Vermenschlichte Natur: Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy [Reprint 2017 ed.] 9783110940749, 9783484421332

In englischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts dienen Schilderungen von Landschaft und Wetter der Verdeutlichung des

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German Pages 521 [524] Year 1995

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
I. Vermenschlichte Natur in der Tradition: Typen der Sinnzuweisung an Naturphänomene
II. Die Natur als Erscheinungsform Gottes: Milton bis Rousseau
III. Ann Radcliffe: The Mysteries of Udolpho (1794)
IV. Ann Radcliffes Naturmotivik im literaturgeschichtlichen Kontext
V. Die Radcliffe-Nachfolge
VI. Die Romantisierung der Welt: Wordsworth, Coleridge, Novalis
VII. Charles R. Maturin, Melmoth the Wanderer (1820)
VIII. Emily Brontë: Wuthering Heights (1847)
IX. Natur und Mensch in der viktorianischen Literatur
X. Die neue Unsicherheit am Ende des Jahrhunderts
XI. Thomas Hardy, Tess of the d'Urbervilles (1891)
XII. Ausblick: Naturmotivik im zwanzigsten Jahrhundert
Bibliographie
Personen- und Werkregister
Sach- und Begriffsregister
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Vermenschlichte Natur: Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy [Reprint 2017 ed.]
 9783110940749, 9783484421332

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B U C H R E I H E DER ANGLIA ZEITSCHRIFT FÜR E N G L I S C H E P H I L O L O G I E Herausgegeben von Helmut Gneuss, Hans Käsmann, Erwin Wolff und Theodor Wolpers 33. Band

THOMAS K U L L M A N N

Vermenschlichte Natur Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1995

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G Wort

Kurt Otten, dem verehrten Lehrer, in Dankbarkeit zugeeignet

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Anglia / Buchreihe] Buchreihe der Anglia : Zeitschrift für englische Philologie. Tübingen : Niemeyer. Früher Schriftenreihe Buchreihe zu: Anglia NE: HST Bd. 33. Kulimann, Thomas: Vermenschlichte Natur. - 1995 Kulimann,

Thomas:

Vermenschlichte Natur : Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy / Thomas Kulimann. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Buchreihe der Anglia; Bd. 33) Zugl. Teildr. von: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1991 ISBN 3-484-42133-9

ISSN 0340-5435

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX

Einleitung

ι

ι. Themenstellung und Forschungslage 2. Zur Methode der Untersuchung

ι 13

I. Vermenschlichte Natur in der Tradition: Typen der SinnzuWeisung an Naturphänomene

28

ι. Paradiesmotiv, locus amoenus, Frühlingseingang, Panorama 2. Die Naturgewalt als Zeichen göttlichen Wirkens 3. Die lesbare Natur: Allegorie und Symbol 4. Die Pseudo-Mythologie der Renaissance 5. Mischformen und Psychologisierung der Naturmotivik: Statius, "Sir Gawain", Shakespeare, Marvell

28 36 40 46 51

II. Die Natur als Erscheinungsform Gottes: Milton bis Rousseau

63

ι. John Milton, Paradise Lost 2. Shaftesbury und Thomson 3. Das Erhabene: Burke, Macpherson, der Reisebericht, Alison 4. Die ästhetische Platzhalterfunktion der Natur: Kant . . . 5. Die moralische Vortrefflichkeit des Naturbetrachters: Rousseau, Baculard d'Arnaud, Bernardin de St. Pierre . .

65 69 76

III. Ann Radcliffe, The Mysteries of Udolpho

84 87 100

ι. Der Natureingang 2. Die s«nsei-Sequenz 3. Der romantische Lustort 4. Die Charakterisierung durch das Erhabene 5. Die Erziehung durch die Landschaft 6. Die Touristenperspektive 7. Die romantische Liebe

101 107 in 113 117 119 123 V

8. Die melancholische Erinnerung 9. Der Trost in Bedrängnis und Einsamkeit 10. Die Krisensituation

125 127 130

11. 12. 13. 14. 15. 16.

134 136 139 143 146 152

Die Das Die Das Die Der

emotionale Parallele Abschiedsritual dynamisierte Erhabenheit Geisterschloß aktive Natur als emotionale Begleitung gespenstische Hintergrund

17. Die Natur in Vergleich und Metapher

153

18. Parallelismus und Harmonie 19. Das Motivinventar der Mysteries of Udolpho

154 157

IV. Ann Radcliffes Naturmotivik im literaturgeschichtlichen Kontext ι. Ansätze zu einer Naturmotivik: Smollett, Mackenzie . . 2. Sophia Lee, The Recess 3. Charlotte Smith, Emmeline: The Orphan of the Castle 4. The Castles of Athlin and Dunhayne 5. A Sicilian Romance 6. The Romance of the Forest 7. The Italian V. Die Radcliffe-Nachfolge

169 169 171 178 184 188 199 205 217

ι. Matthew G. Lewis, The Monk 2. William Godwin, Caleb Williams; Charles Brockden Brown, Edgar Huntly

217 220

3. Jane Austen, Mansfield Park und Emma 4. Sir Walter Scott, Waverley 5. Mary Shelley, Frankenstein·, Charles Dickens, Oliver Twist 6. Edward Bulwer (Lord Lytton), The Last Days of Pompeii 7. Henry James, Daisy Miller 8. Zusammenfassung: Radcliffe-Nachfolge

226 231 237 240 241 244

VI. Die Romantisierung der Welt: Wordsworth, Coleridge, Novalis VII. Charles Robert Maturin, Melmoth the Wanderer ι. Der atmosphärische Hintergrund 2. Die verdüsterte Erhabenheit VI

246 259 259 266

3· Der Seesturm als Metapher des Schreckens 4. Natur und Leidenschaft im Vergleich 5. Das indische Paradies 6. Umdeutung der Naturzeichen 7. Die Naturerinnerung in der Zivilisation 8. Der romantische Sonnenuntergang 9. Die dämonische Landschaft 10. Zusammenfassung: Maturin Vili. Emily Brontë, Wuthering Heights ι. Das charakterisierende Naturbild 2. Das paradigmatische Naturerlebnis 3. Lockwoods Traum: Das komprimierte Naturerlebnis . . 4. Die Krisensituation 5. Die ,Rache' der Natur 6. Der friedliche Hintergrund 7. Das Naturereignis als Charakterschilderung 8. Die jahreszeitlichen Parallelen 9. Das verlebendigte Idyll 10. Das Mondschein-Motiv 11. Die Natur im charakterisierenden Vergleich 12. Die Erinnerung an die Idylle der Kindheit 13. Das subjektive Naturideal 14. Die fehlende Korrespondenz mit der Natur 15. Die Erinnerung an die Krise 16. Der erneute, gewandelte Natureingang 17. Die abschließende Krise 18. Der idyllische Ausklang 19. Zusammenfassung: Emily Brontë IX. Natur und Mensch in der viktorianischen Literatur ι. Das Realismusdilemma der Viktorianer 2. Charlotte Brontë, Jane Eyre 3. Charles Dickens, A Christmas Carol 4. Charles Dickens, David Copperfield 5. Charles Dickens, Bleak House 6. Wilkie Collins, The Woman in White 7. Die viktorianische Motivgrammatik X. Die neue Unsicherheit am Ende des Jahrhunderts

268 271 276 280 285 288 293 296 303 303 306 310 314 315 318 320 322 324 326 327 331 335 337 338 340 342 343 345 356 356 359 380 382 401 406 420 425

VII

XI. Thomas Hardy, Tess of the d'Urbervilles

428

ι. Die objektive Landschaft als universales Symbol 2. Die subjektive Natur- und Welterfahrung

428 435

3. Das ,emblematische' Ereignis 4. Der ,emblematische' Naturprozeß 5. Die pagane Naturkonzeption 6. Zusammenfassung: Hardy

445 448 452 456

XII. Ausblick: Naturmotivik im zwanzigsten Jahrhundert

. . . .

461

Vermenschlichte Natur: Zusammenfassung ι. Das Zeichensystem 2. Die historische Entwicklung

467 467 471

Bibliographie Personen- und Werkregister

479 493

Sach- und Begriffsregister

500

VIII

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die erheblich überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Sommer 1991 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen wurde. Die ursprüngliche Fassung wurde um einige Kapitel gekürzt, die Werke der amerikanischen Literatur zum Thema haben. Diese sollen gesondert veröffentlicht werden. Den Herausgebern der „Anglia" bin ich für die Aufnahme der Arbeit in ihre Buchreihe zu Dank verpflichtet. Auch all denjenigen, die das Entstehen des Werkes durch Anregungen und Kritik gefördert haben, möchte ich danken. In erster Linie gilt dieser Dank meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Kurt Otten, der die Abfassung in allen ihren Phasen mit kritischem Wohlwollen begleitete. Weiterhin danke ich den Herren Professoren Uwe Böker, Andreas Höfele, Wilhelm Kühlmann, Ulrich Mölk, Gerd Rohmann, Arnold Rothe, Dieter Schulz, Theodor Wolpers und Hans-Joachim Zimmermann, Frau Privatdozentin Monika Fick, Frau Dr. Dorothea Kullmann, Herrn Dr. Dietmar Schloss, Herrn Enno Ruge, Frau Kerstin Schippmann und Frau Silvia Schischwani für Anregungen und Hilfen unterschiedlicher Art. In Proseminaren über Mansfield Park, Melmoth the Wanderer, Oliver Twist, Wutbering Heights, Jane Eyre, Tess of the d'Urbervilles, The Rainbow, Mrs. Dalloway und To the Lighthouse sowie einem Hauptseminar über Ann Radcliffe, die ich in den Jahren 1987-1993 am Anglistischen Seminar in Heidelberg abhalten konnte, hatte ich Gelegenheit, meine Ideen zur Naturmotivik in vielfältiger Weise ,auszutesten'. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den genannten Seminaren gilt mein besonderer Dank für ihr Interesse und ihre Mitarbeit, die in mancher Hinsicht Eingang in das vorliegende Werk gefunden hat. Heidelberg, im März 1994

Thomas Kullmann

IX

Now the Tale of the Moody Land was one of Rashid Khalifa's best-loved stories. It was the story of a magical country that changed constantly, according to the moods of its inhabitants. In the Moody Land, the sun would shine all night if there were enough joyful people around, and it would go on shining until the endless sunshine got on their nerves; then an irritable night would fall, a night full of mutterings and discontent, in which the air felt too thick to breathe. And when people got angry the ground would shake; and when people were muddled or uncertain about things the Moody Land got confused as well - the outlines of its buildings and lamp-posts and motor-cars got smudgy, like paintings whose colours had run, and at such times it could be difficult to make out where one thing ended and another began ... (Salman Rushdie, Haroun and the Sea of Stories [London, 1990], S.47Í.)

XI

Einleitung

ι . Themenstellung und Forschungslage Eines der herausragenden Kennzeichen der englischen Romankunst des neunzehnten Jahrhunderts ist die Fülle der Naturschilderungen. So verbindet man mit dem Begriff der Gothic Novel

sogleich die Vorstellung wilder,

nächtlicher Stürme, man denkt bei Wuthering Heights an die Landschaft der Yorkshire moors, und Hardys Romane rufen die Landschaft von " Wessex" in Erinnerung. Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit dieser Naturschilderungen besteht nun darin, daß sie immer in der einen oder anderen Weise mit dem Romangeschehen, mit den Befindlichkeiten und Stimmungen der Romanheldinnen und -helden in Beziehung treten. Schilderungen von Landschaften und meteorologischen Phänomenen scheinen durchweg eine Bedeutung zu tragen, die über das jeweilige Phänomen selbst hinausgeht. In seiner bekannten Studie The Rhetoric

of Fiction beschreibt Wayne

C . Booth Naturschilderungen als Möglichkeit des Autors, einen indirekten Erzählerkommentar abzugeben: 1 Long before the dogmas about showing rather than telling became fashionable, authors often concealed their commentary by dramatizing it as scenery or symbol. Such implicit commentary can, like the natural setting in Wuthering Heights or the fog in Bleak House, be very effective. But though seemingly more dramatic it can be fully as tiresome as the worst direct address to the reader. When every bad turn in the plot is foreshadowed by a turn in the weather, when every murder takes place at the stroke of midnight, the effect becomes less dramatic than a simple statement by the narrator that the future is blacker than it looks. In Manon Lescaut (1733), for example, although the Chevalier's anticipatory lamentations may seem inept, a burst of gothic omens like the rumblings of old Vesuvius in Mrs. Radcliffe's The Italian (1797) would be worse. To my taste many of the symbols employed in modern fiction as a substitute for commentary are fully as obtrusive as the most direct commentary might be. One's taste changes in such matters, of course.

' Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction (Chicago, 1961), S. 196 f. I

Es handelt sich hier jedoch um weit mehr als um eine Geschmacksfrage. So wäre zu untersuchen, ob die Erzähler in viktorianischen Romanen wirklich ebenso wie die Erzähler von Werken aus dem Bereich des Sentimentalismus des achtzehnten Jahrhunderts larmoyante ,Kommentare' zum Geschehen abzugeben beabsichtigen, ob die ,Kommentierung' durch Naturschilderungen nicht ganz andere Ziele verfolgt als die Erzählerkommentare im empfindsamen Roman. Booth scheint hier eine Vielzahl von literarischen und stilistischen Phänomenen unter einem recht vagen Symbolbegriff zusammenzufassen. In einem Werk, das sich die Darstellung und Systematisierung von Rhetorik und Stil, das heißt von literarischen Vermittlungstechniken, zum Ziel setzt, gibt das mangelnde Interesse an einer solchen Technik Anlaß zur Verwunderung. Booths terminologische Unschärfe ist für viele interpretatorische Äußerungen zum Thema der Naturschilderungen im englischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts charakteristisch. Es gibt offensichtlich keine verbindliche und allgemeinverständliche Begrifflichkeit, die eine genaue Klassifikation des Phänomens ,Naturschilderung als Bedeutungsvermittlung' ermöglichen würde. Auch mit der negativen Bewertung der beobachteten Erzählkonvention steht Booth nicht allein. J. Hillis Miller etwa stellt zu Wuthering Heights fest: "Nature is no more than a major resource of figurative language by means of which the quality of people and of their relations is defined".2 Miller benennt also die Charakterisierung von Personen und deren Beziehungen untereinander als Funktion der Naturschilderung. Angesichts dieser wesentlichen Erkenntnis verwundert die abwertende Formulierung "no more than". Handelt es sich bei der von Miller angesprochenen Personencharakterisierung nicht um ein sehr wesentliches Anliegen eines jeden Romanautors? Wenn es sich bei den Naturschilderungen tatsächlich um ein linguistisches bzw. rhetorisches Phänomen handelt, erscheint eine genaue Analyse der jeweiligen Beziehungen zwischen Schilderung und dargestellter Wirklichkeit als unverzichtbare Voraussetzung für eine Interpretation. Millers mangelndes Interesse kann aus der Zielsetzung seines Aufsatzes erklärt werden. Auf die Frage nach der Bedeutung ,der Natur' im viktorianischen Roman kommt er zu dem Ergebnis: "Nature as such, in the Wordsworthian sense of trees, mountains, and daffodils, 'one impulse from a vernal wood,' does not count for much in nineteenth-century

2

J. Hillis Miller, "Nature and the Linguistic Moment", U. C. Knoepflmacher; G. B. Tennyson, eds., Nature and the Victorian Imagination (Berkeley, 1977), S. 4 4 0 - 4 5 1 ; S. 445.

2

novels as a primary source of value and meaning".3 Die Ausgangsfrage Millers entspricht der zahlreicher anderer Interpreten.4 Der Umstand, daß sie nur negativ beantwortet werden kann, daß die Naturschilderungen im Roman des 19. Jahrhunderts nicht als Ausdruck eines bestimmten ,Naturkonzepts' angesehen werden können, erklärt möglicherweise sowohl die häufig anzutreffenden abwertenden Bemerkungen über Naturschilderungen in viktorianischen Romanen als auch das weitgehende Fehlen von übergreifenden Studien zu diesem Thema. Der Zeichencharakter der Naturschilderungen wird zwar von vielen Interpreten erkannt, aber nur selten zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht. Die wenigen vorhandenen Arbeiten vermitteln ein sehr uneinheitliches Bild. Zwei Beispiele seien hier angesprochen: Im Bereich der Germanistik untersucht F. C. Delius in seiner Arbeit Der Held und sein Wetter die Verbindung von Mensch und Natur im Roman des neunzehnten Jahrhunderts.5 Delius' vom marxistischen Geschichtsbild bestimmter Versuch, diese Verbindung als Ausdruck der „bürgerlichen Ideologie" zu deuten, führt indessen zu zahlreichen Folgerungen, die nicht überzeugen können.6 So kann Delius die Feinheiten der Naturschilderungen Fontanes nur als „Kompromisse" und innere ,Widersprüche' würdigen.7 Auch fehlt bei Delius eine Diskussion der Entwicklung der besprochenen Naturmotivik. Auch die amerikanische Romanistin Doris Y. Kadish betont in ihrem Buch The Literature of Images die "literary, nonrepresentational nature" 3 4

Miller, "Nature and the Linguistic Moment", S. 442. Vgl. etwa K. Ludwig Pfeiffer, „Bedingungen und Bedürfnisse: Literarische Landschaften im England des 19. Jahrhunderts", Landschaft, ed. Manfred Smuda (Frankfurt a. M., 1986), S. 178-202. Wie Pfeiffer in diesem Aufsatz feststellt, „kam der Roman [im England des neunzehnten Jahrhunderts] selten von der Tendenz los, die als ,setting', ,Lokal', Schauplatz oder sinnbezogenen Raum meist benötigten Landschaften mit Stimmung aufzuladen oder symbolisch' zu überhöhen"; ebd., S. 189 f. Warum sollte der Roman von dieser Tendenz ,loskommen' ? Oder anders gefragt: Warum sollten die Romanautoren auf dieses Mittel der Schilderung von Stimmungen verzichten? Pfeiffers Unbehagen ist insofern verständlich, als Landschaftsschilderungen, die als Ausdruck für etwas von der Natur Verschiedenes dienen, in der Tat keine Hinweise für eine Bewältigung der ökologischen Krise, der Bedrohung der „Natur als Lebensraum von Pflanzen, Tieren und Menschen" (S. 178) geben können, die den Ausgangspunkt des Aufsatzes (wie des von M. Smuda herausgegebenen Sammelbandes) bildet.

' F. C. Delius, Der Held und sein Wetter: Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gehrauch im Roman des bürgerlichen Realismus (München, 1971). Zu einer Diskussion von ökonomischen Verhältnissen und von Klassengegensätzen sind Naturmotive als Ansatzpunkt denkbar ungeeignet. Delius selbst sagt in einer Vorbemerkung, er sei „wider seine politische Einsicht" bei seinem Thema geblieben; Der Held und sein Wetter, S. 7. 7 Ebd., S. 9 0 - 1 0 1 ; vgl. u. S. 379, Anm. 25. 6

3

von Beschreibungen, vor allem Landschaftsschilderungen;8 vielversprechende Ansätze zu einem von ihr postulierten "relational reading" 9 werden im Verlauf der Untersuchung jedoch immer wieder dadurch behindert, daß Texte zur Bestätigung strukturalistischer, marxistischer oder feministischer Vorannahmen herhalten müssen, so daß sich Kadishs Deutung vielschichtiger Landschaftsbeschreibungen oft auf den (meist wenig überzeugenden) Hinweis auf einen kruden Symbolismus beschränkt. 10 Die Entdeckung, daß Landschaftsschilderungen eine übertragene Bedeutung haben müssen, verleitet Kadish dazu, nach solchen Bedeutungen zu suchen, die mit der ,wörtlichen', abbildenden Bedeutung nichts mehr zu tun haben und diese als zufällig erscheinen lassen. Viele Untersuchungen zu einzelnen Autoren stellen die Frage nach der Rolle der Natur bzw. nach dem ,Naturkonzept' des jeweiligen Autors und verkennen dabei die Funktion der Natur als "source of figurative language" (Miller). Eine mögliche Ursache dieses Versäumnisses der Forschung könnte in der Tradition liegen, die Romane des neunzehnten Jahrhunderts als Äußerungen eines ,Realismus' zu bewerten, im Einklang mit dem bei manchen Romanautoren zu findenden ausdrücklichen Bekenntnis zur Wahrheit. Offenkundige Abweichungen vom ,Prinzip Realismus' wurden nur am Rande zur Sprache gebracht oder gar als Ausdruck von mangelnder literarischer Qualität angesehen. 11 8

9

1

Doris Y. Kadish, The Literature of Images: Narrative Landscape from Julie to Jane Eyre (New Brunswick, London, 1987), S. 31. Kadish, The Literature of Images, S. 5 - 9 u. ö. Als einseitig erscheint etwa Kadishs Deutung der Beschreibung des Vulkans in Balzacs Peau de chagrin als Symbol für "the violent, cataclysmic change that according to Balzac the nefarious forces of individualism were producing in his times", The Literature of Images, S. 8. Hier wird viel zu sehr von dem unmittelbaren erzählerischen Kontext in Balzacs Roman abstrahiert.

' D . S . Bland, der für eine stärkere Würdigung von "background description" in der Literaturkritik eintritt, spricht etwa von der "over-emphasis of Mrs. Radcliffe's descriptive passages", die daher rühre, daß sie die Landschaften nicht aus eigener Beobachtung kenne, sondern von den Gemälden Claude Lorrains und Salvator Rosas; "Endangering the Reader's Neck: Background Description in the Novel", The Theory of the Novel, ed. Philip Stevick (New York, 1967), S. 3 1 3 - 3 3 1 ; S. 319f., 322. Naturschilderungen bei Scott seien hingegen qualitativ besser "in that he does not invent such settings, or take them at second-hand from paintings. He uses what is actually present"; ebd., S. 324. Eine Landschaftsschilderung in Hardys Mayor of Casterbridge ist zwar "good", jedoch auch ein "retrogressive step": "Like Mrs. Radcliffe, Hardy gives the game away and admits to manipulation when he tells us how much the scene harmonised with Henchard's mood, all the same, the thing is better done than it is by Disraeli or Wilkie Collins, partly because, as with Scott, the locality is actual and not imagined;" ebd., S. 330. Auch wenn es auf die Lokalität gar nicht ankommt, muß sie nach Meinung vieler Literaturkritiker ,real' sein. Hardys Hinweis auf die Zeichenfunktion seines Hintergrundes gilt, vom Blickwinkel des ,Realismus' betrachtet, als ,Schwäche'.

4

Deutlich wird dies etwa am Beispiel der "pathetic fallacy". 12 Ruskin bezeichnete mit diesem, eine Abwertung enthaltenden Begriff unrealistische', vermenschlichende Naturschilderungen, etwa die Bezeichnung eines Berges, eines Waldes oder eines Baumschattens als "melancholy" oder die der Meereswellen als "raging". Nur unter bestimmten Voraussetzungen kann nach Ruskin eine solche unwirkliche Schilderung poetisch gerechtfertigt sein. Noch heute trifft man oft auf die Vorstellung, die Schilderung von etwas, was nicht wirklich ist, wie zum Beispiel die Erwähnung eines Naturphänomens, das Gefühle empfindet, bedeute ein Defizit, eine Unachtsamkeit oder ein Unvermögen des jeweiligen Verfassers. Die Möglichkeit, Abweichungen von der Wirklichkeit durch ,Vermenschlichung' von Naturphänomenen als bewußte literarische Technik zu begreifen, wird von Interpreten oft nicht in Erwägung gezogen. Für das Desinteresse der Forschung am Thema „Vermenschlichte Natur" ließe sich noch ein weiterer Grund anführen: Als Hauptgegenstand des viktorianischen Romans gilt oft die Schilderung sozialer Verhältnisse. Die Romane werden aufgrund ihres social realism gepriesen, während ihre ,Melodramatik' oft Gegenstand von Spott ist. So ist dem Thema ,Psyche und Emotionen' in bezug auf das neunzehnte Jahrhundert noch keine umfassende Untersuchung zuteil geworden. Dieser Themenkomplex markiert jedoch den Bereich, in dem die übertragenen ,Bedeutungen' von Naturschilderungen in erster Linie zu suchen sind (wie bereits der Begriff "pathetic fallacy", die Zuweisung von menschlichen Emotionen an Pflanzen oder unbelebte Objekte, deutlich macht). Diesem Versäumnis der Forschung in bezug auf die ,Psychologie' des neunzehnten Jahrhunderts stehen zahlreiche umfassende Studien zum ,Sentimentalismus' des achtzehnten Jahrhunderts gegenüber.13 Das Problem besteht offensichtlich darin, daß sich die Schilderungen von Emotionen, wie sie sich in viktorianischen Romanen finden, weniger leicht in ein normatives System einordnen lassen, wie es der ,Sentimentalismus' für das achtzehnte Jahrhundert darstellt. Die Problematik wird etwa in Wolfgang Herrlingers Untersuchung Sentimentalismus und. Postsentimentalismus deutlich, die sich mit dem Wandel des „sentimentalen Tu" John Ruskin, Modern Painters, Bd. 3 (= Complete Works, Bd. 5) (London, 1904 ['18 jé]), S. 201-220; vgl. u. S. 356-359. ' 3 Augenfällig wurde dieses Ungleichgewicht der Forschung in den Beiträgen zum Anglistentag 1991 in Düsseldorf, der zu einem großen Teil (Sektionen I—III der sechs Sektionen) dem Thema ,Emotionen' gewidmet war: Der Schwerpunkt lag auf Werken des achtzehnten Jahrhunderts, während Romane der viktorianischen Zeit nicht zur Sprache kamen; siehe Anglistentag 1991 Düsseldorf: Proceedings, ed. Wilhelm G. Busse (Tübingen, 1992).

5

gendsystems" im neunzehnten Jahrhundert befaßt.' 4 Herrlinger kann seine Befunde im Hinblick auf die Werke der Brontë Sisters, Dickens' und Thackerays auf keinen anderen Begriff bringen als den des ,Postsentimentalismus'. So überzeugend Herrlinger den Bewußtseinswandel im Hinblick auf die Emotionen nachweist, so wenig gelingt es ihm, in den viktorianischen Auffassungen und Bewußtseinsformen ein einheitliches Konzept aufzuzeigen. Die vorliegende Arbeit möchte in doppelter Hinsicht eine Lücke schließen: Z u m einen sollen die Naturschilderungen in englischen Romanen von 1790 bis 1890 als Bestandteile eines sich wandelnden Zeichensystems, eines "ensemble signifiant" im Sinne A . J . Greimas', 1 5 analysiert werden. Ausgehend von der These, daß sich dieses Zeichensystem vor allem auf die Darstellung psychischer Befindlichkeiten des Menschen bezieht, soll zum anderen anhand der Naturmotivik eine Skizze der p s y chologie' erstellt werden, die in den Romanen des untersuchten Zeitraums anzutreffen ist. Wie zu zeigen sein wird, bot das ,Zeichensystem Naturmotivik' den Autoren fiktionaler Texte die Möglichkeit, auch solche emotionalen Zustände zu schildern, die sich (aus unterschiedlichen Gründen) einer direkten Beschreibung entzogen. Die Arbeit ist sowohl systematisch als auch historisch angelegt: U m die unterschiedliche Verwendung von Naturmotiven bei verschiedenen Autoren beschreiben zu können, muß eine Begrifflichkeit gefunden werden, die auf die untersuchten Phänomene in ihrer Gesamtheit angewandt werden kann. Die begriffliche Bestimmung des ,Zeichensystems Naturmotivik' ermöglicht dann auch, die einzelnen Erscheinungsformen des Zeichensystems historisch herzuleiten und in ihrer Entwicklung zu verfolgen. Worin jedoch liegt der Ursprung dieses Zeichensystems? Wie kann es eigentlich dazu kommen, daß Naturschilderungen in literarischen Werken menschliche Verhältnisse bezeichnen? Eine Beantwortung dieser Frage könnte die für die Untersuchung notwendigen und sinnvollen Kategorien bereitstellen. So gibt es möglicherweise einen Zusammenhang mit der Bedeutung, die die Natur für den Menschen in der außerliterarischen Wirklichkeit hat: Jeder Mensch kommt tagtäglich mit Tageszeit, Jahreszeit, Landschaft und Wetter in Kontakt und wird durch diese N a turphänomene auf vielfältige Weise beeinflußt. Daß ein auf Naturmotiven 14

Wolfgang Herrlinger, Sentimentalismus und Postsentimentalismus: Studien zum englischen Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Tübingen, 1987). Algirdas Julien Greimas, Sémantique structurale: Recherche de méthode (Paris, 1986 ['1966]), S. 12.

6

aufbauendes Zeichensystem ,arbiträr' ist (wie die langue bei de Saussure), ist schon aus diesem Grund nicht anzunehmen. Unter den ,ursprünglichen Bedeutungen' der Natur wäre an erster Stelle die Vorstellung zu nennen, im Wirken der Natur manifestiere sich das "Wirken einer Gottheit. Nach der antiken griechischen Mythologie läßt Zeus regnen und schleudert Blitze, letzteres bisweilen als Reaktion auf ein Geschehnis auf der Erde. Der offenkundige Zusammenhang zwischen menschlichem Geschehen und dem Wetter in viktorianischen Romanen veranlaßt manchen Leser, gleichfalls eine solche göttliche Einwirkung anzunehmen. Ob hier jedoch ein Zusammenhang mit den religiösen Vorstellungen der Antike oder denen ,primitiver' Völker vorliegt, muß bezweifelt werden. Wie zu zeigen sein wird, steht die Annahme eines ,Zeichensystems' bei Naturschilderungen gerade im Widerspruch zu naturreligiösen Vorstellungen. Weiterhin wären zwei anthropologische Zusammenhänge anzusprechen: In The Experience of Landscape, einer im Grenzbereich von Geographie, biologischer Anthropologie und philosophischer Ästhetik angesiedelten Studie, führt Jay Appleton jedes ästhetische Landschaftsempfinden auf die Komponenten "prospect" und "refuge" zurück, jene Bedeutungen, die die Landschaft für das Uberlebensstreben des ursprünglichen Menschen gehabt haben soll. lé Eigenarten der Landschaft können die Beweglichkeit des Menschen erleichtern oder behindern, was wiederum abhängig sein kann von der Tageszeit oder der Jahreszeit. Unübersichtlichkeit und Dunkelheit können Gefahren bedeuten. Auch in der zivilisierten Welt hindern Gewitterstürme den Menschen daran, überhaupt ins Freie zu gehen, bzw. machen auf Reisen ein Weiterkommen unmöglich. Besonders deutlich ist der Einfluß der Natur auf den Lebensrhythmus des Menschen natürlich auch in der Landwirtschaft.17 Der zweite, vielleicht noch interessantere anthropologische Zusammenhang besteht in den Einwirkungen der Natur auf Physis und Psyche des Menschen. Das Phänomen der ,Wetterfühligkeit' ist gut bekannt. Alle Formen des Wetters, vor allem abrupte Änderungen der Wetterlage, können das Wohlbefinden des Menschen verändern. Eine besonders große 16 17

Jay Appleton, The Experience of Landscape (London, 1975), S. 58-80 u. ö. Vgl. hierzu Pfeiffer, der Appletons Thesen in den Kontext ähnlicher anthropologischer Überlegungen Ruskins und Deweys stellt; „Bedingungen und Bedürfnisse", S. 193. Der anthropologisch-evolutionsgeschichtliche Ansatz liefert zwar eine mögliche Erklärung für das ästhetische Landschaftsempfinden, nicht jedoch die einzig denkbare; insofern ist er als „Theoriezusammenhang" (ebd., S. 179) zur .Situierung eines literaturgeschichtlichen Befunds', wie er Pfeiffer vorschwebt, nicht geeignet.

7

Korrelation besteht zwischen Wetter und psychischer Krankheit, vor allem der Depression. 18 Bemerkenswert ist, daß die Medizin bis heute nicht genau feststellen kann, welche Wetterlagen zu welchem Befinden führen - so wird bei entgegengesetzten meteorologischen Vorgängen nicht selten derselbe Effekt beobachtet - , I ? wohingegen das Faktum der körperlichen und psychischen Einflußnahme unstrittig ist. Offensichtlich macht gerade diese Unklarheit das Wetter zu einem idealen ,Spielmateriar für den Romanautor, der Psyche und emotionale Verfassung seiner Figuren darstellen möchte. 20 Ein weiterer Versuch, Naturmotive in der Literatur aus anthropologischen Grundlagen abzuleiten, besteht in der Annahme einer vorgegebenen Erlebnisstruktur, aufgrund derer Naturphänomene für den Menschen automatisch bestimmte Konnotationen aufweisen: Gaston Bachelard beschreibt in La poétique de l'espace archetypische Bedeutungen der vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft) und bestimmter Raumelemente bzw. Raummotive; diese Bedeutungen ergeben sich - ähnlich wie bei Appleton - aus anthropologischen Konstanten. Er bemerkt etwa zum „dialektischen Wechsel zwischen Felderweiten und Wälderweiten": 21 18

Siehe ζ. B. Volker Faust, Biometeorologie: Der Einfluß von Wetter und Klima auf Gesunde und Kranke (Stuttgart, 1977). Die häufigsten Symptome der Wetterfühligkeit sind „Müdigkeit" und „Dysphorische Stimmungslage" (ebd., S. 62 f.). Zu den psychischen Krankheiten siehe vor allem ebd., S. 1 1 8 - 1 4 5 . Vgl. auch Hermann Trenkle, Klima und Krankheit (Darmstadt, 1992), S. 52-68.

' ' „Nach dem Wetterlagen-Klassifikationssystem werden Depressive sowohl durch Warmluftzufuhr als auch Kaltluftadvektion betroffen. Die deutliche Reaktion auf entgegengesetzte Wetterlagen demonstriert die Empfindlichkeit dieses Krankheitsbildes auf starke Wetterreize", Faust, Biometeorologie, S. 129. Vgl. auch Trenkles Feststellung: „Die Erforschung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen Wettervorgängen und Organismus, als Suche nach einem für sich allein wirkenden oder verschiedenen, gewissermaßen als jWetterakkord' wirkenden Faktoren und die Aufklärung des Wirkungsmechanismus der Wetterreize von dem diese auslösenden Wettervorgang bis zum empfindlichen, ansprechenden Organ ist ein sehr schwieriges Unterfangen und harrt noch immer einer lückenlosen Erklärung"; Klima und Krankheit, S. 54. 20

Natürlich wurden Charakter und Befindlichkeit von Bewohnern bestimmter Länder oder Regionen häufig mit dem dort herrschenden Klima in Verbindung gebracht; eine Ubersicht über ,Klimatheorien' in England gibt Waldemar Zacharasiewicz, Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Wiener Beiträge zur englischen Philologie, 77 (Wien, 1977); zum „Nationalcharakter" bzw. „Regionalcharakter" siehe ebd., S. 590 u.ö. Ihre größte Bedeutung hatten Klimatheorien im von Zacharasiewicz gewählten Untersuchungszeitraum. Als ein feststehender Kausalzusammenhang zwischen Klima und Charakter nicht mehr unbedingt angenommen wurde - so im neunzehnten Jahrhundert - , ergaben sich für den Romanautor größere Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung.

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Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, übers, v. Kurt Leonhard [La poétique de l'espace (Paris, 1957)] (München, 1960), S. 218.

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In der weiten Welt des N i c h t - I c h ist das N i c h t - I c h der Felder nicht das gleiche wie das N i c h t - I c h der Wälder. D e r Wald ist ein Vor-Ich, ein Sein vor meinem, vor unserem Dasein. Die Felder und Wiesen dagegen verbinden sich in meinen Träumen und Erinnerungen zu allen Zeiten mit den Arbeiten des Pflügens und Erntens. Wenn die Dialektik des Ich und des N i c h t - I c h ihre Starrheit verliert, dann fühle ich die Wiesen und Felder mit mir, in meinem, in unserem Dasein. Aber der Wald beherrscht die vergangene Zeit. In jenem Wald, den ich kenne, hat sich mein Großvater einst verirrt. Man hat es mir erzählt, ich habe es nicht vergessen . . . Dies ist mein „altehrwürdiger" Wald. U n d alles übrige ist Literatur.

Bachelard berücksichtigt nicht, daß die Erfahrung ,Wald' in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen unterschiedliche Konnotationen aufweisen kann, neben ,Bedrohung' und ,Verirrung' etwa ,Ruhe', ,Kühle', ,Einsamkeit' etc. Diese Unterschiede stehen einer schematischen, kontextunabhängigen Deutung von Raummotiven entgegen. Aber wenn einzelne Elemente der räumlichen Erlebniswelt keine feststehende Bedeutung vermitteln, läßt sich dies vielleicht vom ,Raum' als physikalischer Größe sagen? In der Einleitung zum Sammelband Landschaft und Raum in der Erzählkunst bezeichnet Alexander Ritter „die Analyse der Landschaftsdarstellung" als „wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der rezeptiven Wirklichkeitsaneignung im dichterischen Vorgang". 22 „Landschaft und Raum" sind „Grundbestandteil dichterischer Weltgestaltung"23 bzw. „Bedeutungselemente der dichterischen Struktur". 24 Im Mittelpunkt seiner Überlegungen wie auch der meisten für diesen Sammelband ausgesuchten Aufsätze steht dementsprechend die Rolle des Raumes als Strukturelement in erzählerischen Texten. Herman Meyer etwa sieht den „Raum in der Dichtung" als „eigenständiges Gestaltungselement" an, „das zusammen mit verschwisterten Elementen wie Zeit, Erzählperspektive, Figur und Handlungsfolge den intendierten Gehalt bekörpert und die Struktur des Werkes bestimmt". 25 Als Strukturelement wird der „Raum" also als etwas betrachtet, was auf die eine oder andere Weise in jedem erzählenden Werk der Literatur vorhanden ist und auf unterschiedliche Weise gestaltet werden kann.2"5 22

24 25

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Alexander Ritter, „Einleitung", ders., ed., Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Wege der Forschung, Bd. 418 (Darmstadt, 1975), S. 1 - 1 6 ; S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 16. Herman Meyer, „Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst", Landschaft und Raum, ed. A. Ritter, S. 2 0 8 - 2 3 1 ; S. 231. Robert Petsch spricht von der „Neigung" der in einen Raum hineinragenden Einzelheiten, diesen Raum „auszufüllen, ihn zu erweitern, ihn mit Hilfe besonderer Darstellungsele-

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Auch Gerhard Hoffmann geht in seiner umfassenden, zum Teil auf Bachelard und auf Greimas' ,,Elemente[n] einer narrativen Grammatik" aufbauenden und durch ein hohes Abstraktionsniveau gekennzeichneten Studie Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit: Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman von strukturellen Fragen aus. Nach Hoffmann bilden „in einem formalen Modell der narrativen Situation, das auf ihr Basisinventar abhebt, ... Raum, Zeit, Charakter und Geschehen konstitutive Kategorien, sozusagen einen abstrakten Bedingungszusammenhang, die allgemeinen Komponenten einer Struktur, die im Verhältnis zueinander definiert werden müssen". 27 Für das Thema der Landschaftsdarstellung ist vor allem der Abschnitt über den „Verweischarakter des Raums als Symbol, Allegorie und Assoziationsstimulus" relevant.28 Hoffmann stellt unter anderem fest, daß traditionelle Definitionen des Symbolbegriffs der Vielfalt der Phänomene nicht gerecht werden können. So nimmt er neben der ,„vertikalen* Verweisrichtung des Symbols ... im Sinne der Darstellung eines Ideellen im Konkreten" 29 „im Hinblick auf den Roman" vielfältige „,horizontale' Verweisungen" an, die durch ihren jeweiligen Kontextbezug gekennzeichnet sind. Wie Hoffmann feststellt, können „äußere Phänomene (Raum, Ding, Wetter) ... auf etwas Psychisches verweisen oder den Handlungsverlauf andeuten oder beides zugleich erhellen, ohne daß dabei ein Bezug auf ein ideelles Ganzes oder thematisch Übergreifendes gegeben sein muß". 3 ° Hierin liegt sicher eine wesentliche Erkenntnis, die dabei jedoch auch die Grenzen der strukturellen Methode deutlich macht: Die genannten ,partikulären' Verweisfunktionen lassen sich weniger leicht als Grundbestandteile einer Struktur darstellen als die etwaigen ,Bezüge auf ein ideelles Ganzes'. Ein ganz anderer Ansatz liegt in Raymond Williams Buch The Count r y and the City vor: Williams' Hauptthema sind die ökonomischen Verhältnisse des Landlebens. 31 Er interpretiert wesentliche Beispiele der englischen Naturdichtung vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert, pastorale Dichtungsformen ebenso wie die mehr deskriptiven Dichtungen Thomsons und Goldsmiths, als Ausdruck sozialer Bedingungen.

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mente poetisch-anschaulich und stimmungsschwer zu .gestalten'"; „Raum in der Erzählung"; Landschaft und Raum, ed. A. Ritter, S. 36-44; S. 43 f. Gerhard Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit: Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman (Stuttgart, 1978), S. X. Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, S. 267-444. Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, S. 283. Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, S. 283 f. Raymond Williams, The Country and the City (London, 1973). 10

Weniger überzeugend ist dieses Unterfangen dann bei Wordsworth und Romanautoren wie Hardy und Lawrence. Durch Wordsworths Verlagerung des Interesses vom Betrachteten auf den Betrachter verkompliziert sich Williams' Ansatz. 32 Bei Hardy beschränkt sich Williams im wesentlichen auf die in den Romanen enthaltenen theoretischen Äußerungen über das Landleben in Wessex, während die eigentlichen Naturschilderungen (die Hardys Leser ja immer fasziniert haben) weitgehend ausgeklammert bleiben. Wenn eine solche Schilderung doch einmal zur Sprache kommt, erfolgt charakteristischerweise lediglich eine stilistische Interpretation.33 Williams' Studie kann ex negativo als Hinweis darauf gewertet werden, daß ein Zusammenhang zwischen der Naturmotivik im Roman des neunzehnten Jahrhunderts und den ökonomisch-sozialen Verhältnissen des Landlebens in der Regel nicht besteht. Schließlich lassen sich die Ursprünge des ,Zeichensystems Naturmotivik' im literarisch-kulturellen Bereich suchen. In diesem Bereich sind auch die meisten Vorarbeiten geleistet worden. Sie beziehen sich in der Regel auf die Frage nach dem Konzept einer ,erhabenen Natur', wie es sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich, England und Deutschland entwickelte. Joachim Ritter untersucht in seiner bekannten Studie Landschaft das „ästhetische Verhältnis zur Natur als Landschaft". 34 Erst durch den Betrachter wird die Natur laut Ritter zur Landschaft. Ihre Wahrnehmung bedarf eines „theoretischen", d.h. schauenden Geistes. Die zweckfreie Wahrnehmung der Natur als etwas „Großes, Erhabenes und Schönes" 35 rückt diese in einen Zusammenhang mit dem Weltganzen, so daß sich ein „innerer Zusammenhang von Landschaft und philosophischer Theorie der ganzen Natur" ergibt,36 für den sich, wie Ritter feststellt, zahlreiche Belege anführen lassen - Ritter nennt vor allem Petrarcas Bericht von der Besteigung des Mont Ventoux und Schillers „Spaziergang". Für Ritter ist die ästhetische Naturbetrachtung vor allem eine Folge der mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verbundenen metaphysischen Ungewißheit: Nicht mehr die geoffenbarte Religion, sondern nur mehr Gottes

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Williams, The Country and the City, S. i j o f f . Williams, The Country and the City, S. 205 f. Joachim Ritter, Landschaft: Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (Münster, 1963), Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster, 54, S. 1 2 f . J. Ritter, Landschaft, S. 18. J. Ritter, Landschaft, S. 14.

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Werke schienen die Annäherung an eine ,Transzendenz' zu ermöglichen. 37 Auch Eckhard Lobsien rückt ästhetische Fragen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung über Landschaft in Texten,38 Er stellt fest, daß sich Landschaft durch „eine nahezu unbegrenzte Interpretierbarkeit" auszeichnet,39 und untersucht an englischen Texten, vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts - erstaunlicherweise fehlen (wie bei Ritter) Beispieltexte aus dem neunzehnten Jahrhundert fast völlig - , Landschaft als das „Korrelat einer besonderen Einstellung auf Natur, als eine spezifische Weise, die Welt zu sehen und zu verarbeiten". 40 Die ,Bedeutung' einer Landschaftsschilderung liegt demnach in der jeweiligen Subjektivität der Wahrnehmung, die geeignet ist, die Wahrnehmung der Welt durch das jeweilige Subjekt zu exemplifizieren. Ein wiederum anderes Interesse verfolgt Roger Ebbatson mit seinem Buch Lawrence and the Nature Tradition.4I Ebbatson geht es in erster Linie um das Weltbild, das den Romanen Merediths, Hardys, Lawrence' und anderer Autoren zugrundeliegt. Die ,Naturauffassung' dieser Romanciers führt Ebbatson überzeugend auf die Erkenntnisse Darwins und Huxleys zurück. Doch auch bei dieser Studie fällt auf, eine wie geringe Rolle die eigentlichen Naturschilderungen der untersuchten Autoren spielen. Wo sie zitiert werden, gelten sie als Ausdruck der Weltanschauung des Autors; die Frage, worin die Beziehung zwischen den Naturphänomenen und ,der Natur', also "Nature" mit kleinem und mit großem Anfangsbuchstaben, eigentlich besteht, wird nicht im einzelnen erörtert. Gemeinsam ist den genannten Arbeiten, daß nach einem ,Naturkonzept' gefragt wird. Ausgegangen wird von der impliziten Vorannahme, daß ,die Natur' in der Erzählliteratur allgemein oder bei den jeweiligen Autoren eine bestimmte Bedeutung habe, die es zu ermitteln gilt. Daß Natur, Landschaft und Raum als Bedeutungsträger von anderen Erzählelementen (wie Zeit, Handlung, Charakter) geschieden werden können, wird kaum je in Frage gestellt. Die Frage nach dem Naturkonzept erweist sich bei Werken J7

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39 40 41

Vgl. hierzu Ruth und Dieter Groh, „Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen: Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung", Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriff's, ed. Hans-Dieter Weber (Konstanz, 1989), S. 53-95, v. a. S. 56-65 und u. S. 84-87 zu Kant. Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten: Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung (Stuttgart, 1981). Lobsien, Landschaft in Texten, S. 10. Lobsien, Landschaft in Texten, S. 18. Roger Ebbatson, Lawrence and the Nature Tradition: A Theme in English Fiction 18)91914 (Brighton; Atlantic Highlands, N . J . , 1980).

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aus bestimmten Epochen als besonders ergiebig: Joachim Ritter, Eckhard Lobsien und Raymond Williams beschäftigen sich vorwiegend mit Werken aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Roger Ebbatson hingegen untersucht Werke des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, der Epoche, der auch ein Großteil der von Hoffmann zitierten Werke entstammt. Zur Analyse und Deutung der Naturschilderungen in englischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, etwa den Gothic novels oder den Romanen der Brontë Sisters, ist dieser Ansatz jedoch offensichtlich nicht geeignet. Der Grund wurde bereits genannt: Bei den Schilderungen von Landschaft und Wetter in diesen Romanen geht es nicht oder nur zu einem kleinen Teil um ,die Natur'. Nicht „Wirklichkeitsaneignung" (A. Ritter) liegt vor, wenn Landschaft und Wetter beschrieben werden, sondern Wirklichkeitsprojektion. Wie im einzelnen zu zeigen sein wird, besteht jedoch zwischen dem Naturkonzept des achtzehnten Jahrhunderts und der Romantik und dem ,Zeichensystem Naturmotivik' des neunzehnten Jahrhunderts durchaus ein Zusammenhang: Erst die Gewohnheit, sich von der Landschaft zu erhabenen Emotionen inspirieren zu lassen, ermöglicht jene Funktionalisierung der Natur, wie wir sie im viktorianischen Roman finden. In der Nachzeichnung des Prozesses, der zu dieser Funktionalisierung führt, liegt eines der Ziele der vorliegenden Arbeit.

2. Zur Methode der Untersuchung

Wie bereits angedeutet wurde, sollen in der vorliegenden Studie ,Motivanalyse' und ,Motivgeschichte' kombiniert werden. Mit dieser Problemstellung knüpft die Arbeit teilweise an die Forschungen Elisabeth Frenzeis sowie Theodor Wolpers' und der Mitarbeiter der von ihm geleiteten Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung an. Als ,Motiv' soll ein in unterschiedlichen Texten wiederkehrendes inhaltliches Element verstanden werden, das in eine bestimmte Beziehung zum erzählerischen Zusammenhang tritt. Verschiedene Motive können sich nun zu komplexeren Motiven verbinden, wie zum Beispiel die Motive ,Sonnenuntergang' und ,Alpenlandschaft' zu ,Sonnenuntergang in den Alpen'; letzteres Motiv wiederum kann etwa mit dem Motiv ,erhabenes Naturgefühl des Reisenden' eine noch komplexere motivliche Einheit bilden. Der Motivbegriff ist hier also weiter gefaßt als in manchen anderen Definitionen, etwa der Elisabeth Frenzeis. Er bezeichnet sowohl einfache als auch komplexe inhaltliche Elemente eines literarischen Textes. 13

Nach Frenzel ist ein Motiv „eine kleinere stoffliche Einheit, die zwar noch nicht einen ganzen Plot, eine Fabel, umfaßt, aber doch bereits ein inhaltliches, situationsmäßiges Element und damit einen Handlungsansatz darstellt". 42 Frenzel grenzt den Begriff gegenüber „einzelstehenden sog. Zügen und Bildern" ab, „die der näheren Charakterisierung, dem Schmuck, der Stimmung oder auch der geistigen Erhellung des Inhalts dienen." Diese seien keine Motive, da sie „im Gesamt des Inhalts keine notwendige, sondern eine nur additive Funktion" ausüben und „häufig auf das Gebiet des Stilistischen" hinüberreichen. Frenzel erkennt die Problematik ihrer Klassifikation: Während „Meer, Hütte, Gewitter" in der Regel keine Motive seien, handle es sich jedoch bei dem Gewitter in Goethes Werther um ein Motiv, da es nicht „nur ornamental", sondern „bereits movierend" sei.43 Problematisch erscheint in diesen Ausführungen die implizierte Gleichsetzung von ,Stilistik' und ,Ornament', ebenso wie die Prämisse, daß ,nähere Charakterisierungen' oder ,Stimmungen' grundsätzlich nur ,additive' Funktionen hätten und niemals den eigentlichen Inhalt eines literarischen Werks ausmachten. Wie zu zeigen sein wird, würde eine solche Annahme etwa im Fall von Ann Radcliffe oder Emily Brontë an einem Verständnis der Werke vorbeiführen. Mit dem in der vorliegenden Arbeit zugrundegelegte ,weiten' Motivbegriff soll vermieden werden, daß mit der Definition bereits die Untersuchungsergebnisse vorweggenommen werden. 44 42

Elisabeth Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, 4. Aufl. (Stuttgart, 1978 ['1963]), S. 29. Vgl. auch Horst und Ingrid Daemmrich, laut denen „Themen und Motive gestaltgebende Elemente der Literatur" sind; Wiederholte Spiegelungen: Themen und Motive in der Literatur (Bern, 1978), S, 5. Zur Definitionsproblematik und Etymologie des Motivbegriffs vgl. Ulrich Molk, „Das Dilemma der literarischen Motivforschung und die europäische Bedeutungsgeschichte von .Motiv': Überlegungen und Dokumentation", Romanistisches Jahrbuch, 42 ( 1991 [Berlin, 1992]). S. 91 - 1 2 0 , vor allem S. 96 - 1 0 1 .

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Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, S. 29 f. Vgl. die Definition Theodor Wolpers': " A literary motif may be any imaginative unit based on perception, sensation, and / or feeling (any Vorstellungseinheit or Gefühlseinheit)"; "Motif and Theme as Structural Content Units and 'Concrete Universale"', Werner Sollors, ed., The Return of Thematic Criticism, (Cambridge, Mass., 1993), S. 8 0 - 9 1 ; S. 80. Noch offener ist der Motivbegriff Ulrich Mölks: Molk zufolge kann unter bestimmten Umständen zum Beispiel „Liebe" ein Motiv sein; da „Auftauchen und Verwendungsweise dieses Motivs in bestimmten Gattungen bestimmter Epochen durchaus interessant sein" können, eignet sich dieser Begriff als literaturwissenschaftliches Hilfsmittel. Mölk kommt zu dem Ergebnis: „Was ein literarisches Motiv ist, entscheidet der Interpret; seine Entscheidung muß plausibel sein, ob er nun mikrostrukturelle Motivanalyse an einem einzelnen Text betreibt, ob er die Geschichte eines Motivs erforscht oder ob er (den einzelnen Text, die einzelne Gattung, die einzelne Epoche übergreifende) Motivinventare erstellt. Hinsichtlich der Freiheit, die er bei der Bemessung des Bedeutungsvolumens des Begriffs ,Motiv' beansprucht... darf er sich auf Goethe berufen"; „Das Dilemma der literarischen Motivforschung", S. 101.

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H

Wesentliches Merkmal der Motivanalyse ist die Textbezogenheit der Untersuchung. Anders als bei einer systemtheoretischen Methode, die etwa nach der Bedeutung des ,Raumes' in den Erzähltexten fragt oder von anthropologisch-evolutionären Grundvoraussetzungen ausgeht, werden, soweit sich dies überhaupt vermeiden läßt, keine Vorannahmen oder Theoriezusammenhänge an die Texte herangetragen; vielmehr sollen die Untersuchungskriterien aus den Befunden selbst abgeleitet werden. 45 Ein solcher Ansatz strebt Offenheit an für mögliche Unterschiede und Wandlungen im Bereich von Darstellung, Bedeutung und Funktionen der N a turmotivik. Bei jedem Text können genau die Aspekte benannt werden, die jeweils relevant sind. Durch die Untersuchung von Naturmotiven in unterschiedlichen Texten werden auf diese Weise auch Verschiebungen der ,Relevanzgesichtspunkte' deutlich. Naturmotive liefern somit einen objektiven Ausgangspunkt für einen Vergleich von Werken verschiedener Autoren bzw. unterschiedlicher Epochen. 4 6 Nicht die Benennung von Traditionen, sondern von Wandlungen steht also im Vordergrund bei der Untersuchung der Geschichte von Naturmotiven. Auch in dieser Hinsicht weicht die vorliegende Arbeit von den Ansätzen Elisabeth Frenzeis ab: Z w a r erkennt auch Frenzel, daß „die Variation, die eine Zeit mit einem Motiv vornimmt", die Epoche kenn-

4S

Vgl. Wolpers' Forderung: "...the motif itself, as a component of the text which carries its own meaning within the overall structure, should be the point of departure, not any forces operating outside the work"; "Motif and Theme", S. 81. Der gewählte Ansatz entspricht dem Prinzip des „zentripetalen Verstehens", das Horst-Jürgen Gerigk als Gegenstück zum „zentrifugalen Verstehen" Gadamers vorstellt; Horst-Jürgen Gerigk, Unterwegs zur Interpretation: Hinweise zu einer Theorie der Literatur in Auseinandersetzung mit Gadamers >Wahrheit und Methode< (Hürtgenwald, 1989), S. 15 f. Unter anderem führt Gerigk aus: Wenn das zentrifugale Verstehen das literarische Gebilde ganz dem Zugriff unserer Sorge ausliefert, so liefert das zentripetale Verstehen unsere Sorge ganz dem Zugriff des literarischen Gebildes aus. Das zentrifugale Verstehen ist ganz auf die Situation bezogen, in der der Interpret geschichtlich steckt; das zentripetale Verstehen hat sich ganz auf die Situationen angewiesen, die das Gebilde selbst bereitstellt. Der Begriff Interpretation hat für das zentripetale Verstehen eine andere Bedeutung als für das zentrifugale Verstehen. Interpretieren heißt für das zentripetale Verstehen: zu Wort kommen lassen, was der Text von sich aus zum Ausdruck bringt, ohne daß es verbalisiert vorliegt; für das zentrifugale Verstehen aber heißt Interpretieren: zu Wort kommen lassen, was an einem literarischen Text für mich zum Ausdruck kommt, ohne daß es gesagt sein wollte.

Als eine besonders geeignete Möglichkeit, Texte ,zum Sprechen zu bringen', erscheint die vergleichende Motivanalyse, da sie dem Interpreten erlaubt, sich die Kriterien der Interpretation von den Texten vorgeben zu lassen. «« Vgl. Wolpers, "Motif and Theme", S. 83.

IS

zeichnet,47 doch liegt ihr Hauptakzent auf Traditionen und „zeitlosen menschlichen Grundvorstellungen",48 die in bestimmten Motiven deutlich werden, bzw. bei den Charakteristiken von Autoren und Nationalliteraturen, die in der Präponderanz bestimmter Motive zum Ausdruck kommen. Bereits ein Motiv als solches trägt eine bestimmte Bedeutung, und Veränderungen bzw. Unterschiede zeigen sich nach Frenzel vor allem im Auftreten unterschiedlicher Motive. Für viele der von Frenzel angesprochenen und untersuchten Motive und Themen mag dies zutreffen. Im Bereich der Naturmotive gilt dies jedoch nur für einige ,Topoi' mit feststehendem Inhalt und weitgehend feststehender Bedeutung (wie dem locus amoenus).49 Gerade Naturwahrnehmungen können jedoch - bei einer Konstanz der wahrgenommenen Naturphänomene - in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen zu sehr vielfältigen Deutungen führen. Gerade diese Vielfalt läßt den Untersuchungsgegenstand lohnend erscheinen. Die Textbezogenheit und die ,Offenheit' für unterschiedliche Ergebnisse hat die Untersuchung mit Arbeiten gemein, die in den Bereich ,Metaphorologie' fallen, wie Erich Rothackers Abhandlung zum ,Buch der Natur' und Hans Blumenbergs Studie Die Lesbarkeit der WeltS0 Wie bei den Metaphern handelt es sich bei den Naturmotiven in der Regel um ,Zeichen'. Die Feststellung Rothackers, daß „Wortgeschichte" bzw. Metapherngeschichte nicht der „Bedeutungsgeschichte" entspricht, daß also die Wiederkehr einer bestimmten metaphorischen Wendung noch nicht die Folgerung zuläßt, daß diese Wendung im gleichen Sinn wie zuvor verwendet wird,51 gilt mutatis mutandis auch für die Naturmotive. Die aus den Kontexten zu ermittelnden Bedeutungs- und Funktionsverschie-

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Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, S. 74.