen, sich zu feminisieren, sexualisieren und als Körper zu präsentieren. Die politische Bedeutung des ›Dandy‹ hätte dabei gerade in der Betonung des A-politischen bestanden, d.h. in der »Subversion des modernen Begriffs von Politik« (Vinken 1993: 28), die hier in körperlichen Begriffen und mittels performativer Akte stattfand. Während die Mode als männliche Kunst im Sich-Kleiden wie im Entwerfen mit Subversion in Verbindung gebracht wird (Breward 2002: 561), erscheint sich als (bürgerliche) Frau der Mode zu bedienen vorerst lediglich als Erfüllung eines sozialen Anspruchs bzw. als angemessene Antwort auf die Anrufung einer diskursiven Ordnung, die sie zur Repräsentantin der Oberflächlichkeit erkoren hat. So wie die ›Glasur‹ der Mode bzw. Moderne seit Baudelaire als konstitutiver Part der ästhetischen Erfahrung verstanden wird, als sie dem ›absolu-

der Gesellschaft. & sich natürlich auch nicht außerhalb des Systems stellen. Einer, der sich besonders

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ten‹ Schönen ein relatives gegenüber und zur Seite stellt (vgl. Kolesch 1998: 23f.), ist Weiblichkeit als Differenz und Abweichung hier auf die imaginäre Stütze männlicher Selbstidentität reduziert. Dies zeigt sich etwa in der Analyse Veblens, wonach der Modekonsum der bürgerlichen Frau stellvertretend den Reichtum des Mannes zur Schau stellt (Veblen 1993). Eine Zurückweisung dieser ›Rolle‹ beinhaltete dem entsprechend sowohl im Kontext der ersten wie der zweiten Welle der westlichen Frauenbewegungen eine Kritik an (dem Konsum) der Mode sowie den Kampf um die Demar/skierung von Frauenkleidern – etwa durch eine Ablehnung und Bekämpfung von als einerseits einsperrend, andererseits objektivierend und fetischisierend ausgewiesenen weiblichen Kleidungsstücken (vom Korsett bis zum Büstenhalter), die sinnbildlich konstitutive Aspekte der diskursiven Herstellung von Weiblichkeit verkörpern. Der Wunsch nach männlich konnotierter Kleidung – etwa der Hose oder dem Anzug – wurde im Gleichheitsdiskurs tendenziell positiv, im Differenzdiskurs tendenziell kritisch als Streben nach dem Allgemeinen, Einen gedeutet, nach dem ›unscheinbaren‹ Zeichen von (phallischer) Macht. Mimesis, Performativität und Subversion Gerade jene Aneignungen zeigen jedoch ebenso, was in poststrukturalistischer Sichtweise als Subversion, d.h. Verschiebung und Unterwanderung, durch iterative Ver-wendung verstanden werden kann: Wie etwa Luce Irigaray für weibliche Mimesis (u.a. 1980) und Judith Butler für die performative Herstellung von Körperlichkeit und Geschlecht (u.a. 1991) festgehalten haben, realisieren Nachahmungen und Ver-wendungen angebotener Rollen, z.B. die Maskerade der Weiblichkeit in und mit der Mode, ebenso Subversionen: ›Immer schon‹ auf die Verkörperung des konstitutiven Außen angewiesen, um zur Existenz zu kommen, bleibt das weibliche »Volumen ohne Konturen« (Irigaray 1980) ebenso anderswo, es ›ek-sistiert‹. Als nicht benennbares und uneinholbares ›Reales‹, das in Irigarays Gegenlesung psychoanalytischer Theorie strategisch als weibliche ›Essenz‹ gesetzt wird, realisiert sich dieses mittels und in den Lücken eines weiblichen Spiegelbilds männlicher Selbstidentität wie sie im ›phallogozentrischen‹ Diskurs gefasst wird. Das subversive ›Element‹, das den Dualismus des Imaginären wie die Sinngebung des Symbolischen (ver-)stört, ist dabei als strukturelle Leerstelle zu begreifen, die sich als Nicht-Identisches und Flüchtiges jeder Setzung entzieht und damit in kein spezifisches Bild (der Mode bzw. des Geschlechts) gebracht werden kann. In dieser Konzeption ist Subversion in der Nachahmung, Realisierung und Verschiebung

schlau vorkommt, sagt: »Ich stehe immer auf beiden Seiten.« Doch darum geht es nicht mehr. (Hier haben

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vorhandener Repräsentationen – Bilder und Konzeptionen – enthalten, mehr noch: Sie kann sich potenziell und strukturell lediglich in bzw. zwischen diesen ereignen, etwa in Form einer Störung des Bildes, dessen Irritationen und Lücken. Dem Poststrukturalismus zufolge kann Subversion nicht als Gegenkonzeption (›Gegenideologie‹) verstanden werden, ohne in der ›illusorischen‹ Repräsentations- und Spiegellogik der dominanten diskursiven Ökonomie verhaftet zu bleiben. Sie unterwandert, verschiebt und irritiert die hegemoniale Ordnung dort, wo sie deren Textur offensichtlich zur Schau stellt, sich mimetisch aneignet und diese immer wieder neu und ›anders‹ realisiert. Als politischer Einsatz bleibt letztere, poststrukturalistische Fassung von Subversion daher ein prekäres Unterfangen, das auf die Unentscheidbarkeit diskursiver Setzungen verwiesen ist, auf die unvorhersehbaren Effekte performativer Akte setzt und mit deren Ambivalenzen leben muss, denn: So wie das Tragen von Hosen ›die Frau‹ (mit-)verändert hat, hat es auch dazu beigetragen, ›neue‹ Formen der normativen Sexualisierung und Objektivierung von Weiblichkeit auszudrücken (›die phallische Frau‹), die (homo-)sexuelle Codierung pejorativ wie progressiv zu ver-wenden und die sexuelle Differenz zu de- wie rekonstruieren (drag/cross-dressing) (vgl. Garber 1993). Differenzierungen von Differenzen, wie sie etwa anhand des (feministischen) Einsatzes im Kampf um Kleiderordnungen ausgeführt werden könnten, dekonstruieren die Evidenzen, die den Trennungen und Teilungen der Mode (wie) der Moderne eignen. Anstelle eines Setzens auf männliche ›Eigenschaften‹ stellt die Maskerade weiblicher Mimesis deren ›Erscheinung‹ als solche aus. Weiblichkeit als Maske Was nun für Bekleidung als soziales bzw. kulturelles Unterfangen, die Mode in ihrer Ordnungsfunktion von Ein- und Ausschlüssen festgestellt werden kann – Bedecken und Zeigen – gilt ebenso für die sexuelle Differenz. Die in der bürgerlichen Moderne vorherrschende Kurzschließung von Weiblichkeit und Maske (vgl. Liebrand 2002: 255) wurde in der psychoanalytisch und poststrukturalistisch beeinflussten Geschlechterforschung aufgegriffen und ver-wendet; damit setzt sie die beiden Aspekte des Bedeckens und Präsentierens zentral. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang Joan Rivieres berühmter Aufsatz »Weiblichkeit als Maske« (1929). Die Psychoanalytikerin Riviere verstand Weiblichkeit nicht als Ausdruck einer inneren Essenz. Sie analysierte sie als eine Maske, als reine Präsentation oder Simulation, die bedeckt und verdeckt, indem sie zugleich ein weibliches ›Rollenverhalten‹ produziert und reproduziert (Riviere 1996): Indem Frauen sich als Frauen,

wir das ganze Ausmaß dessen, was man nicht tun sollte.) Aber was ist das für ein Schwachsinn! Lenin

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das bedeutet gemäß der ihnen zugewiesenen ›ek-sistierenden‹ Position, verhalten, verhüllen sie ihr Wesen – allerdings nicht ihr ›wahres‹. Sie verdecken die Tatsache, dass es keine Substanz, d.h. bei Riviere vorerst nur keine psychische Substanz, der Weiblichkeit und damit auch der Geschlechterdifferenz gibt, denn: »Sexual difference (is) structurally crucial but thematically empty.« (Moi zit.n. Angerer 1999: 143) Die Maske der Weiblichkeit leitet Riviere von ihrer Analyse der intellektuellen, ›männlich-identifizierten‹ Frau ab und macht sie gemäß der psychoanalytischen Vorgehensweise der Deduktion des Allgemeinen vom Besonderen per se für Weiblichkeit geltend. Die doppelte Bewegung der weiblichen Maske – Verhüllen und Zeigen – erinnert an den wechselseitigen Ausschluss von Identifizierung und Begehren, wie dieser in der Psychoanalyse gefasst und vorausgesetzt wird: Die Verkörperung einer (Geschlechts-)Identität kann folglich (auch) als Maske des Begehrens nach etwas anderem verstanden werden, welches nicht uneingeschränkt zur ›Aufführung‹ gebracht wird. Begehrt wird in Rivieres Analyse bzw. in der ›Problematik‹ der intellektuellen ›männlich-identifizierten‹ Frau und ihrer Maske der Weiblichkeit Männlichkeit als Zeichen für Macht, Autorität und Einfluss. Präziser formuliert dient die Maske der Weiblichkeit, die Riviere als eine der Unterwerfung charakterisiert, der Verdeckung einer bereits stattgefundenen Identifizierung mit der Macht der Sinngebung und Bedeutungsstiftung sowie mit Fertigkeiten und Zuschreibungen, die gemeinhin als männlich verstanden werden. Diese Aneignung von Autorität wäre mit Angst besetzt, da sie nicht legitim, d.h., Frauen nicht zugestanden ist. Die Angst ließe als Schutz vor Sanktionen ein Bedürfnis nach Unterwerfung unter die Norm entstehen wie sie gleichzeitig einen Wunsch nach Anerkennung durch die ›männliche‹ Normalität wecken würde (Riviere 1996). Die Maske dient hier der Verdeckung illegitimer ›Machtansprüche‹ und stellt Vergeschlechtlichung als Unterwerfung aus. Gender ist demzufolge als Effekt eines ambivalenten Verhältnisses zu begreifen. Weiblichkeit würde demnach per se zeigen, was sie nicht ist, wie sie ebenso darauf verweist, was nicht sein darf. Die Maskerade der Frau sowie der Mode wird dabei zu einem Medium der Realisierung einer strukturell angelegten Subversion. Ihre spezifische ›materielle‹ Verkörperung im ›Kleid‹ stellt nur in Verbindung mit ihren Kehrseiten und Auslassungen einen Gegenstand der Analyse dar, denn: Interessant ist für eine psychoanalytische Betrachtung (ebenso), was nicht gezeigt wird (vgl. Butler 1997: 144f.) bzw. als unscheinbare Oberfläche von Geschlechtlichkeit und Mode(rne) präsent ist, ohne (etwas) zu repräsentieren.

sagt: Es gibt immer einen Ausweg. Die Entwicklungen sind widersprüchlich & werden es bleiben. Da

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Post-Mode und Postmoderne Die Mode der Postmoderne würde Barbara Vinken zufolge Gesellschaft nicht mehr streng teilen oder trennen und in ihrer Erscheinung keine Simmelsche Widerspiegelung sozialer Strukturen (mehr) darstellen (Vinken 1993). Im Unterschied zur »mode de cent ans« (Lipovetsky 1987) – der mit Charles F. Worth Mitte des 19. Jahrhunderts begonnenen hundertjährigen Ära der Mode der ›Haute Couturiers‹ – verzichtet die Mode nun auf Repräsentation, um anderes zu zeigen: Das A-Modische rückt in den Vordergrund und damit auch das A-Moderne im weiteren Sinne (Vinken 1993: 59ff.). Wie in der Folge verdeutlicht werden soll, ist jenes nicht als Kehrseite der Mode zu begreifen, als ihre Negation und Zurückweisung, sondern dem skizzierten Verständnis von Subversion entsprechend als ihre Ver-wendung. Ebenso kann Postmoderne verstanden werden als eine Dekonstruktion der Moderne, die deren Zusammensetzung, Denken und ›Textur‹ aufgreift, zur Schau stellt, offen legt. Postmoderne wäre demzufolge nicht als außerhalb der Moderne zu begreifen, sondern als Teil derselben (Bignell 2001). Sie wäre eine offen-sichtliche Moderne, die, indem sie Wirkungsweisen und Effekte derselben bloß-stellt, diese ver-wendet und verschiebt. Durch Nachahmung und Übertreibung wird die ›funktionale‹ Ästhetik der Moderne dekonstruiert, so wie die dritte Welle der westlichen Frauenbewegungen sich der parodistischen und karnevalesken (Über-) Inszenierung von Geschlechtlichkeit im Kontext von ›New Gender Politics‹ zugewandt hat, um deren naturalistische Setzungen und Effekte als diskursiv hergestellt erfahrbar zu machen und damit antiessentialistisch zu wenden. »Mode nach der Mode« (Vinken 1993) verweist auf die oft beklagte postmoderne ›Beliebigkeit‹, die sich auch im Verkleiden ›ohne Code‹ zeigt: So wie sich politische Identitäten, Geschlechteridentitäten, Gruppenzugehörigkeiten, ein Klassenbewusstsein, die Unterscheidung zwischen Gegenkultur bzw. Subkultur und Mainstream, Markt und Staat wenngleich nicht aufgelöst haben, angeblich jedoch diffuser geworden sind, scheinen Differenzen in einem Habitus des Sich-Kleidens ebenso weniger offen-sichtlich repräsentiert zu sein; oder in Anlehnung an Michel de Certeaus Begriff von Code verstanden: Die Normierung des Gebrauchs von Kleidung, ihr Gebrauch zur Kommunikation struktureller Differenzen verliert ihre Evidenz (de Certeau 1988: 193). Die Postmoderne und neoliberale ›Offenheit‹, das Zugestehen wie Zusprechen eines ›kreativen‹ Umgangs mit Selbstpräsentationen wird dabei ebenso zu einem Anspruch, nämlich jenem, einer modernen, d.h. post-modischen Erscheinungsweise, Rechnung zu tragen. Das

könnte man den ganzen Tag nur kotzen. Sagt der Skinhead. Nur kotzen & scheißen. & nicht mehr auf-

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Schwinden von Kleiderordnungen und Dresscodes geht mit der hegemonialen Erwartung einher, sich in der Identitätskonstruktion und mit ihr in der Maskerade des Bekleidens ständig neu zu entwerfen, d.h. sich dem neoliberalen Diskurs entsprechend einer Flexibilisierung und Personalisierung zu unterwerfen (Sennett 1977): In der Mode existieren heute viele Trends und Stile gleichzeitig, die sich kaum ausschließen. Designer-Mode und Mode für die so genannte breite Masse, Straßenmoden aus subkulturellen Zusammenhängen und die Mode der großen Laufstege haben sich in ihrer Erscheinung angenähert. Demimonde und Postdemokratie Nachdem Mode ›immer schon‹ mit Alterität und Marginalität verknüpft war und daraus ihre Impulse bezog – bei Georg Simmel und Barbara Vinken verdichtet im Begriff der »Demimonde« (Simmel 1905; Vinken 1993: 20ff.) – könnte thesenhaft festgehalten werden, dass Mode (a-) moderner geworden ist in dem Sinne, als sie die ›Funktionsweise‹ des konstitutiven Ausschlusses, die Herstellung des ›anderen‹ wie der Mode selbst als konsumierbarer Überguss, deutlicher zum Ausdruck bringt. Dem entsprechend würde Mode (nach der Mode) in Form von Konsummoden anstelle von Klassenmoden ›von der Straße‹ bzw. von ›unten‹ vorgegeben (vgl. Kawamura 2006; Vinken 1993: 21) bzw. unverhohlen in einem enormen Aufwand minoritären Gruppen ›entrissen‹ (Klein 2001: 89ff.). Oder anders und mit Theodor W. Adorno verstanden: Als Kunstwerk und Ästhetik scheitert Mode in subversiver Weise daran, Individuum und Gesellschaft, Form und Inhalt harmonisch ins Werk zu setzen. Indem es ihr nicht an Stilen mangelt, sie jedoch nur noch als Stil in Erscheinung tritt, d.h. nachahmbare, wiederkehrende Formen (re-)produziert, wird Imitation auch in der Kulturindustrie der Mode absolut gesetzt (Horkheimer/Adorno 1993: 139). In der diskursiven Produktion der »consumable others« im Spätkapitalismus (Braidotti 2002: 55), die nicht mehr nur im Sinne fordistischer Produktionsverhältnisse als erfasste, kategorisierte und disziplinierte, sondern ebenso als flexibilisierte und neoliberale (Nicht-)Subjekte ›produziert‹ werden, fällt damit offenbar die Notwendigkeit, diese Imitation und Zitathaftigkeit zu ›verdecken‹. Iterabilität könnte demnach den Stil bezeichnen, der »die grundlegende Art und Weise des In-der-Welt-seins eines Menschen« in der Spät- bzw. Postmoderne manifestiert – seine Form von »Einzigartigkeit« (de Certeau 1988: 192f.). Dieser Verzicht auf die ›Authentizität‹ von Identität bildet dabei den Untergrund einer Personalisierung (Stoker 2006: 203ff.) und Trivialisierung von Politik, der Präsentation von Images und Lifestyles anstelle

hören. Aber was ist das für ein Schwachsinn! Meistens verstehe ich Dinge, wie ich sie verstehen will. &

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einer politischen ›Weltanschauung‹, sowie des ›Paradigmenwechsels‹ von der Produktion zur Konsumption – angedeutet im Begriff Konsummoden, der mit einer um ein virtuelles Nichts kreisenden »phantom firm« (Klein 2001) das zeitgenössische Modell von Organisation bereitstellt: Mit diesen Ingredienzien zeichnet etwa Colin Crouchs Postdemokratie-These eine pessimistische Bestandsaufnahme gegenwärtiger westlicher Demokratien – der Form des Regierens, die Simmel zufolge der Mode korrespondiert (Simmel 1905), wonach politische Eliten eine Repräsentationsfunktion ohne nennenswerte Rückbindung an eine politischen Basis wahrnehmen und die Zivilgesellschaft der Partizipation sowie des Ein- und Anspruchs ›von Gewicht‹ de facto beraubt ist (Crouch 2004). Nach Barbara Vinken würde sich nun die Mode, d.h. Kunst und Kultur statt Politik, in den Dienst der psychoanalytischen ›anderen‹ stellen, indem das ›andere‹ präsentiert wird, ohne dadurch den Anspruch auf politische Stellvertretung zu erheben. Mode nach der ›hundertjährigen‹ Mode, etwa seit den späten 1960er bzw. 1970er Jahren, würde zeigen, präsentieren und inszenieren, was man gewohnt ist, nicht mehr wahrzunehmen. Es könnte ergänzt werden, die Mode stelle inzwischen auch zur Schau, was man nicht mehr zu sehen bekommt, etwa ›Gegenkulturen‹ und soziale Bewegungen: Die ›Virtualisierung‹ von Protest u.a. durch (die Möglichkeiten der) Neue(n) Medien und die Institutionalisierung und Professionalisierung von Einspruch (Politik als Kampagne, Lobbying, NGOs) gingen mit einem Schwinden der Sichtbarkeit und ›materiellen‹ Präsenz ›Neuer Sozialer Bewegungen‹ einher. Ein auffällig Sich-öffentlich-Raum-Nehmen – z.B. in Form von Demonstrationen – scheint tendenziell ›außer Mode‹ gekommen und einer Differenzpolitik des Spektakels – Protest und Parade als Event – gewichen zu sein (Scott/Street 2000; Pasqualoni/Treichl 2004; Treichl 2007). Zusammen mit der Entleerung des öffentlichen Raums von politisch und vor allem sozial unerwünschten Gruppen und Akteur/-innen, denen durch Kontrolle und Überwachung dessen Nutzung abgesprochen und zunehmend erschwert wird, entstand damit ›Platz‹ für ein Mainstreaming von Differenz (Holert/Terkessidis 1997) als Frage des Lebens-Stils. Der Chic der ›anderen‹ Zugleich ver-wendet die Mode die ›anderen‹, wie es der Herrschaftspraktik der Aneignung entspricht: Die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ bzw. Verworfenen der Moderne sowie der Aufstieg der ›anderen‹ als »counter-subjectivities« (Braidotti 2002: 117f.) erfolgt in kommodifizier-

nicht, wie sie gedacht sind. Selbstverständlich lassen sich Texte nicht nur korrigieren. Lassen sich diverse

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ter Form, wobei der Warencharakter offen zur Schau gestellt, geradezu parodiert wird: Rei Kawakubos provokative ›Ästhetik der Armut‹ zu Beginn der 1980er Jahre erklärte etwa die New Yorker ›bag lady‹ zum neuen ›Schönheits‹-Ideal und läutete damit in der Mode einen viel beachteten Perspektivenwechsel ein. Hier wurde die Aufmerksamkeit modebewusster Eliten statt der »ostentativen Zurschaustellung westlicher Werte durch Reichtum und Verschwendung« auf die Folgen nicht gelöster ökonomischer Konflikte – Obdachlosigkeit und Armut – gelenkt, so die positive Einschätzung Barbara Vinkens (1993: 119f.). Der Chic der ›anderen‹ manifestiert sich in den 1990er Jahren etwa im ›Lesbian Chic‹; er wird hier exemplarisch für eine Vielzahl an Variationen angeführt und in weiterer Folge kontextualisiert. ›Lesbian Chic‹ repräsentiert ebenso eine Stilisierung von sozialem wie kulturellem Ausschluss und dessen ›Wiederkehr‹ auf ›höherer‹ Ebene. Damit wird eine »Äquivalenzkette« (Laclau/Mouffe 1991) einer Ästhetik der ›anderen‹ hergestellt, die Karen Bettez Halnon im Begriff des »Poor Chic« (2002) verdichtet und in einen kritischen Zusammenhang stellt: Auch Halnon führt diese Ästhetik auf nicht gelöste soziale und ökonomische Konflikte zurück, wobei ›Poor Chic‹ den von ›Deklassierung‹ und Ausgrenzung Bedrohten ermöglichen würde, in die gefürchtete Welt der ›anderen‹ wie ein/e TouristIn einzutauchen und diese durch Konsum zu »kontrollieren« (Halnon 2002), doch: Wenn eine sichere und sichtbare Setzung von Trennungen schwieriger wird – etwa durch den Verlust der (uneingeschränkten) Evidenz des Klassenbegriffs, auf den sich Halnon auch in Bezug auf Gender zu stützen scheint, könnte dieser als »rational« (Halnon 2002) bezeichnete Konsum des (Klein-)Bürgertums nicht allein dem Schutz vor ökonomischer und sozialer ›Degradierung‹, sondern ebenso vor der Anerkennung und Repräsentation ihrer ›anderen‹ gewidmet sein. Präsent wäre eine Ästhetik des Traumas, wie Rosi Braidotti im Zusammenhang mit einem »return of horror« und in Rekurs auf Hal Foster feststellt: »Foster describes it as a contemporary form of advanced melancholia which expresses a real fatigue with the politics of difference and an equal attraction for indistinction and death.« (Braidotti 2002: 206f.) Dieser Fokus auf der ideologischen Unentscheidbarkeit erinnert an das Lacan’sche Register des Realen und dessen Affinität zur absoluten Grenze des Todes. Nach Jacques Lacan würde die Ästhetik auf das Verhältnis zum Tod verweisen, jedoch ohne diese Relation abzubilden. Das Schöne realisiert diese Beziehung und hält sie gleichzeitig auf Distanz: Es wäre seine Funktion, »uns den Ort anzuzeigen, an dem der Mensch sich zu seinem eigenen Tod verhält, dies freilich nur in einer Blendung« (Lacan 1996: 352). Die Nähe zum Tod wird in der Literatur

Bruchstücke hinfällig gewordener Texte in einen neuen Text integrieren. Mehr noch: Der Sinn dieser

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häufig als ein Charakteristikum der Mode bezeichnet (u.a. Benjamin 1983; Baudrillard 1991: 134f.); in der ›post-modischen‹ Ästhetik bringt sie dies offensichtlich zur Geltung. Nach Jean Baudrillard bezieht die Mode daraus ihre Frivolität und Immoralität, die ihr zuweilen eine subversive Kraft gegenüber den politischen, d.h. moralischen Diskursen verleihen würde: Die Mode entziehe sich jeder Ordnung und Bedeutung, auch derjenigen von Widerstand und Revolution. Durch diese Inhaltslosigkeit und Selbstreferentialität wäre sie letztlich »insubversiv« (Baudrillard 1991: 151). Als Symbolisierung und Ästhetisierung einer relativen Grenze – des Geschmacks, der ›Tragbarkeit‹, ›Funktionalität‹ – entwirft sich die Mode allerdings wiederum als politisch, indem sie die nicht verdauten Trennungen und »feinen Unterschiede« (Bourdieu 1998) der Moderne, etwa zwischen den Klassen und den Geschlechtern, in zeitgemäßer, d.h. a-politischer Form, in Szene setzt, denn: Die ›postmodernen‹ Grenzverwischungen verweisen auf einen Verlust, nicht – wie oft formuliert wird – von Stabilität und ›Sicherheit‹: Anstelle der Ästhetik des Scheins, die das ›authentische‹ Sein imaginär stützt, verweist Fosters Befund einer melancholischen Ästhetik gemäß psychoanalytischer Diktion auf einen nicht betrauerten Verlust, der Sein bereits als Schein herstellt. Dies kann wiederum anhand poststrukturalistischer Geschlechterforschung verdeutlicht werden. (Gender-)Melancholie und Drag Wie Joan Riviere geht Judith Butler mehr als ein halbes Jahrhundert später davon aus, dass Identifizierung Begehren verhüllt und etwas Ausgeschlossenes, Verworfenes zeigt (Butler 1997: 132ff.). Während nach Riviere allerdings Frauen Weiblichkeit inszenieren aus Angst, das zu zeigen, was sie ›sind‹ – Trägerinnen so genannter männlicher Eigenschaften, versteht Butler die Performativität von Gender deutlicher als Symptom eines sexuellen Begehrens, das man bzw. frau ›hat‹: Gender ist durch eine dualistische diskursive Ordnung in binären Oppositionen strukturiert – Mann oder Frau – und in eine ›heterosexuelle Matrix‹ eingegossen, in der Geschlechtlichkeit und sexuelles Begehren nur in einer und einer ›eindeutigen‹ Kombination zu ›haben‹ sind. Dies bedeutet, dass Sexualisierung und Vergeschlechtlichung Hand in Hand gehen und somit nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Vor dem Hintergrund einer ›heteronormativen‹ Ordnung, die Homosexualität sanktioniert, abwertet und verwirft, bildet Homosexualität die Kehrseite und damit die Grundlage für anerkannte, heterosexuelle Geschlechtsidentitäten. Die konstitutive Unmöglichkeit homosexuellen Begehrens versteht Butler als Verlust, der gesellschaftlich nicht

Fragmente läßt sich ändern. Das, was Dummköpfe beharrlich Zitate nennen, läßt sich auf alle nur er-

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anerkannt, betrauert und daher nicht verarbeitet ist. Er führt somit zur (kollektiven) melancholischen Identifikation, die das unmögliche Liebesobjekt festhält, einverleibt und damit zum eigenen macht: Das, was ich nicht begehren kann bzw. darf, wird in der Identifizierung verkörpert (Butler 1997: 23; 132ff.). Gender begreift sie damit als Maskerade und ›acting-out‹ eines Verlusts; anstelle des Begehrens wird (dessen) Unmöglichkeit zum Konstituens weiblicher oder männlicher – heterosexueller wie homosexueller – Identitäten. Die Absenz des gleichgeschlechtlichen Liebesobjekts bildet die Grundlage der Herstellung von Körperlichkeit und Geschlecht als ›drag‹: Die Imitation des (anderen) Geschlechts (›cross-dressing‹) wie des ›anderen‹ (Liebesobjekts) als Geschlechts-Identität bietet gleichzeitig die Möglichkeit, das Verlorene zu präsentieren und mit sich zu tragen. Lesbian Chic Gerade die Vorliebe für eine Inszenierung von Differenz, Flexibilität und Rollenspiele, mit denen ›queering gender‹ heute auch – durchaus tauglich für ein Massenpublikum (vgl. etwa Madonnas Ver-wendung des ›vogueing‹) – verbunden ist, legt allerdings eine Verschiebung von Codes zu Moden, vom Sein zum Schein performativer Geschlechtlichkeit nahe. Wie in einem Habitus des Sich-Kleidens scheinbar weniger differenziert wird, sind Differenzen in der Verkörperung oder Inszenierung von Geschlecht und Sexualität gegenwärtig weniger augenscheinlich, präsent und evident. Wie am Beispiel des ›Lesbian Chic‹ ausgeführt werden soll, scheint die (Mode der) Postmoderne sich des heteronormativen Ausschlusses ›bewusst‹ geworden zu sein, zeichnet sich dieser Trend doch durch eine (Re-)Präsentation und Konstruktion lesbischer Images in vormals nicht affinen Medien und ästhetischen Formen aus: Der Beginn des ›Lesbian Chic‹ in der Mode wird mit 1993 festgesetzt, als Vanity Fair ein Bild der lesbischen Sängerin k.d. lang und des Topmodels Cindy Crawford in ›erotischer‹ Pose auf dem Titelblatt veröffentlichte (vgl. Ciasullo 2001: 582). Astrid Deuber-Mankowsky bringt diesen Trend in Zusammenhang mit dem lesbischen Model Jenny Shimizu (Deuber-Mankowsky 1998). Während sexuelle ›Zweideutigkeit‹ und eine Anspielung auf bzw. das Spiel mit einer Ästhetik der Feminisierung von Männlichkeit in Mode, Kunst und Popkultur bereits eine lange Geschichte hatte, wurde der Trend einer positiven Präsentation lesbischer Images in den 1990er Jahren als Neuheit gefeiert bzw. gefürchtet. ›Lesbian Chic‹ entstand in einer Zeit, als die feministische Lesbenbewegung eine Neuorientierung und -positionierung erfuhr: Essenti-

denklichen Arten fälschen. Zitate & entwendete Texte. Zitatbruchstücke. Bruchstücke, die dem Schiffbruch

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alistische Bezugnahmen auf eine innere ›Wahrheit‹ der Frau bzw. der Lesbe waren theoretisch in Frage gestellt worden. Die zunehmende Präsenz von ›Queer Theory‹ und ›New Gender Politics‹ erweiterten einerseits die ›Basis‹ einer kollektiven Identität, indem der Fokus auf eine ›Pluralisierung‹ von Geschlechterkonstruktionen und die Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz gelegt wurde; durch die Infragestellung des Gemeinsamen (Körpers) schränkten sie diese andererseits ein. Die Verunsicherung der Linken Anfang der 1990er Jahre hatte einen ›essenziellen‹ politischen Bezugsrahmen vorerst ersatzlos gestrichen. Die Basis für kollektives Handeln war für viele ins Wanken geraten. Im Zuge eines Workshops im Rahmen des Projekts Textilie als Text 1 wurde etwa ein zunehmendes Verschwinden von Dresscodes der ›autonomen‹ Lesbenszene konstatiert: Ein geringeres Zusammengehörigkeitsgefühl drücke sich in einem weniger einheitlichen Verhalten zu Kleidung aus, so die von Teilnehmerinnen geäußerte These. Dies wurde als Befreiung aus Gruppennormen und Freisetzung des Individuellen, Brüchigen und Vielfältigen in Identitätsentwürfen gedeutet und affirmiert, als Ausdruck des Schwindens kollektiver Identitäten und Praktiken jedoch bedauert: Auch im subkulturellen Kontext scheint die ›Mode‹ nicht mehr zu trennen oder zu teilen, grenzt sich also die ›Szene‹ nicht mehr so deutlich vom Mainstream ab. Mode(rne) wiederum verleibt sich im ›Lesbian Chic‹ das Image der Lesbe ein und bedient sich derselben, um selbst an Kontur zu gewinnen. Wenn vormals der ›Dandy‹ für ein a-politisches Politisches stand, der gerade durch seinen positiven Bezug zu Eitelkeit politische Bedeutung erlangte, war nun die Lesbe zum ›politischen‹ Zeichen/Zeigefinger der a-politischen Mode geworden. Was auf den ersten Blick wie eine Öffnung, wie ein aufeinander Zugehen wirkt, macht sich in einer poststrukturalistischen Perspektive vielmehr wie ein relativ unabhängiges ›Eingedenkwerden‹ der Zusammenhänge und Verwiesenheiten aus, die zwischen Kategorien wie etwa ›Homo‹ und ›Hetero‹ bestehen. In diesem ›Rollenwechsel‹, so könnte thesenhaft festgehalten werden, 1 | Textilie als Text beinhaltete als Kunst- und Forschungsprojekt (Tiroler Kulturinitiative – TKI open 2004) Sprechen über sowie Produktion und Aufführung von Textilem im Kontext lesbischer Subkultur und feministischer Bewegung. Ich danke Elfriede Oblasser für die Zusammenarbeit in diesem Projekt sowie den Teilnehmerinnen des Workshops Lesben-Kleider: Angeleiteter Tratsch. Anleihen für diesen Artikel stammen ebenso vom Forschungsprojekt European Governance: Multi-Level or Post-Democratic (Programm NODE des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung), wofür ich Pier-Paolo Pasqualoni, Alan Scott und Gilg Seeber danken möchte.

entgangen sind. (Das Authentische des Zitats & der Quatsch des Ausgedachten.) Aus aufgelesenen Stücken

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stellen die beiden Seiten das aus und verkörpern es auf ihre je spezifische Weise, was die jeweiligen Identitätsentwürfe als ihre Kehrseite mitbestimmt: Was die »Mode nach der Mode« (Vinken 1993) in Zeiten der Postmoderne weniger trennt bzw. spaltet, ist die Identität selbst. Sie tut dies vielleicht, indem sie das zur Schau stellt, was sie mit dem ›Verworfenen‹ verbindet und was sie diesem ›schuldig‹ ist – etwa die Denaturalisierung der eigenen Identität, ihre Dekonstruktion. Statt eine Identität oder Essenz auszudrücken bzw. zu repräsentieren, zeigt sie deren Kehrseiten und verweist damit auf eine Leere. Sie präsentiert die substanzielle Unhaltbarkeit von Trennungen, auf denen die Moderne auf baut, und verkörpert somit den Schein, den diese angetreten war zu überwinden. Zu diesem Zweck entfernt sich Mode immer mehr von Materialität und kehrt vielmehr ihre konstitutive ›Oberflächlichkeit‹ und Leere nach außen. Ein sexueller (Dress-)Code wurde dabei zur Mode im Sinne eines zeitgemäßen Lifestyles, das von minoritären Subjekten und marginalisierten Gruppen wiederum angeeignet, rückübersetzt, ver-wendet werden kann, ohne noch die ›eigene‹ subkulturelle Aneignung der Position der ›anderen‹ widerzuspiegeln. Dem entsprechend wird lesbische Identität heute auch stärker mit einem ›commitment‹ zu einem spezifischen Set an Lebensstilen als mit sexuellen Praktiken (kritisch) in Verbindung gebracht (vgl. Farquhar 2000: 225ff.). Sexualisierung ist im ›Lesbian Chic‹ in erster Linie in ihrer fetischistischen Form inszeniert, die traditionell mit dem kapitalistischen Warencharakter sowie mit der Mode verbunden wird. Damit wird nach wie vor verdeckt, was diese ›andere‹ Ästhetik vorgab zu präsentieren. Diese Entsexualisierung und Dematerialisierung erinnert an die ›schwindenden‹ Körper, die für den ›Heroin Chic‹ der selben Zeit charakteristisch waren. Sie scheinen ebenso eingebettet in eine Entwicklung der Virtualisierung und Entsubstanzialisierung (Treichl 2005). Bei Baudrillard wird dies etwa gefasst als sexuelle Entzauberung eines Körpers, der zum geschlechtslosen Modezeichen (Requisite, Mannequin) gewordenen ist (Baudrillard 1991: 148f.); Joan Copjec schreibt in Anlehnung an Lacan von einem Übergang einer Ära des Begehrens (der Suche nach Sinn) zu einer des Triebs (der Suche nach dem sinn-losen Genießen). Eine Gesellschaft, die das Sein fetischisiere, würde das Recht auf Genießen zur Pflicht erheben statt es zu gewährleisten: »Wir versuchen nicht mehr, den leeren ›privaten‹ Raum zu schützen, […] sondern wir versuchen, ausschließlich in diesem Raum zu verweilen« (Copjec 2004: 211; Herv. i. Org.). Dies hätte einen Verlust von Öffentlichkeit sowie die Zerstörung der ›civitas‹ zur Folge (Copjec 2004: 211).

zusammengesetzt. So fundamental inkohärent & unbefriedigend wie die Wirklichkeit. Aus von überall

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(Trieb-)Ökonomie und Subversion Der zunehmenden Einbuße von öffentlichem Raum durch dessen marktlogische Durchdringung schreibt Robert Dunn u.a. das ›Scheitern‹ der Neo-Avant-Garden der 1960er und 1970er Jahre zu, eine anhaltende Bewegung ästhetischer Innovation hervorzubringen. Der spätkapitalistische Aufstieg der Massenkultur, ihre technische Reproduzierbarkeit und massenmediale Verfügbarkeit hätte das subversive Potenzial der Auf hebung der Trennung von Alltag und Kunst inzwischen inkorporiert (Dunn 1991: 121ff.). Wenn Karl Lagerfeld oder Madonna heute für den schwedischen Textilkonzern H&M und damit abgestimmt auf die Kauf kraft einer ›breiten Masse‹ Mode entwerfen (2004; 2007), so hat dies vielleicht weniger mit einer ›Demokratisierung‹ der Modebranche zu tun, die nun ökonomische Zugangsbarrieren abbauen will oder ihren elitären Duktus gegenüber dem Popkulturellen öffnen muss. Es ist die logische Konsequenz einer scheinbaren Angleichung von Mode für die Eliten und Kleidung des Mainstreams, dem Zitieren von Szenekleidung und der ›Nivellierung‹ sowie Differenzierung von Szenecodes. Der Wert scheint hier zuerst vom Kleid, also dem Materiellen, auf das Label übergegangen zu sein. Es ist selbst leer, immateriell und wird mit enormem Aufwand mit Bedeutung, Sinn und Wert versehen (Klein 2001), um dem Massenprodukt im Sinne Walter Benjamins eine Aura zu verleihen (Benjamin 1966). Labels kommt die Rolle der Auratisierung und damit Distanzierung des Massenprodukts von seiner ›egalitären Verfügbarkeit‹ zu, ein Trend, der bereits einen Schritt weiter und damit auch zurück gegangen zu sein scheint: Ob ein gewisses Kleidungsstück ein bestimmtes Label hat – zu Recht oder in Hinblick auf Markenkopien zu unrecht – ist inzwischen vielleicht zweitrangig. Der Preis, der für etwas bezahlt werden kann/könnte und der Preis, den andere dafür bezahlen, ist eine Trennung, die in der Mode selbst verdeckt wird. Wir sehen diese Differenz dem Produkt nicht mehr so augenscheinlich an, bekommen die ökonomische und soziale Differenz nicht mehr in der ›modernen Deutlichkeit‹ zu sehen. Dass Reichtum weniger ostentativ zur Schau gestellt wird, hat dabei wohl auch den Grund, dass die Grenzen deutlich gezogen sind. Sie sind etwa im Sinne von Bourdieus Habitus-Begriff inkorporiert genug, um auf Ausstellung verzichten zu können. Ursula Link-Heer konstatiert etwas anders: »Das derzeit so sehr betonte Spiel der ›Karnevalisierung‹ der Mode, ihre Travestien, Verkleidungen und Zitatmontagen kann nur deshalb so lustvoll gespielt werden, weil ihm im Ausstellungsraum der Top-Design-Labels seine präzise sozioökonomische Situierung und die Unterscheidbarkeit der Werte und des Werts

hergeholtem Zeug. (Aber es sind nur Reste.) Dieses falsch Zusammengesetzte. (Die Entwendung von

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garantiert wird.« (Link-Heer 1998, 141f.) Im ›Lesbian Chic‹ wird etwa subkulturelle sexuelle Differenz – ihre ›andere‹ Ästhetik – ausgestellt und gleichzeitig auf Distanz gehalten, im Zuge des Aufstiegs der »counter-subjectivities« (Braidotti 2002: 117f.) wird zielgruppengerecht für eine kauf kräftige Gruppe produziert, die Affinitäten mit einer Ästhetik der Differenz herzustellen und auszudrücken vermag. Die Akzeptanz gegenüber sexueller Devianz, die dabei in Szene gesetzt wird, scheint sich mehr einer sozio-ökonomischen Identität (nennen wir sie Klasse) als einer sexuellen zu verdanken, oder: »Consumer culture shows itself […] open to those who can afford to participate, as the growth of the pink pound demonstrates. In the more sophisticated world of women`s magazines, including Elle and Marie Claire, ›lesbian chic‹ now has an uncontroversial existence.« (McRobbie 1999: 128) In der Abstraktion vom konkreten Kleidungsstück, in der dem Produkt nichts Essenzielles, auch nichts Ideelles unterstellt wird, ist es wiederum der Preis selbst, der zur Materialisierung von Differenz, zur Substanz und Essenz im Tauschverhältnis wird. Er ist es, der getragen wird und bezahlt. Der Preis wird – in Anlehnung an die psychoanalytische Unterscheidung zwischen Phallus-Haben und Phallus-Sein – zum Körper, den man hat oder der man ist. Dieser Befund rückt einmal mehr jenes Verhältnis zwischen Minorität und Hegemonie ins Zentrum, das zum Ansatzpunkt ›kultureller‹ Kämpfe im Fahrwasser der ›Neuen Sozialen Bewegungen‹ geworden ist. Diese an einer Subversion vorherrschender Diskurse orientierten »kulturellen Avant-Garden« der Postmoderne hätten nach Robert Dunn inzwischen die ästhetischen Avant-Garden abgelöst (1991: 112ff.). Subjektwerdung durch ›Konsum‹, Aneignung von Kultur und Kunst im Spannungsfeld von Pluralität und kapitalistischer Verwertung (Dunn 1991) kommt dabei die ›Verantwortung‹ zu, einen subversiven Gehalt von Mode zu realisieren. Diese performativen Praktiken und Maskeraden sind notwendig kontextgebunden und können daher nicht per se als subversiv charakterisiert werden: So wie etwa ›Poor Chic‹ den »rationalen« Stil der Inkorporierung und Domestizierung des ›anderen‹ verkörpern kann, wie Halnon (2002) verdeutlicht, kann er Slavoj Žižek folgend ebenso eine »Reappropriation« durch wohlhabende Menschen bedeuten, die ausgehend von einer überlegenen ökonomischen Position aus der Opposition arm vs. reich herausfällt und diese subvertiert (Poschardt 1996: 20); bereits Simmel hatte dies als elitäres Mittel sozialer Distinktion interpretiert (Simmel 1905). Wird mit der Psychoanalyse jede Subjektivität als gespaltene und jede Identität als Illusion angenommen, so bleibt die Mode ein ungeteiltes Feld, da sie nicht nur aus einem gemeinsamen Tun verschiedener (Gruppen)

Sätzen.) Ein Text wächst auch so. & im Prinzip ins Unermeßliche. Entsteht kein Gefühl von Verbindung

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

erwächst, sondern ebenso aus einem verschiedenen und verschieden hoch bewerteten Habitus von einzelnen (Gruppen), die für sich selbst eine ›Masse‹ und gelegentlich subversiv sind. Die zunehmende Differenzierung von Differenzen in Zeiten der ›Postmoderne‹, die Subjekte aus ihren tradierten gesellschaftlichen Bindungen ent- und dem ›freien‹ Spiel der Signifikanten überlässt, scheint eine größere Vielfalt von Interessen und Genüssen, von Sinn gebenden Wünschen und Begierden zuzulassen, denen mittels unterschiedlicher Praktiken nachgegangen werden kann. Wie Robert Pfaller in Weiterführung von Johan Huizingas Analyse des Spiels ausführt, sind psychoanalytisch betrachtet nicht spezifische Rituale oder Handlungen Gegenstand einer Charakterisierung – hier als ›subversiv‹, sondern die psychische »Haltung« der Ausführenden (Pfaller 2002: 168). Damit virtualisiert oder verinnerlicht sich die Ordnung, die etwa den Maskeraden der Mode wie des Geschlechts innewohnt, ohne ihre politische Relevanz einzubüssen. Statt eines sozialen oder politischen ›Abbilds‹ erscheinen sie heute als Ausdruck einer individuellen ›psychischen‹ Ordnung. Gerade durch dieses a-politische Gewand erweisen sie sich als Masken, die das Politische verhüllen, um es – freilich ›anders‹ – präsentieren zu können.

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oder Verbindlichkeit. Durch Zweckentfremdung, d.h.: durch Wiederverwendung bereits bestehender Ele-

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Butler, Judith (1997): The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford: Stanford University Press. Ciasullo, Ann M. (2001): Making Her In(visible). Cultural Representations of Lesbianism and the Lesbian Body in the 1990s. Feminist Studies 27(3), S. 577–608. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Copjec, Joan (2004): Lies mein Begehren. Lacan gegen die Historisten, München: P. Kirchheim. Crouch, Colin (2004): Post-Democracy, Cambridge: Polity Press. Deuber-Mankowsky, Astrid (1998): »Lesbian Chic Goes Haute Couture«. In: Gertrud Lehnert (Hg.), Mode, Weiblichkeit und Modernität, Dortmund: Edition Ebersbach, S. 280–285. Dunn, Robert (1991): Postmodernism: Populism, Mass Culture, and AvantGarde. Theory, Culture & Society, Vol. 8 (1991), S. 111–135. Farquhar, Clare (2000): ›Lesbian‹ in a Post-Lesbian World? Policing Identity, Sex and Image. Sexualities 3(2), S. 219–236. Garber, Marjorie (1993): Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety, London: Penguin Books. Gast, Lilli (Hg.) (1996): Joan Riviere. Ausgewählte Schriften, Tübingen: edition diskord. Halnon, Karen Bettez (2002): Poor Chic. The Rational Consumption of Poverty. Current Sociology 50(4), S. 501–516. Harrasser, Karin/Riedmann, Sylvia/Scott, Alan (Hg.) (2007): Die Politik der Cultural Studies – Cultural Studies der Politik, Wien: Turia + Kant. Holert, Tom/Terkessidis, Mark (Hg.) (1997): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin/Amsterdam: ID-Archiv. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1993): »Kulturindustrie. Auf klärung als Massenbetrug«. In: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Auf klärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 128–176. Irigaray, Luce (1980): Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kawamura, Yuniya (2006): Japanese Teens as Producers of Street Fashion. Current Sociology 54(5), S. 784–801. Klein, Naomi (2001): No Logo. Der Kampf der Global Players um Marktmacht, München: Riemann. Kolesch, Doris (1998): »Mode, Moderne und Kulturtheorie – eine schwierige Beziehung. Überlegungen zu Baudelaire, Simmel, Benjamin und Adorno«. In: Gertrud Lehnert (Hg.), Mode, Weiblichkeit und Modernität, Dortmund: Edition Ebersbach, S. 20–46. Kroll, Renate (Hg.) (2002): Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler.

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Vinken, Barbara (1993): Mode nach der Mode. Zeit und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Fischer.

tischen Internationale« heißt es doch: »Alle in Potlatch veröffentlichten Texte können ohne jede

Herkunftsangabe vervielfältigt, nachgeahmt oder auszugsweise zitiert werden.«) Was macht mich sicher,

..

daß ich richtig zitiert habe? Was ist das für ein Schwachsinn! Die Poesie ist nichts, wenn sie zitiert wird.

Sie kann nur zweckentfremdet wieder ins Spiel gebracht werden. Hier wie anderswo geht es darum, das

»Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass es funktioniert .« Eine Abschlussdiskussion

Die Tagung zum Thema SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart fand vom 14. bis 16. Juli 2006 im Künstlerhaus Edenkoben statt und wurde abgeschlossen von einer Podiumsdiskussion. Auf dem Podium saßen der Internet-Künstler Hans Bernhard (Wien/St. Moritz), der Lyriker Michael Buselmeier (Heidelberg), die Literaturwissenschaftlerin Franziska Schößler (Trier) sowie die NetzKünstlerin Rena Tangens (Bielefeld). Bei den fettgedruckten Hervorhebungen im Text handelt es sich um redaktionelle Eingriffe, mit denen auf Kernaussagen der Diskutierenden verwiesen werden soll. Thomas Ernst (Moderator): Zu Beginn dieser Diskussion möchte ich alle Teilnehmenden bitten, Stellung zu zwei Fragen zu beziehen: Inwiefern lässt sich Ihr und Euer eigenes Schaffen, Arbeiten und Wirken in eine Verbindung bringen mit dem Thema ›Politik und Ästhetik‹? Und was ließe sich daraus ableiten an Fragestellungen oder Thesen für unsere Diskussion? Da Franziska Schößler als Professorin nicht künstlerisch aktiv ist, wird sie beginnen und sich allgemeiner äußern zu dem, was in den letzten zweieinhalb Tagen auf dieser Tagung zum Thema ›Subversion‹ diskutiert worden ist. Franziska Schößler: Ich fühle mich in der Tat nicht zuständig für das Verhältnis von Politik und Ästhetik, jedenfalls nicht in einer praktischen Form, denn Sie wissen alle: Die Wissenschaft ist die Eule der Minerva, die immer

Maß zu überschreiten. (Während sich im gleichen Augenblick ein neuer Kontext öffnet.) Also, wir haben

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nur in der Dämmerung fliegt, wenn die Dinge bereits geschehen sind und die Reflexion eintritt. Wir haben im Einführungsvortrag von Mark Terkessidis gehört, dass Subversion dann nicht stattfindet: Wenn die wissenschaftliche Reflexion über Subversion eingesetzt hat, sind wir aus einer praktischen Form von Subversion immer schon hinaus. Ich würde Ihnen gerne eine kleine Übersicht bzw. ein kleines Stufenmodell vorstellen, denn ich hatte den Eindruck, dass wir im Verlauf der Diskussionen sehr unterschiedliche Subversionsbegriffe bedient oder auch definiert haben. In meinem Beitrag möchte ich Vorschläge machen, welche Begriffe man voneinander unterscheiden könnte, wobei ich die Ästhetik auf der einen, das Politische auf der anderen Seite sehe. Die erste Stufe wäre eine Form von rein immanent-ästhetischer Subversion, also eine Bewegung, die sich innerhalb eines ästhetischen Raumes vollzieht. Diese Form haben wir zum Beispiel in den verschiedenen Beiträgen über das Theater gesehen: In den Theaterstücken von René Pollesch oder auch Falk Richter vollzieht sich die Subversion von geschlossenen Sprachblöcken, werden bestimmte Sprachweisen, zum Beispiel das Ökonomische, durch eine andere Sprachweise unterlaufen – das wäre ein ästhetischer Prozess. In diesen Theaterstücken wird jedoch die Institution Theater selbst nicht reflektiert oder die geschlossene Institution der autonomen Kunstsphäre verlassen. Deswegen würde ich das als immanenten ästhetischen Prozess beschreiben. Die zweite Variante wurde deutlich bei dem Vortrag über das afrikanische Museum und in der Diskussion mit Florian Neuner: Subversion kann als Institutionenreflexion verstanden werden. Da besteht eine gewisse Koinzidenz mit dem Avantgarde-Begriff: Die traditionsreichen Bedingungen einer Institution, die meistens nicht thematisiert werden, werden zum Gegenstand einer Kunstäußerung. Mein Lieblingsbeispiel ist Rainald Goetz in Klagenfurt, der die Bedingungen eines Literaturwettbewerbs zum Inhalt seines Textes macht und die reine Geste der Rede durch das Blut konterkariert.1 Eine weitere Variante wäre, dass man versucht, Kunst und Leben zu fusionieren, wie es sich die Avantgarde auf ihr Banner geschrieben hat. Wir haben an vielen Beispielen beobachtet, wie sich Kunsträume zu Alltagspraktiken öffnen und damit Wahrnehmungsveränderungen provozieren. Das wurde auch deutlich in der Diskussion über die 1 | Rainald Goetz schnitt sich 1983 beim Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis während des Vortrags seines Beitrags Subito mit einem Skalpell die Stirn auf und las weiter, während Blut aus seiner Stirn auf den Text tropfte.

das Recht, Gegengewalt auszuüben. Sagt Günther Anders. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gekom-

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Fotoausstellung, an der Karen Wagels mitgewirkt hat. Man könnte hier vielleicht den Begriff des ›eingreifenden Denkens‹ von Bertolt Brecht ins Spiel bringen. Man versucht, über künstlerische Aktionen die Grenze der autonomen Kunst zu überschreiten. Wir befinden uns noch immer in einem bürgerlichen Zeitalter, in dem Kunst durch Autonomie definiert ist, jedenfalls der Tradition nach. Es gibt jedoch Orte, an denen diese Grenzen überschritten werden, und wo Kunst auf Alltagspraktiken ausstrahlt. Diese Formen der Überschreitung könnte man über den Begriff der Verschaltung beschreiben: Subversion findet vor allem an Orten statt, wo Systemgrenzen oder auch Diskursgrenzen gezogen und unterlaufen oder unterwandert werden. Ich gehe dabei von Stephen Greenblatt aus, der deutlich gemacht hat, dass der Kapitalismus dazu tendiert, Systeme – also das wirtschaftliche System, das politische System usw. – voneinander abzugrenzen, und zum Beispiel die theatralischen Momente des Juristischen ausblendet, also versucht, die Systeme voneinander zu isolieren. Subversion wäre der Versuch, diese Isolation aufzubrechen und bestimmte Diskurse miteinander zu verschalten. Wenn zum Beispiel Literatur und Recht in Konflikt kommen und es gerichtliche Prozesse gibt, werden offensichtlich Grenzen durchbrochen. Christoph Schlingensief ist für mich ein Beispiel für jemanden, der die Felder Literatur, Kunst und Politik fusioniert, wie bei Chance 20002. Das geschieht auch, wenn seine Aktionen den Nationaldiskurs thematisieren, er also nach Österreich geht und Österreichschelte betreibt. Dann kommt für gewöhnlich die Frage: Darf man denn das? Darf man (als Deutscher) in der Schweiz eine politische Partei verbieten? Dass Tabubrüche, Skandale oder Prozesse stattfinden, wäre zumindest ein erstes Indiz dafür, dass eine Engführung von eigentlich getrennten Feldern stattfindet. Auch die Big Brother Awards 3 von FoeBuD e.V. und Rena Tangens sind ähnlich angelegt: Man interveniert in den wirt2 | Hinter Chance 2000 verbirgt sich ein Projekt, das sich an der Schnittstelle von künstlerischer und politischer Aktion bewegt: Die gleichnamige Partei trat unter dem Motto Scheitern als Chance zur Bundestagswahl 1998 an. Vgl. auch: Christoph Schlingensief/Carl Hegemann (1998): Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln: Kiepenheuer & Witsch. 3 | Die Big Brother Awards werden seit 2000 vom FoeBuD e.V. an ›Datenkraken‹ verliehen: Preise erhielten unter anderem die Payback-Karte als Datensammelkarte, die Urintests an Auszubildenden bei der Bayer AG oder Otto Schily für sein Lebenswerk. Vgl. auch: Rena Tangens/padeluun (2006): Schwarzbuch Datenschutz. Ausgezeichnete Datenkraken der Big Brother Awards, Hamburg: Edition Nautilus.

men, daß mit Gewaltlosigkeit nichts mehr zu erreichen ist. Daß sich Logik & Techniken des Knasts zu-

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schaftlichen oder politischen Bereich, überfordert durch einen Preis, der auch einen ästhetischen Aspekt hat, aber stark politisch wird. Das wäre für mich ein Beispiel, wo getrennte Felder miteinander in Kontakt kommen. Die Kehrseite ist natürlich die Frage: Kann wirklich die Isolation von Kunsträumen aufgebrochen werden? In den Vorträgen von Martin Doll, Anna Schober sowie Hans Bernhard und Mirko Tobias Schäfer wurde deutlich, dass bestimmte subversive Techniken nur als avantgardistische Kunstpraxis wahrgenommen werden, aber nicht in die Diskussionen um den Betrieb oder den öffentlichen Raum eingreifen können. Der letzte Begriff von Subversion wäre dann das politische Eingreifen in einem ganz radikal praktischen Sinn. Ich denke, zu diesem Punkt wird Michael Buselmeier noch etwas sagen. Diese Varianten haben sich meines Erachtens aus der Diskussion und den Vorträgen ergeben. Natürlich kann man Subversion auf keinen Nenner bringen, aber zumindest verschiedene Formen des Umstürzens, des Vertauschens ausmachen, wenn ich jetzt mal von der Wortbedeutung ausgehe. Michael Buselmeier: Wenn das Mikrofon nicht funktioniert, kann ich notfalls auch schreien – wenn man etwas in der linksradikalen Bewegung der 1960er und 70er Jahre gelernt hat, dann das Schreien. Subversion weht mir vom Grabe her, es weht mir aus der 1968er-Zeit her und es weht mir aus den noch viel verrückteren 1970er Jahren her. Damals habe ich eine Rolle gespielt als Sponti-Häuptling – die war nicht sehr ruhmvoll, denke ich im Nachhinein, und ich versuche seither, sie loszuwerden, aber das geht nicht, das klebt an einem fest. Entweder ist man der ›68er‹ oder man ist der ›entlaufene 68er‹, dann ist man gleich ein Romantiker. Es ist sehr interessant, die Pressestrategien in solchen Fällen zu beobachten. Wenn ich an Subversion denke, muss ich notwendig an diese Zeit denken. Man hat uns Linksradikale damals in den 1960er Jahren – ich rede hier nicht von der breiten 68er-Bewegung, sondern ich rede von den Führern der Bewegung – ›subversive Elemente‹ geschimpft, und wir haben den Begriff aufgenommen. Wir haben gesagt: ›Wir sind subversiv! Wir sind ganz enorm subversiv! Wir unterwandern dieses System, wir knabbern es an, wir fressen es an, wir unterwühlen es, wir werfen es um!‹ Um mich auf diese Veranstaltung vorzubereiten, habe ich in mein lateinisches Wörterbuch geguckt: ›subvertere‹ heißt ›umwerfen, umstürzen, vernichten‹. Und bei dem Wort ›vernichten‹ zucke ich etwas

nehmend auf andere Gesellschaftsbereiche ausdehnen. In Neapel treten die Straßenbahnfahrer überra-

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zusammen, weil es die Strategien des radikalen Teils dieser Studentenbewegung schon zusammenfasst: Wir wollten den Gegner vernichten, wir wollten nicht ›mehr Demokratie wagen‹, mehr ›Diskurs‹ oder eine ›zivile Gesellschaft‹ – das ganze System war uns ein Dreck. Wir wollten den Kapitalismus zerstören und waren so verrückt zu glauben, dass wir das auch hinkriegen. Wir haben den Kapitalismus als einen Koloss auf tönernen Füßen dargestellt, den man nur noch unterwandern muss, damit er umkippt – das war die eine Schiene. Und die andere war: Der Kapitalismus ist tendenziell faschistisch – also haben wir jedes Recht, alles gegen ihn zu unternehmen. Beides stimmte nicht: Weder war er leicht zu unterhöhlen, das sieht man heute, er ist der Sieger in der Auseinandersetzung geblieben, weltweit. Zweitens war er nicht tendenziell faschistisch – wenn man die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik anschaut, ist davon nichts zu sehen, im Gegenteil. Wir waren eine kleine radikale Minderheit, wir haben uns als Avantgarde verstanden: der Sozialistische Deutsche Studentenbund als wirkliche Avantgarde innerhalb der APO4 , dieser Massenbewegung. Wir zeigten allen, wo es langgeht; wir glaubten, es zu wissen. Wir reorganisierten die marxistische Theorie, wir haben alles für uns funktionalisiert, wir glaubten, die Wahrheit zu besitzen. Es kommt mir heute wahnsinnig vor und konnte auch nur scheitern. Wenn man heute ein Thema wie Subversion diskutiert, dann muss man sich klar sein, dass auf der einen Seite die Avantgarde steht, die kleine Minderheit, die sich als etwas Besseres vorkommt, also die, die durchblicken, und auf der anderen Seite ein Gegner, ein Feindbild, und das muss massiv sein. Ihr könntet euch ja den Bush auf bauen, obwohl es nicht hinhaut. Aber man braucht ein Feindbild und man muss es vernichten wollen, sonst funktioniert das alles nicht. Und wenn ich das jetzt bescheiden auf die heutigen Verhältnisse übertrage, an denen ich ja kaum mehr Teil habe, weil ich gewissermaßen Großvater bin – nicht nur gewissermaßen, sondern wirklich Großvater bin –, so sehe ich keine Avantgarden, weder politisch noch ästhetisch. Ich sehe keine, die vergleichbar wären mit historischen Avantgarden der Ästhetik, und ich sehe keine politischen Avantgarden. Ich sehe auch keinen fest umrissenen Gegner. 4 | Hinter der APO verbergen sich die (linksradikalen) Bewegungen, die sich nach der Bildung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD 1966 als Außerparlamentarische Opposition formierten, da im Bundestag nur noch eine Oppositionspartei vertreten war. Die Proteste und Aktionen der APO erreichten 1967 und 1968 ihren Höhepunkt, ab dann zerfiel sie in zahlreiche Splittergruppen.

schend in einen Blitzstreik. Zum Beispiel. Arbeiter auf dem Nachhauseweg warten vergeblich auf ihre

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Der Kapitalismus hat sich unendlich ausgeweitet, ist viel gefährlicher geworden als zu unserer Zeit, und doch ist er viel unangreifbarer geworden. Aber das Teuflischste an der ganzen Sache ist, dass wir sozusagen selber an der Macht sind. Die rot-grüne Regierung von vorher, die jetzige Regierung von Frau Merkel, die sich von der vorherigen gar nicht sehr unterscheidet, zeigen: Die ganze Bundesrepublik Deutschland ist sozialdemokratisiert. Die Grünen sind sozialdemokratisiert, die CDU ist sozialdemokratisiert – sie ist nicht mehr entfernt die CDU, die sie in den 1960er und 1970er Jahren noch war, sie ist genauso politisch korrekt wie die anderen Parteien auch. Die Politiker der CDU sagen in jedem zweiten Satz: ›Unsere Bürgerinnen und Bürger‹, ›unsere Künstlerinnen und Künstler‹ – die bemühen sich alle um politische Korrektheit. Keiner würde ›Neger‹ sagen, keiner würde ›Zigeuner‹ sagen – alle sagen ›Sinti und Roma‹, nicht mal ›Schwarze‹, sondern ›Afro-Amerikaner‹. Wenn heute einer was Falsches sagt, ist seine Karriere beendet. Was haben wir für eine Tugend-Republik geschaffen! Das war unser Erfolg: Diese erbärmliche Tugend-Republik, die aber nur kaschiert, dass weltweit der Kapitalismus unglaublich expandiert ist. Ganz wichtig ist dabei die Rolle der Medien. Wir hatten in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren eine Mediensituation, die ich jetzt grob als ›rechtskonservativ‹ bezeichnen würde. Gegen die aufzulöcken war für uns einfach. Unsere Gegenöffentlichkeiten mussten wir schon deswegen schaffen, weil uns die bestehenden Medien nicht vorkommen ließen oder uns verzerrten. Seit den 1980er Jahren und bis heute ist die Mediensituation völlig umgekehrt: Die sind fast alle sozialdemokratisiert, sind alle politisch korrekt, die lassen dich über die Klinge springen, wenn du ein falsches Wort sagst. Die sind alle knechtisch erzogen in der einen Meinung, dass hier und jetzt die zivile Gesellschaft herrsche. Wer diese Gesellschaft nicht will: ›Raus!‹ Man hat auch auf der medialen Seite keinen Gegner mehr, sondern die sitzen alle schon in der Macht. Ich glaube, ihr habt ein Thema gar nicht diskutiert, aber ich halte es für diskussionswürdig zu sagen: Wenn du heute Subversion betreiben wolltest – was ich gar nicht unbedingt will als Großvater usw. –, dann gibt es nur die rechtsradikale Option. Wenn du heute was Linksradikales sagst oder man sich die Aktionen von Schlingensief ansieht, den ganzen Quatsch: Das ist doch gegessen, da wird doch kein Tabu mehr gebrochen. Da gehen die Türen auf: ›Schlingensief, komm herein, inszeniere am Grünen Hügel in Bayreuth‹ … Es ist doch alles offen, es gibt kein Tabu mehr. Das einzige Tabu, was besteht, ist die rechte Option. Wenn du die Leute provozieren willst, musst du jetzt mit rechter Option auftreten, du musst ernsten Gesichts ›Ausländer raus!‹ oder ›Neger

Straßenbahnen. Kommt es zu Widerstand, Sabotage, Ungehorsam. Wo die Extreme von Reichtum & Armut

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raus!‹ sagen. Das traut sich keiner zu sagen – obwohl es viele denken. Das ist die Situation. Ich beschreibe nur, was läuft. Rena Tangens: Ich habe mich über die Einladung zu dieser Tagung sehr gefreut, weil es mich zum Nachdenken über die Subversion angeregt hat. Wir verstehen uns erst mal gar nicht als subversiv und das ist auch kein Ziel, das wir verfolgen würden, sondern zunächst einmal bin ich Künstlerin und möchte mit unserem Kunstkonzept etwas erreichen. Wir haben ein Ziel, und das ist Rahmenbau. Art d’Ameublement, also ›Kunst wie Möbel‹ oder ›Kunst als Inneneinrichtung‹, frei nach Erik Satie, der Musique d’Ameublement komponiert hat, die nicht im Mittelpunkt stehen sollte, sondern als Hintergrundmusik komponiert war und das Publikum in den Mittelpunkt gestellt hat. Nach diesem Konzept ist es für uns wichtig, Rahmen zu bauen, um Menschen zu ermöglichen, sich frei zu entfalten, sich willkommen zu fühlen und die besten Möglichkeiten zu haben, um selbst etwas zu erreichen, selber etwas zu tun. Diesen Rahmen haben wir ständig ausgeweitet. Wir haben mit der Satie-Veranstaltung angefangen, haben für die fünfzehn Stunden Musik, die diese Pages mystiques von Erik Satie für die Aufführung brauchen, den Raum so eingerichtet, dass Menschen sich auch gerne fünfzehn Stunden darin auf halten mögen. Wenn man das aber erweitert, muss man sich früher oder später dem politischen Rahmen widmen, denn Räume wie diesen Kunstraum zu schaffen ist etwas, was unter den herrschenden ökonomischen Verhältnissen nicht einfach zu realisieren ist, und deshalb muss man auch an andere Stellschrauben rangehen und an ihnen arbeiten. Ich fand sehr interessant, als Mark Terkessidis gesagt hat, dass es einerseits wichtig ist, dass es ein Ziel gibt, dass aber andererseits auch der Erfolg zählt und die Frage: Was hat das alles gebracht? Wir verfolgen das politische Ziel einer lebenswerten Gesellschaft auch in einer digitalen Welt. Wir haben also ein politisches Ziel und ich glaube, für den Erfolg ist ein Punkt ganz wichtig, nämlich Hartnäckigkeit. Das heißt, wir machen nicht eine Aktion um der Aktion willen oder um der Aufmerksamkeit willen, die angeblich die neue Werbung ist, sondern wir machen eine Aktion, um etwas zu erreichen. Und diese Aktion ist auch nicht das einzige, sondern wir arbeiten auf den verschiedensten Ebenen. Diese anderen Ebenen sind gar nicht sichtbar, über die berichte ich normalerweise auch nicht viel. Beispielsweise gibt es ganz profane Dinge wie Info-Stände in Fußgängerzonen oder das Organisieren einer Demo. Das ist nicht unbedingt cool, wenn da keine tollen Aktionen laufen, sondern einfach nur eine Demo statt-

immer stärker hervortreten. Zu einer Beschleunigung der Ereignisse, bei der jederzeit etwas umkippen

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findet und man Leute tatsächlich dazu bringt, dass sie sich engagieren. Wir beraten auch die EU-Kommission in Datenschutzfragen zu RFIDChips5 oder sitzen am Runden Tisch im Wirtschaftsministerium, um uns dort mit der RFID-Wirtschaft auseinander zu setzen. Wir schreiben wissenschaftliche Paper zum Thema und stehen auch zur Verfügung, wenn die Landeszentrale für Politische Bildung Nordrhein-Westfalen eine DVD zum Thema RFID-Technologie machen will. Auf diesen verschiedenen Ebenen versuchen wir, das Thema zu bearbeiten. Aber die Dinge, die natürlich am meisten Spaß machen, sind die Dinge, die ich hier auch vorgetragen habe,6 nämlich die, die als ›subversiv‹ bezeichnet werden. Zu dieser Hartnäckigkeit finde ich es interessant, dass es mittlerweile von der PR-Industrie, die die Gentechnik-Konzerne berät – also Montsanto und Konsorten –, ein Paper gibt, das heißt How to Succeed like an Activist. Die Konzerne fühlen sich mittlerweile wirklich unter Druck und sie beschreiben dort, wie Aktivisten eigentlich arbeiten und wie sie davon lernen können. Das Paper gibt es auch im Netz, das empfehle ich sehr. In How to Succeed like an Activist beschreiben sie also etwas erschüttert: Aktivisten haben eine Vision, die wollen etwas erreichen, die wollen nicht nur, dass die nächste Aktionärsversammlung und die nächsten Zahlen stimmen, sondern die haben langfristige Ziele und machen, wenn eine Aktion schiefgelaufen ist, die nächste. Das ist ihr Lebenssinn und den verfolgen sie immer weiter. Das ist etwas, was die Konzerne sehr angreift: Dass es Werte gibt, auf die Leute sich beziehen, und dass sie immer weitermachen, diese Hartnäckigkeit. 5 | RFID ist das Kürzel für Radio Frequency Identification, also Funk-Frequenz-Identifizierung. Hinter dieser Technik verbirgt sich ein kleiner Chip mit einer Funkantenne, der in Gegenstände, Etiketten oder Verpackungen eingebaut wird und Impulse senden kann, die auf eine in ihm gespeicherte, weltweit einmalige Nummer rückführbar sind. Auf diese Weise lassen sich zum Beispiel einzelne Joghurtbecher einem spezifischen Käufer zuordnen. RFID-Chips befanden sich unter anderem in den Tickets zur Fußball-WM 2006 in Deutschland und werden im Test-Supermarkt der Metro AG, der sich in Rheinsberg bei Duisburg befindet, getestet (zu Metro gehören Media Markt, Saturn, real, extra, Praktiker und Galeria Kauf hof ). Der Erwerb und der weitere Weg eines einzelnen Produktes lässt sich auf diese Weise einem individuellen Kunden zuordnen – und es ließe sich der Weg des einzelnen Joghurtbechers vom Supermarkt bis in die Mülltonne nachverfolgen. 6 | Rena Tangens hat im Künstlerhaus Edenkoben am 15. Juli 2006 einen Vortrag zum Thema Punkten für den Datenschutz. Die Privacy-Card und weitere Geschichten gehalten.

kann. (& in der Tat geht das bis zu dem Punkt, wo das umkippen kann.) Solidarisieren sie sich mit den

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Den Erfolg einer subversiven Aktion kann man nicht planen, der ist auch nicht abhängig davon, ob die Aktion gut war oder nicht, sondern dafür gibt es äußere Umstände, die man im Kontext der sozialen Bewegungen Window of Opportunity oder Window for Change nennt. Das heißt, wenn man auf günstige Bedingungen trifft, muss man sie erkennen und dann nutzen. Es kann sein, dass man eine gute Aktion macht, die aber nicht auf die richtigen Bedingungen trifft – dann funktioniert es nicht. Eine Bedingung für erfolgreiche subversive Aktionen ist, dieses Window zu erkennen, wenn es gerade offen ist, und dann die Gelegenheit zu nutzen und aktiv zu werden. Last, not least: Ein wichtiger Punkt ist, sich nicht vereinnahmen zu lassen, also nicht den Schnellbeton wirksam werden zu lassen, von dem Hans Bernhard und Mirko Tobias Schäfer berichtet haben, nicht auf der Coolness-Welle zu reiten. Der FoeBuD e.V. hat einen wirklich unhandlichen Namen, der Journalisten zur Verzweiflung bringt. Wir haben uns seinerzeit, 1987, absichtlich nicht Chaos Computer Club Bielefeld genannt, obwohl wir von Anfang an auch ein Hacker-Club waren und eine große Affinität zu dieser Szene haben, weil wir das coole Hacker-Image nicht mit einkassieren wollten. Wir wollten durch eigene Aktionen bekannt werden, und der unhandliche Name ›Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs‹ verwirrt Leute nach wie vor und macht uns schlecht einschätzbar. Hans Bernhard: Ich habe nicht so viel zu sagen zum Verhältnis von Kunst und Politik. Wir befinden uns in einer schizophrenen Situation, denn die Projekte, die ich mit Etoy gemacht habe, und die Projekte, die ich mit UBERMORGEN.COM gemacht habe, wirken von der Oberflächenansicht her hochpolitisch oder, je nach Zuschreibung oder Definition, als subversive Projekte, und sind auch so konstruiert. Da gibt es die Vote-Auction, wo wir Wählerstimmen verkaufen und anderen, nicht wahlberechtigten Gruppen zuführen. Dann gibt es eine Aktion, die wir mit Christoph Schlingensief gemacht haben, die heißt NAZI~LEIN. Da haben wir aussteigewillige Neo-Nazis gecastet und rekrutiert für ein Theaterstück, Hamlet, die wurden dann angestellt, und daraus entwickelte sich ein sozialer Prozess. Mit Christoph zusammen zu arbeiten, ist natürlich immer ein Problem, weil sich der ganze Medienfokus auf ihn richtet und immer dieser ›Aha-Effekt‹ eintritt, weil sofort klar ist: Das ist nun eine style-subversive oder eine konstruiert subversive Aktion, die sich aber in einem klar definierten Rahmen abspielt. Obwohl er immer wieder ausbricht, denn er muss sich ständig neu erfinden, wird aber ebenso häufig wieder eingefangen.

Streikenden, indem sie verschiedene Gegenstände gegen die Bureaus der Straßenbahngesellschaft werfen.

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Auch wir müssen uns immer wieder neu erfinden, das machen wir auch strategisch, obwohl ich – um auf Rena Tangens einzugehen und eine Differenz zu markieren – sagen muss, dass wir absolut ziellos arbeiten. Diese Schizo-Situation besteht nämlich darin, dass wir diese hochpolitisch, subversiv wirkende Außenwirkung haben, aber keine – und das können Sie mir glauben oder nicht, es ist aber bei uns und unseren Projekten so – ideologische Basis, keine politische Motivation, die darunter liegt. Es gibt zwei Interessensfelder: Das eine ist Forschung betreiben, natürlich nicht wissenschaftliche Forschung, sondern künstlerische Forschung. Wir nennen das Experimente in globalen Kommunikationsräumen, die wir machen. Für diese Art der Forschung ist die Ziellosigkeit eine Voraussetzung, weil wir sonst nicht finden können, was wir finden wollen. Das andere ist der Ego-Trip: Wir haben einen hoch intuitiven Ansatz, der nicht dem Forschungsansatz widerspricht. Die persönliche Motivation – und da gehe ich wieder konform mit Rena Tangens – ist der Erfolg, der Kunsterfolg, der Erfolg am Markt. Aber diese Form der Karriereplanung oder die Ausrichtung auf einen langfristigen Erfolg am Markt, das würde ich schon mit dem Begriff Ego-Trip beschreiben. Als Letztes würde ich sagen, eine unserer Arbeitstechniken ist – und da mache ich jetzt einen kurzen Bogen zu dem Paper, das ich zusammen mit Mirko Tobias Schäfer entwickelt habe 7 –, dass wir Systemschwachstellen ausloten und diese für die Forschung einerseits und für unseren künstlerischen Erfolg oder unsere Karriere andererseits nutzen. Aber dadurch, dass wir sie veröffentlichen, führen wir sie der Intelligenz des Systems wieder zu, und dann schließt sich die Schwachstelle – außer, das System, die Firma oder die Regierung sind so dämlich, dass sie es dann nicht tun. In den meisten Fällen wird diese Schwachstelle dann aber behoben. Und als Allerletztes: Für mich ist Subversion nur als time-based, in der Jetzt-Zeit existierend, zu betrachten. Alles andere ist für mich absurd. Thomas Ernst: Im Verlauf dieser Tagung wurde immer wieder von einer Trias gesprochen, die teilweise auch bereits in den Diskussionsbeiträgen anklang: Man müsse von einer Analyse ausgehen, die die politischen und medialen Rahmenbedingungen analysiert und untersucht, wie Ge7 | Vgl. den Text von Mirko Tobias Schäfer und Hans Bernhard zum Thema Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen in diesem Band.

(Hier wie anderswo geht es darum, das Maß zu überschreiten.) Unterdrückung kann explosiv sein. Vom

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sellschaft aktuell funktioniert. Wir haben gerade gehört, 1968 habe man den Staat als einen faschistischen verstanden und gehofft, das gesamte kapitalistische System beseitigen zu können. Heutzutage gehe es eher um Mikrofelder, auf denen man – wie im Bereich Datenschutz – kleine Erfolge erreichen könne. Inwiefern haben sich das kapitalistische System und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert? Zweitens müsse es ein politisches Ziel geben oder – denn das scheint umstritten, wie wir eben gehört haben – gerade nicht, denn es gebe das Jenseitige nicht und ein subversiver Akt trage immer eine verändernde, aber auch eine stabilisierende Wirkung in sich. Dann der dritte Schritt: die Entwicklung und Nutzung subversiver Strategien. Welche Strategien kann ich eigentlich anwenden, um unter den heutigen politischen, gesellschaftlichen und medialen Rahmenbedingungen subversiv tätig zu sein? Michael Buselmeier: Ich habe ja nicht richtig verstanden, was ihr macht. Ich ticke auch irgendwie an euch vorbei und bin mir dessen bewusst. Selbst wenn ich alle eure Vorträge verstanden hätte, hätte ich weiterhin meine Schwierigkeiten mit der historischen Situation. Für euch viel jüngere Leute sind diese 1968er oder die 1970er Jahre, die inzwischen zu heroischen Kampfzeiten hochstilisiert worden sind, so weit vergangen. Das ist bald vierzig Jahre her, und ich überlege mir: Was war ich eigentlich für ein Mensch damals? Damals hatte ich lange Haare und geballte Fäuste und ein Sendungsbewusstsein – und das ist heute alles weg. Dafür sind die Gesellschaft und die Menschen und auch die Intellektuellen heute dermaßen von den Medien durchdrungen, wie es bei uns überhaupt nicht der Fall war. Ich habe damals eine der ersten medienkritischen Gruppen gegründet, 1970 glaube ich, Enzensberger hatte in einem Aufsatz geschrieben, wir sollten uns der Medien bedienen.8 Was waren die Medien damals im Gegensatz zu heute? Medien haben eine demokratische Struktur, hieß es bei Enzensberger, ihr könnt sie selbst bedienen. Wenn ich jetzt im Zug von Heidelberg nach Edenkoben fahre und sehe da hundert Kinder im Zug sitzen, die alle in ihre Geräte reingucken und reinschwätzen und mich nerven, dann ist klar, dass die technischen Möglichkeiten nicht genutzt werden. Die Frage ist, ob die technischen Möglichkeiten zur ›Revolution‹ oder zur Subversion überhaupt nutzbar sind. Das ist aber nicht mein Problem, denn ich verstehe es nicht. 8 | Buselmeiers Hinweis bezieht sich auf: Hans Magnus Enzensberger (1970): Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20, S. 159–186.

Verblöden bis zum Verbrennen. Schließlich sogar Molotow-Cocktails, die einen Teil des Straßenbahndepots

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Für mich hat die ganze mediale Frage, die für euch so wichtig ist, aber eine ganz andere Dimension – ihr lebt ja auch darin, habt alle diese Computer und kennt alle Vernetzungen, keine Ahnung habe ich von den Vernetzungen, will ich auch nicht haben. In eurer nachkommenden Generation geht es darum, die Lücken in diesen Medien zu nutzen für die eigene Ich-Stärkung und für die Karriere, für das Schlingensieftum usw., den Scheinwerfer auf einen selber zu kriegen, und man hat nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei. Wir hätten noch ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn wir die politische Bewegung benutzt hätten für unsere eigene Karriere. Da waren wir zu streng, das hätten wir nicht gemacht, da hätten wir gesagt: ›Nein! Hinaus hier! Keine Presse!‹ Es ist heute eine Situation, in der die Medien das Leben bedrängen. Ich persönlich empfinde die Medien als eine Obszönität, ich finde es eine Unverschämtheit, was sie produzieren. Wenn ich zum Beispiel Comedyshows sehe, worüber die jungen Leute lachen, dann halte ich das für die reinste Obszönität. Da hocken irgendwelche blonden Frauen und reden den größten Unsinn, und das läuft im ersten oder zweiten Programm zur besten Sendezeit, stundenlang. So dass ich eigentlich heute, wenn ich mein subversives Konzept beschreiben müsste, sagen würde: Subversion heute bedeutet für mich, dieses System der Medien zu negieren, indem ich nicht mehr hinhöre. Manchmal hat man eine Vision: Man sitzt da – ich bin ja auch diesen Medien verfallen, jedenfalls den guckbaren – und dann zappt man so herum oder hört Radio, und auf einmal – in diesem ganzen Schund, Scheißdreck und üblen Geschwätz aller Art – kommt ein poetischer Satz, irgendein Gedicht wird zitiert, in irgendeinem Programm liest irgendein Mensch ein Gedicht von Trakl zum Beispiel. Und dann denkst du: Das ist die andere Sprache. Das ist das andere. Das ist aber die Sprache der Tradition, das ist die Sprache der Vergangenheit. Subversion heute wäre für mich nicht mehr die sozialistische Utopie, die war ein Reinfall, es war ein Misserfolg, es wäre auch nicht eine politische Karriere, die ich sowieso nie am Hut hatte, sondern es wäre die Rettung der alten Sprache, die Rettung der alten Bilder, die Rettung der Poesie. Franziska Schößler: Ich nehme das ganz ähnlich wahr, dass man 1968 noch sehr viel klarere Felder und eine Sichtbarkeit von Gegnern hatte, die heute in diesem Maße nicht mehr besteht, aufgrund eines ubiquitären Kapitalismus und einer Medienpräsenz, die auch Gegenstimmen sofort vereinnahmt, umfließt und integriert. Das Wichtige ist jedoch, dass es auch in Anbetracht des politisch kor-

in Brand setzen. (Ein Feuer nach dem anderen zu entfachen, die alle nicht zu löschen sind.) Dann stecken

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rekten Sprachgebrauchs, den Michael Buselmeier als ›Tugendhaftigkeit‹ beschrieben hat, natürlich Orte gibt, für die es unglaublich wichtig wäre, dort Gegner zu erkennen. Ich spiele insbesondere, auch weil das mein Feld ist, auf die universitäre Landschaft an. Ich werde zum Beispiel immer noch attackiert durch das asymmetrische Geschlechterverhältnis an Universitäten, durch diese unglaubliche männliche Dominanz in vielen Bereichen, die in Deutschland noch immer spürbar ist – in anderen Ländern sieht das vielleicht ein bisschen anders aus. Das wäre für mich zum Beispiel ein Feld, wo Gegner sichtbar sind und wo man Strategien entwickeln müsste, um dort vernünftig arbeiten zu können – ich weiß nicht, ob das subversive Strategien sein müssten oder einfach manifest politische. Ein ähnliches Feld wäre der Nationaldiskurs. ›Wir‹ sind noch immer eine Gesellschaft, die so tut, als gäbe es wenige Minoritäten, als wären ›wir‹ relativ homogen. Auch diese Auffassung kann ich auf den akademischen Diskurs zurückbeziehen, in dem noch immer tabuisiert wird – und ich würde sagen, es gibt noch immer Tabus –, dass Kanonautoren in ihren Texten antisemitische Tendenzen aufweisen, also meinetwegen Heinrich Mann oder Martin Walser. Mit welchen Abwehrreflexen die universitäre Landschaft auf entsprechende Untersuchungen reagiert, zeigt mir ganz deutlich, dass bestimmte Strategien Gegner unsichtbar werden lassen. Es scheint nur so – Foucault würde von den verschleiernden Tendenzen des Diskurses sprechen –, als wären die Gegner verschwunden, wobei sie in gleicher Weise, doch anderer Gestalt vorhanden sind. Michael Buselmeier: Wollen wir die alle ausschalten? Arnim, Brentano, die Romantiker waren fast alle Antisemiten. Franziska Schößler: Nein, es geht nicht ums Ausschalten. Es geht darum, dass man den akademischen Diskurs anders strukturiert, dass der Antisemitismus wahrgenommen und nicht tabuisiert wird. Das ist momentan der Fall. Sie brauchen sich nur die Debatte um Martin Walser anschauen, bei der ein junger Germanist in den Feuilletons regelrecht exekutiert wurde, weil er in Martin Walsers Literatur antijüdische Topoi nachgewiesen hat.9 Ich will mich dazu nicht weiter äußern, aber dieser Befund scheint 9 | Es handelt sich hierbei um folgende Untersuchung: Matthias N. Lorenz (2005): ›Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.‹ Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz, Stuttgart; Weimar: Metzler.

sie Autobusse in Brand & gehen erfolgreich gegen Polizei & Feuerwehr vor. Eine Menge von mehreren

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doch evident, wenn man Tod eines Kritikers liest. Es geht mir nicht darum, dass man sagt: Brentano ist nix, sondern dass der akademische Diskurs wahrnimmt, wie seine eigenen Tabuisierungen funktionieren. Das wäre, was ich mir wünschen würde. Rena Tangens: Ich kann gut an das gerade Gesagte anknüpfen: Man sollte sich nicht auf das Konsensgeschwätz einlassen, sondern offen legen, an welchen Stellen ganz klar Interessen vertreten werden und relativ brutale Strategien von der Gegenseite verfolgt werden. In der eben schon zitierten Streitschrift How to Succeed Like an Activist steht auch als Tipp für die Firmen: ›Make enemies, not friends‹. Den Firmen wird also geraten, nicht mehr weiter Konsensverhandlungen und mit den GentechnikGegnern runde Tische zu machen usw., sondern die Gegenstrategie zu fahren und die Leute fertig zu machen. Also als Gegenstrategie zu sagen: ›Wie finanziert sich eure Organisation eigentlich? Das ist doch unmoralisch, was ihr da macht! Wollt ihr, dass die Leute in Indien oder Afrika verhungern? Wenn die den golden rice, der gentechnisch erzeugt und mit Vitamin A angereichert ist, nicht bekommen, dann werden die hungern!‹ Eine Firma sagt zum Beispiel: ›Es ist doch wunderbar, wenn Leute Werbung bekommen, die sie interessiert‹ – was soviel sagt wie: ›Alle nach ihren Bedürfnissen!‹, und suggeriert, dass sie an einer wunderbaren Welt, einem Schlaraffenland arbeiten. Dann sagen wir, dass das eben nicht das Paradies ist, und stellen klar: Diese Firmen machen das nicht aus altruistischen Gründen, damit es den Menschen gut geht und sie nach ihren Bedürfnissen leben können. Sondern sie versuchen, sie möglichst genau auszuforschen, um ihnen möglichst die Sachen anzudrehen, die man ihnen verkaufen kann. Sie versuchen nur herauszufinden: Für welche Strategien sind die Menschen empfänglich? Was können sie überhaupt bezahlen? Wer meckert nicht? Wer macht keine großen Umstände? Es ist wichtig, diese Sachen offen zu legen, die Rahmenbedingungen nicht zu akzeptieren und als gegeben vorauszusetzen. Wir bekommen häufiger gesagt: ›Ach, die RFID-Technik wird sowieso kommen!‹ Dieses ›sowieso‹ ist etwas, was wir unbedingt immer hinterfragen müssen. Mit dem ›sowieso‹ wird auch, wie Max Goldt so schön geschrieben hat, gesagt: ›Wenn das alles ›sowieso‹ passiert, kann ich auch Gagschreiber bei RTL werden oder in einer Marketingfirma arbeiten, denn sonst macht es jemand anderes.‹ Dieses ›sowieso‹ wird auch von der PR-Industrie ganz gezielt eingesetzt. Es gibt vertrauliche Marketingpapiere von der RFID-Industrie, in denen gesagt wird: Verbraucher sind negativ gegen diese Funkchips eingestellt, aber wenn man ihnen

Tausend zerstört Schaufenster & Leuchtreklamen. (Gewalt hat eine selbständige Logik.) In der Nacht

Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass es funktioniert

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sagt, das kommt sowieso, dann werden sie apathisch. Das bezog sich insbesondere auf Deutschland, sie haben Feldstudien gemacht mit Verbrauchern. Wir sollten also wachsam sein! Die Veränderung von Rahmenbedingungen ist wichtig! Noch eine Bemerkung zur Strategie: Hans Bernhard und Mirko Tobias Schäfer haben sich in ihrem Vortrag darauf bezogen, dass es vielleicht eine Strategie gegen die RFID-Technik wäre, Produkte zu entwickeln, die diese Technologie stören. Ja, wir entwickeln solche Produkte: Wir haben RFID-Schutzhüllen für Reisepässe; wir haben ein Gerät entwickelt, mit dem man Tags finden, auslesen und neu beschreiben kann; demnächst werden wir ein Gerät haben, mit dem man sie zerstören kann – durch einen kleinen Mini-EMP, gebastelt aus einer umgebauten Einweg-Kamera von Fuji. Mir geht es aber darum klarzustellen, dass diese Produkte nicht die Lösung sind. Wir wollen nicht Millionen von diesen Geräten verkaufen und vertreten, dass das die Lösung sei, sondern uns geht es darum, mit diesen Entwicklungen darauf hinzuweisen, dass es dort ein Problem gibt – und die Rahmenbedingungen zu ändern. Das heißt: Keine RFIDChips auf Endprodukten für Verbraucher mit Seriennummer, die sie identifizierbar machen. Das ist ein sehr klares Ziel. Apropos Ziel, ich hätte noch eine Frage zu der Nike-Geschichte: 10 Hat sich die Gruppe, die die Aktion mit dem Nike-Platz veranstaltet hat, ansonsten auch mit dem Thema beschäftigt? Die Umbenennung zum Beispiel von Fußballstadien – des Volksparkstadions in Hamburg, der Alm in Bielefeld, es gibt viele andere Beispiele, in irgendwelche Industrienamen11 – ist sicher ein großes Thema und man könnte dagegen vorgehen, dass in dieser Weise die öffentliche Erinnerung an Orte verkehrt wird. Es ist die Frage, ob man sich diesem Thema hartnäckig annimmt – oder ob man eine Kunstaktion macht, und wenn sie im Kunstmarkt erfolgreich war, zur nächsten Aktion übergeht. 10 | Die Gruppe 01.org suggerierte mit ihrer Kunstaktion, die 2003 und 2004 auf dem Wiener Karlsplatz lief, dass dessen Namensrechte vom Unternehmen Nike gekauft worden seien und der Platz nun in Nike-Platz umbenannt werden würde. Vgl. auch: http://0100101110101101.org; und: www.nikeground.de (letzte Zugriffe jeweils am 15.01.2007). 11 | Die Bielefelder Alm wurde 2004 in SchücoArena umbenannt, die Namensrechte am Hamburger Volksparkstadion erwarb 2001 für 15,3 Mio. € AOL, so dass das Stadion seitdem AOL-Arena heißt. Von den achtzehn Fußball-Bundesligastadien der Saison 2006/07 tragen nur die sechs Stadien in Aachen, Berlin, Bremen, Cottbus, Mainz und Mönchengladbach keinen Unternehmensnamen in ihrem Titel.

wird zur Wiederherstellung der Ordnung das Militär gerufen. Obgleich diese Gesellschaft doch um uns

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Zum Thema Kunst noch: Mir ist es wichtig, meine Arbeit nach wie vor als Kunst zu sehen, nicht als politischen Aktivismus, und im Sinne von Rahmenbau, im Sinne von Erik Satie. Ich würde das öffentlich aber nicht als Kunst bezeichnen, weil das dazu führt, dass es nicht ernst genommen wird. Es wird dadurch sofort als ›die wollen nur Spaß machen‹ oder ›die wollen nur spielen‹ abgewertet. Insofern ist auch diese Einordnung in Kunst oder Politik außerordentlich kontextabhängig. Hans Bernhard: Die Künstlergruppe 01.org fällt ganz klar unter Karriereplanung. Ich finde diese Nike-Platz-Aktion nicht gut, weil ich mir gedacht habe: Was soll der Scheiß? So ein affektiertes Getue, und in der Ebene Kunstwerk wird nachher total darauf eingegangen. Ich habe dann mit ihnen geredet und gefragt: ›Warum macht ihr so etwas Schwaches?‹ Und sie haben gesagt: ›Das ist im Prinzip eine Kopie von Warhols Campbell’s Soup‹. Sie nutzen den Nike-Brand und die Kraft der Marke – und das hat für mich schon wieder subversiven Charakter – für ihre Zwecke und transformieren diese Kraft auf ihr Image, also das Nike-Image wird über das 01.org-Kunstimage drübergelegt, aber nur für den Kunstmarkt auf bereitet. Deshalb hat es auch überhaupt keine politische Dimension. Die politische Verwertung hat überhaupt nicht gegriffen, obwohl es probiert wurde. Dafür müsste man andere Strategien fahren – das mit den Fußballstadien ist ein gutes Beispiel, da müsste man ansetzen. Diskussionsbeitrag Nadja Sennewald: Ich habe noch in Erinnerung, dass Martin Doll einen Prozess beschrieben hat, in dem beide Seiten immer besser und professioneller werden, dass es also zum Beispiel unmöglich ist, ›die‹ Industrie zu subvertieren, weil sie inzwischen selbst mit subversiv gelabelten Techniken Werbung macht, dafür gibt es ja ganz viele Beispiele. Andererseits hat Hans Bernhard eben darauf hingewiesen, dass bei euch die Notwendigkeit besteht, euch immer wieder neu zu erfinden. Immer wieder haben Vortragende gesagt, subversive Strategien seien nicht mehr wirksam, weil sie sich abnutzen, bekannt werden, inkorporiert werden. Ich denke dazu: Ja, das stimmt für bestimmte Strategien, aber ein Kennzeichen von subversiven Strategien ist, dass sie immer wieder neu erfunden werden. Das heißt, es gibt einen ständigen Erneuerungsprozess, was man sehr deutlich auch sah in den Aktionen von Rena Tangens, ihr guckt halt nach diesen Fenstern und schaut, wie ihr da reinkommt und mit welchen Strategien ihr reagieren könnt. Ich wollte noch einmal diese zwei Thesen gegeneinander stellen, nämlich

zusammenbricht. (Da dürfte was falsch laufen.) Ungleichheiten & Grenzziehungen verteilen sich. Von

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die These der Inkorporation einerseits und die These der ständigen Erneuerung andererseits. Diskussionsbeitrag Florian Neuner: Ich möchte kurz einhaken bei dem, was Franziska Schößler gesagt hat, und unterstreichen, dass ich auch sehr wohl meine, dass Gegner heute identifizierbar sind. Ich halte das für eine Verschleierungstaktik, die uns aus den Medien, aber auch aus akademischen Diskursen entgegenschlägt. Die große Unübersichtlichkeit, man könne sowieso nichts mehr benennen und identifizieren und es sei alles erlaubt, das stimmt so nicht. Um nur ein beliebiges, nahe liegendes politisches Beispiel herauszugreifen: Wenn jetzt dank Rot-Grün Deutschland wieder meint, in aller Welt Krieg führen zu dürfen oder gar zu müssen, dann finde ich das keine Frage, die so komplex und undurchschaubar ist, dass man sich dazu nicht äußern könnte. Und auf der ästhetischen Ebene: Wenn man sich die MainstreamFeuilletons anschaut und welche Art von Literatur dort überhaupt noch vorkommt, dann denke ich auch nicht, dass man sagen kann, es ist alles erlaubt. Wenn man in einem bestimmten Markt oder oberhalb einer bestimmten Wahrnehmungsschwelle agieren will, dann muss man sehr strengen Regeln gehorchen. Es heißt dann etwa, dass es eine relativ altbackene, erzählende Prosa sein muss, die das einzige ist, was von Radisch12 und Konsorten beachtet und promotet wird. Schon Lyrik, sogar relativ konventionelle Lyrik, ist nicht mehr vermittelbar, wird nicht mehr besprochen. Wenn man zum Beispiel eine Buchreihe macht, ist es wahrscheinlich das Höchste der Gefühle, eine Kurzbesprechung von fünf Zeilen in der Zeit zu bekommen. Hans Bernhard: Auf die Frage von Nadja Sennewald: Ich finde es super, dass ich neben Rena sitze, denn für mich ist ›künstlerische Avantgarde‹ ein superguter Begriff, der nach wie vor funktioniert. Rena ist damals mit Modems auf der Documenta aufgetaucht und hat eine spezielle Form von Medienkunst der ersten Stunde gemacht. Wir müssten dafür eigentlich eine eigene Kategorie finden, aber das wird wohl in der Geschichtsschreibung zehn, zwanzig oder dreißig Jahre später gemacht. Auch bei Etoy ist der Kunstbegriff entscheidend. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass es in der Netzkunst-Avantgarde12 | Iris Radisch ist Feuilleton-Redakteurin und eine bekannte Literaturkritikerin der Zeitung Die Zeit.

einer vollkommen improvisierten & ziellosen Manifestation ist die Rede. (Es gab immer Leute, die sagten:

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Zeit von 1993/94 bis 1997/98 – das kann man aus meiner Sicht so eingrenzen – bei Etoy überhaupt nur diese forschende Motivation gab. Du hast eure Motivation eben mit ›Spaß‹ bezeichnet, Rena, der Spaß an den Aktionen sei eigentlich das Wichtige gewesen. Bei uns hat es nicht Spaß gemacht, bei uns war es eigentlich verkrampft … Rena Tangens: … aber die Toywar-Aktion13 hat doch Spaß gemacht! Hans Bernhard: … die war erst später, die war auch verkrampft. Aber Etoy war ein protofaschistischer, paramilitärischer Jungsverein, noch prä- oder postpubertierend. Aber eigentlich wollte ich sagen: Der Begriff der künstlerischen Avantgarde ist wichtig! ›Elitär‹ ist auch ein guter Begriff für diesen Kontext. Franziska Schößler: Ich würde gerne noch einmal auf die Frage nach dem Immer-NeuErfinden eingehen. Die Avantgarde hatte schon immer das Problem, dass ihr Tod prophezeit wurde – das ist nichts Neues. Denken Sie an die Studie von Peter Bürger,14 in der er den ›Tod der Avantgarde‹ prognostiziert, weil ihre provokanten Strukturen schnell kalkulierbar werden und ihr Provokationspotenzial verlieren. Insofern kann man aus dem Avantgarde-Begriff ableiten, dass jede Form einer solchen Kunst dynamisch sein muss. Was ich interessant finde: Rena Tangens sagte, sobald man seine eigenen Aktionen als Kunst bezeichnet, ist man zur Ohnmacht verurteilt. Das heißt, wir bewegen uns immer noch ganz und gar in einem bürgerlichen Kunstbegriff, der Kunst als autonom behauptet, damit aber seine Ohnmacht erkauft. Kunst ist unabhängig vom politischen Tagesgeschehen – das hat schon Schiller proklamiert –, und die Kehrseite dieser Autonomie ist die gesellschaftliche Funktionslosigkeit und Ohnmacht der Kunst. Offensichtlich gilt diese Bestimmung von 13 | Informationen zum Toywar finden sich im Beitrag von Mirko Tobias Schäfer und Hans Bernhard zum Thema Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ›Subversiven‹ in Medienproduktionen in diesem Band. 14 | Schößler bezieht sich auf: Peter Bürger (1974): Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vgl. auch den Beitrag von Gregor Schröer zum Thema Avantgardistische und postkoloniale Strategien der Entkanonisierung. Zu Meschac Gabas ›Museum Of Contemporary African Art‹ in diesem Band.

Das soll man nicht machen. Man darf es nicht denken.) Von Vorläufern einer umfassenderen Subversion.

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Kunst immer noch, denn sonst müsste man diese Umdefinition nicht vornehmen bzw. müsste man sich nicht hüten, etwas als Kunst zu bezeichnen. Eine Strategie, um diesen Kunstbegriff zu unterlaufen, wäre mit Unentscheidbarkeit zu arbeiten: Ist es Kunst? Ist es Leben? Das wurde auch in Julia Tiekes Vortrag über die Hörspiele15 deutlich: Ich tue so, als sei es echt. Tatsächlich ist es nicht echt, aber niemand weiß das. Das ist ebenfalls eine Strategie, die die Trennung von Kunst und Leben auf heben kann, jedenfalls für Momente. Rena Tangens: Ich möchte auch auf die Frage nach Inkorporation oder ständiger Neuerfindung antworten. Da wir es nicht darauf anlegen, subversiv zu sein oder Avantgarde oder irgendetwas in der Richtung, müssen wir nicht ständig etwas Neues erfinden. Unsere Aktionen entstehen in einem Prozess, der beeinflusst ist dadurch, wie wir organisiert sind. Wir sind eine lockere Gruppe von etwa zwanzig Leuten, die aktiv sind, die sich auch regelmäßig treffen, jeden Dienstag, und da kommen völlig verschiedene Leute zusammen: Künstler, Programmierer, Taxifahrer, Erzieherinnen, Journalistinnen, Gärtner usw. Das sind Leute, die aus ihrem Kontext heraus plötzlich eine Idee haben, die zu dem, worüber wir gerade reden, irgendwie passt. Das führt dann dazu, dass aus diesem kreativen Gewusel immer wieder neue, merkwürdige Ideen herauskommen. Die Ideen, die wir mittlerweile verbreitet haben, über die Freiheit, nicht erfasst zu sein, nicht kontrollierbar und Handlungsfreiheit für die Zukunft zu haben, sind etwas, was viele Leute anspricht. Mittlerweile haben wir auch viele Sympathisanten innerhalb von Firmen. Die Leute, die dort zum Beispiel Systemadministratoren sind, sympathisieren durchaus häufig mit dem FoeBuD e.V., und dadurch kommen wir auch an Informationen heran, die uns normalerweise nicht erreichen sollten. Unter anderem weiß ich, dass die Metro AG furchtbare Angst vor uns hat, weil sie nicht weiß, was wir als Nächstes tun werden, das ist für sie nicht einzuschätzen. Es ist nicht etwas, worauf wir es anlegen, was aber passiert. Dass wir die Metro AG als Gegner identifiziert haben, war nicht etwas, was wir uns von Anfang an vorgenommen hatten, sondern das hat die Metro durch ihre Handlungsweise herauf beschworen. Wir 15 | Julia Tieke hat im Künstlerhaus Edenkoben am 15. Juli 2006 einen Vortrag zum Thema Störungen im Sendeablauf. Subversion von Formaten und Sprechkonventionen im Hörspiel gehalten.

Warum kommt es dennoch immer wieder zu Beispielen für Militanz? Warum haben sich die Widerstände

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wollten eigentlich ganz freundlich mit ihnen darüber verhandeln, wie RFID-Technologie demokratieverträglich gemacht werden kann. Aber sie wollten nicht mit uns reden und haben gedacht, dass sie uns an der Nase herum führen könnten, und das hat letzten Endes aber zu dem Effekt geführt, dass wir immer einen Schritt voraus waren. Michael Buselmeier: Mein Subversionsbegriff ist natürlich historisch geprägt und impliziert die radikale Absage, also die Absage an das System und die Absage an das Kunstsystem: Du darfst dich nicht mit ihm verbandeln, keine Zwischenwege suchen. So seltsam das auch klingt: So war das früher. Aber ich möchte, vielleicht euch zur halben Freude, doch einwenden: Mir ist eben eingefallen, dass ich 1968 bei der Documenta 4 in Kassel mit Bazon Brock diskutiert habe. Bazon Brock war damals schon der Star der Intellektuellen, gerade der Kunstszene. Ich plädierte natürlich für die Abschaffung des Kapitalismus und Bazon Brock war, wenn man so will, schon damals historisch weiter, der sagte: ›Quatsch, du mit deinem blöden Sozialismus! Im Gegenteil: Für eine Strategie der affirmativen Praxis!‹, so nannte er das. Die Affirmation klingt hier ja dauernd, das hört selbst mein schwaches Ohr, durch eure Beiträge durch. Die Affirmation ist es eigentlich, diese Mischung: Wir müssen irgendwie radikal sein und gleichzeitig doch Teil des Systems. Bazon Brock hat schon damals die Strategie der affirmativen Praxis entworfen, das hieß bei ihm: ›Freiheit bedeutet tausend Kühlschränke in der Minute.‹ Das war eine ungeheuerliche Provokation. Oder: ›Ich will vierzig Programme gleichzeitig sehen.‹ Der wusste nicht, dass das heute möglich ist, natürlich… Er sagte auch: ›Kunst gibt es nicht mehr. Die Kunst ist abgeschafft. Der Künstler als personale Instanz ist abgeschafft. Du hast ganz antiquierte Vorstellungen vom Literaturproduzenten als einem individuellen Autor. Heute ist die Rezeption dran.‹ Ich habe ihn inzwischen ein paar Mal getroffen und mit ihm geredet, heute würde er das nicht mehr so sagen, aber damals hat er gesagt: ›Der Künstler ist ohne Bedeutung, es gibt nur noch die Rezeption.‹ Dann hatte er solche Rezeptionskästchen, in die man reingrabschen musste, da war dann irgendetwas Rauhes und irgendetwas Weiches und etwas Nasses und etwas Trockenes drin. Auf diese Weise entwickelte er seine Versuche, eine ›Besucherschule‹ aufzubauen, mit Bewegungen und mit Hören. Das war einerseits verrückt, mit den tausend Kühlschränken in der Minute als Freiheitsdefinition, passt aber, wenn man sagt: Das System ist nicht abzuschaffen, das System ist so stark, dass du, wenn du was

vertieft, & warum taucht der Kampf immer wieder mit neuer Kraft auf? Wenn es aber brennt, dann laß

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erreichen willst, da hineingehen musst, mitspielen musst, die Kühlschränke mit angucken musst, die Fernsehgeräte angucken musst, den Scheißdreck angucken musst, ihn für dich nutzbar machen musst und am Ende noch sagen musst: Das ist der Erfolg, dass ich das mache. Wir haben schon früher diskutiert, dass man als bürgerliches Individuum aus der Dialektik zwischen Revolte und Anpassung generell nicht heraus kommt. Das ist auch die Quintessenz der bürgerlichen Literatur, wie in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich. In der ersten Fassung kommt der grüne Heinrich gescheitert nach Zürich zurück, seine Mutter ist gestorben, die alles Geld für ihn ausgegeben hat, und er hat ein solches Schuldbewusstsein, dass er stirbt. Ein junger Mann stirbt einfach so, es wird nicht gesagt, wie. Im Alter hat Keller den Grünen Heinrich umgeschrieben, und er endet nun damit, dass der grüne Heinrich zurückkommt, er ist als Künstler in München gescheitert, die Mutter lebt noch, kann ihm noch verzeihen, und er wird Angestellter der Züricher Verwaltung. Jetzt fragt man sich natürlich: Was ist die größere Niederlage? Die Selbsttötung oder die Tatsache, dass er sich schicken muss in die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft? Die ›erpresste Versöhnung‹, wie Hegel das nennt: ›Das Schicksal des bürgerlichen Individuums ist die erpresste Versöhnung.‹ Er macht also seinen Frieden mit dem System, egal, was er macht: Passt er sich an, bringt er sich um, wird er Künstler – es ist egal. Er ist am Ende so weit, dass er den Herrschenden aus der Hand frisst. Wird er alt, wird er krank, fallen die Zähne aus, die Haare, geht der Körper kaputt, dann ist er umso bereiter, Kompromisse zu schließen. Also: Es endet nicht sehr gut mit uns, das wollte ich nur sagen – auch mit mir nicht … Franziska Schößler: Das Interessante ist, dass die Literaturwissenschaft die erste Fassung liebt, die gilt im Kanon als die bessere Fassung. Michael Buselmeier: Die realistischere Fassung ist selbstverständlich die zweite, in der er Beamter in der Züricher Verwaltung wird. Franziska Schößler: Wahrscheinlich… Diskussionsbeitrag Anna Schober: Mir ist aufgefallen, dass eigentlich alle – bis auf Hans Bernhard – dargestellt haben, dass sie mit ihrer Haltung eine gemeinsame Welt

dich weder von Brutalos einschüchtern noch von verständnisvollen Onkel-Typen weichlabern. Dann mache

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konstruieren wollen. Hans Bernhard sagt das wiederum nicht, er will nur sein Produkt platzieren. Ich finde das ganz interessant, glaube aber, dass es im Kunstbereich nicht funktioniert, damit Erfolg zu haben. Die Gruppe, die diesen NikePlatz konstruiert hat zum Beispiel, die hat zwar einen beschränkten Erfolg im Kunstfeld, aber sie wird nicht als interessante Kunstgruppe diskutiert. Das ist also zu wenig – die Kunst lebt nach wie vor davon, dass auch etwas Gemeinsames konstruiert wird. Ich glaube, das ist nur eine gute Marketingstrategie, wenn man mehr Nike-Schuhe verkaufen will, funktioniert das. Aber wenn man etwas anderes will, funktioniert es nicht. Hans Bernhard: Über den Punkt, dass ich nur ein Produkt verkaufen will, bin ich schon lange hinweg. Das war mit Etoy so, dass wir gesagt haben: Wir haben eigentlich kein Produkt, aber die Aktien der Firma sind jetzt eigentlich das Produkt, das wir verkaufen. Ich kann das nicht anders zuordnen, weil ich meine Aktion auf einer Forschungs- und einer experimentellen Ebene ansetze. Ich werfe einen Stein ins Wasser und beobachte, was passiert. Das kann man natürlich im Nachhinein beschreiben und gleichzeitig an seiner Legende arbeiten. Es ist ein Teil der Arbeit, den man machen muss: Als Teil der Avantgarde muss man sich selber in die Geschichte einschreiben. Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht glauben würde, dass es funktioniert. Transkription und Bearbeitung der Podiumsdiskussion: Thomas Ernst

so eindeutig & monoton wie möglich klar, daß du umfassend die Aussage verweigerst. Dann antworte auf

jede, aber wirklich auf jede Frage: »Ich verweigere die Aussage!« »Regnet es draußen?« – »Ich verwei-

gere die Aussage !«; »Wollen Sie einen Kaffee?« – »Ich verweigere

die Aussage !«; »Wollen Sie vielleicht mit

dich für blöd jemandem anders sprechen?« – »Ich verweigere die Aussage!« Keine Angst: Niemand wird wird im Gegent eil sehr schnel l kapieren, daß es dir halten, auch wenn dein Gegenüber so tun wird. Er

ernst ist & du dich nicht übertölpeln läßt. (Daß unsere Kampfformen nicht ausreichen, ist eine andere ophenplans. Das Problem der Sprache steht Frage.) »Ruhe bewahren« lautet die Grundregel jedes Katastr im Mittelpunkt aller Kämpfe um die Abschaffung oder Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Entfremdung.

etzwerke im polit ischen Kampf Bedeutung & die Kom mun ikationsn So wird die Kont rolle über Spra che,

zu einer immer zentraleren Frage. Das läßt sich vom gesamten Terrain dieser Kämpfe nicht trennen.

Es ist eine Destabi lisierung erfo lgt, die bis heute nachwi rkt. Die spra chliche Produktion der Rea lität &

die Sprache der Selbstrechtfertigung. (Die Sprachspezialisten behaupten, daß »die Wirklichkeit in der Sprache liegt«. Oder daß die Sprache nur an sich & für sich selbst betrachtet werden kann.) Weiter an

den Rändern aber. Es kom mt ja nich t in Frage, daß wir Literatur wah rneh men ohne die Wah rneh mung

der Wirklichkeit. Sagt Christian Geissler. Daß wir Literatur schreiben ohne die Wahrnehmung der Bloß einen kritischen Geist zu pflegen Wirklich keit. Es wird weder Umkehr noch Versöhnung geben.

wird unmöglich. Etwa: Alle Führenden als Geisteskran ke schildern, aber ihr System ist so tief in uns

eingedrungen, daß auch wir verrückt sind. Wie die Leser feststellen können, hat das Schreiben heute

en Wein trinke, tüberl »Zum Lois«, wo ich lesend sitze, mein immer etwa s Parod istisches. Im Heur igens werde ich zurechtgewiesen. (Wir tranken über das Maß hinaus alle Arten von Wein.) Dialog sei doch wohl

ts an diesen Tisch g verweiger n würde, wenn ich mich absei wicht iger als Literatur! Daß ich den Dialo setzen würde, lesend, wenn ich an den Gesprächen an der Theke nicht teilnehmen würde. Die Sprache ist das eigentliche Element des Denkens, & Sprache vollzieht sich wesentlich dialogisch. & die Sprache

ist zunächst ein gewa ltfreies Mediu m der

Verst ändig ung & Verst ändn isorientieru ng.

Werde er mich jetzt

am Lesen hindern, indem er mich in ein Gespräch verwickeln werde. Daß man das nicht gegeneinander

ausspielen solle, versuche ich mich herauszureden. Daß man den Dialog selbstverständlich brauche, aber

eben auch Literatur. Ob ich das ernsthaft glaube, wäre eine berechtigte Frage. Der sogenannte Ernst der Kunst ist doch, verglichen mit dem Ernst dessen, was droht, reine Verspieltheit. Angesichts der Angst vor Gewalt, Armut & Erwerbslosigkeit. Wie siehst du die Chance auf Gegenwehr? Könnte man fragen.

Was kann Gegenöffentlichkeit heutzutage bewirken? Wo setzt sie überhaupt an? In dieser Perspektive sind alle Mittel recht. Notstand legitimiert Notwehr. In einem Umfeld des Mißtrauens gegenüber Formen der Rebellion, des Prot estes, der Alternat iven zur best ehenden Gese llschaftsordnung. Es gibt kein Ent-

kom men. Wen n man Glück hat, triff

© Ritter Verlag, Klagenfurt , 2007.

t einen der Schlag. Sagt Ilse Aich inge

r. Dem ist nichts hinz uzuf ügen.

Kurzbiografien

Hans Bernhard studierte visuelle Kommunikation, digitale Kunst, Kunstgeschichte und Ästhetik an der Universität für Angewandte Kunst bei Peter Weibel und an der University of California San Diego, dem Pasadena Art Center College of Design und an der Universität Wuppertal bei Bazon Brock. Er ist Künstler und arbeitet unter den Pseudonymen Net_Callboy, etoy.HANS, Dr. Andreas Bichelbauer, Bart Kessner an kommunikativen Verschaltungen, Media Hacks und Fine Art. Er war Mitglied der schweizer Künstlergruppe etoy, die in den 1990er Jahren den Toywar gegen das börsennotierte Unternehmen eToys führte. Mit UBERMORGEN.COM und etoy ist Hans Bernhard seit über zehn Jahren auf zahlreichen Festivals, Ausstellungen, in Galerien und Museen vertreten. Mehr Informationen unter www.ubermorgen.com, www.hansbernhard.com und www.etoy.com. Inga Betten studierte von 1997 bis 2005 Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Kunstpädagogik in Frankfurt a.M. und Keele/England. Von 2001 bis 2005 war sie studentische Hilfskraft und freie Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt Uniform in Bewegung. 2005 verfasste sie ihre Magisterarbeit zum Thema Die Politik der (Un-)Sichtbarkeit – die Maske der Zapatistas als Subversion des Blickregimes. Gründungsmitglied der Performance-Gruppe red park, seit 2005 arbeitet sie als Mitarbeiterin bei die brut royal Werbeagentur im Bereich Konzeption, Analyse und Strategie.

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Natalie Bloch studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Pädagogik in Münster. Seit April 2002 promoviert sie über das Thema Sprache als Ort der Gewalt. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in zeitgenössischen Theatertexten bei Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal in Bielefeld (bis 2004 gefördert von der Stiftung Bildung und Wissenschaft des deutschen Stifterverbands). Ihre Leidenschaft für das Theater entdeckte sie während einer einjährigen Regiehospitanz 1992-1993 beim Theater an der Ruhr, es folgten zahlreiche Regieassistenzen bei Theater und Film. Während ihres Studiums arbeitete sie von 1993 bis 1998 mit der freien Theatergruppe Ex-it. Beim Rowohlt Theaterverlag verfasste sie 2000-2001 Rezensionen für den Theaterkatalog und arbeitete von 2004 bis 2006 als Redaktionsmitglied für das die Mülheimer Theatertage begleitende Heft Stück für Stück. Seit 2002 schreibt sie als freie Autorin für Theater heute und hat seit dem Wintersemester 2006/07 einen Lehrauftrag an der Universität Luxemburg. Natalie Bloch lebt im Ruhrgebiet. Dr. Tanja Bogusz, geboren 1970 in Hamburg-Altona. Ausbildung zur Industriemechanikerin mit der Fachrichtung Maschinen- und Systemtechnik, Studium der Romanistik (Französische Philologie), der Journalistik, der Linguistik und der Soziologie in Hamburg, Paris und Berlin. Von 1995 bis 2006 war sie regelmäßig als Teamerin in deutsch-französischen Austauschprogrammen in Kiel, Berlin, Marseille und Paris tätig. Nebentätigkeiten in Druckereien, am Theater und als freie Autorin. Magister 2004 mit einer literatursoziologischen Arbeit über die französischen Surrealisten, Promotion 2006 am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin bei Wolf Lepenies. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Praxeologie des Sozialen, Wissensgeschichte des 18. Jahrhunderts, Kultursoziologie, Konstruktionismus. Kontakt unter [email protected]. Michael Buselmeier wurde 1938 in Berlin geboren, er schreibt Lyrik, Prosa und Literaturkritiken und lebt in Heidelberg. Er absolvierte Ausbildungen als Schauspieler und Regieassistent, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und lehrte an verschiedenen Hochschulen. Er erhielt u.a. das Amsterdam-Stipendium (1983, 2000), den Thaddäus-Troll-Preis (1995), den Martha-Saalfeld-Preis (1995), das Plovdiv-Stipendium in Bulgarien (1997), den Pfalzpreis für Literatur (2000) sowie das Stipendium Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf (2002).

Kurzbiografien

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Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. Nichts soll sich ändern. Gedichte (1978, Wunderhorn); Der Untergang von Heidelberg. Roman (1981, Edition Suhrkamp); Radfahrt gegen Ende des Winters. Gedichte (1982, Suhrkamp); Jahrbuch der Lyrik 1996/98 (1996, Beck, hg. zusammen mit Christoph Buchwald und Michael Braun); Erlebte Geschichte erzählt 1994-97. Interviews (2001, Wunderhorn); Erlebte Geschichte erzählt 1998-2000 (2002, Wunderhorn) und Amsterdam. Leidensplan (2003, Wunderhorn). Dr. rer. pol. Armin Chodzinski wurde 1970 geboren, studierte Freie Kunst in Braunschweig und setzt sich seit über zehn Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Verhältnis von Kunst und Ökonomie auseinander. Als Künstler, als Assistent der Geschäftsleitung eines Handelsunternehmens, als Manager, als Unternehmer, als Berater oder als Dozent an wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland und der Schweiz hat Chodzinski vielfältige Erfahrungen mit dem Verhältnis von Kunst und Ökonomie gemacht. Der Wille zu verstehen, was in diesem Verhältnis entsteht, ob es mehr ist als die Konstruktion einer Differenz, treibt ihn in diese Auseinandersetzung, die vor allem die Beschäftigung mit Gesellschaft, Gestaltung und dem Handeln an sich ist. Seit 1999 wirkt Chodzinski kontinuierlich in Management, Beratung und Lehre, nimmt an internationalen Ausstellungen teil und forscht in Raum, gesellschaftlicher Praxis, Kunst und Ökonomie. 2007 erschien im Kadmos Verlag Kunst und Wirtschaft. Peter Behrens, Emil Rathenau und der dm Drogerie Markt, außerdem im Textem-Verlag Revue # 1 – Bühnenmanuskript: Version II/b. Martin Doll ist Diplom-Theaterwissenschaftler, Cutter, On-AirPromotion-Redakteur sowie Autor journalistischer TV-Beiträge und -Spots; er studierte von 1996 bis 2001 Angewandte Theaterwissenschaft (Drama, Theater, Medien) in Gießen. Von 1999 bis 2002 war er Mitglied der Performance-Art-Gruppe Drei Wolken; Regisseur und Performer u.a. für die EXPO 2000 Hannover, das Staatstheater Darmstadt und den Mousonturm Frankfurt a.M. Seit 2000 Lehraufträge für Schnitt an der Universität Gießen, seit Oktober 2003 ist er Stipendiat des Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung (vgl. http://web.uni-frankfurt.de/f b10/grakozeit/) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M.. In seinem Dissertationsprojekt arbeitet er über Fälschung und Fake. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Michel Foucault, Politik durch Kunst und Kunst durch Medien. Thomas Ernst wurde 1974 im Ruhrgebiet geboren und studierte Philosophie und Germanistik in Duisburg, Berlin, Bochum und Leuven/

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Belgien. Seine Dissertation zum Thema Pop, Minoritäten, Untergrund. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa wurde von der Hans Böckler Stiftung und der Universität Trier unterstützt und 2007 abgeschlossen. Er veröffentlichte das Buch Popliteratur (2001/2005), den Band Wissenschaft und Macht (Mit-Hg., 2004) sowie zahlreiche Buchbeiträge, Essays und Aufsätze zur Gegenwartsliteratur und -kultur. 2005 war er Gastwissenschaftler an der Columbia University in New York. Er absolvierte zahlreiche Lehrauftäge, Gastdozenturen und Leseperformances in den USA, England, Wales, Dänemark, Belgien, den Niederlanden, Österreich und Deutschland, erhielt zwei Literaturstipendien und ist Autor des ZDF-Fernsehspiels Innere Werte (2007, mit Jan Schomburg). Mehr Informationen unter www.thomasernst.net. Patricia Gozalbez Cantó studierte Kunst/Kunstpädagogik und Erziehungswissenschaft in Osnabrück und Barcelona. Von 2001 bis 2002 absolvierte sie als DAAD-Stipendiatin ein Postgraduierten-Studium im Bereich Fotojournalismus an der Universidad Autónoma de Barcelona. 2003 arbeitete sie als Fotoassistentin bei der Kölner Fotografin Bettina Flitner. Seit 2004 ist sie Promotionsstipendiatin der Hans Böckler Stiftung, das Thema ihrer Dissertation lautet Weiblichkeitsinszenierungen in deutschen und spanischen Zeitschriften der 1920er und 1930er Jahre. 2006 war sie Gastdozentin an der Universidad de Buenos Aires in Argentinien, seit dem Sommersemester 2007 ist sie Lehrbeauftragte an der Universität Osnabrück im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften. Matthew Miller studierte Literatur und Philosophie am Swarthmore College, Pennsylvania, und an der Columbia University, New York. Er erhielt eine Forschungsstipendium des Berlin Program for Advanced German and European Studies der Freien Universität Berlin und absolvierte 2005/2006 einen Aufenthalt in Berlin. Seine Dissertation, die sich mit literarischen Formen von Dialektik bei Alexander Kluge und Heiner Müller beschäftigt, schloss er 2007 an der Columbia University ab. Florian Neuner wurde 1972 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt heute in Berlin und Bochum. Er studierte Germanistik und Philosophie in Salzburg, Wien, Frankfurt a.M. und Berlin und arbeitet als Journalist und Schriftsteller. Seine letzten Veröffentlichungen sind China Daily (kleine idiomatische Reihe, Wien 2006) und Zitat Ende. Prosa (Ritter Verlag, Klagenfurt und Wien 2007).

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Sebastian Richter studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Frankfurt a.M. Als Autor und Regisseur realisierte er von 1997 bis 2003 künstlerische Projekte im Schnittpunkt von Film und Theater u.a. am Mousonturm (Frankfurt a.M.), auf Kampnagel (Hamburg) und am TAT (Frankfurt a.M.). Von 2003 an arbeitete er an seiner 2007 abgeschlossenen Promotion, in der er untersucht, welche Konsequenzen das Zusammenwachsen von Spielfilm und Animationsfilm nach sich zieht, und der Frage nachgeht, wie die Veränderungen an der apparativen Basis der Bilder (›Digitalisierung‹) sich auf Ästhetik, Stil und Form auswirken – und wie sich dadurch der mediale Blick auf Wirklichkeit qualitativ verändert. Seine Dissertation wurde von der Hans Böckler Stiftung gefördert. Mehr Informationen unter www.sebastianrichter.de. Mirko Tobias Schäfer studierte Theaterwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und digitale Kultur an der Universität Wien und an der Universität Utrecht. Er organisierte und co-kuratierte [d]vision, das Festival für digitale Kultur in Wien. Mirko Tobias Schäfer ist Juniordozent am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Universität Utrecht, wo er seine Dissertation zu kulturkonstituierenden Aspekten der Computertechnologie schreibt. Er publiziert Artikel über User Communities und die Veränderungen in der Kulturindustrie durch Software und Internet. Mehr Informationen unter www.mtschaefer.net. Dr. Anna Schober studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften in Wien und Frankfurt a.M. Postdoc-Aufenthalte u.a. an der Jan van Eyck Academie in Maastricht/NL sowie am Centre for Theoretical Studies in the Humanities and Social Sciences an der University of Essex/Colchester/UK. Sie arbeitet als Historikerin und Kulturwissenschaftlerin zu Fragen der Geschichte und Ästhetik des öffentlichen Raums, der Pop-Kultur, der Museologie und der GenderStudies. Derzeit arbeitet sie auf einer Postdoc-Forschungsstelle am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, die finanziert wird vom FWF. Austrian Science Fund, zum Thema The Cinema as a Space for Political Action: The Formation of a Media-Shaped Public Sphere in Western and Eastern Europe since 1945. Ihre Publikationen umfassen (in Auswahl): Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern (Frankfurt; New York: Campus, 2001); Ästhetik des Politischen (ÖZG – Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Heft 3/2004, Studien-Verlag) und Körperereignisse. Die zwiespältigen Gesten der Avantgarde (in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Liebe und Kapitalismus, Heft 1/2005, Stroemfeld Verlag).

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Prof. Dr. Franziska Schössler studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn, London und Freiburg, promovierte 1995 mit einer Arbeit über Das unauf hörliche Verschwinden des Eros. Sinnlichkeit und Ordnung im Werk Adalbert Stifters und habilitierte 2002 über Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Sie arbeitete drei Jahre lang an den Städtischen Bühnen Freiburg und an der Volksbühne Berlin in den Bereichen Dramaturgie und Regie und ist heute Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Drama und Theater, insbesondere Gegenwartsdramatik, die bürgerliche Moderne, kulturwissenschaftliche Literaturtheorie und Gender Studies. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der 90er Jahre (Narr, 2004), Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung (UTB, 2006) sowie als Herausgeberin Politik und Medien bei Thomas Bernhard (Königshausen und Neumann, 2002, mit Ingeborg Villinger), Tauschprozesse. Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen (transcript, 2005, mit Georg Mein) und Politisches Theater nach 1968. Historische Politikforschung (Campus, 2006, mit Ingrid Gilcher-Holtey und Dorothea Kraus). Dr. Gregor Schröer, geb. 1972, studierte Literaturwissenschaft, Soziologie und Deutsch als Fremdsprache. Im Frühjahr 2004 Promotion an der Universität Bielefeld. Studien-, Lehr- und Forschungsaufenthalte in Frankreich, Madagaskar und Kamerun, seit September 2004 arbeitet er als DAAD-Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Fakultät der TU Liberec in der Tschechischen Republik. Dr. Nadja Sennewald studierte in Hildesheim Kulturwissenschaften, promovierte in Frankfurt a.M. und lebt als freie Autorin in Berlin. Ihre Dissertation zur Inszenierung von Geschlecht in Fernsehserien wurde von der Hans Böckler Stiftung gefördert. Populäre Kultur, Gender Studies und Medienwissenschaften sind ihre Forschungsschwerpunkte. Ihre Publikationen umfassen (in Auswahl): schöner_wohnen.doc (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000), RunRabbitRun (München: Piper, 2004), Alien Gender. Die Inszenierung von Geschlecht in Science-Fiction-Serien (Bielefeld: transcript, 2007). Rena Tangens ist Künstlerin, Publizistin und Netzpionierin aus Bielefeld. 1984 gründete sie gemeinsam mit ihrem Kollegen padeluun das Kunstprojekt Art d’Ameublement (frei nach dem französischen Komponisten Erik Satie). 1987 brachte sie das erste Modem auf die

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documenta und die ars electronica. Seit 1987 ist sie Veranstalterin der bis heute fortgeführten monatlichen Kultur- und Technologie-Reihe PUBLIC DOMAIN und Gründerin des FoeBuD e.V. in Bielefeld. Seit 2000 recherchiert und organisiert sie die jährlichen deutschen Big Brother Awards (die ›Oscars für Datenkraken‹). Als Expertin für RFID und Datenschutz berät sie Verbände, das Wirtschaftsministerium und die EU-Kommission und ist unterwegs als Vortragsreisende in Sachen Kunst und Technik, Datenschutz, Bürgerrechte und Demokratie. Mehr Informationen unter www.foebud.org und www.BigBrotherAwards.de. Dr. Mark Terkessidis, Diplom-Psychologe, von 1992 bis 1994 Redakteur der Zeitschrift Spex. 2001 mit Tom Holert Gründung des Institute for Studies in Visual Culture in Köln. Freier Autor, lebt in Köln und Berlin. Beiträge zu den Themen Jugend- und Populärkultur, Migration und Rassismus in tageszeitung, Die Zeit, Freitag, Tagesspiegel, Literaturen, Texte zur Kunst etc. sowie für den Westdeutschen Rundfunk und Deutschlandfunk. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen: Kulturkampf. Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft (hg. mit Tom Holert; Berlin: ID-Verlag, 1996), Psychologie des Rassismus (Wiesbaden: Westdt. Verlag, 1998), Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur (hg. mit Ruth Mayer; St. Andrä-Wörden: Hannibal, 1998), Migranten (Hamburg: Rotbuch, 2000), Entsichert – Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert (mit Tom Holert, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2002); Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln einen neuen Begriff (Bielefeld: transcript, 2004) und Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen (mit Tom Holert, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2006). Julia Tieke studierte in Hildesheim Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis. Sie lebt in Berlin und arbeitet dort als Projektleiterin des Kurzhörspielformats Wurfsendung beim Deutschlandradio Kultur und als freie Autorin. Am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Hildesheim ist sie Lehrbeauftragte im Bereich Hörspiel/ Feature. Sie promoviert – 2004 bis 2006 als Stipendiatin der Hans Böckler Stiftung – zum Thema Originalton in zeitgenössischem Hörspiel und Feature. Dr. Helga M. Treichl ist Psychologin mit einem Doktorat in Kritischer Geschlechter- und Sozialforschung; sie ist derzeit Forschungsassistentin am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Poststrukturalismus und Psychoanalyse

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als Kulturtheorie, Gender und Cultural Studies, Medien- und Technikforschung, soziale Bewegungen und Organisationen. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen Aktivismus als Beruf? Zum Selbstverständnisprozess von ATTAC Österreich (mit Pier-Paolo Pasqualoni, Innsbruck: Studienverlag 2004) und Technik, Medien und Gender. Zum ›Paradigmenwechsel‹ des Körpers (Wien: Turia und Kant, 2005). Karen Wagels, Studium der Psychologie und Auf baustudium Internationale Entwicklungen, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kulturpsychologie. Seit 1998 queer-feministisch aktiv, u.a. Mitorganisatorin der Tagung queer – beliebt oder beliebig??? 1999 in Frankfurt a.M. und des workshops zwischen norm und anti-norm auf der crossoverconference 2001 in Bremen. Seit 2004 Promotionsstipendiatin der Hans Böckler Stiftung zum Thema Geschlecht – ein kommunikativer Arte/Fakt. Wissenschaftliche Forschungs- und Lehraktivitäten: Geschlechterdifferenz, feministische Körperkonzeptionen, poststrukturalistische Theoriebildung, visual culture and politics.

Personenregister

ABC 28, 38, 43 Adorno, Theodor W. 14, 16, 70f., 86, 129–136, 146f., 347, 357 Agnoli, Johannes 10, 22 Ajdukoviæ, Aleksandrija 19, 323– 326, 336, 338, 340 Aichinger, Ilse 386 Anders, Günther 67, 248, 364 Attac 10, 358 Balázs, Bela 276, 278 Barthes, Roland 33, 44, 70f., 86, 249, 255, 257, 337, 339 Baudrillard, Jean 86, 350, 353, 356 Beckett, Samuel 132 Benjamin, Walter 21, 23, 71, 73, 86, 257, 337, 339, 350, 354, 356f. Bhabha, Homi K. 36–38, 43, 309, 315–317 Bignell, Jonathan 341, 346, 356 Blissett, Luther 23, 71 Bourdieu, Pierre 111, 118, 126, 186f., 191, 198, 350, 354, 356 Braidotti, Rosi 347–349, 355f.

Brecht, Bertolt 17, 167, 169, 172, 176, 180, 182, 331, 339, 365 Brock, Bazon 382, 387 Broodthaers, Marcel 19, 305–307, 312f., 317 Butler, Judith 115f., 119, 125f., 203, 205, 207f., 218, 223f., 241, 283, 295, 297f., 343, 345, 350f., 356f. Bürger, Peter 303f., 317, 380 Büsser, Martin 12, 23, 117, 126 Cahun, Claude 18, 221–236, 238–242 Castorf, Frank 183, 189, 194f., 197f., 200 Certeau, Michel de 40f., 43, 70f., 86, 186, 189, 198, 346f., 357 Chaos Computer Club 90, 92, 371 Choi, Sun-ju 35, 43 Ciasullo, Ann M. 351, 357 Cohen, Leonard 28, 43 Copjec, Joan 353, 357 Cramer, Florian 115 Critical Art Ensemble 13 Crouch, Colin 348, 357

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Debord, Guy 249f., 257 Deleuze, Gilles 39–41, 43, 211f., 217f., 255, 257 Dembowski, Gerd 23 Derrida, Jacques 13, 63, 65, 67, 199, 203, 217, 219, 325, 339 Deuber-Mankowsky, Astrid 351, 357 Diederichsen, Diedrich 10, 14, 17, 23, 28, 43, 166–168, 173–175, 177, 180f., 195, 198, 304, 317 Drakuliæ, Slavenka 325, 332, 339 Duchamp, Marcel 12, 19, 23, 305– 307, 312f., 318 Dunn, Robert 341, 354f., 357 Durkheim, Émile 186f., 198

Hagemann-White, Carol 224, 241 Hall, Stuart 38f., 44, 305, 309, 317 Halnon, Karen Bettez 349, 355, 357 Haraway, Donna 117, 120 Hardt, Michael 11, 23, 126, 257 Heaven 17, 28 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 308–310, 317f., 383 Hilbig, Wolfgang 114 Holert, Tom 42, 44, 348, 357 Hörisch, Jochen 111, 127 Horkheimer, Max 70f., 86, 131, 347, 357 Huizinga, Johan 356 Human League 28 Irigaray, Luce 117f., 343, 357

Egner, Eugen 114 Enzensberger, Hans Magnus 114, 126, 373 EXPORT, VALIE 222, 241 Fanon, Frantz 311f., 317 Fiske, John 28, 44 Flenter, Kersten 114 FoeBud e.V. 16, 20f., 91f., 94–96, 98, 100, 102, 104–106, 108, 365, 371, 381 Foster, Hal 349f. Foucault, Michel 29f., 33, 41, 44, 48, 58–61, 64, 67, 113f., 180, 205, 208, 218f., 248, 309, 317, 375 Frank, Thomas 15, 49f., 59, 67 Fukuyama, Francis 9, 11 Gaba, Meschac 19, 303–305, 311–317, 380 Garber, Marjorie 119f., 126, 286, 290, 292, 296, 298, 344, 357 Graham, Dan 320 Greenblatt, Stephen 365 Guattari, Félix 39f., 43, 255, 257 Guevara, Ernesto Che 40f., 44, 251

Jelinek, Elfriede 114, 126, 167, 170f., 175f. Kawakubo, Rei 349 Kawamura, Yuniya 347, 357 Klein, Naomi 347f., 354, 357 Klossowski, Pierre 331 Kluge, Alexander 16f., 129f., 133–147 Kolesch, Doris 343, 357 Koons, Jeff 74 Lacan, Jacques 118, 248, 255, 349, 353, 357f. Laclau, Ernesto 349, 358 lang, k.d. 351 Lehmann, Hans-Thies 170–172, 182, 197, 199 Lehnert, Gertrud 290, 297f., 357f. Lenin, Wladimir Iljitsch Uljanow 67, 190, 199, 344 Liebrand, Claudia 344, 358 Link-Heer, Ursula 354f., 358 Livingston, Jennie 119 Lukács, Georg 130 Luxemburg, Rosa 273 Lyotard, Jean-François 114, 116f., 127

Personenregister

Macari, Lucia 19, 326f., 336, 338, 340 Madonna 351, 354 Mailer, Norman 39, 44 Manovich, Lev 276, 278 Mao Tse Tung (Mao Zedong) 40, 44, 68 Marx, Karl 67, 130, 133f., 141, 143, 199, 339 McLuhan, Marshall 71, 81, 114 Meinecke, Thomas 16, 111f., 114f., 117, 124–127 Mouffe, Chantal 349, 358 Nagel, Ivan 193f., 197, 199 Nancy, Jean-Luc 320, 337, 339 Negri, Antonio 11, 23, 126, 257 Negt, Oskar 16f., 129, 133–142, 144–147 Neumann, Bert 183, 189, 194 Oulios, Militiadis 35, 43 Papenfuß, Bert 114 Pollesch, René 17, 115, 165–177, 179–182, 198f., 364 Rancière, Jacques 15, 49, 62–66, 68 Richter, Falk 115, 364 Riviere, Joan 344f., 350, 357f. Röggla, Kathrin 114 Rois, Sophie 183f. Rote Armee Fraktion (RAF) 13, 122 Roth, Jürgen 114 Satie, Erik 16, 89f., 369, 378 Schlingensief, Christoph 181, 365, 368, 371, 374 Schneider, Helge 114 Scott, Alan 348, 352, 357f. Scritti Politti 28 Sennett, Richard 9, 23, 347, 358 Şenocak, Zafer 114

Sherman, Cindy 18, 221, 223f., 234–238, 240–242 Shimizu, Jenny 351 Silverman, Kaja 247–249, 258 Simmel, Georg 200, 342, 346–348, 355, 357f. Situationistische Internationale 13, 27 Škart 332–336, 338, 340 Snoop Dog 39 Solomon-Godeau, Abigail 222f., 241 SPUR 27 Stalin, Josef 190, 199 Stoker, Gerry 347, 358 Subcomandante Marcos 18, 245f., 250–252, 254, 256–258 Subversive Aktion 27, 125f. Talking Heads 33, 45 Terkessidis, Mark 14, 27–45, 348, 357, 364, 369 Teufel, Fritz 32 Titanic 114 Trakl, Georg 374 Ubermorgen.com 70, 83–85, 371 Vinken, Barbara 342, 346–349, 353, 359 Virilio, Paul 264, 279 Voronzov, Alexander 19, 330f., 336, 338, 340 Warhol, Andy 378 Weber, Max 187 Yes Man 15, 72, 83 Zaimoğlu, Feridun 114 Zapatistas (EZLN) 11, 18, 53, 243– 247, 250–258 Zelik, Raul 11, 23, 114 Žižek, Slavoj 65, 68, 355, 358

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Sachregister Die Nennungen der Begriffe ›Ästhetik‹, ›Geschlecht‹, ›Hegemonie‹, ›Herrschaft‹, ›Institution‹, ›Politik‹, ›Strategie‹, ›Subversion‹ und ›Taktik‹ sind zu zahlreich, um sie gesondert aufzuführen. 1968er-Bewegung 20, 47, 50, 366f., 373f., 382 Abgrenzung 20, 37, 187–189, 196f., 276, 352 Absorption 15, 124 Abweichung 66, 185–189, 191, 194–196, 343 Affirmation 20, 38, 61, 74, 127, 131, 166, 173f., 176, 180, 187, 191, 207, 338, 382 Alltag 17, 28f., 31f., 41–43, 94, 117f., 120, 129, 148, 177f., 182, 189, 196, 204, 210f., 283, 305, 310, 326, 332f., 354, 364f. Ambivalenz 15, 69f., 73, 85, 175, 229, 287, 295, 316, 327f., 344 Anomie 17, 187f., 193, 196 Archiv 16, 18, 78, 93, 112, 121, 124– 126, 219, 246 Aufklärung 17, 77, 80, 82f., 86, 115, 132, 136, 170, 174, 180, 192, 209, 307, 357 Auflösung 14, 78, 115f., 140, 166, 222, 238, 283, 305

Ausbeutung 93, 173, 175, 177f., 196, 236, 244, 325 Ausgrenzung 133, 136–138, 144, 244, 349 Ausnahmezustand 55, 79, 95 Ausschluss 38, 78, 208, 253, 341, 344f., 347, 349, 351 Authentizität 15, 36, 38, 49, 57f., 130, 132, 147, 206, 265, 283, 347, 350, 352 autonome Kunst 195, 364f. Autonomie 21, 51, 115, 137f., 170, 173, 190, 303f., 352, 365, 380 Autorität 29–34, 38, 67, 345 Autorschaft 33, 86, 115, 117, 375, 382 Avantgarde 11, 13f., 19–21, 27, 70, 73, 83, 85f., 92, 112, 124, 139, 168, 181, 189–191, 198, 223, 241, 265, 303–305, 307, 312f., 315, 317, 319, 335, 337–339, 364, 366f., 379f., 384 Befreiung 13, 32, 37, 41, 43, 50, 59, 94, 190, 193, 222, 244f., 277, 279f., 283, 313, 329, 331, 352

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Betrieb – akademischer/wissenschaftlicher Betrieb 29–31, 36, 116f., 375f., 379 – Literatur-/Kultur-/Kunst-/Museumsbetrieb 41, 113, 241f., 312, 316, 366 Bewegung 9–11, 13, 18, 28, 31, 43, 56, 96, 113f., 125f., 186, 198, 217, 221, 244–246, 251, 266, 282f., 285, 304, 313, 329, 332, 335, 337, 343, 346, 348, 351, 355, 358, 366f., 371, 374 Big Brother Awards 16, 102–104, 106, 108, 365 Blick 19, 29, 36f., 43, 193, 208f., 212f., 215–217, 222, 225, 228, 231, 233, 236, 247–251, 255–258, 261–265, 267–275, 277, 279, 283, 315, 320, 324, 331, 352 – Blickregime 18, 217, 243, 247– 250, 255f., 258 – Kamerablick 18f., 261f., 265, 275f., 278, 288 – männlicher/voyeuristischer Blick 124, 216, 240 Bohème 66, 228 Bürgerlichkeit 20, 29f., 39, 114, 120, 131, 166, 168, 172, 178, 187f., 190, 228, 230f., 303–305, 307–310, 339, 341–344, 349, 365, 380, 383 Chiapas 11, 243–246, 252, 258 Computeranimation 18, 261–264, 266f., 272, 276, 278 Cross-Dressing 119, 293, 298, 344, 351, 357 Cultural Studies 13f., 28, 40f., 44, 71, 318, 357f. Culture Jamming 51, 56, 67f., 70f., 73, 86f.

Dadaismus 13, 294, 303, 335 Dandy 227–230, 242, 342, 352 Datenpiraten 92, 102–107, 365, 371 Datenschutz 16, 93, 99, 102–104, 365, 370, 373 DDR 112, 127, 140f., 143f., 184, 189, 191–193, 195–197, 199, 330, 332 Dekonstruktion 13f., 16, 63, 69, 71, 80, 83f., 86, 112, 115, 118, 120– 125, 129, 146, 172, 222f., 240, 281f., 341, 346, 352f., 358 Demonstration 11, 106f., 180, 313, 348 Dialektik 68, 86, 130, 132–134, 147, 285f., 290, 357, 383 Diebstahl 57, 226, 311 Differenz 37, 58f., 61, 113, 197, 233, 282, 289, 294, 296, 309, 329, 342–346, 348, 351f., 354–356 Diskursanalyse 13, 206, 309 Distinktion 64, 120, 355 Disziplinargesellschaft 29, 102 Disziplinierung 30f., 40f., 174, 192, 248, 253, 347 Documenta 311, 379, 382 Drag 19, 119, 219, 281, 283, 288, 292, 294f., 344, 350f. Dresscode 347, 352 Drittes Geschlecht 224, 238 Drogen 35, 56, 100, 103, 169, 189, 229 Elite 114, 175, 348f., 354f., 380 Emanzipation 14, 118f., 137, 139, 319, 337f. Empire 11, 23, 257, 318, 358 Ende der Geschichte 9, 11, 23 Entfremdung 131, 356, 362 Episches Theater 17, 167, 169, 172 Eurozentrismus 19, 305, 308–310, 312f., 315 Exotismus 35, 241, 305, 310f., 325

Sachregister

Experiment 16, 21, 72, 92, 114f., 224, 230, 238f., 250f., 339, 372, 384

Guerilla 11, 14, 32, 39f., 42, 44, 57, 65, 71, 87, 246f., 253

Faschismus 114, 330, 367, 373, 380 Feind 51, 122, 166, 236, 287, 367 Feminismus 18, 115, 119f., 123, 207, 209, 219, 221–224, 240–242, 282f., 342, 344, 351f. Figuration 17, 188f., 196 Firma 16, 50, 52, 54, 72, 75, 82, 84, 99f., 102, 104, 323, 372, 376, 381, 384 Flexibilisierung 40f., 50, 62, 173, 189, 347, 351 Flexibler Mensch 9, 23, 60 Fordismus 15, 49, 51, 347

Hacktivismus 15, 70f., 73, 83, 86f., 91, 94f., 100, 102, 105, 371 Heteronormativität 204, 207f., 219, 222, 241, 350f. Hybridität 14, 36–38, 43f., 173, 175, 251, 264, 267, 273, 276–278

G8-Gipfel 10f., 34 Garçonne 229, 241 Gegenöffentlichkeit 368 Geheimnis 195, 197f., 246, 255 Gender 72, 121, 168, 222, 241, 284, 293, 296, 298, 345f., 349–352 Gender Studies 13f., 118f., 124, 127, 341, 357f. Geschlechteridentität 20, 118–120, 125, 222, 229, 234, 238–240, 283, 287, 295, 343, 346, 350f. Gewalt 13, 31, 35, 82, 136, 141, 176, 191, 206, 221, 230, 232, 234, 236, 240, 245, 252, 270, 274, 331f., 364, 376 Gewaltfreiheit/-losigkeit 75, 95, 365, 386 Globalisierung 10f., 44, 171, 315f., 318 Globalisierungskritik 10f., 34, 107, 318 Grenzüberschreitung 16, 20, 72, 115–117, 120, 122, 213, 236, 238, 241, 264, 277, 297, 303f., 315f., 328, 350, 352, 365

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Identifikation 33, 36f., 39, 74f., 134, 208, 351 Identität, minoritäre/hybride/subversive 13f., 37, 65, 173, 175, 224, 230, 246, 250–252, 255f., 341, 347, 352f., 355 Ideologie 221–223, 226, 248, 257, 284, 293, 344, 349, 372 Inkorporation 15, 85f., 219, 354f., 378f., 381 Intellektuelle 27, 71, 84, 113f., 126f., 168, 195, 223, 287, 345, 373, 382 Interdisziplinarität 199f., 238 Ironie 118, 124f., 166, 173, 197, 224, 226f., 230, 233, 235, 238 Kamera(blick) 18f., 35, 215f., 224, 228, 247–249, 251, 261–279, 285f., 288, 297, 323 Kanon 19, 40, 69, 131, 238, 304– 309, 311, 313, 315f., 375, 383 – Entkanonisierung 19, 303, 305, 307, 315 Kapitalismus 9, 11, 23, 57, 59, 61f., 65f., 67f., 82, 84, 93, 130, 133–135, 137, 185, 187, 284, 325, 329, 335, 337, 347, 354f., 365, 367f., 373f., 382 – Spätkapitalismus 65, 130, 347, 354 Karneval 37, 346, 354, 358 Kategorienkrise 120f. Klasse 41, 66, 193, 326, 329, 335, 346f., 349f., 355

401

402

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Kleidung 14, 20, 30, 34, 38, 75, 119, 121, 212f., 225f., 229–231, 234–236, 251–253, 283, 285–292, 295–298, 323–326, 328, 331, 333, 335, 341–347, 351f., 354f. Kolonialismus 19, 32, 44, 179, 244, 305, 307, 309–312, 315 Kommunikationsguerilla 9, 13, 15, 23, 67, 70f., 73f., 76f., 83, 86f., 250

Kommunismus 40, 82, 107, 190f., 193, 320, 329, 339 Komplizierung 34, 166, 176f., 180 Konsum 41, 50–53, 55–57, 60f., 65, 67f., 81, 103, 141, 171, 178–180, 320, 328, 343, 347–349, 355 Kontrollgesellschaft 14, 41–43, 102, 357 Körpercomputer 175, 177f. Körperpolitik 205, 240 Krieg 32, 40–42, 44, 56, 72f., 75–78, 80–82, 95–97, 124, 187, 191, 194, 205, 247, 304f., 310, 337, 379 – Guerilla-/Partisanenkrieg 40–42, 44, 57, 65, 253 Kritische Theorie 129, 133 Kulturindustrie 15, 28, 71, 83, 86, 130, 132, 347 Lachen 33, 122, 215, 339, 374 Linksradikalismus 122, 366–368 Machtverhältnisse 9, 28, 37, 41, 50, 179, 242, 256, 295, 308, 341 Mainstream 14, 37f., 50, 113, 348, 352, 354, 357, 379 Marxismus 27, 41, 141, 199, 220, 358, 367 Maskerade 18f., 53, 119, 182, 222, 230f., 234–236, 238, 244, 246f., 249, 251–258, 281, 283, 287, 293f., 298, 341, 343–345, 347, 351, 355f., 358

Maßverhältnisse des Politischen 17, 136–138, 140–143, 145, 147

Mikropolitik 14, 39f. Militanz 10f., 126, 141, 381 Militär 27, 42, 166, 244, 252f., 325, 377, 380 Mimesis 130f., 343f. Minderheit 35, 114, 357, 367 Minorität 39, 112, 119, 194, 347, 353, 355, 375 Montage 19, 172, 194, 244, 272, 276, 288, 304, 323, 325, 336f., 354 Nationalismus 11, 85, 112, 308, 323, 329, 339, 365, 375 – Internationalismus 12f., 67, 93, 103, 246, 334, 359 Negation 14–16, 60, 62, 66, 129– 134, 138, 146, 346 Neoliberalismus 9–11, 42, 346f. Neuerfindung 189, 337, 381 NGO 10, 14, 336, 348 Nichtidentische, das 109, 132–134, 138 Normalität 128, 139, 178f., 182, 261, 296, 345 Obszönität 328, 339, 374 Ohnmacht 33, 259, 263, 380 Parodie 18f., 34, 65, 91, 117, 119, 124f., 222, 227, 231, 233f., 282f., 296, 326, 329, 336f., 346, 349, 386

Pasamontaña 18, 244–246, 251, 253, 255–257 Performativität 125, 146, 182, 189, 194, 197f., 218, 239, 241, 250, 267f., 292, 296, 323, 330f., 333, 335f., 342–344, 350f., 355 Phallogozentrismus 118, 343 Poesie 20, 43, 273, 275, 277f., 292f., 296f., 325, 361, 374 Polizei 10, 31, 55, 62–66, 102, 123, 174, 185, 228, 231, 312, 321, 375

Sachregister

Pop(kultur) 12–14, 17, 19, 23, 28, 38, 44, 49f., 114f., 117, 126f., 181, 281, 295, 325f., 333, 351, 354, 357f. Postdramatisches Theater 17, 115, 167, 169–172, 181f., 197, 199 Postkoloniale Theorie 13f., 19, 127, 303, 305, 309f., 315 Postmoderne 11, 65, 115, 126f., 167, 224, 257, 282, 322, 341, 346f., 350f., 353, 355–357 Poststrukturalismus 17, 36, 67, 115, 127, 129, 186, 200, 203, 206, 341, 343f., 350, 352 Protest 10, 14, 31, 34, 50, 52f., 55f., 73, 83, 135, 137, 141, 145, 173–176, 178, 180, 252, 333, 336, 348, 358, 367, 386 Psychoanalyse 14, 323, 329, 341– 345, 348, 350, 355f., 358 Punk 87, 311, 326 Queer (Studies) 31, 36, 43, 115, 119, 205, 207, 209f., 219, 283, 351f. Radikaldemokratie 16, 129, 136, 283 Rahmenbau 16, 89, 369, 378 Realismus 135f., 140, 147, 190, 192, 263, 383 Rebellion 49–51, 55–57, 67, 81, 171, 180, 386 Recht/Unrecht 11, 50, 63, 65f., 73, 79f., 82, 84, 93, 206, 290, 353, 364f., 367, 377 – Gerechtigkeit, Frauen-/Grund/Menschenrechte 31, 62f., 65, 77, 95, 103f., 106f., 111, 118, 207, 219, 282, 284f. Rechtsradikalismus 85, 368 Regelüberschreitung 9, 38, 42, 63, 93, 100f., 116f., 168, 170, 179–181, 192, 196, 204, 206, 228, 248, 279, 285, 296, 310, 328, 379, 383, 385

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Regierung 10f., 32, 61, 71, 102, 191, 193, 348, 368, 372 Regime 9, 41, 320, 334 Repräsentation 17–20, 38, 63, 71, 75, 84f., 165, 167, 197, 199, 219, 222, 233–235, 238, 240, 248, 252f., 256f., 284, 304, 307, 312, 314, 320, 342, 344–346, 348f. Revolte 11, 27, 233, 254, 383 Revolution 10, 13, 16, 28, 40, 50, 72, 112, 115, 121, 123f., 140–146, 167, 181, 189–191, 195, 243f., 250, 252, 254, 257, 272, 276f., 307f., 310, 317f., 320, 332, 334f., 337, 342, 373 RFID-Chips 104–107, 370, 376f., 382 Ritual 28f., 31–33, 39–42, 170, 287, 356 Routine 29, 31, 36–38, 85, 184 Sabotage 40, 122, 368 Schizophrenie 33, 43, 257, 371f. Schönheitsideal 226f., 235, 238f., 241, 287, 343, 349 Schweigen 21, 30, 33, 36f., 103, 111f., 298, 323 Selbstinszenierung 18, 223–225, 227, 249, 256, 307, 323, 325, 335 Semiotischer Widerstand 28, 71, 87 Sequenzeinstellung 268, 272f., 276f. Sexualität – Bisexualität 116, 119, 283 – Heterosexualität 19, 30f., 36, 116, 119, 287, 293, 295f., 350f. – Homosexualität 36, 208, 261, 265, 283, 287, 350f. – Intersexualität 206f., 219 – Transsexualität 115, 206, 281, 283, 298 Sinnzersetzung/Unsinn 14, 33, 125f., 166, 175–177, 197, 338, 344, 347, 353, 361, 374 Situationismus 13, 27, 125 Skinhead 145, 181, 217, 346

403

404

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SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart

Sozialismus 9, 17, 19, 141, 143f., 175, 184f., 189–193, 196f., 319–323, 325, 329–332, 335, 367, 374, 382 Spektakel 249, 252, 256f., 348 Spontanismus 20, 137, 181, 229, 265, 333, 336, 366 Sprache, befreite/neue/spielerische 16, 22–24, 30–33, 35f., 43, 47, 49, 51, 53, 111, 115–118, 146, 165, 169, 172, 176f., 183f., 244, 279f., 282– 285, 288, 290, 293, 374, 385f. Staatsumsturz 27f. Stabilisierte Spannung 185, 196f. Stellvertreteraktion 14, 36 Streik 89, 367, 371 Subversion – affirmative Subversion/Scheinaffirmation 20, 61, 74, 124f., 166,

Umkehrung 14, 35, 47f., 385 Untergrund 13, 21, 112–114, 122f., 186, 334, 347 Utopie 10, 17, 41, 61, 86, 103, 107, 125, 130f., 134, 188, 190f., 193, 195, 198, 374

Verblendungszusammenhang 54, 57, 130, 135f. Verbraucher 59, 93, 103f., 106, 376f. Verdoppelung 37, 331 Verfremdung 17, 19, 56, 168f., 172, 180, 313, 323, 329, 331, 333, 336f. Verkleidung 14, 34, 230, 235, 286– 290, 292, 295–298, 346, 354 Vernetzung 72, 92f., 142, 374 Verschaltung 365 Virtuelle Kamera 18, 261, 263, 265f., 268–273, 276f.

173f., 176, 180, 187, 191, 338, 352, 382

– Aporien der Subversion 14, 112, 124f. – Subversion der Subversion 14f., 47, 66, 112, 124 Surrealismus 13, 198, 241, 306 Sympathisanten 293, 381 Tabu 20, 78, 136, 216, 228, 365, 368, 375f. Terrorismus 13, 16, 42, 103, 111, 121–124, 180, 275 Tradition 10, 15, 29, 31f., 38, 48f., 66, 71, 81, 114, 116–118, 170f., 185, 192, 222, 227, 231, 235, 238, 244, 251, 289, 304–306, 309–316, 318f., 323, 335, 337f., 353, 364f., 374 Transgender 207, 219 Transvestitismus 16, 111, 115, 118–121, 126, 283f., 287f., 292–296, 298

Travestie 19, 119, 281, 283, 285f., 288, 290, 292–294, 296f., 354 Übertreibung 14, 18, 34f., 38, 77, 125, 222, 230f., 233, 235, 329, 331, 336f., 346

Waffen 138, 227, 231, 253, 287 Wahnsinn 183, 189, 367 Warenform 10, 60, 73, 105f., 130, 134f., 142, 178, 322f., 325, 329, 335, 337, 349, 353 Widerstand 9, 11, 20, 28, 36, 38, 42f., 59–61, 64, 76, 87, 92, 95, 104, 113, 115, 130, 133f., 135f., 138–140, 149, 167, 174f., 179f., 189, 204, 215, 226, 245, 255, 257, 267, 309, 333, 350, 368, 381 Wigger/White Nigger 39 Window of Oppurtunity/Window for Change 21, 371 Wissenschaft 13f., 21, 29–31, 70, 111, 115–118, 171, 187, 206, 219, 298, 303, 307, 363f., 372 Wirtschaft 10-12, 50, 66, 74, 85, 93, 113, 137, 144, 181, 187–189, 193f., 196, 198, 315, 322, 328, 365, 370 Zensur 94, 98f., 112, 191, 198 Zitat 26, 96f., 116f., 162f., 175, 206, 285, 311, 347, 350–352, 354, 357

Kultur- und Medientheorie Michael Schetsche, Martin Engelbrecht (Hg.) Von Menschen und Außerirdischen Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft Juni 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-855-1

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Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Mai 2008, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9

Matthias Bruhn, Kai-Uwe Hemken (Hg.) Modernisierung des Sehens Sehweisen zwischen Künsten und Medien Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-912-1

Ulrike Haß, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution Mai 2008, ca. 160 Seiten, kart., ca. 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-907-7

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Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Performative Grundlegungen eines bürgerlichen Habitus im 18. Jahrhundert Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-803-2

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Band 19 der Reihe Poesie der Nachbarn Mit einem Nachwort von Martin Zingg Viersprachige Ausgabe französisch – italienisch – rätoromanisch –deutsch 176 Seiten, bibliophile Ausstattung gebunden mit Lesebändchen EUR 19,90 SFr 33,90 ISBN 978-3-88423-278-1

Die Schweiz, das ist eine Welt für sich mit verschiedenen Kulturen und Sprachräumen, mit mächtigen Banken und einfachen Bergdör fern, mit südlichem Flair und grandiosem Alpenpanorama, internationaler High Society und Eidgenossen. Aus den romanischen Sprachräumen waren Dichter in Edenkoben zu Gast, um von ihren deutschen Kollegen übersetzt zu werden, diesmal aus drei Sprachen: dem Französischen, dem Italienischen und dem Rätoromanischen. Der neunzehnte Band der Reihe »Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter« wäre somit ein Novum, zum ersten Mal präsentiert die Anthologie eine mehrsprachige Nation. Gedichte von: Claire Genoux, Alberto Nessi, Antonio Rossi, Leta Semadeni, Pierre Voélin, Frédéric Wandelère Übersetzt von: Jan Koneffke, Nadja Küchenmeister, Johann Lippet, Sabine Schiffner, Jürgen Theobaldy, Hans Thill.

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