Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis: Letzte Schriften und Gespräche [1 ed.] 9783428547647, 9783428147649

Dieser Sammelband ist eine Fortsetzung der neueren Monographien von Peter Häberle. Sein kulturwissenschaftlicher Ansatz,

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German Pages 466 Year 2016

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Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis: Letzte Schriften und Gespräche [1 ed.]
 9783428547647, 9783428147649

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Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis Letzte Schriften und Gespräche

Von

Peter Häberle

Duncker & Humblot . Berlin

PETER HÄBERLE

Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1310

Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis Letzte Schriften und Gespräche

Von

Peter Häberle

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Druckerei Conrad GmbH, Berlin Printed in Germany

ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14764-9 (Print) ISBN 978-3-428-54764-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84764-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort I. Die Bezeichnung „Letzte Schriften“ und Gespräche mag irritieren. Sie rechtfertigt sich indes vielleicht dadurch, dass in den letzten Jahren von befreundeten Kollegen zwei einschlägige Bücher des Verfassers veröffentlicht worden sind: „Kleine Schriften. Beiträge zur Staatsrechtslehre und Verfassungskultur“, herausgegeben von W. Graf Vitzthum (2002), sowie „Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht. Späte Schriften“, hrsgg. von M. Kotzur / L. Michael (2009). Spätestens Publikationen im „Winter des Altertums“ eines Verf. verdienen nun einmal die Kennzeichnung „Letzte Schriften“. Der jetzige Band vereinigt viele Themen und viele Literatur- bzw. Wissenschaftsgattungen aus den letzten zehn Jahren. Vor allem sind die Publikationen berücksichtigt, die bisher nicht in Deutschland, sondern im Ausland erschienen sind. Der Verfasser ist seit 1983 insgesamt in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt worden. Seine Beiträge sind inhaltlich-thematisch gerade in den letzten Jahren stark auf das Ausland hin konzipiert worden. Das zeigt sich besonders in dem letzten größeren Buch „Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur“ (2013). Es lebt von dem Konzept, dass sich der universale, regionale und nationale Konstitutionalismus heute wie wohl nie zuvor aus völkerrechtlichen und nationalen Teilverfassungen entwickelt. Gelebt wird eine Pluralität, ein Ensemble vieler Normenkomplexe, die bald kumulativ, bald komplementär, bald konkurrierend zusammenwirken und universal in wohl historisch einzigartiger Dichte meist in Osmose gedeihen. Trotz dieser guten Texte bleibt es freilich leider noch oft genug bei Vollzugsdefiziten, besonders im universalen Bereich. Es fehlt an konstitutioneller Wirklichkeit: national, regional und universal.

II. Der Erste Teil versucht, den Ansatz des Verfassers in Sachen „Universale Verfassungslehre“ von 2013 fortzuführen und zu konkretisieren. Der Verfasser freut sich, dass jüngst zunehmend auch nationale Rechtskulturen und Autoren aus dem französischsprachigen Bereich Interesse am seit 1982 entwickelten kulturwissenschaftlichen Ansatz zeigen, wie die Auftragsarbeiten für Zeitschriften in Paris und Brüssel (2014) belegen. Es ist kein Zufall, dass in diesem Ersten Teil vor allem Themen in Bezug auf die romanischen Länder wie Italien und Spanien zur Sprache kommen.

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Vorwort

III. Der Zweite Teil widmet sich konkreten neueren Verfassungen und Verfassungsentwürfen aus vielen Teilen unserer Erde: der stets unruhige Balkan ist ebenso berücksichtigt wie Mitteleuropa, Afrika, die arabischen Länder und Lateinamerika, dessen Konstitutionalismus besonders erfinderisch und fruchtbar ist. Die neuen nationalen Verfassungen aus dem Kosovo, aus Ecuador, aus Kenia, aus Ungarn und aus Tunesien sowie Ägypten werden so im ersten wissenschaftlichen Zugriff gemäß dem Textstufenparadigma des Verfassers (1989) erschlossen, auch in den Originalbeiträgen für diesen Band. Einbezogen sind auch bloße Verfassungsentwürfe (Island, Luxemburg). Denn für den vergleichenden Verfassungsjuristen haben sie im Rahmen der „universalen Werkstatt Verfassungsstaat“ auch dann wissenschaftliche Bedeutung, wenn sie durch spätere Entwürfe oder endgültige Texte „überholt“ worden sind. Einmal auf Texte und Begriffe gebracht, sind sie in der Welt und können unversehens langfristig normative Kraft entfalten oder jedenfalls anregend wirken, und sei es auch nur als platonisches Kontrastprogramm. Sie bilden buchstäblich ein wissenschaftliches Reservoir, ja ein Schatzhaus für den Rechtsvergleicher. Das ließ sich vor Jahrzehnten schon an den Entwicklungsprozessen der vielen Kantonsverfassungen in der Schweiz seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts belegen, insbesondere an der dortigen fruchtbaren Arbeit mit textlichen Alternativen (dazu meine Beiträge: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; Die „total“ revidierte Bundesverfassung der Schweiz von 1999 / 2000, FS H. Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 935 ff.). Auf eine Weise sind diese jüngsten konkreten nationalen Verfassungen neues Beispielmaterial in diesem „besonderen Teil“ für die eher abstrakte Arbeit am „Kooperativen Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur“ – dieser als „allgemeiner Teil“ verstanden. Damit zeichnen sich für den Verf. mittelfristig die Möglichkeiten eines „work in progress“ ab. Im Laufe der Zeit könnten so immer neue Verfassungen und Verfassungsentwürfe in das Gesamtbild des universalen Konstitutionalismus einbezogen werden und diesen umgekehrt auf neue Weise prägen. „Letzte Schriften“ haben indes, biographisch bedingt, keine „Nachfolgearbeiten“. Vorlässe und Nachlässe wie bei Dichtern dürften für bloße Wissenschaftler nicht angemessen sein. Der Zweite Teil endet bewusst mit einem Wiederabdruck der Tübinger Auftragsarbeit Vorwort zur Neuauflage von JöR Band 1 (1951), das heißt zur erstaunlichen Entstehungsgeschichte des deutschen Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat (1948 / 49). Die wichtigste Erkenntnis dieses Vorworts im Band von 2010 liegt wohl in der Beobachtung, dass der nationale Verfassungsgeber – ähnlich dem Verfassungsinterpreten – heute wie früher mit „fünf“ Methoden arbeitet: auch hier kommt die Rechtsvergleichung als fünfte Gestaltungsmethode ins Blickfeld, bezogen auf die Trias von Verfassungstexten (auch Klassikertexten), Judikaten und wissenschaftlichen Theorien. Dies ließ sich schon für die Arbeiten zur Totalrevision der

Vorwort

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Verfassungen in der Schweiz nachweisen und dürfte heute, in der universalen Werkstatt des Verfassungsstaats für jeden nationalen Verfassungsgeber gelten. Nur lassen sich Produktions- und Rezeptionsprozesse, die oft personal bedingt sind („Rezeptionsmittler“), angesichts der begrenzten Kapazität des Verfassers als Wissenschaftler nicht im Einzelnen belegen. Ein Aristoteles oder Montesquieu könnte dies vielleicht leisten (?), ein Weltcomputer wohl noch nicht.

IV. Der Dritte Teil lotet die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat aus. Diese Zusammenarbeit bewahrheitet auf eine Weise die Idee vom „Kooperativen Verfassungsstaat“ aus dem Jahre 1978. Die personale Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften ist heute ebenso wichtig wie die institutionelle Kooperation in Europa, zum Beispiel unter den europäischen Verfassungsgerichten, dem EGMR bzw. dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten. Vorarbeit für die hier gelebten „Kooperationsverhältnisse“ kann gerade die teils vorarbeitende, teils begleitende Kooperation zwischen den nationalen Wissenschaftlergemeinschaften leisten. Nicht minder unverzichtbar und fruchtbringend ist die gemeinsame „Nacharbeit“ unter den genannten Beteiligten. An die erste Stelle solcher Kooperationen gehört das wissenschaftliche Interview, das vor allem in romanischen Ländern gepflegt wird, in Deutschland aber noch zu wenig verbreitet ist. Das wissenschaftliche Interview eröffnet besondere Möglichkeiten: Unmittelbarkeit, freie Sprachform, Spontanität, Aufrichtigkeit und wechselseitige Kommunikation, ein echtes „Rechtsgespräch“, ein Dialog. Freilich sollten sich wohl nur ältere Staatsrechtslehrer an diese Literatur- und Wissenschaftsgattung wagen. Jüngere können sich leichter mangels Selbstkorrektur und wegen mancher Eitelkeiten zu allzu raschen Urteilen verführen lassen. Das lebenslange Lernen und die größere Erfahrung, auch innere und äußere Unabhängigkeit desjenigen, der den „Herbst des Mittelalters“ schon hinter sich hat, können hier vielleicht Besseres leisten. Der Verfasser durfte seit längerem im Ausland an wissenschaftlichen Interviews teilhaben. Dies ist bereits in dem Band Kleine Schriften (2002, S. 277 ff.) dokumentiert, unter dem Stichwort „Wissenschaftliche Gespräche und gemeineuropäisches Verfassungswissen“. Auch in den nachfolgenden „Späten Schriften“ findet sich ein Interview mit dem südafrikanischen Professor H. Botha (2009, S. 263 ff.). Vor allem aber in Lateinamerika sind zwei komplette, besonders schmuck gestaltete Bände mit Interviews zwischen dem Verfasser und mehreren bekannten ausländischen Gelehrten erschienen: Conversaciones Académicas con Peter Häberle (D. Valadés, Compilador, Mexico City 2006, 2. Aufl. 2015) sowie Conversas acadêmicas com Peter Häberle (D. Valadés, Organizador, Sao Paulo 2009).

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Vorwort

V. Der Vierte Teil versammelt Beiträge zu dem, was treffend als „personale Staatsrechtslehre“ gekennzeichnet worden ist (W. Graf Vitzthum). Sie sind Ausdruck der Überzeugung, dass personale Zusammenhänge, Verbundenheiten, Bezüge und Anlässe sowohl bewusst als auch unbewusst die Staatsrechtslehre als Wissenschaft mitprägen. Hierzu gehören auch wissenschaftliche, heute oft länderübergreifende Freundschaften und bewährte Lehrer-Schüler-Verhältnisse. Angesichts der heute erleichterten Kommunikationsmöglichkeiten über Kontinente hinweg und angesichts der Überinformation und Abundanz der Publikationen werden sie vielleicht immer wichtiger, um die derzeitige Beliebigkeit des nicht mehr überschaubaren Informationsüberflusses auszugleichen. Die deutschen und ausländischen Wissenschaftlergemeinschaften haben hier viele Formate und Kategorien entwickelt.

VI. Der Fünfte Teil „Varia“ versammelt sehr unterschiedliche Formen: sie reichen von Widmungsblättern über Gedächtnisblätter zu Vorworten, Festreden und Dankesreden. In dieser Literaturform ist der persönliche Bezug noch intensiver: wegen ihres spezifischen Widmungscharakters. Wissenschaftliche Freundschaften, vor allem über Kontinente hinweg, können gar nicht überschätzt werden. Das „Lob der Freundschaft“ hat bekanntlich schon Aristoteles gefeiert. Vorworte sind eine vor allem im Ausland praktizierte Form wissenschaftlicher Zuneigung, entweder des älteren Mentors zum jüngeren Schüler oder älterer Gelehrter untereinander. Die in diesem Band abgedruckten Vorworte des Verf. zu eigenen Büchern bringen den Adressatenkreis in anderen nationalen Rechtskulturen zum Ausdruck. Sie richten sich besonders an ihn und bemühen sich um einen persönlichen Brückenschlag zur offenen Form der Verfassungsinterpreten im fremden Land. Die auch in Deutschland gepflegte Festrede ist in diesem Band mit einem Beispiel vertreten. In Deutschland hat die Festrede eine lange und große Tradition, man denke nur an die Festrede von R. Smend zu „Bürger und Bourgeois“ (1933) oder an die vielen Festreden zu den aufeinanderfolgenden Jubiläen des Grundgesetzes (dazu z. B. der Bonner Band „60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?“ (2010), mit einer Festrede des Verf. ebd., S. 173 ff.). Zuletzt ein Wort zur Literatur- und Wissenschaftsgattung der „Dankesrede“. Sie ist ebenfalls Ausdruck wissenschaftlicher Freundschaft und hat ihren Platz vor allem in den letzten Jahren einer individuellen Gelehrtenbiographie. So hat der Verfasser am Schluss dieses Bandes seine Reden zusammengestellt, die er zur Übergabe einer Festschrift in Leipzig gehalten hat (2009) sowie im Vorfeld (Rom und Montpellier 2013) von und am Tage seines 80. Geburtstages sprechen durfte (Lissabon Mai 2014), zuletzt in Italien (Rom Mai 2015).

Vorwort

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Dieser Band ist Prof. Dr. Dr. h.c. W. Schmitt Glaeser (Bayreuth) in dankbarer Verbundenheit zugedacht. 01. Mai 2015

Peter Häberle

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus – national, regional, universal I. Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus – eine deutsche Sicht . . . . . . . . . . . . . .

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II. Verfassung als öffentlicher Prozess und als Kultur. Konstitutionelle Textstufen im kulturellen Verfassungsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

IV. 150 Jahre italienische Einigung – Turin, Staatsrechtslehrertagung Herbst 2011 . . .

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V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus / Regionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

VII. Thesen zu Gegenwart und Zukunft Europas: Ein Diskussionsbeitrag . . . . . . . . . . . . .

68

VIII. Beschränkung und Missbrauch der Grundrechte im Kontext des europäischen Verfassungsvergleichs – eine Problemskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IX. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

X. Die Aufgaben der Judikative – in wessen Namen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen im Lichte des Textstufenparadigmas . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe in Auswahl I. Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 II. Die Verfassung von Ecuador (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Die neue Verfassung von Kenia (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 IV. Das neue Grundgesetz Ungarns (2012) – Keine „kosmopolitische“ Verfassung . . . 146 V. Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber – Das Beispiel eines Verfassungsentwurfes für Island (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

12

Inhaltsverzeichnis

VI. Die neue Verfassung der Republik Tunesien (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VII. Rechtsgutachten für die Verfassungskommission Georgien in Sachen Grundrechtsreform (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 VIII. Ein privater Verfassungsentwurf für Luxemburg (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes – JöR Band 1 1951 (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Dritter Teil Wissenschaftliche Interviews I. Dichtung und Verfassungsrecht: ein Gespräch zwischen Peter Häberle und Héctor López Bofill (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 II. Kultur und Verfassungsrecht: Interview von Prof. Ferreyra mit Prof. Häberle (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 III. Interview von Prof. Sarlet mit Prof. Häberle (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 IV. Interview mit Herrn Prof. Häberle durch Assistenzprofessor Yildiz (Türkei) (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 V. Interview von Prof. Balaguer mit Prof. Häberle (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 VI. Interview von Jorge León mit Prof. Häberle (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Vierter Teil Varia (Widmungsblätter, Gedächtnisblätter, Vorworte) I. Widmungsblatt für Diego Valadés (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 II. Italienisch-deutsche Begegnungen – aus der Sicht eines deutschen Staatsrechtslehrers – ein Geburtstagsblatt für A. A. Cervati (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 III. Staatsrechtslehre im gemeineuropäischen / atlantischen Verfassungsgespräch . . . . . . 363 1. Staatsrechtslehre im gemeineuropäischen Verfassungsgespräch (2011) . . . . . . . . . 363 2. Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat – Vorwort zur brasilianischen Ausgabe (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 3. Vorwort für Dr. Rubén Sánchez Gil (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 4. Vorwort zur brasilianischen Ausgabe von „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 5. Vorwort zur 2. spanischen Ausgabe des Buches „Pädagogische Briefe …“ (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

Inhaltsverzeichnis

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Fünfter Teil Fest- und Dankesreden I. Dankesrede Ehrenpromotion in Lissabon (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 II. Eine Festschrift als Spiegel der Rechtswissenschaften (2009 / 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 III. Dankesrede in Rom Mai 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 IV. Dankesrede am 13. Mai 2013 in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 V. Abschlussreferat in Montpellier (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 VI. Dankesrede in Lissabon (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 VII. Internationales Kolloquium in Rom (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 1. Deutsche Version . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 2. Italienische Version . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Bibliographie (dritte Folge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Erster Teil

Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus – national, regional, universal

I. Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus – eine deutsche Sicht* Vorbemerkung Das Jahr 1989 konnte man euphorisch als „annus mirabilis“ bzw. „Weltstunde des Verfassungsstaates“ feiern. Die Ernüchterung folgte später. Das Jahr 2011, d. h. den „Arabischen Frühling“, haben wir alle als solchen begrüßt. Spätestens heute wissen wir nicht, ob wir im „Arabischen Herbst“ oder gar in einem „Arabischen Winter“ stehen: zu stockend verläuft der Umgestaltungsprozess in vielen Ländern, etwa im autoritär werdenden Ägypten oder gar im Bürgerkrieg versinkenden Syrien. Auch Libyen scheint zu scheitern. Nur Tunesien überraschte die Weltöffentlichkeit im Jahre 2014 mit einem in fast allen Teilen vorbildlichen Verfassungsentwurf (z. B. die aussagekräftige, freilich etwas zu lang geratene Präambel – die zum integrierenden Bestandteil der Verfassung gemacht ist –, die Offenheit für andere Kulturen und Sprachen, der Schutz des grundrechtlichen Wesensgehaltes sowie der Opposition und die ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit). Auch bloße Verfassungsentwürfe sind für die vergleichende Verfassungsrechtswissenschaft als „Reservoir“ ergiebig (beispielhaft ist die Schweiz). Im Folgenden sei aus einer deutschen Sicht die heutige Entwicklungsstufe des kooperativ gewordenen Typus „Verfassungsstaat“ im Kontext der Teilverfassungen des Völkerrechts skizziert, an deren Erarbeitung nicht nur der politische Prozess in den einzelnen Nationen, die Völkerrechtsgemeinschaft in ihrer Weltöffentlichkeit und vor allem die nationalen Staatsrechtslehren und die nationalen Verfassungsgerichte samt Internationalen Gerichten beteiligt sind. Viele Länder haben im Laufe der Zeit große Beiträge erbracht: Großbritannien die parlamentarische Demokratie, Frankreich die Menschenrechte, die USA (1787) sowie die deutsche Paulskirche (1849) den Föderalismus und die Schweiz (schon im 19. Jahrhundert) die halbdirekte Demokratie. Dabei sei der nationale Konstitutionalismus vom universalen Konstitutionalismus unterschieden, so intensiv das Geben und Nehmen verbundhaft zwischen beiden in Zeit und Raum regional und weltweit ist: in Gestalt der wechselseitigen Rezeption und Produktion von konstitutionellen Texten, Theorien (einschließlich Klassikertexten) und Judikaten – eine Trias. Beides, der nationale und universale Konstitutionalismus sind durch lebendige Wachstums- und Austauschprozesse innerhalb ihrer je nationalen Öffentlichkeit, regionalen Öffentlichkeit (z. B. die europäische Öffentlichkeit) bzw. Weltöffentlichkeit charakterisiert. Das * Erschienen in: RDP, Paris 2014 / No 6, S. 1483 ff. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Denken in hierarchischen „Ebenen“ ist irreführend (daher ist die Ablehnung des Begriffes „multilevel constitutionalism“ geboten). Erkennbar wird, dass die nationalen Verfassungsstaaten und der universale Konstitutionalismus heute jeweils nur Teilverfassungen leben. Ihre Themen, Kompetenzen und Institutionen sind miteinander verzahnt und komplementär bzw. kooperativ verbunden: als „law in public action“, als ein ins Universale reichendes konstitutionelles Ensemble. Universale Jurisprudenz wird möglich. Zwei in den Jahren 1999 und 2004 erschienene Festschriften tragen die suggestiven Titel „Die Welt des Verfassungsstaates“ bzw. „Verfassung im Diskurs der Welt“. Dies ist richtungsweisend. Freilich gibt es keinen Weltstaat und kein Weltrecht, wohl aber Mosaiksteine der einzelnen Rechtskulturen wie den „due process of law“, die Unschuldsvermutung, das ne bis in idem, die Öffentlichkeit der Verfahren oder den Schutz des immatriellen Weltkulturerbes – sie alle zugleich als Elemente universaler Rechtskultur. Das Wort vom „kosmopolitischen Staatsrecht“ (D. Thürer, 2005) ist eine Ermutigung für die universale Verfassungslehre mit ihrem Ensemble von nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen. (Die neue nationalistische Verfassung Ungarns von 2012 ist freilich ein trauriges Gegenbeispiel, zumal sich ihre Verfassungswirklichkeit angesichts der Zweidrittel-Mehrheit einer einzigen Partei im Parlament negativ entwickelt.)

I. Gegenstände bzw. Inhalte 1. Der Typus „Verfassungsstaat“ ist in vielen Jahrhunderten aus Philosophie, Politik, Verfassungsgeschichte, juristischen Texten und Klassikertexten von Platon bis Aristoteles und Cicero, von Montesquieu bis Rousseau und I. Kant sowie den USFederalist Papers (1787), der französischen Menschenrechtserklärung (1789) und (in Sachen Umweltschutz) bis zu H. Jonas (Prinzip Verantwortung, 1979) zu seiner heutigen Gestalt geworden, so groß die humanen Kosten waren und sind. J.-J. Rousseaus „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ wurde zum Klassikertext und tendenziell universal. Doch muss immer die ironische Frage von B. Brecht hinzugefügt werden: „aber wo geht sie hin?“. Auch Dichterworte können zu Klassikertexten werden, z. B. F. Schillers „Sire, Geben Sie Gedankenfreiheit“ (Don Carlos) oder Beethovens „Ode an die Freude“ als Europahymne. Das Völkerrecht hat ebenfalls seine Klassiker, greifbar etwa in Erkenntnissen der spanischen und französischen, später englischen Schule: – als „Riesen“ –, auf deren Schultern wir stehen, weswegen wir nur deshalb mitunter etwas weiter sehen (man denke an die Schule von Salamanca oder an H. Grotius). Das Völkerrecht ist in zahlreichen Texten (auch „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“) präsent bzw. in Konventionen wie den Genfer, Haager und Wiener Konventionen greifbar. Hinzuzunehmen sind das humanitäre Völkerrecht, die UN-Charta (1945), die universalen Menschenrechtspakte der UNO (1976), die vielen Texte zum Weltkulturerbe, aber auch zur kulturellen Vielfalt, zum Weltraumrecht, zur Konvention gegen Völkermord und Rassismus, spezielle The-

I. Eine deutsche Sicht

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men wie das Folterverbot, die Kinderrechts- sowie Behindertenschutznormen, das internationale Flüchtlingsrecht und anderes mehr. Besonders hinzuweisen ist auf die zahlreich werdenden Internationalen Gerichte und ihre fair-trial-Verfahrensordnungen („prozessuale Gerechtigkeit“). Sie sind eine universale Ausprägung der ursprünglich nationalen unabhängigen Dritten Gewalt und dem „Rechtsstaatsprinzip im Völkerrecht“ (M. Kotzur) zugeordnet. Diese Internationalen Gerichte (wie der IGH in Den Haag, das Internationale Strafgericht ebendort und die UN-Tribunale sowie der Seegerichtshof in Hamburg) lassen sich heute als Teilverfassungsgerichte im Völkerrecht kennzeichnen, da man dessen Normenkomplexe wegen ihrer langen Dauer und hohen Werthaltigkeit („Frieden“, „Menschenwürde“, „Treu und Glauben“) sowie wegen ihres Schrankencharakters als Teilverfassungen qualifizieren kann (das Völkerrecht wird in seiner Substanz zugleich zu einem inneren verfassungsstaatlichen Grundwert). Es kommt unter ihnen zu vielen Erscheinungsformen der offenen und verdeckten Kooperation bei der Konkretisierung von Werten. Dies ist Ausdruck des „kooperativen Verfassungsstaates“ – so wie sich der Verfassungsstaat als Ganzes heute global nur als kooperatives Gemeinwesen halten kann (Stichwort: die „überstaatliche Bedingtheit des Staates“ im Sinne von W. von Simson). In Deutschland hat das BVerfG – wie so Vieles – als ungeschriebene prätorische Verfassungsprinzipien die Begriffe „Völkerrechtsfreundlichkeit“ und „Europarechtsfreundlichkeit“ entwickelt. Damit wird die Weltoffenheit des Verfassungsstaates von heute eingefangen. Die Wissenschaft spricht von „offener Staatlichkeit“ (K. Vogel, 1964). Die wachsende Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit wird nicht nur in Deutschland dank der Vorreiterfunktion des BVerfG als „Bürgergericht“ erkennbar (besonders wegen der Verfassungsbeschwerde). Auch weltweit ist die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit in vielen Ländern auf dem Vormarsch, nur gelegentlich wird sie derzeit von autoritären Regimen wie in Ungarn oder Ägypten, wohl auch in der Türkei zurückgedrängt. Im Ganzen kann sie jedoch als tendenziell universale rechtskulturelle Errungenschaft par excellence gekennzeichnet werden. Auch die ihnen benachbarten Internationalen Verfassungsgerichte sind auf dem Vormarsch, regional sieht man dies etwa an dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg oder dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica. Ein besonders weit und intensiv sich vorarbeitendes regionales Verfassungsgericht ist der EuGH in Luxemburg für die „Verfassungsgemeinschaft“ der EU. Er leistet prätorisch punktuelle Verfassunggebung. In Deutschland ist umstritten, was die EU rechtlich ist: Das BVerfG spricht hartnäckig von „Staatenverbund“; Staatsrechtslehrer, die gegenüber den „souveränen“ Mitgliedsstaaten ein Mehr an Europa wollen, sprechen von „Verfassungsverbund“ oder „Verfassungsgemeinschaft“, Letzteres, um an den glücklichen Begriff „Europäische Gemeinschaft“ von W. Hallstein anzuknüpfen. Im Übrigen sollte das BVerfG als Gericht in seinen Entscheidungen um eine „pragmatische Integration von Theorieelementen“ bemüht sein. Handelt es sich bei all dem um Erscheinungsformen der „horizontalen Gewaltenteilung“, so geht es beim Föderalismus und Regionalismus um „vertikale Gewalten-

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

teilung“. Neben dem Zentralstaat gewinnt der verfassungsstaatliche Föderalismus und Regionalismus gegen den Einheitsstaat fast weltweit an Boden, Farbe und Gewicht. Man denke für den vitalen Föderalismus an die Schweiz, auch Deutschland sowie (eher unitarisch) an Österreich und für den Regionalismus an Italien und Spanien. Freilich gibt es mitunter politische Bemühungen zu noch stärkerer Selbstständigkeit der Regionen, erinnert sei für Großbritannien an Schottland, für Spanien an das Baskenland und Katalonien; Quebec in Kanada hat sich 2014 gegen eine Sezession ausgesprochen. Regionalismus ist der „kleine Bruder“ des Föderalismus. Er bildet indes ein durchaus eigenständiges Strukturprinzip des kooperativen Verfassungsstaats der heutigen Entwicklungsstufe und dient der grundrechtlichen Freiheit „im Kleinen“ ebenso wie der Demokratie „vor Ort“. In Deutschland ist die Vielfalt der Kultur die „Seele“ des Föderalismus. Deutsche Freiheit ist föderative Freiheit! Nicht vergessen sei die „Gemeindefreiheit Europas“, d. h. die Kommunen; sie beleben die pluralistische Demokratie „von unten nach oben“. Sieht man den kooperativen Verfassungsstaat im Zeithorizont, so fällt auf, dass immer neue Themen als geschriebene oder richterrechtliche Verfassungstexte hinzukommen. Man denke neben den neuen Rechtsquellenartikeln, den Vorrang der Verfassung, den Ewigkeitsklauseln, der Mehrdimensionalität der Grundrechte (im deutschen GG: Abwehrrecht, objektiver Gehalt, „wertentscheidende Grundsatznorm“), den Grundpflichten, neuen Staatszielen (z. B. Schutz der Kinder, Alten und Behinderten), Minderheitenrechte, Generationenschutz und Ombudsmänner sowie Menschenrechtskommissionen, das Subsidiaritätsprinzip, Transparenz sowie „good governance“ an Aussagen zu den „Menschenrechten der dritten Generation“ in Sachen Umweltschutz, kulturelle Teilhabe und Frieden, aber auch an neue dogmatische Figuren wie den Grundrechtsschutz aus Verfahren („status activus processualis“) sowie „grundrechtliche Schutzpflichten“ im Sinne des BVerfG oder neue Texte zum freiheitlichen Religionsverfassungsrecht (statt „Staatskirchenrecht“). Es gibt freilich einige Beispiele dafür, dass neue Verfassungen im Umfang zu lang, zu barock und zu weitschweifig sind, so dass die „normative Kraft der Verfassung“ (K. Hesse) leidet. Im Interesse der Bürgernähe der Texte sollten Verfassungen nur das jeweils Wichtige im politischen Gemeinwesen auf Texte und Begriffe bringen. Doch diesem verfassungstheoretischen Postulat steht oft der unvermeidbare Kompromisscharakter einer Verfassung entgegen – Ergebnis des Ringens vieler (partei-)politischer Kräfte, die sich im Text wiederfinden wollen. Dass Bürgernähe und aussagekräftige Verfassungen auch heute noch möglich sind, zeigt sich am Beispiel der „Werkstatt Schweiz“: Viele Kantonsverfassungen (z. B. St. Gallen, Schaffhausen, Zürich) und die neue Bundesverfassung von 1999 liefern ein geglücktes Beispiel für prägnante bzw. innovative Texte (z. B. in Sachen grundrechtlicher „Kerngehalt“, Privatheitsschutz, Elemente unmittelbarer Demokratie, Wirtschaftsverfassungsrecht, Nachhaltigkeit, Kulturverfassungsrecht, Finanzverfassungsrecht, freiheitliches Religionsverfassungsrecht). 2. In Deutschland steht der Streit um das „richtige Verfassungsverständnis“ im Vordergrund. R. Smend sprach in der Weimarer Zeit von der Verfassung als „Anre-

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gung und Schranke“ (1928) – der Aspekt der Beschränkung von Macht bleibt wichtig. U. Scheuner verwendete später die Worte „Norm und Aufgabe“ (1962). Das BVerfG hat in Anlehnung an G. Dürig in den 50er Jahren speziell die Grundrechte und das ganze GG als „Wertsystem“ gekennzeichnet. Der Verfasser dieser Zeilen prägte später das Wort von der Verfassung als öffentlichen Prozess (1969) – um die Offenheit der Texte und der Interpretation anzudeuten – und von der „Verfassung als Kultur“ (1982), mit der Unterscheidung Hochkultur (des Wahren, Guten und Schönen im Sinne von Platon), Volkskultur und Alternativkulturen (Stichwort: offenes, pluralistisches Kulturkonzept). Der deutsche Schulenstreit dauert an: So bleibt umstritten, ob es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert (R. Smend / A. Arndt) oder ob von einem präkonstitutionellen Staatsbegriff auszugehen ist (in der Tradition des monarchischen Prinzips). Die weltweit bekannte Formel „We, the people“ spricht für Jenes. Im Völkerrecht diskutiert die Wissenschaft in vielen Varianten die „Konstitutionalisierung“ dieses weiten Feldes, das heute die Wege zu einer universalen Verfassungslehre öffnet. Auch die Grenzen für ein „Mehr an Europa“ sind in Deutschland besonders umstritten. Ist die EU schon „präföderal“? Meines Erachtens: ja (vgl. Art. 7 EUV). Freilich sollte der Grundsatz der Subsidiarität stärker beachtet werden. Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel eines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Analoges gilt für das Völkerrecht und seine Teilverfassungen. Aus meiner Sicht gibt es nur „kulturelle Freiheit“, Freiheit aus Kultur, keine „natürliche“ Freiheit. Diese bleibt jedoch eine unverzichtbare Fiktion, um die Reserven des Naturrechts gegen den Missbrauch staatlicher oder gesellschaftlicher Macht, wo nötig, zu mobilisieren. Verfassung ist öffentlicher Prozess, weil in offenen Gesellschaften bzw. pluralistischen Demokratien die Öffentlichkeit im Horizont der Zeit auf vielerlei Weise normierende Kraft entfaltet (Ciceros res publica – salus publica). Ein Beispiel liefern langfristig die abweichenden Meinungen („Alternativjudikatur“) von einzelnen Verfassungsrichtern, z. B. in den USA, Deutschland, Spanien, Albanien, Thailand, Peru und Brasilien sowie in Internationalen Gerichten wie dem IGH in Den Haag und dem EGMR in Straßburg. Auf längere Sicht ist (wie in den USA und Deutsch-

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

land) nachweisbar, dass Sondervoten von heute die Mehrheitsmeinung von morgen werden (können). Auch die nach öffentlichen Diskursen zustande gekommenen formalen Verfassungsänderungen (im GG schon 56!) belegen, dass der Topos von der „Verfassung als öffentlicher Prozess“ brauchbar ist. Dasselbe gilt erst recht für neue pluralistische Verfassungsgebung wie sie 1975 in Griechenland, 1976 in Portugal, 1978 in Spanien und in den Schweizer Kantonen seit 1968 bis heute geglückt ist, nach 1990 auch in Osteuropa (z. B. in Kroatien und Polen (der neue Verfassungsentwurf in Island (2013), „wie bei Wikipedia geschrieben“, ist ein Experiment der „offenen Gesellschaft der Verfassunggeber“). Abzulehnen ist das dezisionistische Verfassungsverständnis eines C. Schmitt („normativ aus dem Nichts“) und die formalistische, positivistische Sicht eines H. Kelsen („Jeder Staat ein Rechtsstaat“), so sehr das Bild vom Stufenbau der Rechtsordnung (A. Merkl) richtig ist. Mit C. Schmitt kann man weder die Schweiz erklären, noch Europa bauen! Frankreich lebt seine nationale Identität aus der Gedankenfülle des Begriffs „Republik“, insbesondere seinen „öffentlichen Freiheiten“ und einer spezifischen Art von „Laizismus“. Seine politische Kultur unterscheidet sich von Deutschland etwa in Sachen „Religionsfreundlichkeit“. Im Blick auf die europäische Rechtskultur lassen sich mindestens sechs Elemente ausmachen: weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des (unterschiedlich religionsfreundlichen) Staates, Wissenschaftlichkeit des Rechts (von I. Kant bis Max Weber), neben dem Partikularen auch Horizonte des Universalen (Menschenwürde sowie Menschenrechte), Rechtsstaatlichkeit (vor allem Unabhängigkeit der Rechtsprechung), rechtskulturelle Vielfalt und Einheit. Manches gewinnt jetzt in der Verfassung Serbiens (2006) und des Kosovo (2008) Textgestalt. In Lateinamerika gelingt vor allem in Brasilien ein lebendiger Konstitutionalismus unter Führung des Bundesgerichts in Brasilia (und mit dem Hinweis auf die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ für das Verfassungsprozessrecht). Ecuador, Bolivien und Venezuela haben zwar neue gute Verfassungstexte, jedoch Defizite in der Verfassungswirklichkeit. Gleiches gilt für die neue Verfassung von Kenia (2010). Hier zeigt sich, dass konstitutionelle Texte als solche noch keine Garantie für kongeniale, gute Verfassungswirklichkeit sind: Verfassungen müssen sich im Laufe der Zeit „bewähren“, sie sind „fortzuschreiben“: im demokratischen Kräfteparellogramm der Verfassung des Pluralismus (1980). Dabei geht es um demokratiekonforme Märkte, nicht um marktkonforme Demokratie! Der Markt ist nicht das Maß des Menschen: ein Stichwort gegen die heute um sich greifende Ökonomisierung. Markt und Wirtschaft haben nur instrumentale Bedeutung. Die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates.

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II. Methoden 1. „Sehr deutsch“ jetzt ein Wort zu den seit der Weimarer Zeit umstrittenen Methoden, mit denen die wissenschaftliche Staatsrechtslehre arbeitet oder arbeiten sollte und mit denen die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern im Rahmen ihrer funktionellrechtlichen Grenzen judizieren darf. Nach dem oben geschilderten kulturwissenschaftlichen Ansatz ist „Verfassung als Kultur“ zu sehen (so jetzt – 2014 – auch das argentinische Bundesgericht in Buenos Aires), und dies im jeweiligen Kontext (auch im Völkerrecht). Am Beispiel der Präambel, der Nationalhymnen, der Nationalflaggen, den Feiertagen, des nationalen und universalen Kulturgüterschutzes, der Bildungsziele, der Sprachenartikel, des Religionsverfassungsrechts sowie den Erscheinungsformen der „Erinnerungskultur“ (z. B. Museen, Gedächtnisorte) lässt sich dies besonders verdeutlichen. Präambeln sind, kulturwissenschaftlich betrachtet, Prologen und Präludien bzw. Ouvertüren in der Dichtkunst bzw. Musik vergleichbar. Sie wollen den Bürger in der Zivilgesellschaft buchstäblich „ansprechen“, sie entwerfen festlich in hohem Ton ein Konzentrat der Verfassung und sie denken in den zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der neuen Schweizer Bundesverfassung von 1999 ist ebenso eine gute Präambel geglückt wie dem deutschen Grundgesetz von 1949 und der Verfassung Südafrikas von 1996. Die übrigen erwähnten Themen sind ebenfalls kulturwissenschaftlich zu erschließen, z. B. die Farben in Nationalflaggen mit Hilfe der Farbenlehre von Goethe (fruchtbar ist besonders die Analyse der Nationalflagge Portugals). Gleiches gilt für das Bildungsrecht und andere Elemente des Kulturverfassungsrechts, etwa des Kulturgüterschutzes. 2. Die Rechtsvergleichung ist gerade im Verfassungsrecht eine „fünfte Auslegungsmethode“. Dieses Konzept wurde 1989 in Anspielung auf die vier klassischen Auslegungsmethoden von F. C. von Savigny (1840) gewagt und z. B. vom Staatsgerichtshof in Liechtenstein 2003 rezipiert. Goethes Dictum: „Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene“, gilt auch für fremde und eigene Rechtskulturen. Vor allem im Kontext in Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarates gewinnt die Rechtsvergleichung an Bedeutung (auch innerdeutsch in der Konkurrenz der Bundesländer), sie wirkt schöpferisch; im südlichen Afrika verweisen manche Verfassungen sogar textlich auf ausländisches Recht bzw. ausländische Gerichte. In Deutschland wird die Rechtsvergleichung vor allem im Rahmen der Europäisierung des nationalen Verfassungsrechts und der nationalen Verfassungsgerichte bis hin zu den europäischen Verfassungsgerichten immer wichtiger. Zu vergleichen sind Texte, Theorien und Judikate – eine Trias; dabei ist von einem numerus apertus der Rechtsquellen auszugehen (allgemeine Rechtsgrundsätze!, im nationalen, europäischen und internationalen Recht). Hierbei ist das Textstufenparadigma (1989) im Auge zu behalten: Was im einen Verfassungsstaat schon heute juristischer Text ist, hat im anderen, benachbarten noch die Form eines richterlichen Urteils oder einer Theorie. Beispiele gibt es im deutschen Medienverfassungsrecht. Sein Pluralismusgedanke ist auf Länderebene

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

bald zum Verfassungstext geronnen (Bayern, Thüringen), bald in Gestalt von zahlreichen (Fernseh-)Urteilen des BVerfG in Geltung. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erscheint bald in Textform (so in der Schweiz sowie in Art. 40 Verfassungsentwurf Luxemburg, 2013), bald in Gestalt von Judikatur (so in der EU), bald als wissenschaftliches Postulat. Gleiches gilt für die „Bundestreue“ (R. Smend, 1916): national, europäisch und zum Teil schon weltweit. Kontextsensible Auslegung (Auslegung durch „Hinzudenken“, Respekt vor den kontextuellen Unterschiedlichkeiten der Texte) ist heute eine besondere Kunst der Verfassungsrichter. Im Kraftfeld des Topos von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) kann sie gelingen: „Wer die Norm lebt, interpretiert sie (mit)“. Besonders das Selbstverständnis der Künstler und Wissenschaftler wird bei der rechtlichen Auslegung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit relevant. Es gibt nur interpretierte Texte. Im Völkerrecht bedarf die „Völkerrechtspolitik“1 der besonderen wissenschaftlichen Beratung. An der schrittweisen Entwicklung des Völkerrechts sind im Übrigen viele Akteure beteiligt: von der UNO im Ganzen und in Teilen über die Internationalen Gerichte sowie die Staaten bis zu den Nichtregierungsorganisationen und „fähigsten Völkerrechtslehrern“. 3. Ein Wort zum Verhältnis der Staatsrechtslehre zu den „Nachbarwissenschaften“. Zu unterscheiden ist zwischen juristischen Nachbarwissenschaften (etwa der Verfassungsgeschichte) und nicht-juristischen Nachbarwissenschaften (wie der Soziologie und Pädagogik). Hier einige Beispiele: Bei der Auslegung des Parteienartikels 21 GG mit der Möglichkeit des Parteiverbotes (ein Stück „Anti-Weimar“ in der „wehrhaften Demokratie“ des GG) sind Erkenntnisse der Parteiensoziologie zu berücksichtigen. Beim Verständnis der in mehreren deutschen Landesverfassungen nach 1945 und 1990 normierten Bildungs- und Erziehungsziele ist die Wissenschaft der Pädagogik einzubeziehen, z. B. als Verfassungspädagogik. Erinnert sei an das europäische Schlagwort „Bürgerschaft durch Bildung“ (im Sinne vor allem der Weimarer Klassik) und an Erziehungsziele wie Toleranz, Achtung der Würde des Menschen, Respekt vor den Menschenrechten und Umweltschutz. Beim Umweltschutz sind mehrere Naturwissenschaften „Nachbarwissenschaften“. Die nationale, europäische und globale Ökonomie bzw. ihre Wissenschaft ist im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft unverzichtbar. Bei aller Sensibilität für die sog. Nachbarwissenschaften: Zu erinnern bleibt an den Selbststand der Verfassungsrechtswissenschaft als solcher. Ihr ist zum Beispiel die Idee des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ (1991) oder des „kooperativen Verfassungsstaates“ (1978) zu verdanken, auch die „praktische Konkordanz“ (R. Bäumlin / K. Hesse). Alle Wissenschaft ist „ewige Wahrheitssuche“ im Sinne von W. v. Humboldt, sie ist inhaltlich auf die Menschenwürde im Sinne von I. Kant 1 Zu diesem Begriff: P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 87, 91, 358, 430, 574, 702. – Grundlegend zum Völkerstrafrecht G. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl., 2012.

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und G. Dürig, die Menschenrechte, auf Gemeinwohl und Gerechtigkeit verpflichtet. Hier helfen die Gerechtigkeitslehren von Aristoteles bis J. Rawls. Die Wahrheit des Verfassungsrechts ist die menschenwürdebezogene öffentliche Gerechtigkeit; sie wird leider oft genug verfehlt (man denke an die Generationengerechtigkeit, z. B. die unerträgliche Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas). Die Räume des Internets sind heute ein teilweise rechtsfreier „status naturalis“, der in einen „status culturalis“ überführt werden muss (Privatheitsschutz, Urheberrecht, Netzneutralität etc.). Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit muss neu ausbalanciert werden (national wie universal). Öffentliche und private Freiheit sind unteilbar.

Ausblick und Schluss Wie aus dem Vorstehenden erkennbar, ist dieser Beitrag von der Geisteshaltung des wissenschaftlichen Optimismus inspiriert. Er setzt sich vom Pessimismus eines H. Schelsky in den 70er Jahren bewusst ab. Gesprochen sei von einem unverzichtbaren Utopiequantum des Verfassungsstaates. Ein Beispiel: 1949 war die H. Heller zu verdankende Sozialstaatsklausel im deutschen GG noch eine konkrete Utopie, Schritt für Schritt wurde sie verwirklicht – bis heute. Auch und gerade das pluralistische Gemeinwesen bedarf eines kulturellen Grundkonsenses. An ihm arbeitet sogar und gerade der einzelne Staatsrechtslehrer mit, oft Hand in Hand mit den nationalen und regionalen Verfassungsgerichten (in Europa). Klassikertexte sind aus meiner Sicht Verfassungstexte im weiteren Sinne. Ein Beispiel ist die Gewaltenteilungslehre. Wir lesen das deutsche GG noch heute zum Teil „mit den Augen“ von Montesquieu. Klassikertexte können aber auch revidiert werden: So ist die DreiElementen-Lehre bezüglich des Staates (G. Jellinek) zu revidieren: Die Kultur ist das „vierte“, wenn nicht erste Staatselement. Speziell in Europa ist der „Europäische Jurist“ gefordert, auf dem internationalen Feld der „fähigste Völkerrechtslehrer“ (Art. 38 Abs. 4 lit. d IGH-Statut von 1945). In Deutschland muss sich der Jurist hüten, nicht zum bloßen „Postglossator“ des weit ausstrahlenden BVerfG zu werden (das entgegen der eigenen Meinung im Lissabon-Urteil keine „letzten Worte“ spricht, sondern nur vorletzte). Er hat Selbststand (Autonomie) in der Kommentierung und Kritik des Verfassungsgerichts. Er braucht dabei viel Kooperation mit anderen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, so wie die europäischen Verfassungsgerichte unter sich immer stärker auf nationale und internationale Kooperation angewiesen sind und die Richter in Europa sich auch persönlich regelmäßig treffen. Der heutige Konstitutionalismus hat seine Schwächen und Stärken. Er „wird“ und wirkt auf dem nationalen Feld und dem universalen – bei allen Rückschlägen, die gerade heute immer wieder zu bedauern sind, man denke nur an die völkerrechtswidrige Annexion bzw. Sezession der Krim durch Russland (2014). Einen ermutigenden Beitrag kann jeder Staatsrechtslehrer und Völkerrechtler für seinen eigenen Bereich leisten – auch der „kleine“ Amtsrichter im Dienste der Richtertugen-

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

den vor Ort. So versteht sich auch dieser kurze Aufsatz zum großen Projekt der RDP in Paris. Um den „Geist der Verfassungen“ von heute zu erarbeiten, bedürfte es jedoch eines neuen Montesquieus und eines neuen Aristoteles. Wird sie die RDP finden?

II. Verfassung als öffentlicher Prozess und als Kultur. Konstitutionelle Textstufen im kulturellen Verfassungsvergleich* Einleitung Dieser Jubiläumsbeitrag für Belgiens angesehene Zeitschrift kann nur eine Skizze sein – zu weitgreifend ist das Thema. Indes fühlt sich der Verfasser sehr geehrt, dass er sich in die Reihe der Gratulanten einordnen darf. Sowohl Frankreich als auch Belgien (dessen frühe Verfassung von 1831 in der deutschen Staatsrechtslehre eine große Rolle spielte) haben in der Vergangenheit und heute große Stichworte zum Thema „Die Idee der Verfassung“ geleistet. Einen ersten Akzent setzte Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit den Worten: „Eine Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Moderne Klassiker von der Institutionentheorie M. Haurious bis zu den Werken von Carré de Malberg oder L. Duguit haben die Diskussion später weitergeführt, von den ganz Großen wie Montesquieu und Rousseau einmal abgesehen. Im Deutschland der Weimarer Republik kam es zu einem fruchtbaren Streit über das richtige Verständnis von Verfassung: Genannt sei Kelsens Lehre von der „Grundnorm“ und sein Positivismus, aber auch seine bzw. A. Merkls Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, Schmitts große Verfassungslehre (1928), aber auch seine These, die Verfassunggebung entscheide „normativ aus dem Nichts“, und Smends wirkmächtige Integrationslehre (1928). Auch die „Staatslehre als Kulturwissenschaft“ von H. Heller (1934) bleibt fundamental. Dieser, schon klassische Traditionsbestand lebt unter dem Stichwort der „Weimarer Richtungsstreit“ im deutschen Grundgesetz seit 1949 bis heute weiter. Eine große Herausforderung für das Verfassungsdenken war das „annus mirabilis“ von 1989: die Weltstunde des Verfassungsstaates. In Osteuropa und zum Teil auch in Asien kam es zu vielen neuen Verfassungen. Der „Arabische Frühling“ des Jahres 2011 weckte gleichfalls viele Hoffnungen. Überwiegend trogen sie. Wir befinden uns heute leider in einem „Arabischen Winter“. Nur Tunesien gelingt eine Ausnahme: Es schuf 2014 eine bemerkenswerte Verfassung, schon die Präambel ist sprachlich und inhaltlich ein „Textereignis“ (einem Prolog oder Präludium ähnlich).

* Erschienen in französischer Übersetzung in: Revue Belge de Droit Constitutionnel Nr. 3 – 4, 2014, S. 349 ff. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Die Schweiz präsentiert sich seit Ende der 1960er Jahre auf Kantonsebene und dann 1999 auf Bundesebene als große „Werkstatt“. Zahlreiche Totalrevisionen bereichern die Verfassungsdiskussion weit über Europa hinaus und leisten erstaunlich innovative Textstufen, wobei es zu fruchtbaren Neuerungen und aktiven Rezeptionen kommt. Erster Teil

Bestandsaufnahme für die Gegenwart des deutschen Grundgesetzes Die Gegenwart des deutschen Grundgesetzes lebt in Sachen Verfassung und Verfassungsstaat einerseits von den Erkenntnissen der Weimarer Zeit, andererseits von den weitausgreifenden Herausforderungen und Leistungen des BVerfG in Karlsruhe. So wie E. R. Huber seit den 50er Jahren von den „Ideen von 1789“ sprechen konnte, gibt es heute ein Schatzhaus der Verfassungsideen zum Grundgesetz. Dazu gehört etwa: U. Scheuners Idee von der Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (1962), K. Hesses Wort von der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens (1966), H. Ehmkes These von der Verfassung als Beschränkung der Macht und Garantie eines freiheitlichen Lebensprozesses (1957), schließlich R. Smends Formel von der Verfassung als „Anregung und Schranke“ (1928). All diese Ideen thematisieren Teilaspekte, die sich zu einem komplexen Ganzen zusammenfügen lassen (Stichwort: „gemischtes Verfassungsverständnis“), oft auf die einzelnen Partien der Verfassung verteilt. So sind die Präambeln vom Inhalt und von der normativen Kraft her oft „Anregung“, die Grundrechtskataloge wirken aber nicht nur als „Schranke“ und dies sei hinzugefügt, auch als „Ziele“ („Grundrechtspolitik“). Der organisatorische Teil von Verfassungen begründet begrenzte staatliche Macht, verteilt sie differenziert, und im Grundrechtsteil finden sich Beschränkungen auch für den gesellschaftlichen Bereich, man denke an die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten. Heute gibt es neue Literatur zur „Verfassungstheorie“ (ohne Textstufenarbeit!), die der Verfasser selbst schon 1974 im AöR zum Thema gemacht hatte (Stichwort: „Verfassungstheorie ohne Naturrecht“). Dem Wertesystemdenken G. Dürigs kommt bis heute eigener Rang zu, vor allem dank des BVerfG. Die vielzitierte „Einheit der Verfassung“ sieht sich freilich angesichts der Konstitutionalisierung Europas und der Welt einem Prozess der Relativierung ausgesetzt. Die nationalen Verfassungen werden in Europa zu Teilverfassungen. Kritisch wird überdies von der „Selbstentthronung“ der deutschen Staatsrechtslehre (B. Schlink) gesprochen, weil sie sich vor allem mit dem fast übermächtigen BVerfG auseinandersetzt, mitunter nur als „Postglossator“.

II. Verfassung als öffentlicher Prozess und als Kultur

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Zweiter Teil

Der eigene Ansatz I. Methoden An die erste Stelle gehört das Postulat des „Denken von der Verfassung her“, nicht vom Staat aus. Das postmonarchische, „präkonstitutionelle“ Staatsverständnis ist abzulehnen, es wird schon durch die Aussagen mancher Verfassungstexte widerlegt, z. B. Verf. Brandenburg (1992): „Wir, die Bürgerinnen und Bürger haben uns diese Verfassung gegeben.“ In diesen Kontext gehört das Wort von R. Smend, es gebe nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiere. Angesichts der heute weltweiten Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassungsstaat darf im Laufe der Zeit von „Textstufen“ gesprochen werden. Oft bringt eine spätere Verfassungsgebung im einen Verfassungsstaat das auf Begriffe und Texte, was die Verfassungswirklichkeit und ihre Akteure im Nachbarstaat entwickelt haben. Beispiel ist die pluralistische Struktur des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland, die das BVerfG formuliert hat. Dessen Rechtssprechung ist jetzt in ostdeutschen Landesverfassungen und in vielen europäischen Ländern zu Verfassungstexten geronnen, auch in der EU. Auch andere Verfassungstexte, speziell das seit 1949 schon 59mal geänderte deutsche GG, leisten vielfach Vorarbeit für Verfassungsgebungsprozesse in anderen Ländern. Dies ließe sich für die Schweiz ebenso nachweisen, wie für bundesstaatliche bzw. regionalistische Normenkomplexe, etwa in Spanien. Die dortige Verfassungslehre hat überdies den deutschen Begriff „Bundestreue“ (R. Smend, 1916) rezipiert. Gesprochen sei von einer Trias: rezipiert werden Verfassungstexte, Theorien (z. B. Klassikertexte oder Schriften einzelner Staatsrechtslehrer) sowie Judikate. Vielfältig sind die Rezeptionsmittler: von Organisationen wie der Venedig-Kommission bis zu einzelnen reisenden Staatsrechtslehrern. Die Kontextthese (1979) ist eine weitere Idee in Sachen Verfassungsstaat. Sie besagt, dass Texte je nach Kontext verschiedene Inhalte haben („Auslegen durch Hinzudenken“). Die kontextsensible Auslegung zeigt sich z. B. in den verschiedenen Inhalten auch materieller Art, die der Begriff „Republik“ aussagt. Gleiches gilt für den Begriff „Familie“ oder das Verständnis des Gleichheitssatzes. Die Verfassungsvergleichung hat in diesem Zusammenhang den Rang einer „fünften“ Auslegungsmethode gewonnen, geht man von den vier Auslegungsmethoden aus, die F. C. von Savigny 1840 kanonisiert hat. In Europa kam es mit ihrer Hilfe zu der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten als „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“. So offen das Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden im Einzelfall ist, erforderlich wird gerade deshalb eine letzte oder vorletzte Orientierung an den Werten von Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Sie sind vor allem für die Verfassungsinterpretation durch die Verfassungsgerichte unentbehrlich, auch wenn sie nicht immer offen gelegt werden und nicht zur Sprache kommen. Damit gelangen die große klassischen Gerechtigkeitslehren von Platon bis J. Rawls ins Blickfeld. Gleiches gilt für das Gemeinwohl bzw. öffentliches Interesse, das aus der Sicht der Verfasser

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

dieses Beitrags als offen und pluralistisch zu konzipieren ist (seit 1970). All diese Überlegungen erfordern eine Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ i. S. von J. Esser. Diese Überlegungen gelten auch für die Verfassungspolitik. Für das deutsche GG lässt sich nachweisen, dass der Verfassunggeber ebenfalls mit fünf Arbeitsmethoden seine Texte gestaltet (dazu Einleitung zur Neuausgabe von JöR Band 1 1951, S. VI (XVI f.) durch den Verf., 2010). Im Übrigen bedarf es auch der „Verfassungspädagogik“, d. h. der Vermittlung der wesentlichen Inhalte, etwa der Menschenrechte nicht nur in den Schulen, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit.

II. Inhalte von verfassungsstaatlichen Verfassungen Zu den Ideen über die „Sache Verfassung“ gehört eine Systematisierung der wesentlichen Inhalte, dies im raumzeitlichen Vergleich. Sie kann hier nur angedeutet werden: durch Hinweis auf den Weg von der (kulturwissenschaftlich zu verstehenden) Präambel über die Grundrechtskataloge bzw. die Bürgerschaft, die staatsorganisatorischen Bestimmungen, etwa zu den drei Gewalten, und die Gewaltenteilung nicht nur im horizontalen Sinne eines Montesquieus (unter Einschluss der tief- und weitgreifenden Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil der dritten Gewalt), sondern auch im vertikalen Sinne im Bezug auf Föderalismus bzw. Regionalismus. Neue Themen kommen hinzu, etwa Umweltschutz, der Schutz der Alten, Kinder und Behinderten, die Ombudsmänner und Menschenrechtskommissionen, Europa-Artikel bzw. Artikel zur afrikanischen oder lateinamerikanischen Einheit in dortigen Verfassungen.

1. Verfassung als öffentlicher Prozess Diese These wagt der Verfasser seit 1969, zum Teil im Anschluss an den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von J. Habermas (1962). In den positiven Verfassungstexten kommt die Öffentlichkeit an vielen Stellen zum Ausdruck: als „öffentliche Freiheit“ (z. B. in Frankreich und Spanien), im Republik-Begriff oder in den Postulaten nach öffentlichen Sitzungen der Parlamente und Gerichte. Erinnert sei an den alteuropäischen Zusammenhang von res publica und salus publica (Cicero). In entwickelten Verfassungsstaaten der heutigen Stufe stellen die Veröffentlichungen verfassungsrichterlicher Sondervoten eine besonders wertvolle Ausprägung des Öffentlichen dar. Sie schaffen die Möglichkeit, dass ein Sondervotum von heute die Mehrheit von morgen vorweg nimmt. Dies gelingt dank der Öffentlichkeit als „Sauerstoff der Demokratie“ (G. Heinemann). Sondervoten gibt es heute schon in vielen Verfassungsstaaten, in Spanien sogar auf Verfassungsstufe, ebenso in Thailand. Andere Länder oder Gerichte eröffnen diese Möglichkeit gesetzlich oder vertraglich so am EGMR, in Straßburg oder am IGH in Den Haag. In den USA gibt es ebenso wie in Deutschland prägnante Beispiele für diese Vorgänge (Sondervoten

II. Verfassung als öffentlicher Prozess und als Kultur

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als „Alternativjudikatur“), worin auch das Möglichkeitsdenken im Verfassungsstaat zum Ausdruck kommt (es behält neben dem Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken seinen Wert). Der Verfassungsstaat ist angesichts der vielen internationalen und regionalen Verflechtungen heute zum „kooperativen“ Verfassungsstaat (1978) geworden.

2. Verfassung als Kultur Ausgangspunkt ist ein offenes, pluralistisches Kulturkonzept mit den im Verhältnis zueinander durchlässigen Kategorien der „Hochkultur“ (des Wahren, Guten und Schönen), der „Volkskultur“, besonders lebendig in Lateinamerika (Indios und andere Eingeborenenkulturen) sowie in der Schweiz (z. B. als Folklore) und den Alternativ- bzw. Subkulturen (vom Fussball bis zu den Beatles oder besser umgekehrt). Mischungen finden sich in Begriffen wie höfische und bürgerliche Kultur oder Arbeiterkultur. Anliegen des kulturwissenschaftlichen Konzepts ist es, das Tiefgründige, „hinter“ den Normtexten Stehende zu erfassen; das juristische Regelwerk ist nur eine Dimension. Vergegenwärtigt werden kann so die geschichtliche Dimension, z. B. das kollektive, kulturelle Gedächtnis eines Volkes, auch seine „Errungenschaften“ oder Traumata und Wunden („Schicksal“) – wie in der Ukraine „Tschernobyl“ (Stichwort: „Erfahrungswissenschaft“). Aus „Verfassungsgeschichte“ kommt („gerinnt“) ein Stück Identität („Verfassungspatriotismus“, D. Sternberger). Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es also nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre kulturelle Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“.

Inkurs zum Verfassungsrecht Europas In Europa ist wichtig, dass der schrittweise seit 1957 legitimierte Einigungsprozess („Rom“, zuletzt „Nizza“, „Brüssel“ und „Lissabon“) als kultureller Vorgang begriffen wird, nicht primär als ökonomischer. Testfälle sind der seinerzeitige Streit um den Gottesbezug in einer europäischen Verfassung und bis heute die Kontroverse um die Aufnahme der Türkei und Serbiens, eines Tages vielleicht auch der

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Ukraine. Methodisch macht dieser Ansatz den Weg frei für „kulturelle Verfassungsvergleichung“ (1982) als Erarbeitung des Gleichen und Ungleichen, für die Idee der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989), jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein rezipiert und praktiziert (2003). Inhaltlich wird es möglich, das Werden einer europäischen Öffentlichkeit (zum Beispiel präsent beim Auftritt des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, 2012) dank Politik und Verfassung aus schon vorhandener kultureller Öffentlichkeit zu begreifen und dem Kulturverfassungsrecht in den nationalen Verfassungen wie in der europäischen einen besonders hohen Stellenwert einzuräumen, im Kontext der Grundwerte-Artikel und auf der Basis der kulturellen Freiheiten des Bürgers bzw. der Kulturkompetenzen der Res publica. Begriffe wie „Verfassungskultur“ und „Grundrechtskultur“ (1979 / 82) lassen sich erst in diesem Theorierahmen entwerfen und gebrauchen. Der Begriff „Rechtskultur“, auch auf das Zivilrecht und Strafrecht bezogen, liegt nahe. Die europäische Rechtskultur konstituiert sich aus den sechs Elementen: Geschichtlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, konfessionelle (unterschiedlich religionsfreundliche) Neutralität des Staates, Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität. Darüber hinaus wird die Idee einer Weltrechtskultur möglich, auch vom universalen Völkerrecht her. In Europa kommt es zu „Gemeineuropäischem Verfassungsrecht“ (1991).

Ausblick und Schluss Der Verfassungsstaat als Typus ist im Ganzen und in den einzelnen Beispielen der verschiedenen Nationen immer unterwegs („Zeit und Verfassung“, 1974) und bewährt sich gerade hierin. Die Verfassungsentwicklungen verlaufen in unterschiedlichen Prozessen und Formen: von der stärksten Neubildung, der Totalrevision, über die Teilrevision, die Gesetzgebungsnovelle und die Fortbildungen in der Verfassungsrechtsprechung bis hin zu obiter dicta und richterlichen Sondervoten. Diese Entwicklungen geschehen teils im Wege der Verfassungsinterpretation, teils durch formalisierte Verfassungspolitik. In beidem hat die Staatsrechtslehre als öffentliche Wissenschaft bzw. die (auch universalgeschichtlich arbeitende) vergleichende Verfassungslehre als Kultur ihre große Aufgabe, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen. Schmerzhaft wird nicht selten das „Gorgonenhaupt der Macht“ (H. Kelsen) sichtbar. Man denke nur an die Verwerfungen und Rückschritte im „Arabischen Frühling“, gleichwohl bleibt wissenschaftlicher Optimismus gefordert. Gesprochen sei von einem „Utopiequantum“ des Verfassungsstaates. Es ist unverzichtbar. Man denke nur daran, was Wissenschaft und BVerfG aus der deutschen Sozialstaatsklausel entwickelt haben und wie wir von dem textlichen Wiedervereinigungsauftrag des GG von 1949 zur geglückten Wiedervereinigung im Deutschland von 1990 gekommen sind. Man denke auch an das Friedensgebot in vielen Verfassungen, das trotz des Traktats zum „Ewigen Frieden“ von I. Kant weltweit noch nicht erfüllt ist. Zuletzt ein Wort zum Völkerrecht. Es entwickelt aus meiner Sicht bereits heute Teilverfassungen, etwa in Gestalt der UN-Satzung, der universalen Menschenrechte

II. Verfassung als öffentlicher Prozess und als Kultur

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der UN, der Genfer, Haager und Wiener Konventionen, auch der UN-Kinderrechtskonvention, der Statute der Internationalen Gerichtshöfe bis zu UN-Sondertribunalen, etwa für Ruanda, die schon heute wirken und hohen Menschheitsidealen dienen. Der Begriff „Mehrebenenkonstitutionalismus“ ist wegen des drohenden Hierarchiedenkens abzulehnen. Sichtbar werden vielmehr völkerrechtliche Teilverfassungen im Horizont eines universalen Konstitutionalismus. Er erweist sich auch heute oft erst als Möglichkeit, er kann in der Zukunft zur Wirklichkeit werden. Dieser Optimismus gehört zu den hier gewagten Verfassungsideen im Jubiläumsblatt für Belgien.

III. Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen* Dieses Gedächtnisblatt ist einem spanischen Gelehrten gewidmet, der die weltweit jüngsten Entwicklungen im vergleichenden Verfassungsrecht mit großer Intensität verfolgt hat. Ein Gespräch mit ihm könnte über folgende Thesen gelingen: 1. Die „Welt des Verfassungsstaates“ bzw. die „Verfassung im Diskurs der Welt“ waren suggestive Titel zweier Festschriften aus den Jahren 1999 bzw. 2004. Seit längerem ist in Deutschland von der „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ die Rede. Der Verf. selbst sprach immer wieder vom Völkerrecht als „konstitutionellem Menschheitsrecht“. D. Thürer prägte das suggestive Wort vom „kosmopolitischen Staatsrecht“ (2005). Zuletzt wagte M. Kotzur einen Beitrag über den „Rechtsstaat im Völkerrecht“ (2013). 2. 2001 schlug der Verf. dieser Zeilen für Deutschland und andere EU-Länder den Begriff der „nationalen Teilverfassungen“ vor, die durch die Teilverfassungen des Europäischen Verfassungsrechts teils komplementär ergänzt, teils überlagert, teils kumuliert werden. Brückenelemente zum Völkerrecht hin baut der „kooperative Verfassungsstaat“ (1978) bzw. die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ (BVerfG). Die EU ist heute weltweit die regionale Verantwortungsgemeinschaft mit der größten Dichte, aber auch andere Nationalstaaten leben als kooperative Verfassungsstaaten im Kontext der Globalisierung nur noch ihre nationalen Teilverfassungen. W v. Simson sprach früh von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“. Heute ist der kooperative Verfassungsstaat durch die Teilverfassungen des Völkerrechts bedingt. 3. Viele Themen wandern ganz oder teilweise vom nationalen Verfassungsstaat in das Völkerrecht und seine Teilordnungen. Beispiele sind die beiden universalen Menschenrechtspakte von 1976: im Geiste der großen Texte von 1776, 1789 etc. und vielen nationalen Menschenrechtskatalogen kodifiziert, in jüngster Zeit vor allem Mosaiksteine des Rechtsstaates und angesichts der wachsenden Zahl von Internationalen Gerichten auch Elemente der Gewaltenteilung (richterliche Unabhängigkeit). Teilverfassungen in diesem Sinne sind vor allem die UN-Charta (1945) und die zahlreichen UN-Konventionen. Genannt seien die Haager (1945), Genfer (1907) und Wiener Konvention (1961 / 69), die Kinderrechtskonvention (1989), Behindertenkonvention (2006), Konvention gegen die Folter (1984) und Rassendiskri* Erstveröffentlichung JöR 62 (2014), S. 417 ff., in spanischer Sprache auch in Gedächtnisschrift für Prof. Barranco Vela, 2014, Band I, 2014, S. 45 – 50.

III. Universaler Konstitutionalismus

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minierung (1966), auch die Statute von Internationalen Gerichten wie des IGH in Den Haag (1945) oder des Internationalen Strafgerichtshofes (1998) ebendort sowie Menschenrechtsgerichtshöfe wie der EGMR in Straßburg und der Interamerikanische Gerichtshof in Costa Rica, auch der Internationale Seegerichtshof. 4. Aus folgenden Gründen wird für das Völkerrecht von „Teilverfassungen“ gesprochen: Faktisch sind die Verträge von langer Dauer, Verfassungen ähnlich. Die Wichtigkeit der von der Weltöffentlichkeit getragenen Themen wie der Konvention gegen Völkermord (1948), Kinderrechtskonvention (1989), dem Artenschutzabkommen (1973), dem humanitären Völkerrecht, dem Umweltvölkerrecht (1979 / 85 / 87 / 92 / 97) und dem Weltraumrecht (1962 / 72), liegt auf der Hand. Es handelt sich um Orientierungswerte, Ideale bzw. hohe Texte wie „Gerechtigkeit“, „Weltfrieden“, „Interessen der Menschheit“, „Würde des Menschen“, die teilweise aus dem nationalen Verfassungsrecht stammen. Man denke ferner an rechtsstaatliche und sozialstaatliche Elemente im völkerrechtlichen Status der Flüchtlinge (1951 / 67) sowie an die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, z. B. an den Grundsatz von Treu und Glauben; er ist in manchen völkerrechtlichen Dokumenten ausdrücklich verankert (z. B. Art. 2 Ziff. 2 Charta der UN (1945), Art. 31 Abs. 1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (1961)) und er ist klassisch seit den großen Privatrechtskodifikationen alter Nationalstaaten bekannt. Konstitutionell sind diese Normen auch deshalb, weil sie jede Art von Macht auf ihrem jeweiligen Gebiet beschränken wollen. „Anregung und Schranke“ zu sein, war ein Element des Verfassungsverständnisses von R. Smend. Dies gilt analog auch für viele völkerrechtliche Prinzipien. Gleiches gilt für U. Scheuners Verständnis der Verfassung als „Norm und Aufgabe“, d. h. jetzt: Völkerrecht als Norm und Aufgabe – bis hin zur Völkerrechtspolitik. 5. Bemerkenswert ist die Osmose zwischen den Teilverfassungen des Völkerrechts und nationalen Teilverfassungen. Wir beobachten eine Verzahnung der rechtlichen Prinzipien, ein Geben und Nehmen zwischen dem kooperativen Verfassungsstaat und dem Völkerrecht. Man denke an die Kinderrechte, das Verbot der Sklaverei, den Schutz der Artenvielfalt und die kulturelles Erbe-Klauseln, hier wie dort. Wir sehen eine Relativierung des klassischen Innen- / Außenschemas. Die Entdeckung des „subjektiven internationalen Rechts“ (A. Peters) gehört hinzu. 6. Ein Pluralismus der Akteure in diesen lebendigen Prozessen ist charakteristisch. Akteure sind u. a. die NGO’s, nationale Gerichtshöfe, Internationale Gerichte wie die UN-Tribunale nach dem Vorbild der innerstaatlichen Unabhängigkeit der dritten Gewalt, sodann die Staaten, die internationalen Organisationen, letztlich sogar die Bürger, die ihre Grundfreiheiten und sozialen Rechte in Anspruch nehmen und ausbauen. Es kommt zu einem Schulterschluss zwischen den zahlreichen nationalen Verfassungsrechten und -gerichten und dem Völkerrecht. Nicht zuletzt sei die Wissenschaft genannt: die „fähigsten Völkerrechtslehrer der verschiedenen Nationen“ des Völkerrechts (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. d Statut des Internationalen Gerichtshofes von 1945) sind langfristig ebenso Akteure wie die nationalen und überregionalen Wissenschaftlergemeinschaften. Es geht auch um „Völkerrechtspolitik“.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

7. Mit diesen Thesen zur Verschränkung von nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen wird nur einem „universalen Konstitutionalismus“ das Wort geredet, keinem „Weltrecht“ oder sogar Weltstaat. Nur punktuell sollte der Begriff „Weltrechtskultur“ verwendet werden, etwa im Blick auf die Konventionen zum Schutz des Weltkulturerbes (1972) und der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2005), auch die UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe (2003 / 2013) oder das Verbot der Sklaverei, die Abschaffung der Todesstrafe (1989) und die Bekämpfung der Piraterie und das Seerechtsübereinkommen (1982). Das innerstaatliche Verfassungsrecht und die völkerrechtlichen Teilverfassungen stehen nach Themen und Akteuren in einem lebendigen Wirkungszusammenhang. Das herkömmliche Trennungsdenken ist überholt: Das Völkerrecht bereichert sich aus dem innerstaatlichen Verfassungsrecht, umgekehrt wandern Themen vom Völkerrecht in den innerstaatlichen Bereich, vor allem über die Brücke des „kooperativen Verfassungsstaates“.

IV. 150 Jahre italienische Einigung – Turin, Staatsrechtslehrertagung Herbst 2011* Teilnehmende Bemerkungen eines europäischen Verfassungsjuristen – ein Diskussionsbeitrag Es ist eine Ehre und Freude dieses Votum sprechen zu dürfen, bereits in den 90er Jahren durfte ich auf der italienischen Staatsrechtslehrertagung in Turin ein Referat halten. Als Deutscher Italien zu bewundern, ist nicht neu: spätestens J. W. von Goethe hat diese Wege eröffnet und tief für das kulturelle Gedächtnis Deutschlands geprägt. In unseren Tagen leben H. W. Henze und früher I. Bachmann in Italien, viel genannt und belächelt auch die sogenannte Toskana-Fraktion deutscher linker und grüner Politiker. Wir alle sind Italien-Liebhaber.

I. Stichworte für eine Bestandsaufnahme Der Rückblick auf die italienische Einigung heute, müsste und könnte geistige Kräfte freisetzen. Denn die wie Deutschland „verspätete Nation“ Italien hat im Risorgimento Vieles geleistet, was wieder durch aktive Erinnerung freizusetzen ist. Eliten und Volk waren damals beteiligt. Heute tut eine Erinnerung an die frühe Europapolitik Italiens not. Man denke an das Manifest von Ventotene (1941); A. Spinelli und de Gasperi leisteten vorbildliche Beiträge zur Europapolitik. Man erinnere sich: Italien war Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der heutige Abstieg des „europäischen Italien“, ist vor allem durch Berlusconi verursacht. Negative Stichworte für seine Regierung sind: Ökonomisierung, Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, monopolistische Strukturen im Fernsehen, Verabsolutierung des Marktes, Kulturabbau, falsche Sparpolitik, Sexualisierung, Verletzung der Würde der Frauen. Im Europa von heute ist die Stimme des politischen Italien kaum mehr wahrzunehmen. Lichtblicke sind nur in der Corte in Rom und ihren großen Urteilen erkennbar sowie in der vorbildlichen Staatsführung von Seiten des aktuellen Staatspräsidenten G. Napolitano und seiner Vorgänger. Ein Symptom ist die öffentliche Verlesung des Kulturartikels 9 der italienischen Verfassung vor ei* Erschienen in: 150 Anni di Unita D’Italia, Revista No. 4 / 2011, Associazone Italiana dei costituzionalisti (AIC), S. 1– 4. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

nem Konzert in Venedig oder Mailand durch den Dirigenten D. Barenboim: als Protest gegen den Kulturabbau. Wir stehen vor widersprüchlichen Entwicklungslinien: im Norden die etwas autistische Lega Nord und ihre fast separatistischen Tendenzen, ins Positive gewendet: ihre Föderalisierung der Finanzen einerseits, im Süden Elend und Armut, Mafia, die Not in Neapel (Müllberge). Freilich liegen in Verdis Nabucco als „geheimer Nationalhymne“ kulturelle Kräfte, die die Einheit Italiens mitbewirken können. Auch könnte die Veranstaltung vieler Jubiläumsfeiern in diesem Jahr in ähnlicher Richtung wirken. Ähnlich den Hymnen, Flaggen und Feiertagen sind verfassungsstaatliche Jubiläen emotionale Konsensquellen für die Nation.

II. Ermutigungen aus gemeineuropäischer bzw. deutscher Sicht Ermutigend aus gemeineuropäischer bzw. deutscher Sicht wirkt die Vergegenwärtigung der großen Leistungen und Gehalte der Verfassung von 1947: soziale Grundrechte, der differenzierte Regionalismus, die schöpferische Verfassungsgerichtsbarkeit, das Referendum abrogativo. Weitere vorbildliche Normen in der Verfassung sind: Art. 1, Art. 6 zum Schutz der sprachlichen Minderheiten, Art. 11 das Verbot des Angriffskriegs und vieles andere. Erinnert sei an die große Tradition der Kommunen bzw. ihrer Selbstverwaltung seit dem Mittelalter, die wunderbaren Städtebilder und Kulturlandschaften, die italienischen Erfindungen in fast allen kulturellen Bereichen: vom Speiseeis (Palermo) über die Nudelgerichte (von China bestritten) bis zur Notenschrift (Guido von Arezzo), der Oper, der Renaissance sowie des Klaviers in Florenz und des Barock in Rom. Die Vorbildlichkeit der Verfassung Roms von 1849 sei ausdrücklich erwähnt. Bemerkenswert sind z. B. die Texte: „La sovranità à per diritto eterno nel Popolo: Il Popolo dello Stato romano è costituito in Repubblica democratia (Art. I). Il Regime democratico ha per regola l’eguaglianza, la libertà, la fraternità. Non riconosce titoli di nobiltà, nè privilegi di nascita o casta (Art. II).“

Zwei Quellen eröffnen Kräfte zu einem Aufbruch des „europäischen Italien“: von innen her und von außen her. 1. Von innen her meine ich: die „kleinen Verfassungen“ der Regionalstatute mit reichen Europa-Artikeln und sonstigen Innovationen, auch die Verarbeitung der Verfassungsgeschichte in Präambeln. Aus der überreichen Fülle von Textbeispielen nenne ich: aus dem Regionalstatut Apulien (2004, Art. 1 Abs. 2): „La Puglia, per la storia plurisecolare di culture, religiosità, cristianità e laboriosità delle popolazioni che la abitano e per il carattere aperto e solare del suo territorio proteso sul mare, è ponte dell’Europa verso le genti del Levante e del Mediterraneo negli scambi culturali, economici e nelle azioni di pace.“

Abs. 3 ebenda nimmt Bezug auf die EMRK und die EU-Grundrechtecharta.

IV. 150 Jahre italienische Einigung

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Das Regionalstatut Kalabrien integriert ebenfalls die EU-Grundrechtecharta (Art. 1 Abs. 2) und sie wagt einen neuartigen Art. 3 „Rapporti interregionali, con l’Unione Europea e con altri Stati“. Das Regionalstatut Latium (2004) sagt in Art. 1 Abs. 1: „Il Lazio è Regione autonoma nell’unità della Repubblica italiana e nell’ambito dell’Unione europea, secondo i principi fissati della Costituzione.“

Art. 3 Abs. 1 ebenda formuliert pionierhaft: „La Regione promuove l’unità nazionale nonché, ispirandosi ai principi contenuti nel Manifesto di Ventotene per una Europea libera e unita, l’integrazione europea come valori fondamentali della propria identità.“

Das Regionalstatut Toskana (2005) verarbeitet Geschichte und entwirft Zukunft in Art. 1: „La Regione Toscana rappresenta la comunità regionale ed esercita e valorizza la propria autonomia costituzionale nell’unità e indivisibilità della Repubblica italiana, sorta dalla Resistenza, e nel quadro dei principi di adesione e sostegno all’Unione europea.“

Besonders gelungen ist ein Passus aus der Präambel des Regionalstatuts Piemont (2005): „(…) perseguendo per la sua storia multiculturale e religiosa, per il suo patrimonio spirituale e morale proprio sia della cultura cristiana sia di quella laica e liberale, nel rispetto della laicità delle Istituzioni, le finalità politiche e sociali atte a garantire il pluralismo in tutte le sue manifestazioni; …“

Die Idee des kulturellen Erbes ist in Art. 7 Abs. 1 ebenda auf eine vorbildliche Textstufe gebracht: „La Regione valorizza le radici storiche, culturali, artistiche e linguistiche del Piemonte e, in particolare, salvaguarda l’identità della comunità secondo la storia, le tradizioni e la cultura.“

Schließlich sei aus dem Regionalstatut Ligurien (2005) folgender Passus der Präambel zitiert: „(…) ‚porta‘ dell’Europa sul mondo … dal lontano Medioevo al Risorgimento e alla Resistenza, si sono sviluppati in armonioso rapporto con un Cristianesimo …“

Das 150jährige Jubiläum wurde begleitet von wunderbaren Bildbänden zur Kunst, Kultur und Geschichte Italiens, manche wurden vom Parlament herausgegeben, als Beispiele seien genannt: 1861 – 2011, Le Celebrazioni dell’Unità D’Italia, Camera dei deputati, Rom 2011; Dal Piemonte all’Italia Unita, Biblioteca della Camera dei deputati, Rom 2010 / 2011; 1861, I pittori del Risorgimento, Genua-Mailand 2010. Italien rechtfertigt die These von der „Verfassung als Kultur“ und „aus Kultur“ in besonderem Maße. Dies dokumentiert in einzigartiger Weise der Bildband: „50 anni di Corte Costituzionale: le immagini, le idee“, 2006, Milano; denn hier werden die einzelnen Verfassungsartikel und große Urteile der Corte mit Wer-

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

ken aus Kunst und Kultur (etwa klassische Manuskripte), Landschaften und Familienleben sowie lokaler Autonomie veranschaulicht. Genannt seien nur Bilder zur Arbeit, Skizzen von Michelangelo, alte und neue Gemälde zum Landleben. Dieses Konzept lässt sich auf das deutsche Grundgesetz „als Kultur“ ebenso übertragen wie auf Portugal, Brasilien oder Argentinien „aus Kultur“. 2. Ein Wort zur Erneuerung von außen her: Hier sollten wir Impulse vom Europäischen Verfassungsrecht her aufgreifen, etwa das Pluralismus-Gebot für die Medien gemäß der Europäischen Grundrechte-Charta. Die übermächtige Rolle der Fernsehsender von Berlusconi sind ein Skandal. Hilfreich wird das Rechtsgespräch zwischen der Corte in Rom und den beiden europäischen Verfassungsgerichten in Straßburg und Luxemburg sein. Der hohe Stand der italienischen Staatsrechtslehre kann sich europaweit mehr als nur sehen lassen: Beeindruckend ist die Fülle von Literaturgattungen: vom Lehrbuch über den Zeitschriftenaufsatz bis zur Festschrift und zur Urteilsrezension. Als Klassiker seien genannt: E. Betti sowie N. Bobbio, auch das „Diritto mite“ von G. Zagrebelsky darf schon heute klassischen Rang beanspruchen. Das vergleichende Verfassungsrecht von de Vergottini seien ebenso genannt wie die einschlägigen jüngsten Schriften von A. A. Cervati und P. Ridola; in Sachen Regionalismus nenne ich etwa A. D’Atena und Frau Anzon. Gerne verweise ich auf die Schrift von P. Ginsborg, Italien retten (2010), der von der „sanftmütigen Nation“ spricht. Sein Lob der Sanftmut ist als „Mitezza“ dem Diritto mite von Zagrebelsky wahlverwandt.

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich* Einleitung Als Gast der angesehenen Basso-Stiftung in Rom einen Vortrag halten zu dürfen, ist für einen deutschen Staatsrechtslehrer eine große Ehre. Inspirierend für die ganze Tagung dürfte es sein, dass sie an einem doppelten Jubiläum stattfindet: 50 Jahre Römische Verträge und der 100. Geburtstag von A. Spinelli. Oder sollte man umgekehrt formulieren: zuerst einen schon klassischen „Verfassungsvater Europas“, A. Spinelli, nennen, bereits im Kontext des Manifestes von Ventotene beginnend, und dann erst die institutionelle Seite: die Römischen Verträge? Jedenfalls kann uns der „genius loci“ Roms, dem wie so viele Deutsche auch ich verfallen bin, beflügeln. Sinn solcher wissenschaftlicher Jubiläumsseminare ist ja die Vergegenwärtigung des Wirkens von Personen und Institutionen im vereinten Europa. Ein Wissenschaftlergespräch ist freilich nur ein Ausschnitt aus der ganzen „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ Europas, zu der potentiell alle gehören. Rom hat 2006 in einer eindrucksvollen Ausstellung die 60 Jahre der italienischen Verfassung gewürdigt – unvergesslich sind mir der damalige kulturwissenschaftliche Ansatz, insofern Wissenschaft, Kunst und Kultur, auch Wirtschaft, Industrie und Handel durch große Namen, besonders seit der Renaissance dokumentiert bzw. illustriert durch Kopien oder Faksimile ihrer Werke in Bezug auf die italienischen Verfassungsartikel dargestellt worden sind. Die Wissenschaft, in Sonderheit hier die vergleichende Verfassungslehre, muss bescheidener sein als die Welt der Kunst. Im Gegensatz zu ihr irrt sie auch. Kunst ist „unsterblich“, Wissenschaft als „ewige Wahrheitssuche“ irrt und vergeht. Doch ist ja auch die Gegenwart eine Aufgabe wert. Die Basso-Stiftung ist für den „ausländischen“ Wissenschaftler – freilich braucht sich ein „europäischer Jurist“ als solcher spätestens seit „Schengen“ in Rom nicht mehr so zu fühlen – auch dadurch bekannt geworden, dass sie den EU-Verfassungsentwurf Paciotti mit getragen hat. Ich habe ihn in meinem Jahrbuch des Öffentlichen Rechts ediert und kommentiert1. So stehen wir alle unter großem Erwartungsdruck. Wir müssen je für unseren Bereich etwas Gutes leisten. Als Teil jeder Europäischen Verfassung ist mir das Feld des Föderalismus zugedacht worden. Dafür danke ich vorweg.

* Erstveröffentlichung in: ZÖR 62 (2007), S. 39 ff. 1

JöR 53 (2005), S. 556 ff.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

I. Methodologische Fragen Die Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser) ist gerade beim Föderalismus-Thema unverzichtbar. Sie mag auf eine Weise ein sehr „deutsches“ Anliegen sein, kann aber auch einen Beitrag zum europäischen Verfassungsgespräch in Sachen Föderalismus leisten.

1. Erscheinungsformen, Sinn und Grenzen des Verfassungsvergleichs Die Wissenschaft von der Verfassungsvergleichung hat zum einen dank des „annus mirabilis“ 1989 weltweit und zum anderen dank des fortschreitenden Integrationsprozesses in Europa auf diesem Kontinent viele Erfolge gezeitigt. Sie ist mit großen, auch italienischen Namen verbunden (von A. Pizzorusso bis A. A. Cervati, von G. de Vergottini bis P. Ridola, um nur einige zu nennen). Gegenstand des Vergleichs sind Verfassungstexte, wissenschaftliche Theorien und Rechtsprechung, also eine Trias mit vielen Überschneidungen. Welt- und europaweit finden Rezeptions- und Produktionsprozesse statt, die entsprechend nachzuzeichnen sind. Ihr Sinn ist die gute Arbeit an einem optimalen Modell des „Typus“ Verfassungsstaat bzw. an einem konstitutionellen Europa aus Vielfalt und Einheit. In der Hand des Richters und des Interpreten wird die Verfassungsvergleichung zur „fünften“ Auslegungsmethode, von mir als solche 1989 vorgeschlagen und kürzlich vom Verfassungsgericht Liechtenstein erklärtermaßen praktiziert. In der Hand des Verfassungspolitikers gibt es intensivere Gestaltungsmöglichkeiten: er kann, z. B. nachweisbar in den schöpferischen Totalrevisionen der Schweizer Kantonsverfassungen seit Ende der 60er Jahre, mehr Neues wagen, auch wenn sich etwa die neue Bundesverfassung der Schweiz (1999) nur bescheiden als „Nachführung“ verstehen will. Viele Verfassungstexte und Judikate sind von West nach Ost in die Reformstaaten Osteuropas gewandert (leider kaum in Sachen Föderalismus). Viele Verfassungstexte und die zugehörige Verfassungsrechtsjudikatur gerade in Sachen Föderalismus / Regionalismus sind aber in Europa von Nord nach Süd transportiert worden: man denke an die Vorbildwirkung mancher Texte der WRV für Italien und Spanien oder an die Rezeption von deutschen Elementen des Föderalismus in das spanische System der „Autonomen Gebietskörperschaften“ der Verfassung von 1978. Die „Bundestreue“, eine deutsche Erfindung R. Smends von 1916, vom BVerfG rezipiert, ist vom Verfassungsgericht in Madrid aufgenommen worden. Sie hat später in der ganzen EU Karriere gemacht. Beispiele aus dem Bereich der Grundrechte, dem Rechtstaatsprinzip, dem Übermaßverbot etc. sind Legion.

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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2. Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung Dieses Stichwort, von 1982 an ausgearbeitet, gehört ebenfalls zu den Methodenfragen. Gemeint ist Folgendes: Es genügt nicht, die Texte, Theorien und Judikate zu vergleichen oder ihre Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten festzustellen; es muss auch bedacht werden, dass die Verfassungen im Ganzen und in ihren Teilbereichen ein Stück Kultur sind und damit dank unterschiedlicher Geschichte und verschiedenen kulturellen Erbes verschieden verstanden werden müssen. Ein Beispiel: Selbst wenn sich Italien allmählich in Richtung auf einen „Föderalismus auf Italienisch“ (A. D’Atena) entwickeln sollte, wird es immer eine eigenständige Föderalismuskultur Italiens sein. Man sollte sie nicht einfach an deutschen oder belgischen Maßstäben beurteilen. Verfassungen sind insgesamt Kultur. Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption sowie Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Dieser kulturwissenschaftliche Ansatz kann und muss sich gerade beim Föderalismus-Thema bewähren. Österreichs Bundesstaat ist deutlich unitarischer als der schweizerische, der im Ganzen „Werkstattcharakter“ besitzt und vielleicht sogar weltweit derjenige Föderalismus ist, in dem die Länder bzw. Kantone die größte „Verfassungsautonomie“ haben. Gewiss, gerade jüngst sind die gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs vielgestaltiger geworden2, auch wenn sie noch nicht mit dem Reichtum der west- und ostdeutschen Länderverfassungen verglichen werden können. Die eine offene Gesellschaft unverzichtbar grundierenden kulturellen Momente, die etwa ganze „Kulturlandschaften“ und Städtebilder auszeichnen, sind also bei allem Vergleich mit in den Blick zu nehmen.

2

Nachweise in JöR 54 (2006), S. 367 ff.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

3. Verfassungsvergleichung als Kontextwissenschaft Eher als „Merkposten“ sei dieses Stichwort genannt. Es ergänzt den kulturwissenschaftlichen Ansatz und ist auf eine Weise dessen Fortschreibung. 2001 im Handbuch des Schweizer Verfassungsrechts von mir vorgeschlagen, meint „Kontext“ und „Kontextualisierung“: Auslegen (Verstehen) durch Hinzudenken! Die Maßstäbe und Grenzen solchen Hinzudenkens sind freilich rational zu entwickeln, auch wenn sie Irrationales betreffen, etwa die „emotionalen Konsensquellen“, die hinter bzw. in Feiertagsgarantien oder konstitutionell angeordneten Nationalhymnen wirken. Konkret: Das eigene „Gesicht“, das besondere Gewicht jedes Schweizer Kantons, ob Basel-Stadt oder Basel-Landschaft, ob ein Bergkanton wie das Wallis oder eine Großstadt wie Genf: sie alle sind auch für den Verfassungsvergleicher relevant. Kein Text ohne Kontext. Zu ihm gehören Raum und Zeit. Dabei betrifft Verfassungsvergleichung in der Zeit die Verfassungsgeschichte, die Komparatistik im Heute den Raum, etwa Föderalstaaten von Österreich bis Lateinamerika, von Australien bis Kanada. Der Methodenteil sei hier „beendet“, auch wenn seine Grundfragen immanent im Folgenden immer wiederkehren bzw. mitgedacht sind.

II. „Metamorphosen“ des Föderalismus Der Föderalismus ist – neben der Verfassungsgerichtsbarkeit – das heute weltweit vielleicht erfolgreichste Modellelement des Typus „Verfassungsstaat“. Er kann im Rahmen dieses Fest-Kolloquiums nur in groben Zügen dargestellt, in seiner Entwicklungsgeschichte nur punktuell geschildert, in seinen aktuellen Beispielsformen nur fragmentarisch präsentiert werden. Dabei sind Vereinfachungen unvermeidlich. Angesichts der großen Differenz der einzelnen nationalstaatlichen Bundesstaaten lassen sich nur einige Aspekte verallgemeinern.

1. Verfassungsgeschichtlich: von den USA über die Schweiz und Österreich bis Deutschland und Belgien Verfassungsgeschichte verlangt und ist Rechtsvergleichung in der Zeit. Erst die Zeit / Raum-Perspektive ermöglicht einen „ganzen“ Vergleich, und man mag an R. Wagners „Parsifal“ denken: „Zum Raum wird hier die Zeit“ – mein einziges Wagner-Zitat hier und überhaupt. Das Horizontale und das Vertikale in den Blick zu nehmen, war nur einem Aristoteles vergönnt, heute ist sie selbst dem „Google“-System versperrt. In großen Schritten gedacht: Das Vergleichsmaterial beginnt trotz aller Vorformen mit der Verfassung der USA von 1787. Sie haben den ersten Bundesstaat in der

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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Geschichte geschaffen, so sehr es sich im Laufe des Heute gewandelt hat, etwa vom „seperative federalism“ zum „cooperative federalism“. Der Föderalismus als raumgreifende kulturelle Errungenschaft hat in den USA geniale Textgestalt gefunden, vorbereitet und flankiert von den „Federalist Papers“. Die Schweiz hat 1848 davon profitiert. In Deutschland blieb die ebenfalls föderale Paulskirchenverfassung von 1849 leider nur Papier – doch, sind Verfassungstexte einmal in der Welt, können sie langfristig gleichwohl wirken und ausstrahlen, z. B. im Blick auf die Bismarck-Verfassung von 1871 und vor allem auf die WRV von 1919. Das Grundgesetz von 1949 ist auch deshalb eine geglückte Demokratie und eine gelebte freiheitliche Verfassung, weil sie föderaler Natur ist. Deutsche Freiheit ist föderale Freiheit! Die einzelnen Verfahren und Institutionen des deutschen Föderalismus seien später dargestellt. Österreichs Bundesverfassung von 1920, die sog. Kelsen-Verfassung, war sehr unitarisch und wurde nach dem zweiten Weltkrieg wieder in Kraft gesetzt (leider scheiterte der „Österreich-Konvent“ im Jahre 2004), anders die deutsche Föderalismusreform von 2006 im zweiten Anlauf). Bleiben wir in der „Verfassungsgemeinschaft“ der EU, so ist neben Österreich und Deutschland als dritter Föderalstaat Belgien zu nennen. Es wurde erst spät 1994 von einem Regionalstaat zu einem Föderalstaat umgewandelt und zwingt uns im Folgenden, jenen Typus wenigstens in einem kurzen Inkurs zu behandeln. Italien und Spanien sind bis heute allenfalls Vorformen von Föderalstaaten, noch sind sie „Regionalstaaten“. a) Räumlich weltweit Eine vergleichende Bundesstaatslehre müsste weltweit arbeiten, also auf den ganzen Globus ausgreifen. Das ist hier nicht möglich, muss aber erwähnt werden. Denn in Lateinamerika gibt es etwa in Brasilien und Mexiko deutliche Schritte zu einer stärkeren „Föderalisierung“ der schon vorhandenen Bundesstaatsstruktur. In Mexiko etwa verstärken sich die Gliedstaaten über ihre eigene Verfassungsgerichtsbarkeit, in Brasilien ringen die Einzelstaaten um mehr Kompetenzen insgesamt. Auch angelsächsische Bundesstaaten wie Kanada und besonders die USA verdienten ebenso wie Australien und Indien eine eigene Würdigung. Soweit eine allgemeine Bundesstaatslehre überhaupt heute einem einzigen Gelehrten möglich wäre, müsste sie das typisch Angelsächsische herausarbeiten, das sich vielleicht kulturell vom kontinentalen Bundesstaatsverständnis unterscheidet oder ihm heute ähnlicher wird. Die Erfolgsgeschichte des „kooperativen Föderalismus“, seit Ende der 60er Jahre etwa, war übergreifend: sie erfasste Common Law Länder und den Föderalismus in Europa. Heute gibt es Gegenbewegungen. Vermerkt sei nur, dass der Föderalismus ein konstitutionelles Erfolgsmodell ist und auch dann vorweg zu rühmen ist, wo sich klassische National- bzw. zentralisierte Staaten wie Großbritannien und Frankreich mühsam genug nur zu dezentralisieren suchen („devolution“).

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

b) Bundesstaatstheorien und Modellelemente im kulturellen Vergleich Wie jeder Bestandteil des Typus Verfassungsstaat hat bzw. braucht auch der Föderalismus eine Theorie bzw. ein bestimmtes „Vorverständnis“. Aus der Fülle des Beispielmaterials aus Raum und Zeit lassen sich bestimmte Typen herausarbeiten, die zwar nie „rein“ vorkommen, heute sogar in Gestalt der „gemischten Bundesstaatstheorie“ miteinander innig verbunden sind, sich gleichwohl unterscheiden lassen. Eine Frühform, die auch heute noch mitprägend bleibt, ist der sog. „seperative federalism“ oder modern gesprochen der „Trennungs- bzw. Wettbewerbsföderalismus“. Bei allen Verbundsformen zum Bund hin, bei allen Solidaritätspflichten, bei aller Mindesthomogenität stehen hier die eigenen Verfassungsräume von Bund und Ländern grundsätzlich getrennt, ja z. T. konkurrierend gegenüber. So gibt es etwa in der Schweiz einen harten Wettbewerb zwischen den Kantonen um das für den Bürger günstigste Steuerrecht. Der Kanton Zug gilt als einzigartiges „Steuerparadies“. Als die USA ihren Bundesstaat gründeten, waren die Einzelstaaten dort viel mächtiger als heute. Erst nach und nach wuchsen die Kompetenzen des Bundes. Für Deutschland beobachtete K. Hesse 1961 eine Entwicklung zum „unitarischen Bundesstaat“, der die im Vergleich zu 1949 immer stärkeren Unitarisierungsvorgänge schilderte, vielleicht sogar etwas zu stark akzentuierte. In der 2. Hälfte der 60er Jahre begann in Deutschland die Entwicklung zum „kooperativen Föderalismus“, greifbar etwa in den neuen Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a und b GG) – die 2006 im Rahmen der Föderalismusreform zum Teil wieder abgeschafft worden sind. Die Mitwirkungskompetenzen des Bundesrats als einer Art zweiter Kammer wurde damals ausgedehnt, die Rahmengesetzgebung des Bundes angereichert. Über die Finanzen griff der Bund aber auch immer stärker in die Autonomie der Länder ein. Diese ließen sich z. T. am sog. „goldenen Zügel“ führen. Wegen der Verbundformen zwischen Bund und Ländern waren (auch für den Bürger bzw. Wähler) die Verantwortlichkeiten nicht mehr erkennbar. Eine weitere Etappe in der Entwicklung des deutschen Föderalismus bildet die Wiedervereinigung (1990). Dies in doppelter Hinsicht: Zum einen entstanden die fünf neuen Bundesländer im Osten, die ihre Verfassungsautonomie in Gestalt hervorragender Landesverfassungen mit Verfassungsgerichtsbarkeit, eigener Grundrechtskataloge und z. T. neuer Staatsziele kräftig ausbauten. Besonders innovatives Profil zeigte die Verf. Brandenburg (1992), in manchem der kantonalen „Verfassungswerkstatt“ Schweiz ähnlich. Zum anderen kam es zu gigantischen, nicht nur finanziellen Hilfeleistungen von Bund und westdeutschen Ländern an die fünf neuen Bundesländer. Dies ist Ausdruck gelebter föderaler Solidarität, freilich nur auf Zeit hinnehmbar. Vorgeschlagen habe ich für diesen Vorgang den Begriff des „fiduziarischen Föderalismus“. Stichworte sind die verschiedenen sog. „Solidarpakte“; transferiert wurden in den ersten Jahren pro Jahr etwa 150 Milliarden DM. Zwar kam es nicht durchweg zu den „blühenden Landschaften“, die Bundeskanzler

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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H. Kohl in der ersten Euphorie versprach, doch ist der Wiederaufbau in Ostdeutschland auch im kulturellen Bereich höchst beeindruckend und beglückend. Die Städte von Weimar bis Dresden, von Rostock bis Leipzig sind wieder „Kulturstädte“, ihrem historischen Rang gemäß. All diese Aufbauhilfe lässt sich nur auf Zeit rechtfertigen, ist aber insofern auch unverzichtbare Folge der Bundestreue bzw. föderaler Solidarität. „Auf Zeit“ deshalb, da eine „ewige Subvention“ die unverzichtbare Harmonie und innere Balance von Föderalstaaten in Frage stellt. (Der Solidarpakt II soll 2019 auslaufen.) Während der „kooperative Föderalismus“ in vielen Verfassungsstaaten für eine bestimmte Zeit prägend wurde, etwa auch in Australien und Kanada, dürfte der von mir sogenannte „fiduziarische Föderalismus“ entsprechend der Singularität der deutschen Wiedervereinigung von 1990 einzigartig geblieben sein. In den letzten Jahren entwickelte sich bei uns eine Tendenz neuer und zugleich alter Art: Man wollte Bund und Länder im Interesse größeren Wettbewerbs entflechten, mehr Wettbewerb unter den Ländern zulassen. Das verdichtete sich dann zu der erst im zweiten Anlauf gelungenen Föderalismusreform I von 2006 (dazu später). Was ist die Bilanz dieses fragmentarischen Überblicks? Es gibt nicht „eine“, eine für alle Mal „richtige“ Bundesstaatstheorie. Im Laufe der Zeit treten bald Elemente des Wettbewerbs und der Trennung, teils solcher der Kooperation und Solidarität in den Vordergrund. Darum votiere ich für eine „gemischte Bundesstaatstheorie“, in der sich die Charakteristika der verschiedenen Theorien und Leitbilder bzw. Modelle beweglich mischen und wandeln. Darum das Wort von den „Metamorphosen“ des Föderalismus. Vergleicht man die drei deutschsprachigen Nationen, so ist die Schweiz das am stärksten föderalisierte Land, Österreich ist trotz seines Föderalismus das am meisten „unitarisierte“, Deutschland steht gleichsam in der Mitte. Bezöge man andere Föderalstaaten anderer Kontinente ein, so ergäbe sich gewiss ein vielgestaltigeres, aber ebenfalls auf den Nenner der „gemischten“ Bundesstaatstheorie zu bringendes Bild. Im Ganzen kommt es für den Föderalstaat darauf an, die der Zeit und dem Raum angemessene Balance von unverzichtbarer Homogenität (Einheit) und optimaler Vielfalt (Differenz, Pluralität) zu finden. Im Laufe der Verfassungsgeschichte mag es hier zu Akzentverschiebungen kommen, auch zu Irrwegen, z. B. besann man sich in Deutschland in den letzten Jahren auf den „Wettbewerbsföderalismus“, kritisierte zu Recht die undurchschaubaren Verbundsformen und unklaren Verantwortlichkeiten. Speziell für Deutschland kommt hinzu, dass die geschichtlichen Erfahrungen die föderalistische Ordnung nicht nur nahelegen, sondern fast erzwingen. Deutschlands Freiheit ist föderative Freiheit! Die Erfahrungen mit Zentralstaaten in Deutschland waren zugleich unselige Erfahrungen mit totalitären Regimen (1933 und 1945 in der DDR). Andere Verfassungsstaaten mögen als Zentralstaaten glücklich sein. Deutschland war es nicht. Das führt bereits zum Abschnitt 2. Rechtfertigungen des Föderalismus.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

2. Rechtfertigungsgründe des Föderalismus: „vertikale“ Gewaltenteilung und kulturelle Vielfalt (Freiheit) Der Föderalismus auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates rechtfertigt sich zum einen aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung: nicht im direkt Montesquieu’schen Sinne „horizontal“, sondern „vertikal“. Freilich ist das Wort von der vertikalen Gewaltenteilung im Interesse der Verhinderung von Machtmissbrauch in Anführungszeichen zu setzen. Denn im Bundesstaat stehen die Länder in keiner Weise „unten“, der Bund ganz und gar nicht irgendwie „oben“. Hierarchiekonzepte sind falsch, so oft sie vertreten werden. Nur in dem schmalen Bereich des Satzes verfassungsmäßiges „Bundesrecht bricht Landesrecht“ stimmt das Hierarchiekonzept. Selbst die geistesgeschichtliche Quelle des Föderalismus, der Gedanke der Subsidiarität, sollte nicht mit der Methapher der Über- und Unterordnung arbeiten, übrigens sollte man auch nicht von „Mehrebenenkonstitutionalismus“ reden. Man mag von kleinerer und größerer Einheit sprechen, nicht von „unten“ und „oben“. Der Sache nach aber dient die spezifische föderale Gewaltenteilung der Verhinderung von Machtmissbrauch und der Garantie der politischen Freiheit. Speziell in Deutschland ist das z. B. darin greifbar, dass parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzte Regierungen der Länder der ganz anders eingefärbten Bundesregierung gegenüber stehen: So stand K. Adenauer der SPD-Regierung in Hessen gegenüber, standen viele SPD-geführte Bundesregierungen dem „Bollwerk“ der bayerischen Staatsregierung in CSU-Hand gegenüber. Das Ganze verhilft zu mehr politischer Freiheit und guter Kontrolle insgesamt. Der andere Gedanke ist die spezifisch durch den Föderalismus eröffnete kulturelle Vielfalt und kulturelle Freiheit. Der deutsche Kulturföderalismus lebt aus der kulturellen Vielfalt der 16 Bundesländer, die sehr unterschiedlich sind, gerade auf dem Felde der Kultur miteinander wetteifern, etwa auf dem Gebiete der Universitäten, Theater, Museen, auch Schulen. Gewiss kommt es mitunter zu sog. „Reibungsverlusten“, wird „Effizienz“ angemahnt. Aber der Föderalismus kann diesen Preis gerne bezahlen. Die kulturelle Vielfalt springt besonders klar in der Schweiz ins Auge: Man vergleiche nur die urbanen Kantone Zürich und Basel-Stadt mit dem italienischen Tessin und dem dreisprachigen Graubünden. Sprachenfreiheit in der Schweiz ist ein Markenzeichen des dortigen Föderalismus. Selbst in Kanada kann die französische Kultur mit der angelsächsischen leichter zusammenleben, da das Ganze föderal verfasst ist. Föderalismus dient auch dem kulturellen Minderheitenschutz. Als Deutscher habe ich mich stets gewundert, warum es der italienische Regionalismus schwer hat, den Weg zum Föderalismus zu finden. Ich sage dies bewusst auch in Rom! – ohne Sanktionen zu fürchten. Kein Land der Welt hat eine so reiche Vielfalt von Kulturlandschaften und Städtebildern wie Italien. Eine langsame Metamorphose zum Föderalismus hin läge aus meiner Sicht besonders nahe. Vor allem ist zu bedenken, dass dem grenzenlosen Ökonomismus unserer Zeit, gerade von der Idee kultureller Vielfalt her, Grenzen zu ziehen sind. Konkret: Der

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Wettbewerb, der Markt ist nur ein Aspekt der „gemischten“ Bundesstaatstheorie. Er darf nicht auf Kosten der Vielfalt der Kultur gehen. Es gibt gesamtstaatliche Kulturaufgaben etwa in Sachen „Hauptstadt“. Berlin hat jetzt im 2006 revidierten GG eine Hauptstadtklausel erhalten (Art. 22 Abs. 1 GG). Zwar ist die Kulturhoheit der Länder das Markenzeichen des deutschen Föderalismus (Ausnahmen gibt es z. B. im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik, der Bundeskulturstiftung), doch kennt auch sie das föderale Prinzip der Solidarität. Darum sei für eine Kulturstaatsklausel im GG plädiert, ich tat dies seit 1980, bisher ohne Erfolg. Eine Enquete-Kommission des Bundestages, an der auch ich mitarbeitete, kam wegen der vorzeitigen Bundestagsauflösung 2005 nicht zum Ziel. Mancher mag sagen: genug der „Querelles allemandes“; indes liefert ein kurzer Blick in die Neuerungen der Föderalismusreform I von 2006 Material für unsere Fragen einer vergleichenden Behandlung des Bundesstaatsprinzips.

Insbesondere: Die deutsche Föderalismusreform I (2006) 1. Allgemeines Der Verfassungsstaat als Typus wie auch die einzelnen nationalen Beispielsformen sind im Laufe der Zeit vielfältigen informellen Wandlungsprozessen und formellen Änderungsverfahren ausgesetzt. Das bestätigt die Rechtsvergleichung in Raum und Zeit. Es gibt die sog. stillen, oft sehr leisen Formen von „Verfassungswandel“ (d. h. der Änderung der Verfassung ohne Änderung des Verfassungstextes), den als erster G. Jellinek (1906) thematisiert hat, und die „Verfassungsänderung“ (d. h. die formelle Änderung des Verfassungstextes: Teil- und Totalrevision). Der Verfassungswandel kann sich in den Formen von geänderter Verfassungspraxis, besonders aber in der Gestalt prätorischer Judikatur, vor allem der Verfassungsgerichte samt ihren „Innovationsreserven“ in den richterlichen Sondervoten, äußern. Beteiligt an diesen Prozessen sind viele, potentiell alle in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten: von den Parteien und Verbänden bis hin zum Bürger, vom demokratischen Gesetzgeber und anderen Verfassungsorganen bis zur Verwaltung und der „einfachen“ Rechtsprechung. Neben den Themenfeldern der Grundrechte und der Staatsaufgaben bzw. Gemeinwohlklauseln ist es vor allem der Föderalismus (bzw. Regionalismus), der in seinen Inhalten und Verfahren intensiven Wandlungs- bzw. Veränderungsprozessen ausgesetzt ist. Im Rahmen des Themas „Zeit und Verfassung“ (1974) lässt sich beobachten, wie die einzelnen Modelle (Leitbilder) des Föderalismus vom „separative federalism“ bis zum kooperativen und seiner intensivsten Solidaritätsform, dem „fiduziarischen Föderalismus“, in ihrem Zusammenspiel immer wieder eine veränderte Gestalt annehmen. Die Rede war schon von einem „beweglichen“, „gemischten“ System. Der letzte Grund dafür liegt wohl darin, dass der Föderalismus die gewaltenteilende, höchst dynamische politische, wirtschaftliche und kulturelle Freiheit

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

sowie die Gleichheit und das optimale Maß an Pluralität und Differenziertheit einerseits und die notwendige Homogenität (Solidarität) andererseits immer wieder neu ausbalancieren muss. Darum steht jeder (föderale) Verfassungsstaat vor der Aufgabe, seine etwaige Föderalismusstruktur immer wieder zu überprüfen und die Einzelteile neu zu „justieren“. Darum lässt sich in der Schweiz nachweisen, wie sehr sie „föderale“ Werkstatt ist, konnten im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, vor allem in und von den ostdeutschen Ländern her, zahlreiche Innovationsprozesse beobachtet werden. Der Föderalismus erweist sich dank der Vielfalt der im gesamten „Gehäuse“ geltenden Verfassungen als große „Experimentierbühne“ mit Erscheinungsformen von „Versuch und Irrtum“, von Innovation und Bewahrung. Überspitzt: Jeder verfassungsstaatliche Föderalismus ist immer unterwegs, er steht immer wieder vor der Aufgabe eines „Umbaus“. Dieser Umbau kann kurzfristig scheitern, wie im sog. Österreich-Konvent 2004, oder mehr oder weniger gelingen, wie kürzlich in der deutschen Föderalismusreform I 2006, oder noch bevorstehen wie in der deutschen Föderalismusreform II in Sachen Finanzverfassung, die als nächstes Projekt in Angriff genommen werden soll, nach jüngsten Aussagen von Politikern aber vielleicht erst in 10 Jahren gelingen wird, kaum mehr in der „großen Koalition“ von heute.

2. Vorgeschichte der deutschen Föderalismusreform I (2006) Sie liegt in dem Bemühen der sog. „Gemeinsamen Verfassungskommission“ von Bundestag und Bundesrat (1992), im Zuge der deutschen Wiedervereinigung von 1990 Reformen auf den Weg zu bringen. Die Kommission bestand aus 64 Mitgliedern: 32 Vertretern der deutschen Länder und 32 Bundestagsabgeordnete – ein Beispiel für „föderale Mathematik“. Einige Verfassungsänderungen erfolgten auf diesem Hintergrund in den Jahren 1992 und 1994, etwa Art. 72 Abs. 2 GG (statt „Bedürfnis“: „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“). Im Übrigen war die Kommission wenig erfolgreich (s. aber Art. 20 a GG sowie Art. 24 Abs. 1 a GG). Im Oktober 2003 hatten Bundestag und Bundesrat die „Gemeinsame Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ eingesetzt. Obwohl ihr zunächst eine weitgehende Einigung gelang, führte der Streit um Fragen der Bildungspolitik letztlich doch zu ihrem Scheitern (Dezember 2005). Die Bildung der großen Koalition nach den (m.E. verfassungswidrig) vorgezogenen Bundestagswahlen vom September 2005 (s. aber BVerfGE 114, 121) eröffnete den Weg zu einer neuen, in vielem aber alten Einigung via Koalitionsvereinbarung, die viele Ergebnisse der Bundesstaatskommission übernahm.

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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3. Allgemeine Reformziele und konkrete Verfassungsänderungen (2005 / 2006) Die Begründung der Verfassungsänderung vom Dezember 2005, am 1. September 2006 als Föderalismusnovelle in Kraft getreten, nennt folgende Reformziele: die Stärkung der Gesetzgebung beider Ebenen vor allem durch eine deutlichere Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen, sodann den Abbau von Zustimmungsrechten des Bundestages, den Abbau von Mischfinanzierung sowie die Stärkung der „Europatauglichkeit“ des GG. Dazu einige Stichworte: Auffällig ist die ersatzlose Streichung der Rahmengesetzgebung des Bundes, also eines Stücks „Verbundsföderalismus“ – zugunsten des Leitbilds des Trennungsföderalismus (Abschaffung von Art. 74 a und 75 a. F. GG). Der Bund gewinnt einige Kompetenzen für seine ausschließliche Gesetzgebung, z. B. den Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung ins Ausland, die friedliche Nutzung der Kernenergie sowie Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalpolizeiamt (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 a, Nr. 10, 14 GG). Bei der konkurrierenden Gesetzgebung gibt es Materien mit und ohne „Erforderlichkeitsprüfung“, vor allem aber wird eine neue Kategorie „Abweichungsgesetzgebung“ geschaffen (Art. 72 Abs. 3 GG): Die Länder können ganz oder teilweise abweichendes Landesrecht setzen. Sie gewinnen auch neue Gesetzgebungskompetenzen hinzu, etwa den Strafvollzug, das Recht des Ladenschlusses, große Teile des Rechts der Landesbeamten. Sehr weitgehend ist der Rückzug des Bundes aus dem Hochschulbereich, also auch hier mehr Trennungsföderalismus. Vor allem das umstrittene Thema „Studiengebühren“ und „Hochschulzugang“ fällt jetzt in die Regelungskompetenz der miteinander stärker konkurrierenden Länder. Ihre Landtage gewinnen Kompetenzen. Ein Ziel der Föderalismusreform war die „Entflechtung“ der Kompetenzen und die für den Bürger deutlichere Zuordnung von Verantwortung. Darum wurde jetzt die Zahl der seitens des Bundesrates „zustimmungsbedürftigen“ Bundesgesetze stark reduziert. Die Politik sprach von „Blockadepolitik“ des parteipolitisch im Vergleich zum Bundestag jeweils anders zusammengesetzten Bundesrates. Genannt wurden bisher etwa 60% zustimmungsbedürftiger Gesetze, eine Quote, die nach Schätzungen künftig jetzt auf etwa 30% sinken soll. Die „Gemeinschaftsaufgaben“ (Art. 91 a und b a. F. GG), eine prägnante Erscheinungsform des kooperativen Föderalismus seit 1969 und oft im Zeichen eines Konkurrenzföderalismus kritisiert, werden jetzt deutlich reduziert. Ganz entfallen ist die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulneubau“ und „Bildungsplanung“ (Art. 91 a Nr. 1 und 91 b a. F. GG). Bei den Schulen soll der Bund grundsätzlich keinen Einfluss mehr haben. Hier hat sich das Prinzip der Kulturhoheit der Länder, ihre Eigenverantwortung in einem besonders sensiblen Bereich und ein „Markenzeichen des deutschen Föderalismus“, durchgesetzt. Im Blick auf die EU sind die gemeinschaftsrechtlichen Zahlungspflichten in Art. 104 a Abs. 6 n. F. GG neu verteilt, auch Art. 109 Abs. 5 n. F. GG enthält einen mühsam ausgehandelten Kompromiss, ebenso Art. 23 Abs. 6 GG, wo erstmals der Begriff Kultur ganz neu auftaucht.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Zuletzt sei die neue Hauptstadtklausel erwähnt (Art. 23 Abs. 1 n. F. GG). Der Bund hat danach die „Aufgabe der Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt“ Berlin. Schließlich sei das Verbot des (unitarisierenden) Bundesdurchgriffs auf die kommunale Ebene genannt (Art. 84 Abs. 1 Satz 7 und Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG). Damit wird eine unitarisierende Fehlentwicklung der Praxis vieler Jahre korrigiert. Der „unitarische Bundesstaat“ wird ein Stück weit zurückgeschnitten. Der Bund hatte bis jetzt immer mehr Aufgaben auf die Kommunen übertragen, ohne die finanziellen Mittel hierfür zur Verfügung zu stellen. Im Ganzen: Gerade die Föderalismusreform I zeigt, wie Fehlentwicklungen der Praxis zum noch stärker unitarischen bzw. kooperativen Bundesstaat hin durch eine formelle Verfassungsänderung korrigiert wurden. Mehr Trennungs- und Wettbewerbsföderalismus war ein Ziel i. S. einer besseren „föderalen Balance“. Freilich kommt es zum Schwur erst dann, wenn in der Zukunft der verfassungsändernde Gesetzgeber um die „zweite Stufe“ der Föderalismusreform ringen muss: um die Finanzverfassung mit den Instrumenten des Finanzausgleichs und der Sanierungshilfen für die ärmeren Länder im Dienste „angemessener Finanzausstattung“. Leitmaximen müssen hier das Gleichgewicht zwischen der Solidarität aller Beteiligten, d. h. des Bundes und der Länder sein, aber auch die transparente Eigenverantwortung eines jeden Landes, das sich eben auch dem Wettbewerb der Länder mit allen seinen eigenen Kräften stellen muss. Auf keinen Fall darf eine neue Debatte über eine etwaige Neugliederung nach Art. 29 GG beginnen. Die bestehenden 16 Länder rechtfertigen sich nicht aus Effizienz- und finanziellen Gründen, sie leben aus der Eigenart und Vielfalt ihrer gewachsenen und aktuell gelebten Kultur. Die Maxime aus Art. 29 Abs. 1 GG („landsmannschaftliche Verbundenheit“, „geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge“) gilt es ernst zu nehmen. Sie ist auch der letzte Grund für die vom Verfasser entwickelte kulturelle Bundesstaatstheorie. Hier zieht das Verständnis des GG als Kulturföderalismus eine geschriebene Grenze. Die kulturelle Eigenart der beiden Hansestädte Hamburg und Bremen etwa darf nicht zeitgeistkonform vordergründig dem ökonomischen Effizienzdenken geopfert werden.

Inkurs: Der Regionalismus als eigenwüchsiges Strukturelement des Verfassungsstaates Schon angesichts mancher Tendenzen, die die Regionalstaaten Italien und Spanien auf den Föderalismus als mögliches Entwicklungsziel verweisen, sowie im Hinblick darauf, dass immer wieder vom „Europa der Regionen“ gesprochen wird, ist ein kleiner Inkurs unverzichtbar, auch wenn er von den Gastgebern nicht direkt vorgezeichnet wurde.

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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1. Stichworte zum verfassungsstaatlichen Regionalismus – das Fehlen von „Regionalist Papers“ In den Verfassungsstaaten Europas bietet der Regionalismus ein sehr vielfältiges Bild – man nehme die starke Ausprägung in Spanien, die schwächere in Italien, auch Frankreich und Großbritannien. Vorweg sei die These gewagt, dass der Regionalismus ein selbstständiges, eigenwüchsiges Strukturelement des Verfassungsstaates ist und nicht etwa bloß als sozusagen „unvollendete“ Form des Föderalismus gelten sollte. Es mag ja sein, dass er mancherorts letzten Endes zum Föderalismus wird, doch kann er auch der Endpunkt einer raumkulturellen Differenzierung von Verfassungsstaaten sein bzw. bleiben wollen. Eine aus dem Rechtsvergleich in historischer und zeitgenössischer Perspektive erwachsende, spezifisch verfassungsstaatliche Regionalismustheorie könnte sich an folgenden Stichworten orientieren: Das Argument vertikaler Gewaltenteilung soll auf den, den Regionalstrukturen zu verdankenden Freiheitsgewinn verweisen – Gewinn öffentlicher und privater Freiheit durch Mäßigung der staatlichen Macht. Das Demokratie-Argument kann nachweisen, dass die Dezentralisierung dank der Regionen mehr Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe des Volkes „vor Ort“ schafft, dem politischen Wettbewerb dient, auch Chancen für Minderheiten eröffnet. Das Effizienz-Argument schließlich könnte behaupten, dass die orts- und sachnähere Leistung der regionalisierten öffentlichen Verwaltung größer ist, als die der Zentrale möglichen. Die Kultur schließlich ist als kulturelle Vielfalt vor Ort prägend. Jede Verfassungstheorie des Regionalismus sollte aber auch auf einige Texte „hören“. In der Entschließung der Teilnehmer der Konferenz „Europa der Regionen“ (1989) in München heißt es3: „Europas Reichtum ist die Vielfalt seiner Völker und Volksgruppen, seiner Kulturen und Sprachen, Nationen, Geschichte und Traditionen, Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften“ sowie „Subsidiarität und Föderalismus müssen die Architekturprinzipien Europas sein … Die künftige Europäische Union sollte in drei Stufen gegliedert sein: Europäische Gemeinschaften, Mitgliedstaaten, Länder oder Regionen oder auch autonome Gemeinschaften.“

Gefordert wird u. a. ein Initiativ-, Anhörungs- und Mitwirkungsrecht der Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften bei der Willensbildung und Entscheidung auf europäischer Ebene, sowie ein eigenständiges Klagerecht vor dem EuGH. Die sog. „Gemeinschaftscharta der Regionalisierung“ des Europäischen Parlaments vom 18. November 1988 liefert uns präzise Texte zum Thema. Zunächst eine Legaldefinition: Art. 1: „(1) Im Sinne dieser Charta versteht man unter Region ein Gebiet, das aus geographischer Sicht eine deutliche Einheit bildet, oder aber einen gleichartigen Komplex von Gebieten, die ein in sich geschlossenes Gefüge darstellen und deren Bevölkerung durch bestimmte ge-

3

Zit. nach DVBl. 1990, S. 453 f.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus meinsame Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus resultierenden Eigenheiten bewahren und weiterentwickeln möchte, um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben. (2) Unter ,gemeinsamen Elementen‘ einer bestimmten Bevölkerung versteht man gemeinsame Merkmale hinsichtlich der Sprache, der Kultur, der geschichtlichen Tradition und der Interessen im Bereich der Wirtschaft und des Verkehrswesens. Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass alle diese Elemente immer vereint sind.“

Erwähnt sei auch die „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ (1998). So sehr diese Texte Materialien für eine Theorie liefern, eine solche fehlt noch. Es gibt derzeit keine den „Federalist Papers“ analoge „Regionalist Papers“. Sie bleiben aber ein Desiderat der Wissenschaft. Nicht zuletzt wegen des „Ausschusses der Regionen“ im Sinne des Europäischen Verfassungsrechts bedarf es einer Theorie des Regionalismus. Negativ kann gesagt werden, dass dabei eine Abgrenzung zwischen Föderalismus und Regionalismus notwendig wird. So viele „kleine Analogien“ es gibt (etwa die Regionalismustreue bzw. das Prinzip der Solidarität und Kooperation sowie die Möglichkeit, ein Verfassungsgericht zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Gesamtstaat und Regionen oder der Regionen untereinander einzurichten): ein entscheidender Unterschied bleibt: Die Regionen sind kein Staat – und sie haben auch (noch) keine „Verfassung“, keine „Verfassungsautonomie“, so sichtbar die Regional-Statute in Italien und Spanien an Gewicht gewinnen und schon eigene Konturen skizzieren (dazu sogleich). Vielleicht kann gleichwohl das Wort vom Regionalismus als „kleinem Bruder“ des Föderalismus wiederholt werden.

2. Beispiele aus Italien und Spanien Ich werde mich hüten, hier in Rom etwas über den italienischen Regionalismus in der heutigen Entwicklungsphase, d. h. vor und nach dem Scheitern der Verfassungsreform 2006, zu sagen. Ihre Autoren, etwa A. D’Atena und Frau A. Anzon, haben hier alles Notwendige erarbeitet, früher auch der verstorbene T. Martinez. Für den kulturellen Verfassungsvergleich sei aber an das Statut der Toskana vom 11. Februar 2005 erinnert4, das ich in einem Vortrag in Spanien bzw. Barcelona vor Jahresfrist den dortigen „Reformatoren“ ans Herz gelegt hatte. Gemeint sind die innovationsreichen Textstufen, die sich in Art. 3 Abs. 2 in Sachen „volle Entwicklung“ der Person, Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Respekt vor der Menschenwürde und den Menschenrechten finden. Auch die Hauptziele in Art. 4, mit ihrem Bündel an sozialen Grundrechten als „Staatszielen“, seien erwähnt. Hier beginnen sich Konturen einer vorsichtigen Entwicklung von konstitutionellem Regionalismus-Recht abzuzeichnen. Die Regionalismusautonomie macht sich behut4

Zit. nach JöR 54 (2006), S. 582.

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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sam auf den Weg zu einer „Verfassungsautonomie“. Auch dürfte sich der „differenzierte Regionalismus“ Italiens verstärken. Ob es einen differenzierten Föderalismus geben kann, sei bezweifelt. Ein Wort zu dem System der „Autonomen Gebietskörperschaften“ Spaniens, die ich schon vor mehr als 20 Jahren als „Vorform“ von Föderalismus-Strukturen charakterisiert habe. Das Statut von Andalusien (1981) ist ebenso ergiebig wie das noch geltende des Baskenlandes (1979). Stichworte müssen genügen5. Immerhin spricht das Autonomiestatut des Baskenlandes von sich selbst als „institutionelles Grundgesetz“ (Art. 1). Es findet sich ein guter Sprachen-Artikel (Art. 6). Weiter verpflichtet Art. 9 die Behörden, Voraussetzungen für die Effektivität der Freiheit und Gleichheit zu schaffen (eine Rezeption von Art. 3 Verf. Italien) und die „Beteiligung aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben des Baskenlandes zu fördern“. Das Autonomiestatut für Andalusien normiert in Art. 12 eine Fülle von grundrechtsorientierten „Leitlinien“ unter Betonung der Kultur. Vielleicht darf man die Statute als solche „präkonstitutioneller“ Art bezeichnen. Aber auch die spanische Verfassung von 1978 selbst bietet ermutigende Ansatzpunkte für unser Thema, etwa in Art. 2 (Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, Solidarität zwischen ihnen), Art. 3 Abs. 3 (Reichtum der unterschiedlichen sprachlichen Gegebenheiten Spaniens als „Kulturgut“) sowie Art. 137 (Garantie der Autonomen Gemeinschaften als solche), Art. 138 Abs. 1 (Garantie der Solidarität und des gerechten wirtschaftlichen Gleichgewichts) und die nicht selten an föderale Kompetenzverteilungsnormen erinnernde Regelung in Art. 148 und 149 (s. auch das Wort von der „effektiven Verwirklichung des Solidaritätsprinzips“ in Art. 158 Abs. 2 im Kontext des Finanzverfassungsrechts). Die Rahmenbestimmungen für Autonomiestatute in Art. 147 sind zwar eng, doch kommt das kulturelle Element der „Regionen“ in dem schönen Wort von der „historischen Identität“ zum Ausdruck (Art. 147 Abs. 2 lit. a), der der Name der Gemeinschaft am besten entsprechen müsse. Man wird gespannt sein dürfen, ob und wie die Forderungen Kataloniens und Galiciens nach mehr Autonomie sich in neue Verfassungstexte umsetzen (etwa „eigene Nationalität“?). Auf das Sonderproblem des Baskenlandes, das mit seinen weitgehenden Trennungswünschen m.E. auch Europäisches Verfassungsrecht verletzen würde, sei hier nicht eingegangen.

III. Die EU als „Vorform“ des Föderalismus, präföderale Strukturen in der EU / EG Die in Raum und Zeit vergleichende Verfassungslehre kennt Beispiele der Umwandlung eines Regionalstaates in einen Föderalstaat (Belgien) sowie „Vorformen“

5

Texte z. B. nach JöR 47 (1999), S. 131 ff. bzw. 43 (1995), S. 558 ff.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

eines möglichen nationalen Regionalstaates auf dem Weg zu einem nationalen Föderalstaat (vielleicht Italien und Spanien). Warum sollte das Erfolgsmodell „Föderalismus“ nicht auch auf der sog. „supranationalen Ebene“ der EU geeignet sein, eine Vorform-Rolle zu spielen?

1. Die EU als „Verfassungsgemeinschaft“ eigener Art Bekanntlich ist politisch wie wissenschaftlich umstritten, was die heutige EU ist bzw. werden soll. Gängige Stichworte lauten: Die EU ist „noch“ kein Bundesstaat, aber mehr als ein bloßer Staatenbund. Vorschläge sind: die EU als „Staatenverbund“ (so das deutsche BVerfG E 89, 155), die EU als „Verfassungsverbund“ (I. Pernice), die EU als „Unionsgrundordnung“ bzw. „Unionsverfassung“ (D. Tsatsos), die EU als „Verfassungsgemeinschaft eigener Art“, mein Versuch, das glückliche Wort von W. Hallstein von der „Europäischen Gemeinschaft“ in den Konstitutionalisierungsvorgang hinüber zu nehmen. Bislang hat sich keine Charakterisierung durchgesetzt, weder in Deutschland, noch in den anderen Teilen der EU. M. E. ist aber gegen eine verbreitete Qualifizierung entschieden Stellung zu beziehen: die Begriffe „Mehrebenenkonstitutionalismus“ bzw. „Mehrebenenföderalismus“ führen in die Irre. Von Politikwissenschaftlern vorgeschlagen, taugen sie nicht für das feine „konstitutionelle Gewebe“. Denn die Metapher von den „Ebenen“ der EU ist mit Hierarchiekonzepten verbunden, die weder der EU noch dem Föderalismus gerecht werden. Weder stehen die nationalen Mitgliedsländer und ihre Bürger „unten“, noch stehen die EU-Verfassungsorgane in irgendeiner Weise „oben“. Auch innerhalb von Föderalstaaten ist das „oben / unten-Denken“ schlicht falsch. Bayern ist genauso wenig „Berlin“ untergeordnet, wie „Zürich“ etwa „Bern“. Nur im Rahmen des schmalen Feldes des Satzes verfassungsmäßiges „Bundesrecht bricht Landesrecht“ macht das Hierarchiebild Sinn. So sollte es denn für diesen Beitrag dabei bleiben, dass die EU eine vielleicht präföderale Verfassungsgemeinschaft ist. Auf keinen Fall freilich ist sie eine regionale Verfassungsgemeinschaft. Denn der Regionalstaat kennt bzw. hat ja in den kleineren Einheiten gerade keine „Verfassungen“, die Regionen Spaniens z. B. sind erst auf dem Weg zur „Verfassungsautonomie“, so bemerkenswert sie wie Regionalstaaten in Italien sind. Und die große Einheit, die EU, ist ja kein (Regional-)Staat wie die Nationalstaaten Italien und Spanien.

2. Präföderale Elemente in der EU-Verfassung Stichwortartig seien diejenigen präföderalen Elemente aufgelistet, die es m. E. rechtfertigen, die EU in diesem Referat über „Föderalismus-Modelle“ im kulturellen Rechtsvergleich überhaupt mitzubehandeln: Präföderale Elemente sind: die Homogenitätsklausel von Art. 6 und 7 EUV, das Subsidiaritätsprinzip in Art. 2 EUV Art. 5 EGV und die (geplante) Mitwirkung der

V. Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich

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nationalen Parlamente bei der Subsidiaritätskontrolle, die wechselseitigen Solidaritätspflichten (Stichwort Bundestreue, eklatant verletzt von Seiten der EU in der „Causa Österreichs“), das Nebeneinander von geschriebenen bzw. prätorisch entwickelten Grundrechten der EU und der Mitgliedsstaaten, das Bestehen effektiver „Verfassungsgerichtsbarkeit“ der EU und mit der korrelierenden einer solchen der meisten der 25 Mitgliedsstaaten, der Ausschuss der Regionen (Art. 263 bis 265 EGV) als vielleicht „embryonaler Form“ einer Art Zweiten Kammer, die Rechtsvergleichung bzw. Harmonisierung (Art. 94 ff. EGV) als Element der Vergemeinschaftung und partieller „Unitarisierung“, nicht zuletzt: die Unionsbürgerschaft als gestufter Form der Bürgerschaft (Art. 17 bis 22 EGV) im Blick auf das FöderalismusModell. Was fehlt: die Staatlichkeit der Union selbst, sie hat eine Verfassung, ohne Staat zu sein, die Mitgliedsstaaten bleiben sog. „Herren der Verträge“, wenigstens in einem technischen, nicht ideellen Sinne, es gibt kein verfassungsgerichtliches Verfahren vor dem EuGH, das eine „kleine Analogie“ zu sog. bundesstaatlichen Streitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 3 GG erlaubte, und zuletzt: es gibt keinen „europäischen Finanzausgleich“ nach Art des föderalen Finanzausgleichs (Zusatz: m. E. wäre freilich eine eigene EU-Steuer angezeigt in Umkehrung des klassischen Satzes: „No taxation without representation“ zu „no representation without taxation“: eine kleine Provokation dieser Art sei gegen Ende erlaubt).

Ausblick und Schluss Er kann kurz und bündig sein. Im „gemeinsamen Haus Europa“ kommt dem Föderalismus wegen seiner vielen Vorteile eine wachsende Bedeutung zu (Stichwort: Bürgernähe, kulturelle Vielfalt, Flexibilität, Innovationsforum durch Wettbewerb, Minderheitenschutz). Alle nationalen Verfassungsstaaten sollten ermutigt werden, mindestens effektive regionale Strukturen aufzubauen. Die schon als solche geglückten, aber immer reformierungsbedürftigen Föderalismusstaaten in der EU, nämlich Österreich, Belgien und Deutschland, sollten ermutigt werden, ihre Modellvielfalt immer neu, auch im Blick auf die EU, zu erproben. Wenn diese schon allenfalls langfristig föderal wird, so ist sie jedoch heute schon „präföderal“ in eigener Art und Weise. Auch darum ist der Verfasser froh, dass ihm heute gerade dieses Thema anvertraut worden ist. Das heutige Kolloquium findet am rechten Ort (Rom) und zur rechten Zeit (Doppeljubiläum) statt. Nimmt man die segensreiche Arbeit der Basso-Stiftung z. B. in Sachen EU-Verfassungsentwurf Paciottis hinzu, so bleibt mir nur zu sagen, dass ich für die ehrenvolle Einladung zu diesem Vortrag dankbar bin. Möge von dieser Tagung ein Impuls für Politik und Wissenschaft im Dienste der europäischen Einigung ausgehen, auch wenn wir nur „Zwerge auf den Schultern von Riesen“, d. h. der Gründungsväter der Römischen Verträge bzw. von A. Spinelli sind.

VI. Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus / Regionalismus* Einleitung, Problem Die Wissenschaft, ja „Kunst“, auch Tugend der – kulturellen – Verfassungsvergleichung hat seit der Stern- und Weltstunde des Verfassungsstaates 1989 global und dank der Entwicklungsstufen der europäischen Einigung regional einen neuen – großen – Stellenwert erlangt. Zwar gab es die Rechtsvergleichung als Methode und Praxis fast „schon immer“ und „klassisch“ im nicht nur deutschen, sondern auch italienischen und allgemein europäischen Zivilrecht, ebenso im Strafrecht (in neuerer Zeit auch in Italien in Gestalt von H.-H. Jescheck besonders bekannt), doch hat sich die Rolle der Rechtsvergleichung jüngst intensiviert. In Italiens Verfassungsrechtswissenschaft etwa in den Namen von G. de Vergottini und A. Pizzorusso, um nur die ältere Generation zu nennen, repräsentiert. Blickt man über das juristische Fach hinaus, so beobachtet man „Komparistik“ auch in (anderen) Geisteswissenschaften und in Künsten, etwa in der Literatur und Musik. Globalisierung und Europäisierung veranschaulichen das Gemeinte und liefern Gründe, aber noch nicht eine komplette Erklärung. Die Entdeckung von „Gemeineuropäischem Verfassungsrecht“ (1983 / 91) – und von Mexiko aus vorgetragen – die These des Werdens von gemeinamerikanischem Verfassungsrecht (P. Häberle, 2003), aber auch der Vorschlag eines etwaigen „Gemeinislamischen Verfassungsrechts“ (E. Mikunda) wären ohne erklärte oder verdeckte Verfassungsvergleiche nicht möglich. Im Europa der EWG bzw. EU leistete die Entwicklung von Grundrechten als „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ seitens des EuGH höchst schöpferische Pionierdienste. Man darf allerdings schon einleitend fragen, woher die große Legitimität der Verfassung des Typus „Verfassungsstaat“ kommt: aus dem kulturellen Vorbild der drei Buchreligionen? und man darf wohl die These wagen, dass heute die in Deutschland vor allem von Strafrechtlern und Zivilrechtlern nicht nur „nebenbei“ betriebene „Rechtsphilosophie“ längst in der Wissenschaft der „Verfassungstheorie“ aufgeht. Der „Vorrang der Verfassung“, in allen verfassungsstaatlichen Verfassungen Prinzip, teils schon textlich, teils gelebt, unterstützt diese hier nur angedeutete Wissenschaftsentwicklung. Das Folgende gliedert sich in zwei Teile: ein erster „allgemeiner Teil“ gilt einigen Grundfragen der Rechtsvergleichung als „Zukunftswissenschaft“, der zweite „be-

* Erstveröffentlichung in: FS Scholz, 2007, S. 583 – 594.

VI. Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung

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sondere“ sei dem Föderalismus bzw. Regionalismus als Anwendungsfeld bzw. Referenzgebiet gewidmet. Erster Teil

Rechtsvergleichung als „Zukunftswissenschaft“ im Verfassungsstaat („Allgemeiner Teil“) Im Folgenden seien drei Grundsatzfragen nacheinander behandelt, obwohl sie innerlich zusammengehören: Methodenfragen (I.), die Frage nach den an Vergleichen personal Beteiligten, also die Frage nach dem wer?, nach den „Akteuren“ des Vergleichs (II.) und schließlich die Frage nach den (inhaltlichen) Zielen (Zwecken) des Verfassungsvergleichs (III.). I. Methodenfragen Rechtsvergleichung bezieht sich auf die juristische Trias von Texten, Theorien und Rechtsprechung. Verfassungstexte, Verfassungstheorien und Richtersprüche im Verfassungsrecht bilden die Gegenstände des Vergleichs, wobei diese drei „Objekte“ ineinander verwoben sind, weil z. B. das deutsche GG ebenso wie die USVerfassung so gelten, wie sie das BVerfG bzw. der Supreme Court auslegen, um einen Klassikertext zu variieren, der freilich nur eine Teilwahrheit umreißt (in der Verfassung als „öffentlicher Prozess“ sind auch andere Personen und Organe am Leben der Verfassung gestaltend beteiligt). Rechtsvergleichung als Methode wurde 1989 von mir als „fünfte“ Auslegungsmethode postuliert, nach den klassischen vier von Savigny (1840) sanktionierten, eine These, die europaweit immer stärkere Zustimmung findet (jüngst etwa ausdrücklich seitens des Verfassungsgerichts von Liechtenstein). Dabei bleibt das konkrete Zusammenspiel der 4 bzw. 5 Auslegungsmethoden in die Zeit hinein offen, letztlich von Gerechtigkeitserwägungen der Verfassungsrichter gesteuert. Vorausgegangen war das Konzept von der kulturellen Verfassungsvergleichung (1982). Im Kraftfeld des Verfassungsstaates geht es um Vergleich des Gleichen und Ungleichen, also nicht um eine Einebnung. Diesen ermöglicht die Vergegenwärtigung der Kultur, sei es der „Verfassungskultur“, sei es der „Grundrechtskultur“. Zwar geht es um den einen Verfassungsstaat als Typus, doch begegnet er in der Realität als Vielzahl individueller Varianten je nach der gewachsenen Kultur eines Landes bzw. einer Nation. Der Verfassungsstaat ist heute weltweit zur inhaltlichen Bezugsgröße geworden, freilich derzeit provoziert durch den Staatstypus, in dem jetzt der Islam zur „Identität“ gehört (wie wohl in Afghanistan, Somalia, bald auch im Irak). Hinzuzunehmen ist das, ebenfalls 1989 vorgeschlagene „Textstufenparadigma“ (neue Texte hier verarbeiten ältere Verfassungswirklichkeit dort), sowie die Kontext-These (Auslegen = Verstehen durch Hinzudenken). Die Spannung von abstrakter Typizität und konkreter Individualität des

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Verfassungsstaates muss ausgehalten, sie darf nicht eingeebnet werden. Die sog. „Entwicklungsländer“ in Lateinamerika und Afrika sind freilich ebenbürtig in die Vergleichstätigkeit der Europäer einzubeziehen. Ein tragendes Brückenelement könnte in der Idee heranwachsen, dass im Typus Verfassungsstaat die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts ein kongenialer konstitutioneller „Grundwert“ sind (Stichwort: „Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts). Dies alles zur Erläuterung der These von der Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung, wobei „Kultur“ an dieser Stelle nicht näher umrissen wird, sondern vorausgesetzt sei („offenes, pluralistisches Kulturkonzept“).

II. Beteiligtenkreise: Die „Akteure“ der Verfassungsvergleichung im öffentlichen Prozess Die personale Frage nach dem „Subjekt“, dem „Akteur“, der Person oder Institution der vergleichenden Arbeit sei jetzt als zweiter Schritt thematisiert. In den Bemühungen der 80er Jahre ist das noch nicht so klar geschehen, doch hilft hier und heute eine Übertragung des älteren Modells der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) auf die Prozesse des Vergleichens weiter. Am Verfassungsvergleich sind real und ideal beteiligt – der Verfassung des Pluralismus gemäß – viele: nicht nur die Wissenschaftler und die Richter, an die meist zuerst gedacht wird, sondern auch andere, die Verfassunggeber, die Gesetzgeber, d. h. die Parlamente, die Exekutive, d. h. Regierung und Verwaltung, aus dem Felde der Gesellschaft auch die mannigfachen Pluralgruppen (von den Parteien bis zu Kirchenkreisen und Verbänden), wenn sie in der Öffentlichkeit Gesetzesvorschläge anregen bzw. kommentieren. Politik und „Politikberatung“ sind Tätigkeiten, die gerade heute von Rechtsvergleichung leben. Man denke an die Reformstaaten in Osteuropa, in denen es zu großen Rezeptionsprozessen von West nach Ost gekommen ist (z. B. in Sachen Zweikammersystem); man vergegenwärtige sich die Entwicklungsstufen der europäischen Einigung von Rom (1957) bis Brüssel / Rom (2004) in Bezug auf die EU und ihre beiden „Konvente“. Wenn hier und heute die Zweikammersysteme in Regional- und Föderalstaaten miteinander verglichen werden, so ist dies Rechtsvergleichung über Kontinente hinweg, an der vor allem Wissenschaftler beteiligt sind. Wenn sich europäische Verfassungsgerichte gegenseitig zitieren oder der Sache nach voneinander „lernen“, so sind es die Richter, die sich am Verfassungsprozess des Rechtsvergleichens beteiligen. Die Foren, wie das Treffen der Richter der Verfassungsgerichte in Europa oder wissenschaftliche Tagungen, aber auch Konferenzen z. B. der europäischen Minister für Justiz und Inneres dienen der Rechtsvergleichung. So ist zwischen Rechtsvergleichung als Politik und als Wissenschaft, als Theorie und als Praxis zu unterscheiden. Je nach dem Beteiligtenkreis gibt es funktionellrechtliche Grenzen für die Akteure. Die verfassungsrichterliche Rechtsvergleichung darf nur behutsam arbeiten, im Wechselspiel von „judicial activism“ und „judicial restraint“ – eine kräftige „Vor-

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hut“ hat sie in Gestalt der Sondervotanten wie z. B. in den USA, Spanien, Deutschland und im EGMR. Demgegenüber ist die Wissenschaft in Theorie und Praxis frei wie kein anderer „Akteur“, nur dem Ringen um die Wahrheit verpflichtet. Die Verfassungspolitik, etwa in Gestalt der totalrevidierten Kantonsverfassungen der Schweiz seit den späten 60er Jahren dort besonders erfolgreich, kann intensiv gestalten und nach innerschweizer oder europäischen Vorbildern Ausschau halten. Private Verfassungsentwürfe können erfolgreich sein. „Verfassungspolitik“ muss freilich, oft im Stil von „Varianten“ arbeitend (so eine Tradition der Schweiz), sich oft an Kompromissen orientieren, an Taktiken und Strategien, was dem rechtsvergleichenden Wissenschaftler fremd, ja verwehrt ist.

III. Ziele (Zwecke) des Verfassungsvergleichs Stand bisher der eher formale Aspekt der „Methoden“ und „Beteiligten“ im Vordergrund, freilich ist er durch die Orientierung am Typus Verfassungsstaat schon per se inhaltlich geprägt, so sei auf einer dritten Stufe jetzt das inhaltliche Ziel oder Zielbündel rechtsvergleichender Arbeit im Verfassungsstaat skizziert. Solche Ziele sind die Grundwerte des Verfassungsstaates: Menschenwürde und, im inneren Zusammenhang mit ihr, die pluralistische Demokratie. Vom Bürger geht alle Staatsgewalt aus, genauer von der Bürgergemeinschaft („Bürgerdemokratie“ als Stichwort). Ein offener Kanon von fortzuschreibenden Grundrechten bis hin zum status activus processualis, Gerechtigkeit und Gemeinwohl, aber auch die je nationale Kultur (Minderheitenschutz eingeschlossen), Föderalismus bzw. Regionalismus kommen hinzu. In Klassikertexten von Aristoteles bis Rawls, von Kant über F. Schiller bis B. Brecht vermitteln sie die Verfassungsziele, sie bilden den „Humus“, auf dem rechtsvergleichendes Arbeiten gelingen kann. Ohne sie wäre diese „leer“ und richtungslos. Rechtsvergleichung ist kein Selbstzweck, sie ist Dienst an der Entwicklung des Verfassungsstaates als Typus und an der Individualität seiner nationalen Beispielsvarianten, wobei sich beide beeinflussen: nationale „Erfindungen“ bzw. Entwicklungen wie der Parlamentarismus in Großbritannien, der Föderalismus in den USA, die Menschenrechte in Frankreich, die Grundrechtsdogmatik in Deutschland, der Regionalismus in Italien, und die verfassungsstaatliche Monarchie in Spanien, aber auch schon das Erfinden von Ideen und Texten, wie das Verständnis der Minderheiten als „staatsbildende Faktoren“ dank Ungarn oder die Idee der Menschenrechte als Erziehungsziele in Guatemala (1985) und Peru (1979) können zu kreativen Beiträgen beim „Wachstum“ des Typus Verfassungsstaat werden. Die rechtsvergleichende Arbeit, mühsam genug, auch entbehrungsreich und hohe Sensibilität für die „Rechtskultur“ des anderen fordernd, ist bei all dem ein „Vehikel“, wobei der rechte Sinn für die Balance zwischen kühner Innovation und kluger Tradition in „Produktionen und Rezeptionen“ unverzichtbar bleibt.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Nach dieser, freilich allenfalls groben Skizze, sei ein Blick auf konkrete Anwendungsfelder des Föderalismus bzw. Regionalismus gewagt, auch dies nur im Überblick. Zweiter Teil

Föderalismus bzw. Regionalismus als Beispielsfeld und Referenzgebiet („Besonderer Teil“) Die hier in den Dienst der „Verfassungsentwicklung“ genommene Rechtsvergleichung könnte sich auf einem Feld aus aktuell politischen wie theoretischen und praktischen Gründen besonders bewähren: auf dem Gebiet der beiden den Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe immer mehr kennzeichnenden Struktur des Föderalismus bzw. Regionalismus. Beide „Formen“ sind Ausprägungen der vertikalen Gewaltenteilung, setzen sich in immer mehr Ländern durch und können weltweit auf eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte blicken: ähnlich wie die Verfassungsgerichtsbarkeit. (Es gibt global wohl keine einzige Rückbildung von Föderalstaaten zu Zentralstaaten.) Schon auf den ersten Blick darf man im Föderalismus bzw. seinem „kleinen Bruder“, dem Regionalismus, eine glückliche Gegenbewegung gegen die Globalisierung und Effizienzideologie erblicken: Die kleinere Einheit vor Ort, das kulturelle Eigenständige, Überschaubare sucht sich in seiner Identität gegen das Denken in großräumigen Märkten zu behaupten. Föderalismus und Regionalismus sind aus meiner Sicht auch Strukturen, die der unseligen grenzenlosen „Ökonomisierung“ unserer Tage entgegenwirken können.

I. Ein Theorierahmen Föderalismus- bzw. Regionalismustheorien sind ein „weites Feld“. Eine rechtsvergleichend arbeitende Verfassungstheorie, die sich weltweit mit allen relevanten Beispielsnationen beschäftigt (von Kanada bis Indien, von Brasilien bis Argentinien und Mexiko), gibt es noch nicht. Auch in diesem Beitrag sind nur einige Stichworte möglich. Bekannt ist die Entwicklungslinie vom „seperative“ oder „dual federalism“ zum „cooperative federalism“, wie sie sich seit den 60er Jahren in den USA, Australien, aber auch in Deutschland vollzogen hat. Vergleicht man die drei deutschsprachigen Föderalstaaten Österreich, Deutschland und die Schweiz miteinander, so lässt sich sagen, dass sie einer aufsteigenden Linie entsprechen: Österreich ist derzeit der (noch) am stärksten unitarische Bundesstaat (der heutige „Österreich-Konvent“ ändert dies wohl kaum). Die Schweiz hat sich bis heute in großer Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit der Kantone behauptet, wie man nicht nur aus der intensiv gelebten Verfassungsautonomie im Spiegel der neuen totalrevidierten Kantonsverfassungen sieht. Deutschland steht gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden Polen, wobei die 5 neuen Länder dem Föderalismus einen künftigen Im-

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puls verliehen haben. Das kürzliche Scheitern der Bundesstaatsreform ist insofern positiv zu bewerten, als dies den unerfreulichen, sich verstärkenden Zentralismusbestrebungen aus „Berlin“ ein Halt entgegensetzt. Bundesstaaten in der EU wie Österreich, Belgien und Deutschland sehen sich besonderen, auch theoretisch zu bewältigenden neuen Problemen gegenüber: die Länder werden „europaunmittelbar“, ihre Verfassungen enthalten eigenes „Europaverfassungsrecht“, etwa das Bekenntnis zur europäischen Einigung, zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, zu einem „Europa der Regionen“ etc.; sie finden sich auf EU-Ebene in einem „Ausschuss der Regionen“ wieder, ein „präföderales“ Organ. Der „Freistaatsplan“ der Basken verstößt m. E. gegen das Europäische Verfassungsrecht, nicht nur gegen das spanische. Jeder Bundesstaat muss eine Balance zwischen unverzichtbarer Homogenität und optimaler Pluralität suchen. Der Föderalismus, und im kleineren auch der Regionalismus, legitimieren sich aus dem Ideal der Bürgernähe, der Demokratie vor Ort, im Kleinen, der kulturellen Freiheit und der Heimat (Subsidarität). Die vertikale Gewaltenteilung und der damit verbundene Freiheitsgewinn (Oppositionsund Minderheitenschutz) wurden schon erwähnt. Die Kulturhoheit der Länder bzw. Kantone lässt sich als „Seele“ des Föderalismus bezeichnen. Die Palette des Kulturverfassungsrechts dieser Länder ist ihr Dokument und ihre Chance. Damit wird einem primär ökonomischen Bundesstaatsverständnis („Markt-“ bzw. „Konkurrenzföderalismus“) eine Grenze gezogen. Wettbewerb ist gut, auch im Kulturellen (etwa um die besten Theater und Hochschulen), aber er ist nicht das Maß aller Dinge! Der Wettbewerbsföderalismus ist nur ein Mosaikstein im Ganzen einer „gemischten Bundesstaatstheorie“. Sie verbindet flexibel Elemente des Wettbewerbs mit der kulturellen Vielfalt. Aspekte des Unitarischen finden sich im erwähnten Homogenitätsgebot, solche des subsidaritätsgestützten Pluralismus in der Eigenständigkeit der Länder. Dabei mögen sich in den einzelnen Verfassungsstaaten die Akzente im Gang der Verfassungsgeschichte bzw. „im Laufe der Zeit“ verschieben. In den 60er Jahren mochten in vielen Bundesstaaten Elemente des Kooperativen von den USA bis Australien in den Vordergrund rücken, heute deutet vieles darauf hin, dass das Element des Separativen („Trennungsföderalismus“) wieder stärker wird. In Deutschland ist etwa im Kulturbereich Selbstkoordinierung der Länder gefordert, nachdem man die Nachteile der sog. „Gemeinschaftsaufgaben“ und der Verwischung der Verantwortungsräume bzw. Kompetenzen klarer erkannt hat. In paralleler Weise wären die Eigenheiten des Regionalismus aufzulisten, auch die Unterschiede zum Föderalismus (Desiderat von „Regionalistic Papers“). Vermutlich gibt es gleitende Übergänge. So lebt das spanische System der „Autonomien“ an der Schwelle zu einem eigengearteten Föderalismus. Dasselbe gilt wohl auch für Südafrika. Der italienische Regionalismus scheint sich auf den Weg zu einem „neuen Regionalismus“ oder gar einem „Föderalismus auf Italienisch“ zu machen. Die Verfassungsautonomie bleibt ein unterscheidendes Kriterium zwischen Föderalismus und Regionalismus, auch die kulturell ausgelebte Eigenständigkeit der Gliedstaaten, wie sie sich in Wappen, Hymnen etc. ausprägt und vor allem in substantiellen Zuständigkeiten auf dem Felde der Kultur zeigt. Besteuerungsrechte

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

und wirtschaftliche Eigenkompetenzen kommen hinzu. Die Folgerungen für die Ausgestaltung des Zweikammersystems werden später zu erarbeiten sein. Auf einen besonderen Unterschied sei eigens verwiesen: Im Typus Verfassungsstaat sollte es m. E. keinen sog. „differenzierten Föderalismus“ geben, wohl aber kann sich ein „differenzierter (asymmetrischer) Regionalismus“ wie in Italien und Spanien bewähren. In Föderalstaaten muss der konstitutionelle Status der einzelnen Länder schematisch gleich sein, die Kräfte der Desintegration würden andernfalls zu stark. Ausgleich kann es über den Finanzausgleich geben. In Regionalstaaten, in denen die Einheit stark ist und die Homogenität ohnedies größer, kann man sich Differenzierungen zwischen den Regionen untereinander leisten. Die Balance zwischen Homogenität und Pluralität gerät nicht außer Kontrolle. Die schrittweisen Regionalisierungen in Frankreich („Dezentralisierung: à la française“) und Großbritannien („devolution“) wären eigens zu untersuchen, auch ihre Hintergründe. Die Auszeichnung einzelner Regionen vor der Mehrheit der anderen (Sonderstatute) könnte auf Dauer auch ein Vehikel für Föderalisierung (Spanien, Katalonien, Baskenland, Galizien) sein. Diese These ist freilich nur eine Hypothese, die sich der Kritik stellen muss. Diese Stichworte zur Theorie von Föderalismus bzw. Regionalismus können bzw. müssen sich in einem „Test“ bewähren: den Erscheinungsformen der Ausgestaltung etwaiger Zweiter Kammern und des Ob und Wie eines jeweils optimalen Modells. II. Folgerungen für Zweikammersysteme – Sieben Arbeitsthesen Arbeitsprogramm bleibt eine Bestandsaufnahme der weltweit in Verfassungsstaaten vorgefundenen (Föderalismus und Regionalismus verbindenden) Zweikammersysteme, ihrer „Prototypen“ als ein Stück „gemischte Verfassung“ und etwaige Reformvorhaben, die „gleichsinnig“ oder „gegenläufig“ sein können. Dabei ist auf zwei Ebenen zu arbeiten: Zweite Kammern auf Bundesebene und solche auf der Ebene der Gliedstaaten selbst. Beispiele reichen von der Abschaffung des Senats in Bayern als einem „Betriebsunfall“ (?) bis zur Reformdiskussion in Spanien. In Osteuropa haben Polen, Rumänien, Tschechien, Russland und Weißrussland ein Zweikammersystem eingeführt. Auch hier ist eine Skala zu erkennen: der starke Ständerat in der Schweiz, der starke (aristokratische) Senat in den USA (auch Kanada), in denen viele Einzelstaaten ihrerseits sich in zwei Kammern gliedern, der schwache Bundesrat in Österreich. Zu vergleichen wären die Zusammensetzung bzw. die Art der Wahl, die jeweiligen Kompetenzen (Mitwirkung bei den drei Staatsfunktionen, der Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, z. B. bei der Richterbestellung auf Bundesebene). Zu fragen wäre, welche Konsequenzen aus der jeweils gewählten Föderalismus- bzw. Regionalismustheorie für die konkrete Ausgestaltung der Zweikammersysteme folgen. Und umgekehrt: Wie beeinflussen die positivrechtlich geltenden Strukturen das Theorieensemble in Sachen Föderalismus / Regionalis-

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mus? Vielleicht kann auch eine Verfassungstheorie des Zweikammersystems gelingen, mit Stichworten wie Gewaltenbalance, Mäßigung, Bürgernähe, Interessenabwägung, Pluralismus. Zusammenfassend: 1. Die erste Grundfrage ist die nach der Legitimation der Zweiten Kammern. Zu fragen ist, ob ergänzend zum „Input / Output-Modell“ die Gewaltenteilung als innere Rechtfertigung für Zweite Kammern gebraucht wird. Ihre mäßigende Wirkung, ihre Ausgleichsfunktion gegenüber der Ersten Kammer, aber auch anderen Verfassungsorganen sind fruchtbar. Gewaltenteilung ist dabei im bürgerorientierten Sinne verstanden, so wie klassische Literatur in der Schweiz sogar ein Grundrecht auf Gewaltenteilung bejaht (Z. Giacometti). Die demokratische Legitimation (Stichwort für das britische Oberhaus: „Konsensdemokratie“) ist nicht alles. Die Verhinderung von Machtmissbrauch bleibt ein ewiges Thema menschlichen Zusammenlebens (totalitäre und autoritäre Staaten wollen oft keine wirkliche Zweite Kammer). Zu unterscheiden sind zwei Funktionen bürgerorientierter Gewaltenteilung: die formelle und die informelle. Die letztere gelingt durch das Bemühen, dank der Zweiten Kammern, die Herrschaft der politischen Parteien zu begrenzen, so wie in der Schweiz das Volk dank der „halbdirekten Demokratie“ ein höchst reales Gegengewicht schafft. Die formelle, den Zweiten Kammern zu verdankende Gewaltenteilung funktioniert dadurch, dass die Zweiten Kammern durch bestimmte Kompetenzen arbeitsteilig gegenüber den anderen Verfassungsorganen, vor allem den Ersten Kammem, den Parlamenten, aber auch den Staatsoberhäuptern, Gestalt und Gewicht gewinnen. 2. Ein zweites Stichwort liegt in der „Kooperation“. Hier gibt es in Südafrika das faszinierende System des „cooperative government“ im Text der sehr zu bewundernden Verfassung von 1997 – wobei immer noch nicht klar ist, ob Südafrika „noch“ ein Regionalstaat ist oder „schon“ ein werdender Bundesstaat (die Verfassungsautonomie deutet auf Letzteres, die Praxis, man denke z. B. an die vortreffliche Verfassung von KwaZulu Natal, ebenso). In vielen Ländern der Welt lassen sich mannigfache Kooperationsformen, oft ungeschriebener Art beobachten (horizontale und vertikale Kooperationsformen). Was sich hier in der Praxis bzw. Verfassungswirklichkeit herausgebildet hat, ist in Südafrika zum Teil auf Verfassungstexte gebracht worden, besonders von Experten der Länder mit kooperativem Föderalismus wie Deutschland (Stichwort „Textstufenparadigma“). Freilich müssen wir uns vergegenwärtigen, dass in Deutschland derzeit im Rahmen der Föderalismusreform (2004 / 05 / 2006) der kooperative Föderalismus zurückgeschnitten werden soll. So sollen „Gemeinschaftsaufgaben“ von Bund und Ländern beseitigt oder reduziert werden, soll die Rahmengesetzgebung abgeschafft werden, soll mehr Trennungsföderalismus und Konkurrenzföderalismus geschaffen werden, da die (Politik)Verflechtungen besonders seit 1968 zu intensiv waren, wurden bzw. sind und die klaren Verantwortungsräume zwischen Bund und Ländern verwischen. Mehr „Trennungsföderalismus“ (seperative federalism) ist wieder angesagt, so dass man sieht, dass und wie der Föderalismus ein lebendes, prozesshaftes Ganzes ist, eine „gemischte

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Komposition“, in dem teils Elemente des Kooperativen, teils des Unitarischen, teils der Trennung im Laufe der Verfassungsgeschichte vortreten. Nur eine „gemischte“ Bundesstaatstheorie mit starker Betonung der kulturellen Vielfalt, liefert hier m. E. den angemessenen Theorierahmen. 3. Ein dritter Aspekt ist der Zusammenhang zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und den Zweiten Kammern. Er sei historisch und rechtsvergleichend, also auf den zwei Ebenen der Rechtsvergleichung in der Zeit und im Raum, punktuell skizziert, die nur ein Aristoteles gleichzeitig und umfassend beherrscht hat – seine Sammlung von Verfassungen ging bekanntlich verloren. In der Bismarck-Verfassung von 1871 besaß der deutsche Bundesrat die Kompetenz zur Schlichtung von föderalen Streitigkeiten (Art. 76 Abs. 2). Diese hat heute das deutsche BVerfG (Art. 93 Abs. 1 Ziff. l GG), und der deutsche Bundesrat ist insofern ein Stück weit ein Vorläufer des Verfassungsgerichts. Zum anderen: Rechtsvergleichend (im Raum) sehen wir in den USA, dass sich die vom Präsidenten berufenen Kandidaten für den US-Supreme Court einem öffentlichen Hearing stellen müssen. Auch hier hat die Zweite Kammer also eine wichtige Kompetenz. In Deutschland wird die Hälfte der Bundesverfassungsrichter vom Bundesrat gewählt, in der Schweiz ist es die Bundesversammlung, die Vereinigung beider Kammern, die die Bundesrichter wählt. Hier funktioniert alles, wie immer in der Schweiz; nur vor einigen Jahren gab es einmal eine misslungene Wiederwahl eines Bundesrichters, ein großer Skandal. Schon klassische optimale Zweikammersysteme haben die USA und die Schweiz. 4. Die Zweiten Kammern scheinen weltweit verglichen stets besonderen Reformbedarf zu haben, Stichwort: Reformfähigkeit und -bedürfnis. Sie haben (noch) keinen ganz gesicherten Platz im Verfassungsstaat als Typus bzw. seinen nationalen Beispielen, man denke an die Reform des englischen Oberhauses oder andere Reformbemühungen (etwa in Indien und Südafrika, Mexiko und Kanada). Zweite Kammern sind offenbar politisch und theoretisch nicht so gesichert, sicher und „etabliert“ wie die Parlamente, zumal sie historisch aus ganz unterschiedlichen Gründen (z. B. vordemokratisch und präföderal) gewachsen sind. Eine vergleichende Verfassungslehre und Verfassungspolitik für Zweite Kammern müsste hier Kriterien liefern. 5. Status bzw. Struktur und Funktionen bzw. Kompetenzen von Zweiten Kammern sind zu trennen. Hängen sie aber nicht doch sehr intensiv zusammen? Diesen Zusammenhang von Status und Funktion eines Verfassungsorgans kann man in Deutschland von G. Leibholz lernen, er hat den sog. „Statusbericht“ des BVerfG in den 50er Jahren konzipiert (JöR 6, 1957). Die gewünschten oder vorhandenen Kompetenzen und Funktionen brauchen einen bestimmten Status. Umgekehrt kann der gesicherte Status zu einem Wachstum der Kompetenzen (der Zweiten Kammer) führen. 6. Zum Stichwort „Politische Kultur“: Der Stil des Verhandelns, der Debatten und der Entscheidungsbildung in Zweiten Kammern müsste vergleichend weltweit zum Thema gemacht werden, ebenso die Persönlichkeitsprofile und die Herkunft. Hier bedarf es der Politikwissenschaften.

VI. Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung

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7. Stichwort Europäisierung: Hier stellt sich die Frage, ob sich Zweite Kammern von Brüssel bzw. Straßburg her in nuce herausbilden können, sozusagen als Vorform des Zweikammersystems. Für (das stark unitarische) Österreich darf man darauf hinweisen, dass einige neue Verfassungsänderungen in den dortigen Ländern (etwa in Vorarlberg und Salzburg) „Europa-Artikel“ eingeführt haben. Auch in der Schweiz findet sich etwa in Verf. Bern von 1993 (Art. 54 Abs. 1) eine Bezugnahme auf die Regionen Europas. In Deutschland waren es die fünf neuen Bundesländer, die viele Europa-Artikel innovativ geschaffen haben (Bezugnahme auf die europäische Einigung, Mitwirkung an diesen Prozessen, Hinweis auf die EMRK-Grundrechte etc.). Das „nationale Europaverfassungsrecht“, verunglückt ist aber Art. 23 GG, sei zitiert. Hierzu sind Ansätze für eine Europaunmittelbarkeit der Länder und Regionen zu sehen. Das kann dann auch mittelfristig zu einer Stärkung etwa vorhandener Zweiter Kammern führen: Sozusagen von unten, vom Verfassungsrecht der Länder her, etablieren sich diese in Europa mit eigenem Gewicht und das führt geradezu zu einem (stärkeren) Zweikammersystem. Der EU-Ausschuss der Regionen sei erwähnt. Genannt sei auch die Schweiz, so sehr sie sich noch der europäischen Einigung i. S. der EU entziehen will. Als Wissenschaftler darf man niemals die Entscheidungen des souveränen Schweizer Volkes kritisieren; derselbe Wissenschaftler darf aber doch kritische Fragen stellen, sozusagen „akademisch“. Wissenschaft legitimiert sich aus sich selbst, nicht vom Volk her, demokratisch; sie legitimiert sich nur aus ihrem eigenen Wahrheitsauftrag und bei uns Juristen speziell zusätzlich aus ihrem Gerechtigkeitsauftrag. Kurz: Die innere „Europäisierung“ kann in Verfassungsstaaten mit föderalen oder regionalen Strukturen langfristig dem Zweikammersystem zu Gute kommen.

Ausblick Die hier angedeutete Arbeit könnte ein Stück „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ in Sachen Zweikammersysteme werden. Der Rechtsvergleich ist heute ein Dienst an der „Verfassung im Diskurs der Welt“. Das Zusammenwachsen der Wissenschaftlergemeinschaften in der „Welt des Verfassungsstaates“ ermutigt, auch wenn wir selbst bescheiden bleiben müssen. Wissenschaft kann manches, aber letztlich wohl nur wenig ausrichten. Die Verfassungslehre, die sich heute intensiv in die Völkerrechtswissenschaft und umgekehrt integrieren muss, hat gewiss Möglichkeiten, aber sie dürfen nicht überschätzt werden.

VII. Thesen zu Gegenwart und Zukunft Europas: Ein Diskussionsbeitrag* I. Bestandsaufnahme – Gegenwart Selten war Europa gleichzeitig mit so vielen Krisen und Kontroversen konfrontiert wie heute. Man denke an den Streit um den EU-Haushalt für die Jahre bis 2020 (2012), sodann an die bisher schon drei Griechenlandhilfen sowie die vielen sonstigen Auseinandersetzungen. Die Eurokrise bzw. Staatsschuldenkrise hat zu einem Gegeneinander zwischen den „Nordländern“ wie Großbritannien, Dänemark, Finnland und Deutschland und den „Südländern“ wie Italien, Portugal und Spanien geführt. Zwar hat das positive Urteil des BVerfG in Sachen des völkerrechtlichen (!) ESM-Vertrags bzw. Krisenfonds sowie die ebenfalls den Weg freigebende Entscheidung des EuGH in derselben Sache (2012) für das Erste zu einer gewissen Befriedung geführt (eine endgültige Entscheidung des BVerfG über die Rolle der EZB steht noch aus). Doch spricht Alt-Bundeskanzler H. Schmidt in seiner Kritik an der deutschen Kanzlerin A. Merkel zurecht von einem „Durchwursteln“ (November 2012). Nicht einmal mit Hilfe der Stückwerktechnik eines R. Popper kann man das zögerliche und oft intransparente Schritt-für-Schritt-Handeln der deutschen Bundesregierung und der anderen Nationalstaaten in der EU bzw. im Euro-Raum gut heißen. Gewiss, die EU bzw. die Euro-Gruppe hat schon manche Krisen gemeistert, indes ist die Krise im Jahre 2011 / 12 besonders groß. Oft wird gesagt, der Euro sei unentbehrlich für die europäische Einigung. Manche sprechen bereits von einer – freilich wegen der Haushaltsautonomie der Nationalstaaten zu begrenzenden – „defacto-Haftungsunion“. Vorweg muss daran erinnert werden, dass es ein Europa im weiteren Sinne (des Europarates) und ein Europa im engeren Sinne (der EU) gibt. Beide „Hälften“ bilden gemeinsam Europa. So wichtig die Währungs- und Wirtschaftsunion ist und so unverzichtbar es ist, dass man Griechenland von Seiten der EU bzw. Euroländer im Zeichen europäischer Solidarität helfen will: der Euro darf nicht zum Höchstwert der EU stilisiert werden. Er ist nicht alles. Europa lebt nicht primär von ihm. Manche Professoren sprechen in Bezug auf die EU von „Fassaden-Demokratie“, ein böses Wort, das auf das vielzitierte Demokratiedefizit der EU hinweisen möchte, indes der Sache nicht gerecht wird: Das EU-Parlament wird derzeit Schritt für Schritt stärker, es gibt auf Teilgebieten schon eine europäische Öffentlichkeit, und * Erstveröffentlichung in spanischer Sprache: Revista de derecho constitucional europeo, Nr. 18, julio – dicembre de 2012, S. 423 – 427. – Deutsche Erstveröffentlichung.

VII. Thesen zu Gegenwart und Zukunft Europas

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Institutionen wie der Ombudsmann, der Europäische Rechnungshof sowie der EuGH funktionieren bzw. schaffen längst ein Stück europäischer Öffentlichkeit auf ihren speziellen Tätigkeitsfeldern. Freilich sei nicht verkannt, dass die Nationalökonomie als Wissenschaft wohl versagt hat. Sie gibt ganz offenkundig den politischen Entscheidungsträgern keine Hilfestellung. Der Riss zwischen den „Nettozahlern“ einerseits (etwa Deutschland) und den Empfängerstaaten (etwa Polen) andererseits treibt im Übrigen einen Keil in die EU als Rechtsgemeinschaft, Werteunion und präföderales Gebilde. Hilfe ist ideell von einem Literaturnobelpreisträger wie G. Grass zu erwarten. Er publizierte ein in Deutschland sehr umstrittenes Gedicht, doch sollte man auf ihn hören: Man muss sich vergegenwärtigen, was Europa der griechischen Kultur verdankt. Andererseits muss Griechenland seine vielzitierten „Hausaufgaben“ erledigen, Reformen wagen und eine effiziente Verwaltung schaffen. Dabei kann Sparen allein nicht helfen. Das Gedicht von G. Grass (2012) trägt die Überschrift „Europas Schande“. Zitiert seien aus den 12 Strophen die ersten drei und die letzten drei: „– Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege dir lieh. – Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt, wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert. – Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, dem Dank zu schulden Dir Redensart war. … – Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück. – Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter, deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt. – Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte.“

II. Zukunftsperspektiven: Europa als Verfassungsgemeinschaft Erforderlich ist eine Rückbesinnung auf die Grundwerte Europas und die kulturellen Errungenschaften seiner jahrelangen Einigungsprozesse. Man denke nicht nur an die vielzitierte „Friedensdividende“, sondern auch an den durch die Marktfreiheiten geschaffenen Wohlstand und die soziale Sicherheit vieler, freilich nicht aller. Vor allem die europäischen Verfassungsgerichte in Straßburg und Luxemburg haben Schritt für Schritt durch große Entscheidungen die europäische Integration auch auf dem Felde der Grundrechte vorangetrieben und europäische Rechtskultur bewahrheitet. Besonders wichtig ist die Vergegenwärtigung der Vielfalt und Einheit Europas in Sachen Kultur. Sie ist der erste und letzte Grund der europäischen Einigung. Hier

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

findet sich auch die oft gesuchte „Seele“ Europas. So wichtig eine „florierende Wirtschaft“ ist: letztlich ist sie nur instrumental zu begreifen; sie steht im Dienste Europas als Wertegemeinschaft. Aus der präföderalen Struktur Europas folgt auch ein Mindestmaß an Solidaritätspflichten gegenüber den Mitgliedsländern. Dies wird im Falle der Griechenlandhilfe sehr konkret. Gleiches gilt für Spanien. Diesem kulturell blühenden Land mit seiner bewährten Demokratie sowie seiner großen Kultur- und Verfassungsgeschichte (seit 1812) muss gerade heute europäische Solidarität entgegengebracht werden. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien ist eine Schande, auch Europas. Die bisherigen Sparmaßnahmen sollten von Hilfen zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft umrahmt werden (Ein Ausscheiden Kataloniens aus Spanien wäre sowohl eine Verletzung des spanischen wie auch des europäischen Verfassungsrechts). Die schon 2001 / 02 geforderte, später vom BVerfG in Anspruch genommene „Europarechtsfreundlichkeit“ der Nationalstaaten bzw. EU-Mitgliedsländer ist im politischen und juristischen Alltag zu praktizieren. Gewiss, es gibt ein Demokratiedefizit, das EU-Parlament ist noch stärker zu machen und nach Schweizer Vorbild (direkte Demokratie) sollten die Möglichkeiten der europäischen Bürgerinitiativen ausgeschöpft werden. Das EU-Parlament gewinnt unter seinem derzeitigen Präsidenten M. Schulz sichtbar ein Mehr an europäischer Öffentlichkeit. Zu denken ist auch an eine Direktwahl des Präsidenten der EU-Kommission oder des Präsidenten des EU-Parlaments. In allen Fällen geht es um demokratiekonforme Märkte, nicht um eine „marktkonforme Demokratie“! Darum sollten die Ratingagenturen, wie jetzt geplant, „an die Leine“ gelegt werden. Man mag streiten, ob gerade die EU von heute den Friedensnobelpreis 2012 verdient hat, denn gegenwärtig gibt sie kein überzeugendes Bild ab. Die großen friedensschaffenden, andauernden Leistungen des Europarates und seiner EMRK von 1950 sowie seiner vielen Konventionen, z. B. in Sachen Schutz von Minderheiten, verdienen m. E. eher diese hohe Auszeichnung. Im Ganzen: Die schon erkennbare europäische Öffentlichkeit, die praktizierte Europarechtsfreundlichkeit, die schrittweisen Integrationsvorgänge, z. B. in Sachen Schengen, unter Einschluss der Schweiz (!), ergeben heute ein Bild differenzierter Integration sowohl des Europas im engeren als auch des Europas im weiteren Sinne. Die europäische Verfassungsgemeinschaft muss auch als Solidargemeinschaft gelebt werden. So wie es im Föderalismus einen Finanzausgleich zwischen ärmeren bzw. schwächeren und reicheren bzw. stärkeren Ländern gibt (z. B. von Bayern nach Berlin), so muss auch europäische Solidarität in finanzieller Hinsicht gelebt werden. Sie darf etwas kosten, auch wenn dies „weh tut“. Die Auswirkungen solcher Hilfsmaßnahmen sollten den Europabürgern indes ehrlich erklärt werden. Das „europäische Deutschland“ (T. Mann) muss die Krise Hand in Hand mit dem „europäischen Spanien“ und anderen EU-Ländern meistern.

VIII. Beschränkung und Missbrauch der Grundrechte im Kontext des europäischen Verfassungsvergleichs – eine Problemskizze* Vorbemerkung Jede wissenschaftliche Behandlung eines Themas hat „Vorverständnis und Methodenwahl“, Erkenntnisinteresse und Forschungsziel offenzulegen, so auch diese Problemskizze. Sie ist auf dem Hintergrund der angestrebten Integration der Türkei in das Europa im „engeren Sinne“ der EU oder auch einer „privilegierten Partnerschaft“ und intensiven Assoziation zu sehen und im Bewusstsein, dass die Türkei dank ihrer Zugehörigkeit zum Europarat bzw. zur EMRK seit langem Teil des Europas im „weiteren Sinne“ ist, d. h. dem Europarat mit derzeit 46 Mitgliedern und der OSZE mit 55 Mitgliedern angehört. In diesem Europa der Verfassungsstaaten gibt es Rechtsfiguren und Methoden, die das Problem der Beschränkung und des Missbrauchs von Grundrechten prägen. Erinnert sei zuvor an die These, die EU sei eine „Verfassungsgemeinschaft“, die EMRK sei eine „Teilverfassung“, sodann an die Lehre des BVerfG, die EU sei ein „Staatenverbund“. Klassikertexte von W. Hallstein („Der unvollendete Bundesstaat“, 1969), von de Gasperi, Europa sei ein „Vaterland“ (1954), seien ebenso konsultiert wie die These, in Europa entstehe eine „europäische Öffentlichkeit“ (1999), es forme sich eine „Grundrechtsgemeinschaft“, es gebe schon ein „europäisches Gemeinwohl“ und ein „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ (1983 / 1991). Erinnert sei daran, dass die beiden europäischen Verfassungsgerichte EuGH und EGMR Grundrechtsstandards entwickelt haben, die sowohl die allgemeinen Grundrechtslehren wie die Einzelgrundrechte prägen. Schließlich seien die hier praktizierten Methoden offengelegt: etwa die Textstufenanalyse, die zeigt, dass spätere bzw. jüngere Verfassungstexte eines Landes an ältere Judikatur und Praxis eines anderen Landes anknüpft und oft Verfassungswirklichkeit auf Texte und Begriffe bringt, auf welche Weise es zu überregionalen, ja weltweiten Produktions- und Rezeptionsprozessen in Sachen Verfassungsstaat kommt; eine weitere Methode arbeitet unter dem Stichwort der „kulturellen Verfassungsvergleichung“, will heißen: der Inhalt von Verfassungstexten bzw. Prinzipien erschließt sich erst aus den in Raum und Zeit wandelbaren Texten, so dass auch das Individuelle, Besondere zum Ausdruck kommt; schließlich sei an die 1989 entwickelte Lehre von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode erinnert (nach Savignys klassischen vier Methoden von 1840), so dass sich * Erstveröffentlichung in: Liber amicorum, FS Wildhaber, 2007, S. 313 – 321.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

eine schöpferische Kraft entfaltet, die vor allem die Verfassungsgerichte in Europa auszeichnet, nicht zuletzt das türkische. Mit diesen Vorüberlegungen im „Hinterkopf“ sei das Problem „Beschränkung und Missbrauch von Grundrechten“ angegangen. Eine letzte Vorbemerkung: Eigentlich müsste als Erstes eine Bestimmung der Inhalte und Funktionen der Grundrechte (Abwehr, Teilhabe, soziale Funktion, objektive Seite) erfolgen. Erst in einem zweiten Schritt wäre die Schrankenproblematik zu erörtern. Doch lautete die Vorgabe meines Themas seitens der Tagungsleitung anders. Erster Teil

Die Beschränkung der Grundrechte I. Allgemeine Lehren Das Vergleichsmaterial für eine sachgerechte Problemlösung reicht weit in Raum und Zeit. Betrachtet werden müssen möglichst viele Texte neuerer und älterer Verfassungen unter dem Aspekt der Schrankenregelung. Hinzukommen sollte die umfangreiche Judikatur der Verfassungsgerichte in Europa sowie die wissenschaftliche Lehre – all dies unter dem Gesichtspunkt des rechtskulturell Gemeinsamen und individuell je Besonderen. Einzelne Strukturelemente des Verfassungsstaates haben innerhalb Europas und darüber hinaus „Karriere“ gemacht, etwa die deutsche Wesensgehaltgarantie der Grundrechte, die sogar in Südafrika rezipiert worden ist und in Osteuropa übernommen wurde (z. B. § 11 Verf. Estland von 1992, Art. 31 Abs. 3 Verf. Polen von 1997). Andere Länder haben ihre spezifischen Beiträge geleistet, etwa die Schweiz zur Sprachenfreiheit, Ungarn zum Minderheitenschutz („staatsbildende Faktoren“). Positives europäisches Verfassungsrecht findet sich in der EMRK und ihren Schrankenregelungen und als „vorwirkendes“ soft law in der EUGrundrechtecharta, die meisterhaft einen mittleren Standard an Grundrechten und Grundrechtsgrenzen zum Ausdruck bringt. Sogar ein Blick auf die den EU-Verfassungskonvent begleitenden etwa 20 Entwürfe bis hin zum Verfassungsentwurf vom Juni 2004 sei erlaubt, auch wenn dies wegen der vorgeschriebenen Kürze dieses Beitrags nur da und dort angedeutet werden kann. Die allgemeinen Grundrechtslehren befassen sich mit dem allen Grundrechten Gemeinsamen, inhaltlich wie in Bezug auf die Schranken.

1. Absolute „Schrankenschranken“ der Grundrechte Das unschöne Wort sei hier verwendet, da es sich in der deutschen Grundrechtsdogmatik (leider) eingebürgert hat. (Wiederholt sei jedoch die alte Kritik an dem darin zum Ausdruck kommenden „Schrankendenken“, das der Eigenart, dem Verfas-

VIII. Beschränkung und Missbrauch der Grundrechte

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sungsbild, der kulturellen Besonderheit von Grundrechten und ihren Funktionen nicht gerecht wird.) Die schon klassische, absolut jedes Grundrecht schützende Rechtsfigur ist die Garantie des „Wesensgehaltes“ der (aller) Grundrechte. Als deutsche „Erfindung“ 1949 geboren, hat sie in Texten und Doktrinen, in Judikatur und Praxis eine fast beispielhafte „Karriere“ zurückgelegt. Sie findet sich geschrieben im GG (Art. 19 Abs. 2) sowie in Spanien (Art. 53 Abs. 1 Verf. von 1978), „ungeschrieben“ in der Judikatur des Verfassungsgerichts in Österreich, auf europäischer Ebene präsent in Urteilen des EuGH, jüngst ist sie in der EU-Grundrechtecharta (2000) bzw. im EU-Verfassungsentwurf vom Juni 2004 getextet. In der Judikatur des türkischen Verfassungsgerichts wird sie „immanent“ angewendet (1971 gab es in der Türkei noch einen textlichen Kerngehaltsschutz: Art. 11 Abs. 2!, nicht mehr im Text der Verfassung von 1982). In der Schweiz hat sich die neue Bundesverfassung von 2000 nach Vorbildern in der Kantonsverfassung von Bern (1993: Art. 28) eine neue Textstufe bzw. höchst differenzierte Lösung erarbeitet. Viele (deutsche) Stimmen erblicken in der Wesensgehalttheorie einen „absoluten“ Schutz für jedes Grundrecht, er wird oft durch den Menschenwürdegehalt definiert (Menschenwürde und Wesensgehalt sind aber nicht identisch); andere vertreten kombinierte Lösungen, die Verbindung des absoluten Schutzes mit einem durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bewirkten „relativen“ Schutz (so der Verf. dieser Zeilen seit 1962: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983). Auch die vom türkischen Verfassungsgericht 1986 bis 2000 praktizierte These, der Wesensgehaltschutz leite sich aus allgemeinen Grundsätzen her, er sei verfassungsimmanent, hat ihren Vorläufer in der 1962 entwickelten Doktrin von der „deklaratorischen Bedeutung“ des deutschen Art. 19 Abs. 2 GG. Verfassungspolitisch sei aber jedem Land, jedem Parlament empfohlen, der Verdeutlichung wegen eines ausdrücklichen Wesensgehaltschutzes zu texten: um der Rechtssicherheit willen. Er sollte erklärtermaßen für alle Grundrechte gelten. Dabei sei die neue Textstufe in der Schweiz zitiert, denn sie leistet eine glückliche Fortentwicklung und Schlichtung des heftigen deutschen Streits um die sog. absolute und relative Wesensgehalttheorie. Art. 36 nBV lautet: Einschränkungen von Grundrechten. „1. Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. 2. Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. 3. Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismäßig sein. 4. Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.“

Die besondere Leistung dieses vorbildlichen Artikels liegt u. a. darin, dass sie den deutschen Theorienstreit entschärft, mit dem Begriff „Kerngehalt“ das Absolute, Abwägungsresistente (aktuell in Sachen Folter) andeutet, aber zugleich die Unverzichtbarkeit von Abwägungsvorgängen im Grundrechtsbereich zum Ausdruck bringt. Weltweit gibt es m. E. keine bessere positivrechtliche Verknüpfung der allge-

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

meinen Schrankenproblematik mit absoluten bzw. relativen Schutztheorien. Zugleich sei daran erinnert, dass damit ein Prinzip aller Grundrechte „vor die Klammer“ gezogen ist, so dass es speziell abgestufter Normierungen nicht mehr unbedingt bedarf. Indes spricht auch manches für eine zusätzliche besondere Schrankenregelung je nach Einzelgrundrecht. (Eine spezielle absolute Schrankenregelung findet sich in Art. 54 Abs. 4 Verf. Mazedonien von 1991, z. B. das Folterverbot.)

2. Relative „Schrankenschranken“ Dieses Modell wird von nicht wenigen Verfassungen positiviert, d. h. dem Inhalt jedes Einzelgrundrechtes gemäß gestaltet. Gemeint sind Prinzipien, die die Grundrechte im Wege einer Abwägungsprozedur „relativieren“, auch wenn sie wegen ihrer Genauigkeit und Bestimmtheit keine beliebige Relativierung eröffnen, sondern diese gerade verhindern wollen. Die „relative“ Schranke-Schranke ist das Übermaßverbot, das unter verschiedenen Bezeichnungen ein allgemeines Prinzip der Behandlung von Grundrechten und ihrer Grenzen geworden ist und zugleich zum Ausdruck bringt, dass in einem Verfassungsstaat Grundrechtsgarantien ohne Abwägungen nicht möglich sind: Jede Freiheit braucht Grenzen. Sie rechtfertigen sich aus den gleichen (Grund)Rechten des anderen i. S. des Kategorischen Imperativs von I. Kant sowie aus weiteren Gemeinwohlgründen, die freilich präzise aufzulisten sind. Das zitierte Schweizer Modell liefert hier die beste Textstufe: öffentliche Interessen, Grundrechte Dritter, Verhältnismäßigkeit sind die Stichworte. Freilich ist der Abwägungsvorgang auf der Ebene der Verfassung vorzunehmen. Es müssen gleiche und vorrangige Rechtsgüter, Werte der Verfassung sein, die im Konflikt mit den Grundrechten i. S. der „praktischen Konkordanz“ (K. Hesse), dem „schonendsten Ausgleich“ (P. Lerche) zu bringen sind. Im Einzelnen hat sich die Türkei längst die einschlägigen Grundlagen erarbeitet. So orientiert sich das türkische Verfassungsgericht 1999 beim Gesetzesvorbehalt des Art. 17 Abs. 4 am Maßstab des Art. 2 EMRK, so wird die Verhältnismäßigkeit genau geprüft.

3. Spezielle Schrankenregelungen Dieses Modell wird von nicht wenigen Verfassungen gebraucht, d. h. der Eigenart jedes Grundrechtes gemäß wird eine besondere, gestufte Schrankenregelung gezogen. Der Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalt wird flexibel formuliert, wobei übrigens daran zu erinnern ist, dass theoretisch jede Schrankenregelung zugleich eine punktuelle Inhaltsbestimmung des Grundrechts ist. So gibt es im deutschen GG „einfache“ Gesetzesvorbehalte, z. B. Art. 2 Abs. 2 (ohne Benennung eines begrenzenden Gemeinwohlgutes) und „qualifizierte“ Vorbehalte, z. B. Art. 11 Abs. 2, in ih-

VIII. Beschränkung und Missbrauch der Grundrechte

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nen werden die künftigen Interessen ausdrücklich positiviert. (Das Problem Grundrechtseinschränkung im Ausnahmefall – Art. 15, 119 bis 122 türkische Verf. von 1982 – bleibe hier ausgeklammert, vgl. auch Art. 15 EMRK.) Freilich sei daran erinnert, dass auch Grundrechte ohne ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt unverzichtbare letzte Grenzen haben, in Deutschland gilt dies für Verfassungswerte etwa mit Blick auf die Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG). In jedem Fall empfiehlt sich eine allgemeine Positivierung des Übermaßverbotes. Die drei Erscheinungsformen (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit i. e. S.) können der Judikatur anvertraut werden, der Verfassungstext würde sonst überlastet. Auf der anderen Seite muss das verfassungspolitische Gespür dafür entwickelt werden, dass jedes Grundrecht einen eigenen „Charakter“ hat, auch seine eigene (Leidens!)Geschichte, dass neue Grundrechte (wie 1949 die Informationsfreiheit) möglich sein müssen. Das kann etwa durch eine Grundrechtsentwicklungsklausel nach § 10 Verf. Estland (1992) geschehen. Im Ganzen darf die Fragestellung dieses Beitrags nicht vergessen lassen, was die positive inhaltliche Funktion von Grundrechten ist: Schutz eines offenen, freiheitlichen Lebensprozesses, Eröffnung von Gestaltungsmöglichkeiten in der Zukunft, für den Einzelnen wie das politische Gemeinwesen und seine Gruppen, Leistungen für das Gemeinwesen wie etwa bei der Garantie von Wissenschaft, kulturelle Entwicklungen zu eröffnen wie auch bei der Kunstfreiheit und einer „sozialen Funktion“ zu dienen, wie bei dem Privateigentum und der Arbeit (Lehre vom „Doppelcharakter“). Auf das Schweizer Modell der Grundrechtsverwirklichungsgarantie und die Geltung in Sonderstatusverhältnissen sei verwiesen (Art. 35 nBV).

II. Folgerungen Bei all dem hat man sich vor Augen zu halten, warum das türkische Parlament diese Tagung veranstaltet: Es möchte die türkische Verfassung „kompatibel“ machen mit Europa bzw. der EU („Europafähigkeit“). Zu diesem Zweck wurden hier Lösungsmodelle für die Grundrechtsschranken vorgeführt. Der Verfasser darf sich nicht anmaßen, ein „bestes Modell“ vorzuschlagen, das verbietet der „academicself restraint“. Indes kann er Varianten und Textalternativen unterbreiten, so wie er dies in den 90er Jahren für St. Gallen (Schweiz), in Polen oder Estland tun durfte. Darum sei hier insgesamt eine Lösung empfohlen, die Offenheit und Bestimmtheit, Bürgerschutz mit Gemeinwohlinteressen vor dem Forum Europas optimal miteinander verbindet. Grundrechtsschranken sollten allgemein durch Übermaßverbot und Wesensgehaltschutz, speziell durch flexibel gestufte Gesetzesvorbehalte mit beispielhaften oder erschöpfenden Rechtsgütern kombiniert werden. Ein Verweis auf die EMRK wäre sinnvoll. Das europäische Verfassungsmaterial liefert hier viele Orientierungsmarken. Die Türkei darf aber (bei aller „Europäisierung“) auch nicht ihre eigene kulturelle Identität als europaoffener Verfassungsstaat verlieren. Es mag Gemeinwohlgüter geben, die gerade in der Türkei via Grenzen der Grundrechte zu

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

schützen sind. Welche das sind, kann nur das türkische Parlament definieren. Das sei gerade heute an dieser Stelle gesagt. Das europäische Verfassungsrecht, das geltende wie das werdende, schützt die „nationale Identität“ der Mitgliedstaaten. Sie kommt auch in der Art ihres Grundrechtsschutzes samt den Schrankenregelungen zum Ausdruck. Im Übrigen ist ausdrücklich zu regeln, ob die EMRK-Grundrechte samt Schranken auf Verfassungsstufe gelten sollen (wie in der Schweiz und Österreich) oder nur auf Gesetzesstufe mit der Möglichkeit interpretatorisch „nach oben“ zu wirken (wie in der Judikatur des BVerfG). Art. 17 Abs. 2 Verf. Albanien (1998) liefert mit seiner Bezugnahme auf die gemäß der EMRK zulässigen Beschränkungen ein optimales Modell. Art. 17 lautet: „(1) Die Beschränkungen der in dieser Verfassung vorgesehenen Rechte und Freiheiten können nur durch Gesetz wegen eines öffentlichen Interesses oder zum Schutz der Rechte anderer bestimmt werden. Die Beschränkung muss im Verhältnis zu der Situation stehen, die sie vorgegeben hat. (2) Diese Beschränkungen dürfen nicht das Wesen der Freiheiten und der Rechte verletzen und dürfen in keinem Fall über die Beschränkungen hinausgehen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen sind.“

Im Übrigen ist an den Typus der Schranken zu erinnern, die sich in der EMRK finden (z. B. Art. 10 Abs. 2 „in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit“).

Zweiter Teil

Missbrauch von Grundrechten Der zweite Teil kann und muss sich kürzer fassen. Denn der „Missbrauch“ ist ein Sonderfall, der in der „Verfassung der Freiheit“ als solcher bewusst sein sollte. So sehr der Mensch von Natur aus dazu neigt, Macht zu missbrauchen (das Credo von Montesquieu), so sehr muss das Menschenbild des Verfassungsstaates vom „gedämpften Optimismus“ in Bezug auf die Bürger und ihren Freiheitsgebrauch ausgehen. Der Missbrauch grundrechtlicher Freiheit wird nicht als Normalfall konzipiert, mag man auch über das Wort „in dubio pro libertate“ streiten.

I. Vergleichende Typologie der positivrechtlichen Regelungen 1. Ein Sondertatbestand – Art. 18 GG (1949) Historisch wie vergleichend ist Art. 18 GG mit seinem vom BVerfG konstitutiv festgestellten Verwirkungstatbestand im Falle des Missbrauchs bestimmter erschöpfend aufgezählter Grundrechte wohl ein „Unikat“. Es erklärt sich aus den Erfahrungen mit (deutschen) totalitären Staaten und gehört in das Konzept der „abwehrberei-

VIII. Beschränkung und Missbrauch der Grundrechte

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ten Demokratie“ (zusammen mit Art. 9 Abs. 2 und 21 Abs. 2 GG). Art. 18 GG ist eine sehr deutsche, primär verfassungsgeschichtlich zu erklärende besondere Regelung, die in der Praxis bisher nur in drei Fällen angewandt worden ist.

2. Ein allgemeines Missbrauchsverbot – Art. 25 Abs. 3 Verf. Griechenland (1975) In Art. 25 Abs. 3 Verf. Griechenland heißt es: „Rechtsmissbrauch ist nicht gestattet“. Damit wird das Missbrauchsverbot in den Tatbestand aller Grundrechte hinein verlagert. Das ist m. E. zu allgemein und gefährlich. Drohen könnte eine unabsehbare Relativierung der Grundrechte. Im Verfassungsstaat sollte eine solche allgemeine Missbrauchsklausel als Text möglichst vermieden werden. Art. 11 Verfassungsänderung Türkei 1971 hatte ein Missbrauchsverbot geschaffen, das durch den weitgehenden Art. 14 Verf. 1982 ersetzt wurde. Von Missbrauch spricht (leider) auch Art. 57 Abs. 2 Verf. Bulgarien (1991).

3. Art. 17 EMRK (1950) Art. 17 lautet: „Keine Bestimmung dieser Konvention darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in der Konvention vorgesehen, hinzielt“.

In der Praxis haben die Konventionsorgane schon mehrfach eine innerstaatliche Beschränkung von Grundrechten gerechtfertigt und dabei den Vertragsstaaten einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum zugebilligt, so dass Art. 18 GG wohl nicht konventionswidrig ist. Art. 14 Verf. Türkei von 1982 könnte wohl EMRK-konform ausgelegt werden. Auf Art. 17 EMRK-verwandte Regelungen sei ganz allgemein verwiesen (etwa Art. 5 Abs. 1 IPbpR von 1966, vgl. auch Art. 29 lit. a AMRK von 1969). II. Folgerungen für die Europa-Verfassungspolitik der Türkei Die verfassungspolitisch Verantwortlichen in der Türkei, d. h. vor allem das Parlament müssen sich fragen, welches Modell das für sie optimale wäre. Das hängt davon ab, wie sich die Türkei in der Entwicklungsstufe des Typus Verfassungsstaat selbstbewusst einordnet bzw. wie sie, von außen betrachtet, einzustufen ist. Wenn es um eine Missbrauchsklausel gehen sollte, die eine hohe politische „Signalfunktion“ hat, so mag dem ein Art. 18 GG dienen, etwa im Kampf gegen gruppenmäßig

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

organisierte Terroristen mit hohem politischen Bekanntheitsgrad und großer Effektivität. Die Türkei hat ihre autoritären Perioden jedoch weit hinter sich gelassen, so dass es eines Art. 18 GG aus dem Grund historischer Nähe wie beim GG (1949) wohl nicht bedarf. Der allgemeine unbenannte Missbrauchstatbestand wie in Art. 25 Abs. 3 Verf. Griechenland verbietet sich analog (Griechenland hatte 1974 / 75 das Papadopoulos-Regime hinter sich gebracht). So deutet alles darauf hin, dass die Türkei sich am Vorbild des Art. 17 EMRK orientieren sollte, es unterstreicht seine Nähe zu Europa. Kann die Türkei Art. 14 Verf. 1982 entbehren oder muss Art. 14 im Geiste des Art. 17 EMRK ausgelegt werden?

Ausblick Diese Skizze ist nur fragmentarisch. Sie will als Ermutigung für die türkische Wissenschaftlergemeinschaft gelesen werden, die Türkei auf dem Weg zum europäischen Verfassungsstaat zu entwickeln, so etappenreich und mühsam dieser Weg ist. Europäische Vorbilder können dabei helfen. Der ausländische Betrachter nimmt mit großem Respekt zur Kenntnis, wie viel der Türkei, ihrem Parlament und vor allem ihrem Verfassungsgericht schon gelungen ist. Ein Europa-Artikel sei im Sinne von „nationalem Verfassungsrecht“ angeregt (Bekenntnis zur europäischen Integration, zu den EMRK-Grundrechten, zum europäischen Minderheitenschutz). Der in Ankara sehr bekannte deutsche Rechtsgelehrte Ernst E. Hirsch schrieb auf meine Bitte hin in meinem Jahrbuch des Öffentlichen Rechts einen pionierhaften Artikel schon im Jahre 1983: „Die Verfassung der Türkischen Republik vom 9. 11. 1982“ (JöR 32 (1983), S. 507 ff.). Er würde sich über diese Tagung gewiss ebenso freuen, wie ich mich geehrt fühle, in seinem Geiste daran mitwirken zu können.**

** Dieser Beitrag war ursprünglich für eine dann plötzlich abgesagte Tagung in Ankara (2006) erarbeitet worden.

IX. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln* Erster Teil

„Verfassung“ I. Der Typus Verfassungsstaat Nähern wir uns der „Sache Verfassung“ zunächst im Wege einer Bestandsaufnahme an, um dann nach dem Sinn, den „Funktionen“ fragen zu können. Geschriebene Verfassungsurkunden (sie dienen als formelle Verfassung auch der Rechtssicherheit) haben im Laufe der Zeit in formaler Hinsicht gewisse typische Strukturelemente entwickelt: Sie beginnen oft mit (z. T. durch Gottesklauseln eröffneten) Präambeln, die im feierlichen Sprachstil, kulturwissenschaftlich Ouvertüren und Präludien ähnlich, in das Werk „einstimmen“ und wesentliche Prinzipien vorformulieren, um nationale Identität zu begründen (z. B. Symbol-Artikel). Es folgen meist zwei Teile – Grundrechtsgarantien und der organisatorische Teil – ; schließlich runden Schluss- und Übergangsvorschriften, oft ein buntes, aber nicht unwichtiges Sammelsurium, das Ganze ab. Herkömmlich ist Verfassung auf den Staat bezogen, wir sprechen auch von „Verfassungsstaat“, der durch die Verfassung konstituiert wird. Erst neuerdings „expandiert“ der Verfassungsbegriff, z. B. auf Europa oder gar das Völkerrecht hin. Um beim eher Formalen zu bleiben: Im organisatorischen Teil, in dem Organe wie Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichte konstituiert werden (Organisationsfunktion der Verfassung), finden sich auch Verfahren zur Änderung der Verfassung (in reichen Varianten) und selten (wie in der Schweiz vorbildlich) Verfahren zu neuer Verfassunggebung (mit oder ohne Beteiligung des Volkes) – im Ganzen der Versuch von Verfassungen, die „Zeit“ differenziert zu verarbeiten: also den Wandel widerspiegeln oder sogar mitgestalten. Kommen wir zu den Inhalten (Verfassung im materiellen Sinne): Der „Typus Verfassungsstaat“, eine kulturelle Errungenschaft vieler Jahrhunderte und Ensemble von Klassikertexten von Aristoteles über Montesquieu und Rousseau, die Federalist Papers (1787) und H. Jonas „Prinzip Verantwortung“ im Umweltrecht, begegnet in vielen (nationalen) Varianten, doch lässt er sich auch „idealtypisch“ darstellen: in seinen Fundamenten und Elementen wie die in den Themen und ihren Dimensionen immer weiter ausdifferenzierten Menschenrechten (z. B. Rechte der Behinderten), der (pluralistischen) Parteiendemokratie, der Gewaltenteilung, der Identität (so Arti* Italienische Erstveröffentlichung in: FS A. Pace (Rom), 2012, S. 197 – 208.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

kel zu den Staatssymbolen wie Flaggen), den Staatszielen wie Rechtsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat und neuerdings Umweltstaat, häufig auch als vertikale Gewaltengliederung (dem Föderalismus und Regionalismus). Typisch sind für den modernen Verfassungsstaat Verfassungsorgane wie die Verfassungsgerichtsbarkeit, die 1803 in den USA begonnen hat, für Europa um 1920 in Österreich etabliert wurde und in den Dekaden nach 1945 und nach 1989 fast weltweit einen Siegeszug ohnegleichen angetreten hat. Neue Themen (Minderheitenschutz, Ombudsmann, Subsidiaritätsklauseln, Pluralismus-Artikel) sind nach und nach hinzugekommen: auch sog. „Europa-Artikel“ (wie Art. 23 GG und Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal, die ein Stück „nationales Europaverfassungsrecht“ normiert haben) oder Ausprägungen des „kooperativen Verfassungsstaates“ (Art. 24 GG): Völkerrechtsoffenheit („Völkerrechtsfreundlichkeit“, z. B. Einsatz für die Menschenrechte, für internationale Sicherheit, für Konfliktlösungen, Gerechtigkeit, vgl. Art. 7 Verf. Portugal von 1976, zuvor Art. 11 Verf. Italien).

II. Verfassungsverständnisse in Deutschland Deutschland zeichnet sich durch ein besonders intensives Ringen darüber aus, was „Verfassung“ sei, und die folgenden Stichworte können vielleicht eine erste Orientierung vermitteln. Lag für F. v. Lassalle (1862) das Wesen der Verfassung in den „tatsächlichen Machtverhältnissen“, so schreibt G. Jellinek in seiner großen Allgemeinen Staatslehre (1900), die Verfassung sei nur ein „Gesetz mit erhöhter formeller Geltungskraft“. Schon hier sehen wir, wie die einzelnen Versuche, der „Sache Verfassung“ näher zu kommen, oft nur Teilwahrheiten formulieren: Verfassung ist sicher auch ein Gesetz mit erhöhter formeller Geltungskraft, insofern sie nur mit qualifizierter Mehrheit in besonderen Verfahren der Verfassungsänderung abgeändert werden kann (z. B. Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG, Art. 138 Verf. Italien) und damit sich dem Wandel öffnen, aber diese bloß formale Betrachtung reicht nicht aus: Vom Gegenstand und ihren Funktionen her ist „Verfassung“ weit mehr. „Auf den Schultern von Riesen“ – dieses Wort gilt m. E. besonders für das Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz von 1949 bis heute (2008) zu „Weimar“ (1919 – 1933). So wie die berühmten 20er Jahre in Berlin eine bis heute viel bewunderte „Blüte“ in Kunst und Wissenschaft hervorgebracht haben, so haben die Weimarer Staatsrechtslehrer in ihren kontroversen Fragen gestellt und Antworten gegeben, die bis heute „klassisch“ sind und denen gegenüber wir Nachgeborenen allenfalls „Zwerge auf den Schultern“ von Riesen sind, was nicht ausschließt, dass wir, weil wir auf den Schultern stehen, gelegentlich sogar weiter sehen als diese Riesen! Unter diesem Vorbehalt jetzt einige Positionen im „Weimarer Richtungsstreit“. Einflussreich wurde das Werk „Verfassung und Verfassungsrecht“ von R. Smend (1928); es ist als „Integrationslehre“ bekannt. Smend begreift den Staat als Prozess immer neuer Integration, wobei etwa Parlamentseröffnung, Flaggen, Hymnen eine

IX. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln

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Rolle spielen. Diese Sicht ist im Rückblick auch als Versuch zu sehen, der unglücklichen Polarisierung der politischen Kräfte in Weimar entgegenzuwirken. Ganz anders C. Schmitt. Seine „Verfassungslehre“ (1928) bleibt zwar ein großer Wurf, doch hat er in anderen Schriften Stichworte gegeben, die dem Verfassungsstaat gerade nicht dienlich sind. Genannt sei die dezisionistische Lehre, wonach politische Entscheidungen „normativ aus dem Nichts“ kommen – dies lässt sich schon am rechtsvergleichenden Material widerlegen: man vergegenwärtige sich den Pluralismus der Ideen und Interessen, die etwa zur vorbildlichen Verfassung Spaniens von 1978 geführt haben. Zum anderen muss an das unselige Wort erinnert werden, wonach sich das Politische durch ein „Freund / Feind“-Denken definiere. In der Verfassung des Pluralismus, in der offenen Gesellschaft, gibt es m. E. grundsätzlich „Konkurrenten“, „Gegner“, aber nicht prinzipielle „Feinde“. Die – im Blick auf Europa heute freilich neu zu fassende – damals nur national ausgerichtete Integrationslehre (von R. Smend) erinnert an die unverzichtbaren Gemeinschaftsbildungen, an die Friedensfunktion der Verfassung, an den (modern gesprochen) „Grundkonsens“, der alle Bürger einschließt und z. B. erst das Funktionieren des Mehrheitsprinzips mit abgestuftem Minderheitenschutz ermöglicht. H. Heller erinnert (1934) an den Aspekt des „bewußten, planmäßig organisierten Zusammenwirkens“, doch denkt er in seiner, bis heute Epoche machenden „Staatslehre“ gezielt an den Staat, nicht aber – wie heute geboten – an die Verfassung. Es gibt aber im Verfassungsstaat nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert (R. Smend / A. Arndt). Im Blick auf das deutsche Grundgesetz entwickelte sich ein weiteres „Verfassungsgespräch“ mit z. T. prominenter Besetzung. So hatte vorweg der Schweizer W. Kägi 1945 das Stichwort von der Verfassung „als rechtlicher Grundordnung des Staates“ formuliert. Damit hatte er eine Richtung angedeutet, die später kräftig ausgezogen wurde: Zitiert sei H. Ehmke (Verfassung als „Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses“) und K. Hesse („Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“). M. E. ist ein gemischtes Verfassungsverständnis erforderlich, in das die verschiedenen Funktionen differenziert eingebracht werden. Verfassung ist z. B. bei den Staatszielen und der Gewaltenteilung „Anregung und Schranke“ (R. Smend), sie ist auch „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), z. B. beim Rechtsstaatsprinzip und der Fixierung anderer Grundwerte. Sie hat ganz bestimmte Funktionen: Sie beschränkt und kontrolliert nicht nur Macht (etwa durch die dritte Gewalt), sie fundiert und legitimiert sie auch (durch Wahlen). Sie konstituiert Verfahren zur Konfliktaustragung (etwa im Parlament), sie organisiert Kompetenzen und Institutionen zur Festlegung und Konkretisierung von bestimmten Aufgaben (entlang den drei Staatsfunktionen). Sie etabliert den (welt)offenen Staat als „kooperativen Verfassungsstaat“ (Art. 24 GG, Art. 11 Verf. Italien, Art. 49 bis Verf. Luxemburg) sowie die „verfaßte Gesellschaft“ z. B. bei der „Drittwirkung“ der Grundrechte gegen Private, beim Sozialstaat, und sie schafft Identifizierungsmöglichkeiten für Bürger und Gruppen bei der Verpflichtung auf Gesetz und Recht bzw. bei der Nationalhymne und den Staatsfarben (emotionale bzw. rationale Konsensquellen). Im Kulturverfassungsrecht (z. B.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

über die Erziehungsziele in den Schulen) gibt sie auch Werte vor, die die offene Gesellschaft kulturell grundieren (etwa Toleranz, Achtung der Würde der Mitmenschen, Wahrheitsliebe, demokratische Gesinnung, Umweltbewusstsein). In der Zeitachse gesehen ist Verfassung (auch) öffentlicher Prozess, so wie wir im Heute eine „republikanische Bereichstrias“ unterscheiden dürfen: den Bereich des Staatlich-Organisatorischen (der Staatsorgane, z. B. Öffentliche Hearings), des GesellschaftlichÖffentlichen (etwa der Gewerkschaften, Kirchen, Medien) und den des Höchstpersönlich-Privaten (z. B. Gewissensfreiheit). Öffentlichkeit ist ein „Quellgebiet der Demokratie“ (M. Walser), auch wenn wir seit Hegel wissen, dass in der öffentlichen Meinung „alles Wahre und Falsche“ zugleich ist. Vor allem aber ist Verfassung Kultur – dazu sogleich. Zweiter Teil

„Kultur“ I. Stichworte zur Sache Kultur Stichworte zur „Sache Kultur“ müssen mit Cicero beginnen. Im Folgenden können nicht alle begriffsgeschichtlichen Wirkungen dieses großen Anfangs verfolgt werden, dies wäre ein eigenes Thema. Doch seien Werke wie die des Schweizer J. Burckhardt „Kultur der Renaissance“ (1919) ebenso in Erinnerung gerufen wie die Kultursoziologie eines A. Gehlen („Zurück zur Kultur“). Es gibt viele Klassikertexte zum Kulturbegriff, wohl in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Und erinnert sei auch an den offenen Streit, ob etwa die Mathematik Natur- oder Kulturwissenschaft sei. In Deutschland verläuft eine Linie des Denkens über Kultur zu Max Weber. Speziell in der deutschen Staatsrechtslehre wird man in der Weimarer Klassik dank ihrer „Riesen“, hier R. Smend und H. Heller (1934), fündig. Stichworte von jenem: „Grundrechte als Kultursystem“ (1928). H. Heller verdanken wir die These von der Staatslehre als Kulturwissenschaft. Erst Ende der 70er Jahre und verstärkt in den 80er Jahren wurde an diese Vorarbeiten angeknüpft (mein Buch von 1982: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft). Heute ist der Kulturbegriff fast abundant: er wird für nahezu alles verwendet („Esskultur“, „Kultur der Wirtschaft“, Boxsport als „Kultur“, sogar – negativ „Kultur des Todes“ i. S. von Papst Johannes Paul II.). Kultur gerät zum Mode- und Allerweltsbegriff und droht wissenschaftlich unergiebig zu werden. Dem kann nur eine gerade dem Juristen mögliche Strukturierung und Präzisierung abhelfen.

II. Erste Annäherung Eine erste grobe Annäherung kann von den Gegenbegriffen her gelingen. Kultur steht gegen „Natur“. Diese ist „Schöpfung“ bzw. Ergebnis der Evolution. Kultur ist

IX. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln

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das vom Menschen Geschaffene, sit venia verbo: eine „zweite Schöpfung“. Dabei gibt es freilich Grenzprobleme: So steht der Jurist des Kulturgüterschutzes etwa vor der Frage, ob religiös „besetzt“ gedachte Naturstücke wie Bäume deshalb Kultur sind, weil bestimmte sog. Naturvölker ihre religiösen Vorstellungen damit verbinden („Baumgeister“)? M. E. ist die Frage zu bejahen, so wie wir ja auch von „Naturdenkmälern“ sprechen (vgl. Art. 40 Abs. 4 S. 3 Verf. Brandenburg von 1992). Am grundsätzlichen Unterschied von Natur und Kultur sollte man indes festhalten, auch wenn wir Goethes wunderbares Dictum vor Augen haben: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden …“. Der Typus Verfassungsstaat bzw. die an und in ihm arbeitende Wissenschaft kann auf dem Hintergrund des sog. „offenen Kulturkonzepts“ einige Handreichungen liefern, teils sogar dank positiver Verfassungstexte. So bietet sich die Unterscheidung in „Hochkultur“ i. S. des „Wahren, Guten und Schönen“ der antiken Tradition, des italienischen Humanismus und des deutschen Idealismus an, es findet sich z. B. in manchen Erziehungszielen deutscher Länderverfassungen (vgl. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern von 1946). Die „Volkskultur“, in den Entwicklungsländern als „Eingeborenen-Kultur“ bewahrt (vgl. Art. 66 Verf. Guatemala von 1985), ist eine zweite Kategorie. Der Verfassungsstaat achtet sie nicht gering und er tut gut daran: Demokratie lebt auch aus dieser Art von Kultur, man denke an den Föderalismus bzw. Regionalismus, der das Kleine, die Heimat vor Ort schützt. Alternativ- bzw. Subkulturen sind eine dritte Kategorie. Sie können sogar ein Nährboden für Hochkultur sein: Die Beatles sind heute klassisch geworden. „Gegenkulturen“ etwa der frühen Arbeiterbewegung, der heutigen Arbeitslosen wären zu nennen. Die Öffnung des Begriffs „Kunst“ im Rahmen der Freiheit der Kunst (Stichwort „offener Kunstbegriff“) zeigt, dass gerade auch Alternativkultur ihre Chance haben muss – bis zur Grenze der Pornographie. In einer „Verfassung des Pluralismus“ ist das offene, pluralistische Kulturkonzept nur konsequent. Der Jurist hat sich oft genug mit Definitionen „blamiert“, nicht nur im Strafrecht, wenn er voreilig, neuen Werken das Prädikat „Kunst“ oder „Kultur“ absprach (Beispiel: das Bild „Christus mit der Gasmaske“). Nach dem Bisherigen erweist sich die These von der „Verfassung als Kultur“ konsequent. Nicht nach Verfassung und Kultur wird gefragt, vielmehr nach Verfassung als Kultur. Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives Regel-Werk, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament neuer Hoffnungen. Lebende Verfassungen sind ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft, sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen „kulturellen“ Informationen, Erfahrungen, Erlebnissen, ja auch Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Sie ist am

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Die entwicklungsgeschichtlichen Etappen des „Typus Verfassungsstaat“, das immer neue Facetten ins Spiel bringende Leben ihrer als Verfassungstexte im weiteren Sinne verstandenen Klassikertexte von Aristoteles bis H. Jonas, die oft wörtlich zu Verfassungstexten im engeren Sinne „geronnen“ sind (etwa Montesquieus Gewaltenteilung), aber auch ihre „Gegenklassiker“ provozieren, etwa B. Brechts Frage: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“, das Ringen um ein relativ „richtiges“ Verfassungsverständnis, schließlich die Freilegung von allgemeinem und speziellem Kulturverfassungsrecht, all diese Elemente zeigen in Verbindung mit der zugleich komparatistischen und kulturwissenschaftlichen Öffnung der Verfassungslehre: Verfassung ist Kultur, mit vielen Schichten und Differenzierungen. In sie gehen kulturelle Erfahrungen der Völker ein, von ihrem Boden aus werden kulturelle Hoffnungen bis hin zu „konkreten Utopien“ wie im Fall der deutschen Wiedervereinigung genährt. Das einzelne Verfassungsprinzip lebt aus den Tiefenschichten des kulturellen Kontextes, etwa das (unterschiedliche) Verständnis des Regionalismus, der jetzt in Großbritannien seinen Durchbruch erlebt (Schottland, Wales, Nordirland) oder des Föderalismus (als „Kulturföderalismus“ wie in Deutschland). Auch und gerade das sich konstitutionell in Form bringende Europa grundiert sich letztlich aus den gewachsenen Elementen seiner Rechtskultur wie Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Religionsfreiheit, Partikularität und Universalität der Europäischen Rechtskultur. Europas Identität erschließt sich aus dem kulturwissenschaftlichen Ansatz; die in den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) sowie Nizza (2000) geschützte nationale Identität der Mitgliedstaaten ist Ausdruck von Europas Pluralität, die ihrerseits letztlich und erstlich eine kulturelle ist. Das gilt auch für die vorläufig gescheiterte EUVerfassung von 2004. (Sie sprach in ihrer Präambel nur vom „religiösen Erbe Europas“.) Ein Wort zur sog. „Leitkultur“. Diesen Begriff halte ich für fragwürdig, obwohl er prominente Befürworter hat. Wenn man mit ihm arbeitet, dann allenfalls in Gestalt der Aussage, dass unser bald 60-jähriges Grundgesetz „Leitkultur“ ist. Die Verfassung als Leitkultur oder der Begriff „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger / J. Habermas) oder besser „Verfassungsmaternalismus“ – das könnte die treffende Formel sein. Damit könnten sich auch religiöse und kulturelle Minderheiten in Deutschland anfreunden. Wir müssen ihnen gegenüber auf den Grundwerten unserer in 60 Jahren so geglückten Verfassung bestehen.

IX. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln

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Dritter Teil

Gottesklauseln Konstitutionelle Gottesklauseln sind ein Thema, bei dem sich methodisch wie inhaltlich Theologie, vergleichende Religionswissenschaft und die vergleichende Verfassungslehre dank Textstufenarbeit begegnen könnten. Aktuell bleibt der Streit im Vorfeld des EU-Verfassungsvertrages von 2004, ob ein Gottesbezug vorweg normiert werden sollte. Der glücklose französische Staatspräsident J. Chirac setzte sich auf dem Hintergrund der traditionsreichen Trennungsideologie Frankreichs leider durch. Dem Wunsch auch von Papst Johannes Paul II. nach einem Gottesbezug wurde nicht entsprochen. Würde sein Nachfolger N. Sarkozy mit seinem Begriff der „positiven Laizität“ heute anderes tun?

I. Vergleichende Bestandsaufnahme Zunächst eine vergleichende Bestandsaufnahme. Unser GG von 1949 sagt in seiner normative Kraft entfaltenden Präambel gleich eingangs (als „nominatio dei“). „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Noch prägnanter formuliert die Präambel der Verfassung des Freistaates Bayern vom Dezember 1946: „Angesichts des Trümmelfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen … die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat“. Demgegenüber verzichtet die Verfassung Hessen, fast gleichzeitig ergangen, auf einen derartigen Gottesbezug. In den Verfassungen der neuen deutschen Bundesländer arbeiten zwei der fünf Länder mit Gottesbezügen (Thüringen und Sachsen-Anhalt) – angesichts der Rolle der Kirchen beim Volksaufstand in der Noch-DDR erstaunlich, angesicht der Betondecke des 40 Jahre dauernden atheistischen SED-Sozialismus erklärlich. Als Merkposten sei erwähnt, dass Gottesklauseln in manchen deutschen Verfassungen im Kontext von Eides-Klauseln auftauchen („so wahr mir Gott helfe“) oder in manchen Erziehungszielen (Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern), schließlich bei Feiertagsgarantien (Art. 25 Abs. 1 Verf. NordrheinWestfalen von 1950: „Tage der Gottesverehrung“). Halten wir kurze verfassungsvergleichende Umschau. Hier fällt auf, dass die Schweiz auf der Ebene ihrer totalrevierten Kantonsverfassungen und ihrer neuen BV von 1999 den intensivsten Gottesbezug wagt, die sog. invocatio dei: „Im Namen Gottes …“. Blicken wir nach Übersee, so hat etwa die Verfassung Südafrikas von 1996 eine Gottesklausel, zuvor die Philippinen (1986), in Osteuropa nach 1989 werden wir in Polen (1997), der Ukraine (1996) und Albanien (1998) fündig. Aus Respekt vor der arabischen Welt jetzt ein Blick auf islamische Staaten. Die Verfassung Bahrains von 1973 sagt vorweg: „Im Namen Allahs des Erbarmers und des Barmherzigen und des Allerhöchsten, mit seinem Segen und dem Erfolg den er verleiht …“. Die Verfassung Djiboutis von 1992 beginnt in der Präambel mit den

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Worten: „Im Namen Allahs, des Erhabenen“. Ähnlich sagt die Verf. von Mauretanien (1991): „Im Namen Allahs, des Erbarmers und Barmherzigen“. Das Motto des Königreichs Marokko (1972) lautet: „GOD, COUNTRY, KING“. Der Sudan (1998) wagt eine Invocatio Dei. Eine solche findet sich jüngst in den Verfassungen Afghanistans (2004) und des Irak (2005).

II. Verfassungstheoretische Überlegungen Legitimation und Interpretation von „Gottesklauseln“ in verfassungsstaatlichen Verfassungen lassen sich nur im kulturwissenschaftlichen Ansatz bewältigen. Es hängt jeweils von der individuellen Kulturgeschichte eines Volkes ab, ob und wie es in seinen positiven Verfassungstexten auf Gott Bezug nimmt. Die Verfassungslehre als Wissenschaft vom Typus „Verfassungsstaat“ kann schwerlich allgemein sagen, welches Gottes-Verständnis das „richtige“, d. h. jeweils verfassungskonform ist, wohl aber muss sie im Blick auf die „Essentialia“ ihres Typus, nämlich Grundsätze wie Verfassungsstaat als „Heimstatt aller Bürger“ (BVerfGE 19, 206 (216), Verfassung als „Verfassung des Pluralismus“ und der „Offenheit“, individuelle und korporative Religionsfreiheit (BVerfGE 24, 236 (246 f.); 30, 112 (120); 70, 138 (160 f.)), einschließlich der dem Verfassungsstaat möglichen Modelle von „Staatskirchenrecht“ (besser: „Religionsrecht der verfassten Gesellschaft“ bzw. „Religionsverfassungsrecht“), bestimmte Direktiven aufstellen: Will der Verfassungstypus als solcher seine Identität nicht verlieren, dürfen über Gottes-Klauseln, welcher Art auch immer, nicht bestimmte Inhalte und Zwänge ins Spiel kommen, die der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe gerade überwunden hat: indem er die offene Gesellschaft konstituiert und „Toleranz“ garantiert. Das schließt über GottesKlauseln grundierte Kulturgehalte und -traditionen nicht aus. (Stichwort ist die Formel des BVerfG vom „Christentum als Kulturfaktor“). Doch dürfen sie keine Wege öffnen für erklärte oder versteckte „Restaurationen“ von Varianten des „christlichen Staates“, von „Staatsreligionen“, von Staatskirchentum („Thron und Alter“, „Gottesgnadentum“) etc. Dass im Rahmen der Verfassung des Pluralismus nach wie vor mehrere Modelle von „Staatskirchenrecht“, besser von freiheitlichem „Religionsverfassungsrecht“ Platz haben können (bis hin zur Kooperation wie bei uns), sei eigens in Erinnerung gerufen. Ein letztes Wort zu dem Problem, welche „konkrete“ Gottesvorstellung eine bestimmte Verfassung wie das GG meint und wie sie interpretativ zu erschließen ist. M. E. ist hier mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz ernst zu machen. Die Verfassungsinterpretation hat zu erarbeiten, ob Gottesvorstellungen einer, zweier oder aller drei monotheistischen Weltreligionen gemeint sind (Judentum, Christentum, Islam) und ob auch anderen „Gottes-Verständnissen“ Raum zu geben ist. Mag herkömmlich in Deutschland das christliche „Gottesbild“ das kulturell zunächst gemeinte sein: In dem Maße, wie sich Deutschland dank der Zuwanderung z. B. von Moslems in eine „multikulturelle Gesellschaft“ zu wandeln beginnt, wird sich das christ-

IX. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln

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liche Gottesverständnis des historischen Verfassunggebers von 1949 einer Vielfalt zu öffnen haben. Der Verfassunggeber wollte nicht sein Gottesbild festschreiben und z. B. gegen veränderte Sichtweise der Theologien immunisieren. Freilich hat diese „Offenheit“ des Gottesverständnisses ihre Grenzen: Eine „Theologie ohne Gott“ kann die Gottesklauseln der Verfassungen (auch kulturell) zu Leerformeln degradieren und den Verfassungstext ad absurdum führen. Die Verfassungskultur des GG bezieht sich in ihren Gottestexten auch nicht auf passiven oder aggressiven (Staats-)Atheismus, wohl aber lässt die „Verfassung des Pluralismus“ Raum für negative Religionsfreiheit und damit auch für Atheismus als Form individueller oder korporativer Grundrechtsbetätigung. Ob der Verantwortungsformel in verfassungsstaatlichen Präambeln wie denen des GG oder der Schweizer Tradition seit dem Bundesbrief von 1291 im Ganzen ein übergreifendes „Staatsprinzip Verantwortung“ zu entnehmen ist, bleibe hier offen.

III. Folgerungen Was folgt aus all dem? Der Verfassungsstaat braucht nicht notwendig Gottesbezüge, doch er kennt sie z. B. in den Erziehungszielen Bayerns oder Brandenburgs (Art. 28 Verf. von 1992: „Glauben“). Man sollte sie m. E. aus kulturwissenschaftlicher Sicht grundsätzlich begrüßen und kann sie auch in ein europäisches Verfassungswerk nach „Lissabon“ einbauen. Freilich ist der Gottesbezug offen zu halten: für die drei monotheistischen Weltreligionen. Vorbildlich ist insoweit die Präambel der Verfassung Polens von 1997: „beschließen wir, das Volk Polens – sämtliche Staatsbürger der Republik, ebenso diejenigen, die an Gott glauben, welcher die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen ist, wie auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten …“ (ähnlich Verf. Albanien). Mit dieser Alternativ-Klausel können sich alle Bürger pluralistischer Demokratien anfreunden. Sie entfaltet integrierende Kraft und könnte Vorbild für Europa sein. Polen ist ein vortreffliches Beispiel für eine (alternative) Gottesklausel in einer Zivilgesellschaft geglückt. Das deutsche Religionsverfassungsrecht ist bereit, Erkenntnisse der vergleichenden Religionswissenschaft aufzugreifen: etwa die Transzendenz und Innerlichkeit, freilich auch Pervertierungen von religiösem Fundamentalismus von den christlichen Kreuzzügen bis zu den islamischen Selbstmordattentätern beim Namen nennen. Vermutlich bleibt die Toleranzidee i. S. Lessings (Nathan der Weise) die übergreifende Erkenntnis. Religiöse Freiheit und ihre Ausübung ist ein kulturanthropologisches Bedürfnis der Menschen. Sie hat aber auch ihre Grenzen. Goethes wunderbares Wort bleibt eine gültige Maxime: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion, wer diese beiden nicht hat, habe Religion“.

X. Die Aufgaben der Judikative – in wessen Namen?* I. Zueignung Dieses Geburtstagsblatt gilt einem italienischen Staatsrechtslehrer, dem Doppeltes gelang: einen jungen Klassikertext als Wissenschaftler zu schaffen (Diritto mite, 1992) und als Präsident der Corte in Rom nachhaltig zu wirken. Das Buch aus dem Jahr 1992 erlangte große Ausstrahlung weit über Italien hinaus (vgl. die vielen Übersetzungen, s. auch meine Besprechung in AöR 121 (1996), S. 309 ff.). G. Zagrebelsky wurde als international berühmte Juristenpersönlichkeit zu vielen Gastvorträgen im Ausland eingeladen, etwa nach Mexiko-City und Granada; in beiden Universitätsstädten war auch der Verfasser dieses Blattes dabei. Gemeinsam gestaltet wurde auch ein Seminar in Turin und in der Villa Vigoni in den 90er Jahren. Dort kam es sogar zum gemeinsamen Vierhändig-Spiel am Klavier. „Divino Mozart“ war ein verbindender Zauberspruch. Die folgende Skizze ist dem Richter G.Z. gewidmet. Seine Wissenschaft geht von ihm selbst aus und sie geht bis heute in die internationale Wissenschaftlergemeinschaft hinaus und hinein. Doch von wem geht die Judikative aus, was ist ihr Auftrag?

II. Problemaufriss Die folgende Skizze arbeitet im Sinne der vom Verf. 1989 begründeten Textstufenanalyse. Sie sucht, kontextsensibel, die Entwicklungen der Verfassungstexte des Typus Verfassungsstaat in tendenziell weltweitem Vergleich zur Sprache zu bringen, da die Textgeber heute in universalen Prozessen der Produktion und Rezeption von Texten, Theorien und Praxis zusammenarbeiten, wobei viele Wanderungsbewegungen der positiven Texte, der Klassikertexte und der Judikate zu beobachten sind (eine „Trias“). So übernimmt ein jüngerer Verfassunggeber oft die Entwicklungen (die Verfassungswirklichkeit) in älteren Verfassungsstaaten und bringt sie in seinem Land „neu“ auf Texte und Begriffe. Es kommt zu wechselseitigen Lernprozessen bei Verfassungsthemen und subtilen osmotischen Vorgängen. Auch das Völkerrecht und seine Teilverfassungen sind einbezogen, etwa die Menschenrechtspakte der UN, die Konventionen in Sachen Behindertenschutz und Kinderrechte1.

* Italienische Erstveröffentlichung in: FS Zagrebelsky (Turin), 2015 i. E. 1 Zum Ganzen: P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat aus Kultur und als Kultur, Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, passim, bes. S. 707 ff.

X. Die Aufgaben der Judikative – in wessen Namen?

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Auffällig ist, dass die Aufgaben der dritten Gewalt meist nur mit Bindungsklauseln umschrieben werden: „Bindung an Gesetz und Recht“ (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG (1949)2; s. auch Art. 145 Verf. Albanien (1998): „nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen“; § 146 Verf. Estland (1992); Art. 57 Verf. Elfenbeinküste (1960 / 95): „nur der Autorität des Gesetzes unterworfen“) oder sogar nur an das Gesetz (z. B. Art. 76 Abs. 1 Satz 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993)). Mitunter finden sich, vor allem bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, bloße Kompetenzkataloge (z. B. Art. 223 Verf. Portugal (1976)). Häufig ist auch die Figur der invocatio populi („im Namen des Volkes“)3, (vgl. Art. 118 Verf. Bulgarien (1991)). All dies überrascht, weil weltweit eine starke Aufwertung und große Expansion mit entsprechendem Aufgabenzuwachs gerade der dritten Gewalt zu beobachten ist („Richterrecht“), so dass schon seit Jahrzehnten in Österreich und Deutschland immer wieder von „Richterstaat“ die Rede ist. Auch fällt auf, dass die invocatio populi nicht weiter in Frage gestellt wird, aber auch keine spezifischen Inhalte vermittelt. Geht die richterliche Gewalt z. B. der Menschenwürde, bei den Menschenrechten sowie der Gerechtigkeit als vorstaatlichen Prinzipien wie alle anderen Gewalten „restlos“ vom Volke aus? Gibt es doch den Klassikertext von D. Sternberger, wonach nicht alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (B. Brecht fragte weiter: „aber wo geht sie hin“). Sollte man nicht auch die Judikative von den Bürgern ausgehen lassen, so wie eine Verfassung schon in ihrer Präambel sagt: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben“ (so die Verf. Brandenburg von 1992, die damit den in Deutschland so beliebten präkonstitutionellen Staatsbegriff mit einem einzigen Satz eliminiert).

III. Innovative Verfassungstexte in Deutschland, Europa und in Übersee In Deutschland gibt es nur sehr wenig geltende Verfassungstexte, die Neues wagen. Soweit ersichtlich in der grundsätzlichen Literatur kaum beachtet, sagt Art. 127 Abs. 2 Verf. Hessen (1946): „Auf Lebenszeit berufen werden Richter erst dann, wenn sie nach vorläufiger Anstellung in einer vom Gesetz zu bestimmenden Bewährungszeit nach ihrer Persönlichkeit und ihrer richterlichen Tätigkeit die Gewähr dafür bieten, dass sie ihr Amt im Geiste der Demokratie und des sozialen Verständnisses ausüben werden“.

Diese „Geistklausel“ kann gar nicht überschätzt werden, sie harrt der wissenschaftlichen Aufbereitung und sollte mit anderen Geistklauseln in älteren und neueren Verfassungen (Montesquieu!) verglichen werden. 2 Mit zu lesen sind: Art. 92: Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut, sowie Art. 97 Abs. 1: Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. 3 Dazu pionierhaft vor allem für die französische und deutsche Verfassungsgeschichte M. Stolleis, Im Namen des Gesetzes, 2004; s. auch schon J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 23 ff.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Nicht weniger innovativ und vorbildlich ist die Verfassung Bremen (1947). In ihrem Abschnitt „Rechtspflege“ bestimmt sie in Art. 134: „Die Rechtspflege ist nach Reichs- und Landesrecht im Geiste der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit auszuüben“.

Ihr Art. 136 Abs. 2 lautet kongenial: „Die rechtsgelehrten Richter werden auf Lebenszeit berufen, wenn sie nach ihrer Persönlichkeit und ihrer bisherigen juristischen Tätigkeit die Gewähr dafür bieten, dass sie ihr Amt im Geiste der Menschenrechte, wie sie in der Verfassung niedergelegt sind, und der sozialen Gerechtigkeit ausüben werden“.

Ein Blick nach Westeuropa. Die Verfassung Italiens (1947) sagt lapidar (Art. 101): „Die Justiz wird im Namen des Volkes ausgeübt. Die Richter unterstehen allein dem Gesetz“.

Dieser Passus ist ebenso lapidar wie karg. Die materielle Rechtsprechungsfunktion wird hier wie in so vielen anderen Verfassungen vom Verfassunggeber einfach vorausgesetzt und damit der Verfassungsgeschichte und den Entwicklungen der Verfassungswirklichkeit aus Praxis und Literatur überlassen. Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg (1868 / 1999) formuliert ganz im Sinne einer konstitutionellen Monarchie in Art. 49: „Das Recht wird im Namen des Großherzogs von den Gerichten gesprochen. Die Urteile werden im Namen des Großherzogs vollstreckt“.

Österreich sagt in seinem B-VerfG (1920) zum Teil traditionell (Art. 82): „(1) Alle Gerichtsbarkeit geht vom Bund aus. (2) Die Urteile und Erkenntnisse werden im Namen der Republik verkündet und ausgefertigt“.

Fast kühn erscheint die Aufwertung der Republik in dieser Namensklausel. Wäre dies in Deutschland und Italien denkbar? Ganz neue Wege geht Art. 202 Verf. Portugal (1976 / 1997): „(1) Die Gerichte sind diejenigen Hoheitsorgane, die befugt sind, im Namen des Volkes Recht zu sprechen. (2) Bei der Rechtsprechung haben die Gerichte die Wahrung der gesetzlich geschützten Rechte und Interessen der Bürger zu gewährleisten, die Verletzung der demokratischen Legalität zu ahnden und Konflikte öffentlicher und privater Interessen zu lösen“.

Diese Textstufe verdient auch wegen des Hinweises auf die demokratische Legalität, den Schutz der Rechte und Interessen der Bürger und die Aufgabe der Gerichte, Konflikte öffentlicher und privater Interessen zu lösen, viel Aufmerksamkeit. Sie kommt der gewachsenen Verfassungswirklichkeit der Judikative im heutigen Verfassungsstaat denkbar nahe und kann über Portugal hinaus Aufmerksamkeit be-

X. Die Aufgaben der Judikative – in wessen Namen?

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anspruchen. Eher traditionell bleibt die Verfassung Spaniens (1978), indem sie den Kompromiss zwischen Volkssouveränität und Monarchie widerspiegelt. Art. 117 Abs. 1 lautet: „Die Rechtsprechung geht vom Volke aus und wird im Namen des Königs von Richtern ausgeübt, die die rechtsprechende Gewalt bilden; sie sind unabhängig, unabsetzbar, verantwortlich und allein dem Gesetz unterworfen“.

Im Folgenden ein Blick nach Osteuropa. Die dortigen Verfassungstexte bleiben in unseren Fragen (d. h. der Bindungs- bzw. Aufgabenklausel sowie der invocatio) oft recht blass (z. B. Art. 115 Verf. Kroatien (1990), Art. 100 Verf. Montenegro (1992), Art. 138 Verf. Slowenien (1991)). Immerhin ringt Verf. Bulgarien (1991) um eine neue Textstufe. Im Kontext von Art. 118 (im Namen des Volkes) bestimmt Art. 117 Abs. 1: „Die Justiz schützt die Rechte und die gesetzlich geschützten Interessen der Bürger, der juristischen Personen und des Staates“.

Art. 146 Abs. 1 Verf. Albanien (1998) sagt schlicht: „Die Gerichte erlassen ihre Urteile im Namen der Republik“ (ähnlich Art. 81 Verf. Tschechische Republik, 1992). Art. 82 Abs. 4 Verf. Georgien (1995) bestimmt: „Die Gerichte verkünden ihre Urteile im Namen von Georgien“ (ähnlich Art. 109 Abs. 4 Verf. Litauen (1992); Art. 124 Abs. 5 Verf. Ukraine (1996), Art. 174 Verf. Polen (1997)). Man darf von einer auf den Nationalstaat bezogenen invocatio sprechen. Die Nation rückt an die Stelle des Volkes bzw. Gottes („invocatio dei“). Könnte man sich für Deutschland eine solche Bezugnahme auf die Nation vorstellen: „im Namen Deutschlands“ oder „im Namen der Bundesrepublik Deutschland“? Bemerkenswert ist Art. 114 Verf. Moldau (1994): „Die Rechtspflege wird im Namen des Gesetzes ausschließlich von den Gerichten ausgeübt“. Übereinstimmend geht Art. 123 Verf. Rumänien (1991) vor. Die invocatio legis indiziert die Hochschätzung des Gesetzes, wie sie heute im Zeichen des „Vorrangs der Verfassung“ wohl eher der Verfassung zukommt. Die Textvariante „im Namen der Verfassung“ wäre heute im Verfassungsstaat durchaus angemessen. M. E. sollte sie erwogen werden (invocatio constitutionis). Art. 102 Verf. Kosovo (2006) geht eigene Wege. Er lautet: „1. Judicial power in the Republic of Kosovo is exercised by the courts. 2. The judicial power is unique, independent, fair, apolitical and impartial and ensures equal access to the courts. 3. Courts shall adjudicate based on the Constitution and the law.“

So geglückt diese Textstufe erscheint, so misslungen ist Art. 28 S. 2 der Verf. Ungarn (2012). Er lautet: „Die Gerichte legen den Text der Rechtsnormen in ihrer Rechtsanwendung in erster Linie im Einklang mit deren Ziel und mit dem Grundgesetz aus. Bei der Auslegung des Grundgesetzes und der Rechtsnormen soll angenommen werden, dass diese einem dem Menschenverstand und dem Gemeinwohl entsprechenden moralischen und wirtschaftlichen Ziel dienen.“

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Die Verwendung des wohl populistischen Begriffs „Menschenverstand“ sowie der Gemeinwohlklausel an dieser Stelle ist ebenso fragwürdig wie die Bezugnahme auf die Moral und das wirtschaftliche Ziel. Afrikanische Verfassungen wagen erstaunlich viel Neues. Hier einige Beispiele: Die alte Verfassung von Angola (1992) normiert in Art. 121 Abs. 1: „Die Gerichte garantieren und gewährleisten die Einhaltung des Verfassungsgesetzes, der Gesetze und der sonstigen geltenden rechtlichen Bestimmungen, den Schutz der Rechte und legitimen Interessen der Bürger und der Institutionen und entscheiden über die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten“.

Die neue Verf. Angolas (2010) normiert allgemeine Grundsätze zur Rechtsprechung. Art. 174 lautet: „1. Die Gerichte sind Hoheitsorgane, die befugt sind, im Namen des Volkes Recht zu sprechen. 2. Bei der Ausübung der Rechtsprechung haben die Gerichte öffentliche oder private Interessenkonflikte zu entschärfen, die Verteidigung der gesetzlich geschützten Rechte zu gewährleisten und Verletzungen der demokratischen Rechtsordnung abzuwehren. 3. Alle öffentlichen und privaten Körperschaften sind zur Zusammenarbeit mit den Gerichten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet und müssen im Rahmen ihrer Befugnisse die von den Gerichten angeordneten Handlungen ausführen.“

Die Verfassung der Republik Guinea-Bissau (1984 / 93) bestimmt in Art. 123 Abs. 1: „Der Richter übt sein Amt in uneingeschränkter Treue zu den Grundprinzipien und -zielen dieser Verfassung aus“.

Dieser ganzheitliche Ansatz verdient Beifall. Er ist im deutschen Grundgesetz Verfassungspraxis. Die Verf. der Republik Mali (1992) sagt in ihrem Teil VII „Die judikative Gewalt“ in Art. 81 Abs. 1: „Die judikative Gewalt ist die Hüterin der Freiheiten, die durch diese Verfassung bestimmt sind“ (ähnlich Abs. 3). Die Verf. von Mosambik (1990) engagiert sich in Sachen der Aufgaben der Gerichte besonders intensiv. Art. 161 lautet: „1. Die Gerichte haben zur Aufgabe, die Gesetzlichkeit als Mittel zur rechtlichen Stabilität zu garantieren und zu stärken, die Achtung der Gesetze zu garantieren und die Rechte und Freiheiten der Bürger sowie die rechtlichen Interessen der verschiedenen verfassungsmäßigen Organe und Einrichtungen zu gewährleisten. 2. Die Gerichte erziehen die Bürger zur freiwilligen und bewussten Einhaltung der Gesetze, die ein dem Recht gemäßes und harmonisches gesellschaftliches Zusammenleben fördern.“

Dieser wohl zu weit gehende Erziehungsauftrag in Abs. 2 seitens der Gerichte ist vielleicht weltweit ein Unikat und sollte m. E. von anderen Verfassungsstaaten nicht rezipiert werden. Abs. 1 ist geglückt.

X. Die Aufgaben der Judikative – in wessen Namen?

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Art. 97 Verf. Niger (1996) lautet: „Recht wird auf dem Staatsgebiet im Namen des Volkes und unter strikter Beachtung der Rechtsnormen sowie der Rechte und Freiheiten jedes Bürgers gesprochen“.

Die Verfassung der demokratischen Republik São Tomé und Príncipe (1990) enthält in Art. 103 Abs. 1 eine invocatio populi (wie so manche andere afrikanische Verfassungen, z. B. Art. 112 Verf. Togo von 1992, Art. 97 Verf. Madagaskar von 1995, Art. 119 Verf. Guinea-Bissau von 1984 / 93). Ihr Abs. 2 lautet: „Bei der Rechtsprechung haben die Gerichte die Verteidigung der Rechte und gesetzlich geschützten Interessen der Bürger zu gewährleisten, Konflikte öffentlicher und privater Interessen beizulegen und die Verletzung der Gesetze zu ahnden“.

Diese Textstufe verdient Zustimmung. Der Verfassung der IV. Republik Togo (1992) gelingt der lapidare Satz (Art. 113): „Die judikative Gewalt ist Garant der individuellen Freiheiten und der Grundrechte der Bürger.“

Art. 126 Abs. 1 Verf. Uganda (1995) geht zum Teil eigene Wege: „Judicial power is derived from the people and shall be exercised by the courts established under this Constitution in the name of the people and in conformity with law and with the values, norms and aspirations of the people.“

Der Hinweis auf die „aspirations“ an dieser Stelle mag kühn erscheinen, gedacht ist wohl an konkrete Utopien. Doch sollten sie in der materiellen Rechtsprechungsfunktion kaum wirksam sein. Es ist eher Sache des politischen Prozesses, Hoffnungen des Volkes umzusetzen. Einzigartig ist die Regelung in Art. 159 Verf. Kenia (2010), weil sie mit einem Prinzipienkatalog arbeitet, der Schule machen sollte. Er lautet: „159. (1) Judicial authority is derived from the people and vests in, and shall be exercised by, the courts and tribunals established by or under this Constitution. (2) In exercising judicial authority, the courts and tribunals shall be guided by the following principles (a) justice shall be done to all, irrespective of status; (b) justice shall not be delayed; (c) alternative forms of dispute resolution including reconciliation, mediation, arbitration and traditional dispute resolution mechanisms shall be promoted, subject to clause (3); (d) … (e) the purpose and principles of this Constitution shall be protected and promoted. (3) Traditional dispute resolution mechanisms shall not be used in a way that – (a) contravenes the Bill of Rights; (b) is repugnant to justice and morality or results in outcomes that are repugnant to justice or morality; or (c) is inconsistent with this Constitution or any written law.“

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Zuletzt ein Blick auf die neue Verfassung von Marokko (2011). Sie bleibt in denen vom alten Europa her bekannten Bahnen der konstitutionellen Monarchie. Art. 83 lautet: „Die Urteile werden im Namen des Königs verkündet und vollstreckt.“

Ausgerechnet Afrika ist in unserem Thema: die „Aufgaben der Judikative“ in der Textstufenentwicklung weiter und reicher als die meisten alten Verfassungsstaaten – eine wissenschaftliche Überraschung, die einmal mehr zeigt, wie wichtig der weltweite Austausch zwischen Texten, Theorien und Praxis in Sachen Verfassungsstaat ist und wie unsinnig beim Verfassungsvergleich das Denken in „Einbahnstraßen“ ist. Arabische Länder schaffen ebenfalls bemerkenswerte Klauseln. Die Verf. Algerien (1976 / 89) formuliert mehrere einschlägige Artikel, die Beachtung verdienen: Art. 130: „Die Judikative schützt die Gesellschaft und die Freiheiten. Sie garantiert allen und jedem die Wahrung der Grundrechte“. Art. 131: „Die Justiz beruht auf den Prinzipien der Legalität und der Egalität. Sie ist gleich für alle, zugänglich für alle und vollzieht ihre Tätigkeit unter Achtung des Rechts“.

Das Ganze ist eingerahmt von dem traditionellen Hinweis auf die Unabhängigkeit der judikativen Gewalt (Art. 129) und der invocatio populi („Recht wird im Namen des Volkes gesprochen“, Art. 132). Die alte Verf. der Komoren (1992) beginnt ihren Abschnitt über die judikative Gewalt mit einer islamischen invocatio dei. Art. 64 Abs. 2 lautet: „Die Rechtsprechung erfolgt auf der Gesamtheit des nationalen Territoriums im Namen Allahs, des Erbarmers und des Barmherzigen.“

Einzigartig ist der Prinzipienkatalog in Art. 66 Abs. 1, der u. a. Einheitlichkeit der Rechtsprechung, das unbedingte Verbot der Folter, die Unschuldsvermutung normiert. Abs. 2 verpflichtet die judikative Gewalt, „die der Bewahrer der individuellen Freiheit ist“, zur Sicherung der Beachtung dieser Prinzipien. An die Regelungen im 19. Jahrhundert in Deutschland erinnert Art. 53 der Verf. Kuweit (1962 / 80) mit dem Satz: „Die judikative Gewalt liegt bei den Gerichten, die sie im Namen des Emir und im Rahmen der Verfassung ausüben“.

Dieselbe Verfassung schafft eine Variante zur judikativen Gewalt. Ihr Art. 162 lautet: „Die Würde der Rechtsprechung sowie die Integrität und Unparteilichkeit der Richter sind die Grundlagen der Rechtsordnung und eine Garantie der Rechte und Freiheiten“.

Die alte Verfassung von Tunesien (1959 / 88) blieb noch in alten Bahnen. Art. 64 lautet: „Die Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen und im Namen des Präsidenten der Republik ausgeführt.“

X. Die Aufgaben der Judikative – in wessen Namen?

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Art. 65 bleibt ebenfalls traditionell in den Worten: „Die Richter sind unabhängig und bei der Ausübung ihres Amtes nur der Autorität des Gesetzes unterworfen.“

Die neue Verfassung Tunesiens (2014) sagt Folgendes: Art. 102 lautet: „The judicial authority is independent. It assures the administration of justice, the supremacy of the Constitution, the sovereignty of the law, and the protection of rights and freedoms. The judiciary is independent. It is subject only to the law in the exercise of its functions.“

Art. 103 fügt hinzu: „The judge must be competent, neutral, and of integrity. He / she is accountable for any shortcomings in his / her performance.“

Im Ganzen: Auch in den islamischen Ländern sind manche Verfassungen für unser Thema ergiebig. Sie formulieren Modellelemente für die Verfassungspolitik.

IV. Insbesondere: Europäische und Internationale Verfassungsgerichte Die beiden europäischen Verfassungsgerichte EuGH und EGMR judizieren traditionell, sie wagen keine Namensklausel4. Eine textliche Vorgabe aus dem Europäischen Verfassungsrecht gibt es offenbar nicht. M. E. sollte der zur Sicherung der „Wahrung des Rechts“ verpflichtete EuGH „im Namen der Unionsbürger“ judizieren – die Unionsbürgerschaft wird derzeit vom EuGH Schritt für Schritt aufgewertet –, der EGMR in Straßburg sollte dies „im Namen Europas“ wagen. Die Internationalen Verfassungsgerichte, etwa der IGH, die UN-Tribunale, der Internationale Strafgerichtshof und der Internationale Seegerichtshof in Hamburg sollten ebenfalls etwas Neues wagen. Nicht, wie sehr innovativ soeben in der Literatur vorgeschlagen: „Im Namen der Völker und der Bürger“5, sondern – vielleicht kühn – „Im Namen der Menschheit“. Dies läge in der Konsequenz eines Verständnisses des Völkerrechts als konstitutionelles Menschheitsrecht, wie dies der Verf. seit vielen Jahren progagiert6.

Dazu M. Stolleis, aaO., S. 33. So die wichtige Monographie von A. v. Bogdandy / I. Venzke, In wessen Namen, Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, dazu: R. Gröschner, JZ 2014, S. 673 ff.; s. auch den Sammelband von K. Günter und V. Reuß: Völkerstrafrechtspolitik, 2014. 6 Dazu M. Kotzur, Das Völkerrecht von der Menschheit her denken, in: A. Blankenagel (Hrsg.), Den Verfassungsstaat nachdenken, 2014, S. 43 ff. 4 5

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

V. Ausblick und Schluss Die Rechtsprechungswirklichkeit bzw. Gerichtspraxis hat die klassischen alten Textstufen, vor allem die bloße Bindungsformel längst überholt – soweit ersichtlich vermittelt die invocatio populi keinerlei juristische Inhalte, vielleicht ist sie nur noch von symbolischer Bedeutung. Die heutige Judikative erfüllt – prätorisch – in bestimmten Verfahren (zumal im Kontext von Konnexgarantien wie rechtliches Gehör, ne bis in idem oder Auslegungsregeln für eine „Bill of Rights“7) oft im Wege alter und neuer Interpretationsmethoden, vor allem der vergleichenden schöpferisch, sehr viele Aufgaben: den alltäglichen Schutz der Grund- und Menschenrechte („effektiver Rechtsschutz“), die Verwirklichung von Staatszielen (z. B. den sozialen Rechtsstaat, den Umweltschutz, den Kulturstaat), die Schaffung und Bewahrung von (Rechts-)Frieden, Teilaspekte der Gerechtigkeit wie die Rechtssicherheit, die Legalität, die Rechtsgleichheit und den Ausgleich öffentlicher und privater Interessen („Gemeinwohljudikatur“) sowie die Entwicklung „allgemeiner Rechtsgrundsätze“. Es wäre für viele Verfassungsstaaten hohe Zeit, ihre Texte zur dritten Gewalt ausdrücklich „nachzuführen“. Etwa im Blick auf das Vorbild Kenia. Vieles spricht auch dafür, für die Judikative die herkömmlich invocatio populi bei den einzelnen Nationen durch einen verfassungstextlichen Hinweis „im Namen der Bürgerinnen und Bürger“ zu ersetzen. Die vergleichende Verfassungslehre könnte sich hier an den als vorbildlich erkannten Textstufen orientieren und „wissenschaftliche Vorratspolitik“ leisten. In Sachen Sportgerichte und beim TTIP sollte man die Wesentlichkeitstheorie in Sachen Parlamentsvorbehalt auf die Beteiligten bzw. unabhängigen (staatlich legitimierten) Gerichte übertragen („wesentlich für die Grundrechte“). Der Jubilar G. Z. hat sicher dank seines großen Erfahrungsschatzes als Wissenschaftler und Verfassungsrichter seine eigenen Vorstellungen zu unserem Thema. Mit ihm ein „Werkstattgespräch“ führen zu dürfen, wäre von eigenem Reiz. Für welche invocatio der Judikative und für welche ihrer Aufgaben wird er sich entscheiden?

7 Vorbildlich Art. 39 Abs. 1 (b) und (c) Verf. Südafrika (1996): „(b) must consider international law; and (c) may consider foreign law“. Wegweisend auch Art. 39 Abs. 2: „… every court … must promote the spirit, purport, and objectives of the Bill of Rights“. Interpretationsregeln finden sich zunehmend auch sonst in neuen Verfassungen, vgl. etwa im Kontext einer grundrechtlichen Wesensgehaltgarantie in Art. 55 Verf. Kosovo (2008). Auffallend ist, dass gerade junge Verfassungsstaaten die Konstitutionalisierung von Interpretationsmethoden normieren. Dies geschieht vermutlich deshalb, weil sie oft nicht auf eine uralte Juristentradition zurückblicken können.

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen im Lichte des Textstufenparadigmas* Zueignung Dieses Geburtstagsblatt gilt einem italienischen Staatsrechtlehrer, der früh, d. h. schon in seinen Assistentenjahren in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von Rom aus den Kontakt mit Deutschland suchte. Mittlerweile gehört er zu den drei oder vier italienischen Staatrechtslehrern, die man mit Fug und Recht als unverzichtbare Brückenbauer zwischen beiden nationalen Wissenschaftlergemeinschaften bezeichnen darf (auch schon im Blick auf die Weimarer Verfassung). Der Jubilar besucht nicht nur häufig deutsche Staatsrechtslehrertagungen, zuletzt etwa in Düsseldorf (2014), er wirkte auch in vielen Seminaren z. B. in Bayreuth und Hagen mit. P. Ridola hat nicht wenige Übersetzungen deutscher Arbeiten (z. B. die Dissertation des Verfassers) ins Italienische betreut. Auch dafür ist der Verfasser dieses Geburtstagsblatt sehr dankbar. Er durfte den Jubilar schon Anfang der 80er Jahre in Rom kennenlernen und die große Gastfreundschaft im Hause Ridola genießen. Mittlerweile ist P. Ridola, 2015 zum Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität La Sapienza gewählt, nach frühen Arbeiten über die Grundrechte, auch das Lehrbuch zusammen mit R. Nania „I Diritti Costituzionali“ (2 Bände 2001) durch ein großes Werk zur Rechtsvergleichung hervorgetreten (Diritto Comparato e Diritto Costituzionale Europeo, 2010). Mögen solche vielfältigen Kontakte zwischen deutschen und italienischen Staatsrechtslehrern auf das Ganze gesehen „klein“ erscheinen: sie sind heute umso wichtiger, als es zwischen dem politischen und wirtschaftlichen Deutschland und Italien im Kontext der europäischen Schuldenkrise viele Missverständnisse, ja Gegnerschaften gibt. Vor allem der gemeinsame wissenschaftliche Bau an der Architektur des europäischen Verfassungsrechts bleibt unverzichtbar. Erste der großen – heute leider fehlenden – Europapolitiker kamen aus Italien, man denke nur an A. De Gasperi und A. Spinelli. Problem Das Textstufenparadigma des Verf. aus dem Jahre 1989 hat zuletzt wieder viel Aufmerksamkeit erfahren.1 Von vorneherein gemäß dem kulturwissenschaftlichen * Erstveröffentlicht in: FS Ridola (Rom), 2015 i. E. 1 Dazu M. Morlok, Parteienartikel der Verfassungen im Lichte der Textstufenanalyse, in: A. Blankenagel (Hrsg.), Den Verfassungsstaat nachdenken, 2014, S. 135 ff.; C.-D. von Busse,

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Ansatz „kontextuell“ („Auslegen durch Hinzudenken“) gedeutet, besagt es Folgendes: Oft rezipieren jüngere Verfassungen anderer, fremder Länder das, was die Verfassungswirklichkeit, die Theorien und die Judikatur des älteren Verfassungsstaates in Jahren nach und nach erarbeitet haben. Sie bringen das neu auf Begriffe und Texte, was auf der Grundlage des alten Textes (auch in der Dogmatik und kontextuell) gewachsen ist. So betrachtet, reift Verfassungswirklichkeit der älteren Verfassung hier zu neuen transparenten Verfassungstexten dort heran. Innerverfassungsstaatliche Beispiele finden sich in den Artikeln zu den politischen Parteien, beim Pluralismusprinzip im Medienverfassungsrecht oder beim grundrechtlichen Wesensgehaltschutz (vor allem in Europa). Wir sehen einen „allgemeinen Wirkungszusammenhang“ vieler Verfassungen, fast weltweit. Rechtstexte können, einmal in der Welt, mittel- und langfristig, wo auch immer überraschend normative Kraft entfalten. Sie haben offenbar dank ihrer Positivierung eine besondere Dignität, so oft sie von Sekundär- und Tertiär-Literatur überlagert werden. Akteure bei diesen Prozessen gibt es viele als pluralistische Kräfte: man denke an die nationalen und europäischen Verfassungsgerichte, die politischen Parteien, einzelne Gelehrte, Politiker und den Gesetzgeber. Einbezogen sei in diesem Geburtstagsblatt für P. Ridola gezielt das Völkerrecht in seinen Teilverfassungen. Viel diskutiert wird derzeit die „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“2. Es kommt hinzu, dass dieses heute zahlreiche und sehr dichte Normenkomplexe entwickelt hat, die oft von nationalen Verfassungen her beeinflusst sind. Sehr viele dieser völkerrechtlichen Normenkomplexe gelten positivrechtlich, auch wenn es, zu Recht viel beklagt, immer zu spektakulären Verletzungen des Völkerrechts kommt (man denke nur an die Annexion der Krim durch Russland, 2014). Vorweg sei schon erwähnt, um welche Beispiele von Teilverfassungen es geht: vor allem um die Menschenrechte, die UN-Charta, aber auch Prinzipien wie Treu und Glauben, Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Um Teilverfassungen handelt es sich wegen der angesprochenen hohen Werte und der intendierten und meist auch erreichten langen Geltungsdauer. Zugrunde gelegt ist all dem die Idee vom Völkerrecht als „konstitutionellem bzw. universalem Menschheitsrecht“3. Gesprochen sei in Anknüpfung an frühere Arbeiten von einem Ensemble von Teilverfassungen, das sich aus nationalen, europäiDie Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 2015, S. 134 ff., 365 ff. 2 Dazu M. Kotzur, Das Völkerrecht von der Menschheit her denken, in: A. Blankenagel (Hrsg.), aaO., 2004, S. 43 (49 ff.). Monographisch umfassend aufgearbeitet ist das Thema in der deutschen Literatur etwa von Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht. Konstruktion und Elemente einer idealistischen Völkerrechtslehre, 2012. 3 Dazu M. Kotzur in: A. Blankenagel, aaO., Das Völkerrecht von der Menschheit her denken, S. 43 ff.; P. Häberle, Nationales Verfassungssrecht, „regionale Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht, FS Zuleeg, 2005, S. 80 ff.; ders., Das Weltbild des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse der Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und letztem Geltungsgrund des Völkerrechts, FS Kriele, 1997, S. 1277 ff.; ders., Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen, JöR 62 (2014), S. 418 f.

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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schen und völkerrechtlichen Teilverfassungen bildet. Sichtbar wird „Verfassungsvergleichung im Völkerrecht“. Erinnert sei an die derzeitige Diskussion um Optimismus und Pessimismus bzw. Realismus in Bezug auf Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft.4 D. Schindler sprach wegen der Durchsetzungsschwäche früh von „unvollkommenen Recht“. Der Verf. hält an seinem allgemeinen wissenschaftlichen Optimismus auch hier fest: Wenn man die Dinge so negativ sieht, wie sie zu sein scheinen, macht man sie noch schlechter, als sie sein können! Bei allen Verletzungen des Völkerrechts: man sollte seine sehr oft funktionierende Normalität im Allgemeinen nicht vergessen.5 Darum lohnt auch die folgende Textstufenanalyse, obschon manche Texte vielleicht nur programmatisch sind, „soft law“ bilden oder ignoriert und verletzt werden. Erster Teil

Eine Bestandsaufnahme – konstitutionelle Textbausteine (Auswahl) I. Menschheitsbezogene, weltbezogene bzw. universale Normierungen Auf diese Texte sei besonderes Gewicht gelegt, denn sie können die These vom Völkerrecht als „konstitutionellem Menschheitsrecht“ untermauern – Menschheit verstanden als „Gesamtheit der Menschen“. Darum folgende Beispiele: Besonders früh und auf eine Weise altmodisch sagt der Vertrag über die Ächtung des Krieges (Kellogg-Pakt) von 1928 in seiner Präambel: „tief durchdrungen von ihrer erhabenen Pflicht, die Wohlfahrt der Menschheit zu fördern“; auch ist von der Hoffnung die Rede, dass „durch ihr Beispiel“ ermutigt, alle „anderen Nationen der Welt“ sich diesem „im Interesse der Menschheit“ anschließen werden“ (s. auch die Hoffnung, dass sich die „zivilisierten Nationen der Welt im gemeinsamen Verzicht auf den Krieg zusammenfinden werden“). Fast ähnlich formulierte die Präambel des I. Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle von 1907 folgende Textpassagen: „Glieder der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen“, „Grundsätze der Billigkeit und des Rechtes, auf denen die Sicherheit der Staaten und die Wohlfahrt der Bürger beruhen.“ Das Genfer Protokoll über das Verbot der 4 B. Fassbender, Optimismus und Skepsis im Völkerrechtsdenken der Gegenwart – Zur Bedeutung von „Denkschulen“ in der Völkerrechtswissenschaft, DÖV 2012, S. 41 ff. Für eine pessimistisch-völkerrechtsskeptische Lesart stehen etwa J. Goldsmith / E. Posner, The Limits of International Law, 2005, für eine optimistisch-idealistische H. D. Lasswell / M. S. McDougal, Jurisprudence for a Free Society: Studies in Law, Science and Policy, 1992. 5 Berühmt ist das Diktum von L. Henkin, How Nations Behave, 2. Aufl. 1979, S. 47: „almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time.“

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Verwendung von erstickenden Mitteln im Krieg (1925) wagt ebenfalls noch nicht das Ausgreifen auf die gesamte Menschheit und die ganze Welt, denn in der Präambel ist nur von der „allgemeinen Meinung der zivilisierten Welt“ sowie von den „meisten Mächten der Welt“ die Rede. Immerhin bezieht sich die Präambel des Übereinkommens betreffend die Sklaverei (1926) auf deren Abschaffung „in der ganzen Welt“. Erst mit den UN-Texten von 1945 erscheinen allgemeine Menschheitstexte universaler Art, wird die wohl gegen alte Kolonialvölker gerichtete Einschränkung „zivilisiert“ durchweg ersatzlos gestrichen. Die Satzung der UNESCO (1945) redet in der Präambel immer wieder von „Völkern der Welt“ und artikuliert die „Ziele des internationalen Friedens und des allgemeinen Wohlstands der Menschheit“ (s. auch Art. I Abs. 1 „Völker der Welt“ sowie Abs. 2 lit. c. „Erhaltung und Schutz des Erbes der Welt an Büchern, Kunstwerken …“). Die Satzung der WHO (1946) spricht in der Präambel von der „Gesundheit aller Völker“ als Grundlage des Friedens und der Sicherheit – damit zeigt sich das neue Thema der „Gesundheit“, welches parallel in vielen nationalen Verfassungen auftaucht (vgl. nur Art. 32 Verf. Italien von 1947). Der Vertrag über die Montanunion (1951) erwägt, dass der „Weltfriede nur durch schöpferische, den drohenden Gefahren angemessene Anstrengungen“ gesichert werden kann. Die Präambel des Antarktis-Vertrag (1959) erklärt es zum „interest of all mankind“, dass die Antarktis ausschließlich für friedliche Zwecke genutzt wird. Auch formuliert das Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (1977) in der Präambel den Wunsch, dass „unter den Völkern Friede herrschen möge“, auch ist von der „Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts“ und den „Grundsätzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens“ die Rede (Art. 1 Abs. 2) – ein hohes Ideal, das auf die Menschheit hindeutet. Die KSZE-Schlussakte der Helsinki-Konferenz (1975) formuliert in der Präambel das Postulat, „zum Wohl der Menschheit“ zusammenzuarbeiten und der „Sicherheit in der Welt“ zu dienen. Die Charta der Vereinten Nationen (1945) spricht in ihrer Präambel vom „unsagbaren Leid“, das der Krieg „über die Menschheit gebracht hat“. Sodann ist an vielen Stellen von „Weltfrieden“ und „internationaler Sicherheit“ die Rede (z. B. Art. 34, 43, 99). Im Artikel über gute Nachbarschaft zu Gebieten ohne Selbstregierung (Art. 74) wird von der gebotenen Berücksichtigung der „Interessen“ und dem „Wohl der übrigen Welt“ gesprochen. Diesen Gedanken nahe kommt ein Passus der Satzung des Europarates (1949), in dem von der „Festigung des Friedens“ auf den „Grundlagen der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation“ gesprochen wird (Präambel). Damit ist die universale Dimension angedeutet. Zuvor hatte das Statut des Internationalen Gerichtshofes (1945) verlangt, dass bei der Wahl der Richter in „ihrer Gesamtheit“ eine „Vertretung der großen Kulturkreise und der hauptsächlichen Rechtssysteme der Welt“ gewährleistet ist (Art. 9). Hier soll also die Universalität der Welt in Gestalt einer „wahrhaft internationalen Zusammensetzung“ des Gerichtshofes zum Ausdruck kommen. Später ist in der Präambel des Übereinkom-

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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mens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (1994) von der „optimalen Nutzung der Hilfsquellen der Welt im Einklang mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung“ die Rede – hier taucht als neues Weltgut bzw. Gemeinwohlelement die Nachhaltigkeit bzw. der Umweltschutz auf, die im Kyoto-Protokoll von 1997 einen Höhepunkt erlangen sollten. Sogar im Nordatlantikvertrag (1949) wird in der Präambel der Glaube an die Satzung der Vereinten Nationen und ihrem Wunsch, „mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben“, bekräftigt (s. auch Art. 7 zur Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit). Die Konvention der UN über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (1948) formuliert in der Präambel: „… dass zur Befreiung der Menschheit von einer solch verabscheuungswürdigen Geißel internationale Zusammenarbeit erforderlich ist.“ Ergiebig ist auch der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (1990). Denn in ihrem Vorspruch wird an zwei Stellen der Weltfrieden beschworen, etwa mit dem schönen, schon klassischen Passus aus dem GG von 1949: um als „gleichberechtigtes (und souveränes) Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Der Textstufenvorgang ist bemerkenswert. Der alte GG-Text, also nationales Verfassungsrecht, wird, ergänzt um das Adjektiv „souverän“, rezipiert. Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961) beruft sich auf die Charta der Vereinten Nationen bzw. die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (1968) sagt die Präambel: „in Anbetracht der Verwüstung, die ein Atomkrieg über die ganze Menschheit bringen würde“. Das Abkommen zur Verhütung von Atomkriegen (1973) normiert im Vorspruch das Ziel der „Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Auch heißt es: „in dem Bewusstsein, dass ein Atomkrieg verheerende Folgen für die Menschheit haben würde“ (s. auch den Wunsch, dass die Gefahr des Ausbruchs eines Atomkriegs „überall in der Welt“ und letztlich beseitigt wird). In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) ist von der „Würde“ und den „gleichen und unveräußerlichen Rechten“ als Grundlage u. a. „des Friedens in der Welt“ die Rede, ebenso vom „Gewissen der Menschheit“ und vom „höchsten Bestreben der Menschheit“. Diese Universalisierung des persönlichen Gewissens verdient großen Respekt. In der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (1948) wird in der Präambel die „zivilisierte Welt“ beschworen und die Überzeugung geäußert, dass zur „Befreiung der Menschheit“ von der „Geißel“ des Völkermords die internationale Zusammenarbeit erforderlich ist. Das Folterübereinkommen (1984) spricht in der Präambel von „unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der menschlichen Gesellschaft“ als „Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“. Schon das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (1982) liefert in der ausführlichen Präambel ebenfalls reichhaltige Textelemente zu unserem Thema: „Erhaltung von Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt für alle Völker

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

der Welt“, „Interessen und Bedürfnisse der gesamten Menschheit“, „Ressourcen als gemeinsames Erbe der Menschheit, deren Erforschung und Ausbeutung zum Nutzen der gesamten Menschheit …“ durchgeführt werden sowie von „Fortschritt aller Völker der Welt“. Art. 136 definiert: „Das Gebiet und seine Ressourcen sind das gemeinsame Erbe der Menschheit“. Art. 140 Abs. 1 postuliert das Ziel des „Nutzens der gesamten Menschheit“ (ebenso Art. 246 Abs. 2), Art. 192 verlangt von den Staaten, die „Meeresumwelt zu schützen“ – auch dies ist universal gedacht. Gleiches gilt für die „weltweite und regionale Zusammenarbeit zur Bewahrung der Meeresumwelt“ (Art. 197 – 201). Besonders geglückte Formulierungen mit viel Optimismus stehen im Vertrag über die Grundsätze der Tätigkeit von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums (1967). Hier finden sich folgende Textzeilen: „Großartige Aussichten, die der Vorstoß des Menschen in den Weltraum der Menschheit“ eröffnet (Präambel). Art. I Abs. 1 macht die Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes zur „Sache der gesamten Menschheit“. Art. V Abs. 1 S. 1 betrachtet die „Raumfahrer als Boten der Menschheit“ – ein inspirierter und inspirierender Text. Art. XI formuliert eine Unterrichtungspflicht der Vertragsparteien über ihre Arbeit gegenüber der „Öffentlichkeit und wissenschaftlichen Welt“ in größtmöglichem Umfang – damit ist die Weltöffentlichkeit angedeutet. Das Übereinkommen über die völkerrechtliche Haftung für Schäden durch Weltraumgegenstände (1972) anerkennt das „gemeinsame Interesse der gesamten Menschheit an der Förderung der Erforschung und Nutzung des Weltraumes zu friedlichen Zwecken“. In ähnlichen Dimensionen denkt das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (1992). Denn ihr Art. 6 a) iii) postuliert für die Vertragsparteien die Pflicht zur Beteiligung der „Öffentlichkeit“ – damit kann nur die Weltöffentlichkeit gemeint sein. Dasselbe gilt für lit. b) i) zur „Förderung“ des öffentlichen Bewusstseins in Bezug auf die „Klimaänderungen und ihre Folgen“. Die Charta von Paris für ein neues Europa formuliert einen Abschnitt: „Die KSZE und die Welt“. Darin wird die Aufgabe der Förderung von Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit in der Welt beschworen, das Bekenntnis zur Charta der Vereinten Nationen und zur Weltpolitik der Vereinten Nationen wiederholt. Auch wird von der „Solidarität mit allen anderen Nationen gesprochen“. Im Übereinkommen über das Verbot von chemischen Waffen (1993) sagt die Präambel: „entschlossen, im Interesse der gesamten Menschheit die Möglichkeit des Einsatzes chemischer Waffen auszuschließen“. Auch wird die Erwägung formuliert: „dass Fortschritte auf dem Gebiet der Chemie ausschließlich zum Wohl der Menschheit genutzt werden sollen.“ Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshof (1998) findet sich die wohl schönste Textstufe in Sachen Menschheit und Welt in den Worten: „im Bewusstsein, dass alle Völker durch gemeinsame Bande verbunden sind und ihre Kulturen ein gemeinsames Erbe bilden …“, „unvorstellbare Gräueltaten …, die das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern“, … „schwerste Verbrechen, die den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen …“, „schwerste Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“; schließlich

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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wird ganz auf der Höhe der neuen Textstufen des nationalen und internationalen Umweltschutzes gesagt: „um der heutigen und der künftigen Generationen willen“ („Menschheit“ umfasst auch die Generationenfolge!). Art. 5 spricht von der „internationalen Gemeinschaft als „Ganzes“, Art. 7 definiert die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Einmal mehr wird das „Gewissen der Menschheit“ zu einer moralischen Instanz. Sehr früh formuliert das Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) in der Präambel Abs. 2 folgende große Textzeile: „In der Überzeugung, dass Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört, eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit bedeutet, weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet“ (s. noch Abs. 3 zur Erhaltung „des kulturellen Erbes für alle Völker der Welt“) Besondere Beachtung verdient auch das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972). Es schafft ebenfalls Kulturverfassungsrecht im Völkerrecht und strahlt in viele neue Verfassungen und deren nationales Kulturverfassungsrecht aus. Es ist in Wahrheit ein Stück völkerrechtlicher Teilverfassung „aus Kultur und als Kultur“. Im Folgenden an dieser Stelle nur einige Textstufen in Gestalt von Stichworten, in denen die Universalität des Themas angemessen zum Ausdruck kommt, vor allem in der Präambel: „…, dass der Verfall oder der Untergang jedes einzelnen Bestandteils des Kultur- oder Naturerbes eine beklagenswerte Schmälerung des Erbes aller Völker der Welt darstellt: …“. „… Erhaltung und Schutz des Erbes der Welt …“, „… Sicherung dieses einzigartigen und unersetzlichen Gutes, gleichviel welchem Volk es gehört, für alle Völker der Welt zukommt; …“. „… Welterbes der ganzen Menschheit …“. „Schutz des Kultur- und Naturerbes von außergewöhnlichem universellem Wert …“. All diese Stichworte kehren in den nachfolgenden einzelnen Artikeln wieder, mit gleichen oder ähnlichen Worten, z. B. Art. 1 und 2: „… außergewöhnlicher universeller Wert …“; Art. 6: „…, dass dieses Erbe ein Welterbe darstellt, zu dessen Schutz die internationale Staatengemeinschaft als Gesamtheit zusammenarbeiten muss.“; Art. 8 Abs. 2: „… ausgewogene Vertretung der verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt …“; Art. 10 Abs. 1 und Art. 20: „… Komitee für das Erbe der Welt …“. Die Aktualität dieser Texte zeigt sich jüngst in Mossul, Nimrud und Palmyra, wo im Februar / März / August 2015 der sogenannte „Islamische Staat“ in einem Akt von Kulturbarbarei wertvollste Kulturgüter aus der Epoche der Assyrer zerstörte – ein Kriegsverbrechen! In diesen Kontext gehören zwei weitere Programme der UNESCO: einerseits das „Memory of the world“-Programm seit 19926 und andererseits das UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (2013), das in seiner eindrucksvollen Präambel einschlägige Stichworte in der Kontinuität der bereits vorgestellten Texte formuliert: „… im Bewusstsein des allgemeinen Willens und des gemeinsamen Anliegens, das immaterielle Kulturerbe der Menschheit zu erhalten …“. Dabei wird bezeichnenderweise auf internationale Menschenrechtsübereinkünfte 6

Dazu das Buch „Das Gedächtnis der Menschheit“, 2008.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

und das UNESCO-Übereinkommen von 1972 Bezug genommen, so dass ein großer Zusammenhang im Zeitlichen und Sachlichen entsteht und die Menschenrechtstexte normativ verstärkt werden. Ein neues Thema erwächst aus den Anliegen des Umweltschutzes seit den 80er und 90er Jahren. Das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (1985) sorgt sich in der Präambel um die „menschliche Gesundheit und die Umwelt“. Das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (1992) formuliert in der Präambel, dass Änderungen des Erdklimas und ihre nachteiligen Auswirkungen die ganze Menschheit mit Sorge erfüllen (wohl alle neuen nationalen Verfassungen nehmen sich des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit an, auch viele Verfassungsänderungen). Vergegenwärtigt man sich all diese differenzierten Textstufen und die vielen Wiederholungen, so darf man sich zu der These ermutigt fühlen, dass das Völkerrecht sehr oft im Geiste der Menschheit und der Welt insgesamt arbeitet bzw. denkt. Die stetige Verfeinerungen der Texte im Blick auf die ganze Welt ist unverkennbar. Man darf von einer „Fortschreibung“ sprechen. Wissenschaftlich bringt solche „Verfassungsvergleichung im Völkerrecht“ reichen Ertrag. Positivierte Rechtstexte fallen nicht vom Himmel. Sie haben ihre kulturelle Vorgeschichte und darin ist manches zu Klassikertexten gereift. Oft handelt es sich um Aussagen von Philosophen oder Dichtern. Zitiert seien zunächst nur zwei Belege aus dem deutschen Idealismus bzw. der Weimarer Klassik: J. G. Herders Buch „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, Riga 1774 sowie J. W. von Goethes Kerkerszene aus dem Faust I: „Mich fasst ein längst entwohnter Schauer, / Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an.“ Der Humanismus im Europa des 16. Jahrhunderts dürfte schon das Seine beigetragen haben. Auch spielt in dem zum Klassikertext gereiften Buch von H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979) das Thema Menschheit eine große Rolle (siehe das fünfte Kapitel I „Zukunft der Menschheit und Zukunft der Natur“, aaO., S. 245 ff., weitere Stichworte: Technologie als „Beruf der Menschheit“, S. 51 ff., insbesondere der erste Imperativ: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden“, S. 36, „Kein Recht der Menschheit zum Selbstmord“, S. 80, „Der erste Imperativ: dass eine Menschheit sei“, S. 90 f., „Existenz der Menschheit: das Erste Gebot‘“, S. 186). All diese Gedanken dürften die späteren völkerrechtlichen Texte inspiriert haben (auch S. Zweigs „Sternstunden der Menschheit“). Die Anthropologie sucht seit vielen Jahren nach der „Wiege der Menschheit“ und glaubt, sie in Afrika gefunden zu haben.

II. Menschenrechte im Bezugsrahmen der Menschheit Nur als Merkposten seien hier die Menschenrechte erwähnt. Ideell sind sie der Menschheit zugeordnet7, indem sie alle einzelnen Menschen schützen. Sehr zahl-

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reich sind die neueren regionalen und universalen Menschenrechtstexte (voran die Menschenwürde), in denen die Menschheit immer mitgedacht ist und umgekehrt. Verzichtet sei auf eine eingehende Darstellung. Erwähnt seien nur die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 und deren beiden internationalen Pakte der UN von 1966. Verfolgt man überdies die regionalen Abkommen, etwa in Europa, Amerika und Afrika, so ergibt sich ein reiches differenziertes Ensemble, das sich durch ständige textliche Verfeinerungen und Nachführungen auszeichnet. Die späteren Menschenrechtsdokumente leben von den älteren (ihrer Praxis und Dogmatik) und verfeinern sie. Es kommt sozusagen zu einem universalen Gespräch der Menschheit in Sachen Menschenrechte. Nimmt man zeitlich die großen Texte aus Nordamerika und aus Frankreich aus dem 18. Jahrhundert hinzu und sieht man diese nationalen Texte mit den völkerrechtlichen Texten in Sachen Menschenrechte seit 1945 sowie die jüngsten Verfassungen in Osteuropa (z. B. in Polen), auf dem Balkan (etwa in Albanien und im Kosovo) sowie in Afrika (Südafrika, Kenia, Tunesien) und Lateinamerika (Kolumbien, Brasilien, Ecuador) zusammen, so bestätigt sich wohl die hier entwickelte These vom Ensemble von Teilverfassungen aus nationalem und universalem „Material“. Zu Recht spricht die EMRK (1950) schon in der Präambel von „Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, sie geschieht auf vielen Foren, „Ebenen“ und Feldern. Im Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE (1990) wird z. B. unter Ziff. 5.21 auf eine internationale Konvention „mit regionalem oder universellem Charakter“ wie der EMRK Bezug genommen.

III. Menschenwürde Hier bedarf es nur weniger Belege – historisch folgt die Menschenwürde als Rechtstext den älteren Garantien der Menschenrechte (1776 / 1789) wohl nach: In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen (1945) heißt es: „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit.“ Die Allgemeine Erklärung der UN (1948) spricht von der „allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde.“ In Art. 1 heißt es prägnant: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Art. 22 formuliert den Anspruch jedes Menschen, „in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten zu gelangen.“ Dieser Menschenwürdetext kann in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) bekennt sich ebenfalls in der Präambel zu der „allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde“ (ebenso Präambel des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966). Zuletzt spricht die Präambel zum Protokoll

7

Zum Zusammenhang von Menschheit und Menschenrechten: M. Kotzur, aaO., S. 45.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Nr. 13 zur EMRK (2002) in Sachen Todesstrafe von der „allen Menschen innewohnenden Würde“. Die Menschenwürde gehört in den oben schon beschriebenen Zusammenhang von Menschheit und Menschenrechten. Der Menschenwürdeartikel des deutschen Grundgesetzes von 1949 dient vielen späteren nationalen Verfassungen als Vorbild.

IV. Humanitäres Recht als völkerrechtliche Teilverfassung Die Idee humanitärer Grundsätze – hier nicht spezifisch auf das humanitäre Völkerecht verengt gedacht – ist in mannigfachen Texten präsent.8 Schon die Charta der Vereinten Nationen (1945) spricht in Art. 1 Ziff. 3 von den zu lösenden internationalen Problemen, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art. Die Präambel des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1951) benennt den „sozialem und humanitärem Charakter des Flüchtlingsproblems“. Korb 3 der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) regelt die „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen“. Erwähnt sei das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (1977): „… eingedenk dessen, dass die humanitären Grundsätze, die in dem den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 gemeinsamen Artikel 3 niedergelegt sind …“. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (2002) regelt alle in ihm bezeichneten Straftaten „gegen das Völkerrecht“ (§ 1), eine kühne Festschreibung des Weltrechtsprinzips, definiert einfachgesetzlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7) mit einer Bezugnahme auf den Verstoß gegen eine „allgemeine Regel des Völkerrechts“ (Ziff. 4, siehe auch Ziff. 10) und setzt in § 8 an acht Textstellen das „humanitäre Völkerrecht“ voraus. Damit ist dieser Begriff, der aus zahlreichen Dokumenten bzw. textlichen Teilstücken stammt, zu einer festen, vorausgesetzten konstitutionellen Größe geworden (s. auch §§ 10, 11 und 12, wobei in § 11 Ziff. 2 im Schutz von Gebäuden, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft gewidmet sind sowie geschichtliche Denkmäler geschützt werden, so dass hier ein Stück Kulturverfassungsrecht im Völkerrecht auftritt). Das Humanitäre verweist auf Menschheit und Mensch. Sein Schutz ist Eckstein einer völkerrechtlichen Teilverfassung. Die Dokumente des Roten Kreuzes sind ihre wichtigste Grundlage, eine Art „Grundbuch“. Als Kernstück des humanitären Völkerrechts – nun im engeren Sinne verstanden – gelten neben der Haager Landkriegsordnung (1907) die vier Genfer Abkommen von 1949 und ihre Zusatzprotokolle von 1977 und 2005. Aufgabe des Roten Kreuzes ist es, die Regeln des humanitären Völkerrechts bekannt zu machen. Die deutsche Bundessatzung des Deutschen Roten Kreuzes e. V. vom 20. 03. 2009 bezieht sich immer wieder auf das „hu-

8

Aus der Lit. A. von Arnauld, Völkerrecht, 2. Aufl. 2014, S. 480 ff.

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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manitäre Völkerrecht“, z. B. Präambel Abs. 3, 4 und 5 sowie § 2 Abs. 2. Verwiesen sei auch auf die sogenannte Völkergewohnheitsrechtstudie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Schon das ursprüngliche Genfer Abkommen vom 22. August 1864 nimmt in Art. 5 Abs. 1 auf die „Menschlichkeit“ Bezug. Das I. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (Stichwort: Verwundete zu Felde) spricht in Art. 10 Abs. 2 und 3 von den „humanitären Aufgaben“, die den Schutzmächten zufallen und vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz als „humanitäre Organisation“9, ebenso das von der Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1954 ratifizierte II. Genfer Abkommen (Stichwort: Verwundete etc. zur See) sowie das III. Genfer Abkommen (Stichwort: Behandlung Kriegsgefangener). Das IV. Genfer Abkommen ebenfalls vom 12. August 1949 (Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten) verlangt in Art. 3 nichtbeteiligte Personen „unter allen Umständen mit Menschlichkeit“ zu behandeln und formuliert das Verbot von jeder Beeinträchtigung der persönlichen Würde. Art. 10 qualifiziert die Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz als humanitäre Tätigkeit (ähnliche Hinweise auf die humanitären Aufgaben finden sich in Art. 11 Abs. 3). Die Wachstumsprozesse des humanitären Völkerrechts werden in all diesen Texten sichtbar.

V. Vielfältige Bezugnahmen auf die UN-Charta – ihre dauerhafte Konstituierung Auffällig ist, dass die UN-Charta von 1945 in vielen späteren Texten als normativer Baustein immer wiederkehrt (ähnliches gilt für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948)), was ihre normative Kraft verstärkt. Hier einige Beispiele: Art. 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) verweist auf die UNCharta. Auch bekräftigt der Nordatlantikvertrag von 1949 den „Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen“ (Präambel), ebenso die Präambel des Übereinkommens gegen Folter (1984). Ähnliches gilt für die Präambel des Vertrages über die Abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (1990). Es gibt zahlreiche weitere Beispiele: vgl. etwa Präambel des AntarktisVertrags (1959), Korb 1 der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) VII und VIII, Banjul-Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1982), Präambel; sodann die Präambel Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (1998). Diese dutzendfach wiederholte normative Bekräftigung des Bekenntnisses zur UNCharta (parallel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) macht diese zu einer zentralen Teilverfassung des Völkerrechts auf vielen Gebieten. Zuletzt erweist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch 2002 seine Reverenz vor der Charta der Vereinten Nationen auf der Ebene des einfachen Rechts in § 10 Abs. 1 Ziff. 1 („in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen“). 9 Zit. nach: Die Genfer Rotkreuz-Abkommen, vom 12. August 1949, 1955, S. 71 ff.; aus der Lit.: F. Kalshoven / L. Zegveld, Constraints on the Waging of War, An Introduction to International Humanitarian Law, 2011.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Die verblüffendste Qualifizierung der UN-Charta findet sich in der Charta von Paris für ein neues Europa (1990): „Wir erinnern daran, dass die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt“.

VI. Gerechtigkeit und Gemeinwohl als völkerrechtliche Teilverfassungen Diese beiden zentralen Begriffe der Rechts- und Staatsphilosophie sowie der nationalen Verfassungsrechte10 kommen auch in völkerrechtlichen Texten in manchen Varianten vor. Schon die Satzung des Völkerbundes (1919) spricht in der Präambel von dem Gebot, „in aller Öffentlichkeit auf Gerechtigkeit und Ehre gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten“ bzw. „die Gerechtigkeit herrschen zu lassen“. Eine ältliche Formulierung findet sich in der Präambel des I. Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle (1907) in dem Begriff „Wohlfahrt der Völker“, „Gefühl der internationalen Gerechtigkeit“. Bereits in der Präambel der UN-Charta (1945) steht die Zeile „Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts“. In Art. 14 ebd. ist vom „allgemeinen Wohl“ die Rede. In Art. 73 spricht die Charta vom „Wohl der Einwohner“, in Art. 74 vom „Wohl der übrigen Welt“. Art. 1 des NATO-Vertrag (1949) beruft sich ebenfalls auf die Gerechtigkeit, Art. 2 auf das „Wohlergehen“. Im europäischen Übereinkommen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten (1957) heißt es: „In der Überzeugung, dass die Festigung eines auf Gerechtigkeit beruhenden Friedens für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und Zivilisation von lebenswichtiger Bedeutung ist.“ Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) findet sich die charakteristische Gemeinwohlgrenze: „In einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (‚ordre public‘) notwendigen Einschränkungen.“ (s. schon Art. 8 bis 11 EMRK von 1950). Zitiert seien auch die Texte: „Wohl der Menschheit“ und „Wohlergehen aller Völker“ (Korb 1 der Schlussakte der KSZE von Helsinki (1975)) sowie „Erhaltung von Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt für alle Völker der Welt“ und „Nutzen der gesamten Menschheit“ in der Präambel Seerechtsübereinkommen (1982, s. auch Art. 140 „Nutzen für die Menschheit“). Im Vertrag über „gute Nachbarschaft“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR (1990) ist in Art. 1 Abs. 6 von der „Mehrung des Wohlstands aller Völker“ die Rede. Das Chemiewaffenübereinkommen (1993) spricht vom „Wohl der Menschheit“. Die Präambel des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshof (1998) sorgt sich um das „Wohl der Welt“.

10 Dazu P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 459 ff., 626 ff.

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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Der Verf. darf einen eigenen Text an dieser Stelle wiederholen 11: „Die Menschheit bzw. die Völker unseres Globus sind Bezugssubjekte allgemeiner Interessen, wenn man es will: des völkerrechtlich konkretisierten und weiter zu konkretisierenden Gemeinwohls. Die vornehmste Bezugnahme steckt in allen Klauseln zum Schutz des ‚Gemeinsamen Erbes der Menschheit‘ (‚common heritage‘). (…). Auch im internationalen ‚ordre public‘ dürften Gemeinwohlaspekte verborgen sein.“ Bei der Gerechtigkeit sollte man die Klassikertexte von Aristoteles bis J. Rawls einarbeiten. Beim Gemeinwohl ist auf den Versuch einer Gemeinwohltypologie zum Europäischen Verfassungsrecht zurückzugreifen.12

VII. Herrschaft des Rechts und Rechtsstaat Wissenschaftlich wurde – etwa von M. Kotzur – der „Rechtsstaat im Völkerrecht“ längst zum Thema gemacht.13 Er kann sich durch mannigfache Textstufen bestätigt fühlen. Sehr früh findet sich die „Herrschaft des Rechts“ in der Präambel im 1. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle (1907); erwähnt sei auch die Präambel der Allgemeinen Erklärung der UN (1948): „die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen“; sodann die Präambel des NATO-Vertrags (1949): „Herrschaft des Rechts“. Die Satzung des Europarates (1949) bekennt sich in ihrer Präambel zu „Herrschaft des Rechtes“. Die EMRK (1950) spricht in der Präambel vom gemeinsamen Erbe „an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes“. Auch ist von den Grundfreiheiten als „Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ die Rede. Die Charta von Paris für ein neues Europa (1990) postuliert immer wieder die Bindung an das Recht. Im guten Sinne werden hier viele völkerrechtliche Texte „abgeschrieben“ und damit normativ verstärkt.

VIII. Generelle Bezugnahmen auf das Völkerrecht als solches, allgemeine Regeln des Völkerrechts, allgemeine Rechtsgrundsätze – materiale Allgemeinheit Auch hier wird man in völkerrechtlichen Rechtstexten fündig. Schon in Art. 27 lit. b des europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten (1957) heißt es: „Dieses Übereinkommen findet keine Anwendung … auf StreiP. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 791. Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 369 ff. 13 Dazu M. Kotzur, Der Rechtsstaat im Völkerrecht, in: FS E. Klein, 2013, S. 797 ff. mit weiteren Nachweisen aus der umfänglichen Diskussion; aus der Lit. zum Rechtsstaat: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 83 ff.; aus der Kommentarlit.: H. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Kommentar zum GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat). 11

12

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

tigkeiten über Fragen, die nach Völkerrecht in die ausschließlich innerstaatliche Zuständigkeit fallen.“ Die Präambel des Internationalen Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (1982) verweist auf die „Regeln und Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts“. In Art. 1 Abs. 1 heißt es „im Einklang mit dem Völkerrecht“, in Art. 3 „in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht einschließlich der Charta der Vereinten Nationen“. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) spricht in Korb 1 I: „Im Rahmen des Völkerrechts haben alle Teilnehmerstaaten gleiche Rechte und Pflichten.“ Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Recht (1966) nimmt Art. 15 Abs. 2 auf die „von der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze“ Bezug. Schon im Statut des IGH (1945) ist die Sache „Völkerrecht“ vorausgesetzt (vgl. Art. 36 Abs. 2 lit. b), Art. 38 Abs. 1, insbesondere lit. c: „Die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“. Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961) regelt in Art. 53 das Problem der Verträge, die im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des „allgemeinen Völkerrechts“ stehen (ius cogens). Ein weiteres Beispiel findet sich in Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK (1952) in Sachen Schutz des Eigentums: Eigentumsentziehung unter den durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961) erscheinen folgende Textpassagen: die „Regeln des Völkergewohnheitsrechts“ (Präambel), „innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen“ (Art. 3 lit. b). Im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (1969) gelangen wir zu den „Fundstücken“ (Präambel): Grundsätze der freien Zustimmung, Treu und Glauben sowie der Grundsatz pacta sunt servanda, Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts. In Art. 53 findet sich ein Verweis auf das „allgemeine Völkerrecht“. In Art. 138 des Internationalen Seerechtsübereinkommens (1982) findet sich eine, die Staaten verpflichtende Bezugnahme auf die in der „Charta der Vereinten Nationen“ niedergelegten Grundsätze und die sonstigen (!) Regeln des Völkerrecht“. Das „Völkerrecht“ beweist sich als in diesen Rechtstexten in den unterschiedlichsten Kontexten als autonom, als entwicklungsoffene Rechtsmaterie und als feste Größe. Es ist „verfasst“ und verfassend. Die Allgemeinheit ist als materiale – der Weltöffentlichkeit – ernst genommen. Schon Art. 13 Abs. 1 lit. a UN-Charta (1945) empfiehlt die „fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts“. Das Völkerrecht ist ein verfassungsstaatlicher Grundwert, vgl. Art. 5 / 4 nBV Schweiz! IX. Pacta sunt servanda – eine „Grundnorm“ Dieser Rechtsgrundsatz14 gilt als „Urgestein des Völkerrechts“ (so für das Völkergewohnheitsrecht: M. Herdegen). Positivrechtlich springt er in der Präambel sowie in Art. 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (1969) ins Auge. 14

Zu diesem Grundsatz A. von Arnauld, aaO., S. 3, 83.

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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X. Das universale Prinzip von „Treu und Glauben“ als völkerrechtliche Teilverfassung Vor allem aus vielen nationalen Rechtsordnungen seit langem bekannt15, figuriert das Prinzip von „Treu und Glauben“16 auch in völkerrechtlichen Dokumenten. Als Beispiel diene Art. 26 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (1961): „Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen“ (s. auch Art. 31 Abs. 1 zu Treu und Glauben als allgemeiner Auslegungsregel sowie Art. 46 Abs. 2). Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961) sagt in Art. 46 Abs. 2: „Eine Verletzung (von Verträgen) ist offenkundig, wenn sie von jedem Staat, der sich hierbei im Einklang mit der allgemeinen Übung und nach Treu und Glauben verhält, objektiv erkennbar ist“. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (1982) formuliert in Art. 300 Satz 1: „Die Vertragsstaaten erfüllen die aufgrund dieses Übereinkommens übernommenen Verpflichtungen nach Treu und Glauben …“. Schon 1945 heißt es in der Charta der Vereinten Nationen in Art. 2 Ziff. 2: Verpflichtungen „nach Treu und Glauben, die sie (sc. alle Mitglieder) mit dieser Charta übernehmen.“ Das Prinzip Treu und Glauben ist so im Völkerrecht Element einer Teilverfassung. Es erscheint z. B. auch in der KSZE-Schlussakte (1975) in Korb 1 Ziff. X: „Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.“ Die Satzung der Organisation amerikanischer Staaten (1967) postuliert in Art. 3 lit. c: „Die Beziehungen zwischen den Staaten sollen auf Treu und Glauben beruhen“. Treu und Glauben sind ein Stück Vertrauen, ein weltweites Postulat, ein unverzichtbares konstitutionelles Ideal, auch wenn es in der Realität oft genug missachtet wird. XI. Kulturverfassungsrecht im Völkerrecht Manche einschlägige Texte der UNESCO und des Haager Abkommen von 1954 wurden schon genannt. Ergänzend sei verwiesen auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948), wo vom „Ideal“ die Rede ist, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern. Wichtige Textstufen finden sich in Art. 1 der Satzung des Europarates (1949): „Ideale und Grundsätze“, die ihr gemeinsames Erbe bilden; sodann im europäischen Kulturabkommen des Europarats (1954), das mit seinen Worten und Begriffen bis in das geltende Europäische Verfassungsrecht (Lissabon) ausstrahlt (vgl. Titel XIII AEUV) 17; aus der 15 Zuletzt neue Schweizer Bundesverfassung (1999), Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben: „Jede Person hat den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.“ 16 Aus der Lit.: A. von Arnauld, Völkerrecht, 2. Aufl. 2014, S. 113 f., 120, 393. 17 Zum europäischen Kulturverfassungsrecht, P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 489 ff.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Präambel: Ideale und Grundsätze die ihr gemeinsames Erbe bilden, gemeinsames Handeln, „um die europäische Kultur zu wahren und ihre Entwicklung zu fördern“, die den Vertragsparteien gemeinsame Kultur. Art. 1 spricht vom Beitrag der Vertragsparteien zum gemeinsamen kulturellen Erbe Europas. Art. 3 von den „im europäischen Interesse liegenden kulturellen Maßnahmen“. Art. 4 regelt den „Austausch von Personen und Kulturgütern“18; letztere werden in Art. 5 als „Bestandteil des gemeinsamen europäischen Erbes“ definiert. Viel Kulturverfassungsrecht als regionales Völkerrecht steckt in der Satzung der OAS (1967), etwa in Art. 46 („das kulturelle Erbe der amerikanischen Völker zu wahren und zu pflegen“), (Art. 48 „Die Früchte der Kultur der ganzen Bevölkerung zugänglich“ zu machen); sodann ein Textstück aus Art. 26 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1969): „Realisierung der Rechte, welche in den ökonomischen, sozialen, bildungsmäßigen, wissenschaftlichen und kulturellen Standards der Charta der OAS“ inbegriffen sind. Die afrikanische Banjul-Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1983) formuliert in Art. 22 Abs. 1 prägnant: „Alle Völker haben ein Recht auf eigene, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung unter angemessener Berücksichtigung ihrer Freiheit und Identität sowie auch gleichmäßige Beteiligung an dem gemeinsamen Erbe der Menschheit.“ Erwähnt sei auch Korb 3 der Helsinki-Schlussakte KSZE (1975), Ziff. 3: „Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der Kultur“ mit Sätzen wie: „… Überzeugung, dass eine solche Festigung durch Kulturaustausch ihre gegenseitigen Beziehungen zur Bereicherung einer jeden Kultur beitragen wird, kulturelle Zusammenarbeit mit den anderen Ländern der Welt“, „bessere Kenntnis der jeweiligen kulturellen Leistungen“, „Förderung des Interessen für das Kulturgut der anderen Teilnehmerstaaten“, „eingedenk der Vorzüge und des Wertes jeder Kultur“. Grundlegend war die Charta der Vereinten Nationen (1945), in der in Art. 13 Abs. 1 lit. b die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Kultur, der Erziehung und der Gesundheit thematisiert wird. Später heißt es in Art. 149 Seerechtsübereinkommen der UN (1982): „Alle im Gebiet gefundenen Gegenstände archäologischer oder historischer Art werden zum Nutzen der gesamten Menschheit bewahrt …“. Zweiter Teil

Elemente eines Theorierahmens Sie können hier nur angedeutet werden, zunächst zu dem hier gewählten Verfassungsverständnis.

18 Aus der deutschen jüngsten Lit. zum Kulturgüterrecht: J. Radloff, Kulturgüterrecht, 2013; S.-C. Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013; aus der jüngsten Lit. zu Kultur und Kulturstaat zuletzt eingehend C. F. Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013; zum immer wieder diskutierten Verhältnis zwischen Kultur und Natur, W. Welsch, Homo Mundanus, 2012, S. 681 ff.

XI. Völkerrechtliche Teilverfassungen

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I. Das Verfassungsverständnis unter Einbeziehung des Völkerrechts Votiert sei für ein „gemischtes“ Verfassungsverständnis: Elemente vieler Klassikertexte fügen sich zu einem Ganzen – wie im nationalen und europäischen Verfassungsrecht, so auch im Völkerrecht als Ensemble von Teilverfassungen. Der erste Durchbruch ist A. Verdross zu verdanken (Die Verfassung der Völkergemeinschaft, 1926). Diese Befreiung vom Staatsbezug war bahnbrechend. Aus der deutschen und schweizerischen Diskussion sei erinnert an die Klassikertexte von R. Smend („Verfassung als Anregung und Schranke“, 1928), W. Kägi („Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“, 1945) sowie U. Scheuner („Verfassung als Norm und Aufgabe“, 1962). Hinzugefügt sei die Konzeption des Verfassers von der Verfassung als „öffentlicher Prozess“ (1969) und „Verfassung aus Kultur und als Kultur“ (1982 / 201319). Die nationalen Verfassungen sind heute angesichts der Konstitutionalisierung Europas und der Welt thematisch und funktional nur noch Teilverfassungen. Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, wie intensiv die Wanderungsbewegungen und Austauschvorgänge zwischen nationalen, europäischen und völkerrechtlichen Teilverfassungen sind. Viele Themen, etwa zur Menschheit, zu den Menschenrechten, zum Umweltschutz, zur Kultur, zum Gemeinwohl, zum Rechtsstaat etc. überlappen sich. Wir beobachten osmotische Vorgänge z. B. in Sachen UN-Konventionen zu Kinderrechten und zum Behindertenschutz sowie im Kulturverfassungsrecht und ihre vielen Wanderungen in nationale Verfassungsrechte. Auszuwerten sind auch die vielen Wiederholungen von einzelnen Textstücken in den genannten Dokumenten. Sie stärken die normative Kraft dieser Texte.

II. Das Vorrücken der Internationalen Gerichte als (Teil-)Verfassungsgerichte Mit großer Kraft rücken die Internationalen Gerichte, etwa der IGH in Den Haag, ebendort auch der Internationale Strafgerichtshof, die UN-Tribunale für Ex-Jugoslawien oder Ruanda, der Internationale Seegerichtshof in Hamburg und der EGMR in Straßburg sowie der Amerikanische Gerichtshof in Costa Rica in die Welt oder einzelnen Weltregionen vor. Sie erobern viele Kompetenzen und Themen und greifen ins Universale bzw. Regionale aus20. Der Verfasser hat in der FS Zagrebelsky jüngst den Vorschlag unterbreitet, dass diese Internationalen Gerichte „im Namen der Menschheit“ judizieren; A. von Bogdandy / I. Venzke votieren für den interessanten 19 Zuletzt P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013. 20 Aus der Lit.: A. v. Bogdandy / I. Venzke, In wessen Namen?, Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014; P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht, 2013, S. 12 f.

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1. Teil: Stichworte zum heutigen Konstitutionalismus

Vorschlag „im Namen der Völker und der Bürger“21. Meines Erachtens ist die Rückbindung an die Menschheit angemessener: „im Namen der Menschheit!“. Die Verwendung des Begriffs „Weltbürger“ wäre zu hoch gegriffen. Denn Weltbürger sind nur Ausnahmepersönlichkeiten wie I. Kant22, J. W. von Goethe, A. von Humboldt, M. Gandhi, N. Mandela. Der Bürger von heute ist zwar in den „universalen Menschenrechten“ auf die Menschheit und die Welt im Ganzen ausgerichtet und geschützt, doch der Idealismus, der die wenigen erwähnten Weltbürger auszeichnet, ist für uns normale Bürger noch eine Utopie.23

III. Akteure Es gibt neben den genannten Internationalen Verfassungsgerichten viele Akteure bei der Entfaltung der menschheits- bzw. weltbezogenen und universalen konstitutionellen Texte: von den nationalen Staaten über die internationale Gemeinschaft, verfasst in den UN, internationale Organisationen, nationale und internationale Verfassungsgerichte, einzelne Völkerrechtsgelehrte sowie die Nichtregierungsorganisationen. Wir erkennen die Umrisse einer internationalen Gesellschaft der Verfassungsgeber und Verfassungsinterpreten, die wir bei ihrer Arbeit ermutigen sollten, so defizitär und unvollkommen sich die Wirklichkeit des Völkerrechts immer wieder darstellt. Bei all dem dürfen freilich die Besonderheiten der Kulturen der Nationen und Regionen nicht vergessen werden. Das Partikulare und Regionale bleibt auch in der universalen Kultur des Völkerrechts und der Völkerrechtspolitik eine feste und unverzichtbare Größe. Im Ganzen handelt es sich um den Versuch weltoffener Verfassungsvergleichung im Dienste des Völkerrechts als konstitutionellem Menschheitsrecht.

Ausblick und Schluss Dieses Geburtstagsblatt hat nur Entwurfscharakter. Es ist ein Fragment, wie dies alle wissenschaftlichen Bemühungen des Verfassers gerade im eigenen „Herbst des Mittelalters“ oder „Winter des Altertums“ sind. Doch ist es ein freundschaftlicher Zuruf von Bayreuth nach Rom, von Deutschland nach Italien, wie er vielleicht gerade heute, angesichts vieler Missverständnisse und Verwerfungen in den Beziehungen unserer Länder sinnvoll ist.

AaO., S. 283 ff. Zum „Weltbürgerrecht“ mit Zitaten älterer und neuerer Klassiker (insbesondere I. Kants): J. Menzel, Internationales öffentliches Recht, 2011, S. 138 ff.; zur „Geschichte der Menschheit …“, H. Parzinger, 2014. 23 Siehe auch M. Kotzur, „We, the Citizens of Europe“: European Union Citizenship, in: M. S. Greve / M. Zöller (Hrsg.), Citizenship in America and Europe, 2009, S. 71 ff. 21 22

Zweiter Teil

Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe in Auswahl

I. Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008)* Vorbemerkung Es ist eine Freude und Ehre, sich an der Festschrift für Prof. Dr. Dr. h.c. J. Miranda beteiligen zu dürfen: zum einen, weil dieser große Gelehrte weit über Portugal hinaus, nicht zuletzt in Lateinamerika, einen großen Ruf genießt und einer der Repräsentanten der portugiesischen Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat ist; zum anderen, weil der Verfasser dieses Geburtstagsblattes ihm seit Jahren freundschaftlich verbunden sein darf. Festschriften sind vor allem in Deutschland zu einer zum Teil fragwürdigen Literaturgattung geworden, weil fast jeder Gelehrte heutzutage eine Festschrift erhält, die sich oft aus heterogenen Gelegenheitsarbeiten und Gutachten zusammensetzt. Anderes gilt für die sich in Deutschland vereinzelt einbürgernden „libri amicorum“. Der Verfasser dieser Zeilen ist sich gewiss, dass die Festschrift für J. Miranda im Grunde ein wirkliches liber amicorum ist; denn der Jubilar beherrscht die Kunst der Freundschaft auch mit ausländischen Wissenschaftlern wie wenige Andere. Die Auswahl eines würdigen Festschriftenbeitrags ist für alle Beteiligten eine wichtige, sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Es liegt nahe, entweder direkt auf das wissenschaftliche Werk des Jubilars einzugehen oder ein besonders aktuelles oder ein Grundsatzthema zu suchen. Der Verfasser hofft, mit dem Beitrag zu der Verfassung des neuen Kosovo ein „Geburtstagsblatt“ gefunden zu haben, das für die Verfassungsvergleichung als Anliegen des Jubilars von gewissem Interesse ist.

I. Die an den Prozessen der Verfassunggebung personal Beteiligten Diese Frage wird meist zu wenig gestellt, so wie sie auch bei der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ erst spät ins Blickfeld der Wissenschaft kam (1975). Es sind immer konkrete Personen (Akteure), in den Institutionen als interne oder externe Beteiligte, die eine Verfassung textlich erarbeiten. Gewiss, es gibt die bekannte Unterscheidung zwischen Verfassunggebender Versammlung, die direkt und zu diesem Zweck gewählt wurde und den Entwurf mit oder ohne Volksentscheid in Kraft setzt. In der Geschichte finden sich auch Beispiele dafür, dass sich ein Parlament selbst die Kompetenz zur Verfassunggebung aneignet. In Deutsch* Erstveröffentlichung in portugisischer Sprache in: FS Miranda (Lissabon), 2012, Vol. III, 2012, S. 409 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

land kam es im Vorfeld des Grundgesetzes in Gestalt des Parlamentarischen Rates zu einem besonderen Verfahren (1948 / 49). Weder wurden die Mitglieder des verfassunggebenden Organes direkt vom westdeutschen Volk gewählt, noch kam es am Schluss zu einem Volksentscheid über das Grundgesetz, vielmehr wurden die Mitglieder des Parlamentarischen Rates von den Parlamenten der westdeutschen Länder gewählt. Gemäß Art. 144 Abs. 2 bedurfte es der Annahme des GG durch die Volksvertretungen von zwei Dritteln der deutschen Länder, was gelang. Anlässlich der Neuauflage der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, die im Jahrbuch des öffentlichen Rechts Bd. 1 1951 erschienen ist und vom Verfasser soeben neu ediert und eingeleitet worden ist (2010), wurden wohl erstmals in der deutschen Literatur die Arbeitsmethoden des verfassunggebenden Organs grundsätzlich untersucht und die personal beteiligten Akteure dargestellt. Dabei ergab sich zur Überraschung nicht Weniger, dass sich für den in Bonn tagenden Parlamentarischen Rat (1948 / 49) eine begrenzt offene Gesellschaft der Verfassunggeber nachweisen ließ1. Die Väter und Mütter des GG holten sich vielfältigen Rat sowohl bei einzelnen Gruppen und gesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften und anderen Verbänden als auch bei einzelnen Staatsrechtslehrern, die sie anhörten oder auf die sie Bezug nahmen. Dies geschah mehr oder weniger informell, lässt sich aber bei vielen konkreten Themen nachweisen, insbesondere bei den Grundrechten. Für die Weimarer Reichsverfassung (1919) wird derzeit zunehmend der große Einfluss von Hugo Preuß als einem „Vater“ der Verfassung diskutiert2. Auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates ist charakteristisch, dass einzelne Verfassungen in einem weltweiten Prozess der Produktion und Rezeption, des Gebens und Nehmens erarbeitet werden. Dabei geht es um die Trias von Verfassungstexten, von wissenschaftlichen Theorien und von Judikatur, meistens etwaiger Verfassungsgerichte. Spätere Verfassunggeber bringen auf eine konzentrierte Textstufe, was ältere Verfassunggeber, jüngere oder ältere Wissenschaftler auch aus anderen Ländern bisher publiziert oder benachbarte Verfassungsgerichte judiziert haben (das 1989 erarbeitete „Textstufenparadigma“ des Verfassers3). So haben etwa in Ostdeutschland die Verfassunggeber nach der Wende 1989 Urteile des BVerfG auf konzentrierte Verfassungstexte gebracht und zum Teil fortgeschrieben. So haben die kantonalen Totalrevisionen in der Schweiz seit Ende der 60er Jahre nicht selten an ältere Revisionen einzelner Kantone oder an die Rechtsprechung des Bundesgerichtes in Lausanne, aber auch an deutsche Vorbilder angeknüpft. So strahlt das deutsche Grundgesetz besonders auffällig in Gestalt der „Trias“ von Texten, Theorien und Judikaten in viele neuere Verfassungen aus, vor allem seit der Weltstunde 1 Vgl. P. Häberle, Einleitung zu: Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, JöR Bd. 1, 2. Aufl. 2010, S. VI bis XXVI. 2 Dazu Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Vierter Band: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008. 3 Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff.

I. Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008)

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des Verfassungsstaates von 1989. Prägnantes Beispiel ist der Erfolg des relativ breiten Kompetenzkataloges des BVerfG und der grundrechtlichen Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Als wissenschaftliche Leistung hat die von R. Smend 1916 erkannte „Bundestreue“ zunächst in Deutschland (auch in der Judikatur des BVerfG) und dann in vielen anderen Bundesstaaten oder Regionalstaaten sowie im Europäischen Verfassungsrecht, aber auch als „Regionaltreue“ in Spanien, Schule gemacht. Was die an ausländischen Verfassungen als Berater beteiligten deutschen Staatsrechtslehrer, Parteistiftungen und das BVerfG angeht, so hat eine Analyse zum 60. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes in Bonn (2009) ergeben, wie intensiv das deutsche Grundgesetz in Gestalt der Trias von Texten, Theorien und Judikaten ausstrahlt4. Oft wird – dem ökonomischen Zeitgeist gemäß – vom „Export“ des Grundgesetzes gesprochen, ein Ausdruck, der m. E. angesichts der Idee von der Verfassung als Kultur freilich unangemessen ist. Hier nur noch einige weitere Beispiele, die zeigen sollen, dass die Prozesse der Verfassunggebung nicht nur von bestimmten Arbeitsmethoden beherrscht werden (dazu Zweiter Teil), sondern auch von beteiligten Personen als Akteuren. So holte sich Südafrika im Vorfeld seiner neuen Verfassung von 1996 bei Richtern des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe Rat, auch bei kanadischen Wissenschaftlern. So ließ sich Kenia bei seiner Verfassung von 2010 von einer sechsköpfigen wissenschaftlichen Beratergruppe aus Afrika unterstützen, darunter einer Professorin aus Kapstadt. Es wäre ein eigenes Forschungsprogramm zu untersuchen, in welchen Ländern im Rahmen der Prozesse der Verfassunggebung sich die Verfassunggeber von unbeteiligten Dritten, sei es Einzelpersonen oder Pluralgruppen, helfen ließen. Bei der Verfassung Spaniens (1978) waren nachweislich deutsche Staatskirchenrechtler wie U. Scheuner aus Bonn gutachterlich beteiligt. Vermutlich haben portugiesische Wissenschaftler bei der Erarbeitung von Verfassungen ihrer ehemaligen Kolonien in Afrika geholfen, wohl auch der Jubilar.

II. Die fünf Arbeitsmethoden der Verfassunggebung Bei einer Untersuchung der Arbeitsmethoden des Parlamentarischen Rates im Vorfeld des deutschen Grundgesetzes (Bonn 1948 / 49) lässt sich nachweisen, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes die vier klassischen Methoden des Kanons von F. C. v. Savigny (1840) analog anwandten, d. h. am Wortlaut feilten, an der Systematik arbeiteten, sich den Sinn und Zweck ihrer Regelungen vor Augen führten und historisch (Verfassungsvergleichung in der Zeit) entweder nach positiven (Weimarer oder deutsche ältere Vorbilder) oder nach negativen Beispielen suchten (ge4 Dazu mein Bonner Vortrag: Das GG als „Exportgut“ im Wettberwerb der Rechtsordnungen, in: C. Hillgruber / C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

zielte Abkehr von der NS-Zeit und von der Ostzone). Darüber hinaus arbeiteten sie besonders intensiv verfassungsvergleichend im Raum, d. h. sie hielten Ausschau nach Vorbildern in Frankreich, in England, in den USA und der Schweiz – aus Geschichte und Gegenwart. Überdies gibt es Parallelen zwischen der Verfassungsinterpretation und der politisch gestaltenden Verfassunggebung in Sachen Topoi-Katalog (Argumente wie Rechtssicherheit, Gerechtigkeit, erfahrungswissenschaftlicher Ansatz, kulturwissenschaftlicher Ansatz, Anerkennung gewisser fundamentaler Werte und Wahrheiten). Geschöpft wurde vielfach aus einem gemeineuropäischen Fundus und kulturellem „Humus“ in Sachen Verfassungsstaat. Diese Analogie zwischen den bekannten Methoden der Verfassungsinterpretation – bei denen die Verfassungsvergleichung den Rang einer „fünften“ Methode einnimmt – und den Arbeitsmethoden des Verfassunggebers dürfte mehr als ein bloßer „Fund“ sein. Vor uns liegt ein weites Forschungsfeld, auf dem zu fragen ist, wie etwa die Väter und Mütter der portugiesischen Verfassung (1976), der spanischen Verfassung (19785) und neueste Verfassunggeber gearbeitet haben (etwa in Albanien, Serbien und im Kosovo). Dieses Wissenschaftsprogramm könnte eine Aufgabe auch in der portugiesischen Staatsrechtslehre der nächsten Generation sein. Größtes Interesse hätte den neuesten Verfassungen zu gelten, insbesondere im Hinblick darauf, wie stark sich (in Europa) die Europäisierung bzw. die Internationalisierung und die Globalisierung in den Textstufen niederschlägt. Im Folgenden sei dies an einigen Beispielen der Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008) erarbeitet.

III. Das Beispiel des Kosovo – prägnante Textstufen Vorbemerkung Hier müssen wenige Stichworte zur Vorgeschichte der Verfassung des unabhängigen, souveränen Kosovo (das UN-Protektorat war) genügen. Die Unabhängigkeitserklärung stammt vom 17. Februar 2008. Die neue Verfassung trat am 15. Juni 2008 in Kraft6. Der Verfassungstext wurde beim Erklingen von Beethovens „Ode an die Freude“ samt der neuen Nationalflagge in den Festsaal hereingetragen7. Die Unabhängigkeit des Kosovo wurde bislang von 70 Staaten, darunter 22 Mitgliedsstaaten der EU, anerkannt. Die EU hatte im Februar 2008 die Mission „EULEX Kosovo“ beschlossen, welche die rechtsstaatliche Entwicklung begleiten soll. Das Ganze beruht auf einem Kompromiss, an dem die Vereinten Nationen, die EU und 5 Material jetzt bei A. López Pina (ed.), La Generación del 56, 2010, besonders S. 49 f., 59 ff. 6 Aus der Tagespresse: M. Martens, Der Dreiviertelstaat, FAZ vom 16. Juni 2008, S. 6; ders., Verzögerter Umbau, FAZ vom 28. Mai 2008, S. 10. 7 Dazu P. Häberle, Nationalflaggen, 2008, S. 226 f.

I. Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008)

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Serbien beteiligt waren. Gemäß einem von der Generalversammlung der UN 2008 erbetenen Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010 verstieß die Unabhängigkeitserklärung nicht gegen das Völkerrecht. Derzeit steht ein Dialog zwischen dem Kosovo und Serbien auf der Tagesordnung, der unter der Leitung der EU stattfindet8. Eine Anerkennung des Kosovo durch Serbien lehnt dieses Land (noch) ab9.

1. Die geglückte Präambel als Textereignis Präambeln gleichen, kulturwissenschaftlich betrachtet, Prologen und Präludien. In Feiertagssprache, die zugleich um Bürgernähe ringt, formulieren sie ein Konzentrat der Verfassung bzw. ihrer Grundwerte. Überdies blicken sie meistens in die Geschichte eines Volkes zurück und entwerfen zugleich die Zukunft10. Die Präambel des Kosovo kann sich im weltweiten Verfassungsvergleich mehr als nur „sehen“ lassen. Sie ist in feierlicher Sprache geschrieben und bekennt sich eindrucksvoll zu den Grundwerten des Kosovo. Auffällig ist, dass kein „Blick zurück“ gewagt wird – dies vermutlich deshalb, weil die Geschichte des Kosovo zu verworren ist und sich nicht in einem bündigen, bürgernahen Text nachzeichnen lässt. Im Einzelnen: Die Präambel beginnt mit dem berühmten aus den USA stammenden „We, the people“. Sie entwirft für die Zukunft die Idee eines freien demokratischen und friedliebenden Landes, das „homeland“, also Heimstätte aller ihrer Bürger sein möchte. Sie garantiert die Schaffung eines Staates freier Bürger mit bürgerlichen Freiheiten und der Gleichheit für alle vor dem Gesetz. Sie verpflichtet sich auf einen Staat „of economic wellbeing and social prosperity“. Sie bekennt sich für die Zukunft zu dem Wunsch, einen Beitrag zur „Stabilität der Region und von ganz Europa“ dank guter Beziehungen zu den Nachbarländern leisten zu wollen. Dabei ist ausdrücklich von „Kooperation“ die Rede11. Gemäß der Präambel will der Kosovo ein würdiges Mitglied der Familie der friedensliebenden Staaten in der Welt sein – diese Betonung der Staatsidee des Friedens ist gerade auf dem Hintergrund der kriegerischen Vergangenheit zu verstehen. Schließlich will der „Staat des Kosovo“ an den Prozessen der „euro-atlantischen Integration“ mitwirken – auch diese Verankerung in der euro-atlantischen Gemeinschaft spiegelt die besondere Geschichte des Kosovo wieder – man denke an die Rolle der EU sowie der USA bei der Staatswerdung und dem „nation building“. Vielleicht darf man (auch angesichts der später behandelten Europabezüge) von einem „europäisierten Kosovo“ sprechen. Vgl. FAZ vom 13. Oktober 2010, S. 8. Vgl. FAZ vom 14. Oktober 2010, S. 7. 10 Zur Verfassungstheorie der Präambeln mein Beitrag: Präambeln im Text und Kontext, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; fortgeschrieben in: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff. 11 Zum „kooperativen Verfassungsstaat“ mein gleichnamiger Beitrag in: FS Schelsky, 1978, S. 141 ff.; als selbstständiges Buch in portugiesischer Sprache erschienen: Estado Constitucional Cooperativo, Rio de Janeiro / São Paulo, 2007. 8 9

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Dem Ideal einer verfassungsstaatlichen Präambel der heutigen Textstufenentwicklung kommt in Afrika auch die Präambel der Verfassung von Kenia (2010) nahe, sogar mit einem Gottesbezug.

2. Das Grundlagen-Kapitel Kapitel I („Basic Provisions“) umreißt in prägnanten Artikeln (1 – 20) das Selbstverständnis des neuen Staates. Fast alle Elemente des Typus Verfassungsstaat auf dessen heutiger Entwicklungsstufe kommen prägnant zur Sprache. Art. 1 definiert die Republik als unabhängigen souveränen, demokratischen, einheitlichen und unteilbaren Staat. Besonders geglückt ist die Formulierung „state of its citizens“. Art. 2 skizziert die Souveränität, die sie intensiv auf das Volk und die Verfassung bezieht. Erneut ist der Friedensauftrag formuliert, auch die Beteiligung an einem System der internationalen Sicherheit. Art. 3 formuliert die Gleichheit vor dem Gesetz und wagt die neue Textstufe „multi-ethnic society consisting of Albanian and other Communities, governed democratically with full respect for the rule of law“. Art. 4 gelingt in Sachen Gewaltenteilung eine neue Textstufe, in der die angloamerikanische Lehre von „checks and balances“ direkt rezipiert wird (Abs. 1). In Abs. 4 ebenda wird das Verfassungsgericht als unabhängiges Organ definiert, freilich auch als „final interpreter of the Constitution“ – aus der Sicht des Verfassers eine fragwürdige Formulierung, denn der Prozess der Verfassungsinterpretation ist in die Zukunft hinein offen: es gibt keine endgültige Interpretation – auch nicht seitens eines Verfassungsorgans wie des Verfassungsgerichts! Der Sprachen-Artikel (Art. 5) legt das Albanische und Serbische als offizielle Sprache fest, das Türkische, Bosnische und die Sprache der Roma haben auf kommunaler Ebene den Status einer offiziellen Sprache. Besonders eindrucksvoll ist Art. 6 zu den Symbolen. Denn danach soll die Flagge, das Siegel und die Hymne als Staatssymbole den multiethnischen Charakter („Dreivölkerstaat“) des Kosovo widerspiegeln. Dies ist eine neue Textstufe, die zeigt, dass neuere Flaggen und Hymnen direkt auf die Verfassungswerte bezogen werden12. Die Nationalflagge des Kosovo ist zeichnerisch wie farblich überaus geglückt (Territorium mit sechs Sternen auf dunkelblauem Grund. Die sechs weißen Sterne stehen für die sechs Ethnien)13. Die Nationalhymne wurde von einer Findungskommission ausgewählt: die Komposition „Europa“ von M. Mengjiqi. Art. 7 („Values“) normiert die Grundwerte der Republik, insbesonders Freiheit, Frieden, Demokratie, Gleichheit, die rule of law, die Nichtdiskriminierung, das Recht auf Eigentum, den Schutz der Umwelt, die soziale Gerechtigkeit, den Plura-

12 Dazu meine beiden Monographien: Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, sowie Nationalflaggen: Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008, S. 211 ff., 226 f. 13 P. Häberle, Nationalflaggen, aaO., S. 226.

I. Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008)

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lismus, die Gewaltentrennung und eine Marktwirtschaft. Selten sind die Grundprinzipien des modernen Verfassungsstaates so dicht aneinander gereiht worden. Art. 8 („Secular State“) lautet kurz und bündig: „The Republic of Kosovo is a secular state and is neutral in matters of religious beliefs“ – an anderen Stellen wird dieses Prinzip im Einzelnen näher konkretisiert. Von den weiteren Verfassungsthemen in Kapitel I seien nur noch einige Normgruppen genannt: der Schutz des kulturellen und religiösen Erbes (Art. 9), die Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 12), der Schutz der im Ausland lebenden Bürger (Art. 15), der Vorrang der Verfassung (Art. 16), das Bekenntnis zur „internationalen Kooperation“, zur Förderung und zum Schutz des Friedens, der Sicherheit und der Menschenrechte (Art. 17 Abs. 2), die Festlegung einer Zweidrittelmehrheit des Parlamentes für die Ratifikation bestimmter internationaler Vereinbarungen und die Anwendbarkeit des internationalen Rechts (Art. 19). Art. 20 eröffnet den Weg zur Übertragung von Souveränitätsrechten, wie dies schon Gemeingut vieler neuerer Verfassungen in Europa ist (z. B. Art. 23 und 24 Grundgesetz und Art. 7 Abs. 6 Verf. Portugal).

3. Der Grundrechtskatalog Kapitel III („Fundamental Rights and Freedoms“), d. h. Art. 21 bis 56 ist ungemein reichhaltig konzipiert und verbindet Grundrechte mit Staatsaufgaben, wie dies in der Wissenschaft seit langem gefordert wurde. Eine Reihe neuer Themen tauchen auf, besonders bemerkenswert ist die Integrierung internationaler Konventionen als Bauelemente eines nationalen Grundrechtsteils. Genannt sei aus Art. 22 die Anordnung der direkten Anwendbarkeit der universalen Erklärung der Menschenrechte, der EMRK und ihrer Protokolle, der internationalen Menschenrechtspakte, der Konvention des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, der Konvention zum Verbot der Rassendiskriminierung, der Diskriminierung von Frauen sowie der Konvention zu den Rechten der Kinder und gegen Folter und grausame Bestrafung. Verfassungstheoretisch und verfassungspolitisch kann die Bedeutung dieser direkten Öffnung des nationalen Verfassungstextes für universale und regionale Konventionen gar nicht überschätzt werden. Sie sollte Schule machen. Während derzeit vor allem von der „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ als solcher gesprochen wird, ist hier im innerstaatlichen Bereich umgekehrt eine nationale Konstitutionalisierung von Völkerrechtsthemen eigener Art im Werden. Die weiteren Artikel sind eher konventionell, etwa in Sachen Menschenwürde (Art. 23), Gleichheit (Art. 24) und Recht auf Leben (Art. 25). Beachtung verdient die neue Textstufe des Art. 26 (Recht auf persönliche Integrität). Hier wird an die physische und psychische Integrität gedacht. Stark ausgebaut sind die justiziellen Grundrechte des Angeklagten (Art. 30), z. B. Anspruch auf einen Dolmetscher, das Recht auf einen fairen und unparteiischen Prozess und die Festlegung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Strafrecht – dies erinnert an Art. 49 Abs. 3 der EU-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Grundrechte-Charta und die Judikatur des deutschen BVerfG (zuletzt E 124, 43 (61 ff.)). Der Privatheitsschutz gemäß Art. 36 ist intensiv und expansiv. Das Datenschutzrecht wird sehr ernst genommen. Art. 41 gewährleistet das Recht auf Zugang zu öffentlichen Dokumenten und dürfte von der Aarhaus-Konvention inspiriert sein 14. Verfassungsaufträge verbergen sich in dem Recht auf Erziehung (Art. 47), im Recht auf Arbeit (Art. 49), in den Rechten der Kinder (Art. 50), im Gesundheitsschutz (Art. 51) und im Umweltschutz – hier wird sogar jedem eine Verpflichtung auferlegt. Die vielleicht interessanteste Neuerung findet sich in Art. 53, der eine Konformität zwischen den Grund- und Freiheitsrechten des Kosovo und den Entscheidungen des EGMR in Straßburg verlangt: „Human rights and fundamental freedoms guaranteed by this Constitution shall be interpreted consistent which the court decisions of the European Court of Human Rights“ (Stichwort: menschenrechtskonforme Auslegung der nationalen Grundrechte). Im Art. 55 zu den Grenzen der Grund- und Freiheitsrechte findet sich eine Rezeption der entsprechenden Regelungen der EMRK („… limitation in an open and democratic society“), auch des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und vor allem eine ausdrückliche grundrechtliche Wesensgehaltgarantie – wie sie auch in vielen osteuropäischen Verfassungen gemäß dem Vorbild des deutschen Grundgesetzes und in Analogie zu kantonalen Verfassungen der Schweiz rezipiert worden sind („in no way deny the essence of the guaranted right“)15.

4. Minderheitenschutz beziehungsweise das Prinzip des Multiethnischen Das sich als „multiethnisch“ und „multikulturell“ verstehende Kosovo stand bei der Verfassunggebung vor der Aufgabe, mit diesem Prinzip auch in den einzelnen Verfassungstexten ernst zu machen. Für den Textgeber war und ist dies eine schwierige Aufgabe. Nur einige Stichworte der Textstufen, die er erarbeitet hat, seien genannt: Erinnert sei an Art. 6 Abs. 1, wonach Flagge, Siegel und Hymne als Symbole den multiethnischen Charakter des Kosovo widerspiegeln sollen. Art. 3 Abs. 1 spricht von einer „multiethnischen Gesellschaft“, die aus Albanern und anderen „Communities“ besteht. Im organisatorischen Teil der Verfassung wird mit diesen Prinzipien ernst gemacht. In Kapitel III („Rights of Communities and Their Mem-

14 Dazu aus der Lit.: A. K. Mangoldt, Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz unter dem Einfluss der Aarhaus-Konvention, 2010. 15 Dazu die Nachweise in meiner Europäischen Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 341 f., sowie in der Monographie: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2, 3. Aufl. 1983, S. 271 ff. – Ein Wesensgehaltschutz findet sich auch jetzt in Art. 24 Abs. 2 lit. c Verfassung Kenia (2010).

I. Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008)

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bers“), das heißt in Art. 57 bis 62 werden die Details geregelt. Eigens genannt seien der verlangte „Geist der Toleranz, des Dialoges und der Versöhnung“ zwischen den Communities (Art. 58 Abs. 2) sowie der Hinweis (ebenda) auf die Europäische Charta zum Schutz der Minderheiten und Minderheitssprachen. Abs. 5 (ebenda) schützt das „Erbe aller Communities“ als integralen Bestandteil des kulturellen und religiösen Erbes des Kosovo. Art. 59 formuliert eingehend die Rechte dieser Communities, insbesondere auf ihre Identität, etwa ihre Sprache, ihre Traditionen und ihre Kultur. In nicht weniger als 14 Absätzen ist dieses Anliegen detailliert auf Textstufen gebracht. Art. 60 schafft einen „Consultative Council for Communities“. In der „Versammlung des Kosovo“ (Kap. IV, Art. 63 bis 82), dem Legislativorgan der Republik, ist die Zahl der Sitze auf 120 festgelegt, von denen 20 für Vertreter der „Communities“ reserviert sind, welchen Begriff man wohl nicht mit „Minderheiten“ übersetzen darf. Den Serben sind 10 Sitze garantiert, 3 Sitze sind den Bosniern, 2 den Türken sowie 1 den Roma und den Ägyptern vorbehalten. Verfassungsänderungen bedürfen der Zweidrittelmehrheit aller Stimmen inklusive Zweier Drittel der Stimmen der „Minderheitenvertreter“. Für die Gesetzgebung auf dem Gebiet von „Vital Interest“ (Art. 81) sind spezielle Mehrheitsanforderungen vorgeschrieben (zum Beispiel in Sprachenfragen, in Fragen des Schutzes des kulturellen Erbes oder für Gesetze in Sachen Erziehung, Symbolen und Feiertagen der „Communities“). Erstaunlicherweise dürfen diese Themen keinem Referendum unterworfen werden: eine Art „Ewigkeitsklausel“ (vgl. die Themenvielfalt in Art. 288 Verf. Portugal). Im Ganzen dürfte es sich um die komplizierteste Regelung einer neueren Verfassung eines multiethnischen Gemeinwesens handeln, die sich wohl erst noch in der Wirklichkeit bewähren muss.

5. Europabezüge Man könnte vermuten, dass es in der Verfassung des Kosovo besonders viele und innovationsreiche Textstufen in Sachen Europa gibt, weil dieses Europa „Geburtshelfer“ war. Der Verfasser spricht seit langem von „nationalem Europaverfassungsrecht“ und meint damit jene Texte nationaler Verfassungen, in denen das Thema Europa normiert ist (fast schon klassisch: Art. 23 n. F. GG). Vor allem müsste zum Ausdruck kommen, dass der Kosovo nur als „europäisiertes Land“ überleben kann. Indes findet sich das Europa-Thema zwar an wichtigen systematischen Orten, etwa in der Präambel („entire Europe“, auch im Wort von der „euroatlantischen Integration“), überdies sind wichtige europarechtliche Verträge, etwa in Sachen Menschenrechte, Verbot der Rassendiskriminierung, nationaler Minderheitenschutz, in Art. 22 zum integrierenden Bestandteil der Verfassung gemacht, doch ist an anderen Stellen das Thema Europa eher vernachlässigt. Es findet sich kein Bekenntnis zu aktiver Europapolitik oder zur Bereitschaft, im Interesse der EU auf Souveränitätsrechte zu verzichten. Der Verfasser dieser Zeilen hat etwa für Georgien einen differenzierten „Europa-Artikel“

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

empfohlen16. Immerhin verweist das vorbildliche Kapitel X zur kommunalen Selbstverwaltung auf die einschlägige europäische Charta (Art. 123 Abs. 3).

6. Sonstige neue Textstufen, insbesondere in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit Manche andere Textensembles verdienten die Aufmerksamkeit der Wissenschaft, etwa Art. 108 zum „Richterrat“. Doch ist im Folgenden eine Selbstbeschränkung erforderlich: Der Verfassunggeber des Kosovo nimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit sehr ernst. Er widmet dem Verfassungsgericht ein eigenes Kapitel VIII (Art. 112 bis 118). Der Verfassungsgerichtshof ist in Art. 112 Abs. 1 als „final authority for the interpretation of the Constitution“ definiert – dagegen hat der Verfasser dieses Beitrages bereits Bedenken erhoben. Auffallend ist der ungemein breite Kompetenzkatalog (Art. 113). Er erinnert in vielem an den weiten Zuständigkeitskatalog des deutschen BVerfG und geht mitunter sogar darüber hinaus. Bemerkenswerterweise können Gemeinden Verfassungsbeschwerde erheben (Art. 113 Abs. 4), auch Individuen (Abs. 7), nach Maßgabe des Prinzips der Subsidiarität. In Abs. 8 findet sich sogar das richterliche Prüfungsrecht. Auffällig ist das Recht des Präsidenten der Versammlung, das heißt des Parlaments, geplante Verfassungsänderungen in Sachen Grundrechte und Grundfreiheiten bei einer Gefahr von deren Verringerung ex ante dem Verfassungsgericht vorzulegen (Abs. 5). Auch vor geplanten Referenden können manche Staatsorgane die Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüfen lassen (Abs. 9). In überaus detaillierten Regelungen, die sehr kompliziert sind, werden die „Communities“ wieder besonders geschützt (Art. 114 Abs. 3). Auffällig ist, dass sich keine ausdrückliche Erwähnung der Möglichkeit zu Sondervoten in der Verfassung selbst findet (vgl. demgegenüber Art. 164 Abs. 1 Verf. Spanien). Möglicherweise hat dies einen guten Grund: Ein so labiles politisches Gemeinwesen, wie der neu geschaffene Kosovo, kann es sich noch nicht leisten, die Möglichkeit zu einem verfassungsrichterlichen Sondervotum zu eröffnen. Die Stabilität des Ganzen könnte in Gefahr geraten. Anderes gilt etwa z. B. für das heutige Italien. Für dort hat der Verfasser dieses Festschriftenbeitrags seit zwei Jahrzehnten in Gesprächen mit den jeweiligen Präsidenten der Corte in Rom sich für die Etablierung des Institutes des Sondervotums eingesetzt: auf der Basis des Verständnisses der „Verfassung als öffentlicher Prozess“, in dessen Verlauf Minderheitsvoten von heute zum Mehrheitsvotum von morgen werden können (dafür gibt es Beispiele im US-Supreme Court und im deutschen BVerfG). Die italienische „Verfassung als Kultur“ könnte dies tragen. Im Ganzen: Dieser kleine Beitrag konnte nur etwas von dem werkstatthaften Erfindungsreichtum und der Eigenart der neuen Verfassung des zum Nationalstaat gewordenen Kosovo beim Namen nennen. 16

Dazu mein Beitrag: Das europäische Georgien, in: JöR 58 (2010), S. 409 (416).

II. Die Verfassung von Ecuador (2008)* Vorbemerkung Lateinamerika ist heute im Großen, wie die Schweiz mit ihren Kantonsverfassungen im Kleinen, eine höchst vitale Werkstatt für den Verfassungsstaat, ein Verfassungslaboratorium mit vielen Experimenten. Dies zeigt sich vor allem seit den Verfassungen Brasiliens (1988), Kolumbiens (1992), zuletzt auch Boliviens (2007). Aus europäischer Sicht hat der brasilianische Konstitutionalismus jetzt die Führung übernommen, zum einen dank der dortigen Wissenschaftlergemeinschaft, zum andern dank des Bundesgerichts in Brasilia, das viele Leitentscheidungen gefällt hat und höchst innovationsreich neue Verfahren im Verfassungsprozessrecht entwickelt. Man denke nur an die Praxis von amicus curiae und der öffentlichen Hearings sowie großer Sondervoten der Richter in Brasilia, insbesondere aus der Feder von Präsident G. Mendes. Die Verfassungsstaaten in Lateinamerika sind auf der Suche nach eigener kultureller Identität, vor allem in Abgrenzung gegenüber den USA. Dabei kann der vom Verfasser dieses Geburtstagsblattes seit 1982 unternommene kulturwissenschaftliche Ansatz helfen. Im heutigen Zeitalter einer Globalisierung kommt es über Ländergrenzen und Kontinente hinweg zu großen Produktions- und Rezeptionsprozessen – fast weltweit. Es geht dabei um den Austausch von Verfassungstexten (auch Klassikertexten als Verfassungstexten i. w. S.), großen Entscheidungen der Gerichte und Theorien, eine Trias. In Europa ist das annus mirabilis von 1989 als „Weltstunde des Verfassungsstaates“ ein Stichwort. In arabischen Ländern könnte das Jahr 2011 angesichts des Arabischen Frühlings zu einem solchen Stichwort werden und das Mittelmeer zum „Mare nostrum constitutionale“ machen. Im Folgenden ist nur ein knapper Überblick über die wesentlichen Inhalte, Neuerungen, auch Defizite des höchst umfangreichen Verfassungstextes aus dem Jahre 2008 möglich.

* Erstveröffentlichung in: FS A. D’Atena (Rom), 2015 i. E.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Erster Teil

Allgemeine Regelungen – Innovationen und Traditionen im Spiegel der Texte von Ecuador (2008) I. Die Präambel – der Theorierahmen Präambeln können zum Meisterstück eines nationalen Verfassunggebers werden. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht gleichen sie Präludien, Prologen und Ouvertüren in der Kunst, Musik und Dichtung. In bürgernaher Sprache geben sie als Konzentrat den wesentlichen Inhalt einer Verfassung wieder, sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und erfassen auf diese Weise die Zeitdimension und sie können in glücklichen Einzelfällen zu einem Textereignis werden, indem sie den Bürger buchstäblich (auch emotional) „ansprechen“. Insofern besteht ein tiefer innerer Zusammenhang mit Nationalhymnen und Nationalflaggen, auch mit anderen Ausdrucksformen der nationalen Erinnerungskultur, etwa der Feiertage. Vorbildliche Präambeln gibt es aus jüngerer Zeit in Südafrika (1996), Polen (1997) sowie Albanien (1998), überdies in Kenia (2010). Die Präambel von Ecuador ist in allen ihren Einzelteilen geglückt: sie beruft sich auf tausendjährige Wurzeln, die von Frauen und Männern verschiedener Völker geschaffen worden sind, sie feiert die Natur, die vitaler Bestandteil der gemeinsamen Existenz ist, sie formuliert eine invocatio dei und anerkennt die verschiedenen Formen der Religiosität und Geistigkeit und appelliert an alle Kulturen, die sie als Gesellschaft bereichert und formuliert als Selbstverständnis die Erbschaft der sozialen Befreiungskämpfe gegenüber allen Formen der Unterdrückung und des Kolonialismus. Die Präambel schließt im Ersten Teil mit der neuen Textstufe des Hinweises auf einen tiefen Kompromiss zwischen Gegenwart und Zukunft – ein Gesellschaftsvertrag in der Zeit! Diese Zukunftsdimension wird im Folgenden umrissen: als neue Form des bürgerlichen Zusammenlebens in Verschiedenheit und Harmonie mit der Natur, um ein gutes Zusammenleben zu erreichen. Überdies soll die Gesellschaft in all ihren Dimensionen die Würde der Personen und der Gemeinschaften respektieren, das demokratische Land soll sich der lateinamerikanischen Integration verpflichten im Sinne des Traumes von Bolivar und Alfaro, ebenfalls der Solidarität mit allen Völkern der Erde: ein Stück „Weltbürgertum“ (Zusatz: welch ein „Narrativ“!). Diese meisterhafte Präambel darf für sich in Anspruch nehmen, im Theorierahmen einer vergleichenden Verfassungslehre als geglückter Beispielsfall zu gelten. Der sprachliche Glanz, die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die Konzentrierung auf wesentliche Verfassungsinhalte überzeugen.

II. Die Verfassung von Ecuador (2008)

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II. Die konstitutiven Elemente des Staates – Grundprinzipien und Staatsbürgerschaft In neuartiger Weise formuliert die Verfassung von Ecuador als Titel I sogenannte „konstitutive Elemente des Staates“. Hier finden sich Grundwerte, Klauseln zum Selbstverständnis des Staates, Staatssymbole und Staatsziele. Im Einzelnen: Art. 1 versteht Ecuador als Verfassungsstaat von Rechten und Gerechtigkeit, als Sozialstaat, Demokratie und als interkulturales, plurinationales und laizistisches Gemeinwesen. Die Republik soll sich dezentral organisieren. Auch die natürlichen, nicht erneuerbaren Ressourcen auf dem Gebiet des Staates umfassen das unveräußerliche Patrimonium. Art. 2 definiert die Nationalflagge, das Wappen und die Nationalhymne als Symbole des Vaterlandes. In Absatz 2 wird das Spanische als Staatssprache fixiert, zugleich werden die Sprachen der eingeborenen Völker geschützt und bewahrt. Art. 3 formuliert einen Katalog von Grundpflichten des Staates (!) – eine neue Textstufe. Hier finden sich u. a. Garantien des Genusses der Rechte ohne jede Diskriminierung sowie der Erziehung, der Gesundheit, der Ernährung, der sozialen Sicherheit und des Wassers (!) für die Einwohner. Ferner gehören zu diesen Grundpflichten die Stärkung der nationalen Einheit in Vielfalt, die Garantie der weltlichen („laizistischen“) Ethik als Unterstützung der öffentlichen Aufgaben und der juristischen Ordnung. Von den weiteren Ziffern sei die Grundpflicht zum Schutz des natürlichen und kulturellen Erbes des Landes genannt. Ganz neu formuliert Ziff. 8 die Garantie einer „Kultur des Friedens“ sowie einer demokratischen Gesellschaft, die frei von Korruption ist, eine ebenso kühne wie nicht nur in Lateinamerika notwendige Textstufe. Art. 4 umreißt die Grenzen des Staatsgebietes und legt Quito als Hauptstadt des Landes fest. Art. 5 definiert Ecuador als „Gebiet des Friedens“. Damit wird der herkömmliche Staatsgebietsartikel alter Verfassungsstaaten um bestimmte Werte angereichert, z. B. soziale und kulturelle Werte der Vorfahren. Verfassungstheoretisch ist dies ein Gewinn und vorbildlich. Das zweite Kapitel des Grundlagenteiles befasst sich mit der Staatsbürgerschaft, insbesondere der Naturalisation.

III. Grundrechte („Derechos“) 1. Anwendungsprinzipien Ganz neue Textelemente gelingen der Verfassung von Ecuador in Titel II. Sie beschäftigt sich zuerst mit „Anwendungsprinzipien“ – nicht also wie in den klassischen Verfassungen vorweg mit den einzelnen Grundrechten. Vermutlich müssen in neuen Verfassungen junger Länder die Anwendungsregeln voran gestellt werden, um sie den Betroffenen zu „lehren“. Der Katalog im späteren Art. 11 ist ungemein formenreich: Erwähnt sei nur der Hinweis auf die individuelle oder kollektive Aus-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

übungsform der Grundrechte, die Garantie der Gleichheit bei der Ausübung aller Rechte und Pflichten, das Diskriminierungsverbot aus Gründen des Alters, des Geschlechts, der kulturellen Identität, der Behinderung etc. Dem Staat wird sogar eine „acción afirmativa“ zur Herstellung realer Gleichheit auferlegt – eine neue Textstufe, im Geiste eines wirklichkeitswissenschaftlichen Grundrechtsverständnisses. Überdies erklärt die Verfassung die internationalen Menschenrechtsgarantien für unmittelbar anwendbar. Schließlich finden sich das Gebot der gänzlichen Justiziabilität der Rechte sowie der Schutz ihres Wesensgehalts (Ziff. 4). Art. 11 Ziff. 5 bringt sogar das auf Texte, was in Europa unter dem Stichwort „effektiver Grundrechtsschutz“ erarbeitet worden ist („interpretación que más favorezan su efectiva vigencia“). In Richtung der Idee optimaler Grundrechtsentwicklung und -verwirklichung gehen auch Ziff. 7 und 8 („de manera progressiva a través de las normas, la jurisprudencia y las politicas públicas“). All diese unausgesprochenen Rezeptionen wissenschaftlicher Literatur und Judikatur aus Europa kann gar nicht genug gerühmt werden.

2. Einzelgrundrechte (Auswahl) Das zweite Kapitel normiert viele Themen im Gewand von Grundrechten, etwa die „Rechte auf gutes Leben“, etwa das „Menschenrecht auf Wasser“, das „Recht auf gesunde und ausgewogene ökologische Umwelt“, die die Nachhaltigkeit garantieren. Als Staatsaufgabe sind sogar die alternativen Energien genannt (in Europa hat dies bislang wohl noch kein Verfassunggeber gewagt). Art. 16 formuliert das Grundrecht auf Kommunikation und Information, wobei auch hier an die individuelle und kollektive Ausübung zugleich gedacht ist. In Verbindung mit den Grundrechten sind eine Vielzahl von Grundrechtsaufgaben des Staates formuliert, die hier nur stichwortartig genannt seien: Universaler Zugang zu den Techniken der Information und Kommunikation, wobei der Staat die Pluralität und Vielfalt des übergreifenden Kommunikationsrechts in vielen Dimensionen gestalten soll – ein bald gemeineuropäischer Gedanke. Dabei wird die Emission von Sendungen über Gewalt, Diskriminierung, Rassismus und Intoleranz ausdrücklich und vorbildlich verboten. Unter dem Stichwort Kultur und Wissenschaft werden z. T. neue Textstufen formuliert, etwa das Recht aller Personen auf die eigene kulturelle Identität oder das Zugangsrecht für die verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen (Art. 21 – 25): ein vorbildliches Wachstum des Kulturverfassungsrechts. Art. 26 – 29 befassen sich mit der Erziehung. Hier fallen wichtige Stichworte: ganzheitliche Erziehung, Erziehung zu den Menschenrechten und zur Nachhaltigkeit sowie zur Demokratie (ein Stück Menschenrechts- bzw. Verfassungspädagogik!); als weitere Grundwerte bzw. Erziehungsziele finden sich die Solidarität und der Frieden (Art. 27), vielleicht schon ein Stück „Weltrechtskultur“. Der Erziehung wird ein hoher Rang für die Ausübung der Rechte und den Ausbau eines souveränen Landes beigelegt. Ihr wird sogar ein Gemeinwohlinteresse zugesprochen

II. Die Verfassung von Ecuador (2008)

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(Art. 28 Abs. 1). Dem Staat wird zur Pflicht gemacht, den interkulturellen Dialog in seinen verschiedenen Dimensionen zu fördern. Aus der weiteren Themenliste seien genannt: „Hábitat y vivienda“, Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit (Art. 30 – 34). Auch hier sind die „subjektiven Rechte“ immer in den Kontext staatlicher Grundrechtsaufgaben gestellt. Beim Recht auf soziale Sicherheit fallen die auch in Europa bekannten Stichworte „Solidarität“ und „Subsidiarität“. Der Verfassunggeber in Ecuador denkt auch in ausführlichen Normierungen an die alten Menschen, an den Jugendschutz, an die „Movilidad humana“ (Art. 40), hier wird z. B. die freiwillige Familienzusammenführung erwähnt. Besonders eindrucksvoll ist Art. 41, der das Recht auf Asyl und Zuflucht garantiert. Schutzpflichten werden dem Staat überdies zugunsten von schwangeren Frauen, Kindern und Heranwachsenden zugeschrieben (Art. 43 – 46). Besonders ausführlich nimmt sich die Verfassung der Schutzrechte für Behinderte an – eine Rezeption einschlägiger UN-Abkommen (Art. 47 – 49). Ein eigenes Kapitel befasst sich mit den Rechten der Gemeinschaften und Eingeborenenvölker (Art. 56 – 60). Hier finden sich neue Textstufen, etwa zum Schutz der ethnischen oder kulturellen Identität sowie der natürlichen Umwelt, auch wird das kulturelle und historische Erbe als Teil des „Patrimonium“ von Ecuador geschützt. Besonders wichtig ist dem Verfassunggeber der Schutz der Kulturen der Eingeborenenvölker sowie der „Afroekuadoriano“. Das fünfte Kapitel befasst sich mit den Rechten auf Partizipation (Art. 61 – 65). Hier fällt die Textstufe „Partizipation“ an Angelegenheiten von öffentlichem Interesse auf (Art. 61 Abs. 1 Ziff. 2). Sogar an die Parität bzw. gleiche Quote zwischen Frauen und Männern bei öffentlichen Funktionen ist gedacht (Art. 65). Das sechste Kapitel befasst sich mit den Freiheitsrechten. Sie sind bis in das letzte Detail geregelt und mit geglückten Klauseln zur Pluralität und Toleranz unterfüttert (Art. 66 Ziff. 8). Auch an die Eigentumsfreiheit und den familiären Privatheitsschutz ist gedacht. Das Verfassungsrecht der Familie ist besonders breit normiert (Art. 69). Von den weiteren Rechten sei Art. 75 erwähnt, der kostenlosen Zugang zur Justiz für Jedermann garantiert. Die Prozessgrundrechte sind eingehend ausgestaltet (Art. 76 – 82), sie bilden längst ein Element des „universalen Konstitutionalismus“. Ein eigenes Kapitel neun widmet sich den Grundpflichten (Art. 83). Im reichen Katalog findet sich ebenso die Pflicht von Jedermann, die territoriale Integrität von Ecuador zu schützen, wie dem Gemeinwohl zu dienen und ihm den Vorzug vor dem Partikularinteresse zu geben. Zur Pflicht wird auch der Schutz des kulturellen Erbes gemacht sowie am politischen Leben „in ehrlicher Weise und transparent“ teilzunehmen (Art. 83 Ziff. 17). Im Ganzen besteht freilich die Gefahr einer zu intensiven Inpflichtnahme des Bürgers auf allen möglichen Feldern: Jede Art von Erziehungsdiktatur sollte abschrecken!

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Der Titel III befasst sich mit „konstitutionellen Garantien“. Art. 84 verbietet in jedem Fall eine Reform der Verfassung, die der Garantie der Rechte widerspricht. Aus der Fülle der weiteren Regelungen hier nur wenige Stichworte, etwa das Recht auf Zugang zur öffentlichen Information (Art. 91), die „Acción de hábeas data“ (Art. 92) mit einem bemerkenswerten Zugangsrecht zu Archiven: sie sind ein Stück des kollektiven Gedächtnisses der Nation. Sehr weitgehend gewährt Art. 93 eine Verfassungsklage bei Nichterfüllung von Normen, Urteilen und Entscheidungen des Staates.

IV. Partizipation und Organisation der Macht In diesem Abschnitt sind höchst originell die Idee der Partizipation und die Organisation der Macht zusammengeführt. Dies ist eine neue Konstruktion, die Beachtung verdient, auch in systematischer Hinsicht. Da der Titel sehr umfangreich ist, können nur wenige Stichworte behandelt werden. Weitgehende Partizipationsrechte auf den verschiedenen Ebenen der Staatsgewalt räumt Art. 100 ein. Art. 103 garantiert Instrumente der direkten Demokratie bis hin zur Einschaltung des Staatspräsidenten (Art. 104). Der Verfassunggeber hat auch das Parteienrecht sehr detailreich geregelt (Art. 108 – 111). Parteien werden als Bewegungen definiert, die die politische Pluralität des Volkes zum Ausdruck bringen und philosophische, politische, ideologische Konzeptionen, indes nichtdiskriminierender Art enthalten – solche Klauseln sind heute ein Gemeingut vieler Verfassungsstaaten, weltweit. Sogar an Vorwahlen ist gedacht (Art. 108 Abs. 2). Bemerkenswert ist Art. 115, der die Medien für die Vorbereitung der Wahlen in den Dienst nimmt. Im Folgenden ist sowohl die politische Repräsentation als auch die gesetzgeberische Funktion in den Blick genommen. Konsequent werden die einzelnen Verfahren in der Nationalversammlung aufgelistet – im Dienste des Gemeinwohls (Art. 132). Auch das Amt des Präsidenten der Republik wird in seinen einzelnen Funktionen minutiös nachgezeichnet. Gleiches gilt für die Ministerien. Das Thema der Streitkräfte ist ebenso geregelt wie der Ausnahmezustand (Art. 158 – 163 bzw. 164 – 166). Einen neuen Boden betritt die Verfassung von Ecuador im Abschnitt über die Gerichtsfunktionen und die Gerechtigkeit für die Eingeborenen. Der Verfassunggeber baut hier textlich ein ganz neues System auf, dass hoffentlich nicht nur toter Buchstabe bleibt. Auch findet sich eine Art Volksanwalt (Art. 191 – 193). Besondere Sorgfalt wird dem Opferschutz gewidmet (Art. 198). Gleiches gilt für die Resozialisierung (Art. 201 – 203).

II. Die Verfassung von Ecuador (2008)

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V. Die territoriale Organisation des Staates Titel V der Verfassung regelt die territoriale Organisation des Staates in den Art. 238 – 274. Hier finden sich viele recht technische Normen, etwa zu den Regionen, Provinzen, Kantonen und ländlichen Gemeinden. Art. 242 Abs. 1 nimmt sich hierbei materiell des Umweltschutzes und der ethnisch-kulturellen Zusammenhänge an. Die Verfassung denkt sehr detailliert an die Zuständigkeiten im Einzelnen, die in langen Kompetenzkatalogen aufgezählt sind, aus welchen auch das große Bild der Fülle der Staatsaufgaben insgesamt sichtbar wird. Verankert sind sowohl das Prinzip der Subsidiarität als auch der Solidarität (Art. 270). Wie diese Prinzipien in der Wirklichkeit aussehen, lässt sich naturgemäß nicht aus den Texten erkennen. Bleibt Vieles „semantisch“?

VI. Das Ordnungssystem der Entwicklung In diesem Titel VI. regelt die Verfassung in ganz neuartiger Weise das Thema der Entwicklung. Sehr ausführlich, fast detailverliebt bekennt sich die Verfassung zu Ecuador als Entwicklungsland in Sachen Umweltschutz, Wirtschaft, soziokulturelle Entwicklungen und die Garantie eines „guten Lebens“. Auf den ersten Blick übernimmt sich der Staat mit all diesen Entwicklungsaufgaben. Die Ziele sind überaus ehrgeizig. Man fragt sich, ob und wie das kleine Land all diesen Aufgaben gerecht werden kann, vielleicht in Dekaden, schrittweise, im Verbund mit lateinamerikanischen Nachbarländern.

VII. Regeln für das gute Leben Dieser Abschnitt ist schon in seiner Ausdrucksweise neu. Die Rede ist von großen Zielen wie Gerechtigkeit, Solidarität, Transparenz, Partizipation und Kultur. Vor allem der Erziehung gilt große Aufmerksamkeit des Verfassunggebers in einem eigenen Abschnitt (Art. 343 – 357). Hervorzuheben ist etwa das nicht nur in Lateinamerika akute Bekenntnis zur Beseitigung des Analphabetismus (Art. 347 Ziff. 7). Das Erziehungsprogramm ist gewaltig und gerät m. E. an die Grenzen des Verfassungsstaates, weil es dazu führen könnte, dass der Bürger in seiner freien persönlichen Entwicklung überreglementiert wird. Von den weiteren Themen sei der Abschnitt über die Gesundheit erwähnt, der sowohl in den Zielen als auch in der Organisation sehr anspruchsvoll ist. Ein eigenes Wort verdient der Abschnitt über die Kultur (Art. 377 – 415). Dem Verfassunggeber in Ecuador ist hier manches gelungen. Hier einige Beispiele: Art. 377 verlangt Gedächtnispolitik und Schutz des kulturellen Erbes sowie vollständige Verwirklichung der kulturellen Rechte. Zum „patrimonio cultural“ werden im Hinblick auf die Identität von Personen und Gemeinschaften in Art. 379 viele

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Aspekte gerechnet: etwa die Sprachen, die mündlichen Ausdrucksformen unter Einschluss von Ritualen und Festen, andere Identitätselemente der Völker in historischer, künstlerischer und archiologischer Hinsicht, auch an Archive und Bibliotheken ist gedacht – dies ist eine vorbildliche Textstufe. Die Kulturgüter des Staates werden als unveräußerlich definiert. Auch wird an die plurinationale, plurikulturelle und multiethnische Identität von Ecuador erinnert (Art. 380 Ziff. 1). In weiteren Abschnitten ist an die soziale Kommunikation ebenso wie an die Wissenschaft gedacht. Dem Staat wird hier viel Verantwortung eingeräumt. Innerhalb des großen Kulturthemas ist auch der Umweltschutz behandelt (nachhaltige Entwicklung: Art. 395 Ziff. 1). Hier wird auch an die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen gedacht, womit sich der Verfassunggeber in Ecuador „auf der Höhe der Zeit“ des Typus Verfassungsstaat befindet. Art. 404 schützt das „patrimonio natural“ unter fast allen Gesichtspunkten und räumt auch sogenannte „Recursos naturales“ (Art. 408) ein. Gedacht ist auch an das Wasser (Art. 411 und 412) sowie an die Biosphäre und alternative Energien (Art. 413 – 415). Damit sind wichtige neue Verfassungsthemen auf Texte gebracht worden. Einmal mehr zeigt sich, dass die verfassungsstaatliche Themenliste offen ist.

VIII. Internationale Beziehungen Ein solcher Abschnitt (Art. 416 – 423) findet sich in vielen neueren Verfassungen, etwa in einzelnen Artikeln oder in ganzen Sektionen – im Geiste des weltoffenen, kooperativen Verfassungsstaates. In Ecuador werden zunächst die Prinzipien normiert, wobei Kooperation, Integration und Solidarität proklamiert werden. Auch die Ziele der Beförderung des Friedens und der universalen Abrüstung sind normiert. Erneut wird der Respekt vor den Menschenrechten eingefordert, auch solche der Einwanderer. Verdammt werden alle Formen des Imperialismus und des (Neo-)Kolonialismus. Angestrebt wird die Bildung einer multipolaren globalen Ordnung. Skizziert werden die Aspekte eines Weltverfassungsrechts im Sinne einer gerechten, demokratischen, solidarischen und interkulturellen Welt (Art. 416 Ziff. 10): Materialien für einen erst noch zu entwerfenden universalen Konstitutionalismus. Priorität wird in Ziff. 11 ebd. der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Integration der Region der Anden, Südamerikas und Lateinamerikas eingeräumt (Ziff. 12 ebd.). Sogar Kontrollmechanismen gegenüber den multinationalen Unternehmen werden gefordert, ebenso die Bewahrung und Regeneration des Planeten und der Biosphäre: derzeit fast utopisch. Art. 417 – 422 befassen sich mit den internationalen Verträgen und Instrumenten. Hier wird die Einschränkung der Menschenrechte ausgeschlossen und eine direkte Anwendbarkeit für diese, gemäß den Öffnungsklauseln der Verfassung von Ecuador verlangt (Art. 417). Der lateinamerikanischen Integration wird ein eigenes Kapitel eingeräumt (Art. 423) – das Pendant zu Europa-Artikeln in deutschen oder österreichischen

II. Die Verfassung von Ecuador (2008)

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Verfassungen. Eingeschlossen ist die Karibik. Das Themenfeld dieses „nationalen Lateinamerika-Verfassungsrechts“ ist weit gefächert, sogar die Schaffung einer lateinamerikanischen und karibischen Staatsbürgerschaft wird vorgeschlagen (Art. 423 Ziff. 5). Hier handelt es sich um eine wohl neue, kühne Textstufe, die meines Wissens in Lateinamerika einzigartig ist. Weltweit könnte man an die Parallele der EU denken, Stichwort: Unionsbürgerschaft. Sichtbar wird hier ein Element einer universalen Verfassungslehre der Zukunft, nämlich die Schaffung regionaler „Unionsbürgerschaften“. Noch hat die lateinamerikanische (und afrikanische) Gemeinschaft weit weniger dichte Strukturen als die europäische Verfassungsgemeinschaft der EU. Doch sei die Tendenz festgehalten. Heute erscheint die lateinamerikanische Unionsbürgerschaft noch utopisch. Morgen könnte sie Gestalt annehmen – wie die europäische Unionsbürgerschaft.

IX. Vorrang der Verfassung Formal und inhaltlich gelingt dem Verfassunggeber von Ecuador unter dem in vielen neueren Verfassungen formulierten Titel „Vorrang der Verfassung“ ein Höhepunkt. Hier finden sich in großer Konzentration die Themen, deren sich heute jede nationale Verfassung auf der derzeitigen Entwicklung des Verfassungsstaates in „weltbürgerlicher Absicht“ annehmen kann bzw. annehmen sollte. Im ersten Kapitel wird den Menschenrechtsgarantien in internationalen Verträgen höchster Rang eingeräumt und die für die Verfassungsinhalte günstigste Lösung verlangt (Art. 425). Art. 427 nähert sich dem Gebot der Interpretation der Verfassung als Ganzes an, was die deutsche Staatsrechtslehre und das BVerfG seit Jahrzehnten entwickelt haben. In Zweifelsfällen soll die Auslegung der Rechte dem Gebot der möglichst vollständigen Geltung folgen und mit den „allgemeinen Regeln der Verfassungsinterpretation übereinstimmen“ – eine neue Textstufe, inspiriert von der Wissenschaft. Das zweite Kapitel regelt Strukturen und Funktionen des Verfassungsgerichts. Hier entspricht alles dem fast weltweit erreichten hohen Standard (Art. 429 – 440). Insbesondere ist auch eine Verfassungsbeschwerde individueller oder kollektiver Art vorgesehen (Art. 439). Eigens erwähnt sei als Qualitätsvoraussetzung für Verfassungsrichter das Erfordernis der „Rechtschaffenheit und Ethik“ (Art. 433). Das sollte Schule machen. Das dritte Kapitel gilt der „Reform der Verfassung“ (Art. 441 – 444). Unterschieden ist zwischen einer (besonders in der Schweiz bekannten) Partialrevision und sonstigen Reformen. Ausgeschlossen sind Reformen, die die grundsätzliche Struktur der Verfassung oder die konstitutiven Elemente des Staates, die Beschränkungen der Grundrechte und die Verfahren der Reform der Verfassung planen. Damit ist eine wohl absolute Schranke, die einer „Ewigkeitsgarantie“ i. S. des deutschen GG und der portugiesischen Verfassung von 1976 gleichkommt, gezogen. Implizite ist damit der Kern des heutigen Verfassungsstaates als universales Projekt umrissen. In Gang gesetzt werden kann die Reform durch den Präsidenten der Repub-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

lik. Eingeschaltet sind die Nationalversammlung und das Verfassungsgericht. Gemäß Art. 144 kann eine Verfassunggebende Versammlung nur nach einem Volksentscheid einberufen werden.

X. Übergangsbestimmungen Zahlreiche Übergangsbestimmungen füllen den Rahmen der Verfassung aus. So sollen Gesetze über die Regeln des Verfassungsgerichts und sein Verfahren ergehen, auch solche über die Partizipation der Bürger, über die Erziehung, über die territoriale Dezentralisierung und das Strafverfahren in Sachen Militär und Polizei. Wie in anderen Verfassungen sollten die Übergangsbestimmungen nicht unterschätzt werden. Zweiter Teil

Allgemeine Bewertung I. Positiva Im Ganzen sind nicht wenige positive Bewertungen angebracht. Dem Verfassunggeber in Ecuador gelingen viele neue Textstufen, etwa in Sachen der „konstitutiven Elemente des Staates“ sowie bei den Grundrechten. Ihre „Anwendungsprinzipien“ bringen Vieles auf eine Textstufe, was in Europa von der Judikatur und Wissenschaft entwickelt worden ist. Auch bei den Einzelgrundrechten finden sich neue Themen, etwa in Sachen kulturelle Identität oder Erziehung. Ecuador wagt sich auf Neuland, auch dort, wo es sich mit der „Reform der Verfassung“ beschäftigt. Durchgängig geht es ihm darum, mit dem „Vorrang der Verfassung“ ernst zu machen, die optimale Wirkkraft, vor allem der Grundrechte durchzusetzen und die gesamte Ordnung des Staates verfassungskonform zu gestalten: dies ist vielen Lehren in Europa kongenial. Man darf das Gesamturteil wagen, dass sich der Verfassunggeber in Ecuador sowohl geglückter Weiterentwicklungen des Verfassungsstaates als universalem Projekt einerseits und als nationalem Beispiel in Lateinamerika andererseits rühmen kann. II. Kritische Bemerkungen Einige kritische Bemerkungen seien nicht unterlassen: Die Verfassung von Ecuador leidet an ihrer Überlänge. 444 Artikel, zuzüglich dutzender Übergangs- und Schlussvorschriften, sind alles andere als bürgernah. In vielen Regelungsbereichen ist die Verfassung von Ecuador recht unübersichtlich und nur dem juristischen

II. Die Verfassung von Ecuador (2008)

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Fachmann verständlich. Gleichwohl verdient die Verfassung von 2008 weltweite Beachtung der Verfassungslehre als universaler Wissenschaft. Mögen Verfassungstexte oft auch nur ein „möglicher“ Weg und ein wichtiges Medium der Verfassungsentwicklung sein: Verfassungstextkonforme Wirklichkeit muss erst noch heranwachsen. Hier ist die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Wissenschaft gefordert, beide können durch verfassungsvergleichende Umschau in anderen Ländern über Lateinamerika hinaus dem Vorwurf der Semantik und Programmatik des Textes begegnen und eine, den großen Anforderungen des Textes von 2008 entsprechende Verfassungswirklichkeit schaffen.

Persönlicher Ausblick und privater Dank Dieses Geburtstagsblatt für A. D’Atena hat sich seinen Gegenstand nicht zufällig gewählt: Der Jubilar hat mehrfach Lateinamerika als Wissenschaftler bereist, etwa Brasilien und Costa Rica. So mag dieser kleine Beitrag ihn auch an zum Teil gemeinsame glückliche (seine Frau Anna einschließende) Reisen, etwa nach Brasilia und Salvador de Bahia, erinnern (2011). Verbunden ist damit der Dank des Autors dieser Zeilen für jahrelange bewährte Freundschaft aus Wissenschaft und Persönlichkeit (seit 1992 in Rom, 1995 in Bayreuth und Weimar).

III. Die neue Verfassung von Kenia (2010)* Zueignung Dieser Beitrag ist einem Staatsrechtslehrer gewidmet, der für sich in Anspruch nehmen kann, „europäischer Jurist“ zu sein. Seine Lehrbücher und Monographien strahlen weit über Portugal hinaus nach ganz Europa aus, sie verarbeiten Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, auch Literatur deutscher Autoren wie eines K. Hesse, den der Jubilar vor Jahrzehnten in Freiburg besucht hatte. Zugleich ist J. J. Gomes Canotilho ein Brückenbauer nicht nur nach Brasilien, sondern auch nach Afrika. So begrenzt letztlich die Staatsrechtslehre als Wissenschaft in ihren Möglichkeiten gegenüber der Politik bleibt, gute juristische „wissenschaftliche Vorratspolitik“ für den Typus Verfassungsstaat zu leisten, so groß dürfte gerade heute der teils unmittelbare, teils mittelbare Einfluss großer Staatsrechtslehrer auf neu entstehende Verfassungen sein: Sie werden zum indirekten Verfassunggeber, denn neue Verfassungen verarbeiten vergleichend die Trias von Texten, von Judikaten und wissenschaftlicher Literatur – dies oft parallel zu den klassischen vier Interpretationsmethoden seit F. C. von Savigny (1840), jetzt um die Gestaltungsmacht des Verfassungsvergleiches als „fünfter“ Methode ergänzt1. Mögen zahlreiche Hoffnungen unmittelbar nach dem „annus mirabilis 1989“, der Weltstunde des Verfassungsstaates, vor allem heute schwinden, angesichts der globalen Konflikte, des Terrorismus, der Christenverfolgungen und der vielen großen und kleinen Kriege: Auch nach dem Aufbruch vieler Verfassunggeber nach 1989, vor allem aber in Osteuropa (aber auch in Südafrika), kommt es in manchen Teilen der Welt selbst in unseren Tagen zu im Ganzen geglückten neuen Verfassungstexten, so etwa im Kosovo2, und jüngst eben in Kenia. Gewiss, es wird Jahre brauchen, bis aus gut geschriebenen Verfassungstexten kongeniale Verfassungswirklichkeit wird, bis schöne Semantik zu authentischer Realität reift. Doch muss die Wissenschaft das Ihre tun, um einer jungen Verfassung zu helfen, ihre Versprechen und Hoffnungen einzulösen und zur „lebenden Verfassung“ zu werden. Die normative Kraft der Verfassung (K. Hesse) Wirklichkeit werden zu lassen – hierzu kann selbst ein einzelner Wissenschaftler beitragen, zumal wenn er das Format eines J. J. G. Canotilho besitzt.

* Erstveröffentlichung in: FS Canotilho (Portugal), Bd. II 2012, S. 325 – 333. 1 Nachweise für die Entstehungsgeschichte des GG jetzt in: JöR Neuausgabe von Bd. 1, 2. Aufl. 2010, S. VI – XXVI. 2 Dazu mein Beitrag in FS Miranda, Vol. III, 2012, S. 409 ff.

III. Die neue Verfassung von Kenia (2010)

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Dem Verfasser sind die offiziellen Beratungsgremien beim Entstehungsprozess der Verfassung Kenias nicht bekannt – dem Vernehmen nach soll es sich um Fachleute aus Südafrika und Kanada handeln. Indes: Sind deren Texte einmal in der Welt, lösen sie sich von dem subjektiven Willen der Schöpfer, so dass sie einer „objektiven“ wissenschaftlichen Betrachtung Unbeteiligter zugänglich werden. So kann es mittelfristig dazu kommen, dass Verfassungen „klüger“ sind als die Verfassunggeber, um ein von G. Radbruch für den Gesetzgeber und Gesetze geschaffenes Zitat zu variieren. Nur deshalb erlaubt sich der Verfasser dieses Geburtstagsblattes einen zeitlich so frühen Kommentar.

Ein erster Blick auf wichtige Textensembles (Auswahl) 1. Die Präambel Die meisten neueren Verfassungen beginnen mit einer Präambel. Kulturwissenschaftlich betrachtet, sind sie Prologen, Ouvertüren oder Präludien vergleichbar: sie wollen auf den nachstehenden Text in feierlicher und bürgernaher Sprache buchstäblich „einstimmen“, verdichten die folgenden Verfassungstexte zu einem Konzentrat, indem sie die wichtigsten Werte normieren, verarbeiten Geschichte (als „Narrativ“) und entwerfen die erhoffte Zukunft des Landes. Die Präambel Kenias liefert geradezu ein Musterstück für den Idealtypus einer Präambel des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe: In kurzen prägnanten Worten mit suggestiver Kraft, bürgernah und verständlich, schafft sie einen Text, der das Folgende, in manchen Teilen leider zu weitschweifig, formuliert, skizziert. So beginnt die Präambel von Kenia mit dem aus den werdenden USA stammenden „We, the People“, um sogleich einen ersten Gottesbezug in den Worten herzustellen: „Acknowledging the supremacy of the Allmighty God of all creation“. Wenn der Schlusssatz der Präambel lautet: „God bless Kenya“ – ein den USA geläufiges Dictum –, so zeigt sich hier, wie der Verfassunggeber dieses Landes buchstäblich seine Präambel in zwei Gottesklauseln einrahmt und damit einen Basistext des Religionsverfassungsrechts schafft. Weltweit ist dies wohl ein Unikat und der Versuch, die Volkssouveränität in der Transzendenz Gottes im Hegel’schen Sinne „aufzuheben“. Die übrigen Präambelelemente entsprechen dem durch Verfassungsvergleich gewonnenen Idealtypus: Verwiesen wird auf den historischen Kampf, der „Freiheit und Gerechtigkeit“ in unser Land brachte. Mit Stolz wird von der „ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt“, dem Friedenswillen, aber auch der „Unteilbarkeit der souveränen Nation“ gesprochen, der Respekt vor der Umwelt bekundet und als Erbe und zum Segen für künftige Generationen ausgewiesen. Ferner wird das Wohlergehen des Individuums, der Familie, der Gemeinschaft und der Nation dem Schutz des Staates aufgegeben. Schließlich ist ein Grundwerte-Kanon als Baustein für die Regierung festgeschrieben: „essential values of human rights, equality, freedom, democracy, social justice and the rule of law“. Zuletzt beschwört die

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Präambel die Partizipation des Volkes beim Prozess der Verfassunggebung und beteuert, dass das Volk diese Verfassung sich selbst und seinen zukünftigen Generationen gegeben hat (im August 2010 wurde die Verfassung mit großer Mehrheit vom Volk angenommen). Die Werkstücke dieser vorbildlichen Präambel sind nach unterschiedlichen Vorbildern geschnitzt: US-amerikanische Ideen finden sich neben französischen und angloamerikanischen (wie die rule of law). Überdies stehen sie neben weltweit anerkannten Ideen des Umweltschutzes bzw. der Sorge für die künftigen Generationen. Ein vergleichsweise neues Element findet sich in der Wendung von der „Vielfalt in ethnischer, kultureller und religiöser Hinsicht“ – diese Formulierung lässt an jüngere regionale und föderale Texte aus dem konstitutionellen Material Europas denken.

2. Grundwerte- und Selbstverständnis-Klauseln In Kapitel Eins und Zwei, also unmittelbar nach der ersten, dichten Grundlegung in der Präambel formuliert Kenia einen ausführlichen Kanon von konstitutionellen Grundwerten und Elementen seines Selbstverständnisses – noch vor der „Bill of Rights“. Kapitel Eins ist überschrieben: „Sovereignty of the People and Supremacy of this Constitution“. Hier ist die Volkssouveranität herausgestellt (Art. 1), wird die Verfassung als „supreme law of the Republic“ charakterisiert und sogar jeder Person die Verpflichtung auferlegt, diese Verfassung zu verteidigen (Art. 2) – eine meines Erachtens zu weit gehende Grundpflicht. Kapitel Zwei gilt der „Republik“ (Art. 4 – 11). Schon diese Systematik mit vielen grundsätzlichen Aussagen zu Buchstaben und Geist der Verfassung besticht durch die Anreicherung des Verständnisses von „Republik“ durch eine Fülle von Grundwerten und Aussagen zum eigenen Selbstverständnis Kenias. Im weltweiten Vergleich betrachtet, ist diese materielle Aufwertung des Republikbegriffes wohl einzigartig und zugleich vorbildlich. Die noch dem Klassiker G. Jellinek eigene, nur „negative“ Definition der Republik als „Nichtmonarchie“ wird damit von einem Verfassunggeber aus Afrika gekonnt wiederlegt. In Deutschland wurde seit langem ein materiales Republikverständnis angemahnt3. Im Einzelnen: Die Republik Kenia wird als „Vielparteiensystem“ definiert, das auf die nationalen Werte und die „principles of governance“ ausgerichtet ist (Art. 4 beziehungsweise Art. 10). Die „devolution“ („counties“) ist selbst als Strukturprinzip ausgewiesen (Art. 6). Art. 7 formuliert einen Sprachen-Artikel, der nicht nur ein Bekenntnis zur Förderung der Sprachenvielfalt enthält, sondern, wohl ganz neu, neben der Verpflichtung zur Entwicklung der Eingeborenensprachen auch die Blindensprache „Braille“ und andere Kommunikationsformen für Behinderte nennt. 3 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit (hrsgg. von A. Peisl u. A. Mohler), 1983, S. 289 (328 ff.).

III. Die neue Verfassung von Kenia (2010)

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Art. 8 dekretiert „no State religion“ und legt damit – trotz der beiden religionsverfassungsrechtlichen Gottesklauseln – die Trennung von Staat und Religion fest. Die erstaunlichsten Aussagen finden sich in Art. 9 – 11. Fast lehrbuchartig und höchst konzentriert behandeln sie Themen, die den kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Verfassungslehre illustrieren. Art. 9 zählt die nationalen Symbole (wie Flaggen, Hymnen und öffentliches Siegel) und die Nationaltage auf. Das „Second Schedule“ schreibt den Text der Nationalhymne vor, die ein Beispiel für eine intrakonstitutionelle Nationalhymne ist4, denn die Rede ist vom Schöpfergott, von der Gerechtigkeit, von Frieden und Freiheit – alles Werte, die der Verfassungstext selbst vorweg und zentral fixiert hat. Art. 10 listet die „national values and principles of governance“ auf: hier finden sich Patriotismus, nationale Einheit, „devolution“, rule of law, Demokratie, Partizipation des Volkes, sodann Menschenwürde, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Nichtdiskriminierung und Schutz von gesellschaftlichen Randgruppen, auch „good governance“, Transparenz und nachhaltige Entwicklung. Man mag einwenden, dies sei des Guten zuviel. Gleichwohl kann diese „Sammlung“ auch der Verfassungspädagogik dienen (Stichwort: Verfassung als Erziehungsziel), und es wird Aufgabe der Wissenschaft in Kenia, aber auch der weltweit arbeitenden vergleichenden Verfassungslehre sein, diese etwas unvermittelt klingende Ansammlung, mitunter auch großer Grundsätze, wie die normative Kraft des Republikprinzips im Einzelnen aufzuschlüsseln ist. Die vielleicht eindrucksvollste Leistung des Verfassunggebers in Kenia findet sich in Art. 11: „Kultur“. Denn hier geht es nicht nur um das typische Kulturverfassungsrecht, sondern um eine weit ausgreifende tiefe Aussage zur „Verfassung als Kultur“, wie sie ein einzelner Staatsrechtslehrer nicht besser formulieren könnte. Abs. 1 lautet: „This Constitution recognises culture as the foundation of the nation and as the cumulative civilization of the Kenyan people and nation“. Abs. 2 zählt vorbildlich viele vom Staat zu fördernden Erscheinungsformen von Kultur auf (etwa Literatur, Künste, traditionelle Feste, Wissenschaften, Kommunikation und Information, Massenmedien, Veröffentlichungen, Bibliotheken und „other cultural heritage“). Diese durch viele Beispiele bereicherte kulturelle Erbesklausel ist vorbildlich, zumal auch „Techniken“ der Eingeborenen und die Förderung des geistigen Eigentums einbezogen sind. Dem Parlament werden weitere Aufgaben, etwa der Entschädigung für den Gebrauch von Gegenständen des kulturellen Erbes, auch im Blick auf das Eigentum der Eingeborenen zur Pflicht gemacht. So wie die Nationalflagge auch Elemente der Urbevölkerung zum Ausdruck bringt (vgl. Schedule 2 zu Art. 9 Abs. 2)5, so ist hier der Respekt vor der Eingeborenenkultur bezeugt.

4 Dazu meine Monographie: Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, S. 111 f. 5 Vgl. für afrikanische Staaten: P. Häberle, Nationalflaggen, 2008, S. 73 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

3. Die Bill of Rights (Kapitel vier) Der Verfassunggeber Kenias hat sie als selbstständiges Kapitel ausgestaltet, ähnlich Südafrika (1996). In Sachen Menschenrechte, d. h. Freiheits- und Gleichheitsrechte beobachten wir heute eine weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft. Thematisch wirken die allgemeinen und speziellen UN-Erklärungen und Pakte, die regionalen Menschenrechtspakte wie die EMRK von 1950, die Afrikanische Erklärung von 1982 und aber auch Urteile nationaler Verfassungsgerichte sowie Klassikertexte von großen Autoren. Personal sind nicht nur Staaten und ihre Repräsentanten sondern auch UN-Organisationen wie der Menschenrechtsausschuss in Genf und die NGOs an diesem globalen Diskurs beteiligt. Multinational zusammengesetzte Beratergremien arbeiten den nationalen Verfassunggebern zu, indem sie rechtsvergleichend vorgehen und dabei sich von der bereits erwähnten Trias von Texten, Judikaten und Theorien inspirieren lassen. Im Folgenden können nur besonders wichtige Texte, eventuelle Neuerungen und besondere rechtskulturelle Errungenschaften behandelt werden, etwa in Sachen Themen, Schrankenregelungen und Interpretationsmaximen. Vorweg werden in und für Kenia allgemeine Regelungen normiert, etwa der Satz, die Bill of Rights sei das „Rahmenwerk für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Politiken“ (Art. 19 Abs. 1). Art. 20 normiert eine Art Optimierungsgebot für die Interpreten – alle staatlichen und sonstigen Interpreten (Abs. 3 lit. b) – und verweist diese auf die Werte, die eine „offene und demokratische Gesellschaft“ grundieren, welche auf der Würde, der Gleichheit und Freiheit beruhen. Ganz neu ist den Interpreten, etwa einem Gericht oder einer anderen Autorität, zur Pflicht gemacht: „the spirit, purport and objects of the Bill of Rights“ zu fördern (Abs. 4 lit. b). Diese Art von Geist-Klausel ist eine bemerkenswerte Innovation. Die Implementationsklausel von Art. 21 – ebenfalls textlich wie inhaltlich eine Innovation –, sorgt sich um die Nöte von „vulnerable groups“, etwa Frauen, Alte, Kinder, Behinderte und Mitglieder von gesellschaftlichen Randgruppen. Art. 22 („Enforcement of Bill of Rights“) befasst sich mit der Durchsetzung der Rechte vor Gericht. Hier sind nicht nur die ebenso klassischen wie neuen „rules of natural justice“ als Maßstab genannt, auch wird die Idee des „amicus curiae“ („as a friend of the court“) institutionalisiert – Ausdruck der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975). In den detallierten allgemeinen Schrankenregelungen (Art. 24) findet sich sowohl die aus der EMRK bekannte Wendung von der „offenen und demokratischen Gesellschaft“ (Abs. 1 Satz 1) mit genauen Ausformungen des Übermaßverbotes, hinzugefügt wird sogar eine grundrechtliche Wesensgehaltklausel (Abs. 2 lit. c: „essential content“) als absolute Schranke. Damit setzt sich der fast weltweite Siegeszug der deutschen Wesensgehaltgarantie des Abs. 19 Abs. 2 GG fort6. Schließlich zählt Art. 25 die Rechte und Freiheiten auf, die nicht beschränkt werden dürfen, etwa die 6 Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff. sowie ders., Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 257 ff.

III. Die neue Verfassung von Kenia (2010)

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Freiheit von Folter, Sklaverei und das Recht auf einen fairen Prozess sowie den „habeas corpus“. Im Ganzen schafft wohl keine neuere Verfassung ein solches Kompendium von allgemeinen Regeln zur Interpretation, Implementation, Durchsetzung und Beschränkung bzw. Nichtbeschränkbarkeit von Grundrechten. Bei der Aufzählung der Einzelgrundrechte geht Kenia keine gleichermaßen spektakulär neue Wege: Wohl alle klassischen, aber auch wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind geschützt, etwa die Privatheit, die Medienfreiheit (mit einer Verpflichtung der staatseigenen Medien auf Unparteilichkeit und Pluralismus: „divergent views and dissenting opinions“, Art. 34 Abs. 4 lit. c). An den freien Zugang zu Informationen gegenüber dem Staat (Art. 35) ist ebenso gedacht wie an die kulturelle Teilhabe von Jedermann (Art. 44) und das Recht auf gute Verwaltung (Art. 47 – kongenial Art. 41 der EU-Grundrechte-Charta) oder an Kinder, Behinderte, Randgruppen und Alte (Art. 53 – 57)). Zuletzt wird sogar noch eine „Kenya National Human Rights und Equality Comission“ eingerichtet (Art. 59) – eine Erscheinungsform des vom Verfasser seit 1971 konzipierten „status activus processualis“ von der staatlich-organisatorischen Seite her. Im Ganzen überlastet wohl die Verf. Kenias ihren Grundrechts-Teil mit viel zu vielen Detailregelungen. Ob sie wirklich mittelfristig greifen, wird die Zukunft zeigen, doch können diese Texte, vor allem der allgemeine Grundrechts-Teil, vielleicht manchen anderen Verfassunggeber in Zukunft inspirieren bzw. die Interpretation in anderen Ländern anleiten. Für die Wissenschaft vom vergleichenden Verfassungsrecht bilden sie eine „Fundgrube“.

4. Besondere Innovationen Wenigstens in Auswahl seien – aus Raumgründen leider nur summarisch – über das Bisherige hinaus einige Textensembles aufgezählt, die von innovativer Kraft zeugen und dem wissenschaftlichen Verfassungsvergleich in aller Welt dienlich sein können. (1) Kontextorientierte Verfassungsinterpretation. Was die Wissenschaft seit 1979 vorgeschlagen hat7, nämlich die kontextkonforme Verfassungsauslegung ist jetzt zu einer Textstufe geronnen bzw. verdichtet. An drei Stellen arbeitet die Verfassung Kenias wörtlich mit dem „Kontext“ als Argument: zweimal in Art. 259 Abs. 4 und prominent in Art. 260, hier unter dem Stichwort „interpretation, unless the context requires otherwise …“. (2) Muslimische Gerichte, muslimisches Recht. In dem aufwendigen Kapitel Zehn zum Gerichtssystem sieht die Verfassung „Khadis’Courts“ vor, sie verlangt von den Richtern muslimisches Bekenntnis und muslimische Rechtskenntnisse (Art. 169 und 170). Soweit ersichtlich, ist damit zum ersten Mal in einer nichtislamischen verfassungsstaatlichen Verfassung auf eine Textstufe gebracht, was derzeit im Westen (z. B. in Deutschland) zum

7 P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff. sowie ders., Europäische Verfassungslehre, seit der 1. Aufl. 2001 / 2002, S. 9 ff., zuletzt 7. Aufl. 2011, S. 10 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe Problem geworden ist: Wann und wie lässt sich muslimisches Recht anwenden? Um so mehr ist zu rühmen, dass sich Kenia durchweg zum „Vorrang der Verfassung“ (Art. 2), nicht der Scharia bekennt!

(3) Die Normierung des Trustgedankens (Art. 73 Abs. 1 lit. a) lautet: „Authority assigned a State officer is a public trust …“. Der Klassikertext von J. Locke ist damit Verfassungstext geworden. (4) Die Institutionalisierung einer eigenen Ethik- und Antikorruptions-Kommission (Art. 79), auch einer nationalen Menschenrechtskommission (Art. 59). (5) Das Postulat der „Promotion of representation of marginalised groups“ (Art. 100), deren sich die Verfassung in den verschiedensten Kontexten annimmt (z. B. Art. 21 Abs. 3, Art. 56 („affirmative action“) und Art. 174 lit. e sowie schon Art. 10 Abs. 2 lit. b). (6) Die hochrangige Platzierung des Gedankens der „Devolution“ in Kap. Elf, siehe auch Art. 10 Abs. 2 lit. a; sie scheint horizontal und vertikal an die Stelle der herkömmlichen Gewaltenteilung zu treten (dazu nur Art. 175 lit. a). (7) Die Eröffnung des Weges einer Verfassungsänderung durch Volksinitiative (Art. 257), mit klugen prozessualen Hürden. (8) Die Festlegung eines Kanons von Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation (Art. 259)8, wobei das Verhältnis zu den schon erwähnten Methoden der Grundrechtsinterpretation nicht leicht zu ergründen ist (Art. 20 bis 22). (9) Die vielfältige Bezugnahme auf ethische Standards (z. B. Art. 159 Abs. 3 lit. b, Art. 232 Abs. 1 lit. a) sowie „good governance“ (Art. 10 Abs. 1 lit. c, Art. 91 Abs. 1 lit. d, Art. 259 Abs. 1 lit. d). (10) Die Sorgfalt der Regelung des Themas „land and environment“ in Kap. Fünf. Eine Landreform soll durch eine Kommission mit weitreichenden Kompetenzen durchgeführt werden, um die „Ungerechtigkeiten“ bei der Landverteilung zu korrigieren. Es gilt eine Obergrenze für privaten Landbesitz. Ausländer sollen Land nur noch auf maximal 99 Jahre pachten dürfen9.

Die Legitimität der neuen Verfassung Kenias, die am 4. August 2010 in einem Referendum gebilligt worden war, ist freilich noch nicht gesichert. Jüngst gab es viele Rücktritte von Politikern, auch hat das Komitee, das fünfzig neue Gesetze zur Verfassung erarbeiten soll, bislang noch nicht getagt10.

Ausblick Der Verfassung Kenias ist im Ganzen eine gute Balance zwischen Tradition und Innovation gelungen, so sehr man sich fragen muss, ob nicht dem Bürger gelegentlich zuviel des Guten versprochen wird. In manchen Partien ist sie zu detailliert und 8 Dazu schon klassisch H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1983), S. 53 ff. sowie K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 20 ff. 9 Zit. nach http://de.wikipedia.org / wiki / Verfassungsreferendum_in_Kenia_2010. 10 Dazu FAZ vom 6. Januar 2011, S. 5.

III. Die neue Verfassung von Kenia (2010)

145

breit geraten (264 Artikel mit zum Teil inhaltsreichen Anhängen, z. B. zur Kompetenzverteilung). Dem Bürger ist wohl vor allem die Präambel und die Bill of Rights eingängig. Für die im weltweiten Vergleich arbeitende Staatsrechtslehre ist sie indes eine wahre Fundgrube. Kenia hat Verfassungstexte geformt, die andernorts rezipiert werden können: das gilt etwa für manche allgemeine Interpretationsmaximen, insbesondere die wohl erstmalige Textstufe in Sachen „Kontexte“, für die materiale Anreicherung des Republikbegriffs und für einige der erwähnten Kommissionen, auch für die stetige Sorge um Randgruppen. Einmal mehr zeigt sich, wie überholt jede Form von „Eurozentrismus“ ist und wie sehr es beim Verfassungsvergleich keine Einbahnstraßen geben darf. Der Westen und Norden kann von diesem Land im Herzen Afrikas manches lernen, auch wenn Pessimisten sofort mit dem Einwand der „Semantik“ kommen mögen. Kenia ist wirtschaftlich heute ein Entwicklungsland, in seiner neuen Verfassung aber erweist es sich als hoch entwickelter Verfassungsstaat mit eigener Partitur, eigener Stimme, eigenem Programm. Es ist ihm zu wünschen, dass in den nächsten Jahrzehnten möglichst viele der Texte zur Verfassungswirklichkeit werden und dass sie Europa zur Kenntnis nimmt. Dies kann nicht zuletzt über das Medium eines Geburtstagsblattes für einen europäischen Juristen wie J. J. G. Canotilho gelingen11.

11 Vgl. seinen eindrucksvollen Sammelband Admiras os outros, 2010. – S. zuletzt C. Murray, Kenya’s 2010 Constitution, JöR 61 (2013), S. 747 ff.

IV. Das neue Grundgesetz Ungarns (2012) – Keine „kosmopolitische“ Verfassung* Zueignung: Der Jubilar ist als großer Staats- und Völkerrechtslehrer fast weltweit bekannt. Er ist nicht nur dem „Fach“ wissenschaftlich verpflichtet, sondern leistet seit Jahrzehnten eine weit ausgreifende praktische Tätigkeit in vielen internationalen Ehrenämtern, insbesondere im „Roten Kreuz“, aber auch in fernen Ländern wie Indien und Kanada. Seine Bodenhaftung in der Schweiz hat er nie verloren. Dies zeigt sich nicht nur in seinen Aufsätzen der Zeitschrift „Der Landbote“. Dem Jubilar gelingt seit langem eine glückliche Balance zwischen Wissenschaft und Praxis, um die man ihn fast beneiden kann. Er ist in vielen Missionen tätig, sei es für sein Land, sei es für Europa oder sonst auf der Welt. Schon legendär ist sein Votum über die „Kapläne und Kardinäle“ in der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, in deren Vorstand er 1997 bis 1999 war. Das Zitat lautet: „Das Bild einer Institution, die […] etwas hierarchisch gestaltet ist.“ (VVDStRL 58 (1999), S. 81). Bekannt geworden ist sein Stichwort vom „kosmopolitischen Staatsrecht“ (2005). Es passt ebenso zu seinem wissenschaftlichen Optimismus, wie dies sein Buch „Völkerrecht als Fortschritt und Chance“ (2009) auszeichnet. Dieser Optimismus ist gerade heute gefragt, jedenfalls wenn man das Völkerrecht als konstitutionelles Menschheitsrecht versteht und das Staatsrecht mit dem Adjektiv kosmopolitisch adelt, wie der Verfasser D. T. Der Verf. dieses Geburtstagsblatt ist Daniel Thürer oft begegnet, zuletzt etwa im Rahmen der Veranstaltungen der St. Galler Universitätsstiftung „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“. Da Festschriften keine „Papierkörbe“ für sonst kaum erscheinende Arbeiten sein dürfen, ging es jetzt darum ein Thema zu finden, das der Persönlichkeit des Jubilars kongenial ist. Daher sei das folgende Kontrastprogramm über das so umstrittene neue Grundgesetz Ungarns (2012) gewählt.1 * Erstveröffentlichung in: FS D. Thürer, 2015 i. E. 1 Die überrregionale deutsche Presse bzw. die europäische Öffentlichkeit liefert viele Stichworte dafür, dass das Europa der EU sowie des Europarats mit sehr kritischen Augen die Entwicklungen der Verfassungswirklichkeit in Ungarn begleitet, teils kritisiert, teils Forderungen aufstellt, die gelegentlich auch berücksichtigt werden. Hier eine Auswahl: „Fidesz verzichtet auf Wählerregistrierung, Regierungspartei folgt Entscheidung des Verfassungsgerichts“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05. Jan. 2013, S. 1; „Europarat besorgt über Fidesz-Vorhaben in Ungarn, Generalsekretär Jagland kritisiert geplante Verfassungsänderungen“: Jagland ist besorgt, dass die geplanten Verfasssungsänderungen mit dem „Grundsatz der Herrschaft des Rechts“ nicht vereinbar sind, FAZ vom 07. März 2013, S. 2; „Eine Art Stunde Null, Ungarn will wieder seine Verfassung ändern“, Orbán präjudiziert durch seine geplanten Verfassungsänderungen mit seiner Zweidrittelmehrheit das Handeln künftiger Regierungen, insbesondere durch eine Zurückdrängung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts, FAZ vom

IV. Das neue Grundgesetz Ungarns (2012)

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Hauptteil

Eine Einzel- und Gesamtwürdigung des ungarischen Grundgesetzes Vorbemerkung: Schon die Strukturierung des Verfassungstextes ist ungewöhnlich. Es gibt keine durchlaufende Zählung von Abschnitten, Artikeln oder Paragraphen, sondern nur plakative Stichworte, die teils in großen Buchstaben, teils in römischen Zahlen oder in arabischen untergliedert sind. Ob diese Struktur der Lesbarkeit der Verfassung dient, darf bezweifelt werden.

I. Evocatio dei „Nationales Bekenntnis“ – Eine Präambel Der Typus des kooperativen Verfassungsstaats von heute ist oft durch Präambeln gekennzeichnet. Sie wollen in bürgernaher Sprache und feierlichen hohen Ton die Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines politischen Gemeinwesens entwerfen in einer Weise, die die Bürger anspricht. Verfassungsstaatliche Präambeln ähneln insoweit in kulturwissenschaftlicher Sicht den Prologen und Ouvertüren in Dichtung bzw. Musik. Ungarn geht einen ganz eigenen Weg. Eingangs findet sich der Ausruf „Gott, segne die Ungarn!“ Dieser Gottesbezug erinnert an Großbritannien, nicht aber an die bekannten Formen einer Invocatio dei wie in der Schweiz. Mehrfach ist in Bezug auf die Nation von „Stolz“ die Rede. Das sog. „Nationale Bekenntnis“ erfüllt die Funktion einer Präambel. Indes ist der nationalistische Charakter ganz offenkundig, den Worten und der Sache nach. Die Rede ist von den Mitgliedern der ungarischen Nation, vom christlichen Europa, vom Stolz auf viele geschichtliche Vorgänge, von der geistigen und seelischen Einheit, von den „Stürmen des vergangenen Jahrhunderts“, wobei immerhin die Nationalitäten als staatsbildender Teil der ungarischen politischen Gemeinschaft anerkannt werden. Die Rede ist von der „Nationalkultur“, die immerhin als Beitrag zur Vielfalt der Europäischen Einheit bezeichnet wird. In diesen Kontext gehört auch 11. März 2013, S. 10; „Berlin besorgt über Verfassungsreform in Ungarn“, „Sorgen der Partner müssen ernst genommen werden“, FAZ vom 13. März 2013; „EU-Kommissarin Reding droht Ungarn“, Orbán: „Wir respektieren alle Werte der EU“, FAZ vom 15. März 2013, S. 1; „Den Kompass verloren, Ungarns Regierungschef Viktor Orbán war ein pragmatischer Konservativer, nun scheint er zu einem Vordenker des ungarischen Nationalismus geworden zu sein und den Antisemiten nach dem Mund zu reden“, Süddeutsche Zeitung vom 04. April 2014, S. 2; „Schule des Hasses (sc. gegen die Juden). In Ungarn setzt Regierungschef Viktor Orbán auf eine ‚nationale Revolution‘“, SZ vom 11. April 2013, S. 3; „Unverstandene Ungarn, Wie sich die Regierung in Budapest über ihr Bild in westlichen Medien erregt“, FAZ vom 12. April 2013, S. 10; „Orbán will Bedenken der EU-Kommission beseitigen“, EU-Parlamentarier bringen ein Verfahren nach Art. 7 EUV ins Gespräch, FAZ vom 15. April 2013, S. 5. – Aus der wissenschaftlichen Literatur: F. Vecchio, Teorie Costituzionali alla Prova, La nuova Costituzione ungherese come metafora della crisi del costituzionalismo europeo, 2013.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

das Streben einer „Zusammenarbeit mit allen Nationen der Welt“. Angerufen werden immerhin auch die gemeinsamen Werte Europas. Eine Fülle von Bekenntnissen werden formuliert: zur Würde des Menschen, zur Entfaltung der individuellen Freiheit im Zusammenwirken mit anderen, zu den grundlegenden Werten „Treue, Glaube und Liebe“, zur Unterstützung der Hilfsbedürftigen und Armen, zum gemeinsamen Ziel des Bürgers und des Staates, zur Vervollkommnung des guten Lebens. Auch andere Stichworte greifen sehr hoch und lassen einem schwer erträglichen „idealistischen Nationalismus“ erkennen. Ein Stück Geschichtsschreibung als Narrativ findet sich im Passus zur nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur bzw. deren Verbrechen. Die heutige Freiheit entspringt nach diesem Bekenntnis der Revolution von 1956. Immer wieder wird die Nation angerufen. Eine neue Textstufe findet sich jedoch in dem Satz: „Unser Grundgesetz … ein Vertrag zwischen den Ungarn der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Diese Textstufe zum Generationenvertrag ist überaus geglückt. Im Ganzen ist jedoch das „Nationale Bekenntnis“ barock überladen und nicht so leicht zu lesen.

II. Die grundlegenden Artikel (A bis T) Unter dem Stichwort „Grundlegendes“ findet sich in Großbuchstaben der lateinischen Sprache ein Sammelsurium von Teilstücken des nationalen Konstitutionalismus einschließlich der Staatssymbole. Artikel A lautet: „Der Name unseres Vaterlandes ist Ungarn“. Die Artikel B bis D enthalten Prinzipien wie „Demokratischer Rechtsstaat“, „Prinzip der Gewaltenteilung“, „Einheitliche ungarische Nation“ sowie immerhin eine Art Europa-Artikel (Art. E). In ihm sind die europäischen Völker bzw. die Schaffung der europäischen Einheit genannt, auch findet sich die typische Kompetenzübertragung auf die EU. Die folgenden Artikel F bis K widmen sich den bekannten Staatssymbolen, der Hauptstadt, der Amtssprache, dem Wappen, der Staatsflagge und der Nationalhymne sowie Nationalfeiertage, auch der Währung. Die Artikel L bis T behandeln ein Sammelsurium von vielen Themen. Etwa dem Schutz der „Ehe und Familie“, „dem lauteren wirtschaftlichen Wettbewerb“, der „ausgeglichenen, transparenten und nachhaltigen Haushaltswirtschaft“, dem Auftrag „zur Wahrung des Friedens“ sowie der „Nachhaltigen Entwicklung der Menschheit“. – Diese Inbezugnahme auf die Menschheit verdient Aufmerksamkeit bei jeder Textstufenanalyse. So hoch gegriffen sie im sonst so nationalen Verfassungswerk ist. Artikel O sei eigens hervorgehoben. Er schreibt nämlich die in der Schweiz entwickelte Verantwortungsklausel fast buchstäblich ab: „Jeder Einzelne trägt Verantwortung für sich selbst und ist verpflichtet …“.

IV. Das neue Grundgesetz Ungarns (2012)

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III. Der Abschnitt „Freiheit und Verantwortung“ (Artikel I bis XXXI) Diese 31 Artikel sind in recht pathetischer Sprache verfasst. Sie knüpfen teilweise an die bekannten Standards der Texte der heutigen Verfassungsentwicklung an, teils gehen sie eigene Wege. In manchem wagen sie auch Neues. Da viele Sätze sehr allgemein gehalten sind, hängt vieles davon ab, wie sich die Umsetzung der Verfassungstexte in die Verfassungswirklichkeit gestaltet. Auffallend ist, dass bei vielen Grundrechten nicht ein normaler Gesetzesvorbehalt normiert ist, sondern ein „Schwerpunktgesetz“ verlangt wird. Dieses Institut erfordert gemäß Art. T Abs. 4 zwei Drittel der Stimmen der anwesenden Parlamentsabgeordneten. Im Einzelnen: Das große Thema „Freiheit und Verantwortung“ ist, soweit ersichtlich bislang in keinem anderen Verfassungsdokument der Welt so übergreifend formuliert und in den 31 Artikeln gebündelt. Art. I Abs. 1 verlangt die Achtung der unverletzlichen und unveräußerlichen Grundrechte des Menschen. Die Verfassung macht ihren Schutz zur „primären Pflicht des Staates“. Überdies werden die „individuellen und kollektiven Grundrechte des Menschen“ anerkannt, freilich ohne nähere Kennzeichnungen (Abs. 2). Abs. 3 eröffnet die „Möglichkeit zu Grundrechtseinschränkungen im Interesse der Durchsetzung anderer Grundrechte oder des Schutzes von verfassungsmäßigen Werten in unbedingt erforderlichen und dem zu erreichenden Zweck angemessenen Maße“. Damit rezipiert Ungarn im Grunde die Standards, die das deutsche BVerfG, der EGMR in Straßburg und die Wissenschaft entwickelt haben. Dies um so mehr, als verlangt ist, dass die Einschränkung „unter Beachtung des wesentlichen Inhalts des Grundrechts erfolgt“. Die Europa, ja weltweit bekannte Wesensgehaltgarantie ist damit auch in Ungarn anerkannt. Art. II schützt überdies die „Würde des Menschen“. Diese Schutzgarantie wird auch der „Leibesfrucht von der Empfängnis an“ zuteil. Art. III verbietet Folter, Leibeigenschaft und Menschenhandel (Abs. 1). Eine neue Textstufe gelingt Abs. 2 in den Worten: „Es ist verboten, an Menschen ohne ihre auf Informationen basierende, freiwillige Einwilligung medizinische oder wissenschaftliche Versuche durchzuführen“. Ein weiteres Verbot richtet sich auf eine gezielte genetische Veränderung der menschlichen Rasse, die den menschlichen Körper und Teile davon zur Erzielung von Gewinnen nutzen sowie das Klonen des Menschen ist verboten. Auch im Folgenden seien nur solche Verfassungsformen herausgegriffen, die der Verfassung Ungarns ein eigenes Profil geben: so Art. VI Abs. 3 der wie folgt lautet: „Die Einhaltung des Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten sowie darauf, Daten von öffentlichem Interesse zu erfahren, wird von einer unabhängigen, mit einem Schwerpunktgesetz geschaffenen Behörde kontrolliert“. In der praktischen Anwendung dieses Grundrechts wird vieles davon abhängen, wie der Begriff „Öffentliches Interesse“ konkretisiert wird und welche Gestalt für die angekündigte Behörde annimmt. Art. VII befasst sich sowohl mit der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die weit ausgedehnt wird („einzeln oder gemeinsam, öffentlich oder privat“)

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

als auch mit dem Verhältnis von Staat und Kirchen. Hier ist eine schöne Textstufe gefunden, die mit dem Stichwort „religionsfreundliche Trennung“ gekennzeichnet werden darf. Abs. 2 lautet: „Staat und Kirchen wirken voneinander getrennt. Die Kirchen sind selbständig. Der Staat arbeitet im Interesse der gemeinschaftlichen Ziele mit den Kirchen zusammen“. Diese Kooperationsklausel rückt Staat und Kirchen offensichtlich noch mehr zusammen als die bekannten Regelungen in Art. 4 Abs. 2. Verf. Baden-Württemberg bzw. Art. 1 Abs. 1 S. 3 Verf. Vorarlberg. Art. X Abs. 2 wagt eine im Verhältnis zum übrigen Europa neue Textstufe, die jedoch in Ungarn bereits Tradition besitzt (vgl. Art. 70 / G alte Verf. 1949 / 89): „Der Staat ist nicht dazu berechtigt, in der Frage wissenschaftlicher Wahrheiten zu entscheiden. Zur Bewertung wissenschaftlicher Forschungen sind ausschließlich die Betreiber der Wissenschaften berechtigt“. Diese Klausel verdient im Rahmen der vergleichenden Verfassungslehre weltweit Anerkennung. Denn damit wird das Selbstverständnis der Wissenschaftler für diesen Lebensbereich hochrangig platziert. Sehr allgemein spricht Art. XI Abs. 1 jedem ungarischem Staatsangehörigen das Recht auf Kultur und Bildung zu. Art. XIII Abs. 1 verbindet das Eigentum mit „gesellschaftlicher Verantwortung“. Eine Enteignung ist nur in Ausnahmefällen und im öffentlichen Interesse möglich (Abs. 2). Diese Koppelung der Gemeinwohlklausel bei der Enteignung mit dem Ausnahmetatbestand ist weltweit vergleichend betrachtet selten und daher bemerkenswert. Art. XV in Sachen Gleichheitssatz bestimmt in Abs. 4 sehr allgemein: „Ungarn fördert die Verwirklichung der Gleichstellung auch durch besondere Maßnahmen“. Überhaupt sind die Grundrechte auf sozialer Sicherheit in Arbeit und Beruf sehr weitgehend ausgeformt (Art. XVII – XIX). Überdies wird ein im Grunde utopisches „Recht auf eines jeden auf eine gesunde Umwelt anerkannt“ (Art. XXI Abs. 1). Art. XXII normiert das Bestreben Ungarns, für einen jeden „die Bedingungen des menschenwürdigen Wohnens und den Zugang zu den Dienstleistungen der öffentlichen Dienste zu sichern“. Mit dieser Textstufe wird – wohl neu – das Staatsziel von Infrastrukturleistungen normiert. Ebenfalls eigene Wege geht Art. XXVI in den Worten: „Der Staat ist im Interesse der Effizienz seiner Tätigkeit, der Erhöhung des Niveaus der öffentlichen Dienstleistungen, der besseren Transparenz der öffentlichen Angelegenheiten und der Förderung der Gleichstellung bestrebt, neue technische Lösungen und Ergebnisse der Wissenschaften anzuwenden“. Im Rahmen der Regelung der justiziellen Grundrechte, die im Ganzen EMRKkonform formuliert sind, findet sich ein in Art. XXVIII Abs. 5 im Anschluss an die Unschuldsvermutung nach Abs. 4 bemerkenswerter Abs. 5, der einer auch sonst zu beobachtenden Verknüpfung von Völkerrecht und Verfassungsrecht entspricht: „Abs. 4 schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung einem Strafverfahren unterzogen und verurteilt wird, die zur Zeit ihrer Begehung laut den allgemeinen anerkannten Regelungen des Völkerrechts strafbar war“. Art. XXIX normiert einen Satz, der über Ungarn hinaus große Anerkennung verdient und erstmals in der alten Verfassung Ungarns gewagt wurde (Art. 68). Abs. 1

IV. Das neue Grundgesetz Ungarns (2012)

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Satz 1 lautet: „Die in Ungarn lebenden Nationalitäten sind […] staatsbildende Faktoren“. Diese schöne Formel wird textlich abgerundet durch das „Recht zum freien Bekenntnis und zur Bewahrung der Selbstidentität“. Eine merkwürdige Mischung von Sozialismus und Konservativismus zeigt Art. XXX Abs. 1 in den Worten: „Jede Person trägt entsprechend ihrer Belastbarkeit bzw. ihrer Teilhabe am Wirtschaftsleben zur Deckung der gemeinsamen Bedürfnisse bei“.

IV. Der Abschnitt „Der Staat“ (Art. 1 – 54) Aus diesem großen Teil seien nur wenige Regelungen herausgegriffen. Zunächst zum Abschnitt „Das Parlament“. Seine Aufgaben werden detailliert benannt, z. B. die Wahl des Ombudsmanns für Grundrechte und des Präsidenten des Rechnungshofes (Art. 1); sodann die Möglichkeit der Selbstauflösung des Parlamentes (Art. 3 Abs. 2). Art. 4 verpflichtet die Parlamentsabgeordneten auf das „Interesse der Allgemeinheit“. Art. 6 Abs. 4 gibt dem Präsidenten der Republik die Möglichkeit, sich ggf. an das Verfassungsgericht zu wenden, um die Konformität eines Gesetzes mit dem Grundgesetz feststellen zu lassen. Das weitere Verfahren im Hin und Her zwischen dem Parlament, dem Präsidenten und dem Verfassungsgericht ist detailliert geregelt. Art. 8 sieht die Möglichkeit zu einer Volksabstimmung auf Landesebene vor, wobei Volksabstimmungen für Teilgebiete ausgeschlossen werden, etwa für Modifizierungen des Grundgesetzes oder über den zentralen Staatshaushalt sowie zentrale Steuerarten. Art. 9 listet die Aufgaben des Präsidenten bis ins Einzelne auf und verlangt von ihm, die Einheit der Nation zum Ausdruck zu bringen und über die demokratische Tätigkeit der staatlichen Organe zu wachen. Der Präsident wird vom Parlament gewählt, also nicht vom Volk (Art. 11 Abs. 1 S. 3). Dem Verfassungsgericht gilt ein eigener Abschnitt (Art. 24). Seine Kompetenzen erstrecken sich u. a. auf „verabschiedete, aber noch nicht verkündete Gesetze auf Konformität mit dem Grundgesetz“ (Abs. 2 lit. a). Vorgesehen ist sowohl eine Überprüfung auf richterliche Initiative als auch eine Verfassungsbeschwerde. Initiativrecht haben auch die Regierung, ein Viertel der Parlamentsabgeordneten oder des Ombudsmanns für Grundrechte. Das Verfassungsgericht untersucht auch einen etwaigen Verstoß von Rechtsvorschriften gegen internationale Verträge (Art. 24 Abs. 2 lit. g). Die fünfzehn Mitglieder des Verfassungsgerichts werden vom Parlament mit 2 / 3 der Stimmen der Parlamentsabgeordneten für 12 Jahre gewählt. Weitere Regelungen gelten den Gerichten (Art. 25 – 28), der Staatsanwaltschaft (Art. 29) und dem „Ombudsmann für Grundrechte“ (Art. 30). Dessen Abs. 1 wagt sogar eine Popularklage zum Schutz der Grundrechte auf Initiative von Jedermann. Unter den Schlussbestimmungen fällt der letzte Satz auf, der wegen seiner Besonderheiten eigens zitiert sei: „Wir, die Abgeordneten des am 25. April 2010 gewählten Parlaments, legen, im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Mensch, von unserer verfassungsgebenden Gewalt Gebrauch machend, das erste einheitliche Grundgesetz Ungarns wie oben fest. Es herrsche Frieden, Freiheit und Einvernehmen.“ Diese beiden Sätze sind auffällig: wegen ihres Gottesbezugs einerseits und der Bezugnahme auf die Verantwortung vor den Menschen andererseits. Die verfassunggebende Gewalt wird sozusagen von der Vertikalen und der Horizontalen her in die Pflicht genommen. Der Satz zu „Frieden, Freiheit und Einvernehmen“ dürfte weltweit singulär sein.

Ausblick Das Kontrastprogramm Ungarns zur Idee des Kosmopolitismus sollte weder den Jubilar noch die universale Wissenschaftlergemeinschaft entmutigen. Im Gegenteil: So schmerzlich es für Europa und Ungarn selbst ist, eine in hohem Maße retrospektive und nationalistische Verfassung ertragen zu müssen, so wichtig bleibt das Dokument aus Budapest für die Wissenschaft. Im heutigen Zeitalter eines „universalen Konstitutionalismus“, der sich aus dem fast weltweit verbreiten nationalen Konstitionalismus und den Mosaiksteinen der Teilverfassungen des Völkerrechts konstituiert, bleibt ein Rückschritt als quasi dialektischer Prozess für die „Welt des Verfassungsstaates“ bzw. für die „Verfassung im Diskurs der Welt“ wichtig. Das Völkerrecht wird hier deshalb mit seinen Teilverfassungen gewürdigt, weil es bei ihnen, etwa den Genfer, Haager und Wiener Konventionen um Beschränkung jeder Art von Macht, um Orientierungswerte, die analog den nationalen Wertetafeln gebildet sind, geht. Man denke nur an die beiden Menschenrechtspakte, die UN-Charta und die vielen Konventionen in Sachen Folter, Kinderrechte, Behindertenschutz sowie den Natur- und Kulturschutz etc. Die glückliche Wortschöpfung des Jubilars vom „Kosmopolitischen Staatsrecht“ wird den Verfassungstext und die vor allem von der EU gerügte Verfassungswirklichkeit Ungarns hoffentlich überdauern. Dieses Geburtstagsblatt wollte dazu einen kleinen Beitrag leisten.

V. Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber – Das Beispiel eines Verfassungsentwurfes für Island (2013)* I. Zueignung Dieses Geburtstagsblatt sei einem Jubilar gewidmet, der ein Meister in Bologna ist und der zu den führenden Verfassungsvergleichern weit über Europa hinaus gehört. Das zeigt sich nicht nur an den erfolgreichen Auflagen seiner Schriften (z. B. Diritto Costituzionale, 8. Aufl. 2012 bzw. Diritto Costituzionale Comparato, 6. Aufl. Bd. I 2004), sondern auch an der großen Ausstrahlungswirkung bzw. Rezeption seiner Wissenschaft. Der Verf. dieses Geburtstagsblattes begegnete dem Jubilar mehrfach persönlich: so als Gast zu einem Vortrag in Bologna im Jahre 2000, so als Teilnehmer an dem internationalen Kolloquium in Ravenna, 2007, und besonders anlässlich seiner eigenen ehrenvollen Aufnahme in die Vereinigung der italienischen Verfassungsrechtslehrer in Turin (2011). Bei jedem Gespräch mit dem Jubilar kam es zu einem freundlichen Gedankenaustausch. Es war nicht leicht, heute für G. de Vergottini ein Thema zu finden, das den weitgespannten Interessen des Jubilars wahlverwandt ist. Der Verf. dieser Zeilen hat schließlich doch ein Thema von besonderer Aktualität „entdeckt“. Im Frühjahr 2013 wurde nämlich ein Verfassungsentwurf publiziert, zu dem es prozessual auf ganz ungewöhnlichen Wegen kam und der die alte These des Verf. von der „offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und -interpreten“ (1975 / 78) ganz unerwartet speziell für Island bestätigt.

II. Vorgeschichte In Island haben die dortigen Bürger einen eigenen Verfassungsentwurf geschrieben, der schon jetzt die Aufmerksamkeit der Wissenschaft verdient. Es handelt sich um ein ungewöhnliches politisches Experiment. So offen sein Ausgang noch ist, so wichtig ist es für die vergleichende Verfassungsrechtslehre in europa- und weltbürgerlicher Absicht. In der Zeitungsöffentlichkeit speziell Deutschlands wurde dieser Entwurf kürzlich kommentiert mit den Worten: „Eine Verfassung wie Wikipedia“ (Süddeutsche Zeitung vom 16. / 17. März 2013, S. 9). Informationen erhält man insbesondere über diese prozessual neue Art von Verfassunggebung. Die Einwohner * Für G. de Vergottini zum 70. Geburtstag; Erstveröffentlichung, JöR 62 (2014), S. 609 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

des Landes selbst haben aus sich heraus und transparent unabhängig von Parteieneinfluss den Entwurf zustande gebracht. Zwei Drittel der Bürger entschieden im Oktober 2012 per Referendum, dass sie den so erarbeiteten Text als Basis für eine künftige Verfassung Islands haben wollen. Eine Gruppe von Bürgern hatte das Verfahren in Gang gesetzt, unterstützt von der Regierung aus Links-Grünen und Sozialdemokraten. Knapp 1000 zufällig ausgewählte Isländer äußerten Wünsche und lieferten Ideen. Im November 2010 wurde aus 523 Kandidaten ein Bürgergremium aus 25 Personen gewählt. Das Parlament erklärte diese 25 Bürger zum Verfassungsrat. Innerhalb von knapp vier Wochen schrieben sie, begleitet von anderen Bürgern via Facebook, Youtube, Twitter und anderen Websites, einen Text (so die Meldung der SZ aaO.). Was 1975 / 78 vom Verf. in Marburg bzw. Augsburg als „offene Gesellschaft der Verfassunggeber bzw. -interpreten“ theoretisch konzipiert worden war und damals als konkrete Utopie erschien, wird jedoch in Island zu einem Stück einer möglichen Verfassungswirklichkeit („Möglichkeitsdenken“). Unabhängig davon, ob dieser Verfassungsentwurfstext letztlich formal in Kraft tritt: Er bleibt für die Wissenschaft ein lohnendes Dokument (www.althingi.is/pdf/ConstitutionJSAY7.pdf).

III. Ein Überblick Der Verfassungsentwurf besteht aus einer Präambel und insgesamt 114 Artikeln sowie einigen Übergangsvorschriften. Diese Kürze schon ist auffällig und ein Gewinn, denn viele neuere Verfassungen, etwa von Bolivien (2007) und Kenia (2010), sind weit umfangreicher und verlieren damit ein Stück konstitutioneller Öffentlichkeit, weil die Bürger wegen der Fülle der Texte nicht mehr so intensiv „angesprochen“ werden bzw. überfordert sind. Vorweg sei schon gesagt, dass in dem Entwurf die in vielen Verfassungen, vor allem der Schweiz, normierten Gottesbezüge fehlen. Es gibt weder eine „invocatio dei“ (wie in der Schweiz auf Bundesebene und Kantonsebene), noch gibt es sonstige Gottesbezüge wie im deutschen Grundgesetz von 1949 („im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“: Präambel). 1. Die Präambel Die Präambel des Entwurfs ist ein Meisterwerk dieser Literatur- und Wissenschaftsgattung. Präambeln gleichen, kulturwissenschaftlich betrachtet, Prologen und Ouvertüren, auch Präludien. Sie können zum „Textereignis“ werden. Eine verfassungsrechtliche Präambeltheorie – vom Verf. 1982 in Bayreuth konzipiert – hat erarbeitet, dass Präambeln in bürgernaher Sprache und in festlichem Ton eine Einstimmung auf den folgenden Text sind, oft in die Verfassungsgeschichte zurückgreifen, zugleich die Zukunft entwerfen und ein Konzentrat der nachstehenden Verfassung bilden. Hierfür gibt es viele gelungene Beispiele. Genannt sei die Präambel

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Südafrikas (1996), Polens (1997), Albaniens (1998) oder Kenias (2010). Die Redaktoren der Präambel des isländischen Verfassungsentwurfs kennen offenbar viele Beispiele einer „guten Präambel“. Jedenfalls erkennt man allseits klassische Mosaiksteine im Ganzen der Präambel, auch aktive Rezeptionsprozesse von Klassikertexten aus der wissenschaftlichen Literatur oder aus anderen Verfassungstexten, doch stößt die isländische Präambel auch in neue Problemfelder vor und bringt aktuelle Entwicklungen auf prägnante neue Texte: so vor allem im Blick auf den Respekt von der „Biosphäre der Erde und der ganzen Menschheit“. Die Präambel entfaltet im Ganzen und in ihren Teilstücken künftig gewiss normative Kraft. Im Einzelnen: Die Präambel des isländischen Entwurfs beginnt mit dem Klassikertext vieler demokratischer Verfassungen: „We, the people of Island“. Ihm wird der Wunsch zugeschrieben, eine gerechte Gesellschaft mit gleichen Chancen für Jedermann zu schaffen. Das Gerechtigkeitsprinzip ist also schon in diesem hohen Text präsent. Es folgt eine überaus gelungene Aussage zu den Verantwortungszusammenhängen, in denen „wir“, d. h. die Isländer stehen: „Our different origins enrich the whole, and together we are responsible for the heritage of the generations, the land and history, nature, language and culture“. Wie viele andere moderne Verfassungen ist damit der Generationenbezug hergestellt, überdies handelt es sich um eine „kulturelles Erbe-Klausel“, die die Natur und Sprache speziell einbezieht. Der zweite Absatz ist nicht weniger inhaltsreich und prägnant. Er verpflichtet sich auf die angloamerikanische „rule of law“, die dem Rechtstaatsprinzip im restlichen Europa entsprechen dürfte, und fügt den außerordentlichen Satz hinzu: „resting on the cornerstones of freedom, equality, democracy and human rights“. Der Begriff cornerstones findet sich schon im ähnlichen Kontext in der Verfassung von Südafrika (Art. 7 Abs. 1 Satz 1). Der dritte Absatz trifft die Aussage, dass die Regierung für die Wohlfahrt der Einwohner des Landes arbeitet, ihre Kultur stärkt und die Vielfalt des menschlichen Lebens des Landes „and the biosphere“ stärkt. Die Schutzklausel zugunsten der Biosphäre betritt Neuland. Man darf neugierig sein, ob und wie dieses Postulat dem Klimaschutz in Island praktisch hilft. Der vierte Absatz drückt den Wunsch nach Förderung des Friedens, der Sicherheit, des Wohlergehens und des Glücks „among ourselves and future generations“ aus. Damit ist erneut die zukünftige Generation in die Gegenwart hereingeholt. Bemerkenswert ist auch die Rezeption der US-amerikanischen „happiness“. Der anschließende Satz 2 bekennt sich zur Zusammenarbeit mit anderen Nationen im Interesse des Friedens und des „Respekts für die Erde und die gesamte Menschheit“. Der Kooperationsgedanke im Blick auf die Erde und die gesamte Menschheit ist in diesem Kontext neu und beachtlich – ein Stück kooperativen Verfassungsstaats. Der letzte und fünfte Absatz wagt zum Teil ebenfalls neue Textstücke und formuliert in bemerkenswerter Sprache klassische Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates. Er lautet: „In this light we are adopting a new Constitution, the supreme law of the land, to be observed by all“. Mit dem Wort „light“ wagen die Bürger eine noch schönere Methaper als die übliche „Geist-Klausel“. Demgegenüber ist das Wort von der Verfassung als „supreme law of the land“ eine bekannte Formulierung, die sich in vielen

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

neueren Verfassungstexten findet. Im Folgenden ein Blick auf wichtige Textstellen im Rahmen der insgesamt acht Kapitel. 2. Kap. I: „Foundations“ Dieses Grundlagenkapitel, dessen Teilstücke auch in einer Präambel thematisiert sein könnten, trifft Aussagen zu wichtigen Themen, wie sie sich in vielen neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen finden. So formuliert Art. 1 Abs. 1 das Selbstverständnis Islands als Republik bzw. parlamentarische Demokratie; Art. 2 bringt überaus prägnant die Teilung in drei Gewalten zum Ausdruck. Art. 3 gilt der Territorialität und ist auch hier den traditionellen Texten verpflichtet, wobei sich auch Neues findet: „The Icelandic territorial land forms a single and indivisible whole“. Dieser (kulturelle) Ganzheitsaspekt ist im Vergleich zu den klassischen Territorialitätsklauseln eine neue Textstufe. Satz 2 verlangt, dass die See, der Luftraum und die „ökonomische“ Jurisdiktion durch Gesetz geregelt wird. Damit ist ein Parlamentsvorbehalt normiert, der der Wichtigkeit des Problems angemessen ist. Art. 5 umreißt unter dem Begriff „Scope“ Verfassungsaufträge, die an die Regierung gerichtet sind: dafür zu sorgen, dass Jedermann die Gelegenheit hat, sich der Rechte und Freiheit zu erfreuen, die in dieser Verfassung aufgeführt sind (Abs. 1). Abs. 2 verpflichtet jedermann in jeder Hinsicht auf diese Verfassung und auf die Gesetzgebung, die auf ihr beruht. Erstaunlich ist der folgende Satz: „Private persons shall, as applicable, respect the rights provided in Chapter II“. Denn damit könnte eine Art „Drittwirkung“ der Grundrechte angedeutet sein, die es jedoch im Verfassungsstaat nur als „mittelbare Drittwirkung“ und je nach Grundrecht differenziert geben kann. Im Folgenden sei nur eine Auswahl der nachstehenden Grundrechte und Freiheiten präsentiert. Es handelt sich um einen sehr weitgehenden Katalog, der in manchem als vorbildlich gelten kann, in anderem klassische kulturelle Errungenschaften des Typus Verfassungsstaat auf Texte bringt. Im Einzelnen: Art. 11 normiert einen weitgehenden Privatheitsschutz unter Einschluss von „Heim und Familie“ (privacy). Art. 12 befasst sich mit den Kinderrechten und ist praktisch eine Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Art. 13 garantiert das Recht auf Eigentum, sieht aber in Übereinstimmung mit fast allen Rechtsstaaten der Welt die Möglichkeit einer Enteignung im öffentlichen Interesse vor. Art. 14 gibt jedermann ein weitgehendes Recht auf „Ausdruck und Information“. Damit überschneidet er sich zum Teil mit Art. 15. Dieser gibt jedermann ein „Right to information“. In fünf Absätzen versucht der Entwurf die neuesten Problemfelder jedes Verfassungsstaates von heute zu skizzieren: Jedermann hat das Recht, Zugang zu öffentlichen Dokumenten zu haben, das Handeln öffentlicher Behörden soll „transparent“ sein, Dokumente sollen nicht zerstört werden, es soll ein umfassendes Dokumenten-Register erstellt werden. Auch wird ein Gesetz in Aussicht gestellt, das die Dauer von Beschränkungen gewisser Kategorien von Dokumenten festlegt. Dem Gesetzgeber wird die Befugnis gegeben, den Zugang zu „working documents“, soweit erforderlich, zu beschränken. Nur soweit gesetzmäßige öffentliche oder private Interessen

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es erfordern, ist Vertraulichkeit garantiert. Art. 16 garantiert eine neuartige Freiheit in den Worten: „Free and informed social debate“. Er schützt insbesondere das Vertrauensverhältnis zwischen Journalisten und ihren Quellen. Überdies werden „Vielfalt und Pluralismus“ in den Medien zugesichert, zusammen mit der Transparenz des Eigentümerverhältnisses. Alles soll dazu dienen, eine freie und informierte soziale Debatte herbeizuführen. Dieser Pluralismus-Artikel ist ganz offensichtlich von großen Texten bzw. Judikaten informiert. Erinnert sei an die deutsche Rechtsprechung des BVerfG zu Vielfalt und Pluralismus des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens bzw. an die EU-Grundrechte-Charta von 2007 (Art. 11 Abs. 2). Hier entsteht ein Stück „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ (vom Verf. 1991 entwickelt), auch wenn, wie in Italien, noch manches Defizit zu beklagen ist. Weitgehend ist auch Art. 17 mit seinen Worten: „Scientific and academic freedom, and freedom in the arts, shall be ensured by law“. Auch hier gibt es in Europa viele analoge Regelungen, z. B. Art. 13 EU-Grundrechte-Charta. Eine sehr isländische Besonderheit findet sich in Art. l8 bzw. 19 des Verfassungsentwurfs. Einerseits wird jedermann das Recht auf seinen Glauben, seiner Philosophie und seiner Überzeugung zugesprochen (auch der Religionswechsel wird thematisiert und freigestellt), überdies wird die freie Praxis von Religion oder Philosophie individuell oder korporativ, privat oder öffentlich garantiert. Andererseits wird die evangelisch-lutherische Kirche zur „Nationalkirche“ erklärt und die Regierung sogar zur Unterstützung und zum Schutz verpflichtet. Hier wirkt das alte Staatskirchentum skandinavischer Länder nach. Schon die Verfassung der Republik Island (1944 / 68) dekretiert in fast wörtlicher Übereinstimmung in einem eigenen Kapitel VI § 62 Abs. 1: „Die evangelisch-lutherische Kirche ist Staatskirche und wird als solche vom Staat unterstützt und geschützt“ – ein Stück des traditionsreichen Staatskirchenrechts, das heute europaweit im „Religionsverfassungsrecht“ aufgehen sollte. Art. 20 garantiert die Vereinigungsfreiheit und nennt insbesondere die Gewerkschaften, Art. 21 schützt die Versammlungsfreiheit. Neue Themen finden sich in Art. 22 – 25. Diese nehmen sich der sozialen Grundrechte im weiteren Sinne an, ohne dass dies als eigener Unterabschnitt erkennbar wäre. So gibt Art. 22 soziale Rechte auf soziale Sicherheit und nennt eine Vielzahl von Gründen wie Arbeitslosigkeit, Kindheit, Alter, Armut, Behinderung und Krankheit. Art. 23 gibt ein Recht auf „Health and health services“ mit dem weitreichenden Zusatz: „to the highest possible standard“. Damit ist der von der deutschen Staatsrechtslehre 1972 erarbeitete „Möglichkeitsvorbehalt“ bei Grundrechten im Leistungsstaat auf soziale und prozessuale Teilhabe normiert. Einem eigenen Thema widmet sich Art. 24: „Education“. Bemerkenswert sind hier die Erziehungsziele in Abs. 3: „Education shall aim at achieving comprehensive development for each individual, critical thinking and consciousness of human rights, democratic rights and obligations“. Damit werden die Menschenrechte sowie demokratische Rechte und Pflichten ausdrücklich zum Erziehungsziel. Was die Wissenschaft und politische Praxis vor allem in Spanien mit den Begriffen „Bürgerschaft durch Bildung“ erarbeitet haben, ist hier Text geworden. Weltweit finden sich einzelne Verfassungsstaaten, die in dieser Weise Menschenrechte und

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Demokratie zum Erziehungsziel für junge Bürger machen (vgl. Art. 72 Verf. Guatemala (1985) sowie Art. 22 Abs. 3 alte Verf. Peru (1979)). Die folgenden Artikel befassen sich mit der Freiheit der Berufswahl, der Bewegungsfreiheit und mit der Freiheitsentziehung auf Grund von Gesetzen und Gerichten sehr ausführlich. Art. 28 garantiert jedermann einen „fairen Prozess“ und entspricht damit den Standards der heutigen Entwicklung des Typus Verfassungsstaat. Hier finden sich Garantien wie die Unschuldsvermutung oder der Grundsatz „ne bis in idem“. Art. 29 verbietet die Todesstrafe und die Folter sowie jede andere inhumane oder degradierende Behandlung oder Bestrafung. Art. 30 normiert das Rückwirkungsverbot der Strafe, Art. 31 schließt den obligatorischen Militärdienst aus. Mit dem Thema Kultur und Natur, das sich schon in der überaus geglückten Präambel andeutet, machen die Art. 32 – 35 Ernst: so findet sich eine überzeugende „kulturelles Erbe-Klausel“, die ausdrücklich nationale und alte Manuskripte schützt und sogar ein Besitz- oder Gebrauchsverbot für alle Eigentümer normiert. Art. 33 nimmt sich der Natur und Umwelt von Island an. Hier gelingen dem Entwurf neue Textstufen, die die bisherigen Klauseln in anderen Verfassungsstaaten übertreffen. Abs. 1 Satz 1 prägt die schöne Formulierung: „Iceland’s nature ist the foundation of life in the country. Everyone ist under obligation to respect it and protect it“. Damit wird die Natur als Grundlage des Lebens schlechthin definiert und eine Grundpflicht von jedermann normiert. Abs. 2 statuiert den Schutz der Vielfalt des Landes und der Biosphäre. Landschaften, auch „nichtbewohnte Wildnis“, sind in diesen weitgehenden Schutz samt Vegetation sowie Grund und Boden einbezogen. Fast ins Utopische führt das Recht auf gesunde Umwelt, frisches Wasser, saubere Luft und nicht verschmutzte Natur (Abs. 3). Abs. 4 verlangt ein Regelwerk, das langfristig die natürlichen Ressourcen in Achtung des Wertes der Natur und Interessen zukünftiger Generationen sichert. Einmal mehr werden die zukünftigen Generationen geschützt – das Paradigma vom Generationenvertrag als in die Zeit gestreckten Gesellschaftsvertrag wird sichtbar. Art. 34 ist erstaunlich, ja fast revolutionär: Islands nationale Ressourcen werden dem Privateigentum entzogen und sind „gemeinsames und ewiges Eigentum der Nation“ – eine neue Form verfassungsstaatlicher Ewigkeitsgarantien. Niemand kann sie erwerben oder gebrauchen. Abs. 2 zählt bis ins Einzelne die damit geschützten Fischbestände und Küstengewässer auf. Auch ist von nachhaltiger Entwicklung und öffentlichem Interesse (Abs. 3) die Rede. Art. 35 setzt den schon erwähnten allgemeinen Informationsanspruch auf dem speziellen Gebiet des Umweltschutzes fort: Die Regierungsbehörden müssen über den Zustand der Umwelt und Natur informieren, auch besteht öffentlicher Zugang zur Vorbereitung von Entscheidungen, die Einfluss auf Umwelt und Natur haben. Angesichts dieser sehr „grünen“ Regelungen des Entwurfs überrascht es nicht mehr, dass auch der Schutz von Tieren vorgeschrieben ist (Art. 36), ähnlich wie jüngst in Luxemburg (Art. 11 bis Verfassungsänderung von 2007).

V. Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber

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3. Kap. III „The Althing“ Das Parlament in Island hat sein eigenes Kapitel (Art. 33 – 75). Von den ausführlichen Bestimmungen sei nur Weniges herausgegriffen: so die Normierung der Unverletzlichkeit, des Friedens und der Freiheit des Althing (Art. 38), so Art. 39 Abs. 4, wo die politischen Parteien nicht in Worten, aber der Sache nach beschrieben sind. Das Fehlen eines ausdrücklichen Parteienartikels in der gesamten Verfassung ist auffallend, denn viele neue Verfassungen nehmen sich dieses Themas an, der Entwurf spricht stets nur von „politischen Organisationen“, so etwa bei dem Gebot, die Parlamentssitze müssten die Zahl der politischen Organisationen widerspiegeln. Festgelegt ist das Verhältniswahlrecht (Art. 39 Abs. 9), auch die Wahlkreiseinteilung wird wichtig genommen: verlangt ist bei Änderungen sogar eine 2 / 3-Mehrheit. Da der Entwurf entgegen einer verfassungsstaatlichen Tradition keinen Hauptstadtartikel normiert, muss Art. 45 genügen, wonach Reykjavík der Parlamentsort ist. Auch Art. 51 spricht statt von den Parteien von „politischen Vereinigungen“, deren Finanzen durch Gesetz geregelt werden müssen, um die Kosten „auf vernünftigem Niveau“ zu halten. Die Herstellung von Transparenz ist diesem Art. 51 ein wichtiges Anliegen (Stichwort: Parteifinanzierung). Art. 65 sieht eine Volksinitiative in Bezug auf Parlamentsgesetze unter bestimmten zeitlichen Bedingungen vor: „Referral to the nation“ – ein Stück unmittelbarer Demokratie. Aufmerksamkeit verdient zuletzt die Einrichtung eines Ombudsmannes (Art. 75), der die Rechte der Bürger, des Staates und der Gemeinden untersuchen soll. Auch wird ihm zur Aufgabe gemacht, die Verwaltung nach ihrer Übereinstimmung mit dem Gesetz und guten „Verwaltungspraktiken“ hin zu kontrollieren.

4. Weitere staatsorganisatorische Regelungen Kap. IV gibt dem Präsidenten, der unmittelbar vom Volk gewählt wird, eine relativ starke Stellung (Art.76 – 85). Das Kabinett (Kap.V, Art. 86 – 97) muss nach Art. 87 Abs. 5 seine Funktionen in Reykjavík erfüllen – auffällig ist, dass nicht ein Hauptstadtartikel vorweg normiert ist, sondern nur bei einzelnen Organen bzw. Funktionen Reykjavík genannt wird. Im Übrigen ist Art. 91 deshalb bemerkenswert, weil der Misstrauensantrag des Parlaments gegen den Premierminister nur mit dem Vorschlag eines Nachfolgers zulässig ist: hier wird ganz offenkundig das deutsche „konstruktive Misstrauensvotum“ (Art. 63 GG) rezipiert. Die Rechtsprechung ist in einem eigenen Kapitel VI (Art. 98 – 104) geregelt, wobei ein angloamerikanischer Einfluss erkennbar wird. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes wird sogar den jeweiligen Gerichten zugesprochen (inzidente Normenkontrolle). Als oberste Instanz wird der Supreme Court of Iceland (Art. 101) eingerichtet.

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Die kommunale Selbstverwaltung in Kap. VII (Art. 105 – 108): „Municipalities“ sei wegen der Garantie ihrer Unabhängigkeit ebenso erwähnt wie die ausdrückliche Festlegung des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art. 106). Sogar ein Referendum über die „eigenen Angelegenheiten“ ist vorgesehen. Schließlich sei aus Kap. VIII (auswärtige Angelegenheiten, Art. 109 – 111), Art. 111 erwähnt: „Transfer of State powers“. Hier wird die Öffnung des Verfassungsstaates für den Übergang von staatlichen Befugnissen auf internationale Organisationen festgelegt: im Interesse des Friedens und der ökonomischen Kooperation. Europa ist nicht als solches erwähnt. Sollte ein solcher Souveränitätstransfer „signifikant“ sein, muss das Urteil der Wähler durch ein Referendum eingeholt werden, das „bindend ist“. Auch hier findet sich wieder ein Stück des „kooperativen Verfassungsstaates“ bzw. einer „kooperativen Weltordnung“. Nur der Vollständigkeit halber sei aus dem Kap. IX die Regelung zur Verfassungsänderung genannt. Hier ist ein Referendum vorgesehen, auch werden bestimmte zeitliche Grenzen fixiert.

IV. Ausblick Der Entwurf besticht durch die kluge Balance von Tradition und Innovation. Kaum je wurde das Volk so unmittelbar am Prozess der Verfassunggebung beteiligt. Island gleicht insofern einer „Werkstatt“ des Verfassungsstaates, wie sonst nur die Schweiz in Bund und Kantonen. Der Verfassungsentwurf ist fast ein „Wunder“. Auch die italienische Staatsrechtslehre dürfte sich darüber freuen, in erster Linie der Jubilar, dem diese Skizze von Deutschland aus gewidmet ist.

VI. Die neue Verfassung der Republik Tunesien (2014)* Zueignung Dieses Geburtstagsblatt ist einem prominenten Repräsentanten der europäischen Gelehrtenrepublik aus Portugal gewidmet. Fausto de Quadros hat viele Gebiete des öffentlichen Rechts bearbeitet: nicht nur das (europäische) Verwaltungsrecht, sondern auch das Europäische Verfassungsrecht sowie das Völkerrecht. Herausragend bleibt sein Lehrbuch zum Recht der Europäischen Union (2004). Bemerkenswert sind – neben vielen Beratertätigkeiten in Europa – auch seine lebendigen Verbindungen zu Deutschland. So schrieb er in dem von mir seit 1983 (bis 2014) herausgegebenen Jahrbuchs des öffentlichen Rechts einen inhaltsreichen Aufsatz über den Einfluss des Grundgesetzes auf die portugiesische Verfassung von 1976 (JöR 58 (2010), S. 41 ff.). Auch leistete er einen Beitrag für die FS Badura (2004) über das Thema: „Einige Gedanken zum Inhalt und zu den Werten der europäischen Verfassung“. In den 90er Jahren besuchte er einmal Bayreuth, um an unserer Universität einen Vortrag zu halten. Der Verf. dieser Zeilen bemühte sich ein Thema zu finden, das den weitgespannten Interessen des Jubilars gerecht wird. Es sollte von höchster Aktualität sein. Vielleicht darf der nachstehende Beitrag dieses Prädikat beanspruchen, denn es geht um die von der Verfassunggebenden Nationalversammlung Tunesiens am 26. Januar 2014 friedlich verabschiedete Verfassung1: Sie darf auch deshalb besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, da es sich um die erste gelungene Verfassung in den Ländern des „Arabischen Frühlings“ handelt, der vielerorts jäh zum „Arabischen Winter“ geworden ist (die zweite neue Verfassung der Arabischen Republik Ägypten von 2014 ist als „Nachfolgerin“ der fragwürdigen Mursi-Verfassung von 2012 im Entstehungsprozess unter dem militärischen Machthaber al Si eher zweifelhaft, auch wenn sie die Islamisierung etwas zurücknimmt und inhaltlich in manchen Texten gelungen ist).

I. Die Präambel Präambeln sind heute ein typischer Bestandteil vieler moderner Verfassungen. Glanzvolle Beispiele finden sich in aller Welt: von Südafrika (1997) bis Polen * Erstveröffentlichung in: FS Fausto de Quadros (Portugal), 2015, i. E. 1

Aus der Lit.: H. Ostry, Eine Verfassung für alle Tunesier, KAS 5 / 14, S. 50 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

(1997), von Ecuador (2004) bis zum Verfassungsentwurf in Island (2013). Kulturwissenschaftlich betrachtet, gleichen sie Prologen in der Dichtkunst und Präludien bzw. Ouvertüren in der Musik. Sie wollen den Bürger bzw. die Zivilgesellschaft buchstäblich „einstimmen“, ihn bzw. sie für die nachstehende Verfassung in meist feierlicher Hochsprache gewinnen, die Geschichte verarbeiten, die Gegenwart erfassen und eine gute Zukunft entwerfen. Inhaltlich bilden sie ein „Konzentrat“ der Verfassung. Speziell in Tunesien gab es schon in der Vorgängerverfassung von 1959 / 882 eine etwas kürzere Präambel, auch „Im Namen Allahs“ und mit Stichworten wie Befreiung von der ausländischen Herrschaft, Treue zu den „menschlichen Werten“, „die das gemeinsame Erbe der Völker darstellen“, die der „Würde des Menschen“ verpflichtet sind, Treue zu den „Lehren des Islam“, Einrichtung einer Demokratie mit Gewaltenteilung und Garantie der Menschenrechte. Die Präambel der neuen Verfassung Tunesiens von 2014 ist deutlich länger. Rein sprachlich betrachtet gibt es sogar Elemente der Kontinuität. Indes sind die Kontexte durchaus neu. Im Einzelnen: Gleich eingangs findet sich eine „invocatio dei“, wie so oft in arabischen Ländern, aber auch in der Schweiz, auf der Bundesebene und kantonal (am Ende des tunesischen Verfassungstextes findet sich in Art. 149 wie ein Schlusspunkt der wohl einzigartige Satz: „And God is the guarantor of success“ – ein neuartiger Gottesbezug, so dass die Verfassung sozusagen „eingerahmt“ ist). Das bekannte „We“3 ist zunächst auf die Mitglieder der Verfassunggebenden Nationalversammlung bezogen. Erst ganz am Schluss der fünf Absätze findet sich der Passus: „We, in the name of the Tunisian people, with the help of God“. Hier ist die „Invocatio dei“ eine sonst seltene Verbindung mit einer Art „Invocatio populi“ eingegangen. Im Übrigen wird inhaltlich zunächst Geschichte verarbeitet (Befreiung von der Tyrannei, Bekenntnis zu den Zielen der Revolution von 2010 / 2011 im Namen von „Freiheit und Würde“, Treuebekenntnis zu dem Blut der „edlen Märtyrer“ und Bruch mit Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Korruption): Abs. 1. Bemerkenswerterweise ist von der Hingabe zu den Lehren des Islam die Rede. Indes wird zugleich deren Geist der „Offenheit und Toleranz“ beschworen, so dass darin eine Absage an den islamischen Fundamentalismus zu sehen ist4. Gleiches gilt für die Berufung auf „menschliche Werte“ und „höchste Grundsätze universaler Menschenrechte“. Hiermit ist gleich vorweg der Kompromisscharakter dieser Verfassung erkennbar. Gleiches gilt 2 Abgedruckt in: H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der arabischen Staaten, 1995, S. 713 ff. 3 Vgl. zuletzt Übergangsverfassung des Südsudan von 2011 als Eröffnung der Präambel: „We, the People of South Sudan.“ 4 Bemerkenswert ist die Wahlverwandtschaft zum Marokko von Mohammed dem VI. Er bemüht sich um einen gemäßigten Islam durch ein ausdrückliches Verbot politischer Predigten in den Moscheen. Die Moscheen seien zum Beten da. Daher seien Äußerungen, die sich „gegen die Ruhe, Gelassenheit, Toleranz und Brüderlichkeit“ richteten, nicht gestattet (zit. nach FAZ vom 1. August 2014, S. 5). Mohammed der VI. schuf auch einen eigenen Rundfunk und Fernsehsender, der die „Wahrheiten des Koran“ mit moderaten Auslegungen verknüpft (FAZ, ebd.). Es handelt sich um „Religionspolitik“.

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für den Hinweis auf das kulturelle Erbe sowie „aufgeklärte Reformbewegungen, die auf den Grundlagen der islamisch-arabischen Identität“ beruhen und zu den Errungenschaften menschlicher Zivilisation gehören (Abs. 2). Ein Zyniker mag hier von „Formelkompromissen“ sprechen; m. E. ist hier jedoch das ernsthafte Ringen der verschiedenen Strömungen im Lande Tunesien zum Ausdruck gelangt und ein guter Ausgleich geglückt. Der dritte Absatz der sprachlich überaus dichten und gut formulierten Präambel spricht von der Zukunft. Die Rede ist vom Aufbau eines „partizipatorischen, demokratischen, republikanischen Regimes“ im Rahmen eines „zivilen Staates“, der sich auf das Recht gründet. Die Volkssouveränität wird auf den friedlichen Machtwechsel durch freie Wahlen festgelegt. Auch beruft sich die Nationalversammlung auf die Teilung und Balance der Gewalten sowie die „Prinzipien des Pluralismus“ (vgl. Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien: politischer Pluralismus), eine unparteiische Verwaltung, die „good governance“ (eine jüngst häufiger werdende Textstufe), den politischen Wettbewerb und die Garantie des Respekts vor den Menschenrechten und Freiheiten, die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, die Gleichheit der Rechte und Pflichten zwischen allen männlichen und weiblichen (!) Bürgern und der Gleichheit zwischen allen Regionen5. Schon hier zeigt sich, dass der Verfassunggeber die wichtigsten Strukturen und Prinzipien des nachfolgenden Regelwerks festlegt. Auch der vierte Absatz ist formal und inhaltlich von großer Dichte. Die Rede ist von „elevated status of humankind and desirous of consolidating our cultural and civilizational affiliation of the Arab and Muslim nation“. Damit ist die Kulturdimension der Verfassung zu einem eindrucksvollen Text geronnen, auch ist auf schöne Weise die Menschheit mit der arabischen und muslimischen Nation verflochten. Die nationale Einheit wird auf „Bürgerschaft, Brüderlichkeit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit“ gegründet. Damit sind Grundwerte formuliert, die auch an anderer Stelle der Verfassung zum Ausdruck kommen, etwa im Wahlspruch von Art. 4 Abs. 3 und in Art. 39. Eine Synthese findet sich auch im Bekenntnis zur arabischen Einheit, in „Komplementarität zu den muslimischen und afrikanischen Völkern“ sowie zur Kooperation mit allen Völkern der Welt (ein Element des „kooperativen Verfassungsstaats“!)6. Aus der Tagespolitik ist freilich die Befreiung Palästinas als Ziel fixiert. Überdies findet sich das Bekenntnis zur Opposition gegen alle Formen von Kolonisation und Rassismus. Absatz 5 der Präambel verlangt einen Beitrag zur gesunden Umwelt und zur Nachhaltigkeit sowie zur Weitergabe eines sicheren Lebens für künftige Generationen. Damit ist der Generationenbezug hergestellt, der sich in so vielen neuen Verfassungstexten fast weltweit findet7 (vgl. auch Art. 42 Abs. 3). Eine neue Formulierung erfindet Tunesien in dem schönen Satz, der Wis-

5 Dazu aus der Lit.: M. Benner, Dezentralisierte Regionalpolitik in Tunesien. Ein Neuanfang nach dem „arabischen Frühling“?, KAS 6 / 14, S. 33 ff. 6 Dazu P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. 7 Dazu die Nachweise in P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 506 ff. u. ö.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

senschaft, Arbeit und Kreativität zugleich adelt: „Believing in science, work, and creativity as noble human values“ – ein Stück vorbildliches Kulturverfassungsrecht! Gleiches gilt für den folgenden Passus, der auf Beiträge zur „Entwicklung der Zivilisation auf der Basis der Unabhängigkeit nationaler Entscheidungen, Weltfrieden und menschlicher Solidarität“ einfordert. Gewiss, diese anspruchsvollen Sätze der Präambel müssen sich im Laufe der Zeit erst noch bewähren. Es wird lange dauern bis diese hohen Ideale in der Verfassungswirklichkeit Tunesiens „ankommen“8. Gleichwohl ist aus verfassungspolitischer Sicht der hohe Anspruch dieser Präambel mit zum Teil beachtlichen Neuerungen zu rühmen. Von allen Beteiligten wird viel an Konkretisierungsleistung in der Zukunft verlangt. Doch gelingt bereits dieser Präambel ein herausragender Beitrag zum Verständnis der Verfassung „aus Kultur und als Kultur“. Selbst wenn diese Präambel zum Teil an der Wirklichkeit scheitern sollte, wie vielleicht der einst hoffnungsvoll begonnene „Arabische Frühling“ insgesamt (Bürgerkrieg in Libyen und Syrien!), so bleibt sie gleichwohl ein Glanzstück in der weltweiten „Werkstatt“ des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe, zugleich ein Vorbild für andere „arabische“ Länder. Denkbar wird in optimistischer langfristiger Sicht ein arabischer Konstitutionalismus, vielleicht mit unterschiedlichen Varianten islamischer Prägung.

II. Die allgemeinen Prinzipien Wie in manchen neueren Verfassungen üblich geworden (z. B. Art. 1 bis 9 Verf. Spanien von 1978, Art. 1 bis 8 Verf. Madagaskar von 1995, Art. 1 bis 11 Verf. Polen von 1997, Art. 1 bis 14 Verf. Albanien von 1998), beginnt der Verfassunggeber in Tunesien seinen Text nach der Präambel mit „allgemeinen Prinzipien“ (Kap. 1). Erst später folgen die Kapitel über Rechte und Freiheiten sowie staatsorganisatorische Themen. Die 19 Artikel des ersten Kapitels sind außerordentlich inhaltsreich, an manchen Stellen wie aus Stein gehauen. Sie formulieren das Selbstverständnis Tunesiens in vielen Aspekten seiner Identität. Dabei gibt es naturgemäß inhaltliche Querverbindungen zur Präambel einerseits und zu den späteren Kapiteln andererseits. Schon vorweg sei gesagt, dass der Verfassunggeber in Tunesien gut beraten war: er verfügt über die notwendigen Textbausteine und juristischen Techniken, um eine Verfassung auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates auf prägnante Worte und anschauliche Begriffe zu bringen. Zu vermuten ist, dass die Berater der Nationalversammlung rechtsvergleichend geschult sind und vielleicht europa-, ja weltweit die Verfassungsentwicklungen gut kennen, d. h. ihre Texte, Judikate und Theorien. Einmal mehr erweist sich die Rechtsvergleichung im Verfas-

8 Derzeit ist die Politik in Tunesien durch ein Bündnis von Gewerkschaften und Arbeitgebern geprägt, das im Dialog arbeitet und verhindern will, dass auf die Diktatur des Autokraten die der Islamisten folgt (SZ vom 16. / 17. August 2014, S. 5).

VI. Die neue Verfassung der Republik Tunesien (2014)

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sungsrecht als „fünfte“ Gestaltungsmethode9. Aus historischen Gründen dürften zu Frankreich besondere Beziehungen bestehen, vielleicht auch zu anderen romanischen Ländern wie Italien rund um das „mare nostrum constitutionale“, d. h. das heutige Mittelmeer. Diese Näheverhältnisse könnten offen oder versteckt wirksam geworden sein. Im Einzelnen: Artikel 1 beginnt wie ein Paukenschlag mit den Worten: „Tunisia is a free, sovereign state; its religion is Islam; its language Arabic, and its system the Republic.“ Wie wichtig dem Verfassunggeber dieser Identitätsartikel ist, zeigt sich daran, dass er pointiert als Satz 2 formuliert: „This article cannot be amended“. Damit bedient sich die Verfassung der Technik und der Idee von Ewigkeitsklauseln (vgl. etwa Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 288 Verf. Portugal, Art. 159 alte Verf. Angola von 1992)10. Da Tunesien in Art. 1 Abs. 1 in fast jeder Hinsicht seine Identität beschreibt, kommt dieser Artikel im Ganzen fast einer Ewigkeitsklausel nach dem Beispiel von Art. 79 Abs. 3 GG gleich. Bekanntlich ist umstritten, ob solche Klauseln im Ernstfall politisch und juristisch „halten“ bzw. schützen. Als Symbol für die intendierte Dauer von Rechtsprinzipien sind sie gleichwohl verfassungspolitisch durchaus zu empfehlen. Der folgende Art. 2 ist eine ähnliche Geist-Klausel. Sie lautet: „Tunisia is a civil state based on citizenship, the will of the people, and the supremacy of law.“ An diesem Satz ist vieles bedeutsam: die Kennzeichnung als „civil state“11, was wohl auf die Ablehnung des in arabischen bzw. islamischen Ländern so oft gewünschten religiösen „Gottesstaates“ deutet und überdies die Dominanz des Militärischen (wie z. B. in Ägypten) verwirft; sodann die Heraushebung der Bürgerschaft, des Willens des Volkes und gleichzeitig des heute oft getexteten Vorrangs der Verfassung. Aus westlicher Deutung wird damit der Vorrang der Shari’a abgelehnt. Wenn auch Art. 2 ausdrücklich ein spezielles Verbot der Verfassungsänderung in Satz 2 formuliert, so ist auch hier der Ewigkeitsanspruch zum Ausdruck gekommen bzw. das normierte Prinzip in den höchsten Rang der Unabänderlichkeit gerückt. Art. 3 verankert die Volkssouveränität als Quelle der Autorität und verweist zugleich auf die Repräsentation des Volkes sowie das Referendum. Es ist konsequent, dass schon bei den allgemeinen Prinzipien sowie im Kontext der eben genannten Artikel Art. 4 als der Symbol-Artikel normiert ist. In großer Dichte wird eine Trilogie festgelegt: Flagge, Nationalhymne und Wahlspruch12. Die Flagge der tunesi9 Dazu meine Nachweise für die Entstehung des deutschen Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat, in: P. Häberle, Einleitung zu: Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, Neuausgabe des JöR Band 1 (1951), 2010, S. V ff. 10 Aus der Lit.: P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 259 ff. 11 Vgl. auch Art. 8 Abs. 1 alte Verf. Angolas von 1992: „Die Republik Angola ist ein weltlicher Staat“. Ebenso Art. 9 Abs. 1 Verf. Mosambik von 1992. Art. 8 Verf. Kosovo (2008) lautet: „secular state“. 12 Dazu die Monographien des Verf.: Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2. Aufl. 2013 bzw. Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätsele-

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schen Republik von heute ist interessanterweise identisch mit der der Verfassung von 1959 / 88 (Art. 4). Dies belegt einmal mehr, wie wichtig auch für neue Verfassungen der Brückenschlag zu alten (emotionalen) Identitätselementen als Kontinuitätsfaktoren sind (das Ideal der Balance zwischen Tradition und Innovation). Neu ist in Art. 4 Abs. 2 auf Verfassungshöhe die Nationalhymne festgelegt („Defenders of the Homeland“). Diese Hymne war ursprünglich die Hymne der Revolution vom 07. November 198713, sie stammt von einem Ägypter und einem Tunesier, der zwei Strophen hinzufügte. Der in Art. 4 Abs. 2 normierte Gesetzesvorbehalt entspricht einer oft praktizierten Technik. Art. 4 Abs. 3 formuliert als Motto der tunesischen Republik: „freedom, dignity, justice and order.“ Dieser Wahlspruch ist eine in afrikanischen, arabischen und lateinamerikanischen Ländern häufig vorkommende Kulturtechnik (z. B. Art. 1 / 5 Verf. Benin von 1990, Art. 4 Abs. 1 Verf. Madagaskar von 1995, Art. 1 Abs. 3 Verf. Djibouti von 1992; in Brasilien findet sich der Wahlspruch auf der Nationalflagge). Der Wahlspruch ist innerlich den Erziehungszielen bzw. Präambeln verwandt. In der alten Verfassung Tunesiens (1959 / 88) ist bemerkenswerter Weise die „dignity“ hier noch nicht genannt. Gerade sie wurde ja im Beginn der arabischen Revolution (2011) von den Bürgern in Tunesien vehement eingefordert. In anderen Ländern (z. B. Verf. Kenia Art. 9 Abs. 3 von 2010) ist mitunter die Feiertagsgarantie Teil einer „Tetralogie“: Feiertage, Hymnen, Flaggen und Erinnerungskultur. Nimmt man den Wahlspruch hinzu, so käme man zu einer verfassungsstaatlichen „Pentalogie“. In Art. 5 definiert sich die Republik Tunesien als Teil des „arabischen Maghreb“ (die marokkanische Verfassung von 2011 definiert sich schon in der Präambel vorweg als „Teil des Großen Arabischen Maghreb“). Auch verpflichtet sie sich zur Arbeit mit allen Mitteln an dem Ziel von dessen Einheit. Der Sache nach handelt es sich um ein Stück Kulturgeographie. Art. 6 definiert den Staat als „guardian of religion“ – eine wohl neue Textstufe im internationalen Vergleich, eine fast ähnliche auf den Islam bzw. den König bezogene Wendung findet sich in der Verfassung Marokkos von 2011 (Art. 19: Der König „ist der Hüter des Islams und der Verfassung. Er ist der Schutzherr der Rechte und Freiheiten …“). Wenn Satz 2 zugleich kompromisshaft und in praktischer Konkordanz die Freiheit des Gewissens und Glaubens und die freie Ausübung der religiösen Praktiken definiert, so deutet dies auf ein Stück Säkularität hin: Die Verfassung ist nicht allein auf den Islam hin ausgerichtet! Dies ergibt sich auch aus dem Passus, wonach die Neutralität der Moscheen garantiert ist und die Gottesdienste von aller parteipolitischen Instrumentalisierung frei bleiben sollen. Damit versucht der Verfassunggeber ganz offensichtlich, die in islamischen Staaten üblich gewordenen Aufrufe zu „Gotteskriegen“ oder zur „Islamisierung“ zu stoppen. Jedenfalls ist die Textstufe des Art. 6 Abs. 1 eine bemerkenswerte Innovation bzw. ein Versuch, mente und internationale Erkennungssymbole, 2008; Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011. 13 Zit. nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Humat_al-hima.

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den Staat nicht vom Islam überwältigen zu lassen. Derselbe vorbildliche Gedanke findet sich in Art. 6 Abs. 2. Danach soll der Staat die Verbreitung der Werte der Mäßigung und der Toleranz befördern sowie den m. E. „religionsfreundlichen“ Schutz des Heiligen garantieren. Damit wird im Grunde ein Kulturauftrag formuliert und die klassische Toleranzidee auf Begriffe gebracht. Dies zeigt sich auch an der entschiedenen Ablehnung der Aufrufe zur „Takfir“-Praxis, d. h. Brandmarkung anderer Muslime als „Ungläubige“ aufgrund von Lehren und Verhaltensweisen14. Konsequent wird auch der Aufruf zu Gewalt und Hass verboten (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 am Ende). Vielleicht sind in all diesen Textbausteinen erste Elemente eines toleranten islamischen Religionsverfassungsrechts zu erkennen, vielleicht auch von freiheitlicher „Religionspolitik“. Während Art. 7 den Schutz der Familie als Kern der Gesellschaft durch den Staat anordnet15, wagt Art. 8 ganz neue Textstufen in Bezug auf die Jugend, wobei Staatsziele und Erziehungsziele eine enge Verbindung eingehen. Satz 1 formuliert neuartig: „Youth are an active force in building the nation“ und trifft damit wohl eine für manche arabische Länder heute typische Aussage. Satz 2 verlangt vom Staat in neuartigen Worten die „capacities of youth“ zu entwickeln und ihr Potenzial zu realisieren. Überdies verlangt er, sie bei der Aufgabe zu unterstützen Verantwortung zu übernehmen. Wenn überdies gefordert ist, die Partizipation der Jugend bei der sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Entwicklung zu stärken, so ist auch hier eine als „Jugendgarantie“ zu qualifizierende neuartige Textstufe geglückt. Sie bereichert sowohl die Lehre von den Staatsaufgaben als auch die Idee der staatsbürgerlichen Teilhabe und sollte auch sonst Schule machen (etwa in Südeuropa!). Art. 9 formuliert eine „heilige“ Grundpflicht für alle Bürger, die Einheit und Integrität der Heimat zu schützen. Eine Vorwegnahme der Idee von Grundpflichten gemäß Kap. 2 findet sich auch in dem Passus „national service is a duty“. Die folgenden Artikel nehmen sich sehr unterschiedlicher Themen an. Manches ist neu, manches basiert auf bekannten Textbausteinen von Verfassungen der heutigen Entwicklungsstufe. Wiederum erstaunt, wie kenntnisreich der Verfassunggeber in Tunesien arbeitet. Im Einzelnen: Art. 10 befasst sich mit den Steuern und verlangt ein „fair and equitable system“. Er verbietet die Korruption und alles, was die nationalen Ressourcen gefährden kann. Neues wagt Art. 11. Schon auf Verfassungsstufe wird die Offenlegung der Vermögensverhältnisse von allen wichtigen Amtspersonen (vom Präsidenten der Republik bis zu Parlamentsabgeordneten oder Mitgliedern unabhängiger Körperschaften) verlangt. Der zeitgeschichtliche Hintergrund ist offenkundig: Zum einen ringen fast alle Verfassungsstaaten derzeit um Transparenz in Vermögensdingen ihrer politisch Verantwortlichen (in Deutschland gelten besondere Publizitätspflichten für Bundestagsabgeordnete), man denke auch an die Arbeit der Nichtregierungsorganisation „Transparency International“, zum http://de.wikipedia.org/wiki/Takfir. Dazu meine Schrift Verfassungsschutz der Familie – Familienpolitik im Verfassungsstaat, 1984. 14 15

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anderen spiegelt sich in diesem Artikel die negative Erfahrung Tunesiens mit seinem gestürzten ehemaligen Staatspräsidenten Ben Ali, der mit großen Vermögenswerten schon zu Beginn des „Arabischen Frühlings“ nach Saudi-Arabien geflohen ist, wider. Einmal mehr zeigt sich, wie neue Verfassungstexte aus dem kulturell-politischen Kontext zu erklären sind und wie sie oft frühere politische Zustände ausdrücklich ablehnen wollen. Ein in vielen neuen Verfassungen vorkommender Verfassungsauftrag findet sich in Art. 12: Stichwort nachhaltige Entwicklung, ein Stück heute fast überall erkennbaren Umweltverfassungsrechts16, und die Balance zwischen den Regionen, wobei sogar von „positiver Diskriminierung“ die Rede ist. Es handelt sich um einen textlichen Beitrag zum verfassungsstaatlichen Regionalismus (vgl. Art. 138 Abs. 1 Verf. Spanien: „Gleichgewicht“ zwischen den verschiedenen Teilen des Staatsgebietes). Art. 13 ordnet die nationalen Ressourcen dem Volk Tunesiens zu, Art. 14 verlangt eine Stärkung der Dezentralisierung, Art. 15 stellt die öffentliche Verwaltung „in den Dienst der Bürger und des Allgemeinwohls“. Damit hat Tunesien eine neue Wendung in Sachen öffentliche Gemeinwohlverwaltung gefunden. Für den öffentlichen Dienst verlangt es Unparteilichkeit, Gleichheit und Kontinuität sowie Übereinstimmung mit den Regeln „transparency, integrity, efficiency and accounatbility“. Was die deutsche Verwaltungsrechtslehre dogmatisch mühsam genug in Jahrzehnten erarbeitet hat, ist hier zum prägnanten Verfassungstext geronnen. Art. 16 garantiert die Unparteilichkeit der Erziehungseinrichtungen (Stichwort: keine parteiische Instrumentalisierung). Damit zeigt sich einmal mehr, wie ernst die tunesische Republik die Erziehung bzw. die Jugend nimmt. Von ihr hängt letztlich ab, ob der Verfassungsstaat auf Dauer in der Generationenperspektive gelingt 17. Art. 17 bis 19 gelten dem Militär und der nationalen Sicherheit. Sie werden auf das „öffentliche Interesse“ verpflichtet. Das Militär wird als „republikanisch“ gekennzeichnet (Art. 18). Damit will der Verfassunggeber wohl an die alte inhaltliche Fülle des Begriffs „Republik“ anknüpfen, die seit Cicero klassisch und in Frankreich und Spanien im Begriff der „öffentlichen Freiheiten“ lebendig ist und im Begriff „öffentliches Interesse“ mitschwingt18.

16 Etappen auf dem Weg der Konstitutionalisierung der „nachhaltigen Entwicklung“ sind der Begriff in der Abhandlung von H. C. von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica, 1713, die Brundtlandkommission der UN, 1987, sowie die Rio-Konferenz der UN, 1992; siehe auch P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 522 ff. 17 Vorbildlich Art. 4 Abs. 4 der Übergangsverfassung des Süd-Sudan von 2011: „They (sc. all levels of gouvernments) shall provide for the teaching of this Constitution in all public and private educational and training institutions as well as in the armed and other regular forces, by regularly transmitting and publishing programmes in respect thereof through the media and press.“ S. auch den Passus: „shall promote public awareness of this Constitution“. 18 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1. Aufl. 1970, 2. Aufl. 2006.

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Art. 20 schließlich beschäftigt sich mit dem Geltungsrang parlamentarisch ratifizierter internationaler Verträge: Sie stehen über dem Rang von Parlamentsgesetzen und unterhalb der Verfassung (zum Problem Art. 91 Verf. Polen, Art. 151 Verf. Burkina Faso von 1991 / 97).

III. Rechte und Freiheiten Kap. 2 (Art. 21 bis 49) befasst sich mit den Grundrechten. Der tunesische Verfassunggeber dürfte dabei aus zahlreichen „Quellen“ geschöpft haben, auch wenn er dies nicht offen legt. Textliche Spurenelemente sind aus folgenden „Materialien“ zu vermuten: aus der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrecht im Islam“ (1981)19, aus der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990) 20, aus der „Arabischen Charta der Menschenrechte“ (1994)21, aus der „Arab Charter On Human Rights“ (2004)22, aus der Charta der Vereinten Nationen (1945), den beiden universalen Menschenrechtspakten (1976) sowie der EMRK (1950), der EU-GrundrechteCharta (2000) und manchen neuen nationalen Verfassungen, etwa Kenias. Soweit es sich um islamische Texte handelt, ist freilich immer zu bedenken, dass sie im Kontext der Scharia stehen und oft ausdrückliche entsprechende Vorbehalte normieren (z. B. Präambel der Kairoer Erklärung: „Recht auf ein würdiges Leben in Einklang mit der islamischen Scharia“; s. auch Art. 2 d, Art. 22). Darum genügt der bloße Textvergleich nicht, erforderlich wird ein kontextueller Ansatz („Auslegen durch Hinzudenken“), d. h. es ist zu prüfen, was islamisch geprägt bleibt und was „säkular“ bzw. weltlich verstanden werden kann, ja muss23. Thematisch widmet sich der tunesische Grundrechtskatalog den klassischen und neueren Feldern: bürgerliche und politische Rechte, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, jeweils in die heutige Zeit fortgeschrieben, z. B. in Sachen Umweltschutz, neue Medien etc. Dabei lässt sich schon im Text erkennen, dass sich der Verfassunggeber mit vielen bekannten dogmatischen Figuren der westlichen Grundrechtstheorien bzw. -texten und -judikaten beschäftigt. So finden sich Grundrechte als klassische Abwehrrechte, als objektive Garantien, als Leistungsgrundrechte und

19 http://www.way-to-allah.com/dokument/Internationale%20Menschenrechte-Deklaration %20im%20Islam.pdf. 20 http://www.islamdebatte.de/islamische-schluesseltexte/kairoer-erklaerung-der-menschen rechte-im-islam/. 21 http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/arab.pdf. 22 http://www.acihl.org/res/Arab_Charter_on_Human_Rights_2004.pdf. 23 So relativiert die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990) die universelle Geltung der Menschenrechte, wenn es in Art. 24 bzw. 25 heißt: „Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Scharia“ bzw. „Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung“. Diese Verabsolutierung und Monopolisierung findet sich zum Glück in der Verfassung Tunesiens nicht! Aus der Lit.: M. Rohe, Das islamische Recht, 2013.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

als Teilhaberechte, als Schutzpflichten, Verfassungsaufträge (zumal sich kein eigenes Kapitel über die Gemeinwohlziele wie in anderen Verfassungen, z. B. Verf. Südsudan von 2011: Art. 35 – 44 „objectives and principles“, findet). All dies ergibt ein recht buntes Gemisch, das im Folgenden nur in knapper Auswahl erarbeitet werden kann. (Der besondere institutionelle Grundrechtsschutz in Tunesien über die „Independent Constitutional Bodies“ in Kap. 6 sei schon hier erwähnt, insbesondere Art. 102, 105, 128). Im Einzelnen: Vorweg ist auffallend, dass in nicht weniger als vier Artikeln die Menschenwürde thematisiert wird (Art. 21 Abs. 2: „The state … assures all citizens the conditions for a dignified life.“, Art. 23 „The state protects human dignity“, Art. 30 Abs. 1 „Every prisoner shall have the right to humane treatment that preserves their dignity“, Art. 47 Abs. 1 „Children are guaranteed the rights to dignity“). Selten hat ein Verfassunggeber die Gefahren für die Menschenwürde auf so vielen Feldern zum Thema gemacht, für das deutsche Grundgesetz haben dies BVerfG und Literatur seit 1949 erst in Jahrzehnten erarbeitet. Im Übrigen wird die Gleichstellung von Männern und Frauen, das Recht auf Leben, das Folterverbot, der Privatheitsschutz, das Asylrecht in prägnanten Worten garantiert (Artikel 21 – 26). Große Sorgfalt lässt die Verfassung bei den Justizgrundrechten erkennen. So findet sich etwa die „Unschuldsvermutung“ (verbunden mit dem „fairen Verfahren“ in Art. 27) – sie ist Ausdruck eines eher optimistischen Menschenbildes, das insofern in fast allen neuen Verfassungen vorkommt. Erwähnenswert ist auch Art. 29 mit seinem Anspruch jedes Festgenommenen auf einen „lawyer“. Eine neue Textstufe gelingt Art. 30 Abs. 2: die Interessen der Familie eines Inhaftierten sind zu berücksichtigen, auch wird das Ziel der Rehabilitation und der Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft formuliert – bekanntlich ist dies in Deutschland erst durch Wissenschaft und Judikatur erarbeitet worden, jetzt begegnen wir in Tunesien einer kongenialen konstitutionellen Textstufe. Art. 32 garantiert den Zugang zu Information und „communication networks“. Art. 33 Abs. 2 formuliert die Grundrechtspflicht des Staates, die notwendigen Ressourcen für die Entwicklung wissenschaftlicher und technischer Forschung sicherzustellen. Art. 34 (aktives und passives Wahlrecht) wagt sogar eine „Frauenquote“ („The state seeks to guarantee women’s representation in elected bodies.“)24. Die neue Verfassung beschäftigt sich sodann mit der „innerparteilichen Demokratie“ (Art. 35). Verlangt wird Respekt vor der Verfassung, dem Gesetz, finanzielle Transparenz und die Ablehnung von Gewalt. Damit ist wieder einmal prägnant auf eine konstitutionelle Textstufe gebracht, was etwa in Deutschland, Portugal und Spanien mühsam genug vom politischen Prozess und der ihn begleitenden Wissenschaft und Judikatur erarbeitet worden ist. Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Grundrechte nehmen einen breiten Raum ein: Art. 38 gewährt jedem das Recht auf Gesundheit und auf soziale Sicherheit. 24 Freilich bleibt noch offen, ob das Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau (z. B. Art. 21 Abs. 1) sich vom Kontext der islamischen Tradition lösen kann und wirkliche Gleichberechtigung ohne Diskriminierung der Frau entsteht.

VI. Die neue Verfassung der Republik Tunesien (2014)

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Art. 39 geht neue Wege in Bezug auf die Erziehung in den Worten: „achieve a high quality of education, teaching, and training.“ Erziehungsziele sind der Sache nach formuliert, wenn vom Staat verlangt wird, nicht nur die arabisch-muslimische Identität und die nationale Zusammengehörigkeit in den jungen Generationen zu festigen, sondern auch den Gebrauch der arabischen Sprache zu befördern, ebenso „to openness to foreign languages, human civilisations and diffusion of the culture of human rights“. Diese sprachliche Wendung kann gar nicht genug gerühmt werden. Soweit ersichtlich, ist bislang kaum irgendwo die Öffnung für ausländische Sprachen und das kulturwissenschaftliche Verständnis der Menschenrechte so zum Verfassungstext gereift – darum bemüht sich der Verf. dieser Zeilen seit Jahrzehnten. Dieselbe Hochschätzung der Kultur findet sich in Art. 42. Er garantiert zunächst das „Recht auf Kultur“, sodann verlangt er vom Staat die kulturelle Kreativität zu ermutigen und die Stärkung der „nationalen Kultur, ihrer Vielfalt und Erneuerung“ zu unterstützen; all dies ist vom Satz umrahmt: „promoting the values of tolerance, rejection of violence, openness to different cultures and dialogue between civilizations.“ Damit sind sowohl Erziehungsziele für den jungen Bürger als auch Orientierungswerte für alle Bürger (z. B. Toleranz) auf einen guten Text gebracht 25. Der Wunsch nach Offenheit für verschiedene Kulturen, „Dialog zwischen den Kulturen“ ist ein vorbildliches neues Element im Kulturverfassungsrecht der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Die Forderung nach einem „offenen Kulturkonzept“26 ist zur neuen verfassungsrechtlichen Textgestalt geworden; wissenschaftlich vor Jahrzehnten vorbereitet. Der Verfassungsauftrag zum Schutz des kulturellen Erbes, auch in Blick auf die künftigen Generationen rundet das Gesamtbild vortrefflich ab (Abs. 3). Neue Wege geht Art. 44. Er garantiert das Recht auf Wasser (Abs. 1) und macht die Bewahrung und den vernünftigen Gebrauch des Wassers zur Pflicht des Staates und der Gesellschaft (Abs. 2). Damit wird mit einer Forderung der UN-Vollversammlung vom 28. Juni 2010 zum Menschenrecht auf Wasser bzw. einem Teil der Wissenschaft27 ernst gemacht. Man mag sich fragen, ob dieser Text nicht besser in Gestalt eines Teilhaberechts unter Möglichkeitsvorbehalt zu formulieren wäre 28. Indes kann das „Menschenrecht auf Wasser“ durchaus ein pädagogisch wichtiges Utopiequantum des Verfassungsstaates Tunesien sein. Nur berührt seien die Art. 45 – 48 (Stichworte: Umweltschutz, Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern einschließlich einer erneuten sogar paritätischen „Ge25 Zu dieser Unterscheidung P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 26 Dazu mein Augsburger Friedensfest-Vortrag: Kulturpolitik in der Stadt, 1979. 27 S. Laskowski, Das Menschenrecht auf Wasser, 2010; S. Sule, „Recht auf Wasser“ – Zur ersten der Europäischen Kommission vorgelegten Europäischen Bürgerinitiative nach dem Lissaboner Vertrag, EuZW 2014, S. 725 ff. 28 Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (107 f., 114, 140).

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

schlechterquote“ für gewählte Vertretungen sowie Kinderrechte, bei denen der Einfluss der UN-Kinderrechtskonvention (1989 / 90) erkennbar ist. Gleiches gilt für den Schutz der Behinderten (vgl. UN-Behindertenrechtskonvention 2006 / 08)). Ein Höhepunkt der Grundrechts-Kodifikation in Tunesien findet sich in Art. 49. Hier leistet der Verfassunggeber nichts weniger als ein Konzentrat der europaweiten wissenschaftlichen und judiziellen Bemühungen um das Problem der Grundrechtseinschränkungen, ihrer Disziplinierung bis hin zum Wesensgehaltsschutz. Verarbeitet sind die Vorgaben der EMRK zu den Grundrechtsschranken sowie die mittlerweile fast weltweit nachweisbaren Klauseln zum grundrechtlichen Wesensgehaltschutz. Man darf fast schon von universal gemeinrechtlichen Grundrechtsstandards sprechen, die ein Gemeinschaftswerk vieler nationaler Rechtskulturen sowie regionaler und universaler Prinzipien sind. Mit Art. 49 krönt Tunesien sein zweites Kapitel. Es zeigt einmal mehr, dass es eine „universale Werkstatt“ in Sachen Verfassungsstaat bzw. einzelner seiner Prinzipien gibt. Einmal in der Welt, kann dieser Artikel seinerseits auf spätere Verfassunggeber als Muster ausstrahlen, selbst wenn sich die Verfassungswirklichkeit Tunesiens kurz- oder mittelfristig schwer tun wird, diesem vorbildlichen Artikel gerecht zu werden. Im Einzelnen: Art. 49 Abs. 1 beginnt in Satz 1 mit einer leicht veränderten Garantie des Wesensgehalts („essence“) gegenüber Beschränkungen („limitations“). Damit liefert er einen neuen Beleg für die fast weltweite Erfolgsgeschichte der ursprünglich deutschen Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Sie finden sich der Sache nach in der Schweiz (Stichwort: „Kerngehaltsgarantie“), der Form nach in zahlreichen neueren europäischen Verfassungen, etwa in Spanien (Art. 53 Abs. 1 Satz 3) sowie in der EU-Grundrechtecharta.29 Sie tauchen überdies in neuen Verfassungen, etwa in Kenia auf (Art. 24, der als Vorbild gedient haben dürfte und seinerseits ein „Nachbild“ ist30). Zu vermuten ist, dass die Wesensgehaltsgarantie in Tunesien im Sinne der „absoluten Theorie“ zu verstehen ist. Denn Satz 2 fügt hinzu, dass sich solche Beschränkungen nur rechtfertigen, wenn sie für einen zivilen (!) und demokratischen Staat notwendig sind und dem Schutz der Rechte anderer dienen oder auf Anforderungen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit, Gesundheit oder Moral basieren (Hier wird der Einfluss der ausländischen Schrankenregelungen, z. B. der EMRK, sichtbar, für eine islamische Auslegung ist kein Raum). Hinzugefügt wird der aus Deutschland stammende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen diesen Beschränkungen und dem „objective sought“. Damit ist die „relative“ Wesensgehaltstheorie angedeutet. Vermutlich wird sich eine pragmatische Annäherung zwischen beiden Theorien eröffnen. Auch diesem Weg ist die deutsche Wissenschaft schon voran gegangen. Abs. 3 baut eine zusätzliche Absicherung ein in den Worten: „There can be no amendment to the Constitution that undermines the human rights and freedoms guaNachweise in P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff. Mein Beitrag: Die neue Verfassung von Kenia (2010), FS für Canotilho, Bd. II 2012, S. 325 – 333; auch in JöR 61 (2013), S. 789 – 796. 29 30

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ranteed in this Constitution.“ Damit unterliegen alle Grundrechte der tunesischen Verfassung einer „Ewigkeitsklausel“. Zum dritten Mal arbeitet der tunesische Verfassunggeber mit dieser Technik (vgl. zuvor Art. 1 Abs. 2, Art. 2 Abs. 2). Mehr kann ein nationaler Verfassunggeber kaum tun. Zugleich erweist sich die Erfolgsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 GG als solche (vgl. noch Art. 106 Verf. Marokko von 2011: Unabänderlichkeit der monarchischen Staatsform und der „Bestimmungen der moslemischen Religion“).

IV. Organisationsrechtliche Regelungen 1. Die Legislative (Kapitel 3) Dieser ebenfalls sorgfältig gegliederte Teil sei nur in einigen Stichworten präsentiert. Bemerkenswert ist die lokale Verknüpfung des Sitzes der Repräsentativorgane mit der Hauptstadt (Art. 51). Sodann sei der Eid der Abgeordneten erwähnt (Art. 58): Schwur bei Gott dem Allmächtigen, Respekt vor der Verfassung und „full allegiance to Tunisia“. Bemerkenswert ist die Institutionalisierung der Opposition als solcher. Hier finden sich neue Stichworte (Art. 60): Opposition als „essential component of the Assembly of the Representatives of the People“. Garantiert ist ihr angemessene und effektive Repräsentation in allen Gremien und zwar sowohl in den internen als auch in den externen Aktivitäten. Der Opposition wird sogar das Recht, eine jährliche Untersuchungskommission zu gründen, zuerkannt. Auch werden ihr die Pflichten zur konstruktiven Mitarbeit im parlamentarischen Prozess auferlegt. Die Verfassung unterscheidet zwischen „Organgesetzen“ (absolute Mehrheit der Parlamentsmitglieder) und einfachen Gesetzen (Art. 64). In Art. 65 werden die Gegenstandsbereiche beider Gesetzesarten definiert. Gemäß einem positiven Kompetenzverständnis lassen sich diese Regelungen auch als Gemeinwohlaufgaben verstehen. So finden sich u. a. die Themen: gerichtliche Verfahrensordnungen, die grundlegenden Prinzipien von Eigentumsrechten, der Erziehung, der Forschung, der Kultur, der öffentlichen Gesundheit, des Umweltschutzes und der sozialen Sicherheit. Organgesetze werden unter anderem verlangt für die Organisation der Rechtsprechung, der politischen Parteien, Gewerkschaften und Berufsverbänden sowie der nationalen Armee, des Wahlrechts, der Freiheiten und Rechte, der kommunalen Selbstverwaltung und der Verfassungskommissionen.

2. Die Exekutive (Kapitel 4) Gleich eingangs figuriert der Präsident der Republik. Nach dem Vorbild der spanischen Verfassung und anderer Länder lautet Art. 72: „The President of the republic is the Head of State and the symbol of its unity. He guarantees its independence and continuity, and ensures respect of the Constitution.“ Auffallend ist Art. 74 Abs. 1, insofern er von jedem Kandidaten für das Präsidentenamt verlangt, die isla-

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mische Religion zu haben. Einen großen Fortschritt markiert Art. 75 Abs. 5. Er lautet: „No-one can occupy the post of presidency for more than two full terms, whether consecutive or separate.“ Damit ist die Forderung des Verf. nach einer lebenszeitlichen Berechnung der einmaligen Wiederwahl Text geworden31. Damit ist ein neuer Fall H. Chávez (Venezuela) und W. Putin ausgeschlossen. Diese neue Textstufe ist im weltweiten Vergleich vorbildlich und bisher wohl einmalig. Aus dem Abschnitt über die Regierung ist erwähnenswert: die Formulierung von ihrer „state’s general policy“ (Art. 91), was der Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers entsprechen dürfte; sodann die Festlegung des konstruktiven Misstrauensvotum (Art. 97 Abs. 2). 3. Die Justiz (Kapitel 5) Große Sorgfalt verwendet die Verfassung Tunesiens auf diesen Teil, in den auch die Verfassungsgerichtsbarkeit integriert ist. Schon der Eingangsartikel 102 normiert die Unabhängigkeit der richterlichen Autorität: „the supremacy of the Constitution, the sovereignty of the law and the protection of rights and freedom.“ Damit sind Ecksteine der dritten Gewalt im heutigen Verfassungsstaat fixiert. Vorbildlich ist auch Art. 103, in dem vom Richter verlangt wird, kompetent, neutral und integer zu sein. Eine Innovation ist auch Art. 105 zum Rechtsberuf im Allgemeinen. Von ihm wird verlangt Beiträge zur Schaffung von Gerechtigkeit und zur Verteidigung von Rechten und Freiheiten zu leisten – damit ist erneut die Wichtigkeit der Grundrechte und -freiheiten für Tunesien hervorgehoben. M. E. ist diese Textstufe im internationalen Vergleich neu. Von den weiteren Regelungen sei Art. 108 Abs. 1 erwähnt (Jedes Individuum „is entitled to a fair trail within a reasonable period.“). Die Parallele zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK liegt nahe. Art. 111 ordnet an das die Urteile „im Namen des Volkes“ ergehen – eine bemerkenswerte textliche Fassung der „invocatio populi“. Für den vor allem in Italien und in Balkanländern sowie in Rumänien bekannten Richterrat ordnet Art. 112 eine kluge Mischung der Wahlberechtigten an. Ein Teil der Richter wird „on merit“ berufen. Ein besonderes Wort gilt dem Verfassungsgericht. Ihm widmet sich ein eigener inhaltsreicher Abschnitt (Art. 118 – 124), sowohl zum Wahlverfahren als auch zu den Zuständigkeiten und den Zugangsberechtigten. Nur weniges sei herausgehoben: Dreiviertel der zwölf Mitglieder sollen Berufsjuristen mit mindestens zwanzig Jahren Erfahrung sein. Wahlberechtigt sind der Präsident, das Parlament und der oberste Richterrat für jeweils vier Richter (Amtszeit neun Jahre). Einmal mehr zeigt sich die starke Stellung des Präsidenten. Dass auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates gerade auch in arabischen Ländern besonders den Verfassungsgerichten eine zentrale Rolle zukommt, zeigt auch der ausführliche Kompe31

P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, 2013, S. 341.

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tenzkatalog (Art. 120). Erwähnt sei nur, dass auf Bitte des Präsidenten, aber auch den Regierungschefs, eines Drittels des Parlaments Gesetzentwürfe zur Prüfung vorgelegt werden können. Überdies sind Verfassungsänderungen nach Art. 144 überprüfbar. Gleiches gilt für völkerrechtliche Verträge vor ihrer Ratifizierung durch das Parlament. Auch ist eine konkrete Normenkontrolle auf Veranlassung der Gerichte vorgesehen. Art. 121 legt eine Entscheidungsfrist von 45 Tagen fest, die in der verfassungsgerichtlichen Praxis wohl kaum realisierbar ist. Jedenfalls würde das deutsche BVerfG an dieser Norm seit Jahrzehnten scheitern.

4. Unabhängige verfassungsrechtliche Institutionen (Kapitel 6) Die Art. 125 – 130 widmen sich den „independent institutional bodies“. Hier finden sich Innovationen und Traditionen. Stichworte müssen genügen. Die unabhängigen Einrichtungen sollen die Demokratie unterstützen (Art. 125 Abs. 1). Genannt sind die Wahlrechtskommission, die Kommission in Sachen Audio-Visueller Kommunikation mit dem inhaltsreichen Anspruch auf eine „pluralistic media sector the functions with integrity“ – auch dieses Postulat verdankt sich der Diskussion in Deutschland und Europa. Schließlich gibt es eine Menschenrechtskommission, die im Dienste der Förderung der Menschenrechte steht und Vorschläge machen soll, um das „human rights framework“ zu entwickeln. Festgelegt ist eine Beratungspflicht einschlägiger Gesetzesentwürfe. Die beiden letzten Institutionen dienen der nachhaltigen Entwicklung und den Rechten künftiger Generationen (Art. 129) – Letzteres gehört in das in vielen Ländern entstehende Generationenverfassungsrecht. Während neue Verfassungen oft in der Präambel und sonst beim Umweltschutz von den künftigen Generationen sprechen, ist hier eine organisatorisch zukunftsweisende institutionelle Konsequenz gezogen. Die fünfte Kommission widmet sich der „Good Governance and Anti-Corruption“. Hier gelingt die glückliche Textzeile: „promotion of a culture of good governance, and for the consolidation of principles of transparancy, integrity and accountability“. Einmal mehr hat die kulturwissenschaftliche Sicht im Verfassungsrecht zu einem Text gefunden.

5. Kommunale Selbstverwaltung (Kapitel 7) Es ist auffallend, wie ausführlich der Verfassunggeber Tunesien sich ihr widmet (Art. 131 – 142). Nur wenige Stichworte sind möglich: die Herausstellung des Prinzips der Dezentralisation, das Erfordernis allgemeiner, freier, direkter, geheimer, fairer Wahlen, die Normierung des Prinzips der Solidarität (Ressourcen – Unterstützung durch die Zentralregierung), „good governance“ der lokalen Behörden unter der Aufsicht der Finanzverwaltung. Eine große Innovation gelingt Art. 139 in dem

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Satz: „Local authorities shall adopt the mechanisms of participatory democracy and the principles of open governance to ensure the broadest participation of citizens and of civil society in the preparation of development programmes and land use planning, and follow up on their implementation, in conformity with the law.“ Damit ist das Konzentrat der wissenschaftlichen Diskussion im Europa von heute auf eine reife konstitutionelle Textstufe gebracht. Man lese nur die Stichworte „breiteste Bürgerpartizipation“ und „Zivilgesellschaft“ sowie „open governance“.

6. Die Revision der Verfassung (Kapitel 8) Verfassungsänderungen können vom Präsidenten der Republik und einem Drittel der Mitglieder des Parlaments vorgeschlagen werden. Vorrang hat auffallender Weise die Initiative des Präsidenten (Art. 143). Art. 144 gibt dem Verfassungsgericht eine besondere Kompetenz: Es hat zu verifizieren, dass die Revisionsvorschläge keinen Artikel berühren, dessen Änderung die Verfassung untersagt. Auch soll das Parlament prüfen, ob sich eine absolute Mehrheit beschaffen lässt. Die Revision bedarf dann der Billigung durch zwei Drittel der Mitglieder des Parlaments. Dem Präsidenten wird das Recht zugesprochen, die Verfassungsänderung einem Referendum zu unterwerfen. Sie gilt als angenommen, wenn dieses eine absolute Mehrheit erzielt. Das Ganze erweist sich als kluge Mischung von „Checks and Balances“. 7. Die Schlussbestimmungen (Kapitel 9) Hier lassen sich erstaunliche Funde machen. Art. 145 erklärt die Präambel zum integrierenden Bestandteil der Verfassung. Darin kommt ein Rechtsgedanke zum Ausdruck, den das deutsche BVerfG in seiner Judikatur zur normativen Kraft des Wiedervereinigungsauftrags vor Jahrzehnten formuliert hat. Überdies gibt es afrikanische Verfassungen, die ähnlich getextet haben (vgl. Präambel letzter Absatz Verf. Burkina Faso von 1991 / 97, Präambel letzter Absatz Verf. Tschad von 1996). Man sieht einmal mehr, wie Tunesien an weltweite Standards bei seiner Verfassunggebung angeknüpft hat. Gleiches gilt für den geradezu sensationellen Art. 146: „The Constitution’s provisions shall be understood and interpreted in harmony, as an indissoluble whole.“ Damit sind jahrzehntelange wissenschaftliche Vorarbeiten zur ganzheitlichen Verfassungsauslegung aus den Federn von R. Smend und K. Hesse zu einem positiven Verfassungstext geronnen. Ausblick und Schluss Die hier kommentierten Texte sind eine Ermutigung für die vergleichende Wissenschaft vom Verfassungsstaat. Wir befinden uns mitten in einer fast weltweiten „Werkstatt“. Dass Tunesien an einer Gegenküste zu Europa liegt, macht das Mittel-

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meer zum „mare nostrum constitutionale“. Selbst wenn die innovativen Verfassungstexte wohl erst in langen Wachstumsprozessen umsetzbar sein dürften und der Islamismus viel gefährden könnte, ist gedämpfter wissenschaftlicher Optimismus angebracht. Er darf und soll auch den Jubilar in seinem neuen Lebensjahrzehnt ermutigen.

VII. Rechtsgutachten für die Verfassungskommission Georgien in Sachen Grundrechtsreform (2014)* Vorbemerkung: Es ist eine große Freude und Ehre für mich, der Verfassungskommission Georgiens (vermittelt durch das Heidelberger Max-Planck-Institut für Frieden und Rechtsstaatlichkeit) ein Rechtsgutachten über die anstehende Grundrechtsreform zu erstatten. Seit meiner Ehrenpromotion in Tiflis (2009) und einer wissenschaftlichen Abhandlung über das „Europäische Georgien“ (JöR 58 (2010), S. 409 ff. sowie das „eigene Gesicht“ der Verfassung Georgiens von 1995, Proceedings of the Georgian Academy of Sciences, Law Series, Heft 2, 2007, S. 5 ff.) fühle ich mich dem Land verbunden. Ich habe eine gewisse Erfahrung auf diesem Felde, da ich Anfang der 90er Jahre mehrfach in parlamentarischen Kommissionen in Warschau für Polens Verfassung engagiert war (Menschenrechts- und Grundrechtsfragen im Verfassungsentwurf des Polnischen Sejm (1991), in REDP / ERPL 1991, S. 351 ff.; Verfassungspolitische Maximen für die Ausgestaltung der „Europafähigkeit“ Polens, in: Die Verwaltung 28 (1995), S. 249 ff.) und auch für Estland beratend tätig war (Vorläufige und punktuelle Stellungnahme zum Verfassungsentwurf Estland, in: JöR 43 (1995), S. 170 ff.). Erster Teil

Verfassungstheoretische und verfassungspolitische Vorüberlegungen I. Verfassungstheoretische Vorüberlegungen 1. Grundrechtsgarantien („Bill of rights“) sind das Kernstück des demokratischen Verfassungsstaates auf dessen heutiger Entwicklungsstufe. Immer wieder kommt es in einzelnen Nationen zu „Grundrechtsreformen“; manche scheitern (wie in Österreich), manche gelingen (wie in der Schweiz auf Bundes- und Kantonsebene). Die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, die pluralistische Demokratie ist ihre organisatorische Konsequenz. Nachdem Georgien kürzlich das Regierungssystem reformiert hat (2013: Übergang von der Präsidialdemokratie zur Parlamentarischen Demokratie), ist es konsequent, dass nun eine * Auftragsarbeit für das Parlament in Georgien, dort auch 2014 in georgischer Sprache veröffentlicht. – Deutsche Erstveröffentlichung.

VII. Rechtsgutachten für die Verfassungskommission Georgien

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Grundrechtsreform unter Beteiligung der pluralistischen Öffentlichkeit (so ausdrücklich der Wunsch der Verfassungskommission im Blick auf die Medien) in Gang kommt. Vorweg ist zu erkennen, dass die Menschenwürde die Grundlegung für alle Grundrechte der unterschiedlichsten Art bildet, seien es die klassischen Grundrechte, seien es wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grundrechte sowie Grundrechte der „dritten Generation“ (z. B. Recht auf Frieden, Umweltschutz, Datenschutz und Recht auf transparente, gute Verwaltung). 2. Inspirierend können die vielen neuen nationalen und regionalen Grundrechtskataloge seit 1995 sein. Neben den meisterhaften neuen Texten in der Schweiz sind die nationalen neuen Verfassungen im Kosovo (2008), in Serbien (2006), Kenia (2010) und Tunesien (2014) zu erwähnen. Inspirationsquellen können aber auch neue internationale Konventionen sein, etwa die Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt, die UN-Kinderrechtskonvention, die Behindertenschutzkonvention etc. Hinzuzudenken sind große UN-Texte, etwa die beiden Menschenrechtspakte von 1966, einschließlich von Urteilen der UN-Tribunale, des IGH und des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sowie des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg. Gleiches gilt auf regionaler Ebene für die EU-Grundrechtecharta, auch wenn Georgien nur Mitglied von Europa im weiteren Sinne der EMRK des Europarats ist, nicht aber Mitglied der EU (hilfreich könnte auch die Europäische Sozialcharta von 1961 sein, ebenso die Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 der EU sowie das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats von 1995). Durchweg handelt es sich, wie bei der EMRK, um Teilverfassungen, die teils konkurrierend, teils kumulativ, teils komplementär im Verhältnis zu den nationalen Verfassungen stehen. Schließlich sind auch die guten Urteile des Verfassungsgerichts Georgien zu „verarbeiten“. Ein Blick auf den amerikanischen Kontinent führt zu der Inter-Amerikanischen Menschenrechtserklärung von 1969. Sie ist ein eindrucksvolles Gegenstück zur Europäischen Menschenrechtserklärung und liefert mehr als nur einen „Steinbruch“ für gute Texte, etwa im Blick auf das Recht auf physische, mentale und moralische Integrität (Art. 5 Abs. 1), das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit (Art. 7 Abs. 1) oder die Beiordnung eines Dolmetschers bei Angeklagten (Art. 8 Abs. 2 lit. a). 3. Für Georgien dürfte die allgemein zu beobachtende „Europäisierung der nationalen Verfassungsrechte“ prägend sein. Gemeint ist die normative Ausstrahlungswirkung der Grundrechte der EMRK und der Entscheidungen des EGMR in Strassburg auf das innergeorgische Verfassungsrecht, vielleicht auch schon „vorwirkend“ der EU-Grundrechtecharta bzw. der Urteile des EuGH. In diese Wachstumsprozesse gehört auch schon das formal nur einfache Gesetz Georgiens gegen alle Formen der Diskriminierung (2014), seine Kernsätze sollten Verfassungsrang gewinnen. Wir beobachten ein Ensemble vieler Teilverfassungen in Europa und können auch von einer Pluralität sprechen. Abzulehnen ist der beliebte Begriff des „Mehrebenenkonstitutionalismus“, weil und insofern er mit Hierarchievorstellungen verbunden ist. Gerade durch einen europarechtlich inspirierten Grundrechtskatalog könnte die Europäisie-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

rung Georgiens gelingen. Dabei hilft die Erkenntnis des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ (1991). Zusatz: Erwogen sei schon an dieser Stelle, ob Georgien einen eigenen EuropaArtikel schaffen soll, in dem ein „Bekenntnis zur Europäischen Einigung“ festgeschrieben ist. Hierzu gäbe es viele mögliche Textalternativen aus dem Arsenal deutscher und österreichischer Länderverfassungen, spanischer oder italienischer Regionalstatute in Sachen „nationales Europaverfassungsrecht“. Da es heute in Georgien jedoch nur um eine Grundrechtsreform geht, vertieft der Verfasser diese Frage an dieser Stelle nicht (systematischer Ort und sehr eindrucksvoll könnten Textelemente eines Europa-Artikels in der Präambel sein, etwa im Blick auf „europäische Werte“, das „sich einigende Europa“, die „europäische Integration“, das „zusammenwachsende Europa“, das Selbstverständnis als „Teil der europäischen Völkergemeinschaft“. 4. Der Gesetzgeber, der eine Verfassungsreform, insbesondere Grundrechtsreform wagt, kann sich der fünf bekannten Gestaltungsmethoden bedienen, sei es als Verfassunggeber, sei es als verfassungsändernder Gesetzgeber. Dies darf sich Georgien vor Augen führen. So wie es fünf Auslegungsmethoden gibt (vier seit der Kanonisierung durch F. C. v. Savigny: Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Telos, 1840, seit 1989 ausdrücklich um die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode erweitert), so gibt es für die textliche Neugestaltung von Verfassungen fünf Arbeitsmethoden. Die fünfte ist die Rechtsvergleichung in Zeit (Geschichte) und Raum (Komparatistik). Sie konnte speziell für das deutsche Grundgesetz von 1949 nachgewiesen werden (vgl. P. Häberle, Einleitung zu Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, Neuausgabe von Band 1 (2010), S. V ff.). Die rechtsvergleichende Umschau vermittelt der Verfassungskommission in Georgien große Gestaltungsmöglichkeiten. Sie ist behutsam und bewusst vorzunehmen, ohne dass die eigene kulturelle Identität Georgiens verloren geht. Es sollte um eine sensible „Fortschreibung“, vielleicht auch eine partielle „Umschreibung“ gehen, nicht um ein kopierendes sklavisches Abschreiben. 5. Zu arbeiten ist mit dem Textstufenparadigma (1989). Zu sprechen ist von einer Trias von Texten, Theorien (auch Klassikertexten etwa von Montesquieu, Gewaltenteilung, vgl. Art. 2 Abs. 3 Verf. Georgien, oder H. Jonas, „Prinzip Verantwortung“) und Judikaten, in deren Gestalt sich Verfassungen fortentwickeln, teils durch Arbeiten des Gesetzgebers, teils durch richterliche, prätorische Rechtschöpfung, teils durch andere Formen der Praxis. Die „Werkstatt des Verfassungsstaates“ arbeitet heute weltweit, in Produktion und aktiver Rezeption. Auf Texte von auswärts wird wohl deshalb gerne zurückgegriffen, weil in ihnen Erfolge und Erfahrungen gespeichert sind und sie sich in anderen Kontexten vielleicht bewährt haben sowie anerkannt sind. 6. Empfohlen sei die Methode der „Nachführung“ (K. Eichenberger). Sie hat sich in der Schweizer Bundesverfassung von 1999 vorbildlich bewährt. Gemeint ist Folgendes: Die Grundrechtsreform verarbeitet die Entwicklungen in der Grundrechts-

VII. Rechtsgutachten für die Verfassungskommission Georgien

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praxis insbesondere dank der Judikatur und sie bringt diese bzw. die Grundrechtswirklichkeit transparent auf kongeniale Texte, wobei auch ausländisches Verfassungsrecht und Urteile ausländischer und internationaler Gerichte einfließen können. Stichwort ist: offene „Grundrechtsentwicklung“, kulturelle Lernprozesse. Dabei können auch Anregungen seitens des parlamentarischen Gesetzgebers auf Texte und Begriffe gebracht werden (etwa das erwähnte Antidiskriminierungsgesetz Georgiens vom Mai 2014). 7. Speziell die Grundrechte sind in ihrer Textgestalt wie folgt zu strukturieren: Zu unterscheiden ist zwischen neuen Themen (z. B. Recht auf kulturelle Identität), neue oder bislang vernachlässigte Schutzbereiche (z. B. der Demonstrations- und Petitionsfreiheit) oder der sozialen und kulturellen Rechte (auf Arbeit und Bildung, kulturelle Teilhabe) sowie der abgestuften Grenzen (durch immanente Grenzen oder differenzierte Gesetzesvorbehalte für Grundrechtseinschränkungen). Durch einen europa-, ja weltweiten Vergleich lassen sich textliche Defizite des bisherigen Grundrechtskatalogs ebenso erkennen wie neue Gefahren für die Menschenwürde, etwa aus dem technischen Bereich (Privatsphäre im Internet und Datensicherheit, Stichwort: Gefahren aus dem „Überwachungskapitalismus“). Dabei muss jedoch auch Raum bleiben für die weitere Entwicklung der Grundrechte durch Wissenschaft und Rechtsprechung in der Zukunft. Es geht auch hier um eine Balance von Stabilität und Flexibilität (so der Auftrag der georgischen Verfassungskommission). 8. Die Grundrechtsdogmatik hat ihre eigenen Rechtsfiguren, Methoden und Instrumente, die teils universal, teils gemeineuropäisch, teils national erkennbar sind. So sind die Grundrechte oft mehrdimensional: Zu unterscheiden ist zwischen der subjektiv-individualrechtlichen Seite (status negativus) und der objektivrechtlichen. Hinzukommt nach der Judikatur des deutschen BVerfG das Verständnis der Grundrechte als „wertentscheidende Grundsatznorm“ (z. B. zum Schutz von Ehe und Familie), wichtig für die in der Schweiz bereits getextete „mittelbare Drittwirkung“ der Grundrechte (vgl. Art. 35 Abs. 3 nBV Schweiz von 1999: „Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen“.); überdies kommt als weitere Dimension die Ausgestaltung als „Schutzpflicht“ in Frage (z. B. für das ungeborene Leben); schließlich haben Verfassunggebung, Wissenschaft und Rechtsprechung neben der Figur der Verfassungsaufträge (z. B. Verbraucherschutz, Schutz der Alten und Behinderten), auch der Teilhabe- und Leistungsrechte den „status activus processualis“ (Grundrechte als Organisation und Verfahren) entwickelt. All diese Dimensionen sind bei den Einzelgrundrechten je unterschiedlich ausgeformt, sie sind teils schon durch den formalen Grundrechtstext fixiert, teils sind sie von Wissenschaft und Rechtsprechung hinzugedacht worden. Wichtig ist nur, dass man die mögliche Vielfalt der grundrechtsdogmatischen Strukturen erkennt und sie als Reformgesetzgeber bewusst einsetzt. Auch dies gehört zur Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser).

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

II. Verfassungspolitische Vorüberlegungen: alternative, variantenreiche Empfehlungen der Wissenschaft für den politischen Prozess in Sachen Grundrechtsentwicklung 1. Empfohlen seien hier für Georgien keine „Totalrevision“, sondern nur punktuelle Teilrevisionen. M. E. kommt nur eine behutsame Anknüpfung an die bisherigen, zum Teil schon sehr guten geltenden Texte in Georgien in Frage. Die bisherige Nummerierung der Grundrechtsartikel sollte aus Gründen der Rechtssicherheit tunlichst beibehalten werden. Da die Verfassungstexte möglichst bürgernah formuliert werden sollen, hat sich auch der Reformgesetzgeber um eine klare Sprache zu bemühen und hierauf viel Sorgfalt zu verwenden. Vor allem die Grundrechte sollen so formuliert sein, dass sie Lehrgegenstand in den Schulen sein können, so wie die Menschenrechte in manchen Ländern ganz oder teilweise ausdrücklich Gegenstand der Erziehungsziele sind (Guatemala und Peru, aber auch deutsche Landesverfassungen, zum Beispiel: Respekt vor der gleichen Würde des Mitmenschen sowie vor der Umwelt, vgl. etwa Art. 7 Abs. 2, Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992). Unerreichtes Ideal in Sachen Prägnanz und Bürgernähe ist die französische Menschenrechtserklärung von 1789, geglückt sind auch die EMRK von 1950 und der Grundrechtskatalog in Südafrika von 1997 sowie in Kenia von 2010. 2. Die Grundrechtsreform in Georgien muss trotz aller genannter Inspirationsquellen „von außerhalb“ die besondere kulturelle Identität und das Selbstverständnis Georgiens respektieren. Man sollte keiner mechanischen Rezeption fremder Texte das Wort reden, sondern um eine aktive innere Anverwandlung im georgischen Kontext bemüht sein (Stichwort: „Kontextualisierung“). Dieses georgische Selbstverständnis kommt z. B. in der Präambel („Jahrhunderte alte Traditionen der Staatlichkeit des georgischen Volkes), in den Symbolartikeln (Art. 8 bis 11) und in Art. 7 zum Ausdruck. Es geht um „aktive Rezeptionen“. Kulturelle Kontexte beeinflussen die Texte und führen oft zu unterschiedlichen Interpretationsergebnissen selbst bei gleichen Texten. 3. Allgemein darf von „Grundrechtspolitik“ gesprochen werden. Es geht um dynamischen Grundrechtsschutz, um ein möglichst hohes Schutzniveau. Dabei ist zu unterscheiden zwischen allgemeinen Sicherungen der Grundrechte, etwa durch Wesensgehalts- bzw. Kerngehaltsgarantien und durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auch durch Bezugnahmen auf internationale Konventionen und internationale Judikatur einerseits, anderseits einzelnen neuen oder verbesserten alten Grundrechten. Überall, wo neue Gefahren für die Grundrechte lauern, insbesondere für die Menschenwürde erkennbar sind, muss die „Grundrechtspolitik“ durch neue Vorkehrungen im Schutzbereich reagieren. Neue Gefährdungen entstehen etwa infolge von technischen Entwicklungen, z. B. im Internet (Stichwort: Netzneutralität, digitale Grundrechtecharta, Internet ist kein staats- und rechtsfreier Raum, Daten keine bloße Ware). Als Ausprägung gelungener Grundrechtspolitik, als Schutz von Grundrechtsrechtsinteressen im weiteren Sinne darf das fast weltweite Vordringen von Ombudsmännern betrachtet werden (vgl. auch Art. 43 Verf.

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Georgien). Sie schützen die „offene Gesellschaft der Grundrechtsinterpreten“ institutionell. 4. Der unterzeichnete Gutachter bemüht sich, der Tugend des „academical self restraint“ zu dienen. Da er Deutscher, aber europäischer Berater ist, kann er nur Alternativen und Varianten aus wissenschaftlicher Sicht empfehlen. Es ist Aufgabe des politischen Prozesses in Georgien, „pragmatische Kompromisse“ über Parteigrenzen hinweg zwischen verschiedenen parlamentarischen Gruppen in Sachen Grundrechte zu finden. Hier hat der wissenschaftliche Prozess seine immanenten Grenzen; Bescheidenheit ist geboten. Auch in Deutschland stammen die verschiedenen Grundrechtspolitiken seit 1949 aus unterschiedlichen politischen Richtungen, etwa die stärker liberale und die eher sozialstaatliche und kulturstaatliche Grundrechtspolitik (deutlich auch in den 16 deutschen Länderverfassungen). Zweiter Teil

Konkrete Reformvorschläge für den überarbeiteten Grundrechtsteil in Georgien I. Mängel der geltenden Grundrechtstexte (allgemein) Bei allem Respekt vor dem seit 1995 geltenden, punktuell inzwischen revidierten Grundrechtsteil Georgiens und bei aller gebotenen Zurückhaltung des ausländischen, aber europäischen Gutachters seien einige kritische Bemerkungen erlaubt: Das positive Grundrechtsrecht in Georgien ist in seiner Systematik nicht durchweg geglückt. So wird nicht klar zwischen bürgerlichen und politischen Rechten sowie wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten unterschieden; so wird nicht zwischen allgemeinen Grundsätzen und speziellen Regelungen differenziert (wie in der Verfassung Polens von 1997 oder Albaniens von 1998); so findet sich noch nicht die einprägsame Strukturierung der EU-Grundrechtecharta in ihrer Unterscheidung zwischen Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit und Solidarität, Bürgerrechten, justiziellen Rechten und so fehlt eine allgemeine Schrankenregelung und eine allgemeine Sicherung des „Wesensgehaltes“ (in der Schweiz „Kerngehalts“: vgl. Art. 36 Abs. 4 nBV Schweiz von 1999) sowie eine allgemeine Fixierung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 nBV Schweiz) . Offenkundige Defizite gibt es in Bezug auf die Demonstrations- und Petitionsfreiheit als demokratische Grundrechte sowie in Bezug auf die UN-Konventionen entsprechenden Kinderrechte und den Behindertenschutz. Auch im kulturellen Bereich (Stichwort: Grundrecht auf kulturelle Identität und Teilhabe, Menschenrechte als Erziehungsziele) gibt es Mängel und Defizite. In Georgien sollte man sich durch neuere Grundrechtstexte aus nationalen, regionalen und universalen Texten belehren lassen, ohne jedoch das Eigene zu verleugnen. Die gewachsene georgische Grundrechtskultur ist gewiss schon in grundlegenden Entscheidungen des Verfassungsgerichts zum Ausdruck gelangt. Sie können von Deutschland aus naturge-

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mäß hier nicht im Einzelnen namhaft gemacht werden. Auf die Rolle des Verfassungsgerichts in Tiflis als eines (dem deutschen BVerfG entsprechenden) „Bürgergerichts“ sei verwiesen (Art. 83, 88, 89). Da der Verf. seinem selbstgesetzten Postulat einer bloßen punktuellen Teilrevision treu bleiben möchte, redet er in diesem Gutachten keiner grundsätzlichen Überarbeitung des bereits reich gestalteten Grundrechtsabschnitts der geltenden Verfassung Georgiens das Wort.

II. Die Einzelfragen neuer oder teilrevidierter Grundrechtstexte für Georgien 1. Menschenrechte und Freiheiten in der Präambel Präambeln sind, kulturwissenschaftlich betrachtet, den Prologen in der Dichtung und den Ouvertüren und Präludien in der Musik verwandt. Sie sollen in bürgernaher Sprache Geschichte verarbeiten und die Zukunft entwerfen. Sie fassen das wesentliche Konzentrat der nachstehenden Verfassungstexte zusammen. In der Schweiz sind sie oft durch eine invocatio dei eröffnet („im Namen Gottes“). Gerade in jüngster Zeit gibt es glanzvolle Beispiele für gelungene Verfassungspräambeln, die geradezu ein „Textereignis“ sein können. Dies gilt etwa für die Präambel der Verfassung von Südafrika oder auch die Präambel des Kosovo und Polens. Die georgische Verfassung von 1995 folgt dem klassischen Bild von Präambeln. An dieser Stelle sei nur der für dieses Gutachten einschlägige Passus erwähnt: „Es ist … wirtschaftliche Freiheit einzuführen sowie ein Sozial- und Rechtsstaat aufzubauen, die allgemein anerkannten Menschenrechte und Freiheiten zu gewährleisten“. Schon dieser Passus hat normative Kraft, denn in vergleichender Betrachtung gesehen, sind Präambeln nicht nur programmatische Erklärungen, vielmehr sind sie integrierender Teil des Verfassungstextes, haben normative Kraft. Dies hat das deutsche BVerfG in mehreren Entscheidungen für die Präambel des GG erarbeitet, einige neuere Verfassungen ordnen es ausdrücklich an (in Afrika etwa Präambel Verf. Burkina Faso von 1997) und jüngst im Mittelmeerraum im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ Verf. Tunesien von 2014 (Art. 145). Aus diesem Grund muss auch die Grundrechtsreform in Georgien die Frage behandeln, ob es bei dieser Textzeile bleibt oder ob man sie ergänzt. M. E. sollte nicht nur die wirtschaftliche Freiheit genannt werden, sondern auch eine soziale Komponente einbezogen werden, etwa im Sinne von „sozialen Garantien“. Man könnte auch daran denken, dass man die Begriffe kulturelle, wirtschaftliche und soziale Rechte verwendet. Jedenfalls ist die Präambel der richtige und der erste Ort, an dem die Grundrechtsreform in Georgien beginnen sollte.

2. Das Bekenntnis in Art. 7 Art. 7 ist ein sehr gelungenes Bekenntnis zu den allgemein anerkannten Menschenrechten und Freiheiten. Man könnte allenfalls daran denken, sie noch genauer

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zu definieren, etwa im Sinne der Unterscheidung zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Freiheiten. Dies hängt auch davon ab, wie man die oben erwähnte Präambel ausgestaltet. Besonders geglückt ist die Qualifizierung der allgemein anerkannten Menschenrechte und Freiheiten als „höchste unabdingbare menschliche Werte“. Diese Hochzonung ist prägnant und sollte unbedingt beibehalten werden. Georgien hält sich hier im Rahmen der allgemeinen Standards von verfassungsrechtlichen Menschenrechtsklauseln. Gelungen ist auch die Bindung von Volk und Staat an die Menschenrechte und Freiheiten als „unmittelbar geltendes Recht“. Sehr innovativ ist, dass auch das Volk unmittelbar gebunden ist. Eine solche Formel findet sich selten und erinnert daran, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten vorstaatliche Natur haben und gedanklich auch vor dem Volke liegen, für dieses nicht verfügbar sind und von der Würde des Einzelnen her zu konzipieren sind. In manchen „Ewigkeitsklauseln“ nationaler Verfassungen, etwa im deutschen Grundgesetz (Art. 79 Abs. 3), in der Verfassung Portugals von 1976 (Art. 288) und jüngst vereinzelt in der Verfassung Tunesiens von 2014 (Art. 1, 2, 49) ist dieser Gedanke auch heute immer wieder zum Ausdruck gelangt. Systematisch betrachtet ist Art. 7 an der richtigen Stelle platziert: innerhalb der allgemeinen Bestimmungen von Teil 1 und im Kontext von Symbolartikeln und Identitätsklauseln, etwa zum Namen Georgiens, zum Vorrang der Verfassung, zur „Weltgemeinschaft der Staaten“, zur Gewaltenteilung, zur Amtssprache, zur Hauptstadt und zu den staatlichen Wahrzeichen. Wenn Art. 9 die besondere Rolle der georgischen Apostelkirche in der geschichtlichen Entwicklung hervorhebt, so ist damit ein historisch gewachsenes Identitätselement Georgiens fixiert. Für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz (Stichwort: „Verfassung aus Kultur und Verfassung als Kultur“ vgl. die Bücher des Verf. von 1982, zuletzt 2013) ist dies konsequent. 3. Fragen an Art. 9 So gelungen der Hinweis auf die geschichtliche Rolle der „Apostelkirche“ ist und so berechtigt die Festlegung der Unabhängigkeit der Kirche vom Staat bleibt, es stellen sich Fragen: Art. 9 Abs. 1 bekennt sich zur „absoluten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit“. M. E. sollte man das Adjektiv „absolut“ streichen, da es absolute Rechte, absolute Grundrechte im Verfassungsstaat prinzipiell nicht gibt (Nur die Würde des Menschen und das Folterverbot sind „absolut“.). Alle Grundrechte sind, freilich in werthaft abgestufter Weise, begrenzt. Es genügt, auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit einerseits hinzuweisen und andererseits die besondere Rolle der „Apostelkirche“ zu betonen. Dieses vermittelnde Sowohl-als-auch von Religionsfreiheit und religionsfreundlicher Haltung des Verfassungsstaates findet sich im Ergebnis in manchen neueren Verfassungstexten – bei aller Trennung von Staat und Kirchen bzw. Religionsgesellschaften. Beispiele für solches Religionsverfassungsrecht finden sich in folgenden Verfassungen: Art. 19 Verf. Mazedonien von 1992, Art. 10 Verf. Albanien von 1998, Art. 25 Verf. Polen von 1997, Art. 38 und 39 Verf. Kosovo von 2008.

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Im Jahre 2001 kam es zu einem geglückten neuen Art. 9 Abs. 2 Satz 2 in den Worten: „Das Verfassungsabkommen (zwischen Staat und Apostelkirche) muss den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen und zwar im Bereich der Menschenrechte und Freiheiten, des internationalen Rechts entsprechen.“ Dieses Konkordanzpostulat ist auch heute zu begrüßen. Es sollte in seiner Allgemeinheit beibehalten werden. Denn damit ist eine Offenheit für weitere Entwicklungen der Menschenrechtstexte hergestellt. Man könnte sich allenfalls fragen, ob damit auch die Menschenrechte der EMRK gemeint sind. Diese gelten ja nur „regional“, d. h. im Europa im weiteren Sinne und nicht ganz allgemein im internationalen Recht. Vielleicht sollte ausdrücklich schon hier auf die EMRK verwiesen werden, die ja dank des EGMR in Straßburg intensiv und extensiv ausstrahlt (Stichwort: „living instrument“). Dem Verf. ist das in Art. 9 Abs. 2 in Bezug genommene „Verfassungsabkommen“ leider nicht bekannt.

4. Die Staatsangehörigkeit (Art. 12) Der Grundrechtsteil wird durch das Thema „Staatsangehörigkeit“ eröffnet. Es gehört eigentlich eher zu den Allgemeinen Bestimmungen bzw. in den Kontext der Werte und Symbole. Darüber kann man gewiss streiten, denn es läge nahe, dass der Grundrechtsteil für sich allein steht (vorbildlich ist das Staatsangehörigkeitsrecht in Art. 12 Verf. Kenia von 2010). In vielen „bill of rights“ neuerer Verfassungen findet sich diese Systematik. Wie schon erwähnt, soll jedoch in diesem Gutachten nur einer punktuellen Revision das Wort geredet werden. Man sollte also die Staatsangehörigkeit als Text an ihrem bisherigen Ort lassen. Inhaltlich ist Art. 12 ausreichend und bedarf aus meiner Sicht keiner Ergänzung. Bei Art. 13 Abs. 1 ist nicht ganz klar, ob der Aufenthaltsort im Inland oder im Ausland gemeint ist. Manche Verfassungsstaaten übernehmen ja schon textlich Verantwortung für ihre Bürger, auch wenn diese im Ausland sind (vgl. Art. 36 Verf. Polen, Art. 40 Verf. nBV Schweiz).

5. Überlegungen zu Art. 14 Eindrucksvoll bestimmt Art. 14, dass alle Menschen von Geburt an frei und vor dem Gesetz gleich sind. Man könnte darüber streiten, ob nicht an dieser Stelle bereits der Artikel zur Menschenwürde (Art. 17) normiert werden sollte. Viele Verfassungen der heutigen Entwicklungsstufe beginnen mit der Würde des Menschen und erst danach folgen Normen zur Freiheit und Gleichheit. Wie erwähnt, möchte der Gutachter jedoch grundsätzlich nichts an der Nummerierung bzw. systematischen Platzierung der Artikel ändern. Vermutlich hat sich Art. 14 in der öffentlichen Meinung und beim Bürger, auch in seiner systematischen Platzierung schon fest eingebürgert. Wohl aber sei eine Ergänzung des Art. 14 vorgeschlagen: Die verbotenen Diskriminierungsgründe sollten erweitert werden durch die Zusätze: seiner sexuellen Orientierung, seines Alters, seiner Behinderung. In vielen neueren Verfassungen

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werden diese Gründe ausdrücklich genannt. Das Verfassungsgericht Georgiens erklärt in seiner Entscheidung vom 31. 03. 2008 die Liste der Diskriminierungsmerkmale als nicht abgeschlossen. Dem ist zuzustimmen. Die Offenheit der Liste braucht jedoch nicht ausdrücklich getextet zu werden (man könnte allenfalls ergänzen: „namentlich“). 6. Überlegungen zu Art. 15 Hier wird das Leben als unantastbares Recht geschützt. Man könnte daran denken, dass ein Abs. 3 hinzugefügt wird: Menschliches Klonen ist verboten (vgl. Art. 24 Abs. 3 Verf. Serbien). 7. Überlegungen zu Art. 16 Art. 16 garantiert das Recht auf die freie Entfaltung eigener Persönlichkeit. Es fällt auf, dass hier keinerlei Grenzen gezogen sind (vgl. erst später in Art. 44 Abs. 2). Nicht einmal die gleichen Rechte anderer sind hier erwähnt (so aber § 19 Verf. Estland von 1992). In vielen nationalen Verfassungen und internationalen Menschenrechtstexten finden sich indes klare Grenzen. Dies gilt auch für Art. 2 Abs. 1 des deutschen GG. Man müsste sich überlegen, ob man der Ehrlichkeit wegen das Persönlichkeitsrecht nicht schon an dieser Stelle der Verfassung ausdrücklich begrenzt, etwa nach dem Vorbild der EMRK oder vieler nationalen Verfassungen (oder aber man entschließt sich zu einer allgemeinen Schrankenregelung (so Art. 36 nBV Schweiz)). 8. Überlegungen zu Art. 17 In Art. 17 findet sich bisher die Garantie der Würde eines Menschen. Abs. 1 ist eigentlich die Grundlagennorm für die ganze bill of rights. Systematisch könnte sie vorgezogen werden, doch bleibe ihr Platz aus den genannten Gründen unverändert. Erlaubt seien einige Ergänzungen: a) Neben Würde und Ehre eines Menschen sollte auch dessen Identität und Integrität für unantastbar erklärt werden. b) In Abs. 2 sollte die Zwangsarbeit ausdrücklich verboten werden, auch der Menschenhandel. c) Als neuer Abs. 4 könnte formuliert werden: Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zur Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben wird garantiert. Diese Formulierung entspräche der Judikatur des deutschen BVerfG und könnte ein Gewinn für das Verständnis der Menschenwürde in Georgien sein. Es ginge um ein echtes Leistungsrecht gegen den Staat. Art. 32 Satz 2 könnte entfallen.

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9. Überlegungen zu Art. 18 Hier könnte man erwägen, die Garantie der Freiheit zu ergänzen, um das Recht auf soziale Sicherheit (schon in Abs. 1); Freiheit und Sicherheit gehören heute immer intensiver zusammen. In Georgien wird ja diskutiert, ob der Gedanke der sozialen Grundrechte stärker betont werden soll. Das entspräche einer weltweiten Entwicklung. Zu verweisen wäre freilich für die Einzelheiten auf ein Gesetz, damit der Verfassungstext nicht barock überladen wird. Die weiteren Absätze in Sachen justizieller Grundrechte (insbesondere: habeas corpus und fair trial) sind gelungen und entsprechen den derzeitigen internationalen Standards in Sachen justizielle Rechte. Zu erwägen wäre, ob in Abs. 5 die Hinzuziehung eines Dolmetschers angeordnet werden sollte. Justizielle Grundrechte finden sich – systematisch – etwas überraschend in Art. 40 und 42 an ganz anderer Stelle, darauf sei schon hier verwiesen.

10. Überlegungen zu Art. 19 Art. 19 mit seinem Schutzbereich der Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Freiheit des religiösen- und weltanschaulichen Bekenntnisses könnte verfeinert werden, etwa in Anlehnung an die EMRK bzw. an die EU-Grundrechtecharta. Tatbestandlich sollten die Worte eingeschoben werden: „einzeln oder gemeinsam mit anderen, öffentlich oder privat“. Als neuer Schutzbereich sollte meines Erachtens unbedingt ein neuer Absatz eingefügt werden zugunsten der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und akademischer Lehre. Dies entspräche schon einem gemeineuropäischen Grundrechtsstandard (vgl. nur Art. 16 Abs. 1 Verf. Griechenland). Kunst und Wissenschaft sind neben dem Glauben die wichtigsten kulturellen Potenziale für ein Land im Ganzen sowie für den einzelnen Bürger. Erinnert sei an das wunderbare Wort von Goethe: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion; wer diese beiden nicht hat, habe Religion“. Denkbar ist freilich, dass ein solcher Passus statt in Art. 19, in Art. 23 untergebracht wird. Auffallend ist, dass der bisherige Art. 19 als Einschränkungsgrund der genannten Freiheiten nur die „Rechte anderer Menschen“ nennt. Hier könnte man sich durch die Gesetzesvorbehalte der EMRK belehren lassen. Sehr oft verweist sie bei den möglichen Beschränkungen auf die „in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 EMRK).

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11. Überlegungen zum Schutz der Privatsphäre (Art. 20) Auf diesem Feld zeichnet sich die geltende Verfassung Georgiens durch eine sehr geglückte Regelung aus. Inhaltlich entspricht sie den heutigen Standards nationaler und universaler Regelungen (vorbildlich Art. 26 Verf. Kosovo). Das Recht auf „privacy“ hat sich in fast allen neuen Kodifikationen durchgesetzt. Da es immer neue technische Gefährdungen gibt, muss der Grundrechtstatbestand sehr allgemein formuliert bleiben. Dies ist Art. 20 gelungen. Es besteht keinerlei Reformbedarf. 12. Der Schutz von Eigentum und Erbrecht (Art. 21) Diese klassische Grundrechtsgarantie ist im Ansatz in Georgien geglückt. Indes sind einige Erwägungen angezeigt. a) Es fällt auf, dass das Eigentum sehr absolut garantiert erscheint. Vorbildlich ist aber die Formulierung im deutschen GG: „Eigentum verpflichtet“. Damit sind Begrenzungen, vor allem durch den Umweltschutz, aber auch wegen der „sozialen Funktion“ des Eigentums abgedeckt. Man sollte diesen Gedanken als Abs. 1 Satz 2 formulieren. Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK von 1952 ist hier besser formuliert und nicht so absolut postuliert. Für das Erbrecht sollte daran gedacht werden, dass die Erbschaftssteuer immanente Grenzen auch des Erbrechts verlangt. Abs. 1 Satz 2 der bisherigen Regelung könnten ohne weiteres gestrichen werden. Tatbestandlich könnte auf die „soziale Funktion“ des Eigentums (und Erbrechts) hingewiesen werden (vgl. Art. 33 Abs. 2 Verf. Spanien von 1978). b) Aus meiner Sicht ist Art. 21 Abs. 2 unbedingt zu revidieren. Obwohl er im Jahre 2011 hinzugefügt wurde, ist er missverständlich. Eine Wesensgehaltgarantie für das individuelle Eigentum lässt sich bei Enteignungen gerade nicht durchhalten. Aus der Sicht des einzelnen Eigentümers wird sein Eigentumsrecht durch die Enteignung gerade aufgehoben. Rechtsstaatlich erträglich ist dies nur dank der vollen Entschädigung. c) Abs. 3 kann beibehalten werden. 13. Überlegungen zu Art. 22 (Freizügigkeit) Art. 22 stammt in seiner Entstehungsgeschichte aus verschiedenen Jahren (1995 einerseits, 2011 andererseits). Vielleicht ergeben sich deshalb gewisse Reibungen. Ein wenig irreführend ist, dass Abs. 1 und 2 ein Jedermann-Recht formulieren, während Abs. 4 die Einreisefreiheit dem georgischen Staatsbürger freistellt (Staatsbürgerrecht). Es stellt sich die Frage, ob man Abs. 4 nicht verbessert in den Text: „Ein georgischer Staatsbürger kann frei nach Georgien einreisen und frei aus Georgien ausreisen“. Überprüft werden müsste auch, ob Abs. 3 mit seinen Einschränkungen genügend präzise ist, hinsichtlich etwaiger Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder schwerer Unglücksfälle.

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14. Überlegungen zu Art. 23 (geistiges Schaffen) Gedanklich besteht zwischen Art. 23 und Art. 19 eine geistige Nähe. Zu Art. 19 wurde in diesem Gutachten ja vorgeschlagen, dass als neues Kulturverfassungsrecht Wissenschaft und Forschung, akademische Freiheit und Lehre sowie die Kunst ausdrücklich geschützt werden. Denkbar wäre, dass diese Textvariante statt bei Art. 19 bei Art. 23 verankert wird. Da sich der Verfassungsgeber Georgiens von 1995 nun einmal so entschlossen hat, mag es dabei bleiben. Ein Wort zu denkbaren und notwendigen Grenzen. Art. 23 schützt das geistige Schaffen und das geistige Eigentum dem Wortlaut nach unbegrenzt. Indessen ist auch hier an Gemeinwohlgrenzen und soziale Pflichtigkeit zu denken. Der Schutz der Rechte anderer ist prima facie zu wenig. Bei einem Textvergleich mit anderen neuen Verfassungen könnten gewiss Textvarianten gefunden werden. In älteren Verfassung ist das geistige Eigentum, wenn überhaupt, nur sehr knapp geregelt. Demgegenüber bemühen sich neuere Verfassungen um mehr Details (in Sachen Schutzbereich, Ausgestaltung und Schranken). Genannt seien Art. 54 Abs. 3 Verf. Bulgarien von 1991, Art. 47 Verf. Mazedonien von 1991, Art. 73 Verf. Serbien von 2006, Art. 40 Abs. 5 Verf. Kenia von 2010.

15. Überlegungen zum Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit (Art. 24) Dieser Artikel entspricht in seinen Grundrechtstatbeständen weitgehend den heutigen Standards, man denke an die EU-Grundrechte-Charta oder die EMRK, samt der Judikatur des EGMR, und manche neue nationale Verfassung, vor allem in der Schweiz auf Kantons- und Bundesebene. Der Gutachter erlaubt sich nur eine Ergänzung: Bei einem Vergleich neuester Texte ist erkennbar, dass die Medienverfassung im Blick auf das Pluralismusprinzip strukturiert werden muss. Negatives Beispiel war die Monopolbildung im Italien von Berlusconi. Das deutsche BVerfG hat für Rundfunk und Fernsehen das Postulat der Staatsfreiheit begründet und in vielen einschlägigen Urteilen (seit E 12, 205) den Gedanken des Binnen- und Außenpluralismus entwickelt und für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen strikte Vorgaben im Dienste der Pluralismusidee formuliert. Immerhin hat sogar die EUGrundrechte-Charta in Art. 11 Abs. 2 den Satz gewagt: „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet“. Art. 24 Abs. 3 Verf. Georgien ist schon auf diesem Weg, insofern er Monopolisierung verbietet. M. E. sollte jedoch der Pluralismus-Gedanke positiv verankert werden, etwa nach dem Vorbild der EU-Grundrechte-Charta oder in ähnlicher Formulierung (vgl. Art. 42 Abs. 1 Verf. Kosovo). Die Schranken in Abs. 4 sind vorbildlich. Art. 93 Abs. 2 Satz 3 nBV Schweiz normiert: „Sie (sc. Radio und Fernsehen) bringen die Vielfalt der Ansichten angemessen zum Ausdruck.“ Abs. 3 ebd. lautet: „Die Unabhängigkeit von Radio und Fernsehen sowie die Autonomie in der Programmgestaltung sind gewährleistet.“

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16. Überlegungen zu Art. 25 (Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit) Dieses Grundrecht ist in Sachen Schutzbereich und Schranken sehr geglückt. Man könnte nur daran denken schon in Art. 25 Abs. 1 ausdrücklich zu formulieren: „und zu demonstrieren“. In Europa wurde die Demonstrationsfreiheit früh in Art. 8 der Verfassung des Kantons Jura von 1977 textlich verbürgt. Sie wurde durch Rechtsprechung und Literatur z. B. in Deutschland im Kontext der Versammlungsfreiheit entwickelt und wird heute noch immer hier „mitgelesen“. Die bisherige Regelung Georgiens denkt an die Demonstrationsfreiheit nur im Kontext der Schranken (Abs. 2 und 3). Dies ist etwas zu wenig, darum der obige Vorschlag zur Erweiterung des Schutzbereichs schon in Abs. 1. Zu erwägen wäre auch, ob man den Schutzbereich der Freiheit gliedert im Blick auf den „politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich“ (nach dem Vorbild Art. 12 Abs. 1 EUGrundrechte-Charta). Die Idee der „Zivilgesellschaft“ ist eine kulturelle Errungenschaft der letzten Jahre, die in modernen Verfassungen an verschiedenen Stellen auftaucht. Georgien könnte dies an einem Grundrecht „nachholen“.

17. Überlegungen zu Art. 26 (Vereinigungsfreiheit, Parteigründungsfreiheit) Art. 26 zwingt die politischen Parteien in das Grundrecht zur allgemeinen Vereinigungsfreiheit. Man könnte sich fragen, ob dies nicht etwas zu wenig ist. Die Parteien tragen ja viel zur politischen Willensbildung des Volkes bei (vgl. Art. 21 Abs. 1 GG; siehe für die EU: Art. 12 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta). Man darf sich fragen, ob die politischen Parteien in Art. 26 Abs. 2 stärker von der positiven organschaftlichen Seite her genannt werden sollten. Stichworte sind überdies: innerparteiliche Demokratie und Transparenz ihrer finanziellen Mittel. Denn die Voraussetzungen des Parteiverbots sind vom Negativen her in Georgien sehr detailliert geregelt. So entsteht ein etwas asymmetrisches Bild. Vorbildliche Regelungen finden sich in Verf. Polen (Art. 11), Verf. Albanien (Art. 9), Verf. Serbien (Art. 5), Verf. Bulgarien (Art. 11).

18. Überlegungen zu Art. 27 (politische Tätigkeit ausländischer und staatenloser Bürger) Dieser Artikel kann unverändert bleiben. Vielleicht darf ein Zusatz aufgenommen werden, in dem auf die Übereinstimmung mit dem internationalen Recht verwiesen wird.

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19. Überlegungen zu Art. 28 und 29 (das politische Recht auf Teilnahme georgischer Staatsbürger an der Demokratie) Diese Artikel können unverändert bleiben. Sie entsprechen den gemeineuropäischen Standards. Der Ausschluss fremder Staatsangehöriger von hohen politischen Ämtern ist gut vertretbar. Man könnte sich überlegen, ob die „Bedingungen des Staatsdienstes“ noch näher gekennzeichnet werden. In anderen Verfassungen gibt es hier Anreicherungen etwa zum Berufsbeamtentum. Indessen soll der künftige Grundrechtskatalog Georgiens nicht überlastet werden. 20. Überlegungen zu Art. 30 (Arbeit und Arbeitsrechte) In Absatz 1 könnte ein Zusatz vermerkt werden: Jeder hat das Recht auf Arbeit. Kinderarbeit ist verboten. Überdies sollte erwogen werden, ob man schon hier den Satz einfügt: Die unternehmerische Freiheit wird geschützt (vgl. Art. 41 Abs. 1 Verf. Italien von 1947: „Die privatwirtschaftliche Initiative ist frei.“). Auch wäre zu erwägen, schon hier die Gewerkschaften als solche zu erwähnen. Denkbar ist jedoch, dass dies im Kontext von Art. 33 geschieht, in dem das Streikrecht gewährleistet ist. Verwiesen sei auf Art. 8 Abs. 1 lit. b und c des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966). Hier werden die Gewerkschaften detailliert geschützt (s. auch Art. 56 Verf. Portugal). Dieses soziale Grundrecht sollte Georgien ein Anliegen sein. Auf weitere Texte, etwa die Europäische Sozialcharta von 1961 und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 1989, sei verwiesen. Man könnte daran denken, die Arbeitsrechte noch eingehender zu regeln, etwa nach dem Vorbild von Art. 30 bis 31 EU Grundrechte-Charta (Stichwort z. B.: Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung). Doch dies ist Sache des künftigen demokratischen Prozesses in Georgien. Hier ist die Kunst des politischen Kompromisses in der Demokratie Georgiens gefragt. Material findet sich etwa in Art. 53 bis 57 Verf. Portugal. 21. Überlegungen zu Art. 32 (Arbeitslosigkeit) Nachdem ein Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum im Interesse der politischen, sozialen und kulturellen Teilhabe schon oben formuliert worden ist, sollte bei Art. 32 nur, aber besonders intensiv, an die Hilfe für arbeitslose Bürger Georgiens gedacht werden. Der Arbeitslosenstatus bleibt ein wichtiges Stichwort, auch der Verfassungsauftrag des Staates, für Beschaffung von Arbeitsplätzen zu sorgen (vgl. Art. 16 Verf. Griechenland von 1975, Art. 58 und 59 Verf. Portugal von 1976). Hier finden sich in der Schweiz viele vorbildliche Materialien. Dazu als Bei-

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spiele die „Sozialziele“ in Art. 41 nBV Schweiz. Vorbildlich ist Art. 67 Verf. Polen („soziale Absicherung“). Im Übrigen sei erneut auf die Europäische Sozialcharta verwiesen.

22. Überlegungen zu Art. 34 (Kultur) Hier handelt es sich um Kulturverfassungsrecht par excellence. Georgien sollte auf die Ausgestaltung viel Aufmerksamkeit verwenden. Viele neue nationale und internationale Texte nehmen die Kultur sehr ernst. Genannt seien: Art. 9 Verf. Italien, Art. 73 bis 79 Verf. Portugal, Art. 54 Verf. Bulgarien von 1991. Der bisherige Art. 34 nennt wichtige Stichworte. Absatz 1 könnte ergänzt werden um den Gedanken der kulturellen Vielfalt. Dies ist aber auch für Absatz 2 denkbar („das kulturelle Erbe in seiner Vielfalt zu schützen“). Man müsste die bisherigen Worte präzisieren: das kulturelle Erbe des Landes zu schützen. Obwohl an späterer Stelle der Verstärkung der Idee der Grundpflichten das Wort geredet wird (siehe unten Ziff. 30), verdient die Grundpflicht der Bürger Georgiens nach Art. 34 Abs. 2 bereits an dieser Stelle viel Beifall. Besonders gelungen ist die Anerkennung „allgemein menschlicher Werte und die Vertiefung internationaler kultureller Beziehungen“ in Art. 34 Abs. 1. Auch dieser Passus verdient viel Beifall.

23. Überlegungen zu Art. 34 (Bildungsstätten, Erziehung der Jugend, etc.) Hier könnte der systematische Ort für die Erziehungsziele sein (denkbar wäre aber auch ein Platz in Art. 35). Die deutschen Landesverfassungen sind in West und Ost reich an Erziehungszielen. So heißt es in Art. 131 Absatz 1 Verf. Bayern (1946): „Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt“. In der Verfassung Brandenburg gibt es einen ähnlich idealistischen Text. Georgien sollte sich nicht scheuen, dieses „Schatzhaus“ zu nutzen. In ausländischen Verfassungen wird oft auf die Erziehung zu den Menschenrechten im Allgemeinen verwiesen. Auch daran sei hier als mögliches Vorbild erinnert. Jedenfalls sollte nicht nur wie bisher in Art. 34 an die physische Erziehung beziehungsweise den Sport gedacht werden (wie in der Verfassungsnovelle von 2011). Denkbar ist auch, dass man Art. 34 und Art. 35 (?) in einen Artikel zusammenbindet und in verschiedene, etwa 3 Absätze gliedert.

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24. Überlegungen zu Art. 35 (Bildungsverfassungsrecht) Dieser Artikel wurde seit 1995 durch neue Absätze (2006) ergänzt. Georgien hat zu Recht sein Bildungsverfassungsrecht aktualisiert. Geglückt ist der Hinweis auf das internationale Bildungssystem, bei all dem sollte es bleiben. Materialien, die im Übrigen Vorbild für das Bildungsverfassungsrecht auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaats sind, finden sich zum Beispiel in Art. 13 (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte). Hier sind auch die Bildungsziele „Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern“ genannt. Vorbildliche Bildungs-Artikel finden sich auch in folgenden nationalen Verfassungen: Art. 27 Verf. Spanien, Art. 15 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993.

25. Überlegungen zu Art. 36 (Ehe und Familie) Hier ist die bisherige Fassung des Textes etwas karg. Schon die einschlägigen internationalen Texte sind ergiebiger. So sagt Art. 12 EMRK: „Mit Erreichung des Heiratsalters haben Männer und Frauen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie nach den nationalen Gesetzen, die die Ausübung dieses Rechts regeln, zu gründen.“ Vorbildich normiert Art. 124 Abs. 1 Verf. Bayern: „Ehe und Familie sind die natürliche und sittliche Grundlage der menschlichen Gemeinschaft und stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“. Viele neue nationale Verfassungen denken in ähnlicher Weise sehr grundsätzlich an Ehe und Familie: Art. 29 Verf. Italien, Art. 37 Verf. Kosovo, Art. 36 Verf. Portugal, Art. 53 Verf. Albanien, Art. 59 Verf. Montenegro von 1992. Vor allem aber sollte an dieser Stelle an eine Integrierung der internationalen Konvention zum Schutz der Rechte der Kinder gedacht werden (1990). Viele neue Verfassungen knüpfen daran an (vgl. Art. 50 Verf. Kosovo, Art. 64 Verf. Serbien). Aus meiner Sicht sollte Georgien manche Texte „nachholen“. Der Hinweis darauf, dass die Rechte der Mütter und Kinder durch Gesetze geschützt werden, ist zu wenig. Auch Art. 24 der Europäischen Grundrechtecharta liefert vorbildliche Texte, die nicht zu lang sind. Der alte Art. 36 sollte unbedingt angereichert bzw. fortgeschrieben werden. Dies sollte eine der dringlichsten Grundrechtsreformaufgaben in Georgien sein. 26. Überlegungen zu Art. 37 (Krankenversicherung und Gesundheit) Im Sozialstaat ist das Thema Krankenversicherung und Gesundheitswesen zentral wichtig. Georgien hat hier gute Texte geschrieben. Abs. 3 ist besonders geglückt. Es wird nicht abstrakt ein „Recht auf Gesundheit“ als soziales Grundrecht postuliert (vorbildlich Art. 64 Verf. Portugal), sondern es werden bestimmte Bedingungen, die für die Gesundheit unschädlich sind, verlangt. Überdies verdient es Beifall, dass

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Georgien den Begriff „kulturelle Umwelt“ wagt. Damit sind Umwelt und Kultur auf gute Weise verknüpft. Man spricht im Deutschen zum Beispiel von „Kulturlandschaft“ oder „Baumkultur“. Die Grundpflicht für jedermann, die Natur und die kulturelle Umwelt zu schonen, nimmt Bezug auf den schon universal gewordenen Begriff der „Nachhaltigkeit“. Er taucht dann in Abs. 4 auf, der durch eine Verfassungsrevision vom 01. 07. 2011 eingefügt wurde. Beifall verdient auch die Bezugnahme auf „gegenwärtige und künftige Interessen“ (Generationenschutz). Gleiches gilt für Abs. 5, der jedermann ein Recht auf Umweltinformation zuspricht (vgl. etwa Art. 56 Verf. Albanien). Damit hat sich Georgien in die Standards vieler neuer Verfassungstexte in Europa und darüber hinaus eingereiht. Ich komme darum zum Ergebnis, dass Art. 37 nicht geändert werden muss.

27. Überlegungen zu Art. 38 (Minderheitenschutz) Viele miteinander verglichene neue Textstufen nationaler Verfassungen, aber auch internationale Texte sorgen sich um den Schutz von Minderheiten. Art. 38 hat sich früh darum bemüht. Er verweist auf die allgemeinen Normen des Völkerrechts, verbietet diskriminierende Eingriffe in die Kultur und schützt die Verwendung der Muttersprache privat wie öffentlich. Ähnliche Normen gibt es in vielen Nationen. Als Beispiele seien genannt: Art. 20 Verf. Albanien, Art. 64 Verf. Slowenien von 1991. Es ist auch zu begrüßen, dass Art. 38 Abs. 2 Grenzen für die Durchsetzung der Minderheitenrechte zieht. So umstritten der Begriff der „staatlichen Souveränität“ heute ist, so gewiss bleibt es, dass die staatliche Ordnung, die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit des Verfassungsstaates Georgien geschützt bleiben muss. Auf ähnliche Regelungen sei verwiesen (Art. 6 Abs. 2 Verf. Rumänien von 1991). 28. Überlegungen zu Art. 39 (Grundrechtsentwicklungs-Artikel und Erwägungen zu einer allgemeinen Regelung der Grundrechtsschranken) Dieser Artikel dürfte auf lange Sicht ungemein wichtig werden. Es handelt sich um einen von mir so genannten offenen Grundrechtsentwicklungs-Artikel. Alle staatlichen Funktionen können im Lauf der Zeit neue Rechte, Freiheiten und Garantien entwickeln, die in der positiven Verfassung von jetzt nicht erwähnt wurden, aber den „Grundsätzen der Verfassung“ innewohnen. Ähnliche Normen gibt es in § 10 Verf. Estland von 1992. Hier werden die „Grundsätze der Verfassung“ sogar näher spezifiziert (Menschenwürde, sozialer und demokratischer Rechtsstaat). Überdies wird auf den „Sinn der Verfassung“ Bezug genommen. Man könnte fragen, ob Art. 39 Verf. Georgien die „Grundsätze“ in ähnlicher Weise näher umschreiben sollte, etwa durch Hinweis auf die Menschenwürde und den sozialen Rechts-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

staat. Mindestens für das Verfassungsgericht in Georgien und die dortige Staatsrechtslehre ist aber wichtig, dass zukünftig die immanenten „Grundsätze der Verfassung“ näher erarbeitet werden. Man könnte auch noch an die Idee des Kulturstaates denken sowie an die Demokratie. Kurz: Art. 39 ist so gut gelungen, dass er in seiner jetzigen Form beibehalten werden kann, jedoch in der Praxis inskünftig in der gekennzeichneten Weise durch „wertende Rechtsvergleichung“ angereichert wird. Ein uraltes Vorbild findet sich wohl in Art. IX der Amendments zur US-Bundesverfassung (1790). Zusatz: In den bisherigen Ausführungen wurde mehrfach moniert, dass es bisher in Georgien keine allgemeinen Regelungen des Themas Grundrechtsschranken und Wesensgehaltsgarantien bzw. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gibt. Der Gutachter erlaubt sich, an der zentralen Stelle des Art. 39 einen Vorschlag zu unterbreiten: Er orientiert sich dabei an der Schweiz bzw. ihrer Kantons- und Bundesebene sowie an anderen neuen Verfassungstexten. Nur vereinzelt bricht sich bisher der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den geltenden Regelungen Georgiens Bahn (z. B. Art. 41 Abs.3 am Ende). In der Schweiz (Art. 36) und in Art. 49 Verf. Tunesien (2014) sowie in der EUGrundrechtecharta (2007 / 2010) findet sich Vorbildliches. In der Schweiz wie folgt: „2 Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. 3

Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismäßig sein.

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Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.“

Art. 52 Abs. 1 S. 2 EU-Grundrechtecharta lautet: „Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. Zuvor ist in Art. 51 Abs. 1 S. 1 der Schutz des Wesensgehalts dieser Rechte und Freiheiten normiert. Diese Doppelung von (absoluten) Wesensgehaltschutz und (relativen) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit macht heute fast weltweit oft Karriere (Nachweise für Europa in: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff.). Für Georgien stellt sich die Frage, ob man die heutigen Pläne für eine Grundrechtsreform nicht dazu benutzt, sich auch hier von den weltweiten Entwicklungen und von europäischen Texten inspirieren zu lassen. Georgien würde sich damit auf einen Schlag an die Spitze von Grundrechtsentwicklungen im Verfassungsstaat von heute setzen. Man könnte die Bürger durch einen solchen Vorschlag vielleicht zusätzlich für die ganze Verfassung Georgiens gewinnen. Denkbar wären auch Konkretisierungen der Auslegung der Menschenrechte: in Gestalt eines ausdrücklichen textlichen Hinweises auf die Relevanz der Entscheidungen des EGMR in Straßburg. Vorbilder gibt es schon (Art. 53 Verf. Kosovo). Andere Verfassungen verlangen von der Auslegung der Grundrechte, dass sie in Übereinstimmung mit den Internationa-

VII. Rechtsgutachten für die Verfassungskommission Georgien

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len Menschenrechtskatalogen geschieht (z. B. Art. 20 Verf. Rumänien). Das Postulat der Menschenrechtskonformität seiner Grundrechte könnte für Georgien ein Gewinn sein. 29. Überlegungen zu den Grundrechten in Art. 40, 41 und 42 Die geltende Verfassung hat hier viele wichtige Detailregelungen getroffen: Informationsrechte, Datenrechte, justizielle Grundrechte etc. Art. 42 Abs. 1 garantiert auch das Recht, sich zum Schutz seiner Rechte und Freiheiten an ein Gericht zu wenden. Hier fällt auf, dass sich kein eigenes Petitionsrecht findet, wie es in vielen bill of rights steht (z. B. Art. 5 Verf. Niederlande von 1983 / 95, Art. 27 Verf. Luxemburg von 1868 / 99, Art. 33 nBV Schweiz, Art. 63 Verf. Polen; für die EU: Art. 44 EU-Grundrechtecharta oder für den Europarat: Art. 13 EMRK: Recht auf wirksame Beschwerde bei einer innerstaatlichen Instanz). Beispielhaft ist national Art. 17 deutsches GG: „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretungen zu wenden.“ (fast identisch: Art. 115 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946). Das Petitionsrecht ist ein demokratisches Grundrecht par excellence, es hat große politische Bedeutung. Georgien sollte dieses spezielle Grundrecht „nachholen“, vielleicht durch eine Ergänzung von Art. 42 Abs. 1 um die Textzeile: „an die zuständigen Stellen und ein Gericht zu wenden“. Noch besser wäre wohl ein neuer Absatz, da das Petitionsrecht für viele Anliegen eingeräumt werden sollte, nicht nur für den Schutz von Rechten und Freiheiten, etwa auch für Gemeinwohlinteressen oder demokratische Anliegen. Viele nationale und europäische Texte spezifizieren die Gründe für die Geltendmachung einer Petition gar nicht. Dies ist vielleicht die beste Lösung. 30. Überlegungen zu Art. 44 (Grundpflichten) In Artikel 44 Abs. 2 ist eine allgemeine Grundrechtsgrenze normiert (keine Verletzung der Rechte und Freiheiten eines anderen). Dieses Thema könnte nach dem hiesigen Vorschlag entfallen, weil ja bei Art. 39 eine allgemeine grundsätzliche Regelung vorgeschlagen wurde. Georgien hat diesen Gedanken in den Kontext der Grundpflichten gerückt. Indes ist in Art. 44 Abs. 1 nur eine sehr allgemeine Grundpflicht festgelegt: die „Forderungen der Verfassung und Gesetzgebung Georgiens zu befolgen“. Meines Erachtens ist dieser etwas verkümmerte Text zu den Grundpflichten anzureichern, etwa durch einen Hinweis auf die Schulpflicht, die Pflicht zur Landesverteidigung, die Pflicht Steuern zu zahlen, die Pflicht die kulturelle Umwelt zu schützen (bisher an anderer Stelle geregelt). In vielen nationalen wie internationalen Texten wird den Grundpflichten mehr Gewicht gegeben. Verwiesen sei auf die Beispiele in Polen (Art. 82 bis 86), Albanien, Art. 25, Art. 31 und 32 Verf. Spanien. Die Verfassung Griechenland (Art. 25 Abs. 4) spricht sogar von der „Pflicht zur gesellschaftlicher und nationaler Solidarität“. Die liberale Schweiz hat

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einen mittlerweile berühmten, etwa auch in Ungarn (2012) übernommenen, Verantwortungs-Artikel gewagt (dazu meine Kommentierung in St. Galler Kommentar zu nBV Schweiz, 3. Aufl. 2014): „Art. 6 Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung Jede Person nimmt Verantwortung für sich selbst wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.“

Ein solcher Artikel ist in der Schweiz gewiss unverdächtig, er könnte in Georgien Epoche machen. Ganz anders nimmt er sich in Ungarn aus. Denn im Kontext des jüngst ausdrücklich als „illiberal“ gekennzeichneten ungarischen Staates unter Orbán könnte er als Grundlage für totalitäre Tendenzen missbraucht werden – dies ist ein Beispiel für die möglichen inhaltlichen Veränderungen desselben Textes durch unterschiedliche Kontexte (dazu schon oben). Zwar wird in der deutschen Literatur von „Asymmetrie“ zwischen Grundrechten und Grundpflichten gesprochen, doch sollte die Idee von Menschenpflichten (dazu die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten des InterAction Council ehemaliger Staats- und Regierungschef von 1997) und Grundpflichten in der Zukunft mehr Gewicht bekommen. Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 war bekanntlich extrem individualistisch; angemerkt sei, dass immerhin schon die beiden Menschenrechtspakte der UN von 1966 an Pflichtigkeiten denken (Präambel). Auch in den erwähnten nationalen Erziehungszielen für die Schüler verbergen sich Pflichten. Gerade heute ist auf vielen Feldern mehr Solidarität der Menschen und Bürger gefordert. Dem sollte sich eine Grundrechtreform in Georgien nicht entziehen. Grundpflichten sind keineswegs Pfade zum totalitären Staat. Sie gehören aus meiner Sicht durchaus zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Sie müssen nur sehr überlegt formuliert werden und die Einzelthemen genau bezeichnen.

31. Art. 46 (Kriegs- oder Ausnahmezustand) Diese Regelungen sind vorbildlich. Man müsste sich nur überlegen, ob etwa jetzt neu eingebaute Grundrechtsartikel in Abs. 1 ergänzend aufzuführen wären. Vergleichsmaterial findet sich in Art. 27 Inter-Amerikanische Menschenrechtserklärung von 1969, aber auch in nationalen Verfassungen wie Art. 170 bis 176 Verf. Albanien, §§ 129 bis 131 Verf. Estland, Art. 48 und 84 Verf. Montenegro von 1992.

32. Art. 47 (ausländische und staatenlose Bürger) Auch dieser Artikel ist zu loben. Er ist sehr sorgsam redigiert und schützt Ausländer und Staatenlose optimal.

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Ausblick und Schluss Vorschläge für die Aktualisierung des geltenden Grundrechtskatalogs für Georgien zu unterbreiten, ist eine der schönsten Aufgaben meiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit seit 55 Jahren. Der Verf. dieser Zeilen kann nur seinen großen Respekt für das bekunden, was bisher in Georgien auf den Weg gebracht worden ist. Im europäischen Georgien ist der „Europäische Jurist“ ein Ideal. Er hat sich als Diener der Mitbürger in Europa zu verstehen. Im Sinne „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ könnten gewiss noch so manche Themen behandelt werden, etwa die Frage eines Schutzes eingetragener Lebenspartnerschaften, der Alten, der Tierschutz, die Wohnbau- und Wohneigentumsförderung, die Fortpflanzungsmedizin und die Gentechnologie im Humanbereich (wie in der Schweiz), Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis an (wie in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 AMRK), Verbot der Sklaverei (Art. 6 AMRK). Indes hat sich ja der Verfasser zu dem Ziel bloßer Teilrevisionen des Grundrechtskatalogs in Georgien bekannt. Wichtig bleibt die wissenschaftliche Einsicht, dass es keinen „numerus clausus“ der Grundrechte gibt und diejenigen, die politische und juristische Verantwortung in Georgien haben, auch dieser Erfahrung folgen wollen.

VIII. Ein privater Verfassungsentwurf für Luxemburg (2013)* Vorbemerkung Im Rahmen der im April 2009 begonnenen Diskussion über einen Verfassungsentwurf des Parlaments in Luxemburg stellte Professor L. Heuschling einen privaten Entwurf der Öffentlichkeit vor1. Mag dieser auch nur eine Stimme im Rahmen vieler Stellungnahmen etwa des Regierungsrates (2011), des Staatsrats (2012), mehrerer Gutachten der Justiz und beratender Institutionen sowie der Zivilgesellschaft, z. B. seitens Elternvereinigungen, Behindertenorganisationen und Kinderschutzbünde sein – auch die Venedig-Kommission des Europarates hat in mehreren Gutachten als „Begleiter“ der Verfassunggebung in Luxemburg gewirkt –: als eine Stimme der Wissenschaft verdient das Werk von L. Heuschling besondere Aufmerksamkeit. Vergleichend betrachtet steht es in Geschichte und Gegenwart nicht allein. In der Schweiz gibt es eine große Tradition von wissenschaftlichen Privatentwürfen. Ebenso berühmt wie wirksam geworden ist der in mehreren Auflagen erschienene Privatentwurf von Kölz / Müller für eine neue Schweizer Bundesverfassung (1985, 3. Aufl. 1995). Erinnert sei auch an den aus der Feder von J. Schwarze / Flauss stammenden Entwurf für eine Europäische Verfassung2. Derartige Entwürfe sind in jedem Falle eine wissenschaftliche Bereicherung über den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinaus. Denn sie sind in größter Unabhängigkeit verfasst und dürfen über den Tag hinaus Aufmerksamkeit beanspruchen. Anders als wissenschaftliche Abhandlungen, Kommentare und Bücher handelt es sich um besonders verdichtete Texte und Begriffe. Insofern haben sie schon Eigenwert, sie bilden eine eigene Wissenschafts- und Literaturgattung und fordern vom Autor viel Umsicht und Souveränität, auch sprachliche Gestaltungskraft. Er möchte ja den Diskussionsprozess mit seinen prägnanten Texten beeinflussen. Besonders viele Verfassungsentwürfe, vor allem offizieller Art, entstanden z. B. im Laufe des annus mirabilis 1989 in Osteuropa sowie in Ostdeutschland 3. Hier * Erstveröffentlichung. 1 Quelle: http://www.forum.lu/constitution/index.php/dokumente/verfassungsentwurf-mai2013/. 2 Analysen vieler Entwürfe in: Verfassunggebung in Europa, JöR 54 (2006), S. 629 (643 ff.); speziell zu dem Entwurf Schwarze / Flauss: JöR 53 (2005), S. 456 (502 ff.); ebenda S. 516 ff. eine Dokumentation vieler Entwürfe. 3 Dazu die Dokumentation in JöR 43 (1995), S. 105 ff.; 44 (1996), S. 321 ff.; 45 (1997), S. 177 ff.; 46 (1998), S. 123 ff.

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kam es zu fruchtbaren Konkurrenzverhältnissen. Entwürfe für Verfassungstexte, einmal in der Welt, können auf lange Sicht inspirieren und normative Kraft entfalten, auch wenn dies nicht immer im Einzelnen nachweisbar ist. Besonders viele offizielle Entwürfe entstanden im Vorfeld des Kampfes um die europäische Integration bzw. um eine Verfassung für Europa. Obwohl diese 2004 gescheitert ist und rumpfhaft in Gestalt des Vertrages von Lissabon (2007) lebt, bleiben sie mehr als bloße Dokumente. Die Wissenschaft und der öffentliche Diskurs über einzelne Verfassungsfragen in Europa kann durchaus auch noch nach Jahren auf solche Texte als Materialien zurückgreifen4 und für die Auslegungsfragen relevant werden. Verfassungsentwürfe, ob privat oder offiziell ist unerheblich, sind heute Teil eines weltweiten Werkstattgesprächs über nationale Grenzen hinweg. Einbezogen seien und sind aus jüngster Zeit auch die Entwürfe und mehr oder weniger „endgültigen“ Verfassungstexte, die im Laufe des sog. Arabischen Frühlings seit 2011 entstanden sind. Man denke an die beiden Verfassungen in Ägypten (2013 und 2014) sowie an die textlich überaus gelungene Verfassung von Tunesien (2014)5. Verfassungsentwürfe und endgültig zustande gekommene Verfassungen verarbeiten heute in universalen Prozessen der Produktion und aktiven Rezeption eine Trias: Klassikertexte, etwa von Montesquieu zur Gewaltenteilung, Theorien etwa zur Sache der Kultur (Menschenrechte als Erziehungsziele) oder zum Grundrechtsverständnis (ganzheitliche Auslegung, optimale Grundrechtseffizienz) und die Praxis (insbesondere die Judikate von nationalen Verfassungsgerichten und internationalen Gerichten). Zu unterscheiden sind institutionelle und personelle „Rezeptionsmittler“. Zu jenen gehören Verfassungskommissionen, auch die Venedig-Kommission des Europarats, zu diesen gehören einzelne Wissenschaftler, Stiftungen von politischen Parteien, Nichtregierungsorganisationen und einzelne Berater. Einschlägig wird das vom Verf. 1989 entworfene Textstufenparadigma6. Seine Pointe besteht darin, dass im Laufe der Zeit durch Vergleich auch Verfassungswirklichkeit sichtbar und auf Begriffe gebracht wird. Was im einen Verfassungsstaat hier Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelt haben, wird im anderen Verfassungsstaat dort auf dem Wege neuer „totaler“ Verfassunggebung oder Teilrevisionen später auf Texte bzw. Begriffe gebracht. Dazu gibt es viele Beispiele, auch speziell dank der Ausstrahlungswirkung der Judikatur des deutschen BVerfG oder des EGMR. In der geglückten Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung von 1999 wurde anschaulich von „Nachführung“ gesprochen (K. Eichenberger). Dadurch sollte das, was sich in der Verfassungswirklichkeit entwickelt hat, nachträglich transparent auf Texte gebracht wer-

4 Die meisten Verfassungsentwürfe sind abgedruckt in JöR 53 (2005), S. 457 (516 ff.); s. auch meinen Aufsatz: Die Herausforderung des europäischen Juristen vor Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft, 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: DÖV 2003, S. 429 ff. 5 Dazu mein Beitrag in: FS Fausto de Quadros, 2015, i. E. 6 Dazu P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS Partsch, 1989, S. 555 ff. Fortgeführt in ders., Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, S. 117 ff. u. ö.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

den: sowohl manche „ungeschriebene“, vom Schweizer Bundesgericht in Lausanne entfaltete Grundrechte, jetzt in Textform gegossen (etwa die Wissenschaftsfreiheit: Art. 20). So kam es 1999 zu einer eher „sanften“ Totalrevision, zu keinen revolutionären Neuerungen. Dieses den Schweizer Bürgern so zu vermitteln, war ein Anliegen der Initiatoren der Schweizer Totalrevision und eine Voraussetzung für die schließliche Annahme des Verfassungsentwurfs durch das Schweizer Volk. Speziell bei einem wissenschaftlichen Privatentwurf für Luxemburg ist zu vermuten, dass sehr viele „Materialien“ ausstrahlen: zunächst nationale aus der eigenen Verfassungsgeschichte in Luxemburg sowie aus Nachbarländern wie Frankreich, Spanien oder Deutschland, sodann von der europäischen Ebene her, etwa aus der EMRK und aus der EU-Grundrechtecharta, schließlich von der UN-Ebene her: man denke an die beiden UN-Menschenrechtspakte, die Vielzahl an UN-Konventionen, etwa in Sachen Behinderte, Kinderrechte, kulturelle Vielfalt etc. Auch an die schöpferischen Leistungen der nationalen und internationalen Verfassungsgerichte ist zu denken. So strahlen etwa das BVerfG ebenso aus wie der EGMR, das Schweizer Bundesgericht ebenso wie UN-Tribunale oder der Internationale Strafgerichtshof. Im Folgenden seien nur einige Schwerpunkte des hervorragenden privaten Verfassungsentwurfs von L. Heuschling behandelt. Dabei kann die etwaige Vorbildwirkung anderer Texte bei der Fortschreibung der alten Verfassung von Luxemburg naturgemäß nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden. Nur in Stichworten sei gearbeitet. I. Allgemeine Bestimmungen (Kap. 1) Schon die Überschrift des Kapitel 1 ist in glücklicher Weise ergänzt. Die Rede ist nicht nur vom Staat und seinem Territorium, sondern auch von seinen Einwohnern. Im Übrigen finden sich viele neue Texte, die typischerweise allgemeine Kennzeichnungen des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe umschreiben. Die geltende Verfassung (1868 / 2009) hat sich demgegenüber sehr auf den Großherzog konzentriert. Besonders auffallend und glücklich ist Vieles: das Wort von der parlamentarischen Demokratie und von der konstitutionellen Monarchie. Besondere Aufmerksamkeit verdient folgender Passus in Art. 2 Abs. 2 und 3. Er lautet: „Il est fondé sur les principes d’un Etat de droit et sur le respect des droits de l’Homme. Il porte la dénomination de ,Grand-Duché‘ de Luxembourg.“

Soweit ersichtlich, sind die Prinzipien des Rechtsstaates so prominent und so allgemein, noch nirgends in Kontext des Respekts vor den Menschenrechten auf einen Verfassungstext gebracht worden. Diesen Vorgang muss die Wissenschaft als große Leistung zur Kenntnis nehmen. Die folgenden Themen arbeiten die klassischen Identitätselemente eines Verfassungsstaates von heute speziell für Luxemburg ab. So findet sich in Art. 4 ein ganzes Bündel von kulturellen Identitätsmerkmalen. In Abs. 1 sind die Sprachen mit

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Luxemburgisch, Französisch und Deutsch festgelegt. In Abs. 2 ist das Nationalemblem und die Nationalflagge definiert. Abs. 3 handelt von dem Staatswappen, Abs. 4 legt die Nationalhymne fest. Damit sind die Elemente des Selbstverständnisses von Luxemburg vorweg definiert, um die sich die Wissenschaft in jüngster Zeit von einem kulturwissenschaftlichen Ansatz her besonders gekümmert hat 7. Nur eine konstitutionelle Regelung der Feiertage fehlt. Nicht minder bemerkenswert ist der eigene Europa-Artikel 5. Denkbar allgemein legt dessen Abs. 1 fest: „Das Großherzogtum Luxemburg partizipiert an der europäischen Integration“. Abs. 2 ermöglicht die Übertragung von Hoheitsrechten des Staates auf die Europäische Union und auf internationale Institutionen. Dies zu Recht; durch ein Gesetz, dass von einer qualifizierten Mehrheit verabschiedet wurde. Denkbar knapp und klar arbeitet dieser Art. 5. Im Vergleich mit den vielfältigen anderen Europa-Artikeln, die sich in vielen Ländern Europas in vielen Varianten herausgebildet haben, ist der Entwurf von Heuschling hier vielleicht etwas zu knapp geraten8. Dass Heuschling bei der Übertragung von Hoheitsrechten auch an internationale Institutionen gedacht hat, verdient Hervorhebung. In die Struktur von Kap. I mit seinen allgemeinen Festlegungen gehört auch der Hauptstadt-Artikel 8. Er lautet: „La ville de Luxembourg est la capitale du Grand-Duché de Luxembourg et le siége des institutions constitutionnelles.“

Hauptstadt-Artikel finden sich in vielen neuen und älteren Verfassungen9. Sie sind Ausdruck des Selbstverständnisses eines Landes und wurzeln meist tief in dessen Kultur- und Verfassungsgeschichte. In der Mehrzahl der Beispiele sind sie im allgemeinen Teil einer Verfassung platziert. Heuschling gelingt eine schöne neue Textstufe, in dem er auch von den verfassungsrechtlichen Institutionen bzw. ihrem Sitz in der Stadt Luxemburg spricht. Man darf von einer besonderen Konstitutionalisierung der Hauptstadt sprechen, mag auch vielleicht mancher Streit darüber entstehen, welche Institutionen das Prädikat „verfassungsrechtlich“ verdienen. Aus dem letzten Abschnitt 3 zur Nationalität und den politischen Rechten sei nur noch erwähnt, dass die europäische Unionsbürgerschaft ausdrücklich zitiert wird. Art. 10 Abs. 2 lautet: „La loi organise l’exercice des droits politiques des citoyens d l’Union européenne.“

Diese Textstufe verdient Beifall. Sie stellt einen besonderen Europa-Artikel dar. Gleiches gilt von der negativen Seite her für Abs. 3, der festlegt, dass das Gesetz 7 Dazu P. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2. Aufl. 2013; Nationalflaggen, bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 8 Zu diesem „nationalen Europaverfassungsrecht“ mein Beitrag in FS Everling, Bd. I 1995, S. 355 ff.; sowie in Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 76 ff. u. ö. 9 Dazu P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

die Ausübung der politischen Rechte auch auf Personen übertragen kann, die nicht die europäische Unionsbürgerschaft haben. Art. 11 reserviert den Zugang zum öffentlichen Dienst, soweit sie die allgemeinen Interessen des Staates betreffen, den Luxemburgern. Diese Regelung erscheint etwas eigenartig und erklärt sich vielleicht aus einem Hintergrund, der den ausländischen Betrachter wie dem Verfasser dieser Zeilen nicht ohne weiteres zugänglich ist. II. Rechte und Freiheiten (Kap. 2) Dieses Kapitel ist formal normal strukturiert und inhaltlich neu konzipiert. Es handelt sich um mehr als eine bloße Anpassung und Fortschreibung. Der Verfassungsentwurf begibt sich mitten in die weltweiten Aktualisierungen und Modernisierungen von Grundrechtskatalogen. Beobachten lassen sich lebendige Austauschprozesse und Wanderungsbewegungen von Grundrechtstheorien und Rechtstexten und Grundrechtsurteilen von Gerichten. Heuschling gliedert das Kap. 2 in drei Abschnitte. Er beginnt mit den Grundrechten, fährt mit den öffentlichen Freiheiten fort und bemüht sich in eigenen Abschnitten um die Reichweite bzw. den Schutz und die Sicherung dieser Rechte durch eine grundrechtliche Wesensgehaltgarantie und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – ein Höhepunkt im Textensemble. Abschnitt 4 widmet sich den sozialen Garantien mit verfassungsrechtlichem Rang bis zum Schutz von Tierrechten. Im Ganzen kommt es zu einer glücklichen Mischung von Tradition und Innovation, die über Luxemburg hinaus wissenschaftliche Beachtung verdienen. Im Einzelnen: Der Abschnitt über Grundrechte stellt den Schutz der Menschenwürde voran (Art. 12). Damit folgt der Entwurf dem deutschen Grundgesetz in seinem Art. 1, das in vielen neueren Verfassungen ausstrahlt und die Grundrechtskataloge zu Recht prinzipiell eröffnet. Art. 13 schützt die physische und die geistige Integrität (Abs. 1) und wagt damit eine sehr allgemeine Absicherung, die auch für andere Länder vorbildlich sein könnte. Abs. 2 verbietet Folter und unmenschliche Behandlungen und Degradierungen. Hier ist der Einfluss vieler Texte erkennbar, etwa der EMRK und der EU-Grundrechtecharta. Gleiches gilt für Art. 14 (Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion sowie für Art. 15 (Schutz des privaten Lebens). Diese Texte gleichen fast einer universalen Errungenschaft heutiger Menschenrechtsgarantien. Abschnitt 2 lautet: „Des libertés publiques“. Damit wird an die französische und spanische Tradition angeknüpft, die ebenfalls von öffentlicher Freiheit spricht. Das ganze Gewicht dieses Begriffs wird offenkundig, wenn man an den großen Öffentlichkeitszusammenhang denkt: Stichwort: öffentliches Wohl, öffentliches Recht und öffentliche Freiheit sowie „Republik“. Art. 16 ordnet in diesem Kontext die Gleichheit vor dem Gesetz an. Es fügt jedoch eine einzigartige kühne Textzeile hinzu in dem Satz:

VIII. Ein privater Verfassungsentwurf für Luxemburg

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„La loi peut prévoir une différence de traitement qui procéde d’une disparité objective et qui est rationnellement justifié, adéquate et proportionnée á son but.“

Hier handelt es sich um nichts weniger als den Versuch, die Willkürrechtsprechung z. B. des deutschen Bundesverfassungsgerichts kombiniert mit dem Gedanken des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf einen Begriff zu bringen. Die möglichen Gründe für eine differenzierte Behandlung im Rahmen des Gleichheitssatzes sind hier wohl erstmals auf eine konstitutionelle Textstufe gebracht worden. Der Versuch verdient große Aufmerksamkeit. Abs. 2 unternimmt ein Diskriminierungsverbot, Abs. 3 statuiert die Gleichheit im Recht von Mann und Frau in den Rechten und Pflichten. Er erlaubt sogar dem Staat aktiv Hindernisse für diese Gleichstellung zu eliminieren. Die Gleichheit von Männer und Frauen wird also sehr ernst genommen. Art. 17 bis 19 schützt die individuelle Freiheit, vor allem im justiziellen Bereich in klassischer Weise. Hier ist der Entwurf bloße Rezeption vieler neuerer Konventionen und nationaler Verfassungen. Gleiches gilt für die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 20), für die Freiheit von Meinungs- und Pressefreiheit und das Verbot der Zensur (Art. 22). Eine neue Textwendung gelingt Art. 23, insofern er die Freiheit zur Äußerung philosophischer oder religiöser Meinungen normiert. Der Begriff philosophische Meinung ist m. E. eine innovative Textstufe. Art. 24 und 25 garantieren das Recht zur friedlichen Versammlung und zur Vereinigung. Etwas Neues findet sich in Art. 26. Er lautet: „Les partis politiques concourent à la formation de la volonté populaire et à l’expression du suffrage universel. Ils expriment le pluralism démocratique.“

Während Art. 26 in Satz 1 eher traditionell arbeitet und viele Vorbilder hat, wagt Satz 2 etwas Neues, jedenfalls für die älteren Verfassungsstaaten. Die Indienststellung der politischen Parteien für den demokratischen Pluralismus ist ein glücklicher Gedanke. Anklänge finden sich in der Verfassung von Spanien (Art. 6 von 1978). Erwähnenswert ist Art. 28 mit seiner Unterstreichung der Petitionsfreiheit im Blick auf die Pflicht der Behörden in vernünftiger Zeit zu antworten sowie die Statuierung des Grundrechts auf Unverletztlichkeit der Kommunikationen (Art. 29). Auch Art. 31 gehört mit seinem klaren Schutz der persönlichen Daten in diesen Zusammenhang. Art. 31 gewährt das Asylrecht mit einem Gesetzesvorbehalt. Drei Artikel befassen sich mit religionsverfassungsrechtlichen Fragen (Art. 32 bis 34). Art. 32 stellt fest, dass niemand zu Zeremonien eines Kultes gezwungen werden kann, Art. 33 verlangt die Zivilehe vor der religiösen Ehe, Art. 34 regelt die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften und verweist auf Verträge, die von der Abgeordnetenkammer verabschiedet werden müssen. Der Verfassungsentwurf hält sich hier weitgehend an die Regelungen der geltenden Verfassung (Art. 22). Wichtig ist Art. 35, der jeder Person ein Recht auf Erziehung gibt (Abs. 1). Abs. 3 ebenda nimmt sich der Erziehungsziele an. Verlangt wird der Respekt vor den „Werten einer demokratischen Gesellschaft“, die sich auf die „fundamentalen Rechte und öffentlichen Freiheiten“ gründet. Diese Erziehungsziele sind bemer-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

kenswert, weil sie, ähnlich vielen anderen neuen Verfassungen, die Grundrechte zum Thema machen. Abs. 4 regelt die Freiheit des akademischen Studiums. Die letzten Artikel des Abschnitts 2 befassen sich mit sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten. Sie entsprechen dem gemeineuropäischen Standard, etwa zur sozialen Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und zu den Rechten der Arbeitnehmer (Art. 36). Die Freiheit der Wirtschaft und des Berufes sind Thema von Art. 37, versehen mit einem Gesetzesvorbehalt. Art. 38 garantiert das private Eigentum unter dem Vorbehalt einer Enteignung aus Gründen des öffentlichen Interesses bei voller Entschädigung. Art. 39 garantiert dem Ausländer den Schutz seiner Person und seiner Güter, ebenfalls mit Gesetzesvorbehalt. Abschnitt 3 regelt die „Reichweite der Grundrechte, der öffentlichen Freiheiten und der justiziablen Rechte“. Hier gelingt dem privaten Verfassungsentwurf ein meisterhafter Text: Art. 40 S. 1 normiert eine Wesensgehaltsgarantie („contenu essentiel“). Hierfür gibt es viele Vorbilder, in der Schweiz (Art. 36 nBV Schweiz von 1999) ebenso wie in Tunesien (Art. 49 Abs. 1 Verf. von 2014). Aus dem Kontext ergibt sich, dass der grundrechtliche Wesensgehalt als absoluter Kern im Sinne der absoluten Wesensgehaltslehre zu lesen ist10. Denn in Satz 2 wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit normiert und unter Hinweis auf die Notwendigkeiten in einer demokratischen Gesellschaft, das allgemeine Interesse oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer präzisiert. Darin verbirgt sich eine Andeutung der relativen Wesensgehaltstheorie, die Anlehnung an Regelungen der EMRK von 1950 (Art. 9 Abs. 2) ist offenkundig. Ähnliches gilt im Blick auf die EU-GrundrechteCharta (Art. 52 Abs. 1). Diese Verbindung von absolutem und relativem Wesensgehaltsschutz ist vorbildlich. Man darf hier von gemeineuropäischen Standards sprechen. Abschnitt 4 gilt den „objectifs à valeur constitutionnelle“. Man darf in der deutschen Sprache von objektiven Verfassungszielen oder Verfassungswerten sprechen. Der Entwurf bündelt hier mehrere Themen bzw. Werte, die wohl in der Regel nicht zu subjektiven Rechten erstarken (Art. 41 bis 45). Nur so kann die Systematik verstanden werden, da Art. 40 vorweg die justiziablen Rechte garantiert. Im Einzelnen: Art. 41 gibt jedem das Recht eine Familie zu gründen, der Staat soll über den Respekt vor dem Familienleben wachen. Abs. 2 verpflichtet ihn auf das „höhere Interesse des Kindeswohles“. Art. 42 garantiert das Recht auf Arbeit und verlangt vom Staat die Ausübung dieses Rechtes zu sichern. Art. 43 normiert den Behindertenschutz, ein Thema, das jüngst viele Verfassungen in Europa aufgreifen, zumal es in der UN-Konvention zum Behindertenschutz normiert ist. Weitgehend formuliert Art. 44 das soziale Grundrecht, wonach jedermann würdig leben kann und über eine angemessene Unterkunft verfügt. Die objektive Formulierung deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein justiziables subjektives Grundrecht handelt – eine gewisse Analogie besteht hier zu Schweizer Verfassungen (z. B. Art. 30 Abs. 2 KV 10 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, 3. Aufl. 1983, S. 234 ff., 422 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff.

VIII. Ein privater Verfassungsentwurf für Luxemburg

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Bern von 1993, Art. 41 Abs. 4 nBV Schweiz von 1999). Art. 45 in Sachen Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Bedürfnisse der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen sowie zum Wohlergehen der Tiere verdient ein wörtliches Zitat: „L’Etat garantit la protection de l’environnement humain et naturel, en œuvrant à l’établissement d’un équilibre durable entre la conservation de la nature, en particulier sa capacité de renouvellement, et la satisfaction des besoins des générations présentes et futures. Il promeut la protection et le bien-être des animaux.“

Die Tierschutzklausel findet sich bereits in der geltenden Verfassung (Art. 11 a Abs. 2 von 2007). Ähnliche Bestimmungen gibt es in der Schweiz (Art. 78 Abs. 3, 80 nBV Schweiz. Das Thema der Generationen im Kontext der Nachhaltigkeit ist ebenfalls in vielen neueren Verfassungen behandelt (z. B. Art. 31 Abs. 1 Satz 2 KV Bern). III. Staatsorganisatorische Bestimmungen Aus den staatsorganisatorischen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs seien nur wenige Stichworte behandelt: Art. 53 Abs. 2 bedient sich des Begriffs „öffentliches Interesse“ als Ziel der Tätigkeit des Staatschefs. Art. 63 verpflichtet die Mitglieder der Deputiertenkammer auf das „allgemeine Interesse“. Art. 68 Abs. 2 legt die Eidesformel der Abgeordneten fest und formuliert die Trias für die Aufgabenerfüllung wie folgt: „intégrité, exactitude, et impartialité“. Art. 86 Abs. 1 umschreibt den Auftrag der Regierung mit den Worten: „dirige la politique générale de l’Etat“. Damit ist ein Analogon zur Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers formuliert (Art. 65 Satz 1 GG). Art. 87 Abs. 3 übernimmt als Verpflichtung für die Regierungsmitglieder in ihrem Eid ebenfalls die schönen Worte: „intégrité, exactitude, et impartialité“. Es handelt sich um eine geglückte Bereicherung der typischen Eidesformeln in neueren Verfassungen. Ein Blick auf den Conseil d’Etat und die Justiz (Kap. 6 und 7). Art. 91 Abs. 1 legt die Voraussetzungen für eine präventive Normenkontrolle durch den Conseil d’Etat fest. Der genannte Prüfungsmaßstab ist dabei auffällig: nicht nur die Vereinbarkeit mit der Verfassung und den internationalen Verträgen, sondern auch die „juristischen Akte der Europäischen Union und die allgemeinen Prinzipien des Rechtes“ dienen als Prüfungsmaßstab. Die Kodifikation der letzteren ist bemerkenswert. Die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ werden heute zunehmend Gegenstand neuerer nationaler Verfassungen. Kapitel 7 über die Justiz verdient unter folgenden Gesichtspunkten eine Erwähnung. Art. 104 Abs. 3 ermächtigt den nationalen Justizrat Empfehlungen im Interesse einer „bonne administration“ zu formulieren. Damit ist die Idee guter Verwaltung gemäß Art. 41 EU-Grundrechte-Charta für die Justizverwaltung fruchtbar gemacht worden. Abschnitt 4 zu den „garanties du justiciable“ (Art. 105 bis 108), ins Deutsche zu übersetzen wohl mit „Justizgarantien“, schafft bemerkenswerte Textstufen: Art.104 legt die Öffentlichkeit der Rechtsprechung fest, Art. 106 verlangt für Ur-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

teile eine Begründung und die Verkündung in öffentlicher Sitzung, Art. 107 garantiert die Unparteilichkeit des Richters sowie „le caractère équitable et loyal ainsi que le délai raisonnable des procédures“. Art. 108 sagt, dass die Verfassungsbestimmungen den Verpflichtungen des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes nicht entgegenstehen. Damit ist wohl erstmals der Internationale Strafgerichtshof Thema einer nationalen Verfassung in Europa. Derartige „Wanderungen“ von internationalen Verfassungstexten in die nationalen Verfassungstexte sind nicht selten: sie dokumentieren die osmotischen Austauschverhältnisse, die sich heute zwischen nationalen und internationalen Texten nachweisen lassen, fast weltweit. Verfassungsvergleichung bezieht sich heute auf das nationale Verfassungsrecht und das Völkerrecht. Im Ganzen: Der Privatentwurf von Heuschling zeigt, was diese Wissenschaftsund Literaturgattung leisten kann. Er erreicht das hohe Niveau vieler Schweizer Privatentwürfe und bleibt ein wichtiges Dokument in Europa, unabhängig davon, wie erfolgreich er in Luxemburg ist bzw. sein wird.

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)* Vorbemerkung Als letzte Beispiele für neue nationale Verfassungen aus unserer Zeit seien zwei Dokumente aus Ägypten gewählt: die beiden Verfassungen von 2012 bzw. 2014. Es gibt in der Verfassungsgeschichte selten Beispiele dafür, dass eine Nation in so kurzem zeitlichem Abstand gleich zwei Verfassungen auf den Weg bringt. Wohl nur im großen Laboratorium der französischen Revolution von 1789 ff. (1791, 1793, 1795) ist dies geschehen. Beide Verfassungen Ägyptens sind aus Revolutionen bzw. Staatsstreichen mit nachfolgendem Plebiszit hervorgegangen. Mit großer Zuversicht hat man seit 2011 vom „Arabischen Frühling“ gesprochen1. Mittlerweile ist jedoch in vielen Ländern ein arabischer Herbst oder gar Winter eingekehrt: Syrien ist im Bürgerkrieg, der Jemen zerfällt, Gleiches gilt für Libyen. Große Ausnahme bleibt bislang Tunesien mit seiner in vieler Hinsicht schöpferischen Verfassung von 2014, die auch in der Verfassungswirklichkeit zu greifen scheint (dazu mein Beitrag in diesem Band). Speziell in Ägypten überschlugen sich die Ereignisse. Auf die Herrschaft des Hohen Militärrats folgen 12 Monate des ersten freigewählten, der Muslimbrüderschaft angehörenden Staatspräsidenten Muhammad Mursi2. Der Militärchef Al Sisi drängte aber schon im Juli 2013 durch einen Militärputsch diesen aus dem Amt. Das höchste ägyptische Verfassungsgericht hatte schon im Juni 2012 das Parlament aufgelöst, das am Ende des Revolutionsjahres 2011 gewählt worden war. Präsident M. Mursi regierte unter seiner Verfassung von 2012 ohne die legislative Gewalt und schaltete im November 2012 die Judikative aus. Unter dem neuen Präsidenten Al Sisi kam es bis heute zu Menschenrechtsverletzungen und Demokratiedefiziten sowie zu einer großen Zahl von Todesurteilen über die Muslimbrüder 3. Al Sisi regiert bis heute (Frühjahr 2015) ohne ein gewähltes Parlament4. Die erste (seinerzeit von einer verfassunggebenden Versammlung einstimmig verabschiedete) u. a. von * Erstveröffentlichung. 1 Dazu mein Beitrag: Der arabische Frühling (2011) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 605 ff. 2 Dazu FAZ vom 31. 03. 2015, S. 8. 3 Zuletzt FAZ vom 13. 04. 2015, S. 2: „Todesurteile in Ägypten“ (gegen Mitglieder der Muslimbrüderschaft). 4 Vgl. FAZ vom 10. März 2015, S. 5: „Ohne Parlament, Seit Tausend Tagen fehlt in Ägypten die erste Gewalt“.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

den Kopten kritisierte Verfassung stammt aus dem Jahre 2012 5 (unter Mursi), die zweite aus dem Jahre 20146 (unter Al Sisi). Mursi wurde am 21. April 2015 zu 20 Jahren Haft verurteilt7, später sogar zum Tode. Wie in diesem Werk oftmals hervorgehoben, verdienen selbst Verfassungstexte, die nicht zur Verfassungswirklichkeit gereift sind und bloß „auf dem Papier“ blieben, die Aufmerksamkeit der Wissenschaft, vor allem im weltweiten Vergleich. Denn solche Texte, einmal in der Welt, können mittel- oder langfristig gleichwohl vor Ort oder anderswo normative Kraft entfalten bzw. eine wichtige Etappe in der Verfassungsgeschichte des betreffenden Volkes darstellen. Da die ägyptische Verfassung von 2012 bereits zwei Jahre später von der neuen aus dem Jahr 2014 abgelöst wurde, könnte es zu dramatischen Fragen und Erkenntnissen kommen: Welche Themen hat der revolutionäre Wind geändert? Welche Texte wurden mehr oder weniger deutlich übernommen oder gar verändert (Wie sich z. B. am deutschen Grundgesetz im Verhältnis zur Weimarer Verfassung zeigt, sind spätere Texte oft eine dialektische Antwort auf die vorangehende Verfassung). Wirken manche Texte der alten (sozialistisch eingefärbten) Verfassung von 1971 / 80 nach? Gibt es konstitutionelle Kontinuitäten über revolutionäre Umbrüche hinweg? Solche und ähnliche Fragen seien im Folgenden wenigstens stichwortartig behandelt. Schon auf den ersten Blick verdienen die Präambeln beider Verfassungen ebenso Aufmerksamkeit wie die unterschiedlichen Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religionen sowie die Grundrechtskataloge oder der Schura-Rat und die unabhängigen Gremien von 2012. Es ist auch zu vermuten, dass an dem einen oder anderen Punkt ganz neue Verfassungstexte gelungen sind. Von Europa bzw. Deutschland aus lassen sich die personalen oder institutionellen Rezeptionsmittler beim Prozess der Verfassunggebung in Ägypten indes nicht ermitteln. Wohl aber können offenkundige oder geheime Vorbilder für den einen oder anderen Text beim Namen genannt werden. Dies fällt in diesem Band nicht ganz schwer, weil im Zweiten Teil zahlreiche neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe vergleichend behandelt worden sind: vom Kosovo über Ecuador, Kenia, Ungarn bis Island, Tunesien und einem privaten Entwurf für Luxemburg. „Wahlverwandtschaften“ bzw. Wanderungen der Verfassungstexte, heute weltweit, werden sichtbar, die universale Verfassungslehre wird möglich.

5 Dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassung_der_Republik_%C3%84gypten. Dieser Text ist heute online nicht mehr verfügbar. Der Verf. hat ihn sich 2013 gesichert. S. aber den Text in http://www.egyptindependent.com / news / egypt-s-draft-constitution-translated, Stand vom: 15. 4. 2015. 6 Dazu http://www.sis.gov.eg / Newvr / Dustor-en001.pdf. 7 FAZ vom 22. April 2015, S. 1.

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)

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I. Die ägyptische Verfassung von 2012 1. Die Präambel Vom Umfang und vom Inhalt her bildet die Präambel einen Schwerpunkt der Verfassung von 2012. Sie zieht sich über mehrere Seiten hin und ist sogar in 11 Abschnitte mit Zahlen gegliedert (so schon die Redaktionstechnik der alten Verf. von 1971 / 80 mit vier Gliederungsabschnitten in der Präambel und erstaunlich vielen Menschheitsbezügen). Die in der Bayreuther Antrittsvorlesung erstmals 1981 entfaltete Präambeltheorie des Verf., vielfach fortgeschrieben in späteren Publikationen8 (auch in diesem Band), findet in der Analyse dieses Präambeltextes ein reiches Anwendungsfeld. Präambeln gleichen, kulturwissenschaftlich betrachtet, Ouvertüren und Präludien in der Musik und Prologen in der Dichtung. Sie suchen in bürgernaher, aber zugleich festlicher, hoher Sprache die Beteiligten zu gewinnen, sie zeichnen die Staats- und Verfassungsgeschichte nach und entwerfen Zukunftspläne und sie fassen konzentriert den wesentlichen Inhalt der nachstehenden Texte vorweg zusammen. Das konstitutionelle Programm der späteren ägyptischen Verfassung von 2014 dürfte sich von dem der Verfassung von 2012 mindestens in Teilen als eine Art Gegenentwurf unterscheiden (so wie die neue von 2012 von der alten aus den Jahren 1971 / 80). Ob diese Vermutung zutrifft, kann erst die nachstehende Analyse im Einzelnen ergeben. Schon die ersten großen Sätze aus dem Jahr 2012 sind verfassungstheoretisch und verfassungsvergleichend bemerkenswert. Denn sie verknüpfen, wohl zum ersten Mal die berühmte Formel, „We, the people“ mit einer invocatio dei und einem zusätzlichen Gottesbezug in den Worten: „We, the people of Egypt, in the name of God and with the assistance of God, declare this to be.“ (Die alte Verf. von 1971 / 80 sagte in der Präambel: „Wir, das Volk Ägyptens“, und dies zweimal und fügte erst im letzten Absatz hinzu: „Im Namen und mit Hilfe Allahs“). Diese Textstufe von 2012 lässt, verglichen mit älteren Verfassungen eine bemerkenswerte Fortschreibung erkennen. Das US-amerikanische „We, the people“ geht mit dem verdoppelten Gottesbezug eine enge Synthese ein. Im Übrigen sind die ersten drei Absätze noch vor den durchnummerierten elf Prinzipien durch folgende Stichworte gekennzeichnet, die vor allem eine Art Narrativ bilden, d. h. die Jahrtausende alte Geschichte des Landes erzählen, vielleicht auch „umschreiben“ wollen: In den beiden Absätzen, die den elf Gliederungen der Präambel vorausgehen, finden sich in teilweise poetischer Sprache und in hoher Konzentration Elemente des Selbstverständnisses Ägyptens mit reichen Bezugnahmen auf dessen Kulturgeschichte, dessen Gegenwart und dessen Zukunft. Die Rede ist von der friedlichen Revolution am Tahrir Square am 25. Januar 2011 mit ihren gegen alle Formen der 8 Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 274 ff.; Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, S. 629 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Tyrannei gerichteten Zielen sowie von der Hoffnung auf ein an Freiheit, Gerechtigkeit und menschlicher Würde ausgerichtetes Leben. All diese Rechte werden als von Gott garantiert angesehen, „bevor“ sie in Verfassungen und universalen Menschenrechtserklärungen geschrieben worden sind (ein kühner Text!). Beschworen wird die ägyptische Geschichte und Zivilisation, die der Menschheit das erste Alphabet schenkte (strittig!), den Weg zum Monotheismus und das Wissen um den Schöpfer öffnete und den ältesten Staat an den Ufern des „zeitlosen Nil“ gründete. Fast dichterisch werden auch die Werte der „Bürgerschaft“ beschworen. Überdies wird der „frische Geist“ der Einheit aller Ägypter, Männer und Frauen beschworen, auch die Revolution des Volkes, die andauert (!) und auf einen modernen demokratischen Staat gerichtet ist, wobei Ägyptens geistige und soziale Werte gewahrt werden sollen und in den folgenden elf Prinzipien zum Ausdruck gelangen: Das erste Prinzip gilt der Souveränität des Volkes und dem Hinweis, dass alle Legitimation vom Volk kommt. Das zweite Prinzip befasst sich mit der Demokratie als Regierungssystem, mit einem friedlichen Wechsel der Macht, sowie dem politischen Pluralismus (dieses Bekenntnis zum Pluralismus ist bemerkenswert, war dies 2012 glaubhaft?). Das dritte Prinzip erklärt den Respekt vor dem Individuum zum „Eckstein der Nation“, wobei die Würde (des Individuums) als Ausdruck des nationalen Stolzes gewertet wird (auch die Präambel der alten Verfassung von 1971 / 80 beruft sich schon auf die Würde des Einzelnen). Frauen werden anschaulich als „Schwestern der Männer“ gekennzeichnet, ihre Mutterschaft wird betont. Sie werden (ganz neu) als „Hälfte der Gesellschaft“ charakterisiert. Der vierte Grundsatz garantiert die Freiheit der Bürger in allen Aspekten des Lebens. Die Freiheit wird als göttliches Prinzip gesehen und der Schöpfer „in the motion of the universe“ verstanden (ein Stück Poesie aus Religion im Verfassungsrecht!). Das fünfte Prinzip legt die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau fest. Das sechste Prinzip gilt der „rule of law“ als Basis der Regierung (die alte Verf. von 1971 / 80 spricht in einem eigenen Titel IV von „Hoheit des Rechts“, ähnlich die Präambel und Art. 73 S. 3). Betont wird auch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, deren Auftrag in der Verteidigung der Verfassung, der Verwirklichung der Gerechtigkeit und dem Schutz der Rechte und Freiheiten liegen soll (eine neue gute Textstufe). Das siebte Prinzip verschreibt sich dem Fortschritt und der Entwicklung eines modernen Ägyptens, wobei die Werte „Toleranz und Mäßigung“ hervorgehoben werden. Das achte Prinzip macht die Verteidigung des Landes zur Pflicht und Ehre (ähnlich schon Art. 58 alte Verf. von 1971 / 80). Die Streitkräfte sollen als nationale Institution neutral sein und sich nicht in politische Angelegenheiten einmischen (offensichtlich 2012 wichtig). Das neunte Prinzip garantiert die Sicherheit als großen Segen und betont erneut das Rahmenwerk für den Respekt vor der „rule of law“ und der menschlichen Würde. Das zehnte Prinzip beschwört die arabische Einheit (so wie die alte Verf. von 1971 / 80) und die Brüderlichkeit mit den Ländern des Niltales, sowie mit der muslimischen Welt und die Besonderheit der Lage Ägyptens auf der „Weltkarte“. Das elfte Prinzip hebt Ägyptens intellektuelle und kulturelle Pio-

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nierrolle hervor, auch das ägyptische Denken, seine Kunst und seine Kreativität, die schöpferische Freiheit und Sicherheit der Denker dank der Universitäten, wissenschaftlichen Zentren, der Presse und der Massenmedien, der nationalen Kirche und des Al-Azhar-Institutes mit seiner Geschichte als Hauptort der nationalen Identität, der arabischen Sprache und der islamischen Scharia sowie als ein „Leuchtturm für maßvolles aufgeklärtes Denken“. Nach diesen elf Prinzipien findet sich erneut das Wort „We, the people of Egypt“ sowie ein Hinweis auf das Gottvertrauen und die Verantwortungen gegenüber der Nation und der Menschheit. Zuletzt wird die Präambel zum integrierenden Bestandteil dieser Verfassung erklärt – solche Texte finden sich auch in manchen afrikanischen Verfassungen (z. B. Präambel letzter Absatz Verf. Burkina Faso von 1991 / 97, Präambel letzter Absatz Verf. Tschad 19979 – in Deutschland hatte das BVerfG im Grundlagenvertragsurteil der Präambel in Sachen Wiedervereinigungsauftrag normative Kraft beigelegt, E 36, 1). Die Präambel der alten Verfassung von 1971 / 80 („Verfassungserklärung“)10 beruft sich ebenfalls mehrfach auf „Namen und Hilfe Allahs“, die arabische Geschichte in Ägypten und die Menschheit (die Menschheit findet sich schon mehrfach in der alten Verfassung als Topos). Auch von der „Hoheit des Rechtes“ ist dort die Rede. Insofern besteht eine gewisse Kontinuität zwischen 1971 / 80 und 2012. Indessen ist diese Verfassungspräambel von 1971 / 80, wie die ganze Verfassung überhaupt stark durch den Sozialismus eingefärbt mit Stichworten wie „Werktätige unseres kämpfenden Volkes“, „werktätiges Volk“, „Sozialismus und Einheit“, „soziale Errungenschaften“. Im Ganzen lässt indes die neue Präambel von 2012 schon jetzt eine stark religiöse, auf den Islam fokussierte Tendenz erkennen. Es gibt aber, wie gezeigt, auch gewisse Kontinuitäten zur Vorgängerverfassung. Man darf gespannt sein, ob und inwieweit sich Wiederholungen in den nachstehenden Artikeln von 2012 im Verhältnis zur Präambel von 2014 erkennen lassen. Im Ganzen: In der Präambel von 2012 zeigen sich manche Längen, doch finden sich auch beachtliche Textbausteine, die den großen Ernst der damaligen Ratgeber ahnen lassen (auch die Präambel von 1971 / 80 arbeitet sehr aufwändig und ist etwas zu „beredt“). Offenbar gehören lange Präambeln zu den verfassungskulturellen Eigenheiten Ägyptens.

2. Staat und Gesellschaft Der erste Teil gilt „Staat und Gesellschaft“ (Art. 1 bis 30). Art. 1 umschreibt das Staatsverständnis und das Selbstverständnis der Arabischen Republik Ägypten, zum Teil in kulturgeographischer Sicht, d. h. in Stichworten wie „its system (is) de-

9 Zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassung der frankophonen und lusophonen Staaten, 1997. 10 Zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

mocratic, part of the Arab and Islamic nations, proud of belonging to the Nile Valley and Africa and of its Asian reach, a positive participant in human civilization“. Art. 2 definiert den Islam als „Staatsreligion“ und erklärt das Arabische zur offiziellen Sprache (ebenso schon Art. 2 Verf. 1971 / 80). Hinzugefügt ist der zentrale Satz: „Principles of Islamic Sharia are the principal source of legislation“. Dies ist eindeutig und muss im Zusammenhang einerseits mit Art. 4, andererseits mit Art. 219 gelesen werden. Art. 4 hebt nämlich die Universität Al-Azhar als unabhängige islamische Institution hervor, deren Gelehrte in Angelegenheiten des islamischen Rechts konsultiert werden sollen. Damit ist schon an dieser Stelle der Islam institutionell verankert. Art. 219 formuliert mit großem Nachdruck die besondere Textstufe: „The principles of Islamic Sharia include general evidence, foundational rules, rules of jurisprudence, and credible sources accepted in Sunni doctrines and by the larger community“.

An dieser Stelle kann auf die Diskussionen zur Sharia und zum islamischen Gesetz sowie der großen Rolle islamischer Schriftgelehrter nicht eingegangen werden.11 Nur die Textstufe sei als solche gewürdigt, da sie durch die genannten Artikel sehr viel aussagt. Vor allem ist die Sharia nicht eine Quelle von vielen Gesetzen, sondern die Hauptquelle (vgl. schon Art. 2 alte Verf. Ägyptens von 1971 / 80: „Die Prinzipien der Scharia sind die Hauptquelle der Gesetzgebung“). In diesen Kontext gehört auch die getrennte Behandlung der ägyptischen Christen und Juden. Deren auf den persönlichen Status bezogenen „canon principles“ sind immerhin als Hauptquelle für ihre religiösen Angelegenheiten genannt (Art. 3). Dieser separate Schutz der Christen und Juden in der stark islamischen Verf. von 2012 bleibt bemerkenswert. Ob er in der Verfassungswirklichkeit tatsächlich greift oder zu greifen begann (s. auch den Nachfolgetext Art. 3 in der Verf. von 2014), kann von hier aus nicht beurteilt werden. Von den übrigen Artikeln zu den politischen Prinzipien seien nur noch folgende erwähnt: Art. 5 regelt die Volkssouveränität, Art. 6 formuliert eine Vielzahl von Prinzipien, die als Elemente des politischen Systems Ägyptens gelten dürfen: die Demokratie, der Schura-Rat, die Staatsbürgerschaft, der Mehrparteienpluralismus (ebenso schon Art. 5 S. 2 Verfassung von 1971 / 80), der friedliche Übergang der Macht, Teilung und Gleichgewichtung der Gewaltung, die rule of law und der Respekt für Menschenrechte und Freiheiten. Verboten wird jede Diskriminierung nach Geschlecht, Herkunft oder Religion bei den politischen Parteien. Art. 7 macht die Verteidigung des Vaterlandes zur heiligen Pflicht (ebenso schon Art. 58 Verf. von 1971 / 80). Art. 8 ist aus mehreren Gründen aufschlussreich: Er verpflichtet den Staat auf die Gerechtigkeit, die Gleichheit und die Freiheit, sodann darauf, die Wege zur sozialen Wohltätigkeit zu ermöglichen sowie zur Solidarität für Mitglieder der Gesellschaft (Art. 7 Verf. 1971 / 80 lautete: „Soziale Solidarität ist die Grundlage der Gesell11

Dazu aus der Lit.: M. Rohe, Das islamische Recht, 3. Aufl. 2011. S. noch unten Anm. 18.

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)

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schaft“). Es folgen weitere Orientierungswerte für den Schutz von Personen und das Eigentum sowie der Arbeit für alle Bürger. Die Verfassung fügt den geradezu sensationellen Text hinzu: „all within the context oft the law“. Damit ist die Kontextthese von 1979 / 2002 zu einem verfassungstextlichen Begriff geronnen12, und zwar in ganz neuem Zusammenhang13: beim Verweis auf das ausführende Gesetz zu bestimmten Sachthemen. Nur in Stichworten seien die letzten Artikel vermerkt: die Staatsaufgabe in Sachen sozialer Sicherheit (Art. 9), die Qualifizierung der Familie als Grundlage der Gesellschaft, wobei sie auf Religion, Moral und Vaterlandsliebe beruhen soll, die staatliche Absicherung der Gesundheit von Mutter und Kind und die Vereinbarkeit der Pflichten als Frau für Familie und Arbeit. Auffallend ist auch die staatliche Verpflichtung auf Schutz für weibliche Alleinverdiener, geschiedene Frauen und Witwen – eine bemerkenswerte Fürsorgepflicht des Staates, die sich wohl aus dem islamischen Denken herleiten lässt, das auch an dieser Stelle seine Ausstrahlungskraft auf die Verf. von 2012 erkennen lässt. Nicht weniger bemerkenswert ist Art. 11, der nach wissenschaftlichen Maßstäben Erziehungsziele und Orientierungswerte14 in folgenden Worten miteinander verbindet: „The State shall safeguard ethics, public morality and public order, and foster a high level of education and of religious and patriotic values, scientific thinking, Arab culture, and the historical and cultural heritage of the people; all as shall be regulated by law“.

Diese Verfassungstexte wären wohl allmählich ein großes Eingangstor für islamisches Denken geworden, wenn die Verfassung von 2012 in Kraft geblieben wäre. Art. 12 formuliert wiederum einen Verfassungsauftrag bzw. ein Staatsziel, insofern er dem Staat die Aufgaben stellt, die „cultural and linguistic constituents of society“ zu gewährleisten und die Arabisierung der Erziehung, Wissenschaft und Kenntnisse zu fördern – ein Stück „verfasster Gesellschaft“. Unter den ökonomischen Prinzipien (Art. 14 bis 30) figurieren viele Staatsziele, etwa die nachhaltige Entwicklung (!), die Eliminierung von Armut und Arbeitslosigkeit, der Schutz von Verbraucherrechten (dies ist eine neue Textstufe), die Rechte von Arbeitern, der gerechte Ausgleich von Kapital und Arbeit sowie ein Mindestlohn, der einen angemessenen Lebensstandard sichern soll (Art. 14). Die weiteren Themen seien nur angedeutet, etwa die Förderung der Landwirtschaft (Art. 15), der 12 Dazu aus der Lit.: P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff. sowie ders., Die Verfassung im Kontext, in: D. Thürer u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff. Klassisch Art. 17 CIC (1983): „significationem in textu et contextu consideratam“. 13 Nachweise zu anderen Erscheinungsformen des Begriffs „Kontext“ in: P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013, S. 320 u. ö. 14 Dazu vom Verf.: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Bevölkerung in der Wüste (Art. 16) und der Industrie (Art. 17). Hervorgehoben sei Art. 18, gemäß dem die natürlichen Ressourcen des Staates so behandelt werden sollen, dass sie auch für zukünftige Generationen erhalten bleiben. Diese neue Textstufe von 2012 denkt also an eine prozessual zu findende Gerechtigkeit zwischen den Generationen, die auch an anderer Stelle im Blickfeld des Verfassunggebers von 2012 stehen (vgl. Art. 63). Bemerkenswert ist Art. 26 Abs. 1, der die soziale Gerechtigkeit zur Grundlage des Steuerwesens macht (ebenso schon Art. 38 Verf. von 1971 / 80). Auffällig erscheint dem ausländischen Betrachter Art. 28, der zum Sparen ermutigt (vgl. schon Art. 39 Verf. 1971 / 80). An mehreren Stellen erscheint auch der Topos „öffentliches Interesse“ als Grenze für das private Eigentum (Enteignung) oder die Nationalisierung (Art. 24 Abs. 1 bzw. Art. 29, vgl. schon Art. 35 Verf. 1971 / 80).

3. Rechte und Freiheiten Dieser Teil ist sorgfältig redigiert (Art. 31 bis 81), auch gegliedert. Formal und inhaltlich befindet er sich auf dem Standard heutiger Verfassungstextkunst. Freilich gibt es manche Wiederholungen im Verhältnis zur oben analysierten inhaltlich überfrachteten Präambel. Erwähnt sei die Garantie des Schutzes der Menschenwürde jedes menschlichen Wesens (Art. 31), die Gleichheit aller Bürger (Art. 33), die Qualifizierung der individuellen Freiheit als „natürliches Recht“ (Art. 34). Viel Zustimmung verdient die ausdrückliche Garantie der Menschenwürde für Personen in Untersuchungshaft (Art. 36) sowie im Gefängnis (Art. 37) – alte Verfassungsstaaten mussten dies durch Wissenschaft und Rechtsprechung erarbeiten. Gleiches gilt für das ausdrückliche Verbot des Organhandels (Art. 41). Damit ist eine neue Textstufe geschaffen, die sich sonst wohl derzeit in der Welt noch kaum findet – dies ist m. E. wegweisend, denn der Organhandel sollte nicht Gegenstand der Marktwirtschaft sein. Eine ägyptisch-arabische Eigenart bildet Art. 44, der die Beleidigung oder den Missbrauch aller religiöser Botschafter und Propheten verbietet („Insult or abuse of all religious messengers and prophets shall be prohibited“). Weitreichend ist die Garantie der Freiheit des Denkens (Art. 45), der Freiheit des Schöpferischen (Art. 46) und des freien Zugangs zu allen Staatsinformationen (Art. 47). Nach Art. 48 sollen die Medien die verschiedenen Richtungen in der öffentlichen Meinung zum Ausdruck bringen, dies in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien von Staat und Gesellschaft und mit den Rechten, Freiheiten und öffentlichen Pflichten – schon die alte Verf. von 1971 / 80 bemühte sich um einen ähnlichen Medien-Artikel (Art. 207). Die weiteren Artikel machen die bürgerschaftliche Partizipation im öffentlichen Leben zu einer nationalen Pflicht (Art. 55), was so freilich fragwürdig ist (man erinnere sich positiv der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages von 2002: „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“). Hingegen verdient die Verpflichtung des Staates zur Fairness, Unparteilichkeit und Integrität bei Referenden und

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Wahlen Zustimmung (Art. 55 Abs. 3). Eine Besonderheit verbirgt sich in Art. 56. Er befasst sich mit den Auslandsägyptern, deren Rechte und Freiheiten, aber auch Pflichten der Staat schützen soll und die zu einem Beitrag zur Entwicklung der Nation ermutigt werden sollen. Hier dürfte es sich in Ägypten um eine neue Textstufe handeln. Unter den ökonomischen und sozialen Rechten (Art. 58 bis 73) seien nur wenige Regelungen erwähnt. Ebenso neu wie auffallend ist Art. 58 Abs. 2, der wohl erstmals in einer Verfassung für die Ausgaben in Sachen Erziehung dem Staat einen bestimmten Teil des Bruttosozialprodukts auferlegt („a sufficient ratio of the GDP“). Auch die Ausgaben für die autonomen Universitäten, Akademien und Forschungszentren sollen mit einem genügenden Prozentsatz des Bruttosozialprodukts unterstützt werden (Art. 59). Man wird gespannt sein dürfen, ob sich das Bruttosozialprodukt als Thema neuerer Verfassungen auch in anderen Ländern durchsetzt (siehe auch Art. 62, der speziell in Sachen Gesundheit jedes Bürgers vom Staat die Ausgabe eines genügenden Prozentsatz des Bruttosozialprodukts verlangt – eine gute Textstufe). Auf den ersten Blick fragwürdig ist Art. 60 Abs. 1, insofern er religiöse Erziehung und die Nationalgeschichte zum Kernthema voruniversitärer Erziehung in allen Formen macht. Auch der in Art. 60 Abs. 2 angeordnete Ethikunterricht an Universitäten für die verschiedenen Disziplinen könnte ein fragwürdiges Tor für eine allgemeine Islamisierung (gewesen) sein. Nur wenige Themen der folgenden Artikel seien noch genannt: Art. 64 Abs. 1 macht die Arbeit zu Recht, Pflicht und Ehre für jeden Bürger (s. schon Art. 13 Abs. 1 Verf. 1971 / 80), die übrigen Absätze sichern die sozialen Rechte von Arbeitern bis hin zum friedlichen Streik. Art. 65 nimmt sich der Märtyrer und Kriegsverwundeten der Revolution des 25. Januar an, auch ihrer Familien (vgl. Art. 15 Verf. 1971 / 80 für Kriegsveteranen). Art. 68 macht angemessenen Wohnraum, sauberes Wasser und Gesundheit zu „given rigths“ – eine geglückte Formulierung. Auch in diesem Kontext ist an das öffentliche Interesse und die „Rechte künftiger Generationen“ gedacht. Sozialen Schutz garantieren auch die folgenden Art. 69 bis 73, etwa das Recht auf sportliche Betätigung, die Schutzrechte zugunsten von Kindern (Art. 70 und 71), von Behinderten (Art. 72) – Letzteres dürfte auch eine Konsequenz der UN-Konventionen sein. Ausdrücklich verboten ist „sex trafficking“ (Art. 73). Eine eigene Würdigung verdienen die Art. 74 bis 81 zu den Garantien zum Schutz der Rechte und Freiheiten. Hier finden sich bemerkenswerte Textstufen, die mit großer Sorgfalt verfasst sind und den Anschluss an die Regelungen der jüngsten westlichen Verfassungen suchen. Dies beginnt schon mit Art. 74. Er lautet: „Sovereignty of the law shall be the basis of rule in the State. The independence and immunity of the judiciary are two basic guarantees to safeguard rights and freedoms.“

Der Text könnte nicht konzentrierter sein, zumal ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der unabhängigen Gerichtsbarkeit (s. noch Art. 168 bis 173) und dem

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Schutz der Rechte und Freiheiten hergestellt ist. Man mag allenfalls die Verwendung des Begriffs „Souveränität des Gesetzes“ in Frage stellen. Im Verfassungsstaat gibt es keine derartige Souveränität. Die folgenden Artikel 75 bis 78 regeln die justiziellen Grundrechte sehr genau bis ins Einzelne und bis zum Recht auf Verteidigung. Art. 79 Satz 1 sieht vor, dass Urteile „im Namen des Volkes“ ergehen. Diese auch sonst bekannte Formel sei ausdrücklich hervorgehoben15. Art. 80 Abs. 1 regelt eine Garantie für faire Kompensation zugunsten der Opfer einer Straftat (vgl. schon Art. 57 Satz 2 Verf. von 1971 / 80). Abs. 2 ebd. etabliert eine wohl neue besondere Sicherung dieser Rechte durch den eigens geschaffenen nationalen Rat für Menschenrechte. Wie sorgsam der ägyptische Verfassunggeber von 2012 mit den Grundrechten und Freiheiten umgeht, zeigt Art. 81 Abs. 2 in den Worten: „No law that regulates the practice of the rights and freedoms shall include what would constrain their essence“.

Damit setzt die grundrechtliche Wesensgehaltgarantie, in der Verfassungssprache der Schweiz: die Garantie des „Kerngehalts“ der Grundrechte, ihren fast weltweiten Siegeszug fort16. Diese Garantie erweist sich heute als textlicher Baustein einer universalen Verfassungslehre. Die ägyptische Vorgängerverfassung von 1971 / 80 kannte eine solche Wesensgehaltsgarantie noch nicht.

4. Der Schura-Rat (Teil III, Kap. 1) Unter den staatsorganisatorischen Bestimmungen verdient der neue Schura-Rat eine eigene Behandlung. Denn die Verf. von 1971 / 80 kannte ein solches Organ nur mit beratender Kompetenz (Teil VII, Art. 194 bis 205). Die Verf von 2012 hingegen stellt im Rahmen der Legislative dem Repräsentantenhaus den Schura-Rat als selbstständiges und gleichgewichtiges Organ zur Seite. Art. 82 Abs.1 lautet eindeutig: „The legislative power shall consist of the House of Representatives and the Shura Council.“

In den einschlägigen Artikeln (Art. 82 bis 131) sind beide Teile der Legislative durchweg gleichberechtigt behandelt. Zum Beispiel spricht Art. 131 Abs. 2 von „both legislative Houses“ (ähnlich Art. 90 Abs. 1 und Art. 92). Über den SchuraRat (Art. 128 bis 131) sollte wohl nach dem Willen des Verfassunggebers vor allem die am Islam ausgerichtete Politik Eingang finden. Der Präsident der Republik Ägypten kann bis zu einem Zehntel der insgesamt 150 gewählten Mitglieder ernennen (Art. 128). Ein Kandidat für den Schura-Rat muss einen Hochschulabschluss haben und mindestens 35 Jahre alt sein (Art. 129 Abs.1). Es handelt sich um eine echte Zweite Kammer mit besonderen Qualifikationsanforderungen an die Mitglie15 16

Zu dieser Problematik mein Beitrag in FS Zagrebelsky (2015) in diesem Band, S. 88. Dazu meine Nachweise in: Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff.

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der. Die Kompetenzen reichen weit (z. B. beim Einbringen von Gesetzesvorschlägen nach Art 102, bei der Bestimmung eines Themas der Tagesordnung in einer öffentlichen Diskussion gemäß Art. 106). Dieser Schura-Rat bleibt für die Wissenschaft interessant, obschon er wohl in der Praxis wegen der kurzen Geltungsdauer der Verf. von 2012 kaum tätig geworden sein dürfte und vor allem deshalb, weil die spätere Verf. von 2014 ihn gerade nicht mehr vorsah, auch nicht als beratendes Organ. 5. Der Präsident der Republik Ägypten und das Kabinett (Teil III Kap. 2) Von den Regelungen zu Status und Funktionen des Präsidenten der Republik (Art. 132 bis 135) sei nur Weniges erwähnt. Auffallend ist seine Aufgabe, die „Interessen des Volkes“ und die Gewaltenteilung zu beachten (Art. 132). Wichtig ist Art. 133 Abs. 1, der ausdrücklich nur eine Wiederwahl zulässt (s. auch Art 226). Dies ist eine offenkundige Abwendung von den Zeiten eines Anwar as-Sadat (der übrigens 1981 von Islamisten ermordet wurde) und von Muhammad Husni Mubarak. Denn die Vorgängerverfassung von 1971 / 80 ließ ausdrücklich die Wiederwahl für „weitere Amtsperioden“ zu (Art. 77 Satz 2). Der vor dem Schura-Rat zu leistende Amtseid des vom Volk direkt gewählten Präsidenten richtet sich bei seiner religiösen Beteuerung in Bezug auf den allmächtigen Gott und u. a. darauf, die „Interessen des Volkes“ zu wahren und die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Mutterlandes zu schützen (Art. 137). Der Staatspräsident hat im Übrigen recht weitgehende Funktionen (z. B. beim Regierungsprogramm: Art. 139). Die Regelungen zu Regierung und Kabinett (Art. 155 bis 167) verdienen insofern Aufmerksamkeit, als Art. 159 einen ausführlichen Katalog zu den Regierungsaufgaben vorsieht („public policy of the State“), etwa die Vorbereitung von Entwürfen von Gesetzen und Verordnungen, des Budgets, des ökonomischen und sozialen Entwicklungsplans und des Schutzes der Rechte der Bürger (ähnlich schon Art. 156 Verf. von 1971 / 80). 6. Das Verfassungsgericht (Teil III Abschnitt 4) Der Verfassungsgerichtshof (Art. 175 bis 178), Teil der „Judicial Authority“, soll ausschließlich die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen vornehmen (weitergehend: Art. 175 Verf. von 1971 / 80). Er besteht aus dem Präsidenten und zehn Mitgliedern. Der Staatspräsident soll Gesetzesentwürfe, die die politischen Rechte und die Wahlen des Staatspräsidenten sowie der gesetzgebenden und örtlichen Körperschaften betreffen, vorher dem Verfassungsgericht vorlegen (vorbeugende Kontrolle). Im Übrigen wird auf ausführende Gesetze verwiesen. Erwähnenswert ist, dass bei den nachfolgenden Texten zu gerichtlichen Körperschaften (Art. 179 bis 187) Art. 181 den juristischen Berufsstand als „free profession and a cornerstone of justice“ definiert.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

7. Unabhängige Gremien bzw. Behörden (Teil IV) Eine besondere Note der Verf. von 2012 liegt in der Schaffung zahlreicher unabhängiger Gremien und Behörden (Art. 200 bis 216). Auf vielen Politikfeldern richtet die Verfassung solche Institutionen ein. Ihnen wird juristische Persönlichkeit, Neutralität und Autonomie zugesprochen. Sie sollen sich um die Entwürfe von Gesetzen und Verordnungen kümmern, die sich auf ihre Arbeitsfelder beziehen (Art. 200). Auch hier ist der Schura-Rat eingeschaltet (Art. 201 und 202). Es handelt sich um folgende Einrichtungen: die nationale Anti-Korruptionskommission (Art. 204), mit Transparenzgeboten, die Zentralbank (Art. 206), den Wirtschaftsund Sozialrat mit der Aufgabe, den sozialen Dialog zu verstärken (Art. 207), die nationale Wahlrechtskomission (Art. 208 bis 210), die hohe Behörde für Stiftungsfonds (Art. 212) und vor allem „The Supreme Authority for Heritage Conservation“ (Art. 213). Hier finden sich hoch differenzierte Textstufen in Sachen kulturelles Erbe. Die Verf. von 2012 kann hier mit den meisten neueren Verfassungen z. B. in Lateinamerika oder Afrika konkurrieren. „The Supreme Authority for Heritage Conservation shall regulate the means of protecting the cultural and architectural heritage of Egyptians, supervises its collection and documentation, safeguards its assets, and revives awareness of its contributions to human civilization. This Authority shall undertake the documentation of the 25th of January Revolution.“

Dieser Text greift schon in der Präambel formulierte Anliegen auf und schafft die neue Textstufe von der „Wiederbelebung des Bewusstseins“ der ägyptischen Beiträge zur menschlichen Zivilisation. Damit ist sowohl ein Erziehungsziel als auch ein Orientierungswert formuliert und die Menschheit in den Blick genommen. Weitere Arbeitsfelder der Behörden bzw. Gremien sind der nationale Erziehungsund Wissenschaftsrat (Art. 214), der nationale Medienrat (Art. 215), dieser sogar mit einem allgemeinen Pluralitätsgebot (das an europäische Regelungen erinnert) und dem Auftrag, die Werte und Traditionen der Gesellschaft zu beachten. All dies sollte die vergleichende Verfassungslehre ernst nehmen.

8. Die Schluss- und Übergangsbestimmungen (Teil V) Wie an anderer Stelle vom Verfasser nachgewiesen, enthalten die Schluss- und Übergangsbestimmungen in staatlichen Verfassungen oft besonders wichtige Regelungsthemen.17 Dies zeigt sich auch bei der Gestaltung des letzten Teils der ägyptischen Verf. von 2012. Zunächst wird das Verfahren der Verfassungsänderung behandelt (Art. 217 und 218), wobei beide Häuser, also auch der Schura-Rat eingeschaltet sind und ein öffentliches Referendum verlangt wird. Sodann finden sich all17 Dazu P. Häberle, Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlußbestimmungen als typisches verfassungsstaatliches Regelungsthema und -instrument, in: FS für Martin Lendi, 1998, S. 137 ff.

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gemeine Vorschriften: die schon gewürdigte, konstitutionelle Legaldefinition der „Prinzipien der islamischen Sharia“18 (Art. 219) sowie der Hauptstadtartikel (Art. 220: Kairo). Art. 221 befasst sich mit den Staatssymbolen: der Nationalflagge, dem staatlichen Wappen etc. und der Nationalhymne19. Für all dies wird auf ein Gesetz verwiesen. Ähnlich war schon die alte Verf. von 1971 / 80 vorgegangen, die neue jetzt geltende Verf. von 2014 definiert demgegenüber sehr genau die ägyptische Flagge (Art. 223 S. 1). Ein Verfassungsgeber sollte sich heute die Festschreibung der legitimierenden Staatssymbole nicht nehmen lassen. Sie sind rationale und emotionale „Konsensquellen“. Art. 223 Abs. 2 erlaubt unter bestimmten Bedingungen (Zweidrittelmehrheit des Repräsentantenhauses) rückwirkende Gesetze mit Ausnahme von Straf- und Steuerrecht. Schließlich verlangt Art. 229 Abs. 2, dass das Repräsentantenhaus zu 50 Prozent von Bauern und Arbeitern repräsentiert wird – ein mutiges, in europäischen Ländern kaum erfüllbares Gebot! Irritierend ist Art. 232. Er legt fest, dass Führer der aufgelösten Nationalen Demokratischen Partei für die Dauer von zehn Jahren bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ausgeschlossen sind. Hier zeigen sich die vermeintlichen Sieger der Revolution von 2011 in aller Härte (zeitlich begrenztes Berufsverbot). Im Ganzen: Die ägyptische Verfassung von 2012 ist textlich besser als ihr Ruf, sie sollte in der verfassungsvergleichenden Wissenschaft nicht vergessen werden. Während die alte Verf. von 1971 / 80, wie gezeigt, deutlich sozialistisch eingefärbt war, enthält die Verf. von 2012 viele Textbausteine, die sich in der heutigen universalen Werkstatt des Verfassungsstaates durchaus sehen lassen können. Freilich ist zu berücksichtigen, dass wohl nur eine in Jahren real werdende Geltung der Texte von 2012 hätte beweisen können, dass die islamfreundlichen Artikel in der Realität nicht doch alles überwuchern. Der Schura-Rat ist ein deutlicher Akzent in Richtung Islamisierung, dessen Intensität jedoch nur die Verfassungswirklichkeit hätte belegen können. Manche Aussagen der nach europäischem Maßstab viel zu ausschweifenden, aber sprachmächtigen Präambel bleiben bemerkenswert. Die überfrachtete Präambeltechnik scheint freilich eine verfassungskulturelle Eigenart der ägyptischen Tradition zu sein. Im Übrigen halten sich Innovation und Tradition die Waage: Die alte Verf von 1971 / 80 wird 2012 in Teilen durchaus rezipiert, in anderen radikal abgeschafft bzw. neu geschrieben. Ein ganzes Bild der ägyptischen 18 Diese verfassungsrechtliche Scharia-Klausel dürfte mindestens in Übereinstimung mit oder gar in Wahlverwandtschaft zur islamischen Rechtswissenschaft stehen. Diese kennt, nach der Habilitationssschrift von B. Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, 2002, S. 188 ff., 415 ff., vier Rechtsquellen: Koran, Sunna, Konsens der Rechtsgelehrten und Analogieschluss. Man darf fragen, ob bei der Redaktion von Art. 219 die ägyptischen Schriftgelehrten beteiligt waren und wie parallele Klauseln in anderen islamischen Verfassungen unserer Zeit aussehen. 19 Dazu meine Tetralogie: Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2. Aufl., 2013; Nationalflaggen, 2008; Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Kunst der Verfassungsgebung und ihrer harten Arbeit an Texten und Begriffen lässt sich freilich erst auf dem Hintergrund der neuen Verf. von 2014 gewinnen. Als teilnehmender Beobachter aus Europa über das „mare nostrum“ (das heute ein europäisches Meer ist) hinweg sollte man jedoch schon jetzt seinen Respekt vor den konstitutionellen Textstufen in Ägypten zum Ausdruck bringen. Wer die höchst sachkundigen Berater in Kairo waren, ist dem Verf. leider nicht bekannt.

II. Die ägyptische Verfassung von 2014 Vorbemerkung Schon bisher kamen manche Neuerungen und manche Traditionen der Verfassung der ägyptischen Republik von 201420 ins Blickfeld. Im Folgenden steht diese neue Verfassung ganz im Mittelpunkt – oft auf dem Hintergrund eines Vergleiches mit den beiden Vorgängerverfassungen. Schon vorweg sei gesagt, dass es 2014 um eine Totalrevision ging und geht. Dem Geist und dem Buchstaben nach wurde trotz einiger Kontinuitäten nämlich viel geändert. Leider ist dem Verf. nach wie vor nicht bekannt, wer den Verfassungsgeber wissenschaftlich beraten hat. Zu vermuten sind Kenner der weltweiten Entwicklungen des Typus Verfassungsstaat, aber auch ägyptische Gelehrte und Schriftgelehrte vor Ort. Auch bei der neuen Verfassung von 2014 lässt sich die These belegen, dass es heute eine universale Werkstatt in Sachen Verfassungsstaat gibt, Wanderungen der Texte, Klassikertexte und der Grundsatzurteile von Gerichten aus aller Welt zu beobachten sind – trotz aller Besonderheiten, die die jeweilige nationale Identität vor Ort auszeichnet. Obwohl heute in Ägypten die Verfassungswirklichkeit weithin nicht verfassungstextkonform ist und Menschenrechtsverletzungen unter dem Machthaber Al Sisi ebenso offenkundig sind wie Demokratiedefizite: die Texte bleiben für die Wissenschaft aussagekräftig (Normenkomplexe als „gefrorene Wissenschaft und Judikatur“).

1. Die Präambel Wie bereits erwähnt, gehören ausführliche Präambeln offenbar zur ägyptischen Verfassungskultur. Die neue Präambel von 2014 zeichnet sich formal durch ihre Überlänge aus, in manchen Passagen ist der Text fast poetisch und inhaltlich von viel Idealismus getragen. Oft handelt es sich um beinahe rhythmische Texte. In dieser Präambel spiegelt sich die Kulturgeschichte Ägyptens, es finden sich aber auch sehr bewusste Aussagen zur besonderen Geschichtsdeutung aus der Entstehungszeit vor Ort als „historische Wahrheit“. Da die Präambel fast abundant ist und viele Themen der späteren Artikel vorwegnimmt, kommt es insgesamt zu Wiederholungen. Diese seien später im Einzelnen beim Namen genannt. Die Präambel dürfte von den 20

Confinder.richmond.edu.

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Urhebern bewusst für Schulen und Universitäten als Lehr- bzw. Lernmaterial bestimmt sein. Ob ihre eigenwilligen Akzente mittel- und langfristig trotz der Militärdiktatur von Al Sisi Akzeptanz finden und zu einem nationalen Konsens führen, kann heute noch nicht gesagt werden. Die Analyse der Präambel von 2014 ist aber auch deshalb so wichtig, weil Art. 227 der Verfassung sie zum „integrierenden“ Bestandteil des Textes macht, wobei beides als „unteilbares Ganzes“ zu lesen ist und ihre Regelungen als eine „kohärente Einheit“ qualifiziert werden. Damit ist die Präambel zum normativen Text gemacht, was bekanntlich in anderen Verfassungsstaaten wie in Deutschland erst die Verfassungsgerichte leisten mussten (Stichwort: Grundlagenvertragsurteil des BVerfG E 36, 1). Im Einzelnen: Die Präambel wird eröffnet durch eine invocatio Allahs. Erstmals wird dieser hier mit gleich zwei Adjektiven ausgezeichnet: „Most Gracious, Most Merciful“. Die folgenden drei Seiten beginnen dann mit dem fast dichterischen Satz: „Egypt is the gift of the Nile for Egyptians and the gift of Egyptians to humanity“. Damit ist sogleich in der ersten Aussage ein Menschheitsbezug formuliert. Weitere kulturgeographischen Festlegungen folgen: Ägypten ist das „arabische Herz der Welt“, es ist der „Treffpunkt der Weltzivilisationen und Kulturen“ und die „Straßenkreuzung der maritimen Transporte und Verbindungen“. Es ist das Haupt Afrikas am Mittelmeer und die Flussmündung ihres größten Flusses, des Nils. Im nächsten Absatz wird Ägypten als unsterbliches „Homeland für Ägypter“ charakterisiert und als „Botschaft des Friedens und der Liebe zu allen Völkern“ gekennzeichnet. Hier darf man mit Fug und Recht vom besonderen „Klang“ der Präambel sprechen. Im dritten Absatz der (nicht wie in den Vorgängerverfassungen in Zahlen gegliederten) Präambel folgt eine Skizze der Geschichte. Stichworte sind die „Morgendämmerung des menschlichen Bewusstseins“, die „großen Vorfahren“, der erste Zentralstaat, der das Leben der Ägypter an den Ufern des Nils organisierte, die „erstaunlichen Wunder der Zivilisation“ und der Text „Where their hearts looked up to heavens before earth knew the three Abrahamic religions“ – in diesem schönen Satz spiegelt sich die Möglichkeit einer „abrahamitischen Ökumene“, wie es sie in einem recht kurzen Moment der Geschichte dort gab21 und in Zukunft vielleicht geben kann. Dieser Text kann gar nicht hoch genug geschätzt werden, da er die drei Buchreligionen gleichzeitig ehrt (damit ist auch ein Gegentext zur Verfassung von 2012 geschaffen). Im folgenden Absatz sind wiederum die drei Offenbarungsreligionen genannt und noch genauer beschrieben. Zuerst wird der Prophet Moses erwähnt, zu dem Allah sprach und auf dem die Offenbarung Allahs am Berg Sinai dessen Herz erfüllte und die göttliche Botschaft sandte. Sodann wird – man glaubt es kaum – die Jungfrau Maria und das Jesuskind zitiert, wobei an die Tausende von Märtyrern der Kirche Christi erinnert wird, mit dem Zusatz: „Friede sei mit ihm“. Der nächste Absatz gilt dem Propheten Mohammed („Frieden und Segen sei mit ihm“). Gemäß der Präambel wurde er zu der ganzen Menschheit gesandt, um die Moral, die Herzen 21 Dazu aus der Lit.: Ayad Al-Ani, Araber als Teil der hellenistisch-römischen und christlichen Welt. Von Alexander den Großen bis zur islamischen Eroberung, 2014.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

und den Geist dem „Licht des Islam“ zu öffnen. Die Rede ist von der Verbreitung der Botschaft der Wahrheit und der „Wissenschaften der Religion“ über die Welt. Damit kommen in der Präambel alle drei Weltreligionen zu Wort. Auch die Christen, d. h. Kopten können sich wohl mit einem solchen Verfassungstext anfreunden. Die folgenden Absätze lesen sich fast wie eine historische Abhandlung bzw. Geschichtsdeutung. In Bezug auf das moderne Zeitalter wird speziell vom Gründer des ägyptischen Staates Mohammed Ali gesprochen, auch wird mit der Formel „We, Egyptians“ die weitere Geschichte, etwa im Blick auf die Revolution vom 25. Januar bis 30. Juni (2011) rekapituliert und unter das Zeichen von Freiheit, menschlicher Würde und sozialer Gerechtigkeit für alle sowie die nationale Unabhängigkeit Ägyptens gestellt. Diese Revolution wird als Fortsetzung zweier vorausgehender große Revolutionen gesehen: die Revolution von 1919 mit ihrer Begründung der Bürgerschaft und der Gleichheit sowie der Nennung zweier weiterer historischer Persönlichkeiten. Die (zweite) Revolution von 1952, angeführt von G. A. Nasser, wird ebenfalls gerühmt als Verwirklichung des Traumes von Generationen von Unabhängigkeit und Vertreibung fremder Mächte. Ägypten hat danach die arabische Verbundenheit bekräftigt, sich dem afrikanischen Kontinent und der muslimischen Welt geöffnet und Freiheitsbewegungen über Kontinente hinweg unterstützt. Sogar die Leistungen von Präsident Sadat und seinem ruhmreichen Sieg im Oktober 1973 werden in starken Worten gerühmt – man erinnere sich, dass er später von Muslimbrüdern ermordet worden ist. Dieser Akzent in der Geschichtsschreibung als Narrativ ist bemerkenswert, da er ein Stück Wahrheit in der Präambel festschreiben will und vielleicht den Widerspruch von Islamisten provoziert. Wiederum in erhabenen Worten wird die Januar-Revolution (2011) mit den großen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit verglichen. Ihre „Einzigartigkeit“ wird dreifach unterstrichen, wobei ebenso an die Verdienste der Armee wie an die der Al-Azhar-Universität und der „ägyptische Kirche“ erinnert wird. Dieser Respekt für die „ägyptische Kirche“ ist auffällig und hoffentlich in der Realität neu befriedend. In den folgenden Absätzen wird mehrfach auf die Menschheit verwiesen, sind Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit sowie Freiheit und Menschenrechte herausgestellt – all dies mit nicht geringem Pathos. Dies zeigt sich auch in den nächsten drei Absätzen. Sie beginnen meist mit dem Einleitungssatz: „We believe“, so dass die Texte einen glücklichen Rhythmus andeuten. Zugleich weckt diese Aussage viele Assoziationen im Blick auf klassische Texte. Dies gilt auch für die wiederholte Bezugnahme auf das „homeland“, am besten wohl zu übersetzen mit „Heimstatt“. Jedem Bürger wird das Recht zuerkannt, in Gegenwart und Zukunft zu leben – eine wohl neue Textstufe. Sie könnte m. E. daran erinnern, dass die hier Lebenden solidarisch sein sollten: angesichts der „eiskalten Ewigkeit“ des Universums. In dieses Bild gehört auch die neue Generationenperspektive, die sich in den Worten zeigt: „We and our future generations are masters in a sovereign homeland that is master of its destiny“. Überdies ist erneut vom „Traum der Generationen“ von einer konsolidierten Gesellschaft und einem gerechten Staat die Rede. Während die Generationenperspektive in anderen neuen nationa-

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len Verfassungstexten meist im Kontext des Umweltschutzes steht, hat die ägyptische Verfassungspräambel von 2014 einen weitergreifenden allgemeineren Verfassungstext geschaffen. Überdies finden sich zuvor die wichtigen Stichworte: „politischer Pluralismus“, „friedlicher Machtwechsel“. Sehr innovativ heißt es dann: „Freedom, human dignity, and social justice are the rights of every citizen“. Damit ist wohl erstmals die soziale Gerechtigkeit zum subjektiven Bürgerrecht erhoben. In den folgenden Absätzen beginnen die Texte erneut mit dem großen „We“. Genannt werden die Ziele der Verhinderung von Korruption und Tyrannei, die Prinzipien der islamischen Scharia als der Hauptquelle der Gesetzgebung. Dabei folgt ein Zusatz, der wohl weltweit zum ersten Mal das Verfassungsgericht bereits in der Verfassungspräambel erwähnt, dies in den Worten: „that the reference for the interpretation of such principles lies in the body of the relevant Supreme Constitutional Court Rulings“.

Dieser Text ist eine kleine Sensation. Er stellt den Juristen vor Ort die schwierige Aufgabe, die Rechtsquellen der islamischen Scharia mit den säkularen verfassungsrechtlichen Regeln zu verbinden. Die letzten vier Absätze werden wiederum mit denselben Worten: „We are drafting a Constitution“ eröffnet. Bezuggenommen ist auf die universale Menschenrechtserklärung (nicht auf die islamische!), auf die Verfassung als Schutz der Freiheit und der nationalen Einheit, als Gewähr für die Gleichheit in Rechten und Pflichten ohne Diskriminierung. Zuletzt ist sogar das „Wir“ präzisiert als „citizens, women and men“, womit die Frauenrechte gleichgestellt sind. Die Verfassung wird als „Verfassung unserer Revolution“ bewertet und in den folgenden Artikeln präzisiert.

2. Aussagen zum Staat (Teil I) In sechs Artikeln finden sich hier sehr prägnante Texte zum Verständnis und Selbstverständnis des Staates (Ägypten). Sie seien wenigstens in Stichworten genannt, obwohl manches eine komprimierte Wiederholung der Gedanken der Präambel ist. Art. 1 Abs. 1 schreibt der arabischen Republik ein demokratisches republikanisches System zu, das auf der Bürgerschaft und der „rule of law“ basiert. Während die rule of law, vorläufig als „Rechtsstaat“ zu übersetzen, schon in der alten Verf. von 1971 / 80 auftaucht, als „Hoheit des Rechts“ und in der jetzigen Verf. von 2014 in einem eigenen Teil ausgeformt ist, ist die „Bürgerschaft“ hier in einen neuen Kontext gerückt. Abs. 2 qualifiziert Ägypten als Teil der islamischen Welt und seine Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent. Als Verfassungsauftrag wohl ist der folgende Text zu deuten: „cherishes its Asian dimension, and contributes to building human civilization“. Dieser Idealismus in Sachen menschliche Zivilisation verdient Beifall. Art. 2 wiederholt Textbausteine der Präambel von 2014 in folgenden Worten: „Islam is the religion of the State and Arabic is its official language. The principles of Islamic Sharia are the main source of legislation“.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Auf die Schwierigkeit der künftigen Interpretationsvorgänge im Geiste dieses Artikels wurde schon in der Kommentierung der ähnlichen Präambel hingewiesen. Zum Glück denkt Art. 3 – ganz in Übereinstimmung mit den entsprechenden Präambelpassagen – an die ägyptischen Christen und Juden. Ihre religiösen Texte werden nämlich zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt, die ihren persönlichen Status ihre religiösen Angelegenheiten und die Auswahl ihrer geistigen Führer betreffen. Einer ähnlichen Regelung begegneten wir schon in der Verf. von 2012 – dies freilich ohne den Kontext der erwähnten „abrahamitischen Ökumene“, wie sie sich in der Präambel von 2014 findet. Nach Art. 4 gehört die Souveränität ausschließlich dem Volk. Das Volk wird auch zur Quelle aller Gewalten gemacht. Erwähnt sind überdies die Prinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit sowie gleiche Möglichkeiten für alle Bürger – eine Wiederaufnahme einer Textzeile der Verf. von 1971 / 80 (Art. 8: „gleiche Möglichkeiten für alle Bürger“). Art. 5 lässt das politische System auf politischem und ParteienPluralismus beruhen und nennt vorbildlich den friedlichen Machtwechsel, die Trennung und das Gleichgewicht der Gewalten, die unvermeidbare Korrelation zwischen Gewalten und Verantwortlichkeiten und die Achtung für die Menschenrechte und Freiheiten. Art. 6 regelt die ägyptische Staatsangehörigkeit. Man mag all diese Wiederholungen im Vergleich zur Präambel kritisieren, indes rechtfertigen sie sich aus folgender Überlegung: Präambeln wollen und sollen für die Allgemeinheit der ägyptischen Bürger verständlich sein, und diesen Anspruch erfüllt auch die neue Präambel. Die späteren Artikel richten sich eher fachspezifisch an Wissenschaft und Judikatur, auch die islamischen Juristen. Diesem Anspruch genügen die sechs Artikel zum Staat durchaus. 3. „Grundkomponenten der Gesellschaft“ (Teil II) In diesem formal und inhaltlich sehr originellen Teil finden sich zahlreiche Regelungen (Art. 7 bis 50), die eine subtile und komplexe Mischung von Programmsätzen, Verfassungsaufträgen, Grundrechten, Einrichtungsgarantien und Staatszielen zum Thema machen. In manchen arbeitet die Verf. von 2014 an neuen Textstufen bzw. Themen, in anderen Teilen bleibt sie in traditionellen Spuren. Man kann sich allenfalls fragen, ob nicht vielleicht zuviel geregelt ist. Bemerkenswert ist die Untergliederung in: „soziale Komponenten“, „wirtschaftliche Komponenten“ und „kulturelle Komponenten“ – in drei Kapiteln. Der Begriff „Komponenten“ dürfte neu sein, über Ägypten hinaus. Die drei Unterabschnitte sind durch eine intensive und extensive Regelungsdichte gekennzeichnet. Manches ist erst programmatisch. Anderes gilt wohl unmittelbar. Man wird sich allgemein fragen müssen, ob die ägyptische Verfassungswirklichkeit alle Texte so umsetzen wird, wie sich dies der Verfassunggeber wünscht und wünschen muss. Im Einzelnen: Die „sozialen Komponenten“ reichen von Art. 7 bis Art. 26. Gleich vorweg findet sich eine institutionelle Garantie der Al-Azhar Universität in den Worten von Art. 7 Abs. 1:

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)

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„Al-Azhar is an independet Islamic scientific institution, with exclusive competence over its own Affairs. It is the main reference for religious sciences and Islamic Affairs. It is responsible for calling to Islam, as well as, disseminating religious sciences and the Arabic language in Egypt and all over the world.“

Damit hat der Islam auch 2014 eine deutliche Institutionalisierung erfahren – bei aller schon erwähnten Offenheit für die christliche Kirche und des Judentum. Art. 8 Abs. 1 beschreibt die „soziale Solidarität“ als Basis der Gesellschaft. Er knüpft damit an die alte Verfassung 1971 / 1980 an (Art. 77). Abs. 2 macht die soziale Gerechtigkeit zum Staatsziel und will das hohe Ziel sichern „a decent life for all citizens“ – ein großer Anspruch. Art. 9 macht dem Staat zur Aufgabe, gleiche Möglichkeiten für alle Bürger ohne Diskriminierung zu sichern (auch dies knüpft an alte Regelungsvorbilder der früheren ägyptischen Verfassungen an, Art. 8 Verf. von 1971 / 80). Art. 10 S. 1 charakterisiert die Familie als „Nucleus“ der Gesellschaft und lässt sie auf Religion, Moral und Vaterlandsliebe gründen. S. 2 verpflichtet den Staat auf die Sicherung ihrer Werte wie Zusammenhalt und Stabilität. Auch hierzu gibt es Vorbilder in den älteren Verfassungstexten Ägyptens (vgl. Art. 9 Verf. 1971 / 980). Art. 11 Abs. 1 verlangt Gleichheit zwischen Frauen und Männern in allen Angelegenheiten, Abs. 2 fordert eine angemessene Repräsentanz der Frauen im Repräsentantenhaus. Auch sonst gibt es weitere Frauenschutztexte (Abs. 2 und 3). Abs. 4 verlangt den Schutz der Mutterschaft, der Kinder, der alten und in besonderer Not befindlichen Frauen. Die Verfassung von 2014 ist hier ausführlicher als die von 2012. Nur als Stichworte seien viele weitere soziale Normenkomplexe genannt, die weit in die Gesellschaft hinein strukturierend wirken sollen. Nur weniges sei erwähnt: soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit und der Schutz der Arbeitnehmer (Art. 12 und 13). Eine neue Textstufe findet sich in Art. 14. Danach müssen öffentliche Behörden dem Volk dienen, ohne Vorurteile und Privilegierungen. Art. 15 regelt das Streikrecht unter Gesetzesvorbehalt. Art. 16 Abs. 1 verpflichtet den Staat, die Märtyrer der Nation zu ehren – Ähnliches findet sich schon in der Verf. 2012 (Art. 65). Bemerkenswert ist, dass in Art. 16 Abs. 2 in einer eigenen Textstufe die Organisationen der Zivilgesellschaft erwähnt werden, die solche Ziele erreichen wollen. Auch an anderen Stellen dieser Verfassung von 2014 finden sich ähnliche Aussagen zur Zivilgesellschaft (Beispiele: Art. 75 Abs. 1). Weitere soziale Grundrechte richten sich auf die soziale Sicherheit und auf das Recht auf Gesundheit (Art. 17 und 18). Art. 18 Abs. 2 verordnet sogar, dass der Staat mindestens drei Prozent des Bruttosozialprodukts für die öffentliche Gesundheit ausgeben soll. Damit ist das Thema Bruttosozialprodukt wie schon in der Verfassung von 2012 konstitutionelle Textstufe geworden. In den weiteren Absätzen regelt der Verfassunggeber von 2014 die gesundheitliche Versorgung der Bürger umfassend und intensiv. Auffallend ist Art. 19 Abs. 1 in folgenden Worten: „Every citizen has the right to education. The goals of education are to build the Egyptian character, preserve the national identity, root the scientific method of thinking, develop talents and promote innovation, establish cultural and spiritual values, and found the concepts of citizenship, tolerance and non-discrimination. The State shall observe the goals of educa-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

tion in the educational curricula and methods, and provide education in accordance with international quality standards.“

Dieser Artikel zu den Erziehungszielen ist eine ausgereifte Textstufe, sie steht auf dem Niveau ähnlicher Regelungen im Ausland. Die Werteorientierung (z. B. die Toleranz) ist ebenso bemerkenswert wie der Verweis auf internationale Standards. Nimmt man Art. 24 hinzu – er verlangt von den Universitäten, die Menschenrechte zu unterrichten und professionelle Werte und Ethiken der verschiedenen akademischen Disziplinen zu vermitteln –, so ergibt sich ein erstaunlich detailliertes und überzeugendes Bildungsprogramm. Fast könnten man das Wort von der „Bildungsrepublik Ägypten“ wagen, jedenfalls nach den programmatischen Texten der Verfassung von 2014. In diesem Kontext ist es konsequent, dass Art. 19 Abs. 3 wiederum einen Prozentsatz des Bruttosozialprodukts, nämlich vier Prozent für die Erziehung fordert. Art. 21 Abs. 2 verlangt mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für die universitäre Ausbildung, nachdem zuvor die Unabhängigkeit der Universitäten und Akademien garantiert wird (Abs. 1). Art. 21 Abs. 3 verlangt vom Staat die Ermutigung zur Gründung von nicht am Gewinn orientierten nicht gouvernementalen Universitäten, also Privatuniversitäten. Art. 25 schließlich widmet sich der Beseitigung des Analphabetentums der Bürger (wie Art. 21 Verf. 1971 / 80) und verweist wiederum auf staatliche Entwicklungshilfe für bürgerschaftliche Organisationen. Art. 22 erhöht die Lehrenden zu den „main pillars of education“. Die „economic components“ (Art. 27 bis 46) sind nicht weniger regelungsintensiv. Bei manchen Texten darf man sich fragen, ob die idealistische Überhöhung nicht zu weit geht. In Art. 27 ist die Rede von „sustainable development“ und sozialer Gerechtigkeit, auf denen das wirtschaftliche System beruhen soll. Auch werden (ganz auf der Höhe unserer Zeit) Transparenz und „good governance“ verlangt. Mindestlöhne und Pensionen sollen ein „decent life“ ermöglichen – welch hohes Ziel, das erneut den ägyptischenVerfassunggeber inspiriert hat. Die Landwirtschaft als „agriculture“ (Art. 29) wird ebenso erwähnt wie der Schutzauftrag in Bezug auf Fische und Fischer (Art. 30). Ganz in die aktuellen Diskussionen weltweit führt der neue Art. 31: „The security of cyberspace is an integral part of the economic system and national security. The State shall take the necessary measures to preserve it as regulated by Law.“

Damit ist – sehr aktuell – die digitale Welt zur verfassungsrechtlichen Textstufe geronnen. Nicht weniger aktuell ist Art. 32 Abs. 1, der die natürlichen Ressourcen dem Volk zuschreibt und den Staat verpflichtet, die „Rechte künftiger Generationen“ auf sie zu beachten. Damit ist eine neue schöpferische Textstufe geglückt. Die künftigen Generationen werden in der Verfassung von 2014 in vielen Kontexten mitgedacht. Übergangen seien hier die vielen Regelungen zum Eigentum und seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Wohl aber sei Art. 38 erwähnt, der wie schon ältere Texte in Ägypten das Steuersystem auf die soziale Gerechtigkeit verpflichtet.

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)

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Art. 39 widmet sich dem Sparen (Sparsamkeit) als nationaler Pflicht, die der Staat garantieren und ermutigen soll – bereits die Vorgängerverfassungen kannten ähnliche Regelungen. Der verblüffendste Art. 41 widmet sich wohl erstmals fast sensationell dem staatlichen Bevölkerungsprogramm und der erwarteten nachhaltigen Entwicklung in Gestalt folgenden Textes: „The State shall implement a population program aiming at striking a balance between population growth rates and available resources; and shall maximize investments in human resources and improve their characteristics in the framework of achieving sustainable development“

Diese Leistung des arabischen Konstitutionalismus kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.22 Art. 43 befasst sich mit dem Suez-Kanal und seinem Schutz, Art. 44 Abs. 1 mit dem Fluss Nil als Ägyptens „historische Rechte“. Nach Abs. 2 hat jeder Bürger das Recht, sich am Fluss Nil zu erfreuen. Art. 46 gibt jeder Person das Recht auf eine gesunde Umwelt (so formuliert ist dieses Recht fast utopisch, jedenfalls in Afrika und Arabien). Er macht den Umweltschutz zur nationalen Pflicht. Ähnliches findet sich schon in der Verfassung von 2012 (Art. 14 Abs. 14 und Art. 18 Abs. 1). Die „cultural components“ (Art. 47 bis 50) sind etwas kürzer geregelt, doch erweisen sich die Normenkomplexe als besonders verdichtet – manche kulturellen Aspekte fanden sich ja schon in den vorstehend behandelten sozialen und ökonomischen Partien. Art. 47 verpflichtet den Staat auf den Erhalt der ägyptischen kulturellen Identität mit ihren verschiedenen Zweigen der Zivilisation. Art. 48 macht die Kultur schlagwortartig zum „Recht jeden Bürgers“. Dieses Grundrecht ist sehr weitgehend und schwer umsetzbar, bislang wohl eher programmatisch. Art. 49 verlangt vom Staat den Schutz der Denkmäler, auch die Restitution gestohlener Kulturgüter, dies ist leichter umsetzbar. Der Handel mit Kulturgütern wird in Abs. 3 als Verbrechen gekennzeichnet, das nicht verjährbar ist – eine erstaunliche und vorbildliche Forderung. Art. 50 ist so inhaltsreich und als Textstufe so geglückt, dass er hier ganz abgedruckt sei: „Egypt’s civilization and cultural heritage, whether physical or moral, including all diversities and principal milestones – namely Ancient Egyptian, Coptic, and Islamic – is a national and human wealth. The State shall preserve and maintain this heritage as well as the contemporary culture alwealth, whether architectural, literary or artistic, with all diversities. Aggression against any of the foregoing is a crime punished by Law. The State shall pay special attention to protecting components of cultural pluralism in Egypt.“

Mehrere dieser Textstücke verdienen die Aufmerksamkeit jedes universalen Rechtsvergleichers: die weite Definition des kulturellen Erbes Ägyptens und der Hinweis auf die alten Ägypter, die Kopten und den Islam, die Kennzeichnung als nationaler und menschlicher Reichtum, der Wille, Aggressionen gegen diese Kultur zu bestrafen und – besonders wichtig – der Schutz des „kulturellen Pluralismus“ in 22

Dazu mein Diskussionsbeitrag in: VVDStRL 74 (2015), S. 354.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Ägypten. Mit diesem Programm hat der Verfassunggeber von 2014 alle einschlägigen Texte früherer Verfassungen vor Ort überboten und einen Beitrag nicht nur zum arabischen, sondern zum universalen Konstitutionalismus, insbesondere zum Kulturverfassungsrecht geleistet. 4. Öffentliche Rechte, Freiheiten und Pflichten (Teil III) Dieser Grundrechtskatalog ist wiederrum sehr ausführlich (Art. 51 bis 93). Er orientiert sich teilweise an den Vorgängertexten („öffentliche Rechte“), teilweise an rechtsvergleichend gewonnenen Materialien. Nur Stichworte sind möglich: Art. 51 eröffnet den Katalog mit der Menschenwürde und einem entsprechenden staatlichen Schutzauftrag. Damit ist er in bester, fast universaler Gesellschaft neuerer Verfassungen. Es folgt ein (ebenso universales) Verbot der Folter in allen Formen (Art. 52) und die Garantie der Gleichheit aller Bürger (Art. 53), wobei eine unabhängige Kommission zur Eliminierung aller Formen der Diskriminierung vorgesehen ist. Die übrigen Artikel widmen sich immer wieder – und vorbildlich – dem Schutz der Menschenwürde (zum Beispiel im Gefängnis oder in der Haft, Art. 55 und 56). Eine höchst differenzierte Regelung findet sich in Bezug auf den Privatheitsschutz (Art. 57 und 58). Der Text zum Organhandel unterscheidet sich von der Regelung in der Verfassung von 2012 durch folgende differenzierte Worte (Art. 61): „Tissue and organ donation is a gift for life. Every person shall have the right to donate his body organs either during his lifetime or after his death by virtue of consent or a certified will. The State shall develop a mechanism regulating the rules of organ donation and transplantation in accordance with the Law.“

Danach ist der Organhandel verboten, aber Schenkungen von Teilen des menschlichen Körpers sind unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Dies ist in Art. 61 noch näher ausgeformt. Art. 64 ist teilweise schwer haltbar, teilweise geglückt. Er lautet: „Freedom of belief is absolute. The Freedom of practicing religious rituals and establishing worship places for the follower of Abrahamic religions is a right regulated by Law.“

Die Absolutheitsgarantie für die Freiheit des Glaubens in Abs. 1 lässt sich in der Realität nicht halten. Es gibt im Verfassungsstaat Werte, die den Glauben begrenzen. Wohl aber verdient es Zustimmung, dass erneut an die Gläubigen der drei abrahamitischen Religionen – freilich nur an diese – gedacht ist. Die folgenden Grundrechtsgarantien widmen sich den weitgehenden Freiheiten der Wissenschaft, der Künste und der Literatur (Art. 66 und 67), auch der Informationsfreiheit (Art. 68, Stichwort Transparenz). Abs. 2 ebenda schafft eine Neuerung: Offizielle Dokumente, die nicht länger in Gebrauch sind, sollen in der Nationalbibliothek und in Archiven niedergelegt werden. Art. 69 schützt das geistige Eigentum in allen Bereichen. Art. 70 schützt auch die elektronische Publikation. Art. 72 ver-

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)

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langt von den staatseigenen Presseorganen Neutralität und Repräsentation aller politischer und intellektueller Meinungen sowie aller sozialer Interessen, soweit sie die öffentliche Meinung angehen (Vorgängertext war Art. 207 Verf. von 1971 / 80). Damit ist die Pluralismusgarantie in einen in anderen Staaten bekannten Kontext auch in Ägypten gerückt. Die politischen Parteien werden im Grundrechtsteil zur Sprache gebracht (Art. 74). Verboten sind solche Parteien, die auf der Religion basieren. Demokratiefeindliche und quasimilitärische Parteien sind verboten, sie können nur durch richterliches Urteil aufgelöst werden. All dies dürfte sich unter anderem gegen die Muslimbrüder richten. Im Übrigen sind Textelemente des Diskussionsstandes in Europa verwendet. Eine ganz neue Textstufe, die jedoch schon heute verletzt wird, findet sich in Art. 75 Abs. 1: „All citizens shall have the right to form non-governmental associations and foundations on democratic basis, which shall acquire legal personality upon notification.“

So erfreulich diese textliche Neuschöpfung ist, so wenig prägt sie bislang die Verfassungswirklichkeit in Ägypten23 – Al Sisi entwickelt sich 2015 schon zu einem Diktator wie seinerzeit Mubarak. Doch bleibt Art. 75 Abs. 1 und Abs. 2 (Recht auf freie Aktivitäten der Nichtregierungsorganisationen) für die Wissenschaft wichtig. Der universale Konstitutionalismus kann diese textliche Errungenschaft des Bürgerrechts auf Nichtregierungsorganisationen in seinem „Schatzhaus“ vorhalten, d. h andere Verfassunggeber können an diese Texte später anknüpfen. In Deutschland gelten sie m. E. schon heute „ungeschrieben“ (dank Art. 9 Abs. 1, Art. 8, Art. 5 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG). Die weiteren Grundrechte seien nur als Merkposten erwähnt: das Bürgerrecht auf gesundes Wohnen, das der menschlichen Würde und der sozialen Gerechtigkeit dienen soll (Art. 78 Abs. 1), die Verpflichtung des Staates auf eine der Gesundheit dienliche Infrastruktur (Art. 78 Abs. 3) und sogar das Recht jeden Bürgers auf gesunde und ausreichende Nahrung sowie sauberes Wasser (Art. 79). Auch hier werden sehr innovativ die Rechte künftiger Generationen einmal mehr bedacht. Die folgenden Artikel formulieren den Schutz von Kindern, geprägt von den einschlägigen Normen der UN (Art. 80), auch den Schutz der Behinderten (Art. 81). Art. 82 sorgt sich um den Jugendschutz und verlangt vom Staat, der Jugend die Teilnahme am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Schließlich denkt Art. 83 an die Alten, auch hier finden sich Aussagen zur Ermutigung von Nichtregierungsorganisationen. Dasselbe gilt für den Sport (Art. 84). Art. 87 macht die Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben zur nationalen Pflicht. Diese Regelung ist m. E. zu weitgehend. Es kommt freilich auf das angekündigte Ausführungsgesetz an, das nicht in eine totalitäre Struktur umschlagen darf.

23 Dazu FAZ vom 10. 10. 2014. S. 10: „Einschüchterung, Das ägyptische Regime zieht die Repressionsschraube gegen die Zivilgesellschaft an.“

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Alle weiteren Regelungen, etwa zu den Auslandsägyptern, dem Verbot der Sklaverei, zum Asylrecht, meistens mit Gesetzesvorbehalt versehen (Art. 88 bis 91), seien übergangen, sie stimmen meist mit den älteren Verfassungen überein. Wohl aber sei Art. 92 Abs. 2 erwähnt: „No law regulating the exercise of rights and freedoms may restrict such rights and freedoms in a manner prejudicing the substance and the essence thereof.“

Damit setzt sich der weltweite Erfolgsweg der grundrechtlichen Wesengehaltsgarantie fort – schon die ägyptische Verfassung von 2012 wagte sie. Auffällig bleibt freilich, dass keine Garantie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgeschaltet ist bzw. hinzugefügt wird, wie dies für parallele Texte zum grundrechtlichen Kerngehalt in der Schweiz typisch geworden ist. 5. Die Rule of Law (Teil IV) Art. 94 bis 100 widmen sich eingehend der rule of Law. Neu ist der eigene Teil im Vergleich zur Verfassung von 2012. Anknüpfungspunkte ergeben sich jedoch im Blick auf die „Hoheit des Rechts“ der ägyptischen Verfassung von 1971 / 1980. Art. 94 verlangt umfassend und bündig: „The rule of law shall be the basis of governing in the State. The State shall be governed by Law. The independence, immunity and impartiality of the judiciary are essential guarantees for the protection of rights and freedoms.“

Dieses Thema könnte nicht besser auf einen Text gebracht werden, als dies hier geschehen ist. Dasselbe gilt für die folgenden justiziellen Grundrechte, etwa in Sachen Unschuldsvermutung und Recht auf Verteidigung. Art. 99 Abs. 2 setzt einen nationalen Rat für Menschenrechte ein, Art. 100 verlangt wie die Verfassung von 1971 / 80, dass richterliche Urteile „im Namen des Volkes“ gesprochen werden.

6. Der staatsorganisatorische Teil (Teil V) a) An erster Stelle sei die Legislative kurz behandelt. Sie ist ausschließlich dem Repräsentantenhaus anvertraut. Die Verfassung von 2014 hat also den Schura-Rat abgeschafft, sowohl den konsultativen von 1971 / 80 als auch den gleichrangig mitbestimmenden von 2012. Damit ist die Institutionalisierung des Islam wohl etwas zurückgedrängt. Das Anliegen der Massenbewegung gegen Mursi (2013) hatte also wohl teilweise Erfolg. Eine Neuerung verdient besondere Erwähnung: die Schaffung eines qualifizierten Petitionsrechts in Art. 138, denn danach kann jeder Bürger geschriebene Vorschläge an das Repräsentantenhaus in Bezug auf öffentliche Angelegenheiten („public issues“) schicken oder auch Beschwerden an dieses Haus richten, die an die kompetenten Minister weitergeleitet werden sollen. Er hat auch Anspruch auf Informierung über das Ergebnis. Das herkömmliche Petitionsrecht in älteren Verfassungsstaaten ist meist enger gefasst.

IX. Die zwei neuen Verfassungen von Ägypten (2012 bzw. 2014)

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b) Die Regelungen zum Präsidenten der Republik (Art. 139 bis 162) verdienen in zwei Punkten Aufmerksamkeit. Der Verfassungseid (Art. 144) richtet sich u. a. auf das republikanische System, die Verfassung und die Interessen des Volkes. Art. 157 Abs. 1 ermöglicht dem Präsidenten, ein Referendum zu veranlassen, wenn sich dieses auf die höchsten Interessen des Staates richtet. Erwähnt sei schließlich die Regelung (Art. 140 Abs. 2), wonach der Präsident der Republik nur einmal wiedergewählt werden kann. Hier besteht Kontinuität mit der Verfassung von 2012. c) Aus den Regelungen zur Regierung (Art. 163) ist Art. 167 erwähnenswert. Hier findet sich ein ausführlicher Katalog über die zahlreichen Funktionen: von der „general policy of the State“ bis zur Vorbereitung von Gesetzentwürfen und dem Entwurf eines generellen Staatsplans. d) Die dritte Gewalt ist sehr grundsätzlich und detailreich behandelt („The Judiciary“), Art. 184 bis 199. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung wird sehr ernst genommen (Art. 184), die Unabhängigkeit und Autorität der Richter ebenso (Art. 186). Hier figuriert auch das Oberste Verfassungsgericht (Art. 191 bis 195). Seine Kompetenzen finden sich in Art. 192. Das Gericht ist allein zuständig, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen zu entscheiden, auch hat es den Auftrag „to interpret legislative provisions“. Viel Anerkennung verdient die eigene Regelung „Legal Profession“ (Art. 198 und 199). Das Thema „Recht als Beruf“ verdiente eine eigene Würdigung, auch im Schrifttum, etwa in Deutschland24. Der Verfassunggeber in Ägypten geht vorbildlich vor. Er definiert die „legal profession“ als „free profession participate with the Judicial Authority in the establishment of justice and the rule of law, and ensures the right to defense“. Einbezogen sind die unabhängigen Anwälte, die „attorneys of public authorities, public sector companies and public enterprise sector companies“. Ein eigener Artikel widmet sich den „experts“ (Art. 199) und definiert sie sehr weit gefasst. e) Die Verfassung von 2014 nimmt sich der nationalen Wahlkommission ebenso intensiv an (Art. 208 bis 210) wie des Obersten Rats zur Regulierung der Medien (Art. 211 bis 213). Er wird als unabhängiges Organ definiert und auf die Ziele der Neutralität, der Pluralität und der Diversität verpflichtet (Art. 211 Abs. 3). Auch wird an ethische Standards erinnert. Damit ist dieser Medienartikel auf dem Stand der Normen des heutigen Verfassungsstaates als Typus, zumal auch monopolistische Praktiken verhindert werden sollen. Auch hier bleibt freilich die Frage: Wie greift dieser hochdifferenzierte Artikel in der jetzigen Verfassungswirklichkeit unter dem Staatspräsidenten Al Sisi, der sich immer mehr zum zweiten Mubarak entwickelt. f) Ein eigenes Profil schafft die Verfassung von 2014 durch die Einrichtung nationaler Räte, Autonomer Organisationen und Kontrollbehörden (Art. 214 bis 221). Hier finden sich viele Arbeitsfelder: für den nationalen Rat für Menschenrechte, den nationalen Rat für Frauen, den nationalen Rat für Kinder und Mütter, den natio24

Vom Verf. nur: Der europäische Jurist, JöR 50 (2002), S. 123 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

nalen Rat für Behinderte. Das Gesetz soll die Unabhängigkeit und Neutralität der Mitglieder dieser Räte schützen (Art. 214). Darüber hinaus werden zahlreiche autonome Organisationen und Kontrollbehörden geschaffen, z. B. die Zentralbank und die „Central Auditing Organization“. Eingerichtet werden auch Kontrollbehörden gegen die Korruption (Art. 218 Abs. 1). g) Die Allgemeinen und Übergangsbestimmungen am Schluss (Art. 222 bis 247) enthalten eine reiche Mischung von wichtigen, freilich sehr verschiedenen Themen. Genannt seien der Hauptstadtartikel zu Kairo (Art. 222) und Art. 223 zu den Staatssymbolen. Hier wird die suggestive Nationalflagge genau definiert, während das Wappen und die Nationalhymne leider nicht festgeschrieben sind, sondern unter Gesetzesvorbehalt gestellt sind. Die Entweihung der ägyptischen Flagge soll unter Strafe gestellt werden. Erinnert sei ferner an den schon behandelten Art. 227, der die Verfassung und ihre Präambel zum „integrierenden Bestandteil“ und „unteilbaren Ganzen“ erklärt sowie zur „kohärenten Einheit“. Art. 237 gibt dem Staat den Auftrag, alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen. Art. 244 verlangt (z. T. neu), dass die Jugend, Christen(!), Behinderte und Ägypter, die im Ausland leben, angemessen im erstmals zu wählenden Repräsentantenhaus vertreten sind. Art. 245 befasst sich mit der Ablösung der Beschäftigten und Kompetenzen bzw. der Überführung des Schura-Rates in das Repräsentantenhaus. ––––––––––––––––––– Mit diesem Beitrag ist der Abschnitt zu neuesten Verfassungen und Verfassungsentwürfen in diesem Buch beendet. Mit voller Absicht wird nachfolgend die Entstehungsgeschichte des deutschen Grundgesetzes gewürdigt. So groß heute die Möglichkeiten sind, mit Hilfe des Internets alle Verfassungen der Welt miteinander zu vergleichen (wobei kontextuell der kulturelle Humus hinzuzudenken ist) und so sehr vom Technischen her die universale Verfassungslehre durch diese Technik befördert wird: Man staunt noch mehr über die Pionierleistungen des Parlamentarischen Rates zum Grundgesetz, denn auf dem damaligen Hintergrund des Fundus der Verfassungsgeschichte und der damaligen begrenzten technischen Möglichkeiten des Verfassungsvergleichs in Raum und Zeit hat der Parlamentarische Rat (1948) in Bonn Außerordentliches geschaffen.

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes – JöR Band 1 1951 (2010)* Einleitung Es mag zunächst als Zufall erscheinen, dass das JöR Band 1 (1951) seit langem vergriffen ist; doch erweist es sich als Glücksfall, dass gerade nach 60 Jahren fast beispielloser, viel gefeierter Erfolgsgeschichte des Bonner Grundgesetzes der Tübinger Verlag Mohr-Siebeck einen Neudruck dieses, seines Bandes durchführt: Ermöglicht wird eine Rückbesinnung aus größerer zeitlicher Distanz. Zwar dürfte sich der allgemeine Stellenwert der Entstehungsgeschichte einer Verfassung im Laufe der Zeit meist relativieren – sie gewinnt „Selbststand“ –, doch kann es sein, dass Grundsatzurteile eines Verfassungsgerichts (und Sondervoten) später dann doch wieder auf die „Materialien“ einer Verfassung zurückgreifen (müssen). Angesichts der großen Bedeutung des BVerfG in Deutschland ist schon prima facie zu vermuten, dass mindestens in dessen frühen Entscheidungen, besonders alten1, aber auch jungen Grundsatzurteilen2, die Materialien des Parlamentarischen Rates erneut als Quelle in Sachen Entstehungsgeschichte benutzt werden. Gewiss, das Plenum und die Einzelausschüsse, d. h. vor allem der Hauptausschuss, der Ausschuss für Grundsatzfragen, der Ausschuss für Zuständigkeitsabgrenzung und die Ausschüsse für die Organisation des Bundes sowie den Verfassungsgerichtshof und die Rechtspflege des Parlamentarischen Rates sind nicht in allen Berichten des hervorragenden Bearbeiter-Teams der Autoren K.-B. v. Doemming / R. W. Füsslein / W. Matz komplett erfasst. Indes bleibt Band 1 des JöR (1951) vor den „Stenographischen Berichten“ und „Protokollen“ wegen seiner hohen inhaltlichen Dichte und sprachlichen Konzentration sowie seiner transparenten Strukturierung nach wie vor die erste Quelle bei der Einarbeitung in das große Grundsatzwerk des Parlamentarischen Rats 3 bzw. * Neuausgabe des JöR Band 1 n. F. (1951), 2010, S. VI – XXVI. 1 Beispiele: 131-Urteil: BVerfGE 3, 58 (77 ff.); Urteil zur Gleichberechtigung von Mann und Frau: BVerfG 3, 225 (238 ff.); erstes Fernseh-Urteil: BVerfGE 12, 205 (237). 2 Z. B. bei den beiden Entscheidungen zur Auflösung des Bundestags (BVerfGE 62, 1 (45 ff.), mit differenzierten Überlegungen zur Rolle der Entstehungsgeschichte von Gesetzen und Verfassungsnormen bei der Interpretation; auf den PR berufen sich auch SV Zeidler, ebd. S. 64 (68) sowie SV Rinck, ebd. S. 70 (90). – Die zweite einschlägige E findet sich in BVerfGE 114, 121 (153) sowie ebd. S. 192 ff. – SV Lübbe-Wolff. 3 Aus der Lit.: R. Floehr, Das Grundgesetz entsteht: aus den stenographischen Berichten über die Plenarsitzungen des Parlamentarischen Rates, 1. Aufl. 1985; Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Deutschland (Gebiet unter Alliierter Besatzung): Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949, Akten und Protokolle (bisher 14 Bde erschienen), 1975 ff.; M. F. Feld-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

bei der evolutiven Auslegung des Grundgesetzes: bis heute. Die Detaillektüre von JöR-Band 1 ist nach 60 Jahren geradezu spannend, auch auf dem Hintergrund der kaum zu überschätzenden im voraus erbrachten Leistungen des HCHE (1948)4. Ein auch verfassungstheoretischer Zugriff heute lohnt besonders. Erster Teil

Würdigung von Arbeitsweise und Ergebnissen des Parlamentarischen Rates und sonstiger Beteiligter in verfassungstheoretischer und praktischer Sicht (allgemein) I. Verfassungsvergleichung seitens der Mütter und Väter des Grundgesetzes in „Zeit und Raum“ 1. Bezugnahme auf deutsche Verfassungen in Geschichte und Gegenwart Bewunderung verdient die durchweg gekonnte Verfassungsvergleichung in „Zeit und Raum“. Verfassungsvergleichung in der Zeit meint die Verfassungsgeschichte, Verfassungsvergleichung im Raum meint die Komparatistik, d. h. das Ausgreifen in andere Länder, ihre Geschichte und Gegenwart. Die (vier) Mütter und Väter des Grundgesetzes5 pflegen einen erfahrungswissenschaftlichen Ansatz (67, 361, 715, 721, 792, 817)6. Besonders auffällig ist der häufige Hinweis auf die WRV (z. B. 38, 167, 258, 367, 422, 449, 503, 607, 670, 672, 912; zu Vorentwürfen zur WRV: 118); in der späteren bundesrepublikanischen Literatur ist der Begriff „Weimar als Argument“ zum geflügelten Wort gereift. Präsent sind sodann die Verfassung der Paulskirche (380), die Zeit des Norddeutschen Bundes (338) sowie die Bismarck-Verfassung (z. B. 372, 379 f., 767, 792). Selbst preußische Regelungen werden gekannt

kamp (Hrsg.), Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949, 1999; ders., Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, die Entstehung des Grundgesetzes, 1998 (überarbeitete Neuausgabe, mit einem Geleitwort von Bundestagspräsident N. Lammert, 2008). 4 Der Entwurf ist abrufbar unter http://www.verfassungen.de/de/de49/chiemseerentwurf48. htm. – Aus der Lit.: A. Bauer-Kirsch, Herrenchiemsee. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Wegbereiter des Parlamentarischen Rates, 2005; Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hrsg.), Deutschland (Gebiet unter Alliierter Besatzung): Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949, Akten und Protokolle (bisher 14 Bde erschienen), 1975 ff., Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. 5 Vgl. auch BVerfGE 119, 247 (261). 6 Auch das BVerfG beruft sich später auf bestimmte „Erfahrungen“, z. B. E 14, 121 (135); 20, 56 (111); 54, 341 (357 f.); 83, 341 (354); 104, 310 (328); 107, 339 (362, 386 – Minderheitshälfte); 109, 279 (312); 112, 118 (141); 113, 273 (294); 123, 263 (345).

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

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(z. B. 812, 815). Besonders häufig arbeitet der PR mit den jungen deutschen Landesverfassungen („innerdeutsche Verfassungsvergleichung“), vor allem den süddeutschen als Vorbildern (z. B. 55, 95, 102, 111 f., 118, 120, 139, 165, 203, 236, 376, 422 f., 440, 444, 584, 698, 723, 741 f., 811, 816; s. noch 298 in Sachen Art. 31 GG). Mitunter wird allgemein auf die deutsche Verfassungsgeschichte Bezug genommen (375, 379, 380; „frühere Verfassungen“: 142)7. Sehr häufig ist auf den Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee und seine reiche Vorarbeit verwiesen (z. B. S. 406, 426 f., 682 f., 736, 739 f.)8. Die Textvarianten des HCHE dienen immer wieder als Ausgangspunkt (z. B. 383, 562 f., 566 f., 571 f., 763, 842 f., 913 f.). Die Arbeiten an „Vorbildern“ sind so zahlreich (z. B. 380, 424, 735, 739, 741, 745), dass von einer an der „Bilderphilosophie“ orientierten Verfassunggebung gesprochen werden kann9. Wenn der PR mit Varianten arbeitet (z. B. 430 f., 562 f., 655, 720, 913 f.), so nimmt dies die in der Schweiz später so fruchtbare Vorgehensweise bei der Totalrevision von Kantonsverfassungen (seit Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts) und im Bund vorweg.10 Nicht selten wird die NS-Zeit evoziert (z. B. 104, negativ auch z. B. 100, 160, 162, 740)11; ebenfalls negativ werden die Volksdemokratien erwähnt (891). Die ausdrückliche Anlehnung an R. Thoma (z. B. 56 f., 67 f., 81 f., s. auch 89 f., 114 f., 586, 595) macht diesen nicht nur im Rückblick zum „jungen Klassiker“. Die entschiedene Ablehnung von eigenen Entwurfstexten in Sachen Volksentscheid und Volksbegehren (620 f.) bleibt ein Merkposten.

7 Das BVerfG arbeitet später ebenfalls mit der „geschichtlichen Entwicklung“, z. B. prägnant bei Art. 9 Abs. 3 GG: E 38, 386 (394), m. w. N.; s. auch E 50, 290 (367). Gleiches gilt für die Ausdeutung der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG: E 59, 216 (226); 83, 363 (381); 86, 90 (107). – Zur Garantie des gesetzlichen Richters als „gefestigter Bestand der deutschen Verfassungsrechtsentwicklung“: E 82, 159 (194). Der Topos „deutsche staatsrechtliche Tradition“ wirkt in BVerfGE 58, 1 (35). S. auch E 62, 354 (367); E 90, 286 (383) und E 119, 96 (158 f.); 121, 135 (154): „deutsche Verfassungstradition“. E 87, 287 (318): „herkömmliche juristische Methoden“; ähnlich E 105, 135 (157). – E 117, 303 (344 f.): „traditionsbildender Zeitraum“ (zu Art. 33 Abs. 5 GG), ebenso E 117, 372 (379); 121, 205 (219). 8 Auch das BVerfG verweist später auf den HCHE, z. B. E 6, 55 (73); 25, 269 (287); 32, 54 (69); 41, 205 (224); 51, 97 (108); 74, 51, (61); 74, 102 (116); 90, 286 (345 f.) – mitunter aber auch als Kontrast: E 1, 144 (156 f.); 2, 143 (154, 175); 107, 395 (404 f.). In E 32, 54 (70) werden ausländische Regelungen zitiert; vergleichend arbeitet auch BVerfGE 36, 146 (165). 9 Zum bilderphilosophischen Ansatz: P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, 1. Aufl. S. 11 ff., 4. Aufl. 2008, S. 4, 11, 19 ff.; hierher gehört auch das Wort vom „vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild“ in: BVerfGE 2, 380 (403), 56, 22 (28); jetzt U. Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), S. 157 ff. 10 Dazu aus der Lit.: P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff. 11 Auch das BVerfG arbeitet mit der Idee der Abkehr von der NS-Zeit, z. B. E 41, 126 (150); 74, 102 (116); 79, 127 (149); 82, 272 (282); 83, 119 (126); 92, 91 (111); 107, 339 (362); 119, 1 (21).

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

2. Bezugnahme auf ausländische Verfassungen in Geschichte und Gegenwart Was heute fast selbstverständlich geworden ist, nämlich die theoretische Inthronisierung der Verfassungsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode (1989), spielt sich im PR auf der praktischen Ebene der Verfassunggebung in bewundernswerter Weise schon Jahrzehnte früher ab. Geleistet wird auslandsbezogene Verfassungsvergleichung. Besonders präsent ist Frankreich (z. B. T. Heuss: Allgemeine Wehrpflicht als das „legitime Kind der Demokratie“ in Frankreich (77)). Die „klassische“ Deklaration der Menschenrechte von 1789 wirkt ebenfalls (53). Auch die spätere französische Verfassung von 1946 wird zitiert (223, 341). Sogar die französische Verfassungswirklichkeit kommt ins Blickfeld (422, 442). Die berühmte Verfassung Belgiens (1831) ist ebenfalls gegenwärtig (117, 197). Der PR nimmt auch angelsächsische Vorbilder wahr (232, 352). Überaus präsent ist die Schweizer Bundesverfassung bzw. die Schweiz allgemein (z. B. S. 259, 262, 399, 532, 568, 575, 662). Ein neuerer Schweizer Formulierungsvorschlag ist ebenfalls bekannt (83). Weiter ausgreifend spielt die US-Verfassung eine große Rolle (65, 68, mit R. Thoma, 266, 352, 423, 458, 568, 687, 729); zitiert werden sogar die Verfassungen Kanadas, Australiens und Südafrikas (729). Schließlich finden sich Bezugnahmen auf ein völkerrechtliches Abkommen (Kellog-Pakt, 238), die Charta der UNO und damals junge UN-Menschenrechtserklärungen (50, 107, 110) sowie auf Entwürfe (UNO-Kommissionsentwurf der Menschenrechte, 57, 93).

II. Einarbeitung von Klassikertexten und wissenschaftlicher Dogmatik sowie von Judikatur – „Rezeptionsgegenstände“ 1. Klassikertexte (ältere und neuere)12 Der PR öffnet sich in seinen Verhandlungen einer großen Vielfalt von ideellen Inspirationsquellen. Hier einige Beispiele: Er arbeitet mit dem (vorstaatlichen) Naturrecht (48, 49, 177). Wirksam werden Erkenntnisse der Allgemeinen Staatslehre (z. B. 168: „staatliche Souveränität“, auch 196 ff., 397, 468, 891; s. auch 16: einzelne Elemente der allgemeinen Staatslehre; 899: „Prinzipien des allgemeinen Wahlrechts“; 890 f.: Argument von der Trennung der Gewalten; 248: „klassische Dreiteilung der Gewalten“; 891: „drei klassische Funktionen eines Präsidenten“)13; Zur Theorie: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. Später arbeitet das BVerfG mehrfach mit der Metapher „klassisch“ und zwar in Bezug auf sehr unterschiedliche Themen und Prinzipien wie Grundrechte, Gesetzesvorbehalt, Rundfunkauftrag, „Sozialversicherung“, „Fürsorge“, „Abgaben“, z. B. E 6, 55 LS 5; 31, 58 (67); 50, 290 (336, 366); 53, 366 (404); 57, 295 (320); 74, 297 (324); 75, 108 LS 1. a); 77, 170 (231); 79, 200 (201); 82, 122 (125), SV Mahrenholz; 87, 181 (199); 97, 228 (257); 106, 62 (133)?; 108, 1 (17); 108, 186 (214); 113, 167 (221); 115, 97 (111); 123, 267 (384): „klassisches Vertragsänderungsverfahren“. – Ein religiöser Klassikertext ist das verblüffende Zitat 12 13

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

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sodann 355: „Unabhängigkeit der Abgeordneten als klassische Formulierung“. Auch die Bezugnahme auf R. Thoma bzw. auf sein kritisches Gutachten von 1948 sei hier genannt14. Thoma war z. T. persönlich anwesend (595 f.). Wirkungsreich ist seine kritische Würdigung des vom Grundsatzausschuss des PR beschlossenen und veröffentlichten Grundrechtskatalogs (49, s. auch 69, 75, 80 f., 82 f., 114 f., 135 f., 140, 146 f., 166, 184). Ein Hinweis auf den jungen Klassiker R. Thoma findet sich zudem in Sachen Menschenwürde (50). Auch andere, damals jüngere Autoren werden erwähnt, welche aus heutiger Sicht klassischen Rang beanspruchen dürfen. Dies gilt etwa für E. Forsthoff (z. B. 58) und G. Anschütz (458)15. Besonders überzeugend ist der wahrheitswissenschaftliche Ansatz16: Beispiele sind Äußerungen von R. Lehr: Es gibt „einige Wahrheiten im Verfassungsleben, die man schlechthin in einer Verfassung nicht gut entbehren könne“ (355; s. aber auch die Diskussion um den Begriff Wahrheit als einen „relativen“, „objektiven“ und „subjektiven“ (365)), sodann die Bezeichnung der Landtage als „wahres Element“ der Länder (402) oder das Postulat der „wahren Demokratie“ (458) sowie der von Moses: E 54, 277 (296) sowie das Bibelzitat: E 79, 69 (76). – Der Sache nach „klassisch“: R. v. Gneists Begriff der „Freien Advokatur“, E 63, 266 (282). 14 Wieder abgedruckt in: R. Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, hrsgg. von H. Dreier, 2008, S. 443 ff. 15 Auch in der Judikatur des BVerfG wird G. Anschütz gewürdigt, z. B. E 22, 180 (217); 26, 246 (257); 26, 338 (373); 32, 54 (69); 33, 52 (64); 35, 79 (119); 42, 312 (328 f.); 61, 149 (193 ff.); 66, 214 (223); 74, 244 (252); 76, 363 (384); 83, 341 (354); 84, 239 (270); 88, 40 (50); 90, 286 (383). – R. Thoma wird ebenfalls zum jungen Klassiker, z. B.: E 6, 55 (72); 35, 79 (119); E 43, 154 (167); 47, 327 (368). Ähnliches gilt für E. Forsthoff, z. B. E 3, 12 (26); 50, 57 (104); 91, 228 (237). – Von den Staatsrechtslehrern der frühen Bundesrepublik gewinnen G. Dürig (z. B. E 7, 198 (206); 20, 323 (331); 23, 181 (204); 27, 1 (6); 34, 269 (288); 38, 154 (167); 52, 369 (376 ff.); 58, 208 (211); 59, 360 (382); 61, 82 (103, 106); 78, 123 (126); 83, 24 (31, 33); 105, 239 (248 f.); 115, 166 (182)) und K. Hesse (z. B. E 20, 56 (101, 105); 37, 363 (381, 383); 53, 366 (401); 62, 1 (45); 78, 38 (54, 56), SV Henschel; 79, 174 (201); 80, 137 (154); 81, 29 (33); 81, 242 (255); 84, 90 (119 f.); 86, 288 (350, SV Mahrenholz); 90, 107 (116); 121, 135 (163), auch im Spiegel und dank der Judikatur des BVerfG schon heute klassischen Rang. Bei K. Hesse fällt auf, dass das BVerfG ihn aus seiner Pluralität der Literaturgattungen zitiert (Staatsrechtslehrerreferat, Lehrbuch, Handbuchbeitrag); seine „praktische Konkordanz“ ist im Direktzitat oder der Sache nach fast „allgegenwärtig“, z. B. E 41, 29 (51); 41, 88 (108); 52, 223 (246); 81, 298 (308); 83, 130 (143); 91, 1 (21); 95, 335 (403, Minderheitshälfte); 118, 1 (31); 122, 89 (107). – Desiderat der Forschung bleibt die systematische Erfassung der Erkenntnisquellen bzw. Literaturgattungen in den Entscheidungen des BVerfG: von den (wohl aus Zeitnot häufigen und oft kumulativ verwendeten) Kommentaren über die (eher seltenen) Dissertationen und Habilitationsschriften (z. B. E 112, 1 (23) sowie sonstigen Monographien bis zu nicht wenigen Lexikonartikeln (wie „Duden“) und Gutachten (z. B. des DJT, etwa E 34, 269 (272, 290)) sowie Staatsrechtslehrerreferaten (z. B. E 90, 286 (376), Lehrbüchern (z. B. E 92, 203 (240)), auch Handbuch- (z. B. E 89, 214 (231)) und Festschriftenbeiträgen (z. B. E 60, 348 (359)), Klassikertexten (z. B. G. Radbruch, E 95, 96 (134)) sowie ausländischer Literatur und Judikatur (z. B. E 60, 293 (304)), Stenographische Berichten aus der Entstehungsgeschichte der Bismarck-Verfassung und der WRV sowie Zitaten von verfassungsrichterlichen Sondervoten „in“ Sondervoten des BVerfG (z. B. E 88, 203 (341)). 16 Dazu meine Monographie: Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Grundrechte als „klassische“ „vorverfassungsrechtliche“ Rechte (42). Dieser Ansatz ist kein Zufall: es galt doch die Periode von 1933 bis 1945 geistig-kulturell quasi durch einen Blick zu den Sternen zu „überspringen“. Nicht zuletzt imponiert die hohe Bildung vieler Mitglieder des PR. Neben T. Heuss17 sei hier vor allem C. Schmid erwähnt: er spricht z. B. von der Wahl des Bundespräsidenten als „Kür“ i. S. des alten deutschen Reichsrechts (403)18. Seine stupende Bildung beflügelte wohl viele.

2. Wissenschaftliche Dogmatik „Ewige Klassikertexte“ und neuere Erkenntnisse der wissenschaftlichen Dogmatik lassen sich nicht immer scharf trennen. Es gibt einen reizvollen, mitunter fließenden Übergang von wissenschaftlicher Klassik zur rechtswissenschaftlichen Dogmatik und umgekehrt. Im Laufe der Zeit können Teilerkenntnisse der Rechtswissenschaft zu Klassikertexten reifen: Dies gilt etwa für R. Thoma und G. Anschütz. Im Folgenden seien jedoch prägnante Beispiele für die von den Mitgliedern des PR ganz selbstverständlich benutzten Begriffen und Prinzipien aus der Wissenschaft zusammengestellt. In diesen Kontext gehört vorweg die Argumentation mit der „abendländischen Kultur in Jahrhunderten der Geschichte der Menschheit“ (215). Darin lässt sich eine Nähe zum kulturwissenschaftlichen Ansatz19 erkennen. Kulturwissenschaftlich gedacht sind überdies folgende Passagen: die Betonung des (später auch dem BVerfG bewussten) „kulturellen Inhalts des Rundfunks“ (W. Menzel, 477, s. auch 478), die Einordnung des Kulturgutes als „allumfassenden Begriff“ (506); bemerkenswert ist die (vom BVerfG später durchgesetzte) Forderung nach „gewisser Unabhängigkeit des Rundfunks vom Staat“ (86). Kulturwissenschaftlich gedacht (wenngleich heute 17 Von ihm jüngst publizierte Schriften: T. Heuss: Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918 – 1933, Stuttgarter Ausgabe, 2008; T. Heuss: In der Defensive, Briefe 1933 – 1945, 2009. Sein großes schriftstellerisches Talent spiegelt sich auch in seinen Studien zum 19. Jahrhundert: Deutsche Gestalten, 1947. – Nur selten wurde ein Antrag von T. Heuss im PR abgelehnt (z. B. 78). 18 Vgl. die „Erinnerungen“ von C. Schmid, 1979; in ihnen findet sich ein großer Abschnitt über „Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz“ (S. 318 – 413). Hier werden nicht nur prominente Mitglieder des PR gewürdigt (S. 405 ff.), vielmehr geht C. Schmid auch auf einzelne Vorgänge ein, etwa: „Die Vorstellungen der Alliierten“ (S. 368 ff.), „Bund und Länder“ (S. 376 ff.), „Wahlrecht und Wahlgesetz“ (S. 395 ff.). 19 Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998. – Zum kulturellen Aspekt in der Judikatur des BVerfG in unterschiedlichen Kontexten, z. B. E 31, 299 LS 3; 35, 79 (110); 36, 321 (331); 41, 29 (52); 58, 137 (148 f.). – E 73, 118 (158); E 75, 223 (243 f.): „gemeineuropäische Rechtsüberlieferung und Rechtskultur“; E 92, 203 (238): in Sachen Rundfunk; E 93, 1 (27): „abendländischer Kulturkreis“; E 102, 370 (365): „Kultur der Mitmenschlichkeit“. – E 122, 89 (110): Länder als „Träger der Kulturhoheit“. – E 123, 267 (363): „Möglichkeit, sich im eigenen Kulturraum verwirklichen zu können“.

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

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relativiert) ist ferner der Passus: „Die Familie (wird) in der westlichen Kulturordnung ständig als ,geschlossene Einheit’ aufgefasst.“ (A. Süsterhenn, 97; s. auch dessen Äußerungen zu den Kirchen, 900); vortrefflich bildet C. Schmid den Begriff „Kulturschaffender Reichtum“ (146). Es gibt tiefe Äußerungen zur Geschichte bzw. zur Demokratie, im Kontext der „Kulturländer Europas“ (213 bis 217, s. auch 232), von T. Heuss zum „Ethischen, Kulturellen“ im „Staatsrechtlichen“ (198) sowie zur Ablehnung eines „positivistischen Ansatzes“ (57: „ethisches Grundgesetz“, H. von Mangoldt). Ausdruck von Kultur sind zudem die (später vom Verf. so genannten) „GeistKlauseln“20. Der PR arbeitet in diesem Sinne mit den Worten: „Geist der Verfassung“ (84), „demokratischer Geist des GG und des sozialen Verständnisses“ (723, 727), „Wesen des Bundesstaates“ (582). In Bezug auf die Präambel sagt H. von Mangoldt (219), s. auch 925: sie sei eine Einführung, „die den Geist des Ganzen und die historischen Zusammenhänge wiedergibt“. Bemerkenswert bleibt die frühe Vergegenwärtigung des „Fragmentarischen des GG“ (94, s. auch 398). Beachtlich ist die Diskussion um die Forderung der sozialdemokratischen Fraktion, auch „Grundrechte der sozialen Lebensordnung“ zu normieren (94, s. auch 119); demgegenüber spricht T. Heuss vom Übereinkommen, die Lebensordnungen im GG nicht zu behandeln (120). Die Vertiefung der Frage der Nationalflagge (212 ff.: Zusammenhang der Flagge mit den „demokratischen Idealen“) offenbart eine innere Nähe zum kulturwissenschaftlichen Ansatz (s. auch 283: kulturelle Zusammenhänge in Sachen Art. 29 Abs. 1 GG). Erklärtermaßen schöpft der PR aus dem gesamten europäischen Wurzelboden (bekenntnishaft: 163: „Gerade wenn man europäisch denkt“, C. Schmid, 63). Speziell die kommunale Selbstverwaltung ist als „traditioneller deutscher Rechtsbegriff“ ausgewiesen (256), ihre „Substanz“ müsse garantiert werden (254). Die Rede ist von „klassischer Fassung des Fraktionszwangs“ als Argument (355). Nachweisbar sind sodann die „scholastische Staatslehre“ (196) und die „Zwei-SchwerterLehre“ (199) sowie die „Volkssouveränität“ (25). Ein weiteres Beispiel für die Arbeit mit dem Klassischen liefert C. Schmid in Bezug auf das vom 19. Jahrhundert entwickelte Enteignungsrecht (149)21. Im Rückblick von heute aus schon klassisch sagt G. A. Zinn: „Die Institution“ sei in „ihrer Substanz praktisch beeinträchtigt“ – durch die Erbhofgesetzgebung (145, in Sachen Erbrecht)22. Die Sorge vor „Willkür“ war öfters spürbar (65 f., 160, 162, 164) – darin klingt die Gerechtigkeitsidee an.

20 Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaats, 1992, S. 600 ff., 613, 617, 621 f. – Auch in der Judikatur des BVerfG findet sich die Formel von „Geist des Grundgesetzes“ (SV in E 30, 33 (39) – Abhörurteil); E 53, 366 LS 1: „Geist der grundgesetzlichen Wertordnung“. Früh: E 7, 198 (205): „jede (sc. bürgerlich-rechtliche Vorschrift) muss in seinem Geist (sc. des Wertsystems) ausgelegt werden“. 21 Zur „klassischen Enteignung“ später: BVerfGE 38, 154 (179). 22 Dazu später BVerfGE 67, 329 (340); 91, 346 (358), mit der Formel vom „Rechtsinstitut“.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Rechtswissenschaftliche Dogmatik wird in den Sitzungen des PR allenthalben sichtbar, freilich zum Teil auch im Kraftfeld von klassischen Einsichten. Dies zeigt sich in den Äußerungen zu den folgenden Punkten: im Allgemeinen zur Volkssouveränität (197, 919, 920 f.), zur verfassunggebenden Gewalt des Volkes (198 f., 921), zum „pouvoir neutre“ (397, 681, 891), zur „Verfassungsdurchbrechung“ (574), zur „Umgehung“ der Verfassung (890), zur „Verfassungsautonomie“ der Länder (J. Schwalber, 205), zur staatlichen Souveränität (168), zur „inneren Würde des Staates“ (T. Heuss, 45) – aus heutiger Sicht ein wenig fragwürdig. Stichworte wie Grundrechtskatalog als „Richtschnur“ für die Auslegung von Gesetzen durch den Richter (49) könnten vom BVerfG stammen23. Schon klassisch wirkt das Wort von der Justiz als „Dritte Säule der Demokratie“ (728). Eine glückliche Idee äußert G. A. Zinn mit der Mahnung: keine „gesetzestechnische Überrumpelung des Mannes aus dem Volk“ vorzunehmen (906). Bemerkenswert ist die Sentenz: der Richter habe nicht nur „an und für sich“ das Gesetz anzuwenden, sondern „handele aufgrund bestimmter Wertmaßstäbe“ (C. Schmid, 729). Ebenfalls aktuell bleibt m. E. die These von F. Wolff (697), Laien gehörten wohl in ein BVerfG. Eine Stimme äußert sogar (bis heute zutreffende) Bedenken gegen eine „Selbstwahl“ der Richter durch das BVerfG (698). Die Mitglieder des PR spielen gekonnt auf der ganzen Klaviatur gängiger juristischer, zum Teil rechtstechnische Begriffe. Hier einige Beispiele: die Anknüpfung an dogmatische Figuren der Wissenschaft wie den Begriff „authentische Interpretation“ (439, 837), „Kostgänger“ in Finanzfragen (757, 772, 774, 778 f.), „Ausführungsvorschriften“ (638), „guter demokratischer Brauch“ (577), Bundestag als „Herzstück der repräsentativen Demokratie“ (R. Thoma, 596), BVerfG als „Hüter der Verfassung“ (669). Auch der intuitiv richtige Hinweis auf das BVerfG als Gericht mit einem gewissen „politischem Akzent“ (z. B. S. 673, 725; s. auch 665 und die Kontroverse: 730 f.), seine „höchste Dignität“ (668, s. auch 664) fallen auf. Ebenso wichtig sind: das Prinzip: „nulla poena sine lege“ (741)24 sowie die Arbeit mit der Rechtsfigur der „Legaldefinition“ (465, 481, 572, 638, 837)25, der „terminus technicus“ (78) und das Argument der „Rechtssicherheit“ (708)26, die „communis opinio“ (165), die „Kompetenzvermutung“ (201), der „negative Kompetenzkonflikt“ (185). Weitere Beispiele beeindrucken: der staatsrechtliche Begriff der „Gegenzeichnung“ (412), das „richterliche Prüfungsrecht“ (666, 735), die Figur des „Umkehr23 Vgl. etwa BVerfGE 6, 198 (207): „Ausstrahlungswirkung der Grundrechte“; ständige Rechtsprechung. 24 Dazu später BVerfGE 64, 389 (394), auch mit einem historischen Argument. 25 Auch das BVerfG verwendet den Begriff „Legaldefinition“: E 91, 276 (284). 26 Das BVerfG arbeitet später ebenfalls durchgängig mit dem Topos „Rechtssicherheit“, z. B. E 2, 380 (404 f.); 23, 288 (317); 24, 220 (230); 25, 269 (290); 27, 375 (385); 38, 61 (83); 38, 128 (137); 39, 128 (143); 43, 242 (286); 49, 148 (164), m. w. N.; 50, 177 (193); 51, 356 (362 f.); 59, 128 (164); 60, 253 (268 f.); 63, 152 (175); 72, 175 (196); 82, 6 (12); 84, 133 (159); 95, 48 (62); 95, 96 (134); 101, 239 (262); 105, 48 (57); 107, 395 (416); 119, 331 (383).

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schlusses“ (586), der Analogie (778), der „lex specialis“ (57, 144, 177, 302), der „Fiktion“ (595), des Wortes von der „deklaratorischen Bedeutung“ eines Artikels (807, s. auch 95), des Hinweises auf Gewohnheitsrecht (143, 841), des „förmlichen Gesetzes“ (63, 65), der „Legalitätsreserve“ (593), die Bezugnahme auf die Wissenschaft (809), die „Organisationsgewalt“ (631, 642), die „kirchliche Autonomie“ (905), die „Rechtspersönlichkeit des Staates“ (297), die „juristische Persönlichkeit als fiktive Persönlichkeit“ (181), in Sachen Verwaltung („schöpferische Verwaltung“ (624)), „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ (315), „Verwaltungsvorschrift“ (642), die These: „Die Verwaltung aber müsse weiter arbeiten“ (840) – man fühlt sich an das Votum E. Kaufmanns erinnert, die Verwaltung schlafe nie.27 Verwendet werden die Begriffe: „Einheitlichkeit“ der Staatsgewalt (200), „Bundesuntreue“ (633) – eine Anspielung auf R. Smends auch für das BVerfG (E 12, 205 (254 f.)), pionierhaften Begriff der Bundestreue bzw. Bundesfreundlichkeit von 1916, der Bundestag als „das streng unitarische Organ des Bundes“ (347), die Betonung des „Staatscharakters“ der Länder (250), die drei Elemente des Berufsbeamtentums (317), der „numerus clausus“ an Hochschulen (136 f.) – all dies sind gängige Stücke aus dem juristischen Werkzeugkasten, ja, der Rechtskultur nicht selten gemeineuropäischer Provenienz. Die Sorge vor einem „Leerlauf der Grundrechte“ (59), ihrer „Aushöhlung“ (179 f., s. auch 574) war deutlich gegenwärtig. Beispiele für die vorbildliche Kompromissfähigkeit im PR finden sich oft: z. B. 861, 869, zu Art. 132 GG (858). Gearbeitet wird mit dem Begriff „allgemeiner Gesetzesvorbehalt“ (74 f.); die „staatspolitischen Notwendigkeiten“ dienen als Argument (867); erkannt werden die Grenzen des „Justiziablen“ für das BVerfG (353, 676), auch der Topos „sachliche Zweckmäßigkeit“ (468). Schließlich finden sich Hinweise auf den angelsächsischen Terminus „agency“ (170), in Sachen „zuständige Stelle“: Art. 17 GG. Wissenschaft und Praxis kommen in den Verhandlungen bzw. Beratungen immer wieder zu ihrem Recht: vgl. die Begriffe Völkerrechtswissenschaft (230, 903) 28, die Diskussion von Fragen des Völkerrechts (227 ff., 236 ff., 415, 666), sodann 457: das Argument „bisherige deutsche Staatspraxis“29; 570: Praxis des Reichstages; 741: bisherige deutsche Verfassungspraxis. Weitere Stichworte lauten: die Arbeit mit der „Verfassungswirklichkeit“ (260 f.), in Sachen Neugliederung fast prophetisch: „bundesstaatliches Gleichgewicht“ (279). Vorbildlich wirkt C. Schmid in der Konzeption des „Grundrechtskataloges als Mindeststandard“ (911), auch sein Pos-

VVDStRL 24 (1966), S. 219. Auch das BVerfG befragt mitunter die „Völkerrechtswissenschaft“, z. B. E 23, 288 (309); 64, 1 (35 f.). 29 Zur Relevanz der „Entstehungsgeschichte und Staatspraxis“, z. B. BVerfG E 42, 20 (29); 61, 149 (174 f.); 106, 62 (105); 109, 190 (213). – Zum Topos: „wesensmäßige und historische Zugehörigkeit der Materie“ zu einem bestimmten Kompetenzbereich: BVerfGE 48, 367 (373), m. w. N. – Zur Relevanz der „Staatspraxis“: BVerfGE 65, 1 (39), bei Kompetenznormen; s. auch E 77, 308 (331); 91, 148 (172); 96, 345 (370). 27 28

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tulat, die Grundrechte müssten „das GG regieren“ (42), sie müssten „Richtschnur“ sein (49), ist später erfüllt worden. 3. Judikatur Die (deutsche) Judikatur spielt in den im Übrigen so ertragreichen Verhandlungen des PR naturgemäß eine eher geringere Rolle. Immerhin finden sich Hinweise auf ältere Entscheidungen, vor allem des Reichsgerichts (151, 153, 230, 364, 694)30 und seine Struktur (700). Entscheidungen des RG etwa zum richterlichen Prüfungsrecht spielen eine wichtige Rolle (735). Die Bezugnahme auf Ausführungen des damaligen RG-Präsidenten Dr. Simons auf dem DJT 1926 sei eigens erwähnt (681).

III. Die Öffnung des personalen Beteiligtenkreises über die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hinaus – die verschiedenen Instrumente 1. Unterschiedlich intensive Aktivitäten der Mitglieder des Parlamentarischen Rates Die Mitglieder des PR31 waren – im Spiegelbild des JöR Bd. 1 betrachtet – sehr unterschiedlich intensiv engagiert sowie unterschiedlich fleißig und ideenreich. Versammelt war viel juristischer Sachverstand, überdies viel glaubwürdiges politisches Wissen und viel (klassische) Bildung. Es steht dem Verfasser hic et nunc nicht zu, die Leistungen im Einzelnen zu bewerten. Doch zeichnen sich m. E. folgende Mitglieder besonders aus: T. Heuss, C. Schmid, L. Bergsträsser, A. Süsterhenn, H. v. Mangoldt, T. Dehler, G. A. Zinn, H. Höpker-Aschoff32, W. Laforet, H. von Brentano, H. Renner, – der Respekt vor (dem mit seinem Anträgen oft scheiternden) H. Renner ist durchaus sichtbar (131, 613, 824, 826), auch dessen Kompromissbereitschaft (169) –; sodann R. Lehr, W. Strauß, A. Ehlers, A. Schönfelder, H.-C. Seebohm, Frau E. Selbert, Frau H. Weber, Frau H. Wessel, R. Katz, W. Menzel, A. Pfeiffer, F. Eberhard, F. Löwenthal, Frau F. Nadig, P. d. Chapeaurouge, J. Schwalber. Auffallend und vorbildlich ist, dass die Parteizugehörigkeit der Mitglieder des PR nicht immer aus ihren jeweiligen Beiträgen zu den einzelnen Sachthemen erkennbar wird (z. B. S. 380; 385: Meinungsstreit z. T. „quer durch die Fraktionen“; s. auch die interfraktionellen Eventualanträge (S. 504, 689)); beachtlich bleiben die Anträge des Kommunisten H. Renner (z. B. 613, in Sachen Gewerkschaften). Die 30 Auch das BVerfG greift mitunter bis auf das Reichsgericht zurück: E 34, 269 (271); 75, 369 (377 f.); 81, 278 (294); 89, 214 (233); 101, 361 (392). 31 J. D. Krämer, Die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates, 2008. Eine Auflistung auch in JöR 1 (1951), S. 6 – 8. 32 Zu ihm das Richterbild von T. Ritterspach, in JöR 32 (1983), S. 55 ff.

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intensive redaktionelle Arbeit und die große Mühe im Einzelnen sollte von allen „Nachgeborenen“ nicht unterschätzt werden (z. B. 452).

2. Freiwillige Öffnungen des personalen Beteiligtenkreises über die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hinaus – prozessuale, mehr oder weniger formalisierte Instrumente der Beiträge zu den konstitutionellen Texten Der PR verstand sich von vorneherein nicht als „geschlossene Gesellschaft“ oder als „Konklave“, vielmehr tagte er in allen Arbeitsphasen mit hoher Sensibilität nach außen hin und gab Impulsen aus der schon gewordenen Staatlichkeit der Länder (etwa Bayerns und der Hansestädte) sowie aus dem öffentlichen-gesellschaftlichen Bereich Raum. Durchmustert man seine in JöR Band 1 dokumentierten Verhandlungen, so fällt auf, dass sich sehr viele prozessuale, mehr oder weniger formalisierte Instrumente der Einbeziehung Dritter zur Informationsgewinnung und Partizipation finden, so dass sich der personale Beteiligtenkreis deutlich erweiterte. Die folgende Bestandsaufnahme ist so zu lesen, dass zwischen den Personen bzw. Institutionen unterschieden wird, die an der Arbeit aktiv Anteil nahmen, und den unterschiedlich intensiven Verfahren, mit denen diese sich durch Vorschläge in den Prozess der Verfassunggebung einschalteten, einbrachten oder doch Gehör verschafften bzw. sich darum bemühten. Bestechend ist die freiwillige Öffnung des personalen Beteiligtenkreises über die Mitglieder des PR hinaus. Erkennbar wird ein reicher „Fächer“: via Stellungnahmen des Rechnungshofes des Deutschen Reiches für die britische Zone (757, 819, 821), des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone (695), eine Stellungnahme der Richter des Obergerichts des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (717), Erwägungen des DJT 1928 (681, 817), Eingaben (z. B. des Deutschen Städtetages (256), z. B. der Gewerkschaft Deutscher Beamtenbund (319 f.), der Gewerkschaften (136), des Beamtenschutzbundes (858 f.), des Presserates der britischen Zone (88), eines Ministerialdirektors (654), von Professoren wie W. Heisenberg (522), des Landesbischofs Wurm (103), Äußerungen der Bayerischen Staatskanzlei (480), Petitionen der Gewerkschaften (136), des Gewerkschaftsrats der Vereinten Zonen (119, 147), „studentischer Kreise“ (136), des Deutschen Sprachvereins (98, 106), Anhörung von Sachverständigen (z. B. 533, 551, 559, 695 f., 753 f., 839). Ein Stück offener Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bzw. Verfassunggeber lebt also schon im Anfang des Bonner GG, greifbar insbesondere in den meist vom PR selbst angeforderten Gutachten von Sachverständigen (533, 544, 546, 559, 657, 695 ff., 769 ff, 793 ff., 866, 876, 878, 884), sodann: Gutachten des bayerischen Ernährungsministeriums (537 f.), des Verwaltungsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (869), der Verwaltung für Verkehr (657), aber auch Denkschriften des Mitglieds Dr. W. Strauß (665, 691, 702), Mitteilungen der Hansestadt Bremen (548), der „Aktionsgruppe Heidelberg“ (84), Wünsche der Hansestädte (654), Privatentwurf zum

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Grundgesetz (W. Menzel, 661, der Mitglied des PR war), der „Ellwanger Entwurf“ der Arbeitsgemeinschaft CDU / CSU (501, 516, 519 f.), die „Bayerischen Bemerkungen zum GG-Entwurf“ (84 f.). Der „Protest“ der Hamburger Landeschulbehörde in Sachen Simultanschule (908) sei eigens vermerkt. Intern arbeitet der PR u. a. mit Eventualanträgen (689), mit Textalternativen und Textvarianten (392, 655, 720) sowie Minderheitsvoten (796). Er bedient sich einer Vielzahl von intern bzw. autonom entwickelten besonderen Arbeitstechniken, um Anregungen und Sachwissen von außen zu gewinnen: Man denke z. B. an Fragebögen für Sachverständige (753 ff., 834) und die schon erwähnten gezielten Gutachten. 3. Interventionen der Militärgouverneure (1948 / 49) So sehr die bisherige Bestandsaufnahme gezeigt hat, dass der PR in seinen Verhandlungen dem Ideal einer begrenzt offenen Gesellschaft der Verfassunggeber entsprach, so deutlich muss eine Einschränkung formuliert werden: Die westlichen Alliierten, gelegentlich sogar furchtlos als „Besatzungsmacht“ tituliert (16, 22, 24 f., 30 f., 34 f., 39), nahmen vielfältigen Einfluss auf die Arbeit des PR und formulierten nicht selten überaus detaillierte Vorgaben, sei es in Form eines Memorandums oder in Gestalt eines Schreibens der Militärgouverneure (z. B. 222, 313 f., 455, 461, 464 ff., 471, 496 ff., 512, 513, 554, 636, 652, 663 f., 750, 757, 759, 761, s. auch noch 784 f., 797, 800, 802, 804 f., 832, 849). Erstaunlich und nachhaltig sind die präzisen Vorgaben zur Neugliederung des Bundesgebietes (263 f., 285 f.) und im föderalen Finanzwesen (784 ff.) sowie weitere bis in Einzeltextfassungen hineinreichenden Forderungen (784, 789, 832). Zuletzt ist das Genehmigungsschreiben zum GG (923 f.) und ein Memorandum zu erwähnen (923)33. Im Ganzen: Der PR agiert als begrenzt offene Gesellschaft der Verfassunggeber34. Zweiter Teil

Entstehungsgeschichtliche Textstufen (im Einzelnen), insbesondere die Methodenfrage I. Die sprachliche Arbeit an den Texten und Begriffen Auffällig ist die große Sorgfalt, mit der der PR an den Texten und Begriffen seines Projekts feilt. Hierbei lässt sich eine glückliche Arbeitsteilung der einzelnen 33 Das BVerfG kennt diese Interventionen, z. B. E 7, 1 (8 ff.); 10, 229 (230 f.); 37, 57 (60 f.), m. w. N. 34 Zur Theorie mein Beitrag Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, ZSR 97 I (1978), S. 1 ff., auch in Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 182 ff.

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

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Ausschüsse beobachten. Die großen Leistungen des Allgemeinen Redaktionsausschusses seien eigens hervorgehoben (z. B. 137, 381, 419, 420, 445, 588, 590 f., 638, 657, 680, 779, 783, 826, 840, 903). Die entstehungsgeschichtlichen Textstufen lassen sich in dem glücklichen Wort (der drei JöR-Bearbeiter) „Entwicklung“ nachvollziehen (z. B. 434, 436 ff.). Reizvoll ist überdies der Begriff „Artikelgeschichte“ (457). Mitunter wird im PR bescheiden von „versuchsweiser“ Formulierung gesprochen: H. Höpker-Aschoff (768) – ganz im Sinne des „trial-and-error-Verfahrens“. Wie offen die Gespräche waren, ist überdies an dem vorsichtigen Wort „Diskussionsgrundlage“ (780, 799) ablesbar. Hier eine Auswahl weiterer prägnanter Beispiele: Der PR ist um eine Verdichtung (z. B. in der Präambel, 30) bemüht, ebenso um sprachliche Glättung bzw. Verschönerung mit der gezielten Begründung: „sprachlich schöner“ (409) bzw. „ästhetisches Empfinden“ (746). Außerordentlich, ja suggestiv wirkt der Passus (61): „das Würdevolle im Klang“. Mitunter ist ausdrücklich von sprachlicher Verbesserung die Rede (390), von „textlichen Verbesserungen“ (z. B. 362, 364, 369) und von „redaktionellen Änderungen“ (z. B. 372, 374 f., 396, 421, 439, 449). Die gründliche redaktionelle Arbeit wird immer wieder sichtbar (z. B. S. 363, 364 f., 386, 449, 783). Überdies finden sich Begriffe wie „sprachliche Umformung“ (354), „redaktionelle Umstellung“ (452) und „redaktionelle Ergänzung“ (645). Es kommt zu einer Streichung von geplanten Artikeln im Interesse von Kürzungen (z. B. 121); man wendet sich gegen „große Kasuistik“ (123). Die ausdrücklich gestrichenen Artikel (186 bis 193, 605 bis 613, 615 bis 621) sind gut dokumentiert.

II. Vier bzw. fünf (Arbeits-)Methoden der Verfassunggebung – analog den Auslegungsmethoden der Verfassungsinterpretation – ein gemeinsamer Topoi-Katalog Schon bei der Darstellung des Ringens um Worte, Geschichte, Begriffe und Zwecke sowie das System lag es nahe, an die klassischen Auslegungsmethoden vorgegebener Texte: Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck sowie Systematik („Gesamtzusammenhang“) zu denken. Zumal die tiefe, bereits nachgezeichnete deutschland- und auslandsbezogene Verfassungsvergleichung vermuten lässt, dass eine Analogie zwischen den vier bzw. fünf Interpretationsmethoden einerseits und der Vorgehensweise eines Verfassunggebers bei der Schaffung von Texten andererseits besteht. Dies sei im Folgenden aus den Arbeiten des PR im Einzelnen belegt. Das Ringen um den Wortlaut (270, 327, 351, 367 f., 377, 576, 904) ist als Erstes zu vermerken. (An die Rolle von geflügelten Klassikertexten sei erinnert.) Hierher gehört die Arbeit mit Textvarianten, wie in der Schweiz (z. B. 385 f., 392) sowie die erklärte Wahl der HCHE-Texte als Ausgangspunkt (z. B. 128, 244 ff., 346, 356 f., 365, 366, 376, 383, 392, 396, 451, 453, 460 f., 484 ff., 553, 682 f., 690, 736, 739, 750). Mitunter ringt der PR ausdrücklich um eine präzisere Fassung (367). Einmal ist eine bestimmte Textfassung plastisch mit „Volkstümlichkeit und Allgemeinver-

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

ständlichkeit“ begründet (239). Auch findet sich die ausdrückliche Ablehnung eines „unklaren Begriffs“ (in Bezug auf die „Dezentralisation“, 247). – Die Frage nach Sinn und Zweck und damit der teleologische Ansatz ist ebenfalls präsent (speziell z. B. 299, 352, 373, 468; 677, in Sachen parlamentarischer Minderheitsschutz), aber auch ganz allgemein (eigentlich bei fast jedem Artikel). – Die tiefdringende Bezugnahme auf die Verfassungsgeschichte und die Geschichte überhaupt wurde bereits dargestellt („historische Einordnung“). – Besonders auffällig ist die Sensibilität des PR für Fragen der Systematik (47: „bessere Systematik“; sodann: 305, 339, 420, 425, 639, 703, 801, s. noch 812 ff.)35. Nimmt man die durchgängig praktizierte Verfassungsvergleichung in Zeit und Raum hinzu, so ergibt sich Folgendes: Es kommt zu teils bewussten, teils vielleicht unbewussten „Rückwirkungen“ der vier bzw. fünf juristischen Auslegungsmethoden auf die Arbeitsmethoden des Bonner Verfassunggebers. Offenbar haben die am Prozess der Verfassunggebung unmittelbar Beteiligten bei ihrer höchst schöpferischen Erarbeitung neuer konstitutioneller Texte die vier bzw. fünf Auslegungsmethoden „im Hinterkopf“ (gespeichert). Diese wirken als Gestaltungsinstrumente par excellence. Die verfassungstheoretische Bedeutung dieses Vorgangs lässt sich noch gar nicht ausschöpfen, zumal sich gezeigt hat, dass es für den Verfassunggeber und den Verfassungsrichter einen gemeinsamen Topoi-Katalog gibt („Klassiker“, „Gerechtigkeit“36, „Rechtssicherheit“, „Kultur“, „Geschichtlichkeit“, „Erfahrungen“, „Praxis“, „Wissenschaft“). Vorläufig ist hic et nunc nur zu fragen, ob die am PR beobachtete Arbeitsmethode sich auch bei anderen Prozessen der Verfassunggebung im In- und Ausland finden und sogar verfassungstheoretisch bzw. -politisch propagieren lässt. M. E.: Ja! Freilich ist eine von vorneherein differenzierte Sicht geboten: Die Funktionen des interpretierenden Verfassungsgerichts und die Aufgaben des intensiv gestaltenden Verfassunggebers bleiben aus funktionell-rechtlichen Gründen unterschiedlich – dieser agiert primär politisch, jenes nicht unpolitisch. Verfassungsinterpretation durch das BVerfG ist materiell nicht selten punktuelle Verfassunggebung. Im Ganzen bewahrheitet sich die These von den „Textstufen“ einmal mehr37.

35 Prägnant in Sachen „Systematik“ z. B.: BVerfGE 4, 219 (235); 6, 309 (329); 45, 363 (375); 101, 397 (404 f.); 109, 190 (215 ff.); 111, 10 (50); 113, 167 (209 f., 213); 119, 96 (137 ff.); 120, 56 (73 ff.). 36 Zur „Gerechtigkeit“ als Maßstab in der Judikatur des BVerfG nur E 3, 225 (273): war der PR „bemüht, im Grundgesetz die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen“. – E 84, 90 (21): Gerechtigkeitspostulate auch als Forderung an den verfassungsändernden Gesetzgeber. Ebenso: E 94, 12 (34). – Im Übrigen ist die Gerechtigkeit als Willkürverbot beim Gleichheitsgrundsatz präsent: seit E 1, 14 (53), zuletzt E 123, 186 (225). – Zum Gerechtigkeitspostulat i. S. der Radbruch’schen Formel: E 95, 96 (134), m. w. N. 37 Dazu P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS für K. J. Partsch zum 75. Geb., 1989, S. 555 ff.

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Inkurs: Prägnante Beispiele für gelungene Textstufenarbeit 1. Überschrift bzw. Präambel (vgl. S. 20 bis 41) Dem PR ist bewusst, welche hohe Bedeutung Überschrift und Präambel des Grundgesetzes haben. Im Einzelnen: Wichtiges zur Überschrift äußert T. Heuss: Angst vor der „Magie des Wortes“ müsse man beim Begriff „Bundesrepublik Deutschland“ nicht haben (17 f., s. auch 198). Wiederum vorzüglich ist seine These: „Ich halte den Begriff Republik im Hinblick auf seine inhaltliche Erfülltheit für unerlässlich“ (18). Gleiches gilt für C. Schmids Sentenz: In diesem Namen „Bundesrepublik Deutschland“ kommt zum Ausdruck, „dass ein Gemeinwesen bundesstaatlichen Charakters geschaffen werden soll, dessen Wesensgehalt das demokratische und soziale Pathos der republikanischen Tradition bestimmt“ (20). Insgesamt arbeitete der PR hart und erfolgreich an den Begriffen „Republik“ und „Bundesrepublik“ (16 bis 20). Bemerkenswert ist die Selbstbeschränkung von C. Schmid: „Wir haben nicht die Verfassung Deutschlands oder Westdeutschlands zu machen“ (15). Das Grundgesetz wird ausdrücklich als Provisorium charakterisiert (16, 23 f.). Es kommt zum Hinweis auf die fehlende Souveränität (16). In diesen Kontext gehört das Wort vom „Staatsfragment“ (21, s. auch 94, 398)38. Nicht minder vorbildlich ist die von den führenden Köpfen geleistete Arbeit an der Präambel des GG (vgl. 20 bis 41). Tiefgründig wirkt das Postulat von C. Schmid: „Die Präambel solle nicht nur ein rhetorischer Vorspruch sein, sondern alle Elemente enthalten, die für den Charakter des GG bestimmend seien“ (25). Ebenfalls eindrucksvoll bleibt der Hinweis von O. Suhr auf die Aufgabe, die „Sprache zu finden, die dem normalen Bürger verständlich sei“ (26). Insgesamt lässt sich eine sensible und ideenreiche Arbeit an und in den einschlägigen Textstufen nachweisen (25 f.). Imponierend verläuft die Diskussion um die Einbeziehung der „invocatio dei“ in die Präambel (29). Gleiches gilt für die Redeweise von ihrer „volkspädagogischen, sozialpsychologischen dirigierenden Kraft“ (A. Süsterhenn, 29) – im Grunde zeigt sich schon eine Nähe zu P. Lerches Begriff der „dirigierenden Verfassung“39. Ein weiterer Höhepunkt findet sich in dem Vorschlag von T. Heuss, in der Präambel die Worte: „neu zu gründen“ abzuändern in: „zu vollenden“ (30). Einmal mehr manifestiert sich die hohe sprachliche und inhaltliche Sensibilität des späteren Bundespräsidenten. Von ihm stammt auch der Vorschlag des Präambelpassus: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ mitzuwirken (34). Ebenfalls eindrücklich ist die von den Bearbeitern von JöR Band 1 wiedergegebene „Anmer38 T. Hertfelder / J. Hess (Hrsg.), Streiten um das Staatsfragment. Theodor Heuss und Thomas Dehler berichten von der Entstehung des Grundgesetzes, 1999. 39 Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff., 327 ff.; dazu auch später P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 341 ff.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

kung“, in der es heißt: „Eine Präambel sollte nur wenige markante, den Wesensgehalt einer Verfassung kennzeichnende Gedanken in einer jedermann einprägsamen Form enthalten“ (38) – im Grunde eine teilweise Vorwegnahme der Präambeltheorie des Verf. von 198140. Bei all dem fällt auf, dass in Sachen Präambel intensiv rechtsvergleichend gearbeitet wird: mit Hinweisen auf die französische und die italienische Verfassung sowie die Charta der UN (39). C. Schmid rundet dieses gelungene Modellieren ab mit der wissenschaftlichen Erkenntnis (41): „Diese Präambel ist mehr als nur ein pathetischer Vorspruch. Sie zählt – und wir sind dabei in vollem Bewusstsein dessen, was geschehen sollte, vorgegangen – die konstitutiven Faktoren auf, die wirksam geworden sind, und sie besagt, was geschaffen werden sollte und was noch nicht geschaffen werden konnte. Diese Präambel enthält also rechtlich erhebliche Feststellungen, Bewertungen, Rechtsverwahrungen und Ansprüche zugleich.“ Zuvor hatte er die Präambel als „wesentliches Element des Grundgesetzes“ bezeichnet (28). Frau H. Wessel verlangte, dass der „einfache Staatsbürger fühle und wisse, was in der Präambel stehe“ (30): ein frühes Votum für bürgernahe Präambelsprache und Volkspädagogik.

2. Art. 1, Art. 19 Abs. 2 (vgl. S. 176 bis 180) und 3 GG (vgl. S. 180 bis 183), Art. 20 (vgl. S. 194 bis 202) Im Folgenden sei das Werden einiger ausgewählter Artikel dargestellt, die die Kunst der Verfassunggebung im PR einschließlich der Mühen um gelungene Textstufen widerspiegeln. a) Zu Art. 1 GG Die später über Europa hinaus berühmt und vorbildlich gewordene Klausel zur Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) hat in ihrem Werdeprozess viele bedeutende Väter (48 bis 54). Die Bearbeiter von JöR Band 1 haben, wie so oft, den HCHE vorangestellt, insbesondere die klassisch gewordene Formulierung: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Danach äußern sich große Köpfe wie L. Bergsträsser, H. v. Mangoldt, C. Schmid und T. Heuss, auch A. Süsterhenn, H.-C. Seebohm und O. H. Greve. Bemerkenswert ist der schon erwähnte Einfluss von R. Thoma (Gutachten von 1948). Sowohl die vorstaatliche, naturrechtliche Dimension als auch der vergleichende Hinweis auf die Präambel zur Erklärung der Menschenrechte der UN wurden eingebracht. Mit den Textentwürfen waren mehrere Ausschüsse befasst: der Grundsatzausschuss, der Allgemeine Redaktionsausschuss sowie der Hauptausschuss, meist in mehreren Lesungen und mit verschiedenen sich immer mehr vollendenden Fassungen. 40 Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broemann, 1982, S. 211 ff.

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b) Zu Art. 19 Abs. 2 und 3 GG Die Entstehungsgeschichte der berühmt gewordenen und in viele neue Verfassungen nach 1949 „exportierten“ Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG gehört zu den Höhepunkten der Verhandlungen des PR. Hier wenige Stichworte: Ausgangspunkt war eine Norm des HCHE (Art. 21). In dessen Redaktionsarbeiten findet sich der Begriff der unantastbaren „Substanz“ der Grundrechte. Die später an Art. 19 Abs. 2 arbeitenden Mitglieder des PR brachten den Gedanken des Naturrechts ebenso ein wie die später gängig gewordene bildhafte Formel von der drohenden „Aushöhlung“ eines Grundrechts. Beteiligt waren ein Unterausschuss des Grundsatzausschusses, dieser selbst sowie der Hauptausschuss und der Allgemeine Redaktionsausschuss. Inhaltsreiche Beiträge leisteten H. v. Mangoldt, L. Bergsträsser und T. Dehler. Die vorbildlose Neuerung in Art. 19 Abs. 3 GG, die später in anderen Nationen bzw. ihren Verfassungen Schule machen sollte (z. B. Art. 3 Verf. Peru von 1979), ist dem PR auf drei Seiten geglückt (180 bis 183)41. Der Klärungsprozess geschah in den Etappen vom Grundsatzausschuss über den Hauptausschuss bis zum Allgemeinen Redaktionsausschuss sowie dem interfraktionellen Fünferausschuss (in mehreren Lesungen). Führende Köpfe waren einmal mehr L. Bergsträsser, T. Heuss, C. Schmid, H. von Brentano sowie H. von Mangoldt. Auf die große Neuerung des Art. 19 Abs. 4 GG, die sich dank des BVerfG (zuletzt E 122, 248 (271 f.)) zum Ideal des „effektiven Rechtsschutzes“ mit europaweiter Ausstrahlung entwickelt hat, sei hier nur verwiesen (183 bis 186). c) Zu Art. 20 GG Als letztes spezielles Beispiel für die Kunst der Verfassunggebung in den Sitzungen des PR sei die Entstehungsgeschichte von Art. 20 GG wenigstens kurz kommentiert (194 bis 202). In den Vorbemerkungen des Redaktionstrios von JöR Band 1 wird zunächst auf den HCHE Bezug genommen, auch ist die Entwicklungsgeschichte im PR konzentriert dargestellt (194 f.). Bei den einzelnen Absätzen von Art. 20 GG zeichnen sich neben anderen H. v. Mangoldt, L. Bergsträsser, C. Schmid, T. Heuss, G.A. Zinn, H.-C. Seebohm aus. Als Ausgangspunkt diente Art. 1 der WRV. Eingebracht werden die scholastische Staatslehre, eine Formel der belgischen Verfassung (1831), die kulturellen Bezüge. Als Gegner sind die Volksdemokratien in den Ländern der „Ostzone“ und die NS-Ära kenntlich gemacht (195; zur „Ostzone“ negativ auch 131, 195, 352, 891, 925). Beteiligt waren der Grundsatzausschuss, der Allgemeine Redaktionsausschuss und der Hauptausschuss.

41 Aus der späteren Judikatur des BVerfG: E 42, 212 (219), m. w. N.; 45, 63 (78 f.); 61, 82 (101 ff.); 68, 193 (206 f.); 75, 192 (195 ff.).

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

3. Insbesondere: bewusste Neuerungen Die dem Verfassunggeber, d. h. dem PR geglückten bewussten Neuerungen sind in Deutschland mittlerweile so bekannt, dass sie in diesem Kontext nur kurz in Erinnerung gerufen seien: Das konstruktive Misstrauensvotum in Art. 67 GG wird nicht ohne berechtigten Stolz als „konstruktive Neuerung“ des GG gegenüber der WRV charakterisiert (442, 446). Der PR ist sich auch des Innovationswertes seiner Ewigkeitsklausel nach Art. 79 Abs. 3 GG bewusst (573 ff.). Erinnert sei überdies an die gezielte Schaffung einer abwehrbereiten bzw. „streitbaren“ Demokratie (der Sache nach: 92, 117, 171 bis 176, 207 bis 210)42. Ausdrücklich lehnt der PR die meisten Elemente unmittelbarer Demokratie ab (620 f.). Der Bundespräsident wird absichtsvoll geschwächt (393, 399 ff.). Die Kristallisationsprozesse, in denen sich die Verfassungstexte nach und nach herausbilden, faszinieren (beispielhaft die „Entwicklungen“ des Art. 42 (362 ff.), des Art. 64 Abs. 1 (434 f.) oder des Art. 73 (467 ff.)). Die Vorgeschichte des Art. 140 GG als Verfassungskompromiss sowie die große Wirksamkeit von T. Heuss und H. v. Brentano43 bei der Rezeption bzw. Inkorporation des „Staatskirchenrechts“ (richtiger heute: „Religionsverfassungsrechts“44) der WRV (901) sind später zu Recht oft dargestellt worden (der PR lehnt hier eine Neuerung gerade ab). Einige Beiträge prominenter Mitglieder des PR zu anderen Themen seien im Folgenden eigens zitiert: Gesprochen wird z. B. vom „stabilen Bundesstaat“ (580), von „bundesstaatlichem Gleichgewicht“ (279), in Sachen Neugliederung. G.A. Zinn formuliert kühn: „Völkerrechtsfragen sind im Grunde genommen Verfassungsfragen“ (737) – m. E. ist heute das Völkerrecht ein verfassungsstaatlicher Grundwert. C. Schmid fasst eine tiefe Einsicht für alle Föderalismustheorien in die Worte: „Alle Bundesstaaten der Welt seien Produkte der Geschichte und nicht die Selbstverwirklichung eines juristischen oder logischen Systems“ (459). Im Grunde verdienen solche Texte einzelner Mitglieder des PR heute das hohe Prädikat „Klassikertexte“: als Erfolgs- und als Wertbegriffe. Im Ganzen: Der PR entscheidet nicht „normativ aus dem Nichts“, sondern konstitutionell aus dem „All“ des Typus Verfassungsstaat, in der Möglichkeitsform Deutschlands von 1949, die 2009 nach 60 Jahren zur vollen Wirklichkeit gereift ist.

42 Dazu aus der Judikatur des BVerfG: E 28, 36 (49); 40, 287 (291); s. auch E 111, 147 (158). 43 Vgl. auch BVerfGE 19, 206 (218 ff.). 44 Dieser 1976 in der Literatur vom Verfasser vorgeschlagene Begriff (DÖV 1976, S. 73 ff.) wird jetzt auch vom BVerfG fast wie selbstverständlich benutzt (E 102, 370 (393), letzte Zeile). Aus der zum Teil schwankenden Literatur zuletzt M. Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ und „Religionsverfassungsrechts“?, AöR 134 (2009), S. 309 ff.

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

253

Dritter Teil

Wirkungen des in JöR Band 1 dokumentierten Gesamtwerks (Auswahl) – Die Entstehungsgeschichte im PR als Vorbild für gute Verfassungspolitik I. Wirkungen auf das BVerfG (von Anfang an bis heute) In den ersten Jahrzehnten verarbeitet das BVerfG fast in jedem Band bei mindestens zwei (vereinzelt mehr) Entscheidungen45 die sich im PR spiegelnde Entstehungsgeschichte. Teils zitiert es ausdrücklich den JöR-Band 1 (1951)46, teils wertet es die (anderen) ausführlicheren Stenographischen Berichte bzw. Protokolle der Verhandlungen aus47. Oft wird die Entstehungsgeschichte als ein das Auslegungsergebnis in Bezug auf Wortlaut, Sinn und Zweck „bestätigendes“ Argument hinzugezogen48 bzw. m. E. als fast oder nichts Entscheidendes eher „nachgeschoben“49. Oder das BVerfG sagt noch zurückhaltender, das Ergebnis stehe der Entstehungsgeschichte „nicht entgegen“50; auch will es aus dem „bloßen Schweigen“ des PR keine

Prägnante Beispiele: BVerfGE Bd. 1 sowie 2 und 3, auch Band 6 und 10. BVerfGE 1, 167 (175, 177); 1, 351 (369); 2, 143 (153); 266 (272 f.); 3, 407 (419 f.); 4, 60 (83); 6, 32 (39); 6, 55 (75); 6, 309 (341, 356); 9, 124 (129); 10, 1 (43); 10, 285 (299); 302 (320); 12, 45 (54), Minderheitshälfte; 205 (237); 13, 54 (73); 15, 1 (18); 16, 306 (319 f., 322, 323 f.); 20, 56 (106); 21, 391 (401); 24, 119 (140); 26, 338 (375, 398); 28, 243 (258); 32, 58 (69); 33, 125 (153); 35, 79 (119 f.); 41, 29 (45); 41, 205 (221); 44, 1 (19); 45, 187 (270 f.); 47, 1 (20); 51, 97 (108 f.); 61, 149 (198); 67, 299 (319); 72, 330 (389); 80, 164 (165), SV Grimm; 83, 341 (354 f.); 85, 1 (12); 85, 264 (319); 88, 366 (378); 92, 91 (110); 95, 335 (349); 97, 198 (215); 99, 1 (14 f.); 102, 41 (64 f.); 103, 142 (156); 105, 197 (224); 106, 62 (124); 107, 395 (404); 115, 97 (114); 118, 244 (270 f.); 118, 277 (344 f.) – Minderheitshälfte; 119, 1 (21). 47 Dazu die folgenden Beispiele: BVerfGE 1, 109 (128 ff., 134, 138); 144 (156 ff.); 372 (404 f.); 2, 307 (330); 3, 225 (241 f.); 248 (252); 288 (300); 4, 387 (401); 5, 85 (126, 142); 10, 1 (39 ff.); 59 (68 f.); 15, 126 (133); 17, 1 (13); 18, 112 (119); 19, 202 (219 f.); 20, 56 (110); 21, 54 (62); 74 (83); 22, 49 (74); 23, 98 (109 ff.); 25, 167 (180); 269 (287 f.); 36, 1 (16); 39, 1 (38 ff.); 43, 154 (180 f., ohne Nachweise); 45, 1 (5 f., ohne Nachweis); 187 (225 f.); 48, 185 (188 – SV Hirsch); 49, 70 (80); 62, 1 (46 ff.); 67, 100 (132); 70 (90 ff. – SV Rinck); 74, 51 (61 ff.); 74, 102 (117 ff.); 75, 40 (59 ff.); 76, 143 (157); 77, 137 (150), ohne Zitat; 79, 127 (150 ff.); 80, 315 (334, 339); 81, 310 (331 f.); 83, 37 (58), ohne Direktbeleg; 88, 40 (48); 88, 366 (378); 90, 286 (346 ff.); 96, 345 (365, 369 f.); 102, 26 (38 f.); 102, 370 (389); 105, 313 (349 f.); 106, 62 (124); 109, 133 (169 f.); 112, 332 (352); 113, 167 (209); 114, 121 (153), ebd. 192 ff. – SV Lübbe-Wolff; 116, 24 (77 ff., 47, 50) und ebd. S. 62 – Minderheitshälfte; 117, 372 (394), SV Osterloh / Gerhardt; 118, 277 (320); 123, 267 (349). 48 Z.B. BVerfGE 81, 310 (332); 83, 341 (354 f.); 97, 198 (215); 104, 310 (327); 114, 121 (154). 49 Beispiele: BVerfGE 26, 186 (202); 27, 240 (247); 33, 52 (73). – Mitunter wird dem PR eine bestimmte Kenntnis zugeschrieben, z. B. E 15, 268 (272). – Das SV Niebler sucht eine Bestätigung in der Entstehungsgeschichte des GG: BVerfGE 72, 424 (428). 50 So BVerfGE 68, 319 (331). 45 46

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

Schlüsse ziehen51. Einerseits gewinnt das BVerfG mitunter aus der Entstehungsgeschichte des HCHE und des PR keine Klarheit52 oder keinen Anhaltspunkt53. Oder aber das BVerfG lehnt Erwägungen im PR ausdrücklich ab, da sie im Wortlaut eines Artikels „keinen Niederschlag“ gefunden haben54. Andererseits sagt das BVerfG gelegentlich, der PR habe einen bestimmten Rechtszustand „vorgefunden“55. Nicht selten arbeitet das BVerfG aber auch zentral mit der Entstehungsgeschichte im PR. Vor allem die älteren Grundsatzjudikate wie „Elfes“ (E 6, 32 (37 ff.)), Konkordatsurteil (E 6, 309 (341 ff., 356)), Fernseh-Urteil (E 12, 205 (237)), Grundlagenvertrags-Urteil (E 36, 1 (16)) sowie das Urteil zum Schwangerschaftsabbruch (E 39, 1 (38 ff.)) leben auch von den Beratungen im PR; das BVerfG sucht buchstäblich dessen „Nähe“. Es bemüht sich überdies offensichtlich um „Halt“ in der Rechtsvergleichung in Raum und Zeit, vor allem auch in und an den frühen („vorkonstitutionellen“) Länderverfassungen nach 194556 und punktuell in der frühen Judikatur von Landesverfassungsgerichten, insbesondere des BayVerfGH57. Die durchgängig große Rolle des PR in der Judikatur des BVerfG wird in der Wissenschaft derzeit wohl noch unterschätzt. Die Arbeiten des PR erweisen sich indes über sechs Jahrzehnte hin als große, hoffentlich bald das verdiente Aufsehen erregende Konstante, fast eine Art „Generalbass“ in der Judikatur des BVerfG – bis heute. Wohl in der Mehrzahl der Fälle befasst sich das BVerfG bei der Interpretation von Kompetenznormen mit der sich im PR spiegelnden Entstehungsgeschichte. In Grundrechtsfragen erarbeitet es sich meist einen entwicklungsoffenen Selbststand des Grundgesetzes: neue Grundrechte werden erfunden. Von 1983 an finden sich die auf den Parlamentarischen Rat Bezug nehmenden Entscheidungen in elektronischer Form online.58 Die Bände von 1951 bis 1983 wur51 52

BVerfGE 122, 89 (109). Beispiele in BVerfGE 1, 167 (192 ff.); 2, 213 (220); 2, 380 (400); 3, 58 (77 ff.); 18, 18

(29). 53 Beispiel in BVerfGE 33, 52 (64) unter Hinweis auf JöR 1; ebenso E 45, 187 (220 f.); 47, 1 (20). – Pauschal auf die Materialien verweisen: BVerfGE 37, 121 (127); 45, 187 (270); 47, 1 (20); auch E 60, 175 (199 f.); 60, 319 (325). 54 BVerfGE 92, 158 (177). Die Entstehungsgeschichte relativiert BVerfGE 119, 96 (179), SV Landau. 55 So in BVerfGE 109, 190 (214 f.). 56 Beispiele in BVerfGE 1, 396 (403); 27, 71 (80); 41, 29 (53 f.); 49, 70 (79 f.); 74, 51 (60 f.); 74, 102 (117); 79, 127 (149); 96, 345 (369); 122, 89 (109). 57 Beispiele in BVerfGE 1, 167 (175); 45, 187 (260); 48, 64 (88 f.). 58 Bis heute (Februar 2009) handelt es sich um mehr als 15 Entscheidungen, wobei die spektakulärste vom 4. November 2009 (1. Senat) stammt (die Randnummern beziehen sich jeweils auf die elektronische Fassung). Es ging um das Sonderrecht gegen propagandistische Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft (vgl. E 124, 300, Rn. 65). Alle in zeitlicher Folge: E vom 16. 02. 1983 (Bundestagsauflösung), Rn. 62, 71, 129, 130, 131, 135, 136, 197, 200, 266, 308, 309, 312, 313, 314, = BVerfGE 62, 1 (45 ff.); ebd. SV Rinck 70 (90 ff.); E vom 15. 10. 1997, Rn. 64, 79, = BVerfGE 96, 345 (365, 369); E vom 16. 02. 2000, Rn. 49 f. (mit ausdrücklichen Hinweis auf JöR 1 (1951), S. 540 bis 543), =

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

255

den vom Verfasser durch eigene Lektüre Seite für Seite erschlossen, auch alle Bände der folgenden Jahre. Der Stellenwert der Materialien bei der Auslegung von Gesetzes- bzw. Verfassungsnormen ist theoretisch bislang noch nicht genügend erforscht59. Man fühlt sich fast an den US-amerikanischen Streit zwischen den „Originalisten“ und den Verfechtern der „living constitution“ erinnert. Das BVerfG begann im Urteil vom 16. Februar 1983 zur Bundestagsauflösung an diesem Thema grundsätzlich zu arbeiten: E 62, 1 (45), u. a. mit einem Hinweis auf K. Hesse und R. Smend60. In der Tat muss zwischen den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte von Verfassungsnormen unterschieden werden. Die spezifische Wirkkraft von Verfassungsnormen im „Laufe der Zeit“ ist eine andere, stärkere. Man ist versucht, an einen Klassikertext von G. Radbruch, abgewandelt, zu denken: Verfassungen sind klüger als die Verfassunggeber61!

E 102, 26 (38 f.); E vom 07. 12. 2001, Rn. 31 – 33 (2. Kammer des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts; E vom 17. 12. 2001, Rn. 71, 73, = BVerfGE 104, 310 (327); E vom 08. 04. 2002, Rn. 108 (mit ausdrücklichem Hinweis auf JöR 1 (1951), S. 367), = BVerfGE 105, 197 (224); E vom 17. 07. 2002, Rn. 99 – 101, = BVerfGE 105, 313 (349 f.); E vom 24. 10. 2002, Rn. 168, 247 (mit ausdrücklichen Hinweis auf JöR 1 (1951), S. 539 ff.), = BVerfGE 106, 62 (107, 124); E vom 05. 02. 2004, Rn. 136, = BVerfGE 109, 133 (170); E vom 18. 07. 2005, Rn. 110, 111, = BVerfGE 113, 167 (209 f.); E vom 25. 08. 2005 (Bundestagsauflösung), Rn. 22, 23, 139, 140, 141, 142, 237, 238, 239, = BVerfGE 114, 121 (153 – Sondervotum Lübbe-Wolff, ebd. 182 (192 ff.); E vom 24. 05. 2006, Rn. 41 – 45, 56, 58, 66, 94, = BVerfGE 116, 24 (37 f., 40 f., 47, 50), ebd. 62, Minderheitshälfte; E vom 20. 03. 2007, Rn. 23, = BVerfGE 117, 372 (394); E vom 04. 07. 2007, Rn. 222, 250, 253 (mit ausdrücklichen Hinweis auf JöR 1 (1951), S. 354 f., 377), = BVerfGE 118, 277 (330), ausdrücklicher Hinweis auf JöR 1 in dem Votum der Minderheitshälfte (338, 345); E vom 30. 06. 2009, Rn. 231, = BVerfGE 123, 267 (349); E vom 04. 11. 2009, Rn. 65, 220, 250, 253. 59 Aus der Lit. zuletzt: M. Wendel, Renaissance der historischen Auslegungsmethode im europäischen Verfassungsrecht?, ZaöRV 68 (2008), S. 803 ff. Gerade im europäischen Verfassungsrecht verbietet sich m. E. der primäre bzw. alleinige Rückgriff auf die Materialien. 60 Prägnant auch E 74, 51 (57), in Sachen Asylgrundrecht: „Um diesen (sc. den Inhalt) zu ermitteln, muss festgestellt werden, was insgesamt als Sinn und Zweck der normativen Festlegung, die mit der gegebenen Formulierung zum Ausdruck gebracht wird, gemeint war und ist. Dies findet bei der lapidaren Sprachgestalt, die Grundrechtsbestimmungen häufig eigen ist, nicht schon stets im Wortlaut einen ausreichenden Niederschlag, vielmehr ergibt sich der Sinngehalt vielfach erst aus einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung insbesondere der Regelungstradition und der Entstehungsgeschichte“. Im Folgenden spürt das BVerfG den Beratungen im PR besonders ausführlich nach (S. 61 – 63). – In E 86, 28 (45) findet sich in Bezug auf die Gesetze die Reihung: der „Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang sowie der Sinn und Zweck einer Regelung“. Eine Befragung der Gesetzesmaterialien erfolgt z. B. in E 98, 265 (317). 61 Dazu die Anspielung in BVerfGE 36, 342 (362). Das BVerfG zitiert den PR nur indirekt und ohne eigene Nachweise (H. von Brentano): S. 361 bzw. 351.

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

II. Ausstrahlungen der Vorarbeiten des PR auf deutsche wissenschaftliche Literatur zum GG bis heute (Auswahl) Die Wirkungsgeschichte der Materialien und Beispiele von Direktzitaten des JöR Band 1 bzw. der anderen Berichte bzw. Protokolle finden sich in vielen wissenschaftlichen Literaturgattungen, z. B. in Diskussionsvoten, Aufsätzen, Vorträgen und Kommentaren bis in die Gegenwart. Eine kleine Auswahl aus den unterschiedlichsten Literaturgattungen von heute muss hier genügen62.

III. Ausstrahlungen im Ausland Sie finden sich naturgemäß ohne die Vorarbeiten im PR. Statt ihrer werden im Ausland nur die „fertigen Texte“ rezipiert. Diese Vorgänge sind anderweitig dargestellt worden63, z. B. für Art. 1, 19 Abs. 2 und 3 GG. Darauf sei verwiesen.

Versuch einer Gesamtwürdigung: Die mustergültige Verfassungspolitik der Verfassunggebung im Parlamentarischen Rat Der PR hat eine glanzvolle, höchst konzentrierte Gesamtleistung geschaffen. Man darf wahrlich von einem „Wurf“ sprechen, zumal im Vergleich mit späteren (z. T. nicht nur sprachlich missglückten) Verfassungsänderungen wie Art. 16a GG oder der Föderalismusreform I und II (2006 / 08 / 09). Die Verhandlungen des PR bieten eine Fülle von Beispielen für gute Verfassungspolitik. Sein hohes Niveau ist 62 Aus der Frühzeit: VVDStRL 10 (1952), S. 170: Votum von H. P. Ipsen. – Später K. Stern, Das deutsche Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, der bei vielen Themen auf den PR Bezug nimmt, z. B. beim Bundesstaat (S. 730 f.), bei der Demokratie (S. 601, 603), beim Sozialstaatsprinzip (S. 878, 848 f., 892). – Aus der jüngeren Zeit: VVDStRL 58 (1999), S. 7 (10 f., 21): Referat von R. Dolzer zum Thema: „Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat“ (zu den Beratungen im PR); S. Magen, Grundfälle zu Art. 4 III GG, JuS 2009, S. 995 (996): Das GG wollte mit Art. 4 Abs. III GG auf den „Massenschlaf des Gewissens“ im Nationalsozialismus reagieren; Grundgesetz, Textausgabe, hrsgg. von H. Dreier und F. Wittreck, 2006, S. XIII ff.: „Historischer Doppelbezug: Nazidiktatur und Weimarer Republik“; H. Dreier, Das Grundgesetz unter Ablösungsvorbehalt?, in: ders. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 159 (178): Zitat von C. Schmid im Parlamentarischen Rat. Der Grundrechte-Kommentar, hrsgg. von K. Stern und F. Becker, 2009, wirbt mit der „Wunschvorstellung“ im Parlamentarischen Rat: die „Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren“, sei Wirklichkeit geworden. K. Stern, ebd. Einl. Rn. 5 sowie 20 f., behandelt eingehend wichtige Äußerungen von C. Schmid und H. von Mangoldt aus dem PR. – Kein Geringerer als Bundeskanzler G. Schröder beruft sich im Deutschen Bundestag in Sachen Bundestagsauflösung im Juli 2005 auf den PR: zit. in BVerfGE 114, 121 (127). 63 Dazu mein Bonner Vortrag: Das Grundgesetz als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen, S. 173 ff., in: C. Waldhoff (Hrsg.), Sechzig Jahre Grundgesetz, 2010.

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

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bewundernswert. Erinnert sei an seine neuen Begriffe wie „Verfassungsautonomie der Länder“ (205) und „Schutzpflicht“ (zu Art. 1 Abs. 2, vgl. 51), die später vom BVerfG („Verfassungsautonomie“ bzw. „Schutzpflicht“) ohne entsprechenden Hinweis gebraucht werden und Karriere gemacht haben (zur Verfassungsautonomie: E 103, 332 (347)64 bzw. zur Schutzpflicht: E 39, 1 (42 ff.); 49, 89 (141 f.); 77, 170 (214 f.); 115, 118 (152))65. Besonderes Lob gebührt den drei Bearbeitern des JöR-Bandes 166: Sie stellen meist die WRV (z. B. 408, 412, 413, 484, 526) und den HCHE voran (45, 330, 365 f., 375 f., 383, 396, 425, 426 f., 736, 739, 750 f.). Sie unterstützen die vom PR praktizierte Rechtsvergleichung in Zeit und Raum auf ihre Weise. Diese wird zur „fünften Methode“, nicht nur bei der Rechtsanwendung, sondern auch in der konstitutionellen, gestaltenden Rechtsschöpfung. Sie bewirken durch kluge „Vorbemerkungen“ Transparenz (z. B. 748 f.). Die verschiedenen Ausschüsse, auch „Fachausschüsse“ wie der Fünfer-Ausschuss, der Finanz-, Zuständigkeits- und Organisationsausschuss erfüllen eine Art klärende Filterfunktion. Der Leser gewinnt Einsicht in die mannigfachen entstehungsgeschichtlichen Textstufen bzw. „Entwicklungen“ (z. B. 417, 419, 434, 436). JöR Band 1 erweist sich als verfassungspolitische und -dogmatische „Fundgrube“ ersten Ranges, als rechtskulturelles Kompendium eines werdenden Verfassungsstaates, wohl über Deutschland hinaus. Diese große Glanzleistung des PR wurde in Europa später vielleicht nur noch bei der Ausarbeitung der EU-Grundrechtecharta 2000 erreicht. Man vergegenwärtige sich all diese Leistungen der Jahre 1948 / 49 auf dem Hintergrund der seinerzeit sehr begrenzten technischen Mittel, der allgemeinen wirtschaftlichen Not in Deutschland und des damals noch sehr offenen politischen und wissenschaftlichen Ringens um beste Lösungen. Vorbildlich bleibt die Kompromissbereitschaft der Mitglieder des PR (z. B. 169, 300, 597, 692, 832, 858, 861, 869 f.; zu Art. 131 GG: 858 ff.). Beispielhaft ist die erwähnte Arbeit mit „Diskussionsgrundlagen“ (z. B. 780, 799). Selbst knappe Abstimmungen (z. B. 300, 868, 902) verdienen Respekt und spalteten den PR dennoch nicht. Das Gleiche gilt für die große Sorgfalt in Gestalt mehrerer fruchtbarer Lesungen (z. B. 368 f., 378 f., 382, 396 f., 407 f., 412 f., 450 f., 469 ff., 556 f., 817 f.). Die „sprachliche und begriffliche Schlussredaktion“ ist fast ausnahmslos geglückt67. Im Ganzen staunt der Leser vor der damaligen „Kunst der Verfassunggebung“. Der PR schafft Kontinuitäten über die Jahre 1933 bis 1945 hinweg besonders durch

64 Vorbereitet in BVerfGE 6, 267 (270 ff.); 36, 342 (362). Die Literatur arbeitet wie selbstverständlich mit dem Begriff „Verfassungsautonomie der Länder“, z. B. C. Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 70, RdN. 22; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 28, Rn. 69. 65 Aus der Lit. zuletzt K. Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, S. 241 ff. 66 Nur das Sachverzeichnis (927 bis 941) ist wenig hilfreich. 67 Zu einer Ausnahme ausdrücklich: BVerfGE 26, 338 (396).

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2. Teil: Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe

rechtsvergleichende Umschau in Zeit und Raum. Er leistet aber auch bewusste Neuschöpfung (z. B. 426, 433) und bewusste Abweichung von der WRV68 (54, 258, 426, 468)), das tat freilich schon der HCHE: (605 ff.). Mitunter weicht der PR selbst von seinem großen Vorbild des HCHE ausdrücklich ab (z. B. 195, 878, 893). Zuletzt sei die „ewige“ Grundsatzfrage einer Verfassungslehre mit den Worten des PR thematisiert: „Was gehört in eine Verfassung?“ (813). Sie zeigt sich z. B. (wenn auch im Ergebnis folgenlos) bei der Qualifizierung des Wahlgesetzes als „integrierender Bestandteil der Verfassung“, ohne welches das GG unvollständig (895) sei69. Im Grunde wird hier ein Stück „Verfassungslehre“ sichtbar. Ein materieller Verfassungsbegriff wirkt in der Diskussion um die 5%-Klausel (203 ff.; s. auch 124: „immer weiter getriebene Kasuistik“, die nicht ins Grundgesetz gehöre; s. noch 123, 138). Bemerkenswert ist das Argument von der Schwerfälligkeit einer Verfassungsänderung (228). A. Ehlers erkennt, dass eine Verfassungsbestimmung höher steht als das geltende Recht (327): der „Vorrang der Verfassung“. A. Süsterhenn qualifiziert die Verfassung als „Grundlage des gesamten öffentlichen Gemeinschaftslebens“ (577). Vorbildlich ist die Frage, ob „Normen geringeren Grades mit der Würde einer solchen (Verfassungs)Urkunde“ vereinbar seien (376). Dem Nachgeborenen springt der Begriff der „Wirtschaftsverfassung“ ins Auge (150, 156, 517 f.). Der Blick in die „Werkstatt“ des PR ergibt immer wieder, dass es ihm nicht um Details geht (138, 746), wohl aber um Neuerungen (231), um durchdachte Systematik (47, 425, 703, 801, s. noch 812 ff.), um saubere Wortlautarbeit, kluge Teleologie sowie um kenntnisreichen Verfassungs(text)vergleich in Geschichte und Gegenwart. Besonders faszinierend ist der hier belegte Nachweis, dass der PR bereits bei der Verfassunggebung die fünf bekannten juristischen Auslegungsmethoden anwendet (das schon erwähnte Stichwort von den bewussten bzw. unbewussten „Rückwirkungen“ der Interpretationsmethoden auf den gestaltenden Verfassunggeber bzw. die Entdeckung des gemeinsamen Topoi-Kataloges!70). Nur scheinbar waren die Monate seiner Arbeit 1948 / 1949 eine Stunde Null. Die Verhandlungen im PR von 1948 / 49 gediehen auf einem guten älteren „Humus“ und schöpften aus einem reichen Fundus von Zeit und Raum vor 1933. Gleichsam als Gemeinschaftswerk Hand

68 Ebenfalls vergleichend im Blick auf die WRV teils anknüpfend, teils abweichend argumentiert das BVerfG; Beispiele finden sich für eine Anknüpfung in: E 3, 407 (414 f.), Gutachten; 4, 25 (29); 20, 56 (110); 26, 281 (299); 32, 54 (69), mit viel Rechtsvergleichung (69 f., 73); 44, 308 (314); 61, 149 (174 f.); 76, 363 (384 f.); 77, 1 (43, 45 f.); 84, 221 (224); 109, 133 (170); 113, 167 (209); Beispiele für eine Abweichung: E 8, 1 (12); 24, 367 (400); 34, 165 (181); 38, 1 (11); 39, 1 (36 f.); 41, 29 (45); 43, 242 (271); 51, 43 (59); 52, 304 (335); 91, 367 (381); 114, 121 (157 f.). 69 Vgl. zuletzt BVerfGE 122, 304 (314): Mit dem bewussten Verzicht auf das Vorschreiben eines Wahlsystems hat der Verfassunggeber „ein Stück materiellen Verfassungsrechts offen gelassen“. 70 Dazu die Nachweise aus der Judikatur des BVerfG in FN 6, 7, 11, 13, 15, 20, 26, 29, 35, 68.

X. Vorwort zu Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

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in Hand mit dem HCHE (z. B. 133) hat der PR ein großes gelehrtes Werk geschaffen, das in Manchem den berühmten Federalist Papers von 1787 / 1788 (A. Hamilton / J. Madison / J. Jay) gleichkommt. Vielleicht darf man sogar das deutsche Quartett T. Heuss, C. Schmid, A. Süsterhenn sowie G.A. Zinn auf die Höhe der drei USamerikanischen Autoren stellen. Nicht unterschätzt sei der hohe Wert der behutsamen Öffnung des personalen Beteiligtenkreises mittels der erwähnten prozessualen Instrumente von Petitionen über Gutachten, Anhörungen, Eingaben etc. – eine Vorwegnahme der Stück für Stück entwickelten und immer intensiver praktizierten Verfahrensinstrumente des BVerfG.71 Im Verlauf dieser einleitenden Studie wurden sowohl die vom PR gewollten Kontinuitäten als auch die Diskontinuitäten benannt. Der Streit um die Frage, ob das GG durch Volksentscheid angenommen werden soll (919), ist in Art. 146 n. F. GG auf eine Weise „aufgehoben“: Die Diskussion um die „zeitliche Bedingtheit des GG“ (925) erweist sich als überzeitlich. Der Verfasser dankt dem Tübinger Verlag Mohr-Siebeck, insbesondere den Herren Dr. h.c. G. Siebeck sowie Dr. F. Gillig für die Anregung und Ehre, diese Einleitung zum Nachdruck des (neben Band 6 von 1957: Statusbericht von G. Leibholz) wohl insgesamt berühmtesten Jahrbuchs, d. h. des von G. Leibholz und H. v. Mangoldt herausgegebenen ersten Bandes des JöR von 1951 in der Sicht eines Autors aus einer geistigen Provinz schreiben zu dürfen.

71 Auch das BVerfG bedient sich in ständiger Praxis seit langem ähnlicher Partizipationsund Informationsinstrumente, indem es mögliche Betroffene bzw. gesellschaftliche Gruppen und Verbände bis hin zu Kirchen, Religionsgemeinschaften, Handelskammern, Schwulenverbänden, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen i. S. der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ einbezieht bzw. in Stellungnahmen zu Wort kommen lässt, vgl. nur E 81, 242 (250 f.); 84, 212 (222 f.); 87, 48 (57 ff. – Mitteilungen von Gerichtshöfen); 91, 1 (22 ff. – Umfragen); ebenso 95, 267 (293 ff.). – 100, 59 (89 – Sachverständige). – 105, 313 (323 ff.); 109, 64 (75 ff. – „Äußerungen“). – Stellungnahmen: E 98, 218 (238 ff.); 110, 274 (287 ff.); 112, 226 (236 ff.); 115, 276 (290 ff.); 87, 363 (375 ff.); 116, 243 (254 ff.); 117, 163 (173 ff.); 120, 224 (236 ff.); 121, 175 (182 ff.). – Erbetene Gutachten: E 118, 124 (131 f.) und 120, 224 (229 ff.). – „Geladene Auskunftspersonen“: E 121, 266 (289) sowie E 121, 317 (344). – „Sachkundige Dritte“ (§ 27a BVerfGG): E 119, 96 (113 ff.) und E 122, 316 (331).

Dritter Teil

Wissenschaftliche Interviews

I. Dichtung und Verfassungsrecht: ein Gespräch zwischen Peter Häberle und Héctor López Bofill (2003)* HECTOR LOPEZ BOFILL: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Ich wollte mit dieser berühmten Zeile von F. Hölderlin beginnen, um über die Rolle der Dichtung und ihren Einfluss auf die politische Ordnung und auf die Klassikertexte des Verfassungsstaates nachzudenken. PETER HÄBERLE: Fast während meiner gesamten späteren wissenschaftlichen Laufbahn habe ich versucht, den Einfluss der Poesie und der klassischen Werke der Literatur auf die „Verfassung als Kulturwissenschaft“ zu erklären. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele: Für den Anfang können wir F. Schiller zitieren, der eine direkte Beziehung zwischen Poesie und Politik hergestellt hat: in den Briefe[n] über die ästhetische Erziehung des Menschen. Auch sollte man J.-J. Rousseau erwähnen, der neben seinen bekannten philosophischen Texten Gedichte geschrieben hat (Ist der Begriff des „allgemeinen Willens“ nicht auch ein poetischer Begriff?). Der Begriff „Klassikertexte“ meint auch große musikalische Kompositionen. In diesem Sinne ist Beethovens Ode an die Freude auch ein ,,Klassikertext“ für Europa. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Arbeiten des Konvents über den Europäischen Verfassungsentwurf. ,,Klassikertexte“ spielen eine doppelte Rolle: Auf der einen Seite formulieren sie oft eine heftige Kritik am Verfassungsstaat oder an einzelnen seiner Prinzipien, wie Demokratie oder Rechtsstaat. Mein Beispiel: B. Brechts Dictum: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“ ,,Klassikertexte“

* Anmerkung von H. Lopéz Bofill (2003): Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, einer der großen europäischen Verfassungslehrer, hat seine Theorie der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Duncker & Humblot, Berlin, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998) unter Einbeziehung von Literatur und Dichtung als zentrale Elemente in das Verfassungstextverständnisses entwickelt. Poesie ist nach Professor Häberle einer der Faktoren, die zur Integration und Stabilität der politischen Gemeinschaften beitragen. Das folgende Gespräch fand in München am 23. Juni 2003 statt. Professor Häberle führte einen Dialog mit seinem Schüler, Dr. H. López Bofill, seinerseits Verfassungslehrer in Barcelona und gleichzeitig eine der wichtigsten Stimmen der jungen katalonischen Dichtung. Das Gespräch dreht sich um Literatur, Konstitutionalismus und um die großen Herausforderungen der Zukunft, unter anderem um die Europäische Verfassung und die Rolle der Kultur in der politischen Konstruktion des Kontinents. – Spanische Erstveröffentlichung des folgenden Gesprächs: P. Häberle / H. López Bofill, Poesía y derecho constitucional: Una conversación, 2004. Siehe auch P. Häberle, Teoría de la Constitución como ciencia de la cultura (traducción e introducción de Emilio Mikunda), Tecnos, Madrid, 2000. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

können auf der anderen Seite auch zur Quelle der Legitimation werden. Ein Beispiel für beides liefert F. Schillers Don Carlos über die Spannung zwischen der ursprünglichen Freiheit und der gewährten Freiheit sowie dessen Forderung: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ Alle dies sind zentrale Fragen für die Theorie der Grundrechte, denn sie können mit den Rechten zur Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie den weiteren Rechten des Art. 5 des Grundgesetzes verknüpft werden. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: In Ihren Werken haben Sie die Beziehung zwischen literarischen bzw. musikalischen Texten und Rechtstexten ausführlich erklärt. Interessant ist, dass Ihre Theorie über das „Textstufenparadigma“ von 1989 folgendes bestätigt: Es gibt eine Interaktion zwischen den Konzepten, die aus der literarischen Kunst kommen und in den ,,Klassikertexten“ ausgeformt sind, und der Konsolidierung ihres Erhalts durch ihre Rezeption im Verfassungsrecht. PETER HÄBERLE: Es gibt Themen des Verfassungsrechts, die besonders sensibel für die kreative Tätigkeit der Dichter sind. Die Präambeln in den Verfassungen liefern ein gutes Beispiel, auch manche Aussagen in den Grundrechtskatalogen. Die Dichter vermögen die ausreichende Dosis der Utopie beizusteuern, die den Sinn der Verfassungswirklichkeit mit prägen können. Ich erwähne das Beispiel der Schweizer Bundesverfassung von 1999. Ihre Präambel wurde durch Ideen des Dichters A. Muschg gestaltet. Seine Textzeile lautet: „…, dass sich die Stärke des Volkes misst am Wohl der Schwachen“. Die Werte, die sich aus manchen Verfassungsprinzipien und Staatszielen ableiten lassen, wie z. B. die Toleranz oder die demokratische Bildung und Ausbildung, werden von der sprachlichen Formulierung und vom materiellen Inhalt der dichterischen Aussage mitgeprägt (z. B. Lessings Ringparabel für die Toleranz). In Bezug auf die Grundrechte darf man erwähnen: die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Deren universaler Erfolg wurde zum Teil durch die starke, eindrucksvolle, prägnante und suggestive Natur ihres Sprachstils mitbefördert. Den Einfluss der Erklärung kann man mit dem literarischen Genie einzelner Mitglieder der französischen Nationalversammlung verknüpfen, ich nenne an dieser Stelle nur Mirabeau. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Wenn die Dichtung am Ursprung zahlreicher Verfassungsprinzipien liegt, kann man ebenfalls argumentieren, dass die Dichtung auch ein Auslegungsmittel dieser Verfassungsbegriffe ist. Die Auslegung wird dann aus der Systematik der verschiedenen Teile der Verfassung (beispielsweise Präambel, Grundrechtsinhalte oder Staatsziele) in Bezug auf das festgelegte dichterische Wort betrieben. PETER HÄBERLE: Wir sollten die Funktionen der Poesie in der Entwicklung der Rechtsprechung weder unter- noch überschätzen. Das Gedicht ist als Kunst geschützt durch die Garantie der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz bzw. nach Art. 20.1 b der Spanischen Verfassung. Deswegen ist es unmöglich, eine Auslegung des Begriffs der künstlerischen Freiheit voranzutreiben, die unabhängig ist von den Festlegungen der Kunst und der künstlerischen Freiheit, die die Dichter

I. Dichtung und Verfassungsrecht

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und Künstler selbst geschaffen haben. Ich meine hier die Relevanz des Selbstverständnisses der Künstler bei der Auslegung „ihres“ Grundrechts. Dieses Beispiel gilt auch für die Wissenschaftsfreiheit. Deren Inhalt und Schranken werden von der wissenschaftlichen, akademischen Gemeinschaft mitbestimmt. Nach meiner Auffassung ist die Kunstfreiheit neben der Religions- und Wissenschaftsfreiheit eine der wichtigsten Freiheiten im System des Grundrechtschutzes. Darum genügt es nicht, einen entstehungsgeschichtlichen Hinweis auf das Recht auf freie Meinungsäußerung zu normieren (wie in einigen Verfassungen). In Deutschland gab es früh eine besondere Bestimmung zur Kunstfreiheit: in der Weimarer Verfassung von 1919. Die Kunstfreiheit verdient also einen besonderen Schutz, neben der separaten, spezifischen Bestimmung der Meinungs- und Pressefreiheit. Nur diese Besonderheit entspricht der Autonomie von Kunst und Künstler. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Die Beziehungen zwischen Literatur und Recht reichen an den Ursprung der Rechtswissenschaft zurück. Es ist kein Zufall (dies haben Prof. A. López Pina und I. Gutiérrez Gutiérrez in ihren Elementos de Derecho Publico erwähnt), dass der Stifter der Rechtswissenschaft, Appius Claudius der Blinde, die ersten Prozessrechtsformulare veröffentlicht hat und dass dieser zur gleichen Zeit Gründer der lateinischen Literatur war. In ähnlicher Weise heben Prof. López Pina und Gutiérrez Gutiérrez hervor, dass auch der Ursprung der spanischen Literatur und Rechtswissenschaft mit der Figur des Königs Alfonso X. der Weise verknüpft war. Der erste der ,,Juristen des Widerstandes“ im Deutschland des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, E.T.A. Hoffman, war ebenfalls Schriftsteller. Man sollte vielleicht den Unterschied zwischen Dichtung und Recht betonen: In der Poesie ist die Unbestimmtheit und das Zusammentreffen von vielen Sinnbezügen eine Tugend sowie ein Beweis für den Textreichtum. Im Recht (und damit auch im Verfassungsrecht) verhält es sich anders: Geschätzt wird die Präzision, die erfolgreiche Anwendung der Regel auf den Fall. Im Verfassungsrecht zeigt sich der Widerspruch zwischen der poetischen Auslegung und den Zwecken der juristischen Auslegung besonders deutlich. Denn in der Unbestimmtheit der verfassungsrechtlichen Begriffe findet man die Schlüssel für die Offenheit der Verfassung und die gesamte Gesellschaft sowie ihre Rolle als Quelle der Emotionen und der Kohäsion. PETER HÄBERLE: Die Präzision ist eine Eigenschaft, die die Rechtsprechung und Dogmatik durch Definitionen anbieten muss. Demgegenüber begründet sich die Dichtung auf die Unbestimmtheit und Offenheit, die einen Wandel des Sinnes ermöglicht. Daher ist es eine Besonderheit des Verfassungsrechts, dass sie mit weniger Definitionen arbeitet als das Zivil- oder Strafrecht. Das letztere wird vom Legalitätsprinzip beherrscht. In der Verfassung trifft man auf viele wandelbare Begriffe wie ,,Würde“, ,,Familie“ oder ,,Kunst“, auch „Wissenschaft“, die fast so unbestimmt sind wie die poetischen. Diese Analogie zwischen Verfassungsrecht und Dichtung erklärt auch die Besonderheit der Auslegungsmethoden, die das Verfassungsrecht entwickelt hat, etwa die Topik und die Verfassungsauslegung in der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Hier mag auch das poetische Wort seinen Raum finden.

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Dichtung ist eher eine Verständnisquelle als eine Bestimmungsquelle. PETER HÄBERLE: Die Hermeneutik sieht in der Poesie einen Rahmen, um juristische Begriffe zu verstehen. Im Denken von Schleiermacher bis Gadamer ist sie die Auslegung der mündlichen oder schriftlichen Texte: Dichtung würde in diesem Sinne einen Rahmen des „Vorverständnisse“ in der Kunst der juristischen Auslegung darstellen. Man kann sagen, dass unser „Vorverständnis“ von Begriffen wie „Menschenwürde“ oder ,,Kunst“ nach Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz maßgeblich von der Geschichte der Kultur abhängt – die durch Dichter übermittelt wird. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Allgemein wäre für die Literatur zu sagen, dass die Poesie mit dem Verfassungsrecht verbunden ist, während die Erzählung mit anderen Rechtsdisziplinen verknüpft ist. In diesem Sinne wurde die juristische Erzählung (Law and Literature) von amerikanischen Autoren wie Dworkin oder Posner entwickelt. Für die Auslegung der Verfassungsbegriffe wäre es vielleicht fruchtbarer, sich auf ein poetisches Paradigma als auf ein Paradigma der Erzählung zu beziehen. Das poetische Wort taucht auch als agglutinierendes Symbol auf, um das Verfassungssystem des Verfassungsgebers zu stabilisieren. Es entspräche dann einem emotionalen und integrativen Faktor, der erlaubt, den Konsens über die Grundstrukturen des Staates zu bewahren. PETER HÄBERLE: Dies stellt zweifellos das maßgebliche Anliegen R. Smends, dem Lehrer von K. Hesse (und Konrad Hesse war wiederum mein Lehrer) dar. In seinem berühmten Buch „Verfassung und Verfassungsrecht“, das fast am Ende der Weimarer Republik 1928 veröffentlicht wurde, unterstreicht Smend die Bedeutung des Integrationsprinzips. Noch heute nutzen wir seine Idee über die emotionalen Faktoren als Konsensquelle, die das Verfassungsrecht leisten soll. Wir haben die Präambeln sowie die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ziele schon erwähnt. Genannt seien auch die emotionalen Elemente eines politischen Gemeinwesens, die wie die Nationalhymnen dem Zusammenhalt einer Nation dienen, z. B. die Musik von J. Haydn im Falle Deutschlands. Man kann indes durchaus einen Einwand gegen den poetischen Einfluss im Verfassungsstaat und gegen den aristokratischen und sogar anarchistischen Charakter des Künstlers im Zeichen der sozialen Notwendigkeiten und der regelmäßigen Arbeit der Institutionen geltend machen. Aber während die totalitären Regime, wie der Nationalsozialismus oder der Kommunismus in der Sowjetunion versuchten, die egozentrischen, egomanen Tendenzen des Künstlers abzuschaffen, ist es eine Verpflichtung des freiheitlichen Verfassungsstaats mit solchen Tendenzen fruchtbar zusammenzuleben. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Im Verfassungsstaat begegnen wir auch einem Paradoxon: Ein ausreichend breiter Spielraum bleibt erhalten, so dass der Künstler sein Talent und seine individualistischen Anwandlungen entfalten kann. Aber es gibt immer noch zu viele Abhängigkeiten, die die Unterwürfigkeit des Künstlers gegenüber der Politik fördern. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, eine Moderation des künstlerischen Diskurses unter Erhaltung der kathartischen Wirksamkeit zu finden.

I. Dichtung und Verfassungsrecht

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Der Verfassungsstaat muss für künstlerische und literarische Impulse offen bleiben: ohne den Preis dieser Öffnung käme es zu einem indirekten Eingriff in die Tätigkeit der Künstlers. PETER HÄBERLE: Dies ist ein Thema, über das ich oft nachgedacht habe. Während der siebziger und der achtziger Jahre entwickelte ich den Begriff der „Verfassung des Pluralismus“ (1980) und der oben erwähnten „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975), die von K. Poppers Idee der offenen Gesellschaft inspiriert wurde. Den Begriff der Öffentlichkeit können wir auf die kulturelle Dimension der offenen Gesellschaft und des Pluralismus beziehen. Der Verfassungsstaat muss seinerseits jeden Dirigismus und die Durchsetzung ästhetischer Kriterien vermeiden. Er muss sich gegenüber den in der Gesellschaft lebenden Tendenzen aufgeschlossen zeigen und ein Forum für die Diskussion der im ständigen Wechsel befindlichen Qualität und Exzellenz der verschiedenen Beiträge sicherstellen. So werden in Österreich die Ehrungen, Auszeichnungen und Preisverleihungen, die die Künstler erhalten, von pluralistischen Gremien aus der ganzen Gesellschaft, bestehend aus Künstlern verschiedener Disziplinen, Schulen und Richtungen entschieden. Es geht um den Versuch, die Autonomie der Kunst zu bewahren und gleichzeitig die kulturelle Monopolisierung des Staats zu verhindern. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: In den Minderheitsdisziplinen, die sich nicht in die Logik der kulturellen Industrie oder des Marktes und seines Wettbewerbes erfolgreich integrieren lassen, erscheint aber indirekter Dirigismus des Staates durch Zuschüsse und künstliche Stütze unvermeidlich zu sein. PETER HÄBERLE: Das Gleichgewicht zwischen der Kulturförderung und der Unterstützung der Freiheit und Autonomie des Künstlers seitens des Verfassungsstaats ist schwer zu bestimmen. Ein gutes Vorbild dafür wären die Gremien pluraler Zusammensetzung in Österreich und anderen Ländern. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Die Kultur lässt sich überhaupt als gemeinsame Sprache eines Volkes betrachtet und bildet somit eine Begegnungsstätte, in denen sich die politischen Spannungen auflösen. PETER HÄBERLE: Der Verfassungsstaat als Kulturstaat besitzt in der Sprache eines seiner wichtigsten Vermächtnisse und Potenziale. Die offene Gesellschaft ist nur möglich dank einer kulturellen Entwicklung, die von der Sprache angeführt wird. Es geht nicht nur um einen Zusammenhang zwischen den Mitgliedern einer sprachlichen Gemeinschaft, sondern auch (und dieser Punkt ist maßgeblich im Falle Europas) zwischen sprachlichen Mehrheits- und Minderheitsgemeinschaften. Deshalb bewundere ich die kulturelle Vielfalt in Spanien, die in der Verfassung von 1978 festgelegt ist. Ebenso die sprachliche Vielfalt, die in demselben Verfassungsstaat zusammenlebt: Einige von ihnen, wie im Fall von Katalonien, verfügen über eine kraftvolle literarische Tradition, zu der Sie gehören. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: In der Wirklichkeit gibt es immer eine Spannung zwischen der künstlerischen Tätigkeit und der Rechtswissenschaft. Das faustische Ziel

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

der Dichtung ist die Verwirklichung (und manchmal auch die Durchsetzung) der eigenen Persönlichkeit. Ganz anders ist aber die Verwirklichung des gemeinsamen Wohls, die durch die politische Ordnung und das Recht gesucht wird. Soeben haben wir die schwerlich zu vereinbarende Dualität zwischen der Aristokratie des Dichters und des demokratischen und gleichberechtigten Charakters des Verfassungsstaates schon erwähnt. Ich weiß nicht, ob wir beide Strömungen und Impulse versöhnen können. PETER HÄBERLE: Die Distanz zwischen dem Dichter und dem Verfassungsstaat, in dem er lebt, ist enorm. Dem Dichter ist fast alles erlaubt, er wandert oftmals jenseits des gesunden Menschenverstand bis an die Grenze der Ordnung. Der Jurist ist seinerseits dienender Vermittler zwischen den Bürgern. Sein Horizont muss dem Gefühl und Denken des gemeinen Menschen entsprechen. Seine Handlung muss durch die Idee der Toleranz und des Verständnis für die Würde des Anderen motiviert sein. Der Dichter hingegen zeigt keine Sorge für seinen Nächsten, oft kommt es ihm nur auf sich selbst an. Der Jurist ist auf das Gemeinwohl, die Demokratie als Organisationsform der Gemeinschaft und das Recht als Ordnungsstruktur des Zusammenlebens verpflichtet. Während der Künstler sich anarchisch verhalten kann, muss der Jurist vor allem ein Demokrat sein. In dieser Hinsicht möchte ich Sie fragen, wie Sie diese doppelte Existenz als anarchischer Dichter und als demokratischer Jurist und Pädagoge in Einklang bringen können. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Ich vermute, dass wir alle im Innern, in uns selbst unsere Widersprüche ertragen müssen. Außerdem findet sich immer eine Brücke zwischen dem Profil des Dichters und des Verfassungslehrers. Ich könnte einige meiner Gedichte über die Macht und die Beziehung zwischen Menschen nicht ohne meine Ausbildung als Jurist schreiben. Andererseits: Eine Tugend der Künstler ist die Fähigkeit ihre Zeit zu antizipieren. In der Kunst finden wir den Ursprung von Werten und Verhaltensweisen, die zwar gegenwärtig noch Zeit minoritär sind, aber in späteren Jahrzehnten oder Jahrhunderten mehrheitlich Anerkennung erfahren. Oft spricht die Kunst als erste etwas aus und erst später bewegt sich das Rad der sozialen Körper. PETER HÄBERLE: Ich glaube, dass der Künstler in der offenen Gesellschaft diese Funktion im sozialen Wandel der Gesellschaft erfüllt. Ein Beispiel: Der Umweltschutz war schon in der Sensibilität der romantischen Dichter präsent. Diese haben es zunächst noch nicht dem gemeinen Mensch vermittelt. Man kann sagen, dass die Künstler, wegen ihrer feinen Sensibilität und ihren Erfahrungen, einen besonderen Blick in die Zukunft haben. Niemand außer Shakespeare oder Goethe konnte so wie diese die Charaktere und Besorgnisse ihrer Zeitgenossen schildern. In diese prophetische Berufung haben manche Künstler auch eine pessimistische Seite: die Fähigkeit eine unheimliche Zukunft vorwegzunehmen. Kafka und Orwell beschrieben alptraumhaft eine schreckliche Welt, die wenig später traurige Wirklichkeit wurde, man denke etwa an die DDR in Ostdeutschland. Sie prognostizierten, wie eine Verfassungsordnung zu einer Tyrannei degenerieren kann. Das Gegenbild sehen wir bei Schriftstellern, die uns optimistische Prognosen über die Möglichkeiten mensch-

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licher Organisation und einer freiheitlichen Zukunft entwerfen. Ich habe oftmals über das unverzichtbare Utopie-Quantum nachgedacht, das der Verfassungsstaat braucht. Auch dieses verdanken wir manchen Dichtern. Einige dieser Utopien von Künstlern ihrer Zeit, früh angekündigt, sind später im Verfassungsstaat Realität geworden. Man denke an die soziale Gerechtigkeit. Es gibt auch unglückliche Beispiele: den späten Roman von Günter Grass über die deutsche Wiedervereinigung: „Ein weites Feld“. Trotz des unbestreitbaren Talents, das dieser Schriftsteller in der „Blechtrommel“ gezeigt hat, ist meiner Meinung nach seine Vision des jüngsten Geschehens im wiedervereinigten Deutschland in dem Buch „Ein weites Feld“ sehr pessimistisch und eine Perversion des unverzichtbaren Utopie-Quantums. Vergessen ist auch das Prinzip Hoffnung, das unser glücklich wiedervereinigtes Deutschland heute braucht. Grass leistete sich sogar den Zynismus, die DDR als „kommode (d. h. gemütliche) Diktatur“ zu beschreiben. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie ein junger „Klassiker“ wie Grass zu einer solch falschen Wahrnehmung von historischem Geschehen in Deutschland gelangen konnte. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Es kommt oft vor, dass großen Künstler und Intellektuelle mit einer übertriebenen Vereinfachung schwere politische Fragen zu undifferenziert behandeln. PETER HÄBERLE: Dies hat sich bereits im Jahr 1848 / 49 gezeigt, als die Paulskirchenverfassung, eines der wichtigsten Dokumente der Deutschen Verfassungsgeschichte, sehr heftig von gewissen Intellektuellen-Kreisen kritisiert wurde. Dies obwohl die damaligen Texte des deutschen Verfassungsrecht erfolgreich ins Ausland exportiert worden sind. Aber auch die Künstler besitzen kein Wahrheitsmonopol. Sie verfügen jedoch über ein besonderes Talent, um die Sorgen der Bürger und der Menschheit zu begreifen. Erneut müssen wir F. Schiller erwähnen, das heißt seine Überlegungen zur Würde und Freiheit des Menschen, die viele verfassungsrechtliche Texte mit geprägt haben (über Schillers Gedanken zu Recht und Staat können wir das Buch von P. Schneider empfehlen). Auf der biographischen Ebene sollte man die lange Tradition von Künstlern und Dichtern erwähnen, die auch Juristen waren oder eine juristische Ausbildung hatten. Wir dürfen insofern Kleist, Kafka und Goethe nennen. Diese Künstler haben ihre Besorgnisse über Gesellschaft und Gerechtigkeit auf das höchste Niveau ihrer Ausdrucksmöglichkeiten gehoben. Die Wissenschaft ist, nach W. von Humboldt „Ewige Wahrheitssuche“ und darum ist sie auch oft Irrtümern unterworfen. Anderes ist es mit den Künstlern, die nie falsch sind. Ihre Werke können sich auf dem äußeren Schein, dem Anschein, dem Immanenten begründen, sogar der Manipulation: Kunst ist aus solcher strengen Sicht „nie falsch“. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Kunst ist in der Tat als solche „nie falsch“ als Kunst, solange sie als Anschauungsgegenstand und Sinnesfreude für sich bleibt. Ihre Folgen aber können fatal sein, wenn einige künstlerische Forderungen die ,,Lebenswelt“ unterwerfen wollten. Niemand wusste so von der Anziehung der ästhetischen Macht zu profitieren wie die totalitären Regime.

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

PETER HÄBERLE: Ja, aber diese negative Erfahrung (Kunst als Propaganda) kann nicht die große Fähigkeit der Kunst in Frage stellen, Alternativen anzubieten und die pluralistische Gesellschaft zu bereichern. Diese Idee steckt hinter dem Werk des auch für uns Juristen prominenten Künstlers J. Beuys. Er suchte unnachgiebig den Begriff der Kunst, um viele Dimensionen auszuweiten sowie auf die Rand- und Subkulturen auszudehnen. Deshalb können wir mit Beuys sagen, dass ,,jeder Mensch ein Künstler“ ist. Aber ich füge ironisch hinzu, dass nicht „jeder Mensch ein Beuys ist“. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Dieser Gedanke ist nicht ohne beunruhigende Folgen. Beuys Aussage, „jeder Mensch ist ein Künstler“, führt uns zwar zur Demokratisierung der Kunst und Kultur, aber auch zum Ende der hierarchischen Trennlinie, wo Kunst beginnt und aufhört. Wenn wir annehmen, dass alle Beiträge und Darstellungen denselben Wert haben, wird letztendlich auch der Begriff des ,,Klassikers“ bedroht. Andererseits gefährden Gewinn und wirtschaftlicher Nutzen durch große Unternehmens- und Medienkonzentrationen die Tradition, Sensibilität und Kritik des künstlichen Wertes; alles wird auf ein kommerzielles Produkt und ein Massenspektakel reduziert. PETER HÄBERLE: Ich teile Ihre Besorgnis in der Frage, ob die Poesie und Kunst im Zeitalter des Konsums und der Medien überleben können. Meiner Meinung nach gefährdet die kulturelle Erosion auch den Verfassungsstaat. Dies ist eine Folge der stets prekären Existenz von kulturellen Vermittlungen wie der Bildung und Ausbildung, der Reduzierung der akademischen Inhalte an den Universitäten und dem Schwinden einer fähigen literarischen Kritik. Kunst, die sich immer mehr von einem gleichgültig gewordenen Publikum entfernt, all dies ist eine Bedrohung. Ich bin überzeugt, dass wir nie den Horizont der ,,Klassiker“ und der Begriffe unserer griechischen und lateinischen Tradition verlassen dürfen. Unter ,,Klassikern“ verstehen wir nicht nur die Dichter, Philosophen oder Komponisten, sondern auch manche Juristen, wie die Werke von F.C. v. Savigny oder G. Radbruch in der deutschen Geschichte der Rechtsphilosophie zeigen. Meiner Meinung nach beinhaltet der Begriff ,,Klassiker“ eine doppelte Bedeutung: er ist ein Wertbegriff, was auf die Qualität der neuen Beiträge bezogen ist, und er ist ein Konsensbegriff, der sich auf die Zustimmung einer bestimmten Gemeinschaft bezieht. Manche dieser Begriffe wurden erfolgreich in die Verfassungen inkorporiert, etwa die Menschenwürde. Was in concreto den ,,Klassiker“ ausmacht, hängt von der jeweiligen Tradition ab. Cervantes aber oder Goethe gehören auf die Ebene der universalen kulturellen Tradition der Menschheit. Der Dichter Hölderlin, den Sie schön am Anfang dieses Gespräch zitiert haben, hat Einfluss vielleicht nur auf die deutsche Kulturtradition. Wir sollten also zwischen den ,,Klassikern“ auf der universalen Ebene, auf der nationalen Ebene und sogar auf der lokalen und regionalen Ebene unterscheiden, etwa Mundartdichter in Bayern oder Baden. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Vielleicht ist es an der Zeit, sich auf die europäische Tradition zu konzentrieren: auf die Rolle der Poesie im Europäischen Verfassungsrecht.

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Die gleichen Überlegungen, die wir für den Verfassungsstaat äußern, gelten auch für Europa. PETER HÄBERLE: Europa ist auf jeden Fall die beste aller Utopien, auf die wir anspielen könnten und die wir „finalisieren“ sollten. Man denke an die Friedensgemeinschaft. Unter dem Aspekt des kulturellen Rahmens, in dem sich der Verfassungsstaat entfaltet, ist Europa schon eine gemeinsame Wirklichkeit. Hier sollten man vielleicht an die Vereinigten Staaten von Amerika erinnern. Man darf nicht vergessen, dass die amerikanische Revolution und die Bundesverfassung von 1787, gemeinsam mit den „Klassikertexten“ der „Federalist Papers“ die ersten Schritte zum Aufbau des Verfassungsstaats als Typus waren (hinzuzufügen ist die Französische Revolution von 1789). Am aktuellen historischen Wendepunkt, in dem sich der europäische Aufbau befindet, stellt die gemeinsame Kultur einen Integrationspunkt zwischen den verschiedenen Nationalstaaten dar. Dazu gehört auch die gemeinsame „Verfassungskultur“, ein Begriff von mir aus dem Jahre 1982, und die Konsolidierung der Verfassungsstrukturen der einzelnen Mitgliedsländer (so die föderale Technik als kluge Form der Organisation der Macht). Die EU ist noch nicht ein Bundesstaat, aber längst nicht mehr ein Staatenverbund im Sinne des Völkerrechts. Die Verfassungs- und Völkerrechtlehrer streiten über den richtigen Begriff, um den Charakter der EU zu definieren. Seit einiger Zeit schlage ich für die aktuelle Phase der Integration den Begriff ,,Verfassungsgemeinschaft“ vor. Es ist mehr als der „kooperative Verfassungsstaat“ im Völkerrecht. In diesem Begriff leben die kulturellen, symbolischen und emotionalen Elemente, die eine führende Rolle als Quelle des Aufbaus des Konsenses spielen. Als symbolisches Element haben wir bereits die „Ode an die Freude“ erwähnt. Hinzuzufügen ist die EU-Flagge. Unter den Elementen der Verfassungskultur, die zum Konsens beitragen können, dürfen wir die Grundrechte, die sich bereits in der EU-Charta finden, nennen. Die Charta ist jetzt in den EU-Verfassungsvertrag integriert. Es besteht kein Zweifel, dass wir als Befürworter und Kritiker am EU-Aufbau die Intervention von Künstlern und Intellektuellen brauchen! In dieser Legitimations- und Mitbestimmungsfunktion müssen die Künstler in der Repräsentation des gemeinsamen EU-Raums Vertiefungsarbeit leisten. Im französischen Dichter V. Hugo können wir einen Vordenker finden. Als Kritiker sollten Schriftsteller immer aufmerksam sein, um den Missbrauch von Macht und etwaige Unregelmäßigkeiten gegenüber den Prinzipien des Verfassungsstaats anzuprangern. Beispielsweise sollte sich die Kritik auf die wachsende Bürokratie und die immer größer werdende Distanz zwischen den Regierungen, den EU-Gremien und dem europäischen Volk, der Gemeinschaft der Unionsbürger beim Namen nennen. Indes sollten die Juristen die Ironie und die Deutlichkeit der Rolle der Künstler in der europäischen Integration nicht überschätzen. Sie können eine gemeinsame Vision der europäischen Kultur konzipieren, sie können auch helfen, manche politische Entwicklungen der EU zu verstehen. Heute aber brauchen wir eine Dosis von überlegtem wissenschaftlichem Optimismus, um die Herausforderungen der europäischen Integration zu bewältigen. Wir können nicht bei dem Pessimismus mancher Dichter stehen bleiben. Es gibt genug Gründe dafür, den euro-

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

päischen Verfassungsstaat als Bürger und Wissenschaftler mit dem Prinzip Hoffnung anzugehen. Demokratie und Grundrechte ermöglichen, dass wir auf den Aufbau eines gemeinsamen Verfassungsrahmens vertrauen können. Gewiss, zur gründlichen Verbesserung bräuchten wir einen neuen ,,Montesquieu“, der die ursprüngliche Theorie der Gewaltenteilung in der europäischen Realität von heute überarbeitet. Ich denke zum Beispiel an die Wahl von Repräsentanten und die periodischen Wahlzeiten als Aspekte der Theorie der Machtorganisation. Für die Situation von heute bräuchten wir auch neue Impulse der Aufklärung, sogar des Romantizismus. Goethes Realismus sollte sich mit dem etwas naiven und idealistischen Denken F. Schillers verbinden. Diese Freundschaft zwischen Goethe und Schiller in Weimar (dem Ort, an dem der Höhepunkt des Verfassungsdenkens die Weimarer Verfassung von 1919 gelang) symbolisiert diese glückliche Verbindung zwischen Realismus und Idealismus, die in unserer deutschen Tradition noch durchaus lebendig ist. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Meiner Meinung nach wird das europäische Projekt nur erfolgreich sein, wenn sich die Union auf der Kultur begründet sieht. Ohne Kultur wird die Einheit des Kontinents viel schwieriger sein. Dies ist kein pessimistischer Kommentar, ganz im Gegenteil. Ich versuche nur die kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den europäischen Völkern hervorzuheben, um zu beweisen, dass die Konsolidierung eines Zusammengehörigkeitsgefühls möglich ist. Mir ist die Attische Tragödie näher, sogar näherer als die katalonische oder die spanische Literatur. PETER HÄBERLE: Ihre Bemerkungen könnten einen guten Abschluss unseres Gesprächs bilden. Man darf nicht vergessen, dass die Europäische Gemeinschaft ihren Ursprung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatte. Aber Jean Monnet, ein großer Gründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, schrieb später: Wenn man noch einmal die Gelegenheit hätte, den europäischen Integrationsprozess anzufangen, sollte man mit der Kultur beginnen. Einen Artikel über die Kultur gab es in den alten Europäischen Gründungsverträgen nicht. Erst in dem EU-Vertrag von 1992 und dem Amsterdamer Vertrag von 1997 ist er geschaffen worden. Ich hoffe, dass der in Thessaloniki präsentierte Europäische Verfassungsentwurf auch differenzierte Klauseln im Bereich der Kultur enthält. Die EU-Grundrechte-Charta sollte auf der europäischen Ebene die Kunstfreiheit grundsätzlich genug gewährleisten. Zugleich muss der neue Verfassungstext die jeweiligen kulturellen Befugnisse zwischen der EU und den Nationalstaaten angemessen verteilen und begrenzen, um die jeweiligen nationalen Identitäten aus der Kultur zu bewahren. Man sollte aber auch einen gemeinsamen Korpus schaffen, um Europa als kulturelle Gemeinschaft jenseits der kulturellen Identitäten der 25 Mitgliedstaaten und mancher Nationalitäten innerhalb dieser Staaten zu definieren. HÈCTOR LÓPEZ BOFILL: Die Europäische Gemeinschaft, dies sei zum Schluss gesagt, fing mit der Wirtschaft an und wird in der Kultur ihre letzte Stufe der Integration erreichen müssen. PETER HÄBERLE: Ich hoffe es so sehr, dass die Vielfalt und Einheit der Kultur Europas den Kontinent von neuem erbaut. Vielen Dank.

II. Kultur und Verfassungsrecht: Interview von Prof. Ferreyra mit Prof. Häberle (2009) Geführt am 21. April 2009 in Buenos Aires* RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Die Grundkategorien des Verfassungsrechts – wie Demokratie, Republik, Gewaltenteilung, Föderalismus, Parlamentarismus, Rechtscharta – sind europäische Erfindungen; hauptsächlich, wie in vielen anderen Aspekten, ist die zeitgenössische Zivilisation Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Das älteste Verfassungsmodell ist jedoch die Verfassung der USA von 1787, ein Prozess, der die europäische Produktion aufgenommen hat und sozusagen nur das Präsidialsystem dazufügte. Das schriftliche, formalisierte, dauerhafte, wirksame Verfassungsrecht ist mehr als 200 Jahre alt, unter der Bedingung, dass man die USA von 1787 gerechtfertigterweise als Ausgangspunkt betrachtet. Wenn man die Entwicklung in Lateinamerika beobachtet, ohne einen Vergleich vornehmen zu wollen, kann man sagen, dass der Text der argentinischen Verfassung von 1853 – 60 einer der ältesten ist, und dass das Verfassungsrecht sich in Europa definitiv nach Ende des 2. Weltkrieges, hauptsächlich mit dem deutschen Grundgesetz von 1949, allgemein verbreitet hat. Die drei erwähnten Verfassungsmethoden – Ihrer Theorie folgend – konfigurieren, die wesentliche Organisation des Staates und der Gesellschaft. Voraussetzend, dass diese drei Modelle ein Ergebnis der menschlichen Produktion sind, d. h., sowohl das Verfassungsrecht der USA als auch das deutsche bzw. das argentinische Verfassungsrecht Frucht der menschlichen Aktivität sind, weshalb ihre Regeln Wesen sind, die sich in der Welt befinden, kommt man zu dem Schluss, dass im Konkreten, das Verfassungsrecht eine Erfindung des modernen Menschen ist, und es sich um ein Instrument handelt, das die gemeinschaftliche Selbstbestimmung festlegt. Also gut, welchen ontologischen Status hat Ihrer Meinung nach das Verfassungsrecht? Besser gesagt, im Kontext der ewigen philosophischen Diskussion zwischen Idealismus und Realismus: Sind die Regeln der Verfassungstexte reale oder ideale Wesen? * Erstveröffentlichung u. a. in: Academia Año 7, número 13, 2009, S. 215 – 238. – Dieses akademische Gespräch wurde am 21. April 2009 in der Fakultät für Rechtswissenschaften in spanischer Sprache geführt. Einen Tag später überreichte der Dekan dieser Fakultät, Dr. Atilio A. Alterini, Prof. Dr. Peter Häberle den Ehrendoktor der Universität von Buenos Aires. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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PETER HÄBERLE: Schon eine Beantwortung der ersten Frage ist besonders schwer. Sie fragen nach dem „ontologischen Status“ des Verfassungsrechts. Ich darf mich diesem Thema von zwei Seiten her nähern. Zunächst von einer formellen Seite aus: Verfassung ist im Stufenbau der Rechtsordnung nach Kelsen der Normenkomplex von höchster Geltung. Wir sprechen vom Vorrang der Verfassung. Freilich gibt es noch eine verfassungsimmanente zusätzliche Hierarchie. Die so genannten Ewigkeitsklauseln entziehen sogar dem verfassungsändernden oder möglicherweise verfassunggebenden Verfassungsrevisor bestimmte letzte Höchstwerte. Beispiele finden wir in der berühmten Ewigkeitsklausel des berühmten Art. 79 III GG sowie in Portugal (1976) und in Art. 28 Ihrer argentinischen Verfassung. Ein erstes Beispiel findet sich wohl in der Verfassung Norwegens in der Verfassung von 1814. Inhaltlich, materiell setzt sich die Verfassung aus vielen unterschiedlichen Rechtsfiguren und Prinzipien zusammen. Sie reichen teils in eine ideelle Sphäre, teils sind sie enorm wirklichkeitsbezogen. Sie reagieren auf konkrete historische Erfahrungen (z. B. normiert das GG in Art. 5 u. a. die Informationsfreiheit, die es im Dritten Reich nicht gab), oder die Verfassung verarbeitet historische Katastrophen (Beispiel ist der Tschernobyl-Artikel der Verfassung der Ukraine). Die Würde des Menschen ist der höchste Wert, sie reicht in die höchste idealistische Zone, jedenfalls wenn man sie mit I. Kant interpretiert. Demgegenüber gibt es auch sehr wirklichkeitsbezogene Anforderungen der Verfassung. Man denke an das Pluralismuspostulat, welches das BVerfG in seinen vielen Fernsehurteilen herausgearbeitet hat (Stichwörter sind Binnenpluralismus des öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Außenpluralismus der miteinander konkurrierenden privaten Sender). So haben wir in den Verfassungstexten teils reale, teils ideale Bezüge. Die deutsche Lehre kennt den schönen Begriff der Verfassungswirklichkeit, die oft im Spannungsverhältnis zum Verfassungsrecht steht. So gibt es einen sehr konkreten Konflikt zwischen der Freiheit des Abgeordneten und seiner Loyalität zu seiner politischen Partei. In Deutschland sprechen wir von der Spannung zwischen Art. 38 und Art. 21 GG. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Sie widmen sich seit 50 Jahren ausschließlich der Forschung und wissenschaftlichen Entwicklung; die Einheit und Exzellenz bei der wissenschaftlichen Arbeit sind Paradigmen Ihres Tuns. Natürlich war und ist Ihre wichtigste Besorgnis die Welt, die Sachen, die sie bilden und die Probleme, die diese Objekte betreffen. Um die Wirklichkeit zu studieren, wurden die Betrachtung und Argumentation erprobt; in vielen Fällen ein Empirismus, der den Rationalismus verachtet und umgekehrt. Ohne die Diskussion zwischen Rationalisten und Empiristen anzugehen, dessen Folgen man gewiss auch in den Rechtswissenschaften beobachten kann, und berücksichtigend, dass Sie der einzige Jurist sind, der ausführlich Poppers Ideen bearbeitet hat, ein ausgezeichneter mäßiger oder kritischer Rationalist (Ihrer eigenen Definition folgend): Welche ist die angebrachteste Methode für das Studium der jurisi-

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tischen Verfassungswirklichkeit, die experimentelle Methode, der Rationalismus, oder eine Mischung von beiden? PETER HÄBERLE: In der Tat bemühe ich mich seit genau 50 Jahren (Beginn der Arbeit an meiner Dissertation) mit der Wissenschaft vom Verfassungsrecht. Einer meiner klassischen Gewährsleute ist in der Tat K. Popper mit seinem kritischen Rationalismus. Indes kann er nicht die ganze Wirklichkeit des Verfassungsstaates ergründen, denn seine offene Gesellschaft braucht von vornherein kulturelle Grundierungen, mit anderen Worten den kulturwissenschaftlichen Ansatz. Auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist hilfreich. Denken Sie an die Kritik an den Medien und am Konsumdenken sowie der Warenwelt. Hinter Popper zurück dürfen wir uns das Wissen der antiken Klassiker aneignen, ich denke an den von Aristoteles erarbeiteten Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit (wir sprechen von Willkürverbot) oder an seine Lehre vom Naturrecht. Für verfassungsstaatliches Denken unverzichtbar sind die Vertragslehren in den Varianten von Hobbes über Locke bis zu Rousseau und Kant. Wir verstehen Verfassung heute als immer neues Sich -vertragen und -ertragen aller Bürger. Ich wagte schon 1978 die Theorie, dass Verfassungsgerichte an der Fortschreibung des gelebten Gesellschaftsvertrages beteiligt sind. Wir suchen auch nach einem europäischen Gesellschaftsvertrag, der im Fortschreiten der europäischen Integration in Gestalt von verschiedenen Verträgen ganz im Sinne der Stückwerkreform gelingen kann (von den Römischen Verträgen aus dem Jahr 1957 bis zu Maastricht und Amsterdam aus den 1990er Jahren sowie dem gescheiterten Verfassungsentwurf von 2004 und dem so genannten EU-Reformvertrag (Lissabon) von 2007, der derzeit auf dem Prüfstand des BVerfG steht. Auch der Föderalismus ist eine besonders geglückte Form der Möglichkeit zum Experimentieren. Ich spreche seit einem Jahrzehnt von der „Werkstatt Schweiz“ oder dem experimentierenden Bundesstaat. In den sich totalrevidierenden Kantonsverfassungen der Schweiz finden sich viele Experimente, die dann auf der höheren Ebene von der Schweizer Bundesverfassung von 1999 rezipiert oder korrigiert worden sind. Der Rationalismus Poppers genügt auch aus einem folgenden Grund nicht: Der Mensch ist nicht nur ein „animal rationale“, er lebt auch aus Emotionen. Der Verfassungsstaat gibt solchen „emotionalen Konsensquellen“ Raum, wenn er Nationalhymnen und Nationalflaggen kreiert (dazu meine jüngsten Bücher) oder wenn er nationale Feiertage eröffnet. Wir sollten uns hier das rational-emotionale Menschenbild des Verfassungsstaates vergegenwärtigen. Selbst der Markt ist nicht allein mit der Kunstfigur des homo oeconomicus zu verstehen. Der Mensch lebt nicht nur als rationaler Nutzenmaximierer, sondern er handelt im Markt auch nach irrationalen Motiven. Ein Klassiker der Nationalökonomie, Rüstow, hat dies besser gewusst als manche Marktideologen von heute. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Besonders seit 1982 haben Sie die Idee bearbeitet und verteidigt, dass die Theorie des Verfassungsrechts ein kulturelles Produkt ist. Karl Popper hat die weltliche Wirklichkeit in eine physische, eine sensible und eine kul-

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turelle Welt aufgeteilt. Die dritte Welt oder kulturelle Welt Poppers ist eine objektive Wirklichkeit, die hauptsächlich das menschliche Wissen betrifft. Sind das Verfassungsrecht und Ihre Theorie Teil dieser dritten Welt von Popper? PETER HÄBERLE: Sie fragen nach der Drei-Welten-Lehre von Popper. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns Verfassungsrechtlern hilft. Die Mathematik könnte sowohl Naturwissenschaft als auch Kulturwissenschaft sein. Meines Wissens ist diese Frage selbst bei den Mathematikern ungeklärt. Überdies kann ich die Welt 3, dass heißt die Welt der geistigen und kulturellen Gehalte nicht von der Welt 2, dass heißt der Welt der individuellen Wahrnehmung trennen. Umstritten ist z. B., ob große Kunstwerke eines Michelangelo oder gotischer Kathedralen unabhängig vom Betrachter Kunstwerke, d. h. schön sind. Bekanntlich gab es schon im antiken Griechenland eine Unterscheidung von drei Welten: Logos, Psyche und Physis; die Römer unterschieden Ratio, Intellectus und Materia. Wir Verfassungsjuristen müssen von der Autonomie der „Welt des Verfassungsstaates“ und seiner Wissenschaft ausgehen, uns freilich auch immer die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten vergegenwärtigen und bescheiden sein. Die Philosophie kann spekulieren, assoziieren bis hin zur Beliebigkeit, die Verfassungswissenschaft muss sich in konkreten Verantwortungssituationen bewähren, z. B. als Verfassungsgericht ein parlamentarisches Gesetz mit den Maßstäben der Verfassung überprüfen oder als Zivilrichter oder Strafrichter der ersten Instanz sozusagen an der Front sich vor dem Einzelfall verantworten. Als kleiner Nachtrag noch ein Wort zum dritten Welten-Begriff: Spätestens seit 1982 entwickelte ich die Lehre von der Verfassung als Kultur bzw. den kulturwissenschaftlichen Ansatz. K. Popper war für mich erkenntnisleitend nur in seinem Konzept der offenen Gesellschaft, d. h. der Ablehnung aller totalitären Systeme wie des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Marxismus und Leninismus. Seine Kritik an Platon teile ich nicht, denn bekanntlich ist nach einem Bonmot von Whitehead alles Denken eine Fußnote zu Platon. Im Unterschied zu Popper versuche ich die offene Gesellschaft durch den kulturwissenschaftlichen Ansatz zu grundieren. Dies leistet Popper meines Wissens gerade nicht. Ohne Kultur stürze der Mensch bei aller Offenheit ins Bodenlose. Im Übrigen gibt es in meiner Sicht heute keine drei Welten. Es gibt nur eine Welt, freilich eine Welt in großer Vielfalt aus Kultur. Ich lehne auch den Begriff erste Welt, zweite Welt und dritte Welt ab. Denn sie könnte eine Bewertung nahe legen, die nicht richtig ist. Die erste Welt, d. h. das sog. alte Europa kann heute auch viel von der dritten Welt lernen. Dies gilt vor allem für das Verfassungsrecht. Man denke an die Kultur des Ombudsmanns in Lateinamerika, zu der Mexiko wesentlich beitrug. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Anfang der 60er Jahre stellen Sie der Wissenschaftsgemeinschaft des Verfassunsgsrechts ein neues theoretisches Paradigma vor, die Erklärung und Bearbeitung einer Regel der deutschen Verfassung von 1949. Im Artikel 19 II GG wird ausgezeichnet angeordnet: ,,In keinem Falle darf ein Grundrecht

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in seinem wesentlichen Inhalt betroffen werden.“ Diese Regel der deutschen Verfassung bedeutet ein Paradigma für die Auffassung und Entwicklung der Grundrechte, das zum Glück rezipiert, imitiert wurde. Sie haben in Ihrer Dissertation insbesondere die zwei Dimensionen der Grundrechte bearbeitet: Die subjektive bzw. plurisubjektive und die institutionelle Dimension. 60 Jahre nach der Gesetzgebung des Grundrechtes und fast 50 Jahre nach der ersten Veröffentlichung Ihrer Dissertation: Welche Bilanz ziehen Sie von der Anwendung dieser Regel im deutschen Verfassungsrecht? Welche sind Ihrer Meinung nach die Voraussagungen für das 21. Jahrhundert für Staaten, wie Argentinien, zum Beispiel, dessen Verfassung seit 1994 die wichtigsten internationalen Instrumente der Menschenrechte auf die höchste Stufe der Normenhierarchie angesiedelt hat und sie direkt anwendbar machte? PETER HÄBERLE: Es war ein Glück meines Lebens, dass ich im Jahre 1957 meinem akademischen Lehrer K. Hesse in Freiburg vorschlagen durfte, dass ich als Dissertation die berühmte Wesensgehaltgarantie der Art. 19 II GG wählen durfte. Ihre komplexe Frage beantworte ich in drei Schritten: Die Wesensgehaltsgarantie beruhte auf Vorarbeiten der Dogmatik in der Weimarer Zeit. Das Grundgesetz normierte sie in der Absicht, damit eine letzte Grenze für alle offenen und versteckten Aushöhlungen der Grundrechte zu ziehen. Zur Verfassungsvergleichung: Auf vielen Kontinenten und in vielen nationalen Verfassungen, neuerdings sogar in der EUGrundrechtecharta finden sich Textvarianten zu Art. 19 II GG. Schweizer Kantonsverfassungen sprechen von Kerngehaltsgarantien. Einige osteuropäische Verfassungen wie Polen und Estland schützen den Wesensgehalt. Sogar in Spaniens Verfassung von 1978 ist das Vorbild von Art. 19 II GG zu erkennen. Schließlich finden wir Nachfolgeartikel in der Verfassung Südafrikas und ihrer Provinzen. Mit anderen Worten die Wesensgehaltsgarantie ist vielleicht zum erfolgreichsten Exportgut des GG geworden. In Deutschland werden drei Theorien vertreten: Die absolute Wesensgehaltgarantie, nach der ein letzter Kern der Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber unantastbar geschützt ist, sodann die relative Wesensgehalttheorie, die mit differenzierter Güterabwägung arbeitet, und schließlich eine kombinierte Lösung, die ich 1962 vorgeschlagen habe und die sogar mein großer Lehrer K. Hesse in seinen Grundzügen 1967 übernommen hat. – Ich freue mich, dass ihre argentinische Verfassung von 1994 in der Normenhierarchie die Menschenrechte als unmittelbar anwendbar auf der höchsten Stufe angesiedelt hat. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Ihre These von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wurde 1975 eingeweiht1. Dort schlagen Sie die Erweiterung der 1 Sehen Sie besonders, P. Häberle, „La sociedad abierta de los intérpretes constitucionales: una contribución para la interpretación pluralista y procesal de la Constitución“, in Academia. Revista sobre la enseñanza des Derecho, Jahr 6, Nr. 11, Buenos Aires, Fakultät für Rechtswissenschaften, Rubinzal-Culzoni, 2008, p. 29 – 61. Ins Spanische übersetzt von Prof. Xabier Arzoz Santiesteban.

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Verfassungsinterpretation an alle Bürger vor, im Gegensatz zu einer Restriktion ausschließlich für die Operatoren, d. h. Richter und Verfassungsrechtler. Ihre ,,offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ ist eine leuchtende Gemeinschaft, wenn man sie mit der Gemeinschaft vergleicht, die die Interpretation der Verfassung einschränkt. Die These der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wurde zur selben Zeit bekanntgegeben, als die Welt einem tiefen technologischen Wandel beiwohnte; besonders in der Kommunikation. lm Konkreten waren die Information und Kommunikation 1975 bei weiten nicht das was sie heute sind; die Möglichkeiten, die uns die Kommunikationsmedien heutzutage bieten, sind in den letzten 40 Jahren sehr gewachsen. Folglich, wenn man berücksichtigt, dass der Mensch sich immer der gnoseologischen Schwierigkeit des Unbekannten stellen muss: Denken Sie, dass der radikale Wandel in den Kommunikationen die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten einfacher macht? Anders gesagt: Finden Sie eine Aktualisierung Ihrer These angebracht, die die Globalisierung der Information beachtet, und gleichzeitig die Unmöglichkeit alles zu erkennen? PETER HÄBERLE: Das Paradigma von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten entwickelte ich 1975. Erst 20 Jahre später wurde mir bewusst, dass sich kulturgeschichtlich betrachtet dahinter die protestantische These Martin Luthers vom Priestertum aller Gläubiger verbergen könnte. Blicken wir zurück: Im alten Rom war die Kenntnis des Rechts der Priesterkaste vorbehalten. Die Zwölftafelgesetzgebung schuf Öffentlichkeit des Rechts für die Bürger Roms, bekanntlich wurde sie von einer Reisegruppe von römischen Juristen und Politikern nach Athen geschaffen, die sich an dem Gesetzgebungswerk von Solon orientierte. Noch heute ist für den Verfassungsstaat charakteristisch, dass Gesetze veröffentlicht werden müssen. Das neue am Paradigma von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, dass es jetzt nicht mehr nur um die öffentliche Kenntnis des gesetzten Rechts geht, sondern das alle Bürger Zugang zum Interpretationsprozess haben sollen. Der Supreme Court Brasiliens unter seinem Präsidenten Mendes hat seine Anwendung des amicus curiae theoretisch mit dem Konzept der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten untermauert. Das deutsche BVerfG geht pragmatisch vor und lässt seit langem in manchen großen Prozessen in öffentlichen Hearings pluralistische Gruppen wie Gewerkschaften, Arbeitgebervereinigungen, den Kirchen und anderen Religionsgesellschaften zu Worte kommen. 1975 habe ich nicht vorausgesehen, welche rasante Entwicklungen vor allem im technischen Bereich mein Paradigma herausfordern oder vielleicht in Frage stellen können. Schon in der ersten Auflage meiner Europäischen Verfassungslehre aus dem Jahre 2000 / 2001 sowie in der 6. Auflage in 2008 projizierte ich die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten auf die EU. Es gibt schon Ansätze für eine offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa. Greifbar ist dies an der Beteili-

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gung via Internet, die einige Bürger beim Entwurf der Verfassung von 2004 wagten. Wäre diese europäische Verfassung in Kraft getreten, könnten wir von einer offenen Gesellschaft der Verfassungsgeber in Europa sprechen. Übrigens kennt man in der Schweiz Vernehmlassungsverfahren: Bürger und pluralistische Gruppen können sich zu Entwürfen von Gesetzen und Verfassungsrevisionen äußern. Weltweit betrachtet müssen wir von einem Ensemble von Teilverfassungen sprechen. Es gibt noch kein ganzes Weltverfassungsrecht und vermutlich ist es auch gar nicht anzustreben. Es gibt nur Teilverfassungen wie die UNO-Charta, das Internationale Seerechtsübereinkommen oder das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, entworfen in Rom und praktiziert in Den Haag. Mein ideales Konzept der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist im Kleinen wie im Großen gefährdet. Durch Vermachtungsprozesse einerseits und beklagenswerte Ökonomisierungsvorgänge andererseits, wir sehen aber auch Positives: Nichtregierungsorganisationen sind an den weltweiten Informationsprozessen weltweit beteiligt, etwa im Umweltrecht oder den Menschenrechten RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Ende der 70er Jahre haben Sie ein neues Paradigma präsentiert: Die Verfassung als öffentlicher Prozess. Ich verstehe, dass Ihre These insbesondere eine Bearbeitung Ihres Postulates der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist. Leider wurde Ihr Beitrag über die Verfassung als öffentlicher Prozess noch nicht ins Spanische übersetzt: Könnten Sie die wichtigsten Ideen Ihrer theoretischen Konstruktion über die Verfassung als öffentlicher Prozess erwähnen? PETER HÄBERLE: Mein Paradigma von der Verfassung als öffentlicher Prozess baut auf wissenschaftlichen Leistungen von Rudolf Smend (Zum Problem des Öffentlichen, 1955) sowie von J. Habermas, Zum Strukturwandel der Öffentlichkeit Ende der 60er Jahre auf. Zunächst war mir die Anknüpfung an die alte Traditionslinie der Antike insbesondere von Cicero wichtig: Salus publica, res publica, res populi. In Verfassungstexten aus neuerer Zeit spiegelt sich das Öffentliche in Verfassungsnormen der französischen und spanischen Tradition, die von öffentlicher Freiheit sprechen. Ich unterscheide gerne zwischen der so genannten Republikanischen Bereichstrias: das grundrechtlich abgesicherte höchstpersönlich Private, wie Ehe, Familie, Persönlichkeitsschutz, Schutz des persönlichen Wortes auch im Strafrecht, Schutz informationstechnischer Systeme (etwa Onlinedurchsuchung), Schutz der informationellen Selbstbestimmung. Der zweite Bereich ist der gesellschaftlich-öffentliche Bereich. Gemeint sind der Öffentlichkeitsstatus der politischen Parteien und der Abgeordneten, das öffentliche Wirken von Verbänden wie Gewerkschaften (Streikrecht) bis hin zum so genannten Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen, den Rudolf Smend in den 1950er Jahren entwickelt hat. Das dritte Feld ist das Staatlich-Öffentliche, d. h. die Öffentlichkeit des Parlaments, die Öffentlichkeit des Rechnungshofes und die Öffentlichen Hearings vor einem Verfassungsgericht.

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Der Verfahrensgedanke ist mir wegen des Demokratieprinzips wichtig. Demokratie lebt von Verfahren, die letztlich meist in Kompromissen enden sollten. Da die Verfassung als „Rahmenordnung“ nur z. T. materiellrechtliche Vorgaben macht, ist das Übrige im Laufe der Zeit durch die faire Ausgestaltung einer Vielzahl von Verfahren zu erarbeiten. Ein Beispiel ist mein Gedanke: Salus publica ex processu (1970). Die Verfahren freilich verlangen einen gestuften Minderheitenschutz. Denken Sie an die Verfassungsrechte der Opposition im Parlament. Die Offenheit der Verfassung ist ein Aspekt meiner Idee der Verfassung als öffentlicher Prozess (1969). Diese Offenheit ist freilich nicht unbegrenzt, da es letzte, nicht verhandelbare materielle Grundwerte gibt, die der Verfassung als öffentlichem Prozess voraus liegen: ich denke vor allem an die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, Menschenwürde verstanden im Sinne von I. Kant. Übrigens ist der Verfahrensgedanke besonders im angloamerikanischen Recht (fair, due process) bekannt. Ja, er war sogar dem römischen Recht bereits im Ansatz bekannt (Audiatur et altera pars). Man denke auch an Poppers Verfahren von Versuch und Irrtum. Ich füge sogar noch einen Klassikertext von F. A. von Hayek hinzu: Der Markt als Entdeckungsverfahren. Dies, obwohl der Markt für mich nur instrumentelle Bedeutung hat und ich die liberale Marktideologie gerade heute nicht vertrete. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Die Verfassungsdogmatik des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika hat durch die Veröffentlichung Ihres Buches „El Estado constitucional“, zuerst in Mexiko2 und dann in Argentinien, einen sehr wichtigen Antrieb erhalten. Sie beschrieben und bearbeiten die Existenz einer neuen Art von Staat, der Verfassungsstaat. Dieser lässt sowohl ein präsidiales, wie ein parlamentarisches Regierungssystem zu. In Europa ist das Präsidialsystem in der Praxis unbekannt. Es geschieht nicht dasselbe in Lateinamerika, wo das Unbekannte der Parlamentarismus ist. Der Parlamentarismus erfordert grundsätzlich die Kooperation der politischen Parteien; der Präsidentialismus dagegen die Konfrontation. Seit 15 Jahren besteht unser Freund Eugenio Raúl Zaffaroni darauf, dass die Inexistenz von Staatstreichen in Lateinamerika nicht die Schwachheit der Regierung bedeutet; im Gegenteil, die konstitutionellen Regierungen in Lateinamerika scheitern an ihrem eigenen Gewicht und ihrer präsidialen Wurzel, die die Teilnahme aller Kräfte in der politischen Arena verhindern. Zaffaroni schlägt, besonders in Argentinien, die Verfassungsreform vor, und die Annahme der parlamentarischen Systeme. Unser gemeinsamer Freund, Diego Valadés, seinerseits von Mexiko aus, schlägt in seinem jüngsten Werk die „Parlamentisierung des Präsidentialismus“ vor.

2 Hierzu insbesonders P. Häberle, El Estado constitucional, Mexiko, Universidad Nacional Autónoma de México, Institut für Juristische Forschung, 2003. Ins Spanische übersetzt von Prof. Fix Fierro und mit Vorwort von Prof. D. Valadés.

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Treffenderweise hat Otto Bachof bemerkt, dass keinerlei Erfindungen das Funktionieren eines bestimmten Regierungssystems sichern; ich denke meinerseits, dass der konstitutionelle Wandel in Argentinien sofort nötig ist, sowie der dringende und ordentliche Ausstieg aus dem Hyperpräsidentalismus. Ohne in die doktrinarische Debatte Parlamentarismus-Präsidentalismus zu geraten, und da Sie ein Theoretiker des Verfassungsrechts und seines formellen Wandels sind: Welche sind die Lichtseiten und welche die Schattenseiten des 60 Jahre langen Parlamentarismus in Deutschland? PETER HÄBERLE: Mir ist die Diskussion in Lateinamerika in Gestalt der Konzepte Ihres großen Richters Zaffaroni und des mexikanischen bedeutenden Autors Valadés einigermaßen bekannt. Ich weiß, dass in Lateinamerika viel über das Verhältnis von Präsidentialismus und Parlamentarismus gestritten wird. Ich halte es für möglich, dass junge Länder in schwierigen Phasen, vor allem die so genannten Schwellenländer wie Brasilien einen Staatspräsidenten mit nicht wenigen, begrenzten Vollmachten haben sollten. Entscheidend ist gerade hier die Begrenzung der Amtszeit auf 4 oder 5 Jahre und die Begrenzung der Wiederwahl auf zwei Amtsperioden. Katastrophales Gegenbeispiel: Venezuela unter Chávez heute. Präsidiale Systeme in jungen Ländern bedürfen des Widerparts durch starke Verfassungsgerichte, wie wir derzeit in Brasilien dank des Supreme Court unter G. Mendes mit Freude beobachten können. Parlamentarische Systeme haben den großen Vorzug pluralistisches Spiegelbild offener Gesellschaften zu sein. Darin kann jedoch eine Schwächung der Entscheidungsprozesse liegen. Erlauben Sie einen vergleichenden Blick auf Frankreich. Sie wissen, dass De Gaulle seine Verfassung der fünften Republik von 1958 auf sich zugeschneidert hat und er im Grunde das parlamentarische Parteiensystem verachtete. Heute haben wir in Frankreich, dem Mutterland der Menschenrechte, Tendenzen zu einer monarchischen Republik (Staatspräsident Sarkozy-Bruni). Spanien darf sich eine republikanische Monarchie nennen. Hier wie dort lebt das Parlament, wenn auch in unterschiedlicher Vitalität und Stärke. Theorie und Praxis des Parlamentarismus in unserer in 60 Jahren so geglückten und erfolgreichen Demokratie gemäß dem GG haben mehr Licht als Schatten. Ich nenne einige Schatten vorweg: Die Parteiendemokratie beherrscht zuweilen das Parlament und die Abgeordneten, die sich zu selten spontan und allein Gehör verschaffen können. Dies ist Ausdruck der schon in Weimar auf den Begriff gebrachten Oligarchie der politischen Parteien. Es gibt jedoch auch heute noch große Stunden des Parlamentarismus. Meist sind sie einzelnen Rednern bzw. Abgeordneten zu verdanken. Unvergessen sind manche Reden des Kronjuristen der SPD, Adolf Arndt, sowie die Rede des soeben verstorbenen Abgeordneten Ernst Benda in Sachen Unverjährbarkeit von Kapitalverbrechen. Der Parlamentarismus unseres GG unternimmt immer wieder Versuche zu Parlamentsreformen, um das Plenum zu vitalisieren (z. B. aktuelle Fragestunden). Das deutsche Parlament gilt als fleißiges Arbeitsparlament, d. h. die Hauptarbeit wird in

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den Ausschüssen geleistet. Derzeit wird über die Einrichtung eines eigenen Parlamentsfernsehens diskutiert. Der deutsche Bundespräsident ist von Verfassungs wegen auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Nur in wenigen Ausnahmefällen kann er das Parlament auflösen. Dies ist eine Antithese zur Weimarer Republik. Angemerkt sei, dass seit K. Adenauer von einer Kanzlerdemokratie gesprochen wird. Ich verhehle nicht, dass ich entgegen der wohl herrschenden Meinung der Ansicht bin, dass die von den Kanzlern H. Kohl und G. Schröder gestellten Misstrauensanträge, die dann Erfolg hatten, Formen des Missbrauchs der Verfassung waren. Leider trat das BVerfG diesem Formenmissbrauch nicht entgegen. Denn beide Kanzler hatten eigentlich das Vertrauen der Mehrheit ihrer politischen Parteien, wollten aber „mit Gewalt“ ein neues Mandat des deutschen Volkes. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Eine der Diskussionen des Verfassungsrechts könnte so vorgestellt werden: Eine Gruppe von Theoretikern erlaubt und verteidigt die Idee, dass die Verfassung ein Wertesystem darstellt, das von der verfassungsgebenden Gewalt im Moment seiner Gründung geregelt wird; eine weitere Gruppe, ihrerseits, glaubt, dass die Verfassung kein Wertesystem darstellt, sondern grundsätzlich sichert, dass diejenigen regieren, die nach der in der Verfassung festgelegten Prozedur, die Mehrheit erreicht haben. Schematisch kann die erste Meinungsgruppe als ,,Wertsystemverteidiger“ charakterisiert werden und die zweite als ,,Formalisten“. Folglich, zwischen Formalisten und nicht Formalisten: ln welchem Sinne verteidigt eine oder die andere Gruppe die Wahrheit, besonders Ihrer These von Verfassungstext und Kontext folgend? PETER HÄBERLE: In meiner Sicht drückt die Verfassung eine Pluralität von Grundwerten aus: Beginnend mit der Menschenwürde über die Einzelgrundrechte bis hin zur Demokratie als organisatorischer Konsequenz der Menschenwürde. Hinzu kommt der geniale Gedanke eines Montesquieu von der Gewaltenteilung. Wir verstehen diese horizontal im Sinne der drei Gewalten. Wir verstehen diese vertikal in Gestalt des Föderalismus, der Autonomen Gebietskörperschaften in Spanien und der kommunalen Selbstverwaltung. Hinzu kommen Staatsaufgaben: vom Sozialstaat über den Kulturstaat bis zum Umweltstaat. Die Verfassung ist in unterschiedlicher Dichte eine „Rahmenordnung“. Manche Prinzipien sind unveränderbar, manche können mit Zwei-Drittel-Mehrheit verändert werden. Meine Lehre von den Textstufen bezieht immer auch die Kontexte ein. Damit meine ich auslegen durch Hinzudenken, wobei es Grenzen gibt. Das Paradigma der Textstufen bedeutet: Sehr oft verdichtet ein späterer Verfassunggeber das zu einem Text, was zuvor ein Verfassungsgericht judiziert oder die Verfassungswirklichkeit praktiziert hat. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Die Verfassungsgerichtsbarkeit, d. h., die Erfindung, dass die Verfassung eine hierarchische Ordnung festlegt, an dessen Spitze, eben, die Verfassung steht, und dass folglich alle Gesetze, die ihr widersprechen, als unanwendbar verstanden werden können, ist 200 Jahre alt geworden.

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Der bekannte Rechtsspruch „Marbury vs. Madison“ von 1803 hat die Verfassgerichtsbarkeit eingeweiht. Im Jahre 2009 wird eine der entwickeltsten Verfassungsgerichtsbarkeiten der Welt, die deutsche, 60 Jahre alt, und in 2 Jahren wird eine der bekanntesten Polemiken des Rechts 80 Jahre alt: ,,Hans Kelsen vs. Carl Schmitt“: Wer soll der Wächter der Verfassung sein? Sie haben mit Objektivität und Ernst bemerkt, dass die Gedenktage wichtig sind, um die emotionale Basis des gemeinschaftlichen Konsenses wiederzugestalten und zu bearbeiten. Aus diesem Gesichtspunkt heraus und ohne die objektiven Unterschiede im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit zu übersehen – zwischen der Gerichtsbarkeit, die das diffuse Modell adoptiert und der Gerichtsbarkeit, die das konzentrierte Modell adoptiert –: Welches ist das Inventariat der Verfassungsgerichtsbarkeit in unserer Zeit? Anders ausgedrückt: Welche Fortschritte kann man in der Kontrolle der nicht verfassungsgemäßen Gesetze feststellen und welche Herausforderungen stehen uns noch im 21. Jahrhundert bevor? PETER HÄBERLE: Jeder Verfassungsstaat sollte selbst entscheiden, ob er eine diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit oder eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit wählt. Die Wirkmächtigkeit für das diffuse Modell beweist Marbury vs. Madison (1803) in den USA. Die Wirkmächtigkeit für eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit beweist die Corte in Rom (1947 eingerichtet), das deutsche GG (1949), das BVerfG begann 1951, und besonders eindrucksvoll auch das Verfassungsgericht in Lissabon und in Spanien. Das Instrumentarium der Verfassungsgerichtsbarkeit in unserer Zeit hat sich enorm verfeinert. Hier nur einige Stichworte: die Berücksichtigung der Folgen eines Richterspruches, die Forderung nach der Verfassungsvergleichung als fünfter Auslegungsmethode, von mir 1989 erstmals vorgeschlagen, vom Staatsgerichtshof in Liechtenstein unter Berufung auf mich in der 1990er Jahren ausdrücklich rezipiert und in der Praxis europäischer Verfassungsgerichte zunehmend geübt. Leider ist ausgerechnet hier der US-Supreme Court, dem wir soviel verdanken, besonders rückständig. Nur die Richterin Ginsburg hat kürzlich in einem Interview in einer amerikanischen Tageszeitung gefordert, dass man im US-Supreme Court mehr Rechtsvergleichung treiben sollte und die nationalen Verfassungsgerichte bestrebt sein sollten, sich als Instrumente in einem weltweiten System zu verstehen. Beachten wir bitte, dass das europäische Gericht erster Instanz in Luxemburg jetzt auch rechtsstaatliche Anforderungen an den UN-Sicherheitsrat stellt. Der deutsche Begriff des Rechtstaat und die rule of law der angelsächsischen Länder sind im Verbund mit dem universalen Menschenrechtsschutz im Vormarsch. Schließlich: zu den Instrumenten der Verfassungsgerichtsbarkeit gehört auch die Möglichkeit von richterlichen Sondervoten, erfunden in den USA, praktiziert am BVerfG (noch nicht in Italien) und auf Verfassungsstufe eröffnet in der Verfassung Spaniens. Es gibt Beispiele dafür, dass das Sondervotum von heute zu einem Mehrheitsvotum von morgen wird – dank öffentlicher Dimension in der Zeitdimension. Für mich ist dies ein Beleg für die „Verfassung als öffentlicher Prozess“.

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RAÚL GUSTAVO FERREYRA: In Lateinamerika werden die demokratischen Mechanismen (Wahlen) und die Gewaltenteilung oftmals von individuellen Interessen oder von einem Teil der Gesellschaft beeinträchtigt. Es entwickelt sich zur Zeit ein wichtiger judicial activism, in Form einer wachsenden Reaktion, die sogar im Falle der Schwächen der anderen Gewalten explizit Regeln festlegen kann. Glauben Sie, dass dies die Konsolidierung der Institutionen fördert oder bedeutet es eine Zurückbildung des republikanischen Systems? PETER HÄBERLE: Mir ist bekannt, auch dank der Einladungen nach Mexiko, Brasilien und jetzt glücklicherweise nach Argentinien, dass die Gewaltenteilung in Lateinamerika oft gefährdet ist durch reale politische Interessen. Als teilnehmender Beobachter bin ich glücklich, dass die Verfassungsgerichte judicial activism praktizieren und die anderen Gewalten zum Handeln zwingen. Vergleichend betrachtet können wir lernen, dass es in Verfassungsstaaten ein Wechselspiel von judicial activism and judicial restraint gibt. Dies finden wir in der Geschichte des US-Supreme Court. Auch das deutsche BVerfG kennt unterschiedliche Phasen unterschiedlicher Aktivität. Vermutlich kann nur der Weltgeist erkennen, wann Aktivität und wann Passivität geboten ist. Sicher ist nur, dass das Verfassungsgericht Ungarns nach der Wende 1989 / 1990 gut beraten war, viel Aktivismus zu wagen, da die anderen Gewalten noch nicht verfassungskonform arbeiten konnten. Meines Wissens hält sich heute das Verfassungsgericht in Budapest stärker zurück. Dies verdient Zustimmung, da der Verfassungsstaat Ungarn etabliert ist. Man sprach damit von einer vom Verfassungsgericht erfundenen oder doch praktizierten unsichtbaren Verfassung. Meines Erachtens gilt für Argentinien Folgendes: Der richterliche Aktivismus Ihres Supreme Courts liegt in der Gegenwart in der Konsolidierung der institutionellen Ordnung. Das republikanische System wird durch eine zeitweise richterliche Aktivität nicht geschwächt sondern gestärkt. Zugespitzt: In einer Übergangs- oder Reifephase sollen und können die anderen Staatsorgane vom Supreme Court in Buenos Aires lernen. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Welche Vorschläge hätten Sie für eine Konkretisierung der offenen Gesellschaft der Rechtsinterpreten in „jungen“ Demokratien wie der argentinischen? PETER HÄBERLE: Das Paradigma der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten sollte schon Gegenstand der Pädagogik werden. M. a. W.: die Menschenrechte müssen schon in den Schulen als Erziehungsziele gelernt werden, wie es bereits die Verfassungen von Guatemala und Peru früh vorschlugen. In Argentinien sollte die Jugend früh ermutigt werden, sich durch Petitionen und Diskussionen am Entstehungsvorgang und Interpretationsvorgang des Rechts zu beteiligen. Vielleicht ist dies noch utopisch. Spätestens die Universitäten sind hier gefordert. 1974 wagte ich in einem Vortrag in Berlin die These: Von den Schulen hängt es ab, welche Verfassungstheorie wir uns leisten können. RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Deutschland und Argentinien haben seit dem 19. Jahrhundert Beziehungen. Trotzdem stammen die akademischen Beziehungen aus

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jüngster Zeit und sind, vielleicht, Folge der Globalisierung und der neuen Informationsgesellschaft. Im Laufe Ihres Lebens haben Sie immer von der professionellen Ausübung als Rechtsanwalt wie von Wahlämtern abgesehen. Kurz gesagt, Sie haben Ihr Leben der Wissenschaft gewidmet, die Forschung bevorzugt und die Unparteilichkeit und die wissenschaftliche Genauigkeit verteidigt. Natürlich haben Sie unterschiedliche akademische Auszeichnungen an verschiedenen Orten und Momenten erhalten. Die Professoren Atilio A. Alterini und Eugenio Raúl Zaffaroni sind bestimmt zwei der angesehensten Juristen in Iberoamerika. Als Vertreter der Universität von Buenos Aires, Alterini als Dekan und Zaffaroni als Direktor der Abteilung für Strafrecht, haben, zusammen mit einer großen Gruppe von Professoren, zu der wir gehören, die Verleihung des Ehrendoktortitels vorgeschlagen und durchgeführt. Worin liegt die besondere Bedeutung dieses Ehrendoktors in Ihrem wertvollen Studium und Forschungskarriere? Glauben Sie, dass es möglich ist, die akademischen Beziehungen zwischen der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität von Buenos Aires und der deutschen Akademie zu vertiefen? Gegebenenfalls: Welche Wege schlagen Sie für die Entwicklung der akademischen institutionellen Beziehungen vor? PETER HÄBERLE: – Austauschprogramme, auf Studenten-, Doktoranden- und Dozentenebene. Entscheidend ist die Betreuung durch einen individuellen Professor des Verfassungsgerichts. – Personen vermögen mehr zu leisten als Institutionen! – als Partnerschaftsabkommen; – die Law School der Universität von Buenos Aires sollte sich mit einer der besten deutschen Fakultäten verbinden.

RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Am Beginn dieses Interviews werden verschiedene konstitutionelle Erfahrungen erwähnt: die amerikanische, die deutsche und die argentinische. Die drei Staaten haben etwas gemeinsam: die juristische Orientierung des Staates ist föderativ. Der formelle Verfassungswandel, die Verfassungsreform, hat im Laufe der Jahre verschiedene Wege gefunden: in den USA wurde die Verfassung in weniger als 18 Momenten in 200 Jahren reformuliert; Argentinien reformulierte die föderative Verfassung fünf Mal in 156 Jahren und bedeutenderweise hat Deutschland sie noch viele Male mehr reformuliert als alle Reformulationen in Argentinien und den USA zusammen.

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

Wenn man die deutsche Erfahrung mit der der USA vergleicht, ist die Flexibilität der deutschen Verfassung nicht stärker als die Unflexibiliät der Verfassung der USA, wenn die Stabilität der konstitutionellen Systeme verglichen werden soll. Sowohl die Deutschen seit 1949 als auch die Amerikaner seit 1789, schaffen es, die genannte Stabilität mit Hilfe verschiedener Medien und Instrumente zu erhalten. Es sieht für einen externen Zuschauer des deutschen juristischen Systems so aus, als ob die Deutschen ihre Verfassung so viele Male anpassen, wie es nötig sei und die Amerikaner, ohne zur Reform zu gelangen, befinden sich trotzdem im konstitutionellen Umfang. Demgemäß gibt es nicht eine einzige Formel für die Verfassungsreform. Trotzdem bedeutet das Verfassungsrecht einen generationsübergreifenden Dialog: Die kommenden Generationen werden begünstigt bzw. beschädigt, sowohl durch das Gute, das geregelt wird, als auch durch die Versäumnisse oder Fehler der konstitutionellen Konfiguration. Gleichfalls wohnt man heute der fantastischen Einführung des Gemeinschaftsrechts und des Internationalen Rechts der Menschenrechte bei. Welche, denken Sie, wird die Situation in der Welt des 21. Jahrhunderts sein: „Die Internationalisierung der Verfassungsrecht“ oder „die Konstitutionalisierung des internationalen Rechts“? PETER HÄBERLE: Beides ist wohl richtig: eine Öffnung des nationalen Verfassungsrechts zum internationalen Recht hin. Mein Stichwort vom „kooperativen Verfassungsstaat“ (1978) oder von Seiten des verstorbenen Kollegen K. Vogel von der „offenen Staatlichkeit“. In Europa sprechen wir von Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen und Verfassungsgerichte. Zugleich dürfen wir begrenzt und punktuell von einer Konstitutionalisierung des internationalen Rechts sprechen. Dabei ist der Verfassungsbegriff zu klären. Sodann kann es sich nur um Teilverfassungen handeln. Klassisches Postulat bleibt Kants Ewiger Frieden (1795), sein Wort von der weltbürgerlichen Absicht. Ich selbst definiere das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht. Das Völkerrecht ist heute die interessanteste Teildisziplin der Rechtswissenschaft. Ich selbst bin zu alt, um diesen Vorgang voranzutreiben. Die nächste Generation ist gefordert. Wir brauchen eine neue Schule von Salamanca, die z.B: wie angedeutet, das Rechtsstaatsprinzip im Völkerrecht verbindlich macht und allseits Garantien für die Durchsetzung universaler Menschenrechte schafft. In Lateinamerika gilt dies besonders für die unterdrückte Urbevölkerung. Mich freut, dass wenigstens auf Verfassungstextebene viele lateinamerikanische Verfassungen an die Urbevölkerung denken. Die Verfassungswirklichkeit weist hier große Defizite auf. Ich gratuliere dem Freund Raul G. Ferreyra, dass er sich pro bono für die gefährdeten Rechte und Lebenswelten der Indigenas im Norden Argentiniens annimmt, und hoffe, dass Ihr Supreme Court hier einen Weg findet, der zugleich ein Baustein für mein Thema des gemeinlateinamerikanischen Verfassungsrechts ist.

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RAÚL GUSTAVO FERREYRA: Sie danken und ehren im größten Teil Ihres Werkes ständig Ihren Lehrer Konrad Hesse, Verfassungsrechtler und Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Welche sind die Grundlagen der Methode der wissenschaftlichen Forschung, die er lehrte und an die Sie sich heute noch erinnern? Welche sind die wichtigsten Hinweise, was das Studienobjekt angeht – das Verfassungsrecht –, die Sie am stärksten beeinflusst haben? Denken Sie immer noch, dass die Lehrer von ihren Schülern lernen? Gegebenenfalls: Was würden Sie denjenigen raten, die heute mit dem Studium des Verfassungsrechts beginnen? PETER HÄBERLE: Ich danke für diese auch ins Persönliche reichende Schlussfrage zu meinem akademischen Lehrer K. Hesse. Sein Opus Magnum sind die „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ (1. Aufl. 1967, R. Smend gewidmet, 20. Aufl. 1995). Sie sind heute ein junger Klassiker, bestechend in der Strukturierung ihres Gegenstandes und der systematischen Durchdringung des Stoffes, weniger geeignet für jüngere Semester als für Doktoranden und die Kollegen! Zentrale Neuerungen dieses, ohne Rechtsvergleichung arbeitenden, ganz auf das GG konzentrierten Buches sind: – die normative Kraft der Verfassung, Antrittsvorlesung 1956, Antithese zu G. Jellineks Normativer Kraft des Faktischen – die Lehre von der praktischen Konkordanz, d. h. des schonendes Ausgleichs durch Güterabwägung von konfligierenden Prinzipien, wie Grundrechte einerseits, Sonderstatusverhältnisse, wie Berufsbeamtentum und Bundeswehr andererseits – seine Lehre von der „Konkretisierung“ im Auslegungsvorgang in Sachen Verfassungsnormen z. B. durch den Gesetzgeber (meine Lehre von der Ausgestaltungsbedürftigkeit aller Grundrechte) und die Verfassungsrechtsprechung.

Sehr vieles habe ich als Basis für mich übernommen. Laut Hesses Vorwort gehöre ich auch zu den Assistenten, die den langwierigen Entstehungsprozess begleitet haben. Mein Versuch im Jahre 1965, ihn für das Thema Kultur zu begeistern, misslang leider. In der Tat glaube ich an den wissenschaftlichen Generationenvertrag zwischen Lehrern und Schülern. Seit der Antike (Sokrates, Platon, Aristoteles), seit den mittelalterlichen Klosterschulen, seit den Bauhütten großer Kathedralen gibt es LehrerSchüler-Verhältnisse. Sie beziehen sich zunächst auf das juristische Handwerkszeug, später können sie dann in tiefere Höhen reichen. Mein Rat an Erstsemester: zunächst ein persönlicher: sich frühzeitig einen Meister suchen. Parallel dazu sofort Klassikertexte lesen, d. h. Texte von Montesquieu und Rousseau und Kant bis hin zu J. Rawls und H. Jonas.

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

Sodann parallel zum Studium des eigenen nationalen Verfassungsrechts Beginn der Vertiefung in ein anderes nationales Verfassungsrecht: je nach Freund / Freundin. Schlussworte des Professors Dr. HÄBERLE: Erlauben Sie mir Don Raul und Don Sebastiano am Ende Ihres eindrucksvollen Fragenkanons ein eigenes Thema zu berühren. Ich glaube an die Zukunft des Verfassungsstaates in ganz Lateinamerika. Es mag Rückschritte geben wie derzeit in Venezuela, es mag die Möglichkeit konkrete Utopien übersteigen, wie derzeit in manchen Verfassungstexten Kolumbiens, das jedoch in der Verfassungswirklichkeit zunehmend gute Wege findet. Stefan Zweig sprach vor Jahrzehnten von Brasilien als einem „Land der Zukunft“. Wir dürfen nach meinem zweiten Besuch in Ihrem Land vermuten, dass heute Argentinien ein Land der Zukunft ist. Dies aus mehreren Gründen: Argentinien hat hervorragende Verfassungstexte, in denen viele Möglichkeiten der Interpretation stecken, im Sinne meines Möglichkeitsdenkens. Argentinien verfügt über einen Supreme Court, etwa mit einem Meister wie dem Richter Zaffaroni, der durch judicial activism manche Defizite des Systems ausgleichen kann. Nicht zuletzt verfügt Argentinien über eine lebendige, innovationsreiche nationale Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat. Ich habe manche Bücher gelesen und manche Gespräche geführt, die mich optimistisch stimmen. Die junge Generation berechtigt zu besonders hohen Erwartungen. Ich habe dies gestern im Seminar Ihres „Circulo Doxa“, von mir als „heiliger Kreis“ bezeichnet, erleben können. Die jungen Doktoranden, auch einige Studenten, stellten höchst sachkundige Fragen und bewiesen, wie informiert sie in Sachen Verfassungsstaat über ihr eigenes Land hinaus sind: etwa im Blick auf die europäische Einigung bis hin zu der Gretchenfrage nach einem etwaigen Beitritt der Türkei zur EU oder im Blick auf den Stand des europäischen Integrationsprozesses (Stichwort: Vertrag von Lissabon) oder im Blick auf kulturelle Verwerfungsprozesse, die im Laufe der weltpolitisch notwendigen, raschen Wiedervereinigung Deutschlands entstanden sein müssen. Solange es solche Seminare ganz im Geiste von W. v. Humboldts Einheit von Forschung und Lehre, Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden gibt, ist mir um Argentinien nicht bange. Exzesse des Präsidentialismus können gerade von Universitäten und jungen Verfassungsjuristen eingedämmt werden. Ich danke für viel Gastfreundschaft, freundliches Echo und reiche Belehrung. Möge Argentinien auch weiterhin eine führende Rolle im langwierigen Aufbau seines Verfassungsstaates spielen und sogar einen schöpferischen Beitrag zum Entstehen eines lateingemeinamerikanischen Verfassungsrechts leisten, wie ich ihn von einer Tagung von Mexiko-City aus vor etwa 8 Jahren gefordert habe. Vielen Dank.

III. Interview von Prof. Sarlet mit Prof. Häberle (2010)* INGO SARLET: Könnten Sie kurz darstellen, wie die kulturellen Rechte für die Förderung der offenen Verfassung wichtig sind? PETER HÄBERLE: Arbeiten wir zunächst an den Begriffen. Spätestens seit den UN-Menschenrechtspakten von 1966 unterscheiden wir zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, die kulturwissenschaftlich grundiert ist, untergliedern wir die kulturellen Rechte in die Themenfelder Religionsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und Kunstfreiheit. Neu hinzugekommen sind besonders in lateinamerikanischen Verfassungen die Rechte der Bürger auf eine eigene kulturelle Identität. Aus meiner Sicht sind die drei klassischen kulturellen Rechte Ur-Rechte des Menschen und Bürgers (für die Hochkultur, für die Volkskultur und die Alternativkulturen: offenes Kulturkonzept). Kein geringerer als Goethe hat sie in einem wunderbaren Dictum zusammengebunden: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion; wer diese beiden nicht hat, der habe Religion.“ Die genannten kulturellen Rechte sind die Quellen all dessen, was die Entwicklung des Verfassungsstaats auf der Zeitschiene eröffnet. Einerseits liefern sie das kulturelle Fundament jeden Verfassungsstaats, weil dieser eine schöpferische Leistung vieler Generationen, Gelehrter, Künstler, Menschen und Bürger aus vielen Ländern ist – denken wir nur an die Klassiker von Aristoteles bis J. Rawls, an die Erfindungen von großen Künstlern, deren Werke den kulturellen Humus für den Typus Verfassungsstaat bilden, oder an einzelne große Menschen bzw. Weltbürger wie I. Kant („Zum ewigen Frieden“, 1795, „weltbürgerliche Absicht“), wie M. Gandhi („ziviler Ungehorsam“), A. Schweitzer („Ehrfurcht vor dem Leben“), zuletzt N. Mandela als geistige Integrationsfigur für das gewordene Südafrika (nation building, constitution making). Auf das Thema der offenen Verfassung gehe ich bei Ihrer Frage Nr. 4 ein. Verfassung „als Kultur“ ist bei all dem das Paradigma, es kommt z. B. in der Tetralogie von nationalen Feiertagen, Nationalhymnen, Nationalflaggen und Denkmal- sowie Kulturgüterschutz zum Ausdruck. INGO SARLET: Inwiefern können das Recht und insbesondere die Menschenrechte ein Faktor für die Transformation der Gesellschaft sein? PETER HÄBERLE: So dirigierend die „normative Kraft der Verfassung“ im Sinne meines akademischen Lehrers K. Hesse (1959) ist, so sehr müssen wir uns darüber

* Portugiesische Erstveröffentlichung, in: Estado de Direito, Brasil No. 27, ANO IV, 2010, S. 14 – 15. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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im Klaren sein, dass die steuernde und gestaltende Kraft von Verfassung und Recht begrenzt ist. Es gibt, wie die Geschichte zeigt, immer wieder politische Entwicklungen, innerstaatlich wie weltweit, die buchstäblich „aus dem Ruder laufen“. Man denke an Kriege, Völkermorde, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, globale Finanzkrisen und an Google, das sich wie ein Staat geriert. Unter diesem Vorbehalt ist die steuernde und gestaltende Kraft von Verfassung und Recht durchaus vorhanden, insbesondere in den Schwellenländern (wie Brasilien und Indien) und in den voll etablierten Verfassungsstaaten, wie wir sie im „alten Europa“ finden. Zu sprechen ist vom Verfassungsstaat als Typus und seiner „verfassten Gesellschaft“, auch Zivilgesellschaft. Das Staatsziel vom sozialen Rechtsstaat, aber auch die „Drittwirkung“ der Grundrechte und die sozialen und kulturellen Teilhaberechte verfassen die Gesellschaft. Transformationen der so verfassten Gesellschaft sollten nur im Sinne der Philosophie von Sir K. Popper gewagt werden, d. h. in Gestalt seines „social piece meal engineering“ bzw. der Stückwerktechnik. Transformationen müssen also behutsam geplant werden. Bei diesem Vorverständnis sind die Menschenrechte unverzichtbar, denn alle Innovationen, alles neue Denken, alle Erfindungen und Entdeckungen gehen heute auf ideenreiche Menschen und Bürger zurück. Selbst im Bereich der Wirtschaft leisten die Menschenrechte viel. Man denke an J. Schumpeters „schöpferische Zerstörung“ (dank der wirtschaftlichen Freiheiten) und an F. A. v. Hayeks „Markt als Entdeckungsverfahren“, was aus meiner Sicht besser als „Entwicklungsverfahren“ zu begreifen ist. Freilich ist die Wirtschaft im Verfassungsstaat nur instrumental zu verstehen. Sie dient der Menschenwürde und ist kein Selbstzweck. Ziel aller Transformationen der Gesellschaft müssen eine humane Ordnung und ein relativer Wohlstand für alle sein. „Bürgerschaft durch Bildung“ wie jetzt in Spanien, gehört zur konstitutionellen Programmatik. Speziell der Bundesstaat erweist sich als große „Werkstatt“ für neue Ideen, wie die Schweiz zeigt und auch in Ostdeutschland zu beobachten ist. INGO SARLET: Wie kann der Bürger im Rahmen der Öffentlichkeit für Demokratie und sozialen Wohlstand beitragen? PETER HÄBERLE: Beginnen wir auch hier mit einer präzisen Aufschlüsselung Ihrer Begriffe: Öffentlichkeit ist im Verfassungsstaat als „republikanische Bereichstrias“ zu verstehen, d. h. wir unterscheiden die Bereiche staatlich, öffentlich und privat. Nach einem Wort von G. Heinemann ist Öffentlichkeit der „Sauerstoff der Demokratie“. Einige Verfassungen sprechen in ihren Texten von „öffentlichen Freiheiten“ (Frankreich, Spanien). Letztlich dürfen wir auf M. T. Cicero zurückgreifen: „salus publica res populi“. Das Gemeinwohl ist vor allem in pluralistischen Verfahren zu entwickeln: „salus publica ex processu“ (1970). – Ein Wort zur Demokratie: Sie ist „Herrschaft auf Zeit“, darum ist die Möglichkeit der Wahl z. B. bei Staatspräsidenten auf zwei Amtszeiten zu begrenzen. Demokratie ist nur als pluralistische Demokratie zu konzipieren, d. h. sie muss einer Vielzahl von Interessen und Ideen Raum geben. Vor allem bildet die Demokratie die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, wie ich dies schon 1987 im Handbuch des Staatsrechts darzulegen versuchte. Die aktivbürgerlichen Rechte oder, um mit der Schweiz zu sprechen, die

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„Volksrechte“, sind von der Würde des Menschen her zu konzipieren. – Nun zu Ihrem dritten Begriff, dem sozialen Wohlstand: Aus der Menschenwürde fließt nach unserem Verständnis ebenso wie in der Schweiz ein Grundrecht auf das wirtschaftliche Existenzminimum. Deutsche Gerichte und das Schweizerische Bundesgericht, später auch manche geschriebenen Verfassungen, haben dies anerkannt und durchgesetzt. Der Bürger kann als Wähler, aber auch im politischen Meinungsbildungsprozess sowie als ehrenamtlich aktiver Mensch viel zur Entwicklung sozialen Wohlstands beitragen, mag er auch noch so egoistisch sein, letztlich aber im Sinne der „unsichtbaren Hand des Marktes“ (A. Smith) wirken. Einschub: Möglicherweise hat die unsichtbare Hand des Marktes eine Parallele in Hegels Klassikertext zur „List der Vernunft“. In Zeiten der Wirtschaftskrise wie heute in Europa und den USA kann es freilich auch geboten sein, dem Bürger Opfer aufzuerlegen und Verzicht zu verlangen. Hier ist der Ort für ein gerechtes Steuersystem und für verfassungsstaatliche Regulierung der nationalen und internationalen Märkte. INGO SARLET: Im Hinblick auf die offene Verfassung, wie sehen Sie den sozialen Aktivismus und die partizipative Demokratie? PETER HÄBERLE: Befassen wir uns zunächst präzise mit Ihren Begriffen. Der Gedanke der „Offenheit der verfassungsmäßigen Ordnung“ stammt von K. Hesse aus dem Jahr 1967. Ich selbst habe 1971 das Postulat der „offenen Verfassungsinterpretation“ entwickelt und damit 1975 in dem Paradigma von der in Ihrem Land oft zitierten „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ ernst gemacht. Offenheit der Verfassung und ihrer Interpretation bedeutet Sensibilität für neue Entwicklungen, sozial gerechte Bewältigung von gesellschaftlichen Problemen und das Verständnis der Verfassung als „öffentlicher Prozess“ (1969). Dies wird z. B. ermöglicht durch die Zulässigkeit von richterlichen Sondervoten nach dem Vorbild der USA, des EGMR, des Supreme Court in Brasilien und des BVerfG in Deutschland. Es gibt überzeugende Beispiele dafür, dass eine verfassungsrichterliche Minderheit von heute zur verfassungsgerichtlichen Mehrheit von morgen wird. Auch Verfassungsgerichte können in ihren Perioden eines judicial activism zur Offenheit der Verfassung und ihrer Interpretation beitragen. Gleiches gilt für die partizipative Demokratie. Für mich ist die „halbdirekte Demokratie“ der Schweiz das einzigartige Vorbild. Auf allen Ebenen dieses politischen Gemeinwesens, d. h. auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene finden sehr häufig Volksabstimmungen statt. Sie sind, von Ausnahmen abgesehen, im Ergebnis durchaus vernünftig, sogar in Fragen des Steuerrechts. INGO SARLET: Wie können neue Kooperationsformen für eine mehr inklusivere Welt und für die Durchsetzung der offenen und pluralistischen Verfassung eingerichtet und durchgesetzt werden? PETER HÄBERLE: Ausgangspunkt ist mein Begriff des „kooperativen Verfassungsstaates“, wie ich ihn 1978 konzipiert habe, welche Publikation jüngst auch in portugiesischer Sprache in Ihrem Land Brasilien erschienen ist (2007, betreut von A. Maliska). Angesichts der Globalisierung leben wir in einer Welt, bei allen unverzicht-

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baren Differenzierungen. Wir kennen sehr dichte Kooperationsformen, z. B. in der EU als Verfassungsgemeinschaft eigener Art, und lockere Kooperationsformen, wie etwa in Ihrem Mercosur. Die Globalisierung ist nur erträglich, wenn es bei nationalen Verfassungsstaaten, mitunter multikulturellen Verfassungsstaaten (z. B. Kanada und Australien, auch Brasilien) bleibt, und wenn es zu regionalen Verbünden kommt (J. Habermas’ Begriff der „postnationalen Konstellation“ ist abzulehnen). Der Mensch und Bürger stürzte ohne Kultur buchstäblich ins Bodenlose. Speziell in der EU gibt es viele Kooperationsformen, die letztlich dem Erhalt einer pluralistischen Verfassung bzw. der Teilverfassungen dienen. Gerade die neuen osteuropäischen Mitglieder der EU haben in komplizierten Rezeptionsprozessen von den alten europäischen Ländern und ihren pluralistischen Verfassungen viele Texte, wissenschaftliche Theorien und Judikate gelernt (meine „Trias“). INGO SARLET: Was ist die soziale Rolle einer offenen Verfassung? PETER HÄBERLE: Die „offene Verfassung“ muss bemüht sein, soziale Konflikte durch eine Fülle von Verfahren (z. B. auch über den „status activus processualis“ oder den Ombudsmann) transparent zu lösen, sei es auf der kommunalen Ebene, sei es auf der Ebene der Parlamente. Hier spielt das Öffentlichkeitsprinzip eine zentrale Rolle. Wichtig ist, dass die geschriebenen Verfassungstexte nicht bloß semantisch bleiben, sondern in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Man denke etwa an das Sozialstaatsprinzip, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau, an die Gleichstellung von unehelichen Kindern mit den ehelichen und an die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Ausgangspunkt für alles ist die Würde des Menschen und ein effektiver Privatheitsschutz, die durch technische Entwicklungen oft bedroht sind (Beispiele: Präimplantationsdiagnostik, Google Street View). Die „offene Verfassung“ kann aber auch neue Institute erfinden, z. B. die gelingenden „Wahrheitskommissionen“ in Südafrika und Peru, und so zur Befriedung beitragen. INGO SARLET: Inwiefern sind Gerichte für die Durchsetzung von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Politiken legitimiert, welche seitens der staatlichen Organe nicht erfüllt werden? Ist die gerichtliche Einwirkung schädlich für ein demokratisches Konzept der Verfassunggebung? PETER HÄBERLE: Im Verfassungsstaat ist die Unabhängigkeit der (letztlich demokratisch legitimierten) Gerichte, insbesondere der Verfassungsgerichte (samt ihren Konnexgarantien, wie rechtliches Gehör, öffentliche Verhandlung effektiver Rechtsschutz), unverzichtbar und glückliches Ergebnis einer langen Entwicklung, mit vielen Rückschritten und Gefährdungen. Es gibt viele gute Beispiele dafür, dass Gerichte zur Durchsetzung von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Politiken bereit und in der Lage sind. Nur dürfen sie ihre Kompetenzen aus funktionellrechtlichen Gründen nicht überdehnen (Gewaltenteilung!). Man denke an die vorbildliche Entwicklung „ungeschriebener Grundrechte“ durch das Schweizer Bundesgericht in Lausanne, die später in der neuen Bundesverfassung von 1999 auf einen verfassungsrechtlichen Text gebracht worden sind (mein Textstufenparadigma). Man

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denke an neue Grundrechte, die das deutsche BVerfG entwickelt hat. Beispiele sind das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und auf die Privatheit und Integrität informationstechnischer Systeme. Es gibt auch glückliche Beispiele dafür, dass soziale Verfassungsaufträge vom BVerfG rigoros durchgesetzt wurden (früh etwa die Gleichstellung unehelicher Kinder mit den ehelichen). Gerade in Deutschland versagen leider die parlamentarischen Organe nicht selten bei der „Erfüllung“ des Grundgesetzes. Diese gerichtlichen Aktivitäten sind für das demokratische Konzept der Verfassunggebung keineswegs schädlich. Verfassunggebung ist ohnedies als offener und pluralistischer Prozess zu begreifen, an dem viele „im Laufe der Zeit“ beteiligt sind, zumal bei genauer Betrachtung sich die Verfassunggebung von der Verfassungsinterpretation wenig unterscheidet. Oft sind Urteile des deutschen BVerfG ein Stück punktuelle Verfassunggebung. Dies bleibt in der Lehre freilich umstritten. Allerdings ist viel Fingerspitzengefühl auf Seiten der (Verfassungs-)Gerichte notwendig. Sie müssen eine Balance zwischen Statik und Dynamik, zwischen Innovation und Bewahrung finden. Dem US-Supreme Court und dem deutschen BVerfG ist dies im Ganzen geglückt. Auch die heutige neue Phase des Supreme Court in Brasilia unter der Präsidentschaft Ihres großen Staatsrechtslehrers G. Mendes gibt zu viel Optimismus Anlass. Man denke nur an die Aufwertung des Verfassungsprozessrechts und die Einbeziehung unbeteiligter Dritte im Sinne des Instituts amicus curiae. Ein Wort zum Völkerrecht, der heute interessantesten Materie des öffentlichen Rechts. Es erweist sich derzeit als „konstitutionelles Menschheitsrecht“. Hierher gehören der IGH und die UN-Tribunale. Wir brauchen eine neue Schule von Salamanca! Erlauben Sie einen eigenen Schluss: Ich danke für die hervorragenden Fragen, die besser waren als meine von Prof. I. Sarlet meisterhaft übersetzten Antworten. Ich wünsche den Studenten Brasiliens, denen ich schon zweimal bei meinen Reisen in Ihr schönes „Land der Zukunft“ begegnen durfte, jenen unverzichtbaren zivilgesellschaftlichen Optimismus, der für ein politisches Gemeinwesen notwendig ist. Hinzukommen muss ein Bewusstsein für Verfassungspädagogik, wie dies etwa in der Idee von den Menschenrechten als „Erziehungszielen“ in der Verfassung von Guatemala und in der alten Verfassung von Peru zum Ausdruck kommt. Auch von der heutigen Generation der engagierten Jura-Studenten Ihres Landes hängt es ab, ob Ihnen der Ausbau des Verfassungsstaates in Brasilien weiterhin so gelingt. Nicht zuletzt ist an die politische und soziale Integration der Urbevölkerung und an die Bewahrung der kulturellen und natürlichen Schätze Ihres Landes zu denken, was Ihre vortrefflichen Verfassungstexte seit 1988 fordern.

IV. Interview mit Herrn Prof. Häberle durch Assistenzprofessor Yildiz (Türkei) (2010)* HÜSEYIN YILDIZ: Seit die türkische Verfassung der Dritten Republik von 1982 in Kraft getreten ist, gibt es hier im Lande Diskussionen über die Konstitution hinsichtlich ihrer Mängel in Sachen Demokratie und Menschenrechte. Als einen weltbekannten Verfassungsrechtler möchte ich Sie fragen, was macht die Konstitution eines demokratischen Verfassungsstaates aus? Was sind ihre wichtigsten Merkmale? PETER HÄBERLE: Zu unterscheiden ist zwischen der Verfassung im formellen Sinne einer geschriebenen Verfassungsurkunde und der Verfassung im materiellen Sinne. Für beides sind als Elemente des Verfassungsstaates folgende Prinzipien charakteristisch: Menschenwürde und Menschenrechte einschließlich sozialer und kultureller Rechte, die freiheitliche Demokratie i. S. einer pluralistischen Gesellschaft, die Gewaltenteilung sowie Staatsziele wie der soziale Rechtsstaat und der Kulturstaat; schließlich ist die Garantie der Unabhängigkeit der dritten Gewalt bis hin zur Verfassungsgerichtbarkeit unverzichtbar. Aus meiner Sicht einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft sollte dem geschriebenen Verfassungstext eine Präambel vorausgehen. Sie sollte die Essenz der Verfassung in bürgernaher Sprache formulieren und alle Bürger buchstäblich „ansprechen“. Auch Übergangsvorschriften am Schluss empfehlen sich aus der Sicht eines Verständnisses der „Verfassung in der Zeit“. In der Schweiz regeln die Kantonsverfassungen hier die Wege einer Partialund Totalrevision. HÜSEYIN YILDIZ: D. Sternberger hat die positive Beziehung zwischen der deutschen Gesellschaft und dem Grundgesetz mit dem Begriff „Verfassungspatriotismus“ erklärt. Mit anderen Worten, das deutsche Volk identifiziert sich (im Großen und Ganzen) mit seiner Verfassung und der verfassungsrechtlichen Ordnung. Im Gegensatz zu Deutschland kann leider von einem türkischen Verfassungspatriotismus nicht die Rede sein, weil zwischen der Gesellschaft und der Verfassung „ein gestörtes Verhältnis“ besteht. Anders ausgedrückt, aufgrund der weltanschaulichen Distanz zum Volk und der menschenrechtlichen sowie demokratischen Mängel der Verfassung kommt die soziokulturelle, soziopolitische und soziohistorische Realität der Gesellschaft in der Verfassung nicht ausreichend zum Ausdruck, was somit das Volk geistig-innerlich von der Konstitution entfernt. Was würden Sie dem Verfassunggeber und den Verfassungsrechtlern empfehlen, damit sich die Kluft zwischen * Erstveröffentlichung in: S. Demirel University, Faculty of Law Review, Band 1, Nr. 1, 2011, S. 223 – 233. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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Volk sowie Verfassung minimiert und sich auch in der Türkei ein Verfassungspatriotismus sukzessive etablieren kann? PETER HÄBERLE: D. Sternbergers Begriff des Verfassungspatriotismus ist in meiner Sicht sehr hilfreich. Er deutet nämlich an, dass eine lebende Verfassung auf emotionale und rationale Konsensquellen angewiesen ist. Dies geschieht auch über meine kulturwissenschaftliche Trilogie von nationalen Feiertagen, Nationalhymnen und Nationalflaggen – zu allen drei Themen habe ich in den letzten Jahren kleine Monographien publiziert (vgl. auch Art. 3 Ihrer Verfassung von 1982). Ich beobachte die Verfassungsentwicklung in der Türkei seit Jahren mit Sympathie und habe auch die Verfassung von 1982 in meinem Jahrbuch veröffentlicht (JöR 32 (1983), S. 553 ff.). Sie enthält durchaus auch positive Merkmale: z. B. den Schutz der Geschichts-, Kultur- und Naturschätze (Art. 63), auch den Schutz der Kunst und der Künstler (Art. 64) sowie die Förderung des Sports (Art. 59) und – pionierhaft – die Sorge für die alten Menschen (Art. 61 Abs. 3). Wenn ich jetzt auf Ihre Bitte hin Kritik äußere, so nur im Rahmen der gebotenen Zurückhaltung: mit Freude sehe ich, dass die Armee unter Ihrem Ministerpräsidenten Erdogan auch rechtlich an Einfluss verliert. Ich vermisse aber einen effektiven ethnischen Minderheitenschutz und empfehle eine Kräftigung des Regionalismus. Er ist Ausdruck vertikaler Gewaltenteilung wie der bewährte Föderalismus; dadurch sollte sich Ihr Kurdenproblem nach dem Vorbild der 17 Autonomen Gebietskörperschaften in Spanien lösen lassen. Dazu braucht es einen langen Atem. In Deutschland wird seit Hegel zwischen Staat und Gesellschaft unterschieden. Dazu gibt es bis heute viel Theorienstreit. Mein Vorschlag lautet: nicht von Dualismus zu sprechen, sondern Staat und Gesellschaft differenziert einander zuzuordnen. Für mich ist es schwer verständlich, wie in der Türkei neben dem laizistischen Staat eine islamische Gesellschaft i. S. der Trennungsideologie bestehen kann, und ich hoffe auf die Entwicklung eines „Euro-Islam“ – vorbildlich ist in Österreich der „Austro-Islam“ –. Zu Ihrer Frage: Letztlich und erstlich muss der „Verfassungspatriotismus“ in den (staatlichen) Schulen beginnen. Hierzu bedarf es eines glaubwürdigen Kanons von Erziehungszielen, wie sie in den deutschen Landesverfassungen vorgeschrieben sind (Achtung vor der gleichen Menschenwürde des Anderen i. S. von I. Kant, Toleranz, Heimatliebe, demokratische Gesinnung, Völkerversöhnung und – neu – Achtung vor der Umwelt). Es gibt im Typus Verfassungsstaat eine unentbehrliche „Verfassungspädagogik“. Sie beginnt in den Schulen und endet vorläufig in den Universitäten. Ich bemühe mich um ein gemischtes Verfassungsverständnis: Verfassung ist im Sinne von R. Smend „Anregung und Schranke“, im Sinne von U. Scheuner „Norm und Aufgabe“, in meinem Sinne „öffentlicher Prozess und Kultur“. Die Erkenntnisse jedes Wissenschaftlers sind immer nur als Teilwahrheiten zu verstehen und dürfen nicht rechthaberisch verabsolutiert werden. HÜSEYIN YILDIZ: Die Wirkung Ihres kulturwissenschaftlichen Ansatzes, mit der Sie die Verfassung und das Verfassungsrecht als kulturellen Prozess verstehen, auf die Verfassungslehre ist unbestritten. Um mit Ihren Worten diese Theorie in einem

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Satz lapidar auszudrücken: „Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives Regelwerk, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen.“ Diese Aussage hebt die enge Beziehung zwischen der Verfassung und der Gesellschaft hervor. Die Konstitution ist nicht nur das Werk und die Leistung einer „juristischen-elitären kleinen Schicht“, sondern ein gesamtgesellschaftlicher soziokultureller und soziopolitischer Prozess der „offenen Gesellschaft“. Sie stellt meines Erachtens einen wichtigen Schritt zur Überwindung der Spaltung zwischen dem Volk einerseits und den staatspolitischen Eliten andererseits dar. Solch eine „schismatische Teilung“, von der hier gesprochen wird, ist unglücklicherweise eine Realität der türkischen Gesellschaft, die sich nicht minder kontraproduktiv auf die Verfassung und das Verfassungsrecht des Landes auswirkt. Verfassung und Verfassungsrecht werden in der Türkei vorwiegend nicht im kulturellen Kontext der Gesellschaft definiert. Die soziokulturelle Realität der Gesellschaft wird des Öfteren „ausgeblendet“. Welche Konsequenz hat es für die Entwicklung des Verfassungsrechts eines Landes, wenn der kulturwissenschaftliche Ansatz außer Acht gelassen wird? PETER HÄBERLE: Mein Zitat aus dem Jahre 1982 findet vor allem in den lateinamerikanischen Ländern viel Echo. Verfassung als Kultur zu verstehen, ermöglicht diesen jungen Ländern einerseits von der Verfassungsvergleichung zu lernen, anderseits ihre eigene kulturelle Identität zu bewahren und weiter zu entwickeln. Ich habe das Paradigma des offenen Kulturkonzepts (1979) vorgeschlagen. Es gibt die Hochkultur des Wahren, Guten und Schönen, die Volkskultur (sehr lebendig in der Schweiz) und die Alternativkulturen (z. B. der Beatles). Die Idee der offenen Gesellschaft stammt von Popper. Doch grundiere ich sie von meinem kulturellen Ansatz her. Offenheit braucht Grund und Gründe. Die Staatsrechtslehre in der Türkei muss versuchen, die von Ihnen genannten kulturellen Kontexte ernst zu nehmen. Einige Beispiele wie den Schutz von kulturellen Minderheiten und die Vermittlung von Erziehungsziele habe ich genannt. Die Jurisprudenz als schönste Wissenschaft der Welt darf nicht etatistisch verstanden und nicht elitär monopolisiert werden. Sie steht im Dienst der Bürger im Alltag. HÜSEYIN YILDIZ: Gibt es eine Beziehung zwischen der Verfassung als kulturellem Prozess und der verfassungsrechtlichen Demokratie? Falls ja, dann erhebt sich die Frage, ob die Vernachlässigung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes der Verfassung und des Verfassungsrechts die demokratische Entwicklung eines Landes beeinträchtigen kann? PETER HÄBERLE: In der Tat gibt es eine Beziehung zwischen der Verfassung als kulturell öffentlichem Prozess und der pluralistischen Demokratie. In Portugal spricht man z. B. von „kultureller Demokratie“. Es geht um Bildung und Ausbildung aller Bürger. Die Möglichkeiten eines Wissenschaftlers darf man nicht überschätzen, doch hoffe ich, dass der kulturwissenschaftliche Ansatz die Engführungen des Positivismus und die Nachteile des Etatismus nach und nach beseitigen kann.

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HÜSEYIN YILDIZ: Sie reden in Ihrem Werk „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ von dem „republikanischen Bereichtrias: privat / öffentlich / staatlich“. Ich finde diese Teilung der Bereiche in die erwähnten drei Gruppen hinsichtlich des türkischen Verfassungssytems sehr wichtig. Wir haben es nämlich seit der Inkraftretung der Verfassung der Dritten Republik von 1982 mit einer „Staatsinvasion“ des privaten und öffentlichen Raumes der Gesellschaft zu tun. Deshalb spricht eine nicht mindere Anzahl von Verfassungsrechtlern zu Recht von einer Bevormundung der Gesellschaft und des Individuums durch die Staatsgewalt. Zwar gab es in der letzten Dekade durch Verfassungsänderungen einige Verbesserungen zugunsten der Zivilgesellschaft und liberalen Demokratie, aber trotzdem hat sich von dem prinzipiellen Vorrang des Staates vor der privaten Sphäre des Einzelnen und dem öffentlichen Leben der Gesellschaft kaum etwas geändert. In diesem Kontext genießt der Staat und seine Souveränität ein gewisses Privileg vor der Verfassung und dem Rechtsstaat sowie den Menschenrechten. Es gibt bestimmte staatliche Werte und Organe die eine gewisse Immunität gegenüber den lieberal-demokratischen Prinzipien des Verfassungsstaates genießen, was in mancher Hinsicht zu enklavendemokratischen Strukturen führt. Daher kann von einer „Verfasstheit“ des Staates und seinen Grundsätzen nicht die Rede sein. Nun zur Frage: Könnten Sie bitte erstens erklären, welche Beziehung zwischen den oben erwähnten drei Bereichen in einem demokratischen Verfassungsstaat herrscht. Zweitens welche Werte, Institutionen und Menchanismen des liberal-demokratischen Verfassungsstaates müssten in die heutige Verfassung der Republik Türkei aufgenommen werden, damit die Staatsgewalt den privaten und öffentlichen Bereichen der Gesellschaft ihrer „Autonomie“ nicht mehr berauben kann? Welche Bedeutung kommt z. B. in diesem Rahmen der uneingeschränkten Gewährleistung der Menschenrechte zu? PETER HÄBERLE: Meine Lehre von der „Republikanischen Bereichstrias“ dient dem Zweck, den Etatismus zu beseitigen. Nach Rudolf Smend, meinem wissenschaftlichen „Großvater“, gibt es nur soviel Staat wie die Verfassung konstituiert. Der präkonstitutionelle Staatsbegriff, ein monarchisches Relikt, auch in Deutschland, ist zu verabschieden. Nur so gibt es Raum für die Zivilgesellschaft. Frankreich und Spanien kennen den schönen Begriff der „öffentlichen Freiheiten“. Denken Sie an die Demonstrationsfreiheit, erstmals im Kanton Jura in der Schweiz 1977 auf einen Verfassungstext gebracht. In Deutschland ist es geglückt, die staatliche Bevormundung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen zu beseitigen, auch wenn der Einfluss der politischen Parteien derzeit noch zu groß ist. Das BVerfG hat bedeutende Urteile gefällt, um den Pluralismus in den Sendungen zu sichern (Repräsentanz aller pluralistischen Gruppen, „Binnen- und Außenpluralismus“). Zu Ihren konkreten Fragen: Der staatliche Bereich, der gesellschaftlich-öffentliche Bereich und der Privatheitsschutz stehen autonom nebeneinander, freilich mit verbindenden Brückenelementen: Die staatlichen Organe müssen sich demokratisch-öffentlich legitimieren, der private Bürger muss sich in der öffentlichen Sphäre engagieren können. Die Menschenrechte entfalten ihre normative Kraft in allen drei Bereichen. Hier wird die Lehre von dem grundrechtlichen „Status“ von G. Jellinek

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relevant. Ich habe diese Doktrin 1971 ergänzt um den „status activus processualis“ (z. B. in Gestalt des Ombudsmanns). HÜSEYIN YILDIZ: In einem demokratisch-verfassungsrechtlichen Rechtsstaat spielt die Verfassungsgerichtsbarkeit bei dem Schutz der bürgerlichen Grundrechte eine große Rolle. In der Türkei wurde die Verfassungsgerichtsbarkeit mit dem Inkrafttreten der Verfassung der Zweiten Republik im Jahre 1961 eingeführt. Leider können wir nicht behaupten, dass wir im Vergleich zu Deutschland eine Verfassungsgerichtsbarkeitstradition besitzen, die auf dem Fundament der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, (freiheitlichen) Menschenrechte und insbesondere auf der Unantastbarkeit der Würde des Menschen beruht. Eines der Gründe dieser „Fehlentwicklung“ ist meines Erachtens der den Volk ausschließende, elitär-geschlossene Interpretationsansatz des Großteils der Richter bei der Prüfung der Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung. Im Gegensatz zu jener geschlossenen Auslegungsmethode haben Sie die Theorie der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ entwickelt. Könnten Sie bitte diesen Ansatz etwas näher darstellen und welche Grundlagen oder Vorraussetzungen sind für die Etablierung Ihrer Auslegungsmethode notwendig, damit diese Theorie z. B. auch hier bei uns Anwendung finden kann? PETER HÄBERLE: Der Türkei darf ich zwei Wege empfehlen: a) Die vier Auslegungsmethoden von F. C. v. Savigny (1840) müssen ergänzt werden durch Verfassungsvergleichung als „fünfte“ Methode – so mein Vorschlag aus dem Jahre 1989. Verfassungsvergleichung bezieht sich auf die Trias von Verfassungstexten, Judikaten und Theorien (vor allem Klassikertexten). Schöpferisch betrieben, ermöglicht sie unter dem Gerechtigkeits- und Gemeinwohlaspekt in jeder nationalen Rechtskultur große Bereicherungen und Brückenschläge nach außen, etwa von der Türkei nach Europa. b) Der Supreme Court in Brasilia hat seit Jahren mit meiner Theorie der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) in der Praxis ernst gemacht. Er öffnet das Verfassungsprozessrecht dank neuer Informationsinstrumente und Partizipationsmöglichkeiten für Bürger und pluralistische Gruppen. Diese werden durch Anhörungen in einem weiteren Sinne zu „Verfassungsinterpreten“. HÜSEYIN YILDIZ: In der Türkei wurden in der jüngsten Vergangenheit mehrere Rechtsfakultäten eröffnet (und es kommen in der kommenden nahen Zeit noch weitere hinzu). Dies erhöht die Aussicht auf die Etablierung des Rechtsbewusstseins und der Idee des demokratischen Verfassungsstaates in der Gesellschaft, was natürlich zu begrüßen ist. Jedoch ist es leider mit der Eröffnung von vielen Rechtsfakultäten für die Verfestigung der Rechtskultur nicht getan; von großer Bedeutung sind – neben dem akademischen Aufbau – die Lehrveranstaltungen und insbesondere ihr Inhalt. Dieser Punkt wird um so wichtiger, wenn man die neue Politik der gegenwärtigen Türkei in Betracht zieht, da sie ihre Beziehungen sowohl mit ihren Nachbarn als auch zwischenstaatlichen Institutunionen wie der Europäischen Union intensivieren möchte (für die Europäische Union möchte man ja das Verhältnis nicht nur verbessern, sondern ihr beitreten). Diese Entwicklung müsste eigentlich auch ei-

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nen Prozess der „Internationalisierung“ des noch stark national-etatistisch orientierten türkischen Rechtssystems in Gang bringen. Mit anderen Worten, das türkische Rechtssystem ist immer noch staatsräsongebunden und nicht wie z. B. in Deutschland menschenrechts- und menschenwürdegebunden (Man denke in Deutschland an die Bezeichnung „Grundrechtsdemokratie“ oder an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, das die Menschenwürde als obersten Verfassungswert des Grundgesetzes bezeichnet (BVerfG, 1 BvR 2150 / 08)). Demgegenüber gewinnen in den internationalen Beziehungen – zumal in Europa – die Menschenrechte und das Prinzip der Menschenwürde mehr und mehr an Bedeutung. Deswegen sind auch die türkischen Rechtswissenschaftler gezwungen über ihren Tellerrand hinauszublicken. Die Rechtsfakultäten könnten hier als Ausgangspunkt dienen. Was könnten Sie als Verfassungsrechtler, der die internationalen Rechtssysteme und das internationale akademische Umfeld gut kennt, im Zusammenhang des Geschilderten den türkischen rechtswissenschaftlichen Akademikern bei der Gründung und Neuausrichtung der Rechtsfakultäten empfehlen, damit eine Umorientierung im Rechtsdenken zugunsten der Menschenrechte und einer liberalen Staatsordnung stattfinden kann? PETER HÄBERLE: Die kluge Auswahl von Verfassungsrichtern ist ein Herzstück jedes Verfassungsstaates. In Deutschland monopolisieren leider die politischen Parteien bis heute die Wahl der Bundesverfassungsrichter. Ohne jede Transparenz und Öffentlichkeit findet in den Hinterzimmern der Macht die Auswahl statt. Zum Glück: einmal gewählt, haben sich bisher alle Kandidaten als unabhängige Richter erwiesen. Ich favorisiere zwei bessere Modelle. Zum einen: In Italien wählt der Staatspräsident ein Drittel der Verfassungsrichter aus; auf diese Weise kamen ganz unabhängige Persönlichkeiten in die Corte in Rom. Zum anderen: Der US-amerikanische Senat (Justizausschuss) und ein Ausschuss des Parlaments in Brandenburg veranstalten „hearings“ mit den Richterkandidaten. Sie können auf ihre philosophy of law hin befragt werden. Empfehlenswert ist die Auswahl einer Mischung von Professoren, ehemaligen Parlamentariern und Praktikern (z. B. Anwälten) sowie von Richterpersönlichkeiten aus dem Zivil- und Strafrecht. Nicht nur im Scherz: ein Verfassungsgericht darf nicht nur aus Rechtsprofessoren bestehen. HÜSEYIN YILDIZ: Die Entwicklung und Etablierung einer demokratisch-verfassungsstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit hängt nicht minder von der wissenschaftlichen und persönlichen Kompetenz der Verfassungsrichter ab. Deshalb möchte ich Sie bitten darzulegen, welche kulturellen, bildungspolitisch-akademischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit eine Gesellschaft rechtlich-geistig-wissenschaftlich ausgereifte Anwärter zum Verfassungsrichteramt hervorbringen kann? PETER HÄBERLE: Für die Türkei empfehle ich die Normierung eines „Europa-Artikels“, wie ich dies jüngst in Tiflis anlässlich meiner dortigen lectio doctoralis für Georgien vorgeschlagen habe: europäische Grundrechtsstandards, Europa als Erziehungsziel, die europäische Integration als Staatsziel. Der wissenschaftliche Austausch muss auf der Ebene der Gelehrten enden. Ich begrüße die Gründung einer

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deutsch-türkischen Universität in Istanbul 2010 sehr. Die Goethe-Institute spielen in all dem fast weltweit eine positive Rolle, auch die parteinahen Stiftungen. Leitziel aller türkischen Juristen muss die Europäisierung und Internationalisierung des türkischen Rechtssystems in langsamen Prozessen sein. Ich habe im Jahre 2000 speziell für die Gründung einer deutsch-ungarischen Universität in Budapest ein pädagogisches Modell für die Europawissenschaften entwickelt (Wiederabdruck in P. Häberle: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 183 ff.). Im Verfassungsstaat gibt es keine „Staatsräson“, es gibt nur ein Gemeinwohl, das aus den Verfassungsdirektiven (z. B. dem sozialen Rechtsstaat) und aus pluralistischen Verfahren zu entwickeln ist (salus publica ex processu, 1970). Die Rechtsfakultäten in der Türkei sollten sich nach und nach im angedeuteten Sinne ausrichten. HÜSEYIN YILDIZ: Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich noch etwas bei der Menschenwürde bleiben. In den zeitgenössischen Verfassungen bekommt die Unantastbarkeit der Würde des Menschen immer mehr Gewicht. Deutschland kann hier z. B. für die Türkei als Vorbild dienen. Zwar kommt in der gegenwärtigen Türkischen Verfassung der Dritten Repbublik an zwei Stellen der Begriff „Würde oder Ehre“ vor, und zwar Artikel 17 Verf. Türkei in Bezug auf unwürdige Strafe und unwürdigen Umgang mit den Menschen sowie Artikel 32 Verf. Türkei in Bezug auf Informationen über Menschen durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die dabei die Würde und Ehre der Menschen antasten. Diese Bestimmungen haben aber nicht den Stellenwert der Menschenwürdeklausel des Artikels 1 GG; z. B. wird Art. 1 GG durch den Artikel 79 Abs. 3 („Ewigkeitsklausel“) geschützt. Auch die Türkische Verfassung kennt einen Artikel, der die Begrenzung von Verfassungsänderungen beinhaltet, nämlich Artikel 4 Verf. Türkei. Aber dort werden Änderungen, die Artikel 1, 2 und 3 Verf. Türkei berühren, als unzulässig erklärt. In diesen Grundsätzen kommt jedoch die Menschenwürde nicht vor. Kurz gefasst, der Menschenwürde kommt im türkischen Verfassungssystem nicht der Rang zu, den er in anderen demokratischen Verfassungsstaaten genießt, nämlich Geltung als „oberste positive Rechtsnorm, die alle staatliche Gewalt, also Gesetzgeber, Exekutive und Rechtsprechung bindet“. Darüber hinaus wird z. B. in Deutschland die Menschenwürde nicht nur als objektives Verfassungsprinzip betrachtet, sondern auch als subjektives Grundrecht. Davon ist leider die Türkei noch ein gutes Stück entfernt. Aber auf der anderen Seite betont die Türkische Verfassung in Artikel 2, dass die Türkei ein demokratischer Staat sei. Demgegenüber unterstreichen Sie, Herr Professor Häberle, in Ihren Werken die enge Beziehung zwischen der Demokratie und Menschenwürde: „Demokratie als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde“. Ihrer Theorie entsprechend besteht somit innerhalb der Türkischen Verfassung dann ein Widerspruch in sich. Wenn nämlich die Verfassung den türkischen politischen Herrschaftsverband als einen demokratischen Staat bezeichnet, dann wäre die notwendige Konsequenz dieser Verfassungsbestimmung eben die Anerkennung der Menschenwürde im Rang eines objektiven und subjektiven Grundrechts. Könnten Sie bitte die zwei Begriffe, De-

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mokratie und Menschenwürde, und die Beziehung, die zwischen beide Termini besteht, für die türkische Öffentlichkeit erläutern? PETER HÄBERLE: Die Menschenwürdeklausel des GG (Art. 1) ist die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates. Sie hat eine subjektiv-individualrechtliche und eine objektiv-rechtliche Seite, auch eine prozessuale. Aus ihr folgen soziale, kulturelle und demokratische Teilhaberechte. 1987 habe ich erstmals einen Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der Demokratie hergestellt; in anderen Worten: aus der Menschenwürde folgen demokratische Grundrechte bis hin zu den Wahlrechten. Die Schweiz spricht anschaulich von „politischen Rechten“ bzw. Volksrechten. Dies ist der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und pluralistische Demokratie. In der Normenhierarchie jedes Verfassungsstaates (Vorrang der Verfassung) sollte die Würde des Menschen an oberster Stelle stehen. Die Türkei kann sich ihrer alten grundrechtlichen Kerngehaltsgarantie erinnern (Art. 11 Abs. 2 Verf. von 1961), die in der Schweiz später rezipiert worden ist. HÜSEYIN YILDIZ: Ich möchte zum Schluss noch auf den Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre eingehen. Aus dieser Auseinandersetzung – wie Sie wissen – haben sich zwei Schulen gebildet, und zwar die Smend-Schule und die SchmittSchule. Ich möchte Sie bitten, der türkischen Öffentlichkeit erstens die Auseinandersetzung zwischen den großen Staatsrechtlern wie Rudolf Smend, Carl Schmitt und Hermann Heller zu erläutern und zweitens welche Standpunkte die erwähnten zwei Schulen vertreten? Drittens kann man noch von einem Einfluss dieser beiden Richtungen auf die deutsche Staats- oder Verfassungsrechtslehre der Gegenwart ausgehen, wenn ja inwiefern? In diesem Zusammenhang wissen wir, dass Sie der Smend-Schule angehören und z. B. Ernst-Wolfgang Böckenförde ein Vertreter der Schmitt-Schule ist. Wenn die beiden Strömungen noch die deutsche Staats- oder Verfassungsrechtslehre beeinflussen, wie wirkt sich das auf Ihre Ideen und die von Herrn Böckenförde aus. Denn auf den ersten Blick sieht man zwischen Ihren und den Werken von Herrn Böckenförde im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes keinen markanten Unterschied; und beileibe keiner kann behaupten, dass Herr Böckenförde wie Carl Schmitt z. B. die bürgerlichen und liberalen Vorstellungen von Staat und Politik zurückweist oder ein Kontrahent des Rechtsstaates und Naturrechts oder Verächter des Parlamentarismus ist. Aber trotzdem gehört er der Schmitt-Schule an. Wo liegt dann heute der wesentliche Unterschied zwischen den zwei Strömungen und wie kommt dieser Kontrast in Ihren Arbeiten und denen von Herrn Böckenförde zum Ausdruck? PETER HÄBERLE: Ich freue mich, dass Sie den Methodenstreit der Weimarer Zeit kennen. Zu ihr gehören als „Riesen“, auf deren Schulter wir als Zwerge heute noch stehen, auch H. Kelsen und H. Heller. Dank meines akademischen Lehrers K. Hesse gehöre ich zur Smend-Schule. Sie wurde vor allem über das BVerfG einflussreich, besonders durch die Smend-Schüler K. Hesse und E. G. Mahrenholz. Stichworte sind die „Einheit der Verfassung“, die Grundrechte als Kultursystem etc. C. Schmitt lehne ich aus vielen Gründen ab: zunächst sein Freund / Feind-Denken für den Begriff des Politischen, sodann: mit seinem Dezisionismus kann man weder Europa

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bauen noch die Schweiz erklären. Die Verfassunggeber entscheiden nicht „normativ aus dem Nichts“. Dies zeigen die Beispiele neuer Verfassungen in Portugal (1976), in Spanien (1978) sowie Osteuropa (nach 1989), wo ich in Estland und Polen mit beraten habe. Speziell die Verfassungslehre von C. Schmitt (1928) ist als Werk freilich bis heute klassisch. Seine Person bleibt unerträglich, man denke an seinen Antisemitismus und seine Rechtfertigung der Morde an SA-Mitgliedern (1934). – Zu Herrn Böckenförde äußere ich mich ungern ad personam. Nur dieses: Man kann nicht gleichzeitig Schüler von C. Schmitt und Katholik sein und sich von der SPD in das BVerfG wählen lassen. Er kritisiert an mir den entwicklungsoffenen Ansatz und die Dynamisierung des Verfassungsrechts. HÜSEYIN YILDIZ: Herr Professor Häberle ich möchte Ihnen für das Interview recht herzlich danken und wünsche Ihnen für Ihr zukünftiges Leben Genesung und bei Ihrer künftigen wissenschaflichen Tätigkeit weiterhin viel Erfolg. PETER HÄBERLE: Ich danke für Ihre kenntnisreichen Fragen. – Die Literaturgattung des wissenschaftlichen Interviews habe ich in den letzten Jahren in Spanien, Italien, Mexiko und Peru schätzen gelernt. Sie erlaubt eine freiere Argumentation und eine subtile Mischung von Erkenntnissen und Bekenntnissen. Möge es Ihnen gelingen, von der Seite der Wissenschaftler den schrittweisen Annäherungsprozess der Türkei an die EU zu befördern. Möge Ihre nationale Wissenschaftlergemeinschaft auf lange Sicht einen Baustein liefern zur Entwicklung einer Europäischen Verfassungslehre, wie ich sie vor neun Jahren versucht habe (6. Auflage 2009). Ich weiß nicht, ob man von einer „europäischen Türkei“ – wie vom „europäischen Deutschland“ (T. Mann) – sprechen kann, da die Türkei ja auch dem Orient zugehört. Doch habe ich großen Respekt vor Ihrer Kultur, insbesondere auf dem Gebiet der Literatur und Architektur. Auch habe ich nicht vergessen, dass die Türkei in der NS-Zeit große Juristen wie E. E. Hirsch und vielen anderen, etwa dem Architekten P. Bonatz, Asyl gewährt haben. Ich danke Ihnen für Ihre guten Fragen, die besser waren als meine Antworten.

V. Interview von Prof. Balaguer mit Prof. Häberle (2010)* I. Persönliche Fragen 13 Jahre seit der ersten Begegnung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Die erste persönliche Frage scheint mir unvermeidlich: Seit unserer ersten Begegnung sind nun 13 Jahre vergangen und der „häberlesche“ Gedanke hat auf eine außerordentliche Art und Weise in der Welt triumphiert. In der letzten Dekade haben Sie Unmengen von Ehren und Auszeichnungen für die Entwicklung des internationalen Rechts erhalten. Unter den verschiedenen Universitäten, die Ihnen die Ehrendoktorwürde verliehen haben, seien genannt die Universität Granada in Spanien, die UNAM in Mexiko, Universität Lima in Peru, die Universität Buenos Aires in Argentinien, die Universität Brasilia in Brasilien und die Universität Lissabon in Portugal. Wie haben Sie diesen Prozess der universellen Anerkennung Ihres Werkes erlebt? PETER HÄBERLE: Ich bin überaus glücklich und dankbar, dass Sie zum zweiten Mal ein Interview mit mir vorbereitet haben. Der heutige Fragebogen ist ebenso konsequent wie transparent. Ich weiß nicht, ob ich die Ihnen kongenialen Antworten geben kann. Erstens. Mein großes Glück besteht darin, dass manche meiner wissenschaftlichen Versuche und Paradigmen positiv aufgenommen werden in der über Europa hinaus greifenden Wissenschaftlergemeinschaft. Ich nenne einige Beispiele: In Brasilien wird mein Begriff des „kooperativen Verfassungsstaates“, auch die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ viel diskutiert. In Italien ist meine Lehre vom „status activus processualis“ bekannt geworden. In anderen Ländern ist meine Idee von der kulturellen Verfassungsvergleichung und von der Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode positiv aufgegriffen worden. In Deutschland freilich bleibt mein Vorschlag umstritten, statt von „Staatskirchenrecht“ von freiheitlichem „Religionsverfassungsrecht“ zu sprechen. Denn wir sollten bedenken: Heute gibt es in Sachen Staat / Religion nicht mehr nur die christlichen Kirchen, sondern den Islam oft schon als dritte Religionsgemeinschaft.

* Erschienen in spanischer Sprache in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, n°13, Enero-Junio de 2010. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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Die weltweite „comunidad häberliana“ FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Auf der Tagung die wir zu Ihren Ehren vergangenes Jahr in Granada feierten (und welche in dieser Zeitschrift abgedruckt ist), wurde – vielleicht mehr als bei vorherigen Gelegenheiten – das Vorhandensein einer häberleschen Gemeinschaft in der Welt deutlicher denn je. Eine große Anzahl von Juristen der verschiedensten Länder, die Ihren methodischen Orientierungen folgen und die verfassungsmäßige Wirklichkeit ähnlich betrachten, nahmen an diesem Kongress in Granada teil – entweder vor Ort anwesend oder durch die an die Organisatoren geschickten Beiträge. PETER HÄBERLE: Es gibt heute, in Sachen Verfassungsstaat europaweit, ja weltweit schon fast so etwas wie eine Art „Gelehrtenrepublik“. Es kommt dabei primär auf persönliche Beziehungen an, nicht auf Großinstitute wie die Max-Planck-Institute oder riesige Stiftungen, weil das wissenschaftliche Gespräch den Hintergrund für inspirierende persönliche Freundschaft bildet. Darum bin ich besonders glücklich, in den letzten Jahren in mehreren Ländern fruchtbare Freundeskreise aufgebaut zu haben. Chronologisch zunächst in der Schweiz, dann in Italien, insbesondere dank der ersten Einladung von A. Cervati in Rom, später der Freunde P. Ridola, A. D’Atena und F. Lanchester. Schließlich habe ich zum Glück die Universität Granada entdeckt, genauer Prof. F. Balaguer und seinen Schülerkreis. Hinzu kommen freilich noch sehr bereichernde Begegnungen in Lateinamerika: Mit D. Valades in Mexiko, mit D. Belaunde und C. Landa in Lima (der übrigens ein Jahr bei mir in Bayreuth studierte), sowie mit F. Ferreyra in Buenos Aires, sodann in Brasilien mit dem berühmten Präsidenten des Supreme Court mit G. Mendes und dem lieben Kollegen I. Sarlet in Porto Alegre. Erinnert sei auch an den Gedankenaustausch mit Z. Posavec in Kroatien. Die richtige Einstellung zu solchem Austausch lässt sich mit den Worten Sensibilität für das Andere, Offenheit und Toleranz kennzeichnen. Wichtig war mir immer die Kunst des Zuhörens, um die kulturelle Eigenart junger Länder wie Peru zu erfassen. Vor allem suche ich mich von der üblichen Eurozentrik zu befreien.

Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Es erweist sich als unvermeidlich, dass das Werk des großen Denkers ein Objekt der unterschiedlichsten Interpretationen ist. Anlässlich unseres letzten Kongresses in Granada war es mir erlaubt, eine kritische Argumentation Ihrer Theorien zu wagen, um mich auf Ihre komplexen Gedanken und deren Schwierigkeiten, welche sie aufwerfen, einzulassen: „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten von P. Häberle.“ Mir schien es notwendig darauf aufmerksam zu machen, weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass das Werk von P. Häberle auch zukünftig für neue Interpretationen und Entwicklungen offen ist, ohne dass Sie von seinen direkten Schülern monopolisiert werden. Doch wie es der Zufall will, war dies auch Ihre Einstellung zu diesem Vorschlag.

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PETER HÄBERLE: Ihre Worte von der „offenen Gesellschaft der Interpreten von Peter Häberle“ sind natürlich nur ironisch zu verstehen. Diese Formulierung nehme ich von meinem besten spanischen Freund, nämlich Ihnen, gerne hin. Gleichwohl möchte ich einige wichtige Aspekte nennen, die in dem von Ihnen gemeinten Sinne relevant sein könnten. Erstens: In diesem Hause wage ich es kaum, über die Rechtsquellen zu sprechen, weil mein werter Gastgeber F. Balaguer die beste Monographie zu diesem Thema in Spanien selbst geschrieben hat. Doch bin ich der Meinung, dass es im Geiste der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und Verfassunggeber“ weit über Europa hinaus keinen numerus clausus der Rechtsquellen mehr gibt. Ich plädiere für den „numerus apertus der Rechtsquellen“ und nenne ein Beispiel: Der EuGH hat parallel zu Ihrer berühmten Dissertation die Lehre von den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ entwickelt, die jetzt in Texten der Europaverträge rezipiert worden sind. Der Jurist muss bereit sein, vor allem auch im Völkerrecht, neue Rechtsquellen zu erfinden bzw. zu entdecken. Wir fragen: Wer entwickelt das Völkerrecht? Sodann: Wichtig ist den Gedanken fortzuentwickeln, der in Brasilien praktiziert wird – dank G. Mendes, der meine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpretation“ herausgegeben hat – ich meine die Aktivierung und Dynamisierung des Verfassungsprozessrechts. Gemeint ist: Beteiligte und unbeteiligte Personen erhalten Zugang zum Supreme Court in Brasilia. Hier wird erneut die mir seit 1975 so wichtige personale Seite der Verfassungsinterpretation virulent. Drittens: Ich schlage eine neue Theorie der Verfassunggebung vor, die ich erst vor wenigen Wochen abgeschlossen habe und die in Kürze im Verlag MohrSiebeck in Tübingen erscheinen wird. Dazu folgendes: Der Tübinger Verlag publiziert in diesen Wochen eine zweite Auflage des berühmten Bandes 1 des „Jahrbuchs des öffentlichen Rechts“, das seinerzeit von dem großen G. Leibholz herausgegeben worden war (1951). Der Verlag bat mich, diese zweite Auflage zu betreuen und eine Einführung zu verfassen. In dieser Einführung habe ich auf der Grundlage der Lektüre der tausend Seiten von Äußerungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die 1949 in Bonn das Grundgesetz erarbeitet haben, herausgefunden: Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben bei der Erstellung der Texte fünf Arbeitsmethoden angewendet. Sie treiben Rechtsvergleichung in Raum und Zeit, sie feilen am Wortlaut überaus genau, sie arbeiten systematisch und teleologisch. Und: Sie haben einen fabelhaften Topoikatalog entwickelt, mit den Begriffen der Rechtssicherheit, der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit. Überdies finden sich Spuren eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes sowie Bemühungen, bestimmte Rechtsideen als Wahrheitsprobleme zu qualifizieren. Im Ganzen: Man muss auch für den Verfassunggeber fragen, welcher methodologischen und prozessualen Instrumente er sich bei der Formulierung seiner Texte bedient. Obwohl nur wenige Juristen im Parlamentarischen Rat wirkten, konnte ich die Benutzung der fünf bekannten Auslegungsmethoden durch den damaligen Verfassunggeber nachweisen. Vielleicht lässt sich ähnliches auch für die Verfassungsarbeiten in Spanien (1987) belegen, immerhin hat hier der berühmte Jurist Sanchez-Agesta mitgewirkt (der Großvater Ihres Schülers M. Azpitarte). Ich betone noch einmal: Es geht um eine verblüffende Analogie zwischen den juristischen Auslegungsmethoden und den Arbeitsmethoden ei-

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nes Verfassunggebers. Für mich selbst war dies eine große Überraschung. Darüber hinaus habe ich die inzwischen 123 Bände der Entscheidungen des BVerfG studiert und erforscht, wann und wo das BVerfG in seinen Entscheidungen die Vorgeschichte des GG im Parlamentarischen Rat berücksichtigt. Es bleibt eine Aufgabe der nächsten Generation von Verfassungsjuristen zu prüfen, ob, wann und wo weltweit die an der Verfassunggebung beteiligten Personen mit welchen Methoden gearbeitet haben. Die Verfassunggeber denken und handeln sozusagen mit den klassischen Auslegungsmethoden im Kopf, wobei auch die Vergleichung als fünfte Methode nachweisbar ist. Ich komme auf eine letzte Ebene, auf das Völkerrecht. Vor Jahren habe ich die für mich zentrale Frage aufgeworfen: „Wer entwickelt das Völkerrecht?“ Welche Institutionen und welche Personen sind an diesem Prozessen beteiligt? Zu den Institutionen gehören gewiss der UN-Sicherheitsrat, die UN-Tribunale, der IGH in Den Haag und der Internationale Strafgerichtshof nach dem Statut von Rom. Für mich ist jedoch wichtig, dass nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch nichtstaatliche Kräfte wie die Nichtregierungsorganisationen (z. B. Greenpeace, Transparancy International und Amnesty International) an der Entwicklung des Völkerrechts beteiligt werden. Damit sind einige der Themen und Paradigmen genannt, die zeigen können, wie das Paradigma der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ in Zukunft verfeinert und verbessert werden kann. Wesentlich ist bei alle dem, dass es zu keiner Monopolisierung der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und Verfassunggeber“ kommt. Dies entspricht dem Geist der Offenheit und dem Respekt vor anderen Gelehrten. Denn alle meine Versuche sind nur Teilwahrheiten, und ich will keine anderen Gelehrten und deren Paradigmen bewusst angreifen. Meister und Schüler FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Während dieser Jahre gab es viele Gründe zur Freude, vor allem durch Ihre letzten, aus Deutschland und anderen Ländern stammenden Schüler (vereinzelt, sofern Sie erlauben, gab es auch Freude aus Spanien und Granada), welche nun eigene Lehrstühle führen oder in wichtigen Positionen sind, zum Beispiel der Politik. Vergessen wollen wir aber zugleich auch nicht die traurigen Momente, wie den Tod von Konrad Hesse, welcher am 15. März 2005 verstarb und dessen Lebenswerk man sich sowohl in Deutschland wie auch in dieser Zeitschrift widmet. PETER HÄBERLE: Ein Wort zu Ihrer wunderbaren Wendung „maestros y discípulos“. Bislang hatte ich die Ehre und Freude genau 17 Mal in Ihrer verfassungsrechtlichen Abteilung der juristischen Fakultät in Granada zu sein. Für mich ist es ein großes Glück zu beobachten, wie aus den Studenten und Doktoranden, die ich vor 15 Jahren bei Ihnen kennengelernt habe und die zum Teil bei mir in Bayreuth waren, hervorragende junge Dozenten geworden sind. Lehrer-Schüler-Verhältnisse in der Wissenschaft entsprechen dem alten Gedanken der Akademie und dem neuen Gedanken des wissenschaftlichen Generationenvertrags. Solche Verhältnisse sind

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nicht immer leicht: Je mehr die Schüler ihre Eigenarten entfalten, desto mehr muss man als Lehrer bereit sein, die Zügel zu lockern. Im Glücksfall kann aus dem alten Lehrer-Schüler-Verhältnis ein väterliches Freundschaftsverhältnis werden. Ich habe all diese Vorgänge in meinen „pädagogischen Briefen an einen jungen Verfassungsjuristen“ geschildert, die in einigen Monaten als kleines Buch zusammengefasst erscheinen werden. In der Kunst und Philosophie finden wir die schönsten Beispiele für gelingende Lehrer-Schüler-Verhältnisse. Denken Sie nur an Giorgione / Raffael oder an J. Haydn bzw. L. v. Beethoven: Obwohl Beethoven vielleicht berühmter geworden ist, hat er sich immer demütig und dankbar gegenüber Haydn gezeigt, ihm zum Beispiel einmal in Wien nach der Uraufführung eines großen Oratoriums vor aller Augen die Hand geküsst. Also: Lehrer-Schüler-Verhältnisse erfordern viel Sensibilität, Kontinuität und Loyalität – von beiden Seiten. Bis heute bin ich meinen Mentoren K. Hesse und H. Ehmke, auch Erik Wolf und A. Bergstaesser für geglückte Lehrer-Schüler-Verhältnisse dankbar.

Das Verfassungsrecht der damaligen Zeit FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Prof. Häberle, Sie haben Ihr ganzes Leben der Universität und dem Studium der Rechtswissenschaft gewidmet. In der heutigen Zeit wird das Recht als Instrument des Zusammenlebens und der Rationalität der Gesellschaft immer mehr in Frage gestellt und man rückt bei zu vielen Gelegenheiten von der politischen Willenskraft oder den Interferenzen der Märkte ab. Welche Meldungen würde Ihnen für die neue Generation der Juristen und besonders in welchem universitären Werk, in Bezug auf die Verbindung von Recht und spezifisch Verfassungsrecht in der heutigen Gesellschaft, gefallen? PETER HÄBERLE: Dies ist wohl eine der schwierigsten Fragen, sowie Sie offenkundig den Ehrgeiz haben, mir immer wieder „Gretchenfragen“ zu stellen, die sich kaum beantworten lassen. Gretchenfrage meint: Die berühmte Frage von Gretchen in Faust I an den Geliebten Faust: „Nun sag mir, wie hältst du es mit der Religion?“. Und um zu improvisieren: Genau so, wie es für die Theologie schwer ist, auf die Frage zu antworten: „Was ist Gott?“, genau so schwer fällt es uns Juristen, die Frage zu beantworten: „Was ist Gerechtigkeit – und was ist Wahrheit?“. Dies, obwohl es viele klassische und neuere Gerechtigkeits- und Wahrheitstheorien gibt (von Aristoteles bis J. Rawls, von Averroes bis Gadamer). Für die nächste Generation von Juristen scheint es mir besonders wichtig zu sein, dass sie viele Sprachen lernen. Von J. W. von Goethe stammt der wunderbare Satz: „Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene.“ Diesen Gedanken übertragen wir auf den europäischen Juristen: Er sollte möglichst viele nationale Rechtskulturen kennenlernen, um die eigene zu begreifen. Wissenschaft fordert hohe persönliche Integrität, darum lehne ich alle Auftragsgutachten ab. Vor allem geht es darum, zu den politischen Parteien, so wichtig diese für die freiheitliche Demokratie sind, Distanz zu halten. Wir können uns des Klassikertextes von

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W. v. Humboldt bedienen, wonach Wissenschaft ewige Wahrheitssuche sei. Ich modifiziere dieses Zitat speziell zur Rechtswissenschaft: „Die Rechtswissenschaft ist ewige Suche nach der Gerechtigkeit, denn die Gerechtigkeit ist die Wahrheit des Rechts“. Soeben habe ich eher abstrakt gesprochen, im Folgenden ringe ich um ein konkretes Beispiel: Die große Herausforderung unserer Zeit ist der Kampf gegen die Übermacht der Märkte und gegen die Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse. Verfassungstheoretisch ist zu beachten: Der Markt ist nur instrumentell zu denken, er steht im Dienste des Menschen und Bürgers und hat keinen Selbstzweck. Was aber sehen wir heute? Große und kleine Staaten werden von verantwortungslosen Spekulanten und Börsen unter Druck gesetzt, Beispiel Griechenland. Plötzlich sieht sich der Staat und seine freiheitliche Ordnung weniger militärischer Macht gegenüber, als vielmehr der Macht von Börsen und Spekulanten, die wir noch nicht im Griff haben. Wir sollten ein Instrumentarium entwickeln, um den Kapitalismus zu zähmen. Da ich kein Ökonom bin, kann ich beim besten Willen nicht mehr vorschlagen. Aus meiner Sicht ist leider in unseren Tagen von einer totalen Kapitulation der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft zu sprechen, die Nationalökonomie hat weitgehend versagt. II. Globalisierung Die Auswirkungen der Globalisierung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Wir begeben uns nun in einen Frageblock über den Globalisierungsprozess. Die zweite Globalisierung, in der wir seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts leben, aber welche sich in den letzten Jahren immer schneller entwickelt hat und damit zu einer Vermehrung des wirtschaftlichen Unterschiedes in den reichen und armen Ländern, sowie zu einer Zunahme des wirtschaftlichen Höhenunterschiedes im sozialen Bereich der ärmsten und reichsten Sektoren eines jeden Landes beigetragen hat. Kann das Verfassungsrecht, sowohl innerstaatlich wie auch im internationalen Bereich, zu mehr Kontrolle und Humanisierung der Globalisierung führen? PETER HÄBERLE: Ich darf die Frage nach der Globalisierung zunächst von einer begriffsgeschichtlichen Ebene aus untersuchen und mich dann aktuellen Problemen zuwenden. Globalisierung – Globus meint ja die Welt, unsere Erde – in der griechischen Antike gab es zur Zeit der Perserkriege die damalige hellenische Welt. Denken wir an den Peloponnesischen Krieg und die Perserkriege. Diese Kriege wurden damals als Weltkriege verstanden. Zur Zeit des Hellenismus war die Welt identisch mit dem Griechentum. In einem großen Zeitsprung denken wir an die unsägliche Zeit des europäischen Kolonialismus, insbesondere sollten wir uns dafür schämen, was sich die Westmächte, insbesondere Großbritannien, gegenüber China erlaubt haben. Denken Sie an dessen Demütigung im Opiumkrieg. Es handelte sich um Angriffskriege, die durch nichts zu rechtfertigen waren. Ich erwähne auch die versklavende Aufteilung Afrikas durch europäische Mächte. Die Versklavung und Demüti-

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gung der Urbevölkerung in Afrika war ebenso wie in ganz Amerika ein schweres Verbrechen gegen die Menschheit und Menschlichkeit. Nun zur zweiten Ebene. Was können wir gegen die Gefahren der Globalisierung unternehmen? Wir sehen einerseits durchaus positive Seiten der Globalisierung: Offene Märkte, mehr Austausch von Ideen, Waren und Dienstleistungen zwischen den Kulturen. Andererseits sind die Gefahren enorm. Wir stehen vor der Aufgabe, die Globalisierung zu humanisieren, wie Sie dies selbst formuliert haben. Hier ist zunächst vom Menschen bzw. Bürger aus zu denken, und wir sollten dies von zwei Seiten aus tun. Es bedarf einer neuen Schule von Salamanca, wie ich dies schon vor zehn Jahren in Lateinamerika und Spanien gefordert habe. Das Völkerrecht muss vom Menschen und Bürger her neu konzipiert werden. Es ist nicht mehr Staatenrecht und Völkerrecht, sondern „konstitutionalisiertes Menschheitsrecht“. Wichtig bleibt die Erkenntnis, dass die Globalisierung durch regionale Staatenverbünde strukturiert werden kann. Der dichteste Staatenverbund ist die EU als Verfassungsgemeinschaft. Unser so früh verstorbener, griechischer Freund D. Tsatsos sprach diesbezüglich so plastisch von der „EU als Europäischer Unionsgrundordnung“. Weniger dicht sind Verbünde auf anderen Kontinenten: In Lateinamerika der Mercosur, der Andenpakt; in Asien haben wir ebenfalls Ansätze zu einem Verbund, die Asean-Staaten. Also: Die regionalen Staatenverbünde sind ein gewaltenteilendes, unverzichtbares Element zur Strukturierung der sonst übermächtigen Globalisierung, wobei wir unbedingt am nationalen Verfassungsstaat festhalten müssen (dazu Ihre spätere Frage).

Eine neue Weltordnung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Die Globalisierung erzeugt eine neue Weltordnung, die sich immer mehr gegen die aufstrebenden Länder richtet. Als jüngstes Beispiel dieser Umbildung haben wir in Bezug auf Deutschland gesehen, welches seine Stellung als dritte Macht in der Welt (und auch als Exportnation) an China abgegeben hat. In kurzer Zeit wird China die weltweit zweite Kraft und in wenigen Jahren die erste sein. In den gleichen Jahren wird Deutschland von Indonesien, Brasilen, Indien und / oder anderen Ländern als neunte oder zehnte Macht in der Welt zurückfallen. Wird die europäische Verfassungskultur auch zukünftig ein unverzichtbarer Teil einer weltweiten Ordnung sein, in der die ehemaligen Kolonialmächte schon erheblich an Kraft eingebüßt haben? PETER HÄBERLE: Ihre neue Frage verlangt fast einen Propheten. Es ist nicht das Amt des Juristen, prophetisch zu arbeiten – ganz anders vielleicht die Aufgabe des Künstlers. Gleichwohl kann er in aller Bescheidenheit einige Zukunftsentwürfe wagen. Im Übrigen kennen Sie schon mein kleines Bonmot aus der gestrigen Vorlesung: „Manche Fragen der Zukunft kann nur der Weltgeist im Sinne von Hegel beantworten. Aber da der Weltgeist kein Schwabe ist, kann ich nicht antworten.“ Nun ernsthaft: Es ist sehr wichtig, dass Sie als Spanier, der Sie so lange große Sympathie

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gegenüber Deutschland hegen und pflegen, für dieses Deutschland feststellen, dass es nicht mehr die dritte Wirtschaftsmacht der Welt ist. Es wurde von China überholt. Ich bin fast froh darüber, denn Deutschland ist und bleibt leider eine „gefährdete Nation“, wie dies unser ehemaliger Bundeskanzler H. Schmidt kürzlich feststellte. Darum war die wirtschaftliche Einbindung Deutschlands in den Euro, dank H. Kohl, so wichtig. Ich liebe die deutsche Kultur, insbesondere den deutschen Idealismus und die Weimarer Klassik im doppelten Sinne des Wortes über alles. Indes ist es nicht gut für Europa und die Welt, wenn Deutschland eine zu große Wirtschaftsmacht ist. Insoweit lassen wir uns vielleicht gerne von China und anderen Schwellenländern wie Brasilien und Indien überholen. Ein Wort zu den Ländern in Lateinamerika, Indien, Mexiko und Indonesien. In den lateinamerikanischen Ländern wirkt das Vorbild der hervorragenden US-Verfassung von 1787 auch in den Texten. Speziell zu Brasilien kann ich viel Positives sagen. Der dortige Supreme Court orientiert sich neuerdings besonders gerne an Ideen zum Grundgesetz und an einigen deutschen Staatsrechtslehrern. Indonesien und Indien nehmen wohl mehr die angelsächsische Welt zum Vorbild. Vermutlich wird nur noch ein Teil der europäischen Verfassungskultur zukünftig in diesen anderen Kontinenten Relevanz haben. Die Verfassungsgerichtsbarkeit dürfte weltweit ihren Siegeszug fortsetzen. Ich hoffe, dass sich die Idee des Minderheitenschutzes auch in einem künftigen asiatischen Konstitutionalismus verstärkt. Schon vor 13 Jahren habe ich bei meiner Reise nach Japan die Idee gewagt, Südkorea und Japan könnten mittelfristig gemeinsam ein Gemeinasiatisches Verfassungsrecht entwickeln. Hier sollten wir mit meinem vor 15 Jahren entwickelten Textstufenmodell arbeiten. Die anderen Kontinente und Rechtskulturen können zwar die Menschenrechtstexte der UNO oder deutsche BVerfG-Urteile sowie Entscheidungen aus Spanien übernehmen, aber in ihrem neuen, eigenen Kontext erreichen sie eigene Wachstumsstufen gemäß ihrer eigenen Rechtskultur. Auch hier dürfen wir nicht eurozentrisch denken; wir müssen lernen, die Identität anderer Kulturen und Rechtskulturen ernst zu nehmen; insbesondere sollten wir die Demokratie nicht zu rasch exportieren wollen. Ein Beispiel: Wahrscheinlich ist Afghanistan derzeit noch nicht reif für eine Demokratie, es gibt dort traditionelle Stammesgesellschaften, es finden sich eigene Formen, wir können hier nicht, wie dies die USA wollten, naiv plötzlich mit unseren eigenen Vorstellungen „einmarschieren“. Doch sollten wir dem Irak nachdrücklich raten, den dortigen Kurden möglichst viel Autonomie zu geben, Anzeichen dafür gibt es schon. Besonders nachdrücklich sollten wir von China fordern, Tibet kulturelle Autonomie zuzugestehen.

Lateinamerika als Versuchslabor des Konstitutionalismus FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Vor 11 Jahren, anlässlich eines Kongresses zu Ihren Ehren in Baden-Baden, habe ich mich mit dem Werk des „Verfassungsstaates im iberoamerikanischen Kontext“ (M. Morlok (Hrsg.) Die Welt des Verfassungsstaates, Nomos, Baden-Baden, 2001) beschäftigt. Ich hatte die Gelegenheit, Ihre Methoden anzuwenden, um zu erfahren, wie sich im verfassungsmäßigen iberoame-

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rikanischen Labor neue Formeln entwickeln, als Produkt einer Kombination der nordamerikanischen und europäischen Einflüsse, welche im verfassungsmäßigen Zustand in diesen Ländern zusammenkommen. Es ging um ein klares Beispiel Ihrer Thesen zum ständigen Herstellungsprozess und der Rezeption im Umkreis des Verfassungsrechts, sowie seines Paradigmas einer evolutionären Entwicklung des Verfassungsrechts. Welche Meinung haben Sie von der Entwicklung des Verfassungsrechts in Iberoamerika? PETER HÄBERLE: Ebenso lebhaft wie freudig erinnere ich mich an Ihren eigenen Spitzenvortrag in Baden-Baden, lieber Herr Balaguer, der für uns in jeder Hinsicht vorbildlich war. Damals, 1999, waren zwei außerordentliche Persönlichkeiten im Festsaal präsent: mein akademischer Lehrer Konrad Hesse und der seinerzeitige Präsident Ihres Verfassungsgerichts P. Cruz Villalón. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie Sie sehr stilvoll zu Beginn Ihres schönen Vortrags sagten: Wir sollten uns klarmachen, dass in diesem Raum der höchste Repräsentant des spanischen Rechts anwesend ist. Auch ich war von diesem Beginn sehr bewegt, er wirkte wie ein Präludium und eine Ouvertüre bzw. ein Prolog zu den folgenden Referaten und der Diskussion. Jetzt zu Ihrer These, wonach wir in Lateinamerika einem großen Verfassungslaboratorium gegenüber stehen. Ich stimme Ihnen sehr zu. Während meiner insgesamt fünf Lateinamerikareisen konnte ich beobachten, dass dieser Kontinent auf der Ebene der Trias von Texten, Judikaten und Theorien größte Aufmerksamkeit der Europäer verdient. Nicht wenige Kollegen in Deutschland und vor allem Frankreich pflegen geradezu den herkömmlichen Eurozentrismus. Sie erkennen nicht, dass nach der Überwindung vieler Diktaturen in lateinamerikanischen Ländern dort ein höchst lebendiger Verfassungsevolutionsprozess mit reichen Textstufen und nachweisbaren intensiven Austauschverhältnissen von Produktion und Rezeption stattfindet. Ich erwähne Beispiele: das Amparo-Verfahren, den ideenreichen Ausbau des Verfassungsprozessrechtes in Brasilia im Geiste der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, den Ombudsmann, vor allem eine Leistung von H. Fix Zamudio von Mexiko. Was die einzelnen Länder Lateinamerikas angeht, so müssen wir genau unterscheiden. Zwei Länder sollten wir aus unserer positiven Sicht leider ausklammern, nämlich Kuba und Venezuela. Hier sind populistische, halb-autoritäre oder autoritäre Regierungen am Werk und übermächtig in ihrer Verletzung von Rechtsstaat und Demokratie, von Menschenrechten, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz. Indes leisten die anderen Länder auf ihre Weise sehr viel, z. B. in Sachen freie Wahlen, rechtsstaatliche Strukturen, Grundrechtsschutz, Gewaltenteilung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Erlauben Sie nach diesem Lob einige wenige Einschränkungen. Man muss auch die Defizite erkennen. Solche gibt es nach wie vor im Bereich des Umweltschutzes, z. B. in Brasiliens Amazonaswäldern. Überdies bin ich nicht sicher, ob die Urbevölkerung ihre Minderheitenrechte in der Praxis auch wirklich leben kann, oder ob diese nur in schönen Texten geschrieben stehen. Unser Freund G. Ferreyra hat kürzlich ehrenamtlich Indios vor dem Supreme Court in Argentinien verteidigt und deren dortige Rechte geltend gemacht.

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Das Verfassungsrecht im Gegensatz zur neuen Weltordnung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: In der globalisierten Welt wird das verfassungsmäßige Recht, wie wir es kennen, unüberwindbare Grenzen haben, um zu wachsen und sich an die Schwierigkeiten der verschiedenen kulturellen Werte, beispielhaft hier wiederum China, anzupassen. Wie schätzen Sie diesen Prozess ein? PETER HÄBERLE: Lieber Freund Paco, an dieser Stelle ist es mir besonders wichtig, dass wir für China Verständnis haben: China ist eine über 3000 Jahre alte Hochkultur mit seinerzeit bahnbrechenden Erfindungen. China wurde zum Beispiel im schon erwähnten Opiumkrieg im 19. Jahrhundert gedemütigt, und ich verstehe gut, dass es 1949, freilich unter dem Tyrannen Mao Tse-tung seine Unabhängigkeit rigoros erkämpft hat. Freilich stellt sich jetzt die Frage, ob man von einem „sozialistischen Rechtsstaat“ sprechen darf. Deutschland bemüht sich seit Jahren um einen sogenannten „Rechtsstaatsdialog“. Ich bin besonders unglücklich, dass es China nicht gelingen will, Tibet ein Minimum an kultureller Autonomie zuzugestehen, der Dalai Lama spricht sogar von „kulturellem Völkermord“. Es gäbe viele Beispiele weltweit für vorbildliche Autonomiestatute.

Gibt es einen weltweiten Konstitutionalismus? FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Eine der Paradoxien, die die Globalisierung erzeugt, ist die weltweite Ausdehnung der wirtschaftlichen Mächte, während die Staaten immer noch auf einer nationalen Grundlage basieren, die vom verfassungsmäßigen Standpunkt wirken, obwohl sie das Völkerrecht nutzen, um gemeinsame politische Anstrengungen zu nutzen. Jedoch dürfen wir nicht vergessen, dass sich internationales und verfassungsmäßiges Recht in verschiedenen Anfängen finden: Während sich das erste auf das Prinzip der staatlichen Souveränität bezieht, wird zweites im modernen Sinn als juristische Begrenzung der staatlichen Macht und nicht des Souveränitätsanfangs selbst verstanden. Unter diesen Bedingungen ist der Verfassungsstaat noch immer der unausschließbare Zustand des verfassungsmäßigen Rechts. Können wir wirklich an einen Konstitutionalismus glauben, der mit dem Anfang staatlicher Souveränität vereinbar ist? PETER HÄBERLE: Die von Ihnen angedeutete Antwort auf die Globalisierung verdient volle Zustimmung. Meines Erachtens ist diese These neu, und ich hoffe, dass Sie in Ihrem nächsten Forschungsprogramm in Sachen Globalisierung diesen Weg fortsetzen können: nicht zuletzt dank der Möglichkeiten, die Sie über Ihre eben erhaltene Jean-Monnet-Professur ad personam haben, zu der ich auch an dieser Stelle gratuliere. Auch diese Ihre Frage trifft den Nerv der Zeit, ich kann wie so oft nur vorläufige Antworten formulieren und manche eigene Fragen hinzufügen. Meine These lautet: Zwar sprechen wir von „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ oder der Welt im Ganzen, meine These ist jedoch, dass es nur eine „Teilkonstitutionalisierung“ geben

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kann, so wie wir in der EU Teilverfassungen haben. Wir werden zu keinem Weltstaat kommen, zu keiner Weltregierung und zu keiner Weltverfassung. Wir sollten dies auch nicht anstreben. Gleichwohl brauchen wir große Utopien etwa Immanuel Kants Utopie zum Ewigen Frieden aus dem Jahre 1795 (Man vergegenwärtige sich nur einmal, zu welcher Zeit Kant diese positive Utopie entworfen hat!). Insgesamt ist mein Credo, dass die Verfassungsrechtswissenschaft immer wieder und in mehreren Problembereichen ein Minimum eines Utopiequantums braucht, um in der Zukunft Wirkungen zu zeitigen (Beispiel war und ist die deutsche Wiedervereinigung zwischen dem Verfassungsauftrag in der Präambel des GG von 1949 und der geglückten Einigung von 1990). Beispiele für solche Teilverfassungen sind: die UN-Charta, die sehr vom deutschen Idealismus geprägt sein dürfte (so jedenfalls meine Vermutung, z. B. in Sachen „Friede in der Welt“), die UN-Menschenrechtserklärungen, die UN-Tribunale sowie, oft vergessen, der weltweite Kulturgüterschutz dank der UNESCO, schließlich gibt es Teilverfassungen für den Mond, den Weltraum und den Meeresboden. Mögen dies auch kleine Fortschritte sein, sie bleiben solche im Geiste der Philosophie von K. Popper („Stückwerktechnik“). Gerade im Völkerrecht und seinen konstitutionellen Teilordnungen brauchen wir ein Mindestmaß an Optimismus für die Gestaltung der Zukunft. Zu Recht rücken Sie die Frage der staatlichen Souveränität in das Zentrum. Der Begriff der staatlichen Souveränität stammt aus dem 17. Jahrhundert (Bodinus), er hat sich später zu einem klassischen Element entwickelt. Gerade in den letzten Jahrzehnten erfuhr er jedoch wichtige Wandlungen. Hier ein außerordentliches Beispiel: Die staatliche Währungshoheit war lange Zeit klassisches Instrument und Element der Souveränitätsideologie, in der EU ist sie heute im Rahmen der Europäischen Währungsunion beseitigt. Wir sehen einen fulminanten Wandel des Souveränitätsbegriffs. Er manifestiert sich auch in der Verbindlichkeit der Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg, auch wenn z. B. Russland nicht allen Urteilen folgt. Im Ganzen dürfen wir die Souveränität heute nicht mehr als „Rocher de bronze“, bei aller völkerrechtlicher Vielfalt, sehen. Doch gebe ich Ihnen Recht: der teilsouveräne nationale Verfassungsstaat bleibt auch für die heutige Völkerrechtsordnung unentbehrlich, denn er ist es, der das Völkerrecht durchsetzen muss . Wir vergessen allzu leicht, dass nur ein Drittel etwa, der 193 Staaten der Welt Verfassungsstaaten in unserem Sinne sind.

III. Supranationale Integration Die supranationale Integration als Antwort auf die Globalisierung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Wir beginnen nun den dritten Fragenteil zum Prozess der supranationalen Integration. Der Prozess der supranationalen Integration ist als eine Antwort auf die Globalisierung zu verstehen. Über diese Prozesse gelangen die Staaten auf die internationale Bühne, welche ein gewisses Gegengewicht zu den großen weltweiten Wirtschaftsmächten darstellt. Die supranationale

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Integration hingegen kommt, und wir Verfassungsjuristen sollten versuchen, eine verfassungsmäßige Theorie der supranationalen Integration zu entwickeln, wie Sie es bereits in den vergangenen Jahren, insbesondere in Bezug auf Europa getan haben. Aus dieser Perspektive scheint mir besonders Ihre auf die europäische Union angewandte Theorie der Teilverfassungen wichtig, weil sie behauptet, dass zwischen anderen Staaten, die Stimme des verfassungsmäßigen Rechts ein unentbehrlicher Teil in der Debatte über die supranationale Integration ist, und die ein Teil eines verfassungsmäßigen Rechts ist, welche früher staatlich war, jetzt – mit einigen Mängeln und Problemen, welche passieren können und welche wir als Anhänger der verfassungsmäßigen Ordnung versuchen sollten zu korrigieren – auf supranationalen Niveau ist. PETER HÄBERLE: Auch mit dieser Frage schneiden Sie ein zentrales aktuelles Problem an. Zwei theoretische Begriffe beherrschen die Diskussion über Deutschland hinaus. Die einen sprechen von „Mehrebenen-Konstitutionalismus“, die anderen vom „legal pluralism“. Vor etwa zehn Jahren habe ich scharfe Kritik gegenüber der Idee des Mehrebenen-Systems geäußert, sofern es hierarchisch denkt. Man kann nämlich nicht sagen, dass das Europäische Verfassungsrecht und der EuGH gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht im jeweiligen Geltungsbereich höher geordnet sind (auch im Bundesstaat steht das Landesrecht nicht unter dem Bundesrecht). Daher lehne ich den hierarchischen Begriff „Mehrebenen-Konstitutionalismus“ ab. Anders steht es um den „legal pluralism“, auch wenn ich bedauere, dass sich in Deutschland immer mehr angloamerikanische Begriffe einbürgern. Zwei konkrete Beispiele möchte ich noch benennen: Wir haben noch nicht Afrika behandelt. Alle Welt spricht derzeit von Afrika, freilich primär wegen des Fußballs. Der Fußball interessiert mich persönlich überhaupt nicht, allenfalls unter dem Gesichtspunkt, dass er kleinen Staaten die Möglichkeit eröffnet, Integrationsverfahren, Identifikationschancen für den Bürger im Blick auf ihr politisches Gemeinwesen zu finden. So freute ich mich sehr, dass Ghana lange Zeit erfolgreich war und dass das kleine Serbien Deutschland zunächst besiegt hat (es geht mir um die Rückkehr Serbiens nach Europa). All dies ist akademisch wissenschaftlich. Ich finde es indes höchst fragwürdig, was auf den Fußballfeldern, Märkten und Plätzen an Massenpsychose sichtbar wird. Afrika muss ich erwähnen, weil wir auch dort – wenngleich vielleicht in der schwächsten Form – durchaus schon supranationale Gemeinschaften vorfinden. Werfen wir einen Blick auf afrikanische Verfassungen. Einige sehen in ihren Texten ausdrücklich die Möglichkeit eines Partial- oder Totalverzichts auf staatliche Souveränität im Interesse von Zusammenschlüssen der Völker Afrikas vor. Meiner Erinnerung nach ist dies besonders eindrucksvoll in der Verfassung von Mali zum Ausdruck gelangt. Sodann gibt es die Afrikanische Union, mag sie auch oft recht schlecht funktionieren. Schließlich existiert eine afrikanische Menschenrechtserklärung, die Banjul-Charta. Dies war ein Nachtrag zu einem weiteren Beispiel, wie intensiv wir schon supranationale Gemeinschaften und unterschiedlich dichte Integrationsleistungen auf der Welt beobachten können. Ich hoffe, dass speziell Afrika in Sachen supranationaler Integration eine endgültige Form findet, um

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die Nachteile der Globalisierung, nämlich die Identitätsverluste der kleinen Staaten, auszugleichen. Sodann ein Wort zur EU. In Bezug auf sie habe ich vor mehr als zwölf Jahren die Idee von der „Teilverfassung“ entwickelt. Ich freue mich, dass Sie darauf zurückkommen. Die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, die sich nach wie vor zu gerne als „souveräne“ Herren der EU gerieren, sind in Wahrheit nur noch teilsouverän. Sie geben viele Kompetenzen nach Europa ab, nicht nur in der Gerichtsbarkeit. Dabei müssen wir unterscheiden zwischen Europa im engeren Sinne der EU und Europa im weiteren Sinne des Europarates, der EMRK und des Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg. Die nationalen Mitgliedsländer gewinnen aber auf höherer Ebene durch die Vergemeinschaftung – wie in Fragen der Währung die 16 Euro-Länder – Kompetenzen in Gemeinschaft hinzu. Wir beobachten also eine differenzierte Gewinn- und Verlustrechnung, und wir erkennen erneut, dass wir einem noch offenen Wandel des Souveränitätsbegriffs gegenüberstehen. Supranationale Integration und Demokratie FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Eines der Probleme der supranationalen Integration ist das demokratische Defizit, welches die Abwesenheit der Öffentlichkeit, die sonst mittels der Bürger kontrolliert, sich supranational entwickelt hat. Die Staaten sind die entscheidenden Agenten und Mittel des Völkerrechts. Was kann das Verfassungsrecht zur Demokratisierung der supranationalen Einrichtungen beitragen? PETER HÄBERLE: Diese tiefgründige Frage lässt sich am ehesten an der EU exemplifizieren, man könnte sie auch in Afrika, in Asien oder in Lateinamerika darstellen. Zu Recht sprechen Sie davon, dass die Staaten nur zu gerne alle Aktivitäten im übernationalen, supranationalen Bereich für sich zu monopolisieren suchen. Welche Instrumente und Verfahren gibt es dagegen? Im Vorfeld des EU-Vertragsentwurfs von 2004 habe ich ohne jeden Erfolg die Frage gestellt, ob wir nicht von der Schweiz lernen sollten. Die Schweiz lebt auf den drei Ebenen ihres Gemeinwesens, der kommunalen, der kantonalen und des Bundes, die halb-direkte Demokratie. Die Schweiz kennt den schönen Begriff der „Volksrechte“. Frankreich und Spanien verwenden den ebenfalls schönen Begriff der öffentlichen Freiheiten. Wenn wir, wie ich seit 1987 (im Handbuch des Staatsrechts, Band I) die Demokratie von der Menschenwürde her denken, dann müssen wir auch Instrumente und Verfahren entwickeln, dank derer sich die übernationalen Organisationen demokratisieren lassen. Ein kleines Stichwort: die partizipative oder halb-direkte Demokratie. In mehreren auf die EU bezogenen Verfassungsentwürfen, z. B. in dem von J. Leinen und ein sog. Berliner Entwurf (ich habe sie alle in meinem Jahrbuch des öffentlichen Rechts abgedruckt) wurden rechtliche Möglichkeiten für Volksinitiativen geschaffen. Leider ist im Lissabon-Vertrag von 2009 nur ein kleiner Rest geblieben: Eine Million EU-Bürger können eine Art Volksinitiative ergreifen; mit Freude habe ich erfahren, dass vor etwa zehn Tagen in Deutschland die Sozialdemokratische Partei eine solche Initiative gestartet hat. Insbesondere brauchen wir eine europäische Öffentlichkeit. 1998 habe ich erstmals in einer Schweizer Festschrift die Frage gestellt:

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„Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?“ Wir sollten möglichst alle Formen der Öffentlichkeit als ein Medium der Demokratie verstärken und jede Monopolisierungstendenz verhindern. Das italienische Medienrecht ist unter dem Regime von S. Berlusconi leider eine offenkundige Verletzung des Europäischen Verfassungsrechts, denn in den dortigen Artikeln ist die Vielfalt des Medienrechts zum normativen Programm gemacht. Sodann sollten wir darauf achten, dass die Entscheidungen sowohl des EuGH als auch des EGMR in Straßburg auch realiter durchgesetzt werden und soziale und demokratische Teilhaberechte sich kräftig entwickeln können. Bemerkenswert ist, dass der EuGH in den letzten Jahren einen nucleus von sozialen Teilhaberechten im Sinne der Sozialstaatsklausel von H. Heller Stück für Stück entwickelt – seine Erfindung des Begriffs des sozialen Rechtsstaats in der Weimarer Zeit dokumentiert einmal mehr, dass wir auf den Schultern der Weimarer Riesen als Zwerge stehen. Leider kritisieren manche deutsche Staatsrechtslehrer die Judikatur des EuGH. Garantie der Rechte auf supranationalem Niveau FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Die Garantie der Rechte auf supranationalem Niveau wurde hauptsächlich als ein prätorischer Schutz gestaltet, der einen großen Beitrag geleistet hat, obwohl er das zarte Gleichgewicht zwischen der Zusammensetzung der Verfassung, des demokratischen Gesetzgeber und der verfassungsmäßigen Gerichtsbarkeit beeinträchtigt. Auf der anderen Seite wirft diese prälogische Formulierung die Frage der Mitarbeit zwischen den unterschiedlichen juristisch europäischen Gerichtsbarkeiten auf, die zur Entwicklung der Grundrechte beitragen kann. PETER HÄBERLE: In meinem Land findet eine große Diskussion unter dem Stichwort statt: „Konfrontation oder Kooperation“ zwischen dem EuGH in Luxemburg und dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Sie betonen soeben mit Recht die prätorischen Leistungen des EuGH, wir sprachen vorhin von den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“. Der EuGH hat viele ungeschriebene Grundrechte entwickelt (wie übrigens auch das Schweizer Bundesgericht in Lausanne), zum Beispiel das Diskriminierungsverbot und die Gleichbehandlung von Mann und Frau sowie vieles anderes, was später im europäischen Recht positiviert worden ist. Ich habe immer wieder den EuGH als Motor der europäischen Integration gerühmt. Umso trauriger stimmt mich das deutsche Lissabon-Urteil des BVerfG, die beiden tschechischen Entscheidungen des Verfassungsgerichts in Brünn sind in Sachen Lissabon-Vertrag viel besser. Das dortige Gericht übertreibt nicht den judicial activism, es lässt der Europapolitik Gestaltungsspielraum. Wenn das deutsche Lissabon-Urteil so stehen bleibt wie jetzt – wir kommen hierauf noch in einer späteren Frage zurück – dann bedeutet dies eine Konfrontation. Wir brauchen aber ein Miteinander und eine fruchtbare Kooperation zwischen den supranationalen Gerichten und den nationalen Verfassungsgerichten. Freilich ist auch klar zu sagen: Im Europa der EU müssen die nationalen Verfassungsgerichte auch europäische Verfassungsgerichte sein, in ihrem Selbstverständnis und in ihren Entscheidungen.

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Neue Problemfelder des Konstitutionalismus FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: In letzter Zeit werden neue Problemfelder des Konstitutionalismus präsent, die die traditionellen Beziehungen zwischen den staatlichen Mächten verändern. Das verfassungsmäßige Recht unserer Zeit achtet auf solche soziale Ersuchen, wie beispielsweise die Integration immigrierender Personen oder der Schutz der Umwelt. Diese spielen auch eine entscheidende Rolle im Umkreis der supranationalen Integration vor allem in Europa. PETER HÄBERLE: Es ist sehr dankenswert, dass Sie so konzentriert nach möglichen neuen Themen des nationalen Verfassungsrechts unserer Zeit fragen. Ich greife vier Beispiele auf: die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, den Generationenvertrag, die Beseitigung der Diskriminierung der Homosexuellen (in Deutschland haben wir zum Glück die eingetragene Lebenspartnerschaft, in Spanien gibt es leider vor allem seitens der katholischen Kirche immer noch große Einwände, es kam vor geraumer Zeit in Madrid sogar zu Demonstrationen). Besonders wichtig ist mir das Thema des Umgangs mit Einwanderern. Italien und Spanien haben es hier besonders schwer, da sie die Außengrenzen der EU besitzen; wir Deutschen haben gut reden, wir sind in dieser Hinsicht eine Art Binnenland. Die Frage ist, welche Integrationsprogramme der nationale Verfassungsstaat entwerfen muss, um die Einwanderer möglichst zu integrieren, aber gleichwohl ihre Identität zu respektieren. Speziell diese Frage stellt sich auch für die islamischen Einwanderer, insbesondere die Türken. Bei uns gibt es derzeit die Diskussion, ob man einen Studiengang Islamunterricht an staatlichen Universitäten einrichtet, gegründet wurde eine Islamkonferenz, gestritten wir, ob es Gebetsnischen für islamische Schüler in den staatlichen Schulen geben muss. Meines Erachtens geht es darum, einen „Euro-Islam“ zu entwickeln; ich weiß freilich nicht, ob der Islam selbst, der ja höchst differenziert ist bzw. seine Führer dazu schon bereit sind. Mindestens so dramatisch erscheinen die Fragen des Internets und des Privatheitsschutzes in der jüngsten Zeit. Sie kennen gewiss besser als ich den Google-Service, in Deutschland gibt es jetzt Autos (Google Earth, Google Street View), die alles fotografieren und damit die Privatheitssphäre gefährden. Aber mindestens so schlimm ist, dass die jungen Bürger heute über die Instrumente Facebook und Twitter ihre eigene Privatsphäre in Frage stellen. Für diese hat gerade das Bundesverfassungsgericht vor Jahrzehnten sich in seinem epochemachenden Pionier-Urteil zum informationellen Selbstbestimmungsrecht eingesetzt. Wir müssen uns fragen: Was kann und soll der Verfassungsstaat leisten, um die Privatsphäre auf diesen Feldern effektiv zu schützen? Als neues Thema kommt hinzu, dass der Verfassungsstaat das Urheberrecht in neuen Formen schützen muss. Das Urheberrecht wird durch die sogenannten Downloads missachtet, es war seinerzeit ein Anliegen des deutschen Idealismus, kein Geringerer als Goethe und später Richard Wagner haben sich engagiert, die Urheberrechte zu schützen. Auch hier ist der Staat durch ein neues Thema gefordert, möglicherweise muss er vielleicht sogar auf Verfassungsebene und nicht nur auf Gesetzgebungsebene aktiv werden.

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Ein postnationales Verfassungsrecht FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Im vorherigen Fragenblock haben Sie die Frage eines möglichen globalen Konstitutionalismus entworfen. Jetzt möchte ich Sie über die Möglichkeit eines verfassungsmäßigen postnationalen Rechts befragen. Es geht dabei um ein verfassungsmäßiges Recht, welches jenseits der traditionellen Grenzen des verfassungsmäßigen Zustandes, in Übereinstimmung mit der postnationalen eigenen Wirklichkeit des Globalisierungsprozesses und den vielleicht neuen methodischen Thematiken die Fragen neu aufwirft. PETER HÄBERLE: J. Habermas hat wohl als Erster die Frage nach einer post-nationalen Konstellation gestellt, an diesen Begriff knüpfen Sie in Ihrer wichtigen Frage an. Ich selbst habe noch keinen besseren Begriff, weiß aber, was Sie umschreiben wollen. Ich möchte auf den Begriff des Nationalen nicht verzichten: Wir brauchen die Nation, gerade auch in der Zeit der Globalisierung als eine effektive Garantie dafür, dass sich das Völkerrecht teilweise konstitutionalisiert. Vorläufig kann ich nur einige Beispiele im Sinne meines Textstufenvergleichs verwenden. Vergleichen wir die Schweizer Kantonsverfassungen, die ihrerseits seit Ende der 60er Jahre bis heute ein Verfassungslaboratorium ersten Ranges bilden – ich spreche gerne von „Werkstatt Schweiz“ und vom experimentierenden Bundesstaat –, dann finden wir die Themen der Humanität, der humanitären Ordnung in der Welt und Ähnliches sogar in den kleinsten Kantonsverfassungen als normative Texte. Zum Beispiel stellt die vorbildliche Verfassung des Kantons Bern von 1993 Bern die Aufgabe, für humanitäre Aufgaben in der Welt zu sorgen. Solches ist ein typisch Schweizerisches Thema seit dem Aufbau des Roten Kreuzes – eine große Leistung gerade der Schweiz, denken wir auch an das humanitäre Völkerrecht. Auf der nationalen Ebene finden sich ebenfalls Staaten, insbesondere in Osteuropa, die „nationales Europaverfassungsrecht“ normieren, indem sie Europa-Artikel formulieren. Die erwähnte Schweizer Klausel nenne ich – neu – „nationales Weltverfassungsrecht“. Den Verfassungsvergleich müssen wir kulturwissenschaftlich unterfüttern, dies versuche ich seit 1982. Der Textvergleich ist nur ein erster Schritt. Entscheidend wird der Vergleich der kulturellen Kontexte. Den Begriff des „Kontextes“ führte ich in Anlehnung an Sozialwissenschaften 1979 ein; dank ihm kommen z. B. die unterschiedlichen Mentalitäten und Traditionen der verschiedenen Völker in den Blick, die sich nicht normativ auf einen Begriff bringen lassen. Die Identität der Schweiz ist über die juristische Struktur hinaus eine ganz andere als etwa die spanische oder die deutsche Identität. Wir müssen Instrumente, Texte und Verfahren und vor allem eine Methodologie entwickeln, wie wir die supranationalen Verbünde oder Verbindungen weiter stärken und ausbauen. Doch können wir auf die Nationen und die sie zusammenfassenden Verfassungsstaaten nicht verzichten. Insofern brauchen wir vielleicht doch den Begriff „post-national“, aber im gekennzeichneten, eingeschränkten Sinne.

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IV. Europäische Union Einschätzung des Vertrags von Lissabon FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Es kommt nun ein Fragenteil über die europäische Union, jenes Modells, das wir besser als jedes andere Modell supranationaler Integration und dazu in seiner Entwicklung kennen. In unserer Zeitschrift veröffentlichten wir eine Rezension von Ihnen von vor 2 Jahren über den Vertrag von Lissabon, der vor sechs Monaten in Kraft getreten ist. Was können wir von diesen Reformen erwarten, die denVertrag in Hinblick auf die Grundrechte in der EU verändert haben? PETER HÄBERLE: Danke dafür, dass wir nun zur Europäischen Union kommen. Der Vertrag von Lissabon ist ein Kompromisstext, meines Erachtens ein schlechter Kompromiss. Ich habe ihn oft kritisiert. Problematisch sind die vielen Ausnahmen in Sachen Grundrechtecharta, die von Polen und Großbritannien erzwungen worden sind. Problematisch ist auch, dass es zu Reibungen kommen kann, in der Europäischen Verfassungsrechtswirklichkeit, z. B. zwischen den rotierenden nationalen Ratspräsidenten und dem ständigen Ratspräsidenten. Sie haben manches während der spanischen Ratspräsidentschaft, über die ich mich aus Höflichkeit gegenüber dem Gastgeberland heute nicht kritisch äußern möchte, beobachten können. Positiv wirkt die Stärkung des Europäischen Parlamentes und damit auch die Schaffung eines Stücks europäischer Öffentlichkeit. Positiv ist die erwähnte Möglichkeit zur Volksinitiative für eine Million von Unionsbürgern. Auch dadurch kann europäische Öffentlichkeit entstehen, wie übrigens auch über die Medien und grenzüberschreitende Demonstrationen. Heute hoffe ich, dass die anderen nationalen Verfassungsgerichte die Lissabon-Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts nach und nach korrigieren, Tschechien hat damit begonnen, damit beschäftigt sich ja Ihre nächste Frage.

Das Lissabonurteil des BVerfG FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: In der vorherigen Ausgabe unserer Zeitschrift veröffentlichten wir einen Kommentar von Ihnen, zum Lissabonurteil des Bundesverfassungsgerichts. Es zeigt eine sehr kritische Auseinandersetzung, welche nachträglich auch von vielen anderen Autoren geteilt wurde. Es ist nun ein Jahr nach diesem Urteil vergangen und es stellt sich die Frage, ob es weitere Anmerkungen, in der späteren Reflexion dazu gibt. PETER HÄBERLE: Ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie zeitlich noch vor der deutschen Publikation meiner umfangreichen Kritik am Lissabon-Urteil in Ihrer eigenen Zeitschrift eine fabelhafte spanische Übersetzung meines kritischen Versuchs publiziert haben. Inzwischen sind mindestens ein Dutzend weitere Aufsätze überwiegend von jüngeren Kollegen erschienen. Zehn Aufsätze sind genauso kritisch wie ich,

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zwei Aufsätze von Kollegen, die eher U. Di Fabio (dem Berichterstatter des Lissabon-Urteils) nahe stehen, verteidigen das Urteil. Die europäische Wirklichkeit seit einem Jahr ist problematisch. Die deutsche Bundeskanzlerin A. Merkel soll dem Vernehmen nach kürzlich den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts A. Vosskuhle (der vier Semester lang Student in meinem Bayreuther Seminar war, ich sage dies nicht ohne Stolz) gefragt haben: „Bleibt überhaupt noch Raum für deutsche Europapolitik?“ In der Tat, wenn das Lissabon-Urteil so strikt befolgt wird wie von Karlsruhe verlangt, besteht die Gefahr, dass die deutsche Europapolitik von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung zur gesamten Hand „unter der Aufsicht“ von Karlsruhe steht. Dies ist ausgerechnet nicht so der Fall im zum Teil europakritischen Prag, weil das Verfassungsgericht in Brünn mehr judicial restraint praktiziert hat und der Politik mehr Spielraum gibt. Ich bin sehr unglücklich darüber, dass es zu diesen Irritationen in Deutschland wegen des Lissabon-Urteils des BVerfG kommt – ich nenne es das zweite, schlechtere Maastricht-Urteil. Hier ein Zusatz, um Missverständnisse zu vermeiden. Ich bin ein langjähriger Bewunderer unseres deutschen Bundesverfassungsgerichts, ich habe Dutzende von Entscheidungen kommentiert und nur das Abhörurteil aus dem Jahr 1971 ähnlich stark kritisiert, damals gab es freilich gute Sondervoten, zum Lissabonurteil kam es leider zu keinem einzigen Sondervotum, sondern nur zu einer Gegenstimme. Die Unfähigkeit Europas im Umgang mit der Wirtschaftskrise FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Die Wirtschaftskrise stellt den europäischen Integrationsprozess vor neue Herausforderungen. Die Schwierigkeit, eine einheitliche Antwort auf die Krise zu finden, ist evident und zudem prüft sie die pro-europäische Einstellung der politischen Führer und der jeweiligen Bevölkerung der einzelnen Länder. Vor einigen Monaten hätte ich, von der aktuellen Situation der Europäischen Union ausgehend, von einer Devise der „Vereinigung an der Universität“ gesprochen, heute würde ich von einer „Teilung im Unglück“ sprechen. Wird Europa fähig sein an seinen anfänglichen Ehrgeiz zurückzukehren und den Pulsschlag der Integration wieder aufzunehmen? PETER HÄBERLE: Die Unfähigkeit Europas gegenüber der derzeitigen Ökonomischen Krise ist ein großes Thema, das ich in einen entsprechend großen Zusammenhang stellen möchte. Ausnahmsweise zitiere ich Hegel, sonst bevorzuge ich Immanuel Kant: Wir beobachten eine eigentümliche Dialektik: Ausgerechnet nachdem im annus mirabilis 1989 der gelehrte dogmatische Materialismus des Kommunismus der Sowjetunion zusammengebrochen ist, ersteht im Westen die Ökonomie und ein grenzenloser Materialismus auf – dies in einer bislang nicht gekannten Weise. Die Gräfin M. Dönhoff forderte: „Zähmt den Kapitalismus!“ Ein Ausschnitt aus diesen unseligen Übertreibungen der Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche und des ungebändigten Kapitalismus ist Ihre Frage nach der Krise. Sie ging bekanntlich von den USA aus und hat nun auf die europäische Welt übergegriffen.

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Mehr als eine geglückte Pointe und ein schönes Wortspiel ist Ihre Formulierung „unidad en la diversidad, dividida en la adversidad“. Sie sollten diese Erfindung unbedingt noch an anderer Stelle näher ausführen. Zwei Versuche der EU gab es, mit dieser gefährlichen Wirtschaftskrise fertig zu werden. Zum einen den Rettungsschirm für Griechenland. Hier hat unsere deutsche Bundeskanzlerin, wie ich meine, zu lange gezögert und den Spekulanten zu viel Zeit eingeräumt. Ich bin traurig, dass in der deutschen Diskussion die Politiker immer nur die ökonomische Dimension diskutiert haben und niemand zum Ausdruck brachte, dass wir zur Solidarität gegenüber Griechenland verpflichtet sind: aus gemeineuropäischer Solidarität, denn Europa kommt von Griechenland, dem antiken Griechenland her, die Griechen waren die ersten Europäer, und in diesem Kontext dürfen wir auch den Mythos von Zeus und der Prinzessin Europa auf dem Stier anrufen. Der zweite Versuch bestand in dem riesigen Euro-Rettungsschirm (700 Milliarden Euro!), ich kann die hohe Summe in meinem kleinen professoralen Großhirn mir kaum vorstellen. Diskutiert wird jedenfalls in Deutschland – die Diskussion in Spanien kenne ich nicht –, ob der no-bail-out-Satz im Vertrag von Lissabon mit dieser Hilfe verletzt worden ist. Selbst wenn es ein spezielles Beistandsverbot gibt, kommt an anderen Stellen des Lissabon-Vertrags das Prinzip der Solidarität oft genug zum Ausdruck. Wir sollten uns an diesem übergeordneten Prinzip der Solidarität orientieren und nicht an dem relativ technisch zu verstehenden bail-out-Thema. Der Integrationsprozess und der Prozess der Globalisierung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Der Integrationsprozess war in den Nationalstaaten sehr nützlich, um dem Globalisierungsprozess die „Stirn zu bieten“. Jedoch scheint die Verspätung der politischen Integration sich immer weiter zu verschieben, im Gegensatz zur fast tobsüchtigen dynamischen Evolution der Globalisierung. Ist es möglich, dass Europa ohne gelungene politische Integration in den Globalisierungsprozess eingreift? PETER HÄBERLE: Ich vermute wie Sie, dass nur eine intensivere politische Integration speziell in Europa hilft, den unseligen ökonomischen Gefahren der Globalisierung entgegen zu treten. Hier brauchen wir wohl zwei Ebenen der Diskussion. Zum einen: Wir brauchen große Europäer! Derzeit fehlt es im Europa der EU an einem A. Spinelli (mit dem Manifest von Ventotene), an einem A. de Gasperi, an einem K. Adenauer und sogar an einem C. de Gaulle, F. Mitterrand und H. Kohl. Die Europäische Integration ist in den früheren Jahrzehnten durch den unerhörten Einsatz und phantasievolle Visionen von Europapolitikern dieser Art vorangetrieben worden. Derzeit – ich will niemanden beleidigen – haben wir vor allem Technokraten. Denken Sie nur an den Vergleich zwischen dem heutigen EU-Kommissionspräsidenten, den wir derzeit haben, und dem großen J. Delors, der schon einmal Europa aus einer Krise geführt hat. Dies ist die personale Seite, eine Seite, die sowohl in der Wissenschaft, wie schon gesagt, ebenso wichtig ist wie in der Verfassungsgeschichte. Es sind doch konkrete Personen, die nachhaltig gestalten können. Sodann:

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Wir müssen uns auch fragen, ob die politische Integration noch auf eine neue Stufe gehoben werden kann. Ich weiß freilich nicht, ob die nationalen Völker derzeit schon bereit sind, noch mehr von ihrer restlichen Eigenständigkeit abzugeben. Wir haben ja die traurige Erfahrung gemacht, dass Frankreich und Irland den europäischen Verfassungsvertrag von 2004 abgelehnt haben. Aber ich setze heute auf die ideellen Integrationsfaktoren. Solche sind Flaggen, Hymnen und Feiertage. Der Lissabon-Vertrag hat diese europäischen Integrationselemente einfach abgeschafft, aber die europäische Verfassungswirklichkeit zeigt uns etwas anderes, Besseres: Nach wie vor wird die Beethoven-Hymne als Europalied gespielt, nach wie vor sehe ich überall in Spanien die Europaflagge und nach wie vor feiern wir den 9. Mai als Europatag. Also: Wir brauchen vermutlich viel Geduld, um die Völker auf ein Mehr an Europa einzustimmen; aber diese Geduld zur Gründung ergänzender Institutionen muss vor allem von großen Persönlichkeiten Europas insbesondere europäischen Juristen unterstützt werden. Ist ein föderales Europa möglich? FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Die Frage nach einer möglichen Evolution des Integrationsprozess war, bedingt durch das Lissabon Urteil sowie die Interpretationen der Ewigkeitsklauseln des Artikels 79 III GG bisher gegen ein bundesstaatliches System. Ist eine Vereinigung zu einem bundesstaatlichen Europa, unter Rücksichtnahme der verfassungsmäßigen Identität der Mitgliedsstaaten möglich? PETER HÄBERLE: Erlauben Sie eine geschichtliche Vorbemerkung: Ein Vater Europas wie K. Adenauer hat durchaus schon von den „Vereinigten Staaten Europas“ gesprochen (nach dem deutschen Lissabon-Urteil verletzte er damit das Grundgesetz) und er dachte an das Vorbild der USA. Im positiven EU-Verfassungsrecht von heute erkennen wir durchaus schon präföderale Elemente. Ich erinnere an die kleine Homogenitätsklausel, an die Kriterien von Kopenhagen für den Beitritt zur EU, ich erinnere an den EuGH und seine Rechtsprechung, vor allem auch an den Euro bzw. die Währungsunion. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht in einer mir unbegreiflichen, veralteten Weise ausgerechnet die „Ewigkeitsklausel“ unseres Grundgesetzes eingesetzt: gegen einen evolutiven Konstitutionalisierungsprozess Europas. Hierzu eine kurze Vorbemerkung verfassungsvergleichender und verfassungsgeschichtlicher Art: Wenn ich recht sehe, ist in Europa in der Verfassung von Norwegen aus dem Jahre 1814 zum ersten Mal eine Art „Ewigkeitsklausel“ entworfen worden. In der Weimarer Zeit haben „Weimarer Riesen“ nachgedacht, wie man die Weimarer Verfassung von 1919 schützen kann – von der Wissenschaft her – gegen die extremen Gruppen von rechts und von links. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die ich schon zu Beginn dieses Interviews zitiert habe, betraten Neuland, indem sie eine Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG schufen. Sie beinhaltet, dass Art. 1 (die Menschenwürdegarantie, die Menschenrechte) und Art. 20 (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung) und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder beim Bund, also ein Element des Föderalismus für alle Ewigkeit geschützt sind. Diese

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„Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes hat weltweit Schule gemacht: Wir finden Analogien in der Verfassung von Portugal (1976), und auch in Afrika haben einige neue Verfassungen mindestens das Republikprinzip unter die Ewigkeitsgarantie gestellt. Für den Positivisten ist die Ewigkeitsklausel kein Problem, denn nach seiner Auffassung kann man sie ohne weiteres mit verfassungsändernder Mehrheit abschaffen, doch sehen wir hier die Grenzen des wissenschaftlichen Positivismus. Nach der teleologischen und historischen Interpretation wollte sich die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gegen Feinde von Menschenwürde, Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus und Republikprinzip im Inneren richten. Nun, wie wir schon gestern in unserem gemeinsamen Seminar erarbeitet haben, kehrt das Bundesverfassungsgericht die Ewigkeitsklausel nach außen, es verwendet sie sozusagen extrovertiert. Dies ist in hohem Maße fragwürdig und muss heftig kritisiert werden werden. Hinzu kommt, dass auch die Ewigkeitsklausel interpretationsbedürftig ist. Die Identität einer Verfassung ist wie jeder verfassungsrechtliche Begriff eine in der Zeit offene Größe, darüber werden wir wahrscheinlich noch in den folgenden Fragen sprechen. Konkret: Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass in der Zukunft Europa von einem konföderalen zu einem föderalistischen System wird; speziell in Deutschland bedürfte es dabei eines Aktes der verfassunggebenden Gewalt gemäß dem neuen Art. 146 GG. Ich vermute, dass auch in anderen Ländern, die eine Ewigkeitsklausel haben, der Verfassunggeber kompetent ist. Verfassungen, die keine Ewigkeitsklausel haben, wie beispielsweise Spanien (Frankreich kennt sie nur für das Republikprinzip) könnten ohne weiteres in einem föderalen Europa ihren Platz finden. V. Die Zukunft des Verfassungsrechts Die Funktion des Verfassungsrechts im supranationalen Integrationsprozess und der Globalisierung FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Wir beginnen nun mit einem letzten Block zu Fragen der Zukunft des Verfassungsrechts. Die erste Frage, zu der Sie meine Meinung kennen, bezieht sich auf die Funktion des Verfassungsrechts in zukünftigen Prozesse der supranationalen Integration im Kontext der Globalisierung. Die Übertragung des staatlichen verfassungsmäßigen Rechts setzt eine Reduzierung der Möglichkeiten nationaler staatlicher Macht den jetzigen Regeln des supranationalen Völkerrechts voraus.Wie können wir die wesentlichen Funktionen des Konstitutionalismus auf dem Niveau wiederherstellen, welches die Kontrolle der politischen Macht und die Garantie des Rechts ermöglichen? PETER HÄBERLE: Ihre Fragen werden immer tiefer, meine Antworten werden für mich immer schwieriger, eigentlich würden Ihre Fragen als solche für die Wissenschaft schon genügen. Erlauben Sie einige Vorbemerkungen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass G. Zagrebelsky in einem schönen Sammelband vor etwa zwölf Jahren nach der Zukunft der Verfassung gefragt hat. Sie fragen heute nach der „Zukunft

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des Verfassungsrechts“. Dies ist ein kleiner Unterschied, der uns hilft. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der Verfassungsstaat unter anderem der Versuch ist, Macht zu kontrollieren, wo immer sie entsteht: sei es in dem im engeren Sinne staatlichen Bereich (staatliche Gewaltenteilung), sei es im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich (z. B. bei der Vielfalt der Medien), sei es im privaten Bereich (etwa bei der Kontrolle der Märkte, worauf Sie später noch eingehen werden) – meine „republikanische Bereichstrias“. Der Verfassungsstaat ist noch vieles andere mehr (z. B. ein Stück Kultur), aber die Macht muss effektiv kontrolliert werden, denn wo sich Macht akkumuliert, besteht immer die Gefahr, dass sie aus dem Ruder läuft, die Freiheit des Bürgers gefährdet und ihre Träger korrumpiert. Ehe ich konkret werde, muss ich selbstbescheiden und selbstkritisch daran erinnern, dass die Verfassungsrechtswissenschaft bei allen Möglichkeiten der Erfindung neuer Figuren und Paradigmen ihrerseits ihre Grenzen hat. Mit Hilfe der Verfassungsrechtswissenschaft kann man nicht alle Probleme der Nationen und der Welt lösen. Unter diesem Vorbehalt jetzt die erbetene konkrete Antwort: Sie verlangen zu Recht, dass angesichts des Machtverlustes der nationalen Einheiten die supranationalen Instanzen stärker kontrolliert werden müssen. Hier könnte man vorschlagen, dass in der EU der EUBürger die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde zum EuGH erhält. Er besitzt sie bislang nicht. Das hätte auch eine Stärkung der Unionsbürgerschaft zur Folge. Eine zweite, vielleicht neue Idee: Die Nichtregierungsorganisationen sollten die Möglichkeit haben, internationale Gerichte durch korporative Verfassungsbeschwerden anzurufen. Also: Amnesty International, Greenpeace, Transparency International sollten als supranationale Instanzen Möglichkeiten des Zugangs zu supranationalen Verfassungsgerichten erhalten. Die Kontrolle der privaten ökonomischen Mächte FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Ein anderer Bereich, in dem sich das Versagen des verfassungsmäßigen Rechts zeigt, ist die Wahrung der Rechte des Bürgertums sowie der Kontrolle großer Wirtschaftsmächte mit globalem Ausmaß. Wir haben akzeptiert, dass sich das Verfassungsrecht traditionell darauf beschränkte, die staatliche Macht zu kontrollieren, aber die Erfahrungen der Rechte der Bürger zeigen, dass manchen Verletzungen außerhalb staatlicher Macht passieren und sich manchmal dem verfassungsmäßigen Recht gar entziehen. Was können wir als Anhänger der verfassungsmäßigen Regierungsform unternehmen, um den Anspruch des Verfassungsrechts zur Verteidigung der Rechte der Bürger gegenüber den privaten Mächten zu erhöhen? PETER HÄBERLE: Der Freiburger Nobelpreisträger F. A. von Hayek hat den Markt als Entdeckungsverfahren geschildert. Meines Erachtens könnte man auch sagen, er ist ein Entwicklungsverfahren. J. Schumpeter hat an die schöpferische Kraft der Zerstörung durch erfolgreiche personale Unternehmer erinnert. Gewiss, der Markt und die Ökonomie haben ihre positiven Seiten. Aber im Augenblick befinden wir uns in einem welthistorischen Moment, in dem der Markt fast eine Übermacht dar-

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stellt: nicht nur national, regional, sondern auch weltweit. Wir müssen also nach Instrumenten suchen, wie wir den Markt in seine Schranken weisen. Beginnen wir zunächst, vorher vergessen, mit einem Blick auf den UN-Sicherheitsrat. Es ist bemerkenswert, dass es Versuche gibt, auf der völkerrechtlichen Ebene den deutschen Begriff „Rechtsstaat“ beschützend ins Spiel zu bringen, etwa gegenüber Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates. Einige Gerichte sind hier vorgeprescht, auch in der Wissenschaft gibt es einschlägige Stimmen. Jetzt zurück zu den privaten Mächten und zu den Möglichkeiten des Bürgers. In Deutschland gibt es in Art. 9 Abs. 3 GG und damit schon seit der Weimarer Verfassung die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte. Das heißt: Die Grundrechte wirken nicht nur gegen den Staat (klassisch abwehrrechtlich) sondern auch gegen Private. Freilich hat das deutsche Grundgesetz diese unmittelbare Drittwirkung wegen der Koalitionsfreiheit nur für die Gewerkschaften vorgesehen. Man müsste sich fragen, ob es eine – differenzierte – Möglichkeit zur Drittwirkung der Grundrechte gegen die von Ihnen befürchteten ökonomischen Mächte im Allgemeinen geben kann. Wichtig ist an dieser Stelle der Ausbau der Marktfreiheiten, und zwar in dem Sinne, dass Monopole aller Arten verboten sind (dazu gibt es ältere deutsche Landesverfassungen). Es war L. Erhard, der durch seine soziale Marktwirtschaft daran erinnert hat, dass Wettbewerbsfreiheit schlechthin bestehen muss, und dass sie ständig gefährdet ist durch Monopole. Gerade in Deutschland wurden kürzlich von der Monopolkommission mehrere Unternehmen, die rechtswidrige Preisabsprachen getroffen haben, mit hohen Geldbußen belegt. Wir müssen also all diese Elemente auf der Ebene des einfachen Rechts aufbauen. Die Methodik des Verfassungsrechts unserer Epoche FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Vom methodischen Standpunkt gefragt, was müsste sich innerhalb der Methodik des Verfassungsrechts ändern, um die Wirklichkeit besser verstehen zu können und Antworten auf die verfassungsmäßigen Notwendigkeiten der modernen Gesellschaft zu geben. Viele unserer Arbeitsarten und auch einige Begriffe, die wir benutzen, sind Relikte einer schon nicht mehr existierenden sozialen und politischen Wirklichkeit. Wir wiederholen immer noch Begriffe der Vergangenheit, die nicht wirksam sind und das zeigt unser mangelndes Verständnis über die Funktion, die dem Verfassungsrecht heute zukommt. PETER HÄBERLE: Mit Recht stellen Sie die Frage nach der Methodologie. Bedenken wir, dass 1840 der Klassiker F. C. v. Savigny die vier Auslegungsmethoden kanonisiert hat. Dabei konnte er auf Figuren des antiken römischen Rechts zurückgreifen, ich denke an Zitate von Celsus, in denen Vorläufer der teleologischen Auslegung nachweisbar sind. Ich habe 1989 vorgeschlagen, dass wir als neue, fünfte Methode die Verfassungsvergleichung – kulturwissenschaftlich verstanden – brauchen. Ich bin froh, dass als erstes Verfassungsgericht der Staatsgerichtshof ausgerechnet des kleinen Landes Liechtenstein diese fünfte Auslegungsmethode erklärtermaßen akzeptiert und rezipiert hat. Mittlerweile pflegen viele Verfassungsgerichte Verfassungsvergleichung, am wenigsten der US Supreme Court und das deutsche Bundes-

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verfassungsgericht. Darüber hinaus müssen wir das Instrumentarium der Verfassunggebung verfeinern und weiterentwickeln. Möglicherweise eröffnet sich der vorher angedeutete Weg: Für neue Verfassungsthemen sollten wir beim Prozess der Verfassunggebung und der Verfassungsinterpretation neue Topoikataloge finden und neue Verfahren der Einbeziehung von Bürgern und Gruppen. Im Bereich des Umweltschutzes haben wir etwa das wichtige Prinzip der Nachhaltigkeit geschaffen. Wir müssen uns auch fragen, ob es nicht weltweit zu einem gemein-mondialen bzw. gemein-globalen Verfassungsgespräch in Sachen Verfassungsstaat kommen kann und muss. Freilich dürfen wir unsere Möglichkeiten auch hier nicht überschätzen. Wir können uns nicht anmaßen, angesichts der neuen Realitäten sofort eine ganz neue Methodologie zu erfinden, zur alten Methodologie hat man in Europa Hunderte von Jahren gebraucht: seit dem römischen Recht, seit den Klassikern wie Celsus und Papinian, seit der Wiederentdeckung des Gesetzbuches von Justinian in Bologna und dann schließlich seit dem Höhepunkt des deutschen Romanisten F. C. v. Savigny. Schon andernorts rief ich: „Wir brauchen einen neuen J. Locke, wir brauchen eine neue Schule von Salamanca für das Völkerrecht, wir brauchen einen neuen F. C. v. Savigny und, um einen Kreis zu schließen, wir brauchen speziell für Lateinamerika und seine schöpferischen Entwicklungen als Beobachter einen neuen A. v. Humboldt!“ Das Verfassungsrecht vor der globalisierten Welt FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Es ist nicht nur sehr schwer, sondern auch eine unbrauchbare Anstrengung eine Vorhersage über die Evolutionslinien des Verfassungsrecht der Zukunft zu geben. Aber wenn man eine Frage über den Fortbestand der Funktionen der Geschichte entwerfen wolle: Wird es sich im verfassungsmäßigen Recht der Zukunft lohnen, Macht zu kontrollieren und die Rechte in einer globalisierten Welt zu garantieren? PETER HÄBERLE: Der Verfassungsstaat ist der Endpunkt einer jahrtausendelangen Entwicklung, – ich erinnere nur an die Gerechtigkeitslehre von Aristoteles, an Montesquieus Gewaltenteilung, an die klassische Lehre vom Gesellschaftsvertrag – er steht heute, wie Sie sagen, vor neuen Herausforderungen. Ich vermag den neuen Konstitutionalismus der Zukunft nicht zu skizzieren. Doch lässt sich sagen, dass wir von dem klassischen Konstitutionalismus lernen können. Er war der Versuch der Konstituierung und Begrenzung von Macht, der Verleihung von Macht auf Zeit, d. h. Demokratie. Die horizontale Gewaltenteilung, der Schutz der Menschenrechte und die Dokumentation von bestimmten Grundwerten, über die man sich einig ist, etwa in Sachen Föderalismus, auch in Bezug auf Erziehungsziele (jüngst etwa fortgeschrieben in deutschen Landesverfassungen um den Umweltschutz), sind einschlägige Themen. Zusatz: Die Verfassungspädagogik ist ein eigenes Thema, es gibt „pädagogische Verfassungsinterpretation“, etwa im Blick auf Erziehungsziele, die Texte in Hymnen, und auf Flaggen. – Ich kann nur hoffen, dass die Errungenschaft des Konstitutionalismus auch im nächsten Jahrhundert Werte, Instrumente

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und Verfahren entwickelt, um eine an der Menschenwürde orientierte Lebenswelt und eine von der Kultur getragene Freiheit zu garantieren. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen, ich erinnere nur noch einmal an die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen, die Menschenrechtspakte und an andere konstitutionelle Teilverfassungen auf Weltebene.

Die letzte Antwort ohne Frage FRANCISCO BALAGUER CALLEJÓN: Genauso wie bei der Zusammenkunft vor 13 Jahren haben Sie die letzte Antwort ohne meine Frage dazu gekannt. Ich denke, es scheint offensichtlich, dass meine Fragen entbehrlich sind. PETER HÄBERLE: Erlauben Sie bitte am Ende dieses Interviews, meinerseits einige Fragen aufzuwerfen. Denn bislang haben nur Sie gute Fragen gestellt, und ich mehr oder weniger gute Antworten versucht. Nunmehr stelle ich noch einige Fragen, ohne Sie um Antworten zu bitten. Ich möchte die Wissenschaftlergemeinschaft, die ich seit Jahrzehnten so intensiv leben darf, auch unter den Freunden in Rom, in Spanien oder in Lateinamerika, mit einigen Grundsatzfragen konfrontieren. a) Gibt es Fortschritte in Recht und Rechtswissenschaft? Diese Frage habe ich in meinem Augsburger Vortrag von 1979 erstmals gestellt. Ich darf kulturwissenschaftlich ansetzen. In der Kunst gibt es möglicherweise keine „Fortschritte“, wir können nicht behaupten, dass die Sinfonien von A. Bruckner besser sind als die Sinfonien von J. Brahms, L. v. Beethoven und W. A. Mozart – von J. S. Bach ganz zu schweigen. In der Kunst gibt es wohl den seltenen Fall, dass sich das dialektische Denken von Hegel bewahrheitet. So können einzelne Kunstperioden dialektische Antworten auf ältere darstellen. Das zeigt sich besonders an der deutschen Romantik, die die Klassik bewusst kritisiert hat und eine Anti-These zur Klassik sein wollte. Demgegenüber gilt J. Brahms als klassizistisch. Auch in der deutschen Romantik, in der Poesie können wir sehen, dass die Romantik eine Antwort auf F. Schiller und J. W. von Goethe war, etwa F. Hölderlin und J. v. Eichendorff. Demgegenüber kann man in den Naturwissenschaften ganz sicher von Fortschritten sprechen. Ich nenne nur die Entwicklung vom geozentrischen Weltbild (Ptolemäus) zum heliozentrischen Weltbild, das freilich heute angesichts der neu entdeckten Galaxien korrigiert werden muss. Ich nenne sodann die Entwicklungen in der Gentechnik, in der Technik überhaupt, z. B. die Landung auf dem Mond. – Kommen wir zur Jurisprudenz. Hier meine ich, dass auf wenigen Teilgebieten es durchaus Fortschritte gegeben hat, bei allen Gefahren von Rückschritten. Positiv nenne ich die Abschaffung der Folter, die Beseitigung der Sklaverei, den teilweise erfolgreichen Kampf gegen den Analphabetismus, vor allem in Südafrika; ich nenne die Entwicklung von Minderheitsschutzrechten, die Fortschreibung von Erziehungszielen zum Umweltschutz hin und vor allem den Grundsatz der Subsidiarität, der auf die katholische Soziallehre zurückgeht und sich jetzt in vielen nationalen europäischen Verfassungen findet, etwa in Portugal, Deutschland und auch in einigen Regionalstatu-

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ten Italiens und Spaniens. Sie stellen ohne Zweifel große Fortschritte dar. Es gibt jedoch auch enorme Kosten. Wir haben vorher von den exzessiven Ökonomisierungsvorgängen gesprochen, auch von Rechtsstaatsverlusten im überregionalen Bereich; wir haben noch nicht gesprochen über die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich, vor allem in Afrika, und auch die Unfähigkeit z. B. des deutschen Steuersystems, diese großen Unterschiede zwischen Arm und Reich zu relativieren. b) Ich habe in Italien und Spanien sowie in lateinamerikanischen Ländern gelernt, welche glückliche wissenschaftliche Literaturgattung das wissenschaftliche Interview ist. In Deutschland gab ich nur wenige Male in Tageszeitungen Interviews, sie bleiben oberflächlich. Demgegenüber ist das wissenschaftliche Interview für mich etwas Besonderes, darum bin ich so dankbar, auch für das heutige zweite Interview. Warum? Man kann freier argumentieren, auch spontaner, ungeschützt argumentieren. Man spricht, es ist der Redefluss und nicht der Schreibfluss. Man kann gewisse rhetorische Instrumente einsetzen, und ich fühle mich immer ein wenig erinnert an die Kunst der Improvisation, die die klassischen deutschen Komponisten, etwa W. A. Mozart, in seinen Klavierkonzerten dem Solisten eröffnet. c) Es ist mir ein inneres Bedürfnis, Ihnen für dieses Interview und überhaupt für den Freundeskreis in Granada zu danken. Die Freundschaften in Europa insbesondere in Spanien und Italien sind neben der deutschen Wiedervereinigung von 1989 / 90 und neben der europäischen Einigung für mich das größte persönliche Glück. Die Freundschaft hat einen hohen Stellenwert schon bei Aristoteles, und die Freundschaft in der Wissenschaft ist etwas ganz Besonderes. Sie überwindet nämlich die vielen Konkurrenzen und Konfrontationen, die es ja auch gibt. Die Freundschaft lebt von der Anerkennung und Einbeziehung des anderen, und ich wäre besonders glücklich, wenn an der einen oder anderen Stelle dieses Interviews die junge Generation lernen könnte, wie europäische Juristen versuchen, miteinander umzugehen.

VI. Interview von Jorge León mit Prof. Häberle (2014)* I. Recht und Politik JORGE LEÓN: 1792 sagte Johann Gottfried Herder: „Politisch Lied, ein böses, böses Lied“. Man kann auch an Goethes Wort im Faust: „Ein garstig Lied! Pfuy! Ein politisch Lied! / Ein leidig Lied“ erinnern. Sogar sagte einmal Albert Einstein: „Politik ist schwieriger als Physik“. Professor Häberle, Ihrer Meinung nach, wieso hat man öfters eine negative Idee der Politik? PETER HÄBERLE: Ich freue mich, dass Sie gleich eingangs mit Klassikertexten von Denkern und Dichtern beginnen, sogar von Naturwissenschaftlern. Solche Texte sind immer in der ganzen Breite aller Wissenschaften und Künste auch eine Herausforderung für uns Juristen: auf ihren Schultern stehen wir. In der Tat herrscht oft eine negative Idee von Politik vor. Man spricht heute gerne von „Politikverdrossenheit“. Speziell in Deutschland gibt es eine große Tradition des „Unpolitischen“, wohl besonders seit dem Scheitern der Paulskirchenrevolution (1849) bis in die Weimarer Republik. Das Negative steht im Vordergrund, wenn man an den Kampf der Politiker um Machterwerb und Machterhalt denkt. Darum geht es ja auch, wie wir seit Max Weber wissen. Negativ wirkt die Erkenntnis, dass die Politiker oft mit Intrigen und List bzw. Täuschungsmanövern arbeiten. Sobald man aber an die Ziele guter Politik denkt, wird das Bild heller. Man erkennt, dass im Verfassungsstaat sich die Politik auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl richtet, um „Grundrechtspolitik“ (ein Begriff von mir aus dem Jahre 1971) ringt und um Teilaspekte des Gemeinwohls, z. B. in Sachen innerer und äußerer Frieden, Minderheitenschutz, Umweltschutz, digitale Ordnung im Blick hat. JORGE LEÓN: Politik wird normalerweise entweder mit der Machtausübung oder mit der Wohlfahrt assoziiert. Erinnert sei an das Verständnis von Carl Schmitt das Politische als Freund-Feind-Verhältnis. Glauben Sie daran, dass ein großer Definitionsirrtum die Verabsolutierung einzelnes Teilelement der Politik bildet? PETER HÄBERLE: Die Zuspitzung des Begriffs des Politischen auf das FreundFeind-Verhältnis verdankt sich der brillanten Rhetorik von C. Schmitt. Vermutlich erklärt sie sich auch aus den Besonderheiten der späten Weimarer Republik. Wir sollten in der pluralistischen Demokratie lieber von „Gegnern“ sprechen, darum habe ich selbst den Begriff „Verfassungsfeind“ sogar im Blick auf Art. 18 und 21 GG stets abgelehnt. Die Konkurrenz, auch die Machtausübung ist sicher ein unver* Erschienen in spanischer Sprache in: Revista Peruana de Derecho Constitucional, No. 7 Nueva Época, 2014, S. 157 – 184. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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meidbarer Teilaspekt, aber es geht in der Politik auch um Konsensfindung und Interessenausgleich. Selbst die demokratische Opposition macht unverzichtbare Politik. Sie wird im parlamentarischen System und über die Grundrechte entsprechend eingebunden bzw. freigestellt und als Alternative respektiert. Schließlich hat Politik das Arbeiten am Zusammenhalt der Bürger zum Ziel. Man denke auch an die heute anstehende Aufgabe der Integration von Zuwanderern oder Ausländern sowie die Verhinderung von „Parallelgesellschaften“. JORGE LEÓN: In einem Interview (1962) definierte Ernst Bloch die Politik einerseits als „bewusste Geschichtsbildung“, andererseits als „Kunst des Möglichen“. Ähnlich wie Bloch haben Sie die Politik als „Kunst des Möglichen und des Notwendigen“ begriffen. Könnten Sie bitte ausführlich ihre Definition der Politik erklären? Was müssen wir unter das Wort „Kunst“ verstehen? PETER HÄBERLE: Das Möglichkeitsdenken verdanke ich dem großen österreichischen Dichter R. Musil. Speziell bei den Teilhaberechten im Leistungsstaat habe ich den „Möglichkeitsvorbehalt“ in meinem Regensburger Staatsrechtslehrerreferat eingebaut (1971), um den Spielraum für politisches Handeln und Gestalten bei der Konkretisierung der Leistungsgrundrechte auszudrücken. In Deutschland geht das Verständnis des Politischen als Kunst des Möglichen auf O. von Bismarck zurück. Ich fügte das Wort von der Kunst des Notwendigen und der Erkennung des Wirklichen hinzu (1978). Man darf von einer Trias sprechen. Schon Musil hat von „Möglichkeitsmensch“ und „Möglichkeitssinn“ gesprochen. – Wenn von „Kunst“ die Rede ist, so um zum Ausdruck zu bringen, dass es um schwierige rationale Abwägungen geht und dass eine besondere Kunst darin besteht, gut zu handeln. Es ist offenkundig eine verschiedene Begabung, ob ein Politiker gut spricht (wie B. Obama) oder gut handelt (wie R. Reagan). In Deutschland kommt hinzu, dass es offenbar einer eigenen Technik bedarf, geschickt mit den Medien umzugehen. Sie entfalten bei uns derzeit eine oft gnadenlose Macht und missbrauchen sie („Rudeljournalismus“), auch wenn ich keine Mittel kenne, wie man dem entgegenwirken kann. Medien, Ethik und Presserat genügen offenbar nicht. Angesichts der enormen ökonomischen Konkurrenz hilft es nicht, an die Selbstdisziplinierung der Medien zu glauben (Fall Wulff). Eine kühle Analyse des Wirklichen ist unabdingbar, wie man etwa an dem Teilbereich der Außenpolitik erkennt. Man müsste wohl wissenschaftlich stärker differenzieren: die Innenpolitik hat andere Aufgaben und Möglichkeiten als die Außenpolitik, die Rechtspolitik andere als die Sozialpolitik oder Wirtschaftspolitik (im Verfassungsstaat von heute ist die soziale Marktwirtschaft ein politisches Ideal). JORGE LEÓN: Allzu häufig haben Juristen ihr Selbstverständnis und ihre positive Selbsteinschätzung daraus bezogen, dass ihre Tätigkeit unpolitisch, also nur der Sache des Rechts verbunden sei. Wieso ist die Mehrheit der Juristen dieser Meinung? PETER HÄBERLE: Zunächst ist zu unterstreichen, dass Juristen Diener des Rechts sind: Diener im Dienste der Bürger. Dies wird oft aus Selbstbezogenheit vergessen. Es war vor allem ein Missverständnis des Positivismus, zu glauben, die Tätigkeit des Juristen sei „unpolitisch“. In die Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts und

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die Gestaltungsräume der Regierung und Verwaltung (Ermessensspielraum) fließen viele politische Wertungen ein. Vor allem die Erkenntnis von J. Esser („Vorverständnis und Methodenwahl“) lässt uns wissen, wie viele Wertungen nicht nur bei Abwägungen im Auslegungsvorgang aktuell werden, etwa im Übermaßverbot. Freilich bedarf es viel reflektierter und rationaler Tätigkeit des Juristen. Heute wird langfristig vielleicht sogar „universale Jurisprudenz“ gefordert sein – in dem Maße, wie wir um eine universale Verfassungslehre ringen und wie sich auch Internationale Verfassungsgerichte herausbilden, auch in Deutschland an Einfluss gewinnen. Der Richter muss sich vor dem Einzelfall verantworten, der „kleine Amtsrichter“ in Bayreuth ebenso wie der hohe Richter in Karlsruhe: „Im Namen des Volkes“ (invocatio populi). JORGE LEÓN: Oft denkt man auch, dass Recht und Politik Gegensätze sind. Gerhard Leibholz sagte einmal: Zwischen dem Wesen des Politischen und des Rechts bestehe ein innerer Widerspruch, der sich nicht auflösen lasse, denn die Politik sei immer Dynamisch-Irrationales, solange das Recht Statisch-Rationales sei. Was denken Sie über diese dualistische Theorie? Ist die Politik im Verfassungsstaat „irrational“? PETER HÄBERLE: Sie zitieren mit Recht den großen Staatsrechtslehrer und lange sehr einflussreichen Bundesverfassungsrichter G. Leibholz. Ich freue mich, dass Sie sich mit der Geschichte der deutschen Staatsrechtslehre so vertraut gemacht haben. Er hat in der Tat den „Widerspruch“ zwischen dem Dynamisch-Irrationalen des Politischen und dem Statisch-Rationalen des Rechts zum Thema gemacht. Die Politik hat im Verfassungsstaat gewiss auch Elemente des Emotionalen, aber auch das Recht ist davon nicht frei. Von einem „Dualismus“ möchte ich nicht sprechen. Der Begriff „Verfassungspolitik“ belehrt uns, dass etwa die so erfolgreichen Totalrevisionen der Kantonsverfassungen in der Schweiz als kluger „Werkstatt“ seit Ende der 60er Jahre viel Rationalität verlangen. Die erforderlichen rationalen Abwägungen, die etwa in ihrer Unterschiedlichkeit als alternative Textvorschläge erkennbar sind, zeigen uns all dies in besonders positiver Weise (als Beleg für das Alternativendenken). Sogar die Verfassungsgerichte leisten viel „Grundrechtspolitik“. So hat das schweizerische Bundesgericht in Lausanne neue sogenannte ungeschriebene Grundrechte wie die Wissenschaftsfreiheit erfunden, was dann die total revidierte Bundesverfassung von 1999 später auf Texte und Begriffe gebracht hat. Auch das deutsche BVerfG hat neue Grundrechte „erfunden“, nicht entdeckt oder gefunden: denn sie waren bisher nicht vorhanden. Man denke an das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, den Privatheitsschutz, in der Dogmatik an die Schutzpflichten und den „Parlamentsvorbehalt“ (1972) als Begriff des Verf. JORGE LEÓN: Hat das Dogma der Trennung von Recht und Politik eine engere Verbindung mit dem Dogma der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft? PETER HÄBERLE: In der deutschen Geistesgeschichte dürfte das Dogma von der dualistischen Trennung von Recht und Politik in der Tat mit der Trennung von Staat und Gesellschaft zusammenhängen. Ich bin jedoch anderer Meinung: Staat

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und Gesellschaft überschneiden sich teilweise. Im Verfassungsstaat werden Teilbereiche der Gesellschaft strukturiert und verfasst. Darum spreche ich seit 1978 von „verfasster Gesellschaft“, als Beispiel denke man an die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte (G. Dürig, einer meiner Mentoren). Ich spreche lieber von „Zivilgesellschaft“, statt von Gesellschaft. Damit ist der Bürger, sind die pluralistischen Gruppen von vorneherein einbezogen. Manche neueren Verfassungen verwenden bereits textlich den Begriff „Zivilgesellschaft“, sie sind insofern schon weiter als die wissenschaftliche Literatur – ein Beleg für mein Textstufenparadigma von 1989. JORGE LEÓN: Sie haben behauptet, dass Recht und Politik Teilaspekte, Teilelemente der res publica sind. Können Sie sich zu dieser Auffassung äußern? Es könnte sagen, dass Sie die These der Einheit von Recht und Politik vertreten. Jedenfalls, welche Beziehungen bestehen zwischen Recht und Politik? PETER HÄBERLE: Recht und Politik sind aus meiner Sicht ebenso wie Staat und Gesellschaft Teilelemente der res publica. Es gibt Spannungen und teilweise Überschneidungen. Mitunter wird das Bild gebraucht, Recht sei „gefrorene Politik“. Doch auch diese Metapher hilft nicht sehr viel weiter, genau so wenig wie die Rede von einem unterschiedlichen „Aggregatzustand“. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Es gibt eben Themen unserer Wissenschaft, die wir als Rechtswissenschaftler nur unzureichend behandeln können. So wie sich die Theologie bekanntlich mit der Frage nach Gott schwer tut, so gelangen wir nicht zu den letzten Wahrheiten über das Verhältnis von Recht und Politik oder zur „Gerechtigkeit“. Möglich sind uns nur Teileinsichten, erkennbar nur Teilwahrheiten. Darum lehne ich auch alle sogenannten „Großtheorien“, wie die Systemtheorie, ab. Sie erheben Ansprüche, die sie nicht einlösen können. JORGE LEÓN: Verfassungsrecht ist für Sie „politisches Recht“. Könnten Sie uns bitte die methodologischen und materiellen Konsequenzen diesen Blickwinkel erläutern? Insbesondere für die Verfassungsauslegung und für die Interpretationsmethoden. PETER HÄBERLE: Verfassungsrecht ist in der Tat nach einer bekannten Formel „politisches Recht“. Diese Einsicht verstärkt die Notwendigkeit, die Methoden der Verfassungsauslegung zu rationalisieren und zu disziplinieren, auch das Vorverständnis offenzulegen. Das Zusammenspiel der vier (bzw. mit der Rechtsvergleichung) fünf Auslegungsmethoden lässt sich nicht vorweg abstrakt voraussagen. Vermutlich orientiert sich der Richter bei einer Gesamtüberprüfung des Ergebnisses seiner Methodenwahl an der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl im Einzelfall, vielleicht fast intuitiv aufgrund seiner langen Erfahrung. Auch dürften Aspekte der Folgenverantwortung hinzukommen. JORGE LEÓN: Sie glauben an keine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit. Daher stellen Sie auch fest, dass die Rede vom unpolitischen Verfassungsrecht ein Selbstbetrug ist. Sogar sprechen Sie von einer „Politik durch Verfassungsauslegung der Verfassungsgerichtsbarkeit“. Erklären Sie uns bitte diese Aussagen.

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PETER HÄBERLE: Sehr bewusst spreche ich von „Politik durch Verfassungsauslegung der Verfassungsgerichtsbarkeit“. Ich nenne Beispiele: Das Wechselspiel von judicial activism und judicial restraint im US-Supreme-Court zeigt, dass durch Verfassungsauslegung seitens der Gerichtsbarkeit auch Politik (mit-)gestaltet wird. Man denke an die schließliche Judikatur des Supreme-Court gegenüber der Newdeal-Gesetzgebung Roosevelts. Ein Beispiel zum Europa von heute: Der richterliche Aktivismus des EuGH in Luxemburg liegt offen zu Tage, er wird von den Franzosen gelegentlich als „gouvernement des juges“ kritisiert. Als Beispiele nenne ich: die frühe Qualifizierung der europäischen Verträge als Verfassung bzw. autonome Rechtsordnung, den dynamischen Ausbau der Grundfreiheiten in vielen Jahrzehnten. Beispiele aus der Judikatur des BVerfG habe ich schon genannt. Eine Weichenstellung, die gar nicht überschätzt werden kann, war das schon klassische Lüth-Urteil (E 7, 198), auch das Recht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. JORGE LEÓN: Öfters sagt man, ein Verfassungsgericht muss „Recht und nur Recht“ sprechen. Aber das Recht lässt sich säuberlich von der Politik nicht trennen. In diesem Sinne müssten die Verfassungsrichter auch politische Menschen sein? PETER HÄBERLE: Da sich Recht und Politik nicht, wie der Positivismus meint, säuberlich trennen lassen, muss es Konsequenzen geben für die Verfassungsrichter. Manche deutsche Landesverfassungen verlangen „im öffentlichen Leben erfahrene Personen“. Ich selbst habe immer dafür votiert, dass, wie in Brandenburg der Verfassungsrichterwahl öffentliche Hearings vor dem Parlament oder einem Ausschuss vorausgehen. Bis heute werden die BVerfG-Richter, auch die deutschen EuGHKandidaten in den Dunkelkammern der parteipolitischen Macht ausgehandelt, auch wenn jüngst zuweilen die Kandidaten sich den politischen Fraktionen in Berlin stellen müssen. Als politik-ethisches Postulat könnte man verlangen, dass am besten um eine Mischung gerungen wird: neben Persönlichkeiten mit Richter- oder Anwaltserfahrung sollten auch ehemalige Politiker zum BVerfG-Richter berufen werden, ehemalige Parlamentsabgeordnete deshalb, weil sie wissen, wie Gesetze „gemacht“ werden; als Verfassungsrichter müssen sie ja oft über die Verfassungskonformität von parlamentarischen Gesetzen entscheiden. So ist es aus meiner Sicht ein Glücksfall, dass der ehemalige Regierungschef des Saarlandes P. Müller jetzt Mitglied des Zweiten Senats in Karlsruhe ist. Das BVerfG sollte aber auch kein „Professorengericht“ werden.

II. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsprozessrecht JORGE LEÓN: Jetzt habe ich einige Fragen über die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Auseinandersetzung über die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland war und ist höchst leidenschaftlich. Sie haben aber bemerkt, dass die Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit bislang nicht vorkommen. Welche sind diese wesentlichen Probleme und warum sind sie ein Dauerthema?

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PETER HÄBERLE: Die Diskussion über die „Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit“ ist aus meiner Sicht nicht sehr viel weiter gekommen, so leidenschaftlich die Kontroversen geführt werden (etwa in Sachen Richterstaat, „entgrenztes Gericht“). Als ein Grundproblem für die Verfassungsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes sehe ich derzeit insbesondere: – die Klärung des Verhältnisses zu anderen Verfassungsorganen, insbesondere Parlament und Regierung – die Präzisierung des Kooperationsverhältnisses zwischen Karlsruhe und dem EuGH, auch EGMR – die anhaltende Sensibilität für neu zu schaffende Grundrechte, sofern neue Gefahren für die Menschenwürde, z. B. aus den technischen Entwicklungen sichtbar werden – die Stärkung rechtsvergleichender Arbeit im Blick auf Entwicklungen in fremden nationalen Verfassungsstaaten, um produktiv „angeregt“ zu arbeiten – der Austausch mit Internationalen Verfassungsgerichten wie den UN-Tribunalen, dem IStGH, dem IGH, dem ISeeGH in Hamburg sowie dem EGMR in Straßburg und dem Interamerikanischen Gerichtshof in Costa Rica (Erarbeitung gemeinrechtlicher Standards) – die Wahrung der Distanz im Persönlichen und Politischen zwischen Verfassungsrichtern und der Bundesregierung bzw. dem Parlament in Berlin – die Auslotung der Grenzen der europäischen Integration, z. B. über die Aktualisierung des Subsidiaritätsprinzips und des Identitätsvorbehalts.

JORGE LEÓN: In Ihrem Beitrag anlässlich des 50. Jahres des Bundesverfassungsgerichts kann man die folgende Behauptung lesen: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist Teil der Verfassungskultur Deutschlands“. Wann kann man sagen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit Teil der Kultur eines Staates bildet? Handelt es sich nur um den Zeitfaktor oder allein um die Akzeptanz ihrer Entscheidungen? PETER HÄBERLE: Besonders in Deutschland ist die Verfassungsgerichtsbarkeit Teil der Verfassungskultur. Den Begriff „Verfassungskultur“ habe ich 1982 vorgeschlagen. Er hat heute weltweit Karriere gemacht („constitutional cultures“). Damit soll das stetige Wachstum von Kompetenz und Ansehen des BVerfG zum Ausdruck gebracht werden, seine Verankerung im deutschen Bürgerbewusstsein, was mein Begriff als „Bürgergericht“ anschaulich zu machen sucht. Es gibt in Deutschland sehr historische Gründe für diese erfreuliche Entwicklung. Auf dem Hintergrund der unseligen NS-Zeit wollte man gerade dem BVerfG viel Vertrauen entgegen bringen. Es arbeitet heute in intensiver Arbeitsteilung mit der Staatsrechtslehre als Wissenschaft zusammen, auch wenn es manchmal Spannungen gibt. Gerade dieser enge „Verbund“ dürfte ein besonderer Glücksfall in der deutschen Verfassungsgeschichte sein. Die Akzeptanz des BVerfG bei den Bürgern ist besonders hoch, es genießt höchstes Vertrauen (im August 2014, 79 %).

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JORGE LEÓN: Ausgehend vom Paradigma des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau über Kant bis John Rawls stellen Sie die These der Verfassungsgerichte als reale und fiktive Beteiligte am Gesellschaftsvertrag auf. Bedeutet diese These möglicherweise die Arbeit eines Verfassungsgerichts am Grundkonsens eines Volkes? PETER HÄBERLE: Ich habe das Paradigma des klassischen Gesellschaftsvertrags in der Tat auch auf die Verfassungsgerichte bezogen, mein Augsburger Vortrag aus dem Jahre 1979. Das BVerfG ist an der behutsamen Fortschreibung des Gesellschaftsvertrags beteiligt. Beteiligt ist es damit auch an der immer neuen Arbeit am Grundkonsens eines Volkes. Dies impliziert hohe Verantwortung, feine Sensibilität und das Bewusstsein, dass man dem Bürger dient. In Verfassungen geht es um das immer neue Sich-Vertragen und Sich-Ertragen der Bürger und pluralistischen Gruppe, um eine bekannte Wendung fortzuführen. Das BVerfG judiziert „im Namen des Volkes“ (invocatio populi). JORGE LEÓN: Sondervoten in Deutschland wurden durch die Novelle des BVerfGG vom 12. 12. 1970 eingeführt. Sie haben sich schon vor dieser Novelle für die Einführung dieser Institution ausgesprochen. Logischerweise gab es auch Einwendungen und Kritiken. Man glaubte zu gegebener Zeit, dass die Sondervoten eine Schwächung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besagen könnten. Nach fast 44 Jahren, wie bewerten Sie die Sondervoten? Entfalten die abweichenden Meinungen normative Kraft? PETER HÄBERLE: Beginnen wir mit meiner theoretischen Sicht der Sondervoten bzw. dem ersten von drei Schritten. Sie sind aus meiner Sicht ein Beleg für die These von der Verfassung als öffentlichem Prozess (1969). Sondervoten sind die Chance der Richter, „Alternativjudikatur“ zu schaffen. Behutsam praktiziert, sind sie keine Schwächung, sondern eine Stärkung des BVerfG. – Jetzt zweitens zur Praxis in Karlsruhe: Sondervoten haben sich in den zurückliegenden 44 Jahren bewährt. Dies beginnt schon im Zusammenhang mit dem Abhör-Urteil. Später gab es sowohl einzelne große Sondervoten, etwa von D. Grimm (Reiten im Walde) als auch von den beiden Partnern W. Rupp von Brünneck / H. Simon, jüngst Frau G. Lübbe-Wolff. Heute gibt es Beispiele dafür, dass Sondervoten „im Laufe der Zeit“ zum Mehrheitsvotum werden. Auch zitieren manche Sondervoten ihrerseits Sondervoten. Auf der Zeitschiene gedacht können abweichende Meinungen normative Kraft entfalten. – Zuletzt und drittens ein Wort zum Rechtsvergleich: In den USA gab es viele berühmte Sondervoten. Die spanische Verfassung hat in Art. 164 im Jahre 1978 das Sondervotum institutionalisiert. Andere Länder und Gerichte kennen sie ebenfalls, sogar im internationalen Rahmen. Ich erwähne den Supreme Court in Brasilia und das Verfassungsgericht in Lima oder die Verfassung Thailands. Am IGH in Den Haag gibt es ebenso Sondervoten wie am EGMR in Straßburg. – Kurz: Sondervoten gehören als Thema in meinen größeren Rahmen von „Zeit und Verfassung“ (1974). JORGE LEÓN: Eine Institution, die Sie bisher vertreten, bildet der amicus curiae. Warum ist diese Institution wichtig für die Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen der Verfassungstheorie des Pluralismus?

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PETER HÄBERLE: Für das Institut des vor allem in Lateinamerika praktizierten amicus curiae habe ich mich seit langem intensiv eingesetzt. Theoretisch ist er Ausdruck meines Konzepts von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975). Damals habe ich erste Überlegungen zum Verfassungsprozessrecht als pluralistischem Partizipationsrecht angestellt. Die Verfassungsinterpretation öffnet sich. Gehört werden auch Minderheiten der Minderheiten, Randgruppen, sonst nicht wahrgenommene Beteiligte. Man denke an die persönliche Not der Transsexuellen. Der amicus curiae macht die Verfassung des Pluralismus zu einer solchen. Vorreiter ist das Oberste Bundesgericht in Brasilia, z. B. seine öffentlichen Anhörungen, die sogar im Fernsehen übertragen werden. JORGE LEÓN: 1970 betreuten Sie eine Dissertation über die Verfahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts. Sie selbst haben diese These übergenommen. Was sind das Wesen, Grenzen und Möglichkeiten dieses verfassungsrechtlichen Prinzips? Ist die Verfahrensautonomie eine Konsequenz unumstrittener Unfähigkeit der klassischen Interpretationsmethoden? PETER HÄBERLE: Die von Ihnen erwähnte gute Dissertation wurde leider nicht von mir betreut. Sie wurde wohl an einer süddeutschen Juristenfakultät eingereicht. Die Verfahrensautonomie des BVerfG ist ein wichtiges Strukturelement seiner Funktion. Das BVerfG baut nachweisbar in vielen Entscheidungen Stück für Stück „aus eigener Hand“ das Verfassungsprozessrecht aus, auch wenn es sich mitunter (zu Recht) an andere Verfahrensordnungen anlehnen möchte. Mit den vier klassischen Interpretationsmethoden hätte es seine Verfahrensautonomie nicht so ausbauen können. Vor allem bedurfte es offener und versteckter Handhabung des „öffentlichen Interesses“ im Verfassungsprozessrecht („Gemeinwohljudikatur“). Dies wird freilich oft kritisiert. Sobald man Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht bzw. materiell versteht oder mit der teleologischen Auslegung materiell arbeitet und nach der Funktion des BVerfG fragt, rechtfertigt sich meine Theorie vom eigenständigen Verfassungsprozessrecht. Es dient wie das materielle Verfassungsrecht der Integration. JORGE LEÓN: Professor Häberle, das politische Element der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt sich offenbar in der Verfassungsauslegung. Wie erscheint das Politische in den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht? PETER HÄBERLE: Das Politische manifestiert sich auch in der Verfassungsauslegung als „law in public action“, im Gegensatz zum „law in the books“. Überdies zeigt es sich in den öffentlichen Verhandlungen vor dem BVerfG, ich habe selbst die Sitzung in Sachen betrieblichen Mitbestimmung (1978) erlebt und die Kraftlinien der Öffentlichkeit sowie die Dynamik der Prozesse spüren können. Auch ist an die repräsentative Auswahl und pluralistischen Gruppen wie bei öffentlichen Anhörungen sowie an die Befragung von sachkundigen Personen zu denken. Politisch wird die Verfassungsgerichtsbarkeit auch in der nicht seltenen Präsenz von hohen Repräsentanten der Bundesregierung, etwa jüngst des Bundesministers der Finanzen (W. Schäuble), vor allem aber durch die öffentliche Diskussion, in die alle

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Grundsatzentscheidungen des BVerfG geraten. Nicht zuletzt sei die öffentliche Nacharbeitung seitens der kritischen Wissenschaft erwähnt („Kommentierte Verfassungsrechtsprechung“, 1979). JORGE LEÓN: Für Sie besitzt ein gutes Verfassungsprozessrecht einen Edukationseffekt für das Gesetzgebungsverfahren. Was meinen Sie mit dieser Idee? PETER HÄBERLE: Gutes Verfassungsprozessrecht, wie es in Karlsruhe gehandhabt wird, kann einen Edukationseffekt für das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren bewirken. Ich denke dabei daran, dass der parlamentarische Gesetzgeber Enquete-Kommissionen einsetzt und sich umfassend in den Ausschüssen durch Sachverständige und Betroffene informieren lässt, bevor er sein Gesetz auf den Weg bringt und schließlich verabschiedet. Vor allem in Brasilia erinnert schon Vieles, was vor dem Obersten Bundesgericht geschieht, an ein Verfahren, das ein Muster sein könnte für den parlamentarischen Prozess. Freilich darf man auch nicht zuviel verlangen. Der Unterschied zwischen dem demokratischen Verfahren des Parlaments und dem Verfassungsprozessrecht bleibt. Vor allem ist der Zeitfaktor zu berücksichtigen. Acht hochqualifizierte BVerfG-Richter können nach ihren Kunstregeln gründlicher arbeiten als die Parlamentarier, was keine Kritik an Berlin sein will und sein darf. Der parlamentarische Prozess hat aber seine eigenen Strukturen. Da der politische Kompromiss für ihn typisch ist, kann man auch nicht, wie das BVerfG dies für Gesetze verlangt, mit dem Topos der „Folgerichtigkeit“ arbeiten. Richterliche Urteile müssen in sich folgerichtig sein. Vom politischen Prozess in Berlin darf man dies nicht gleichermaßen verlangen. JORGE LEÓN: In der Gegenwart befassen sich viele Dissertationen, Monografien usw. mit der Jurisprudenz der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. Ich habe den Eindruck, dass die großen dogmatischen Fragen des öffentlichen Rechts in den Hintergrund gedrängt worden sind. Sind wir vor einem rechtsprechenden Positivismus? Handelt es sich um eine Überschätzung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts? PETER HÄBERLE: In der Tat ist die Fülle der einschlägigen Schriften zum BVerfG kaum mehr überschaubar. Alle Literaturgattungen von Urteilsrezensionen über Aufsätze und Festschriftenbeiträge bis zu Monographien, Kommentaren, Lehrbüchern befassen sich mit „Karlsruhe“, in Teilen auch kritisch. Die Grundsatzfragen freilich werden im Augenblick nicht angemessen behandelt. Ein wichtiges Stichwort lieferte die Provokation von B. Schlink, der von einer „Selbstentthrohnung der deutschen Staatsrechtslehre“ im Verhältnis zum BVerfG sprach. Andere sprechen von „Rechtssprechungspositivismus“. Zu all dem ist eine differenzierte Stellungsnahme geboten. Einerseits werden die Entscheidungen des BVerfG zu sehr bis in jede einzelne Wortpassage hinein analysiert und fast als heilige Texte kommentiert. Dies wird oft übertrieben. Die Staatsrechtslehre muss selbstbewusst und autonom bleiben, sie darf nicht bloß „sekundär“ arbeiten und zum Postglossator des BVerfG werden. Ihr Selbststand gegenüber der Judikatur des BVerfG äußert sich zum Beispiel in der Entwicklung neuer dogmatischer Figuren wie der „Europarechtsfreundlich-

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keit“. Die deutsche Staatsrechtslehre sollte „Vorarbeit“ für die Entscheidungen des BVerfG leisten. Es muss zu einem Rechtsgespräch zwischen Wissenschaft und Praxis kommen. Bei aller Kritik: Der gemeinsame Verbund, die Verantwortungsgemeinschaft zwischen der deutschen Staatsrechtslehre und dem BVerfG ist in seiner Lebendigkeit und Intensität wohl europaweit einzigartig. Wir beobachten ein Geben und Nehmen. Das Niveau ist hoch, in manchem vorbildlich. Das Gericht gestaltet in seinen Zitiertechniken diese Zusammenarbeit freilich nicht immer transparent. JORGE LEÓN: Viele Verfassungsrichter waren und sind zugleich renommierte Rechtslehrer. Ich erinnere an den „Skandal Leibholz“ der 50er Jahre. Als Verfassungsrichter hatte er in Karlsruhe seine Doktrin des „massendemokratischen Parteienstaates“ geschaffen. Können die Verfassungsrichter ihre eigenen Ideen in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts widerspiegeln? PETER HÄBERLE: Viele Verfassungsrichter waren und sind, wie Sie sagen, zugleich renommierte Rechtslehrer. Dies gilt etwa für K. Hesse und D. Grimm. Von einem „Skandal Leibholz“ möchte ich nicht sprechen, zu bedeutend ist seine Persönlichkeit. Kritisieren mag man, dass er die Judikatur des BVerfG des Zweiten Senats zu Status und Funktion der politischen Parteien mit Selbstzitaten zu sehr betont hat. Mein akademischer Lehrer K. Hesse hat sich und seine Schüler niemals selbst zitiert. Freilich sollen sich die Verfassungsrichter als Professoren von ihren eigenen Ideen nicht verabschieden (müssen). Doch geht es um eine von mir so genannte „pragmatische Integration“ von Theorieelementen. Die Professorenrichter dürfen nicht ihre eigenen Theorien verabsolutieren. Eine beispiellose Erfolgsgeschichte ist etwa die Formel von der „praktischen Konkordanz“, ursprünglich kommt sie aus der Schweiz, K. Hesse hat sie in einzigartiger Weise in seinem Lehrbuch „Grundzüge“ strukturiert und aktualisiert. Heute hat die Formel sich von ihren Schöpfern gelöst, sie ein selbstverständlicher Aspekt der verfassungsgerichtlichen Arbeit geworden. III. Verfassungslehre JORGE LEÓN: Professor Häberle, Ihr letztes Buch „Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur“ betitelt sich als „Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre“. Sie haben mir gesagt, dass dieses Werk Ergebnis von 50 Jahren Ihrer Lebensforschung ist. Man könnte sagen, dass wir von dem Opus Magnum Peter Häberles sprechen? PETER HÄBERLE: Als Autor darf man von seinem eigenen Buch nicht als einem „Opus Magnum“ sprechen. Es handelt sich bei dem Werk von 2013 freilich um eine Art „Summe“ – so wie zuvor bei der „Europäischen Verfassungslehre“ (1. Aufl. 2001 / 02, 7. Aufl. 2011). Das neue Buch ringt um eine „Universalisierung der Verfassungslehre“ und müsste noch in einzelnen Teilen fortgeschrieben werden, etwa beim Verständnis des Völkerrechts als „Menschheitsrecht“. Eines ist jedoch sicher: Beide Bücher sind das Ergebnis meiner mehr als 50 Jahre langen wissen-

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schaftlichen Tätigkeit. Man darf von „Bausteinen“ sprechen, aus denen sie mosaikhaft nach und nach entstanden sind. Begonnen hat alles wissenschaftliche Glück mit der Dissertation von 1962 über den Wesensgehalt der Grundrechte (3. Aufl. 1983, zahlreiche Übersetzungen in fremde Sprachen, allein zweimal ins Spanische). JORGE LEÓN: Wenn Sie vom kooperativen Verfassungsstaat sprechen, was müssen wir unter diesem Begriff verstehen. Welche sind seine Grundzüge? PETER HÄBERLE: Das Leitbild vom „kooperativen Verfassungsstaat“ habe ich 1977 entworfen, erstmals auf der Basler Staatsrechtslehrer-Tagung und dann als Festschriftenbeitrag für H. Schelsky (1978). Andere Autoren haben später die Idee der Kooperation auf ihre Weise ausgeformt. Schon verfassungstextlich begegnen wir dem Postulat der Kooperation in vielen völkerrechtlichen und nationalverfassungsrechtlichen Kodifikationen. Der heutige Verfassungsstaat steht und lebt nicht mehr aus sich, er findet seine Identität vor allem aus Kooperationsvorgängen. (In Brasilien ist mein Beitrag als selbstständige Monographie erschienen). Historisch sind zwei Stichworte meinem eigenen wissenschaftlichen Versuch vorausgegangen: die offene Staatlichkeit (K. Vogel) und die Einsicht in die überstaatliche Bedingtheit des Staates (W. von Simson). Ein neues Feld von Kooperation entwickelt sich derzeit z. B. zwischen dem BVerfG und dem EuGH, bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen. Der „europäische Jurist“ ist gefragt. JORGE LEÓN: Entsteht die universale Verfassungslehre oder universaler Konstitutionalismus aus einem Ensemble von Verfassungsrecht und Völkerrechts? PETER HÄBERLE: Meine These lautet: Die universale Verfassungslehre bzw. der universale Konstitutionalismus lebt aus einem Ensemble, aus einer Pluralität von Teilverfassungen der nationalen Verfassungsstaaten und solchen des Völkerrechts. Die nationalen Verfassungen decken nur noch Teile des verfassten Gemeinwesens ab. Komplementär wirken Teilverfassungen des Völkerrechts; gesprochen werden darf von Pluralität. Erlauben Sie einige Beispiele: Wirkmächtige Teilverfassungen des Völkerrechts sind die UN-Charta, die UN-Menschenrechtspakte, die Genfer, Haager und Wiener Konventionen sowie das Abkommen zum Schutz kultureller Vielfalt, aber auch Statute des IGH. Die UN-Tribunale gehören ebenso hierher wie der Internationale Strafgerichtshof, der IGH und der internationale Seegerichtshof in Hamburg. In regionaler Begrenzung sind die beiden europäischen Verfassungsgerichte, d. h. der EuGH in Luxemburg und der EGMR in Strassburg zu nennen. Von „Teilverfassungen“ spreche ich deshalb, weil in all diesen Texten hohe Menschheitsideale, Grundwerte wie Frieden und Menschenrechte auf Dauer etabliert werden und im Sinne U. Scheuners „Norm und Aufgabe“ sind, auch „Anregung und Schranke“ im Sinne von R. Smend. Für die universale Jurisprudenz eröffnen sich riesige Aufgabengebiete, die hier nur angedeutet seien. Das Prozessrecht der Internationalen Verfassungsgerichte bedarf der Erforschung, etwaiger gemeinrechtlicher Prinzipien, z. B. in Sachen rechtliches Gehör, rechtsstaatliche Elemente, Öffentlichkeit, Wahrheitsfindung. Schließlich muss der Verfassungsstaat um gute „Völkerrechtspolitik“ ringen, ein neuer Begriffsvorschlag von mir.

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JORGE LEÓN: Professor Häberle, Sie kritisieren nochmals in Ihrem genannten Buch die Metapher des viel zitierten „multilevel-constitutionalism“. Warum lehnen Sie diesen beliebten Fremdbegriff ab? PETER HÄBERLE: Erstmals in der Aussprache auf einer Staatsrechtslehrertagung (in Rostock) und danach immer wieder literarisch habe ich den vielzitierten Begriff „multilevel-constitutionalism“ heftig kritisiert. Dies aus folgendem Grund: Da er mit dem Begriff „Ebene“ arbeitet, assoziiert er Hierarchievorstellungen, die gänzlich irreführen. Bei den konstitutionellen Texten des Völkerrechts und den nationalen Verfassungstexten geht es ja nicht um eine hierarchische Über- oder Unterordnung, sondern um Verhältnisse der Komplementarität, der Ergänzung und mitunter auch der Konkurrenz. Selbst im Bundesstaat gibt es zwischen der Bundesverfassung und den Länderverfassungen kein hierarchisches „Über“ oder „Unter“. Überdies sollten wir unsere Leitbilder nicht mit Anglizismen ausdrücken, sondern in unserer eigenen Sprache. So wehre ich mich auch gegen die ständige Verwendung des Begriffs „good governance“. Er lässt sich doch leicht übersetzen mit den Worten „gute Regierung“. JORGE LEÓN: Sie ziehen die traditionellen Staatselemente in Zweifel (Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt). Ausgehend von einem frühzeitigen Gesichtspunkt von Dürig stellen Sie jetzt die Kultur als viertes Staatselement vor. Erläutern Sie uns bitte Ihre These. PETER HÄBERLE: Die schon klassische herkömmliche Lehre von den drei Staatselementen geht auf den großen Meister G. Jellinek (1900) zurück. Aber selbst solche Klassikertexte müssen sich immer wieder der Überprüfung stellen, das gilt sogar für die ganz Großen wie Montesquieu und Rousseau, die wir immer wieder neu in kritische Gespräche mit einbeziehen müssen. G. Dürig hat in seinem Tübinger Staatsrechtslehrerreferat in der Tat die Lehre von der Kultur als „viertem Staatselement“ entwickelt. Leider hatte er dies später nicht weiter ausgebaut. Für mich ist gerade heute die Kultur das „vierte“ Staatselement, wenn nicht sogar das erste. Alle drei Elemente: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt sind kulturell geprägt. Man denke auch an die Kulturgeographie und die kulturelle Identität der Staatsvölker. Wie bedeutsam die Kultur als Element für ein politisches Gemeinwesen ist, lässt sich anhand meiner „Tetralogie“ zeigen: Feiertage, Nationalhymnen, Nationalflaggen und Ausprägungen der Erinnerungskultur sind schon ausweislich der positiven Verfassungstexte primäre Elemente. Hinzu kommen Sprachenartikel und Hauptstadtnormen. Speziell in Deutschland hat der Dichter F. Schiller (1802) einen Klassikertext geschrieben: „Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupte seiner Fürsten. Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur“. JORGE LEÓN: Sie beharren auf der Erkennung der Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode. Kann man bereits von einer endgültigen Kanonisierung der vergleichenden Methode sprechen? Andererseits ist alle Rechtsvergleichung stets Kulturvergleichung?

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PETER HÄBERLE: Die Lehre von der Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode habe ich 1989 gewagt und seitdem ständig ausgebaut. Angeknüpft ist an die Kanonisierung der vier Auslegungsmethoden durch F. C. von Savigny (1840). Ich wollte einen suggestiven Vorschlag machen, und die Metapher von der fünften Auslegungsmethode prägt sich wohl auch gut ein. Erlauben Sie zwei Ergänzungen. Vermutlich ist die teleologische Auslegung die primäre. Über sie könnte auch die Rechtsvergleichung ins Bild kommen. Im Übrigen fühle ich mich durch den Textstufenvergleich ermutigt. In einigen Ländern im südlichen Afrika ist textual auch davon die Rede, dass der Richter etwa bei den Grundrechten einen Blick auf ausländische Rechtsordnungen und Urteile werfen soll. Sodann ist die Erhellung der Kontexte bei der Auslegung von Texten unverzichtbar. Das Stichwort lautet: Auslegen durch Hinzudenken. Auch gelingt die Einbeziehung eines schöpferischen Moments dadurch, dass im Sinne meines Textstufenparadigmas gearbeitet wird. Da alle Rechtstexte in kulturelle Kontexte eingebettet sind, man denke auch an die Fruchtbarkeit der rechtsvergleichenden Methode im besonders kulturgeprägten Strafrecht, geht es nicht ohne Kulturvergleichung. JORGE LEÓN: Im Rahmen des universalen Konstitutionalismus ist es notwendig, traditionelle juristische Begriffe zu korrigieren oder zumindest zu kritisieren. Einer dieses Begriffes ist die „Rechtsquelle“. Wieso muss dieser Begriff überprüft werden? PETER HÄBERLE: Die nationale, gemeineuropäische und universale Jurisprudenz muss immer wieder bereit sein, traditionelle juristische Begriffe zu korrigieren oder in Frage zu stellen und neue vorzuschlagen. Seit langem bekämpfe ich den Begriff „Rechtsquelle“. Denn er unterstellt, dass das durch Interpretationsvorgänge erschlossene Recht schon „fertig“ vorhanden ist. Dies ist angesichts der hermeneutischen Aufgabe gerade nicht der Fall. Bei dieser Erkenntnis hat mir nicht zuletzt die pluralistische Rechtsquellenlehre von J. Esser geholfen. Im Übrigen: es gibt im Verfassungsstaat keinen „numerus clausus“ der Rechtsquellen, man denke an ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze. JORGE LEÓN: Eine Verfassung ist Grundordnung nicht nur für die gegenwärtige Generation, sondern auch für die künftige. In diesem Sinne bezeichnen Sie die Verfassung als „Generationenvertrag“ oder als andere Form des Gesellschaftsvertrages. In welchem Sinne haben wir einen Kompromiss mit den Generationen der Zukunft? PETER HÄBERLE: Verfassung ist rechtliche Grundordnung für Staat und Zivilgesellschaft und dies nicht nur für die gegenwärtige Generation. Auch die künftigen Generationen sind in der Verfassung mit gedacht. Im Horizont der Zeit ist sie ein Generationenvertrag bzw. die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrags. Auch hier belehrt uns wieder das Textstufenparadigma. Manche neuen Verfassungen beziehen ausdrücklich die künftigen Generationen mit ein, etwa aus Anlass des Umweltschutzes. Mitunter ist die Verantwortungsklausel schon textlich auf die künftigen Generationen ausgerichtet. Auch das Volk ist im Horizont der Zeit in der Generatio-

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

nenperspektive zu sehen. Der vielzitierte demographische Faktor, der sich in den alten Verfassungsstaaten in Europa verändert, macht es erforderlich, dass schon heute z. B. an die Infrastruktur für die künftigen Generationen gedacht wird. So gibt es in der neuen Verfassung von Tunesien (2014) eine spezifische „Jugendgarantie“, viel differenzierter und komplexer als der bisher bekannte Jugendschutz. Wir dürfen nicht auf Kosten der Generationen der Zukunft leben. Diese Einsicht spricht für eine nur begrenzte Inanspruchnahme der Ressourcen im Heute. Wenn manche Verfassungen formulieren: „Im Namen Gottes bzw. des Volkes und der Menschen“, so ist immer die Zukunft mitzudenken. Das Stichwort von „Zeit und Verfassung“ (1974) wird auch hier einschlägig. JORGE LEÓN: Professor Häberle, man findet in der Doktrin zwei wichtige Theorien vom Pluralismus her: Der Pluralismus von Hugo Preuß und von Ernst Fraenkel. Was sind die Unterscheidung zwischen die genannten Thesen und Ihre Verfassungstheorie des Pluralismus? PETER HÄBERLE: Meine „Verfassung des Pluralismus“ (1980) verdankt sich auch der Pluralismustheorie des Politologen Ernst Fraenkel. Bekanntlich entwickelte er eine pluralistische Gemeinwohltheorie: Das Gemeinwohl ergibt sich a posteriori aus dem Kräfteparallelogramm der pluralistischen Gruppen. An diese Einsicht konnte ich bei meiner prozessualen Gemeinwohltheorie anknüpfen (salus publica e processu). Der Vater der Weimarer Verfassung bzw. seine Pluralismustheorie, nämlich Hugo Preuß, war mir damals noch nicht bekannt. Sie wurde erst in den letzten zehn Jahren wieder ins Bewusstsein der Wissenschaft gerückt. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie selbst Klassikertexte Phasen der Renaissance ausgesetzt sind bzw. solchen des Vergessenwerdens. JORGE LEÓN: Sie haben stets alle Formen des Fundamentalismus abgelehnt. Öfters erscheint das Religiöse in Verbindung mit dem politischen Fundamentalismus und mit dem Ökomischen. Gewiss, das ist ein komplexes Problem. Aber, wie verhält sich der universale Konstitutionalismus zu diesem Problem? PETER HÄBERLE: Sehr früh wendete ich mich gegen alle Formen des Fundamentalismus, nicht zuletzt in der Festschrift für J. Esser (1995). Der religiöse und politische Fundamentalismus, für den es leider viele Beispiele auch in der alteuropäischen Geschichte Europas gab, ist das genaue Gegenteil für alles, was mit dem „universalen“ Konstitutionalismus gemeint ist. Im ökonomischen Bereich lehrte der Marxismus seinen Fundamentalismus. Heute erkennen wir, dass nur die soziale Marktwirtschaft das bessere Modell ist, sofern sie nicht auf Kosten der künftigen Generation und der Armut in der Welt praktiziert wird. Da die universale Verfassungslehre kulturwissenschaftlich angelegt ist, weiß sie auch um die kulturelle Pluralität der vielen einzelnen Verfassungsstaaten, und doch gibt es Prinzipien, die allen gemeinsam sind, man denke an das Rechtsstaatsprinzip und die Gewaltenteilung, vor allem die Menschenwürde und die aus ihr erwachsenden Freiheits- und Gleichheitsgarantien, die die pluralistische Demokratie zur organisatorischen Konsequenz haben.

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JORGE LEÓN: Der arabische Frühling 2011 / 12 war für alle unerwartet, aber er war eine gute Chance und zugleich eine große Herausforderung für den kooperativen Verfassungsstaat. Diesbezüglich, was sind Ihre Überlegungen? PETER HÄBERLE: Der arabische Frühling von 2011 war für mich fast ein „annus mirabilis“ – wie das Jahr 1989. Jäh sind jedoch manche arabische Länder in einen Herbst oder Winter geraten. Man denke an die Bürgerkriege in Syrien und Libyen und die neue Militärdiktatur in Ägypten. Vielleicht haben wir unterschätzt, wie stark die kulturellen und sozialen Bedingungen traditionell ausgerichtet sind (Stichwort: Stammesgesellschaften) und wie rasch der Islam in den Fundamentalismus umschlagen kann. Aber es gibt Hoffnung: Ich studiere soeben die neue Verfassung von Tunesien (2014). Sie ist textlich hervorragend. Auch wenn ihre Texte auf dem Entwicklungsstand gemeinsamer Prinzipien des Kooperativen Verfassungsstaat von heute sind, darf allerdings nicht vergessen werden, dass es wohl Jahrzehnte bedarf bis eine dem Text kongeniale Verfassungswirklichkeit in Tunesien heranreift. Hoffnung besteht auch im Blick auf das, was ich seit drei Jahren mit dem Wort: „mare nostrum constitutionale“ umschreibe: Das europäische Mittelmeer könnte ein Medium für Produktions- und Rezeptionsprozesse verfassungsstaatlicher Elemente in Bezug auf die Trias von Verfassungstexten, Judikaten und wissenschaftlichen Theorieentwürfen sein. Ein Artikel zum Wesensgehaltsschutz der Grundrechte in Tunesien verarbeitet auf höchstem Niveau das, was gemeineuropäisch einschließlich der Schweiz in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich und prätorisch herangewachsen ist.

IV. Mentoren JORGE LEÓN: Professor Häberle, einmal wurde die Integrationstheorie von Smend als „antidemokratisch“ beurteilt. Zumal von der persönlichen Integration her. Heute wird Smends Theorie wieder kritisiert (van Ooyen, 2014). Nicht nur hinsichtlich der persönlichen Integration, sondern auch als Ganzes. Geht es um einen Interpretationsfehler der Integrationstheorie? PETER HÄBERLE: Ich freue mich, dass Sie bei Ihren tiefgründigen Fragen einen eigenen Abschnitt nach meinen „Mentoren“ formulieren. Ich habe derer viele und zum Glück sehr bedeutsame. Man verdankt ihnen als Riesen sehr viel. Auch hier geht es um einen (wissenschaftlichen) Generationenvertrag. Dies vorweg. – Zu R. Smend. Er ist ja mein „wissenschaftlicher Großvater“, wenn ich dies so sagen darf. Ohne seine Lehre von den Symbolen und sachlichen Integrationsthemen hätte ich wohl kaum meine Theorie zu den Feiertagen, den Nationalhymnen, den Nationalflaggen im weltweiten Vergleich erarbeiten können. Gewiss, im Nachhinein kann man an Smends Theorie manches kritisieren. Bekanntlich hat er im Jahre 1962 sich selbst ein Stück weit korrigiert. Der Aspekt der persönlichen Integration könnte bei ihm angesichts der Zerfallserscheinungen der Weimarer Republik zu sehr betont worden sein, auch wenn das personale Element im Verfassungsstaat wichtig bleibt, man denke an die Integrationsleistungen, die in Großbritannien die Königin nach

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

wie vor erfüllt. Auch das BVerfG schafft als Gesamtkörper und in einzelnen seiner Richter ein Stück personale Integration. Gleiches gilt für den deutschen Bundespräsidenten in Berlin. JORGE LEÓN: Im Vorwort zur ersten Auflage seiner Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland dankte Professor Konrad Hesse Ihnen für Ihre Anregungen und Hinweise. Aber auch in diesem Buch bestätigt er ausdrücklich Ihre These über die Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte, ferner Ihre These über die Rechtsvergleichung als fünfte Interpretationsmethode (Grundzüge, 20. Aufl., Rn. 71, S. 27 Anm. 29). Welche Bedeutung hat für Sie diese Bestätigungen? PETER HÄBERLE: Mit Freude habe ich seinerzeit und heute wahrgenommen, dass sich mein akademischer Lehrer K. Hesse schon in seiner ersten Auflage bei mir bedankt. Auch bestätigt er meine These vom Wesensgehaltsschutz der Grundrechte, von der Ausgestaltungsbedürftigkeit aller Grundrechte und mein Ringen um den Rechtsvergleich. Solche Hinweise erfüllen mich mit großer Dankbarkeit. JORGE LEÓN: Sie haben hervorgehoben, dass Ihre Theorie der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft auf den Untersuchungen von Heller beruht. Was waren die Beiträge von Heller und worüber vertieften Sie? PETER HÄBERLE: Meine Theorie von der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft verdankt sich in vielem der Staatslehre von H. Heller (1934). Dort ist ausdrücklich von der Staatslehre als Kulturwissenschaft die Rede. Er stelle jedoch noch nicht die Verfassung ins Zentrum seiner Überlegungen. Vielmehr konzentrierte er sich auf den Staat. Aus unserer Sicht gibt es jedoch nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert – die bekannte Einsicht von R. Smend und A. Arndt. Für Heller war der Rechtsvergleich noch nicht zentral. Er hatte sich ganz auf die interdisziplinären Aspekte konzentriert. Dies war schon Arbeit genug und wegweisend. JORGE LEÓN: Man hat gesagt, zwischen Häberles Theorien und Vorstellungen besteht ein Widerspruch zu Popper. Denn Poppers offene Gesellschaft versuche keinen Verfassungsstaat zu schaffen, sondern eine totalitäre Demokratie. Existiert in Wahrheit dieses Paradox? PETER HÄBERLE: Ich verstehe nicht recht, wie man meine Theorie in einen Gegensatz zu Popper bringen kann. Seine offene Gesellschaft ist doch die Grundlage für den Verfassungsstaat. Er wandte sich ausdrücklich gegen die totalitären Feinde, wie Hegel und Platon. Freilich nutze ich den Begriff „Feind“, wie schon dargelegt, nicht. JORGE LEÓN: Ihre Theorie des Möglichkeitsdenkens gründet sich auf der Philosophie von Ernst Bloch. Möglichkeitsdenken besagt Alternativen. Warum ziehen Sie das Wort „Alternativendenken“ nicht vor? Wie bringt in Zusammenhang das Möglichkeitsdenken mit der Wirklichkeit und mit den Notwendigkeiten? PETER HÄBERLE: Meine Theorie des Möglichkeitsdenken inspirierte sich durch den österreichischen Schriftsteller R. Musil. Auf E. Bloch habe ich nicht direkt Bezug genommen. In meinem Aufsatz aus dem Jahr 1977 habe ich freilich das Wort

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„Alternativendenken“ durchaus benutzt. Gerne spreche ich von einer Trias des Möglichkeitsdenkens mit dem Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken. Das Zusammenspiel dieser drei Denkweisen zu ergründen, wäre ein eigenes Thema. Übrigens ergibt die verfassungsvergleichende Umschau, dass in vielen konstitutionellen Texten Mosaiksteine für alle drei Denkweisen erkennbar sind. Ein konkretes Beispiel zum Alternativendenken ist die Einrichtung der parlamentarischen Opposition als Alternative. Den Blick auf die Wirklichkeit verdanken wir auch dem wirklichkeitstheoretischen Ansatz von H. Heller. Im Begriff der „Notwendigkeiten“ schwingt der Gedanke des heute fast weltweit diskutierten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Gemeinwohls mit. JORGE LEÓN: Das Verantwortungsprinzip spielt eine bedeutsame Rolle in Ihrer Verfassungstheorie. Inwiefern ist der Gedanke von Hans Jonas und sein Prinzip Verantwortung für Ihren Begriff der Verfassung als Generationsvertrag wichtig? PETER HÄBERLE: Das Prinzip Verantwortung verdanken wir wissenschaftlich H. Jonas. Mittlerweile finden sich weltweit viele Verfassungen, die z. B. im Umweltschutz Verantwortung einfordern. Sehr früh hat mein akademischer Lehrer K. Hesse speziell für das Prinzip Öffentlichkeit im Status der politischen Parteien „Verantwortung“ zum Thema gemacht. Derselbe Gedanke findet sich in der von mir schon genannten invocatio populi wieder, klassisch in der invocatio dei. Die Verfassung als Generationenvertrag ist in das ethische Prinzip Verantwortung eingebettet. Man darf fragen, ob wir den Gesellschaftsvertragsgedanken nicht heute auf die Welt ausdehnen: um den Naturzustand im Internet einzugrenzen, etwa im Sinne der Stichworte zur digitalen Grundrechtecharta oder durch einen Weltgesellschaftsvertrag in Sachen Internet. Einen solchen habe ich schon vor Jahrzehnten im Blick auf den Umweltschutz gefordert. JORGE LEÓN: Sie haben schon von Popper und Bloch gesprochen. Ideologisch ist Popper liberal eingestellt, während Bloch ein Marxist ist. Ungeachtet dieses offenbaren Unterschieds haben Sie vom Denken beider profitiert. Wie ist dies möglich? PETER HÄBERLE: Ich habe keinerlei Schwierigkeiten, mich einerseits auf Popper als liberalen Denker zu beziehen, andererseits auf E. Bloch. Dies umso weniger, als dieser wie der frühe Marx durchaus humanistische Ansätze lehrte. Von den Klassikern können wir immer nur Teilwahrheiten gewinnen. Auf diesem Weg begegnen wir dann auch dem ewigen Gespräch zwischen und über Montesquieu und Rousseau. JORGE LEÓN: Professor Häberle, es liegt auf der Hand, dass Sie durch andere Professoren beeinflusst worden sind. Ich möchte mit Josef Esser beginnen. Welche Rolle spielt Esser in der Theorie der Verfassung des Pluralismus? PETER HÄBERLE: Dem großen J. Esser verdanke ich viel: seine pluralistische Rechtsquellenlehre, die Formel von law in action (ergänzend: law in public action) und vor allem seine Kunst der Rechtsvergleichung im Privatrecht. Auf seinem theo-

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

retischen Boden konnte ich eine Theorie der Verfassung des Pluralismus unternehmen. JORGE LEÓN: Jetzt möchte ich Sie über Ulrich Scheuner befragen und seine Idee der Verfassung als Norm und Aufgabe. Wieweit hat dieser Begriff der Verfassung von der „Verfassung des Pluralismus“ profitiert? PETER HÄBERLE: Gerne antworte ich auf die Frage nach U. Scheuner. In meinen jüngeren Jahren war er in der deutschen Staatsrechtslehre einer der führenden Gestalten. Leider ist er in der jungen Generation von heute nicht mehr so präsent. Umso wichtiger ist mir seine Wortprägung von der Verfassung als „Norm und Aufgabe“. Dieses Verständnis der Verfassung ist für eine pluralistische Verfassungstheorie wichtig, sie lässt sich auch auf die Teilverfassungen des Völkerrechts übertragen. An der Erfüllung der Aufgabe sind viele beteiligt: z. B. die Wissenschaft, die nationale, die europäische und internationale Öffentlichkeit, auch die Staaten und die NGOs, im Grunde alle Mitglieder der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. JORGE LEÓN: Sie hatten eine besondere akademische Beziehung mit Werner von Simson. Sogar teilten sie die Leidenschaft für Musik. Abgesehen davon erachteten sowohl Professor Hesse als auch Sie selbst die Beiträge Simsons zur Verfassungslehre und zum Europarecht für bemerkenswert, insbesondere seine Monografie „Der Staat als Teil und als Ganzes“. Was bedeutet für Sie die Person und das Werk von Simsons? PETER HÄBERLE: Auch W. v. Simson gehört zu meinen Mentoren. Von ihm lernte ich seit 1966 Völkerrecht und Europarecht. Er war musikalisch sehr aktiv und umfassend gebildet. Immer wieder beziehe ich mich auf seine Idee von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“. Im persönlichen Bereich praktizierte er in einzigartiger Weise Toleranz gegenüber anderen Menschen und Ansichten. Das Buch über den Staat als Teil und als Ganzes hat er mir sogar gewidmet. Seine Auseinandersetzung mit C. Schmitt (im AöR) wird leider zu wenig beachtet. Im persönlichen Umgang war er durch seine Emigrationszeit in England geprägt, auch darin wurde er zum Vorbild für viele. Das Europarecht verstand er von der Praxis her, er war ja zunächst Anwalt am EuGH in Luxemburg. JORGE LEÓN: Sie waren von Ende 1961 bis Herbst 1966 wissenschaftlicher Assistent von Horst Ehmke. Ehmke galt als Wissenschaftler und als Politiker. Wie war diese Erfahrung für Sie? Andererseits haben Sie mit vollem Recht behauptet, dass die verfassungstheoretischen Studien Ehmkes ein Stück Verfassungspolitik bilden. Wie konnte er diese beiden Facetten verbinden und welche Bedeutung haben seine Beiträge für Ihre Theorie der Verfassung? PETER HÄBERLE: Gerne beantworte ich Ihre Frage nach H. Ehmke. Er war eine Doppelbegabung: Wissenschaftler und Politiker. Sein Ideal war wohl der „politische Professor“. Im Umgang konnte er sehr „direkt“ sein. Seine Habilitationsschrift über das Thema „Wirtschaft und Verfassung“ brachte mir das angloamerikanische Recht

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näher. Auch begriff ich dank ihm, wie stark hinter verfassungstheoretischen Überlegungen immer auch Verfassungspolitik steht. Leider ging er 1966 ganz in die Politik. Für die deutsche Staatsrechtslehre war dies damals ein großer Verlust. JORGE LEÓN: Dimitris Tsatsos war auch Wissenschaftler und ein hervorragender Politiker. Er beschäftigte sich mit dem europäischen Verfassungsprozess und mit dem politischen Parteienrecht. Wann und wie lernten Sie Tsatsos kennen? Was ist das akademische Erbe von Tsatsos für die europäische Verfassungslehre? PETER HÄBERLE: D. Tsatsos titulierte ich früh als „deutschen Griechen“. Er war sowohl bedeutender Wissenschaftler als auch erfolgreicher Politiker. Letzteres nicht nur in Griechenland, sondern auch auf der europäischen Ebene. Seine Lebensleistung bestand unter anderem in der Gründung des Parteienrechtsinstituts in Hagen. Damit hat er sich neben G. Leibholz und W. Henke in die Reihe führender Parteienrechtler eingereiht. Ich lernte ihn dadurch kennen, dass ich ab 1990 seine Einladungen nach Hagen und Athen gerne annahm. Auf der europäischen Ebene ist der Tsatsos-de Vigo-Bericht bekannt geworden. Zu seinem akademischen Erbe gehört nicht nur das von ihm gegründete Institut in Athen sowie das neue Institut für Verfassungswissenschaften in Hagen, sondern auch das Wort von der „europäischen Unionsgrundordnung“. Dieses Konzept hat er in einem Handbuch kurz vor seinem Tod mit anderen Autoren entwickelt. Seine Wortmeldung wäre gerade im Zusammenhang mit der Not Griechenlands seit der Finanzkrise wichtig gewesen: denn er kannte Deutschland ebenso gut wie Griechenland und die Verfassungsgemeinschaft der EU. V. Die Häberle’sche Schule in Deutschland und in der Welt JORGE LEÓN: Ich glaube zu beobachten, dass Sie im deutschen öffentlichen Recht der Gegenwart eine echte und vollkommene Verfassungslehre vorzeigen können. Sie führen die Tradition der großen deutschen Meister des öffentlichen Rechts weiter. Der spanische Professor Pedro de Vega hat einmal gesagt, dass Ihre Verfassungstheorie die bedeutsamste Theorie der Gegenwart ist. Sind Sie sich dessen bewusst? PETER HÄBERLE: Ich freue mich, dass der spanische Professor Pedro de Vega meine Verfassungstheorie so positiv bewertet. Wie schon angedeutet, nehme ich nur in Anspruch, über mehr als 50 Jahre lang fleißig gewesen zu sein. JORGE LEÓN: Professor Häberle, Sie hatten und haben hier in Deutschland anerkannten Schüler, die heutzutage renommierte Professoren sind und die Ihr Denken sehr genau reflektieren. Ihrer Meinung nach: Was sind die Grundzüge der Häberle’schen Schule? PETER HÄBERLE: Viele der ehemaligen Schüler von mir sind heute anerkannte Professoren. Sie arbeiten unter sich ebenso gut wie verschieden. Ob man von einer „Schule“ sprechen kann, weiß ich nicht. Doch versuchte ich, meinen Habilitanden

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Folgendes zu vermitteln: Offenheit, Toleranz, Bescheidenheit, Sensibilität für interdisziplinäre Erkenntnisse und Neugier für jüngste Entwicklungen. Das Ganze ist eingebettet in die Denkweise der schon erwähnten Mentoren. Die Schüler haben mich soeben mit einer Geburtstagsgabe überrascht (Hrsg.: A. Blankenagel, Den Verfassungsstaat nachdenken, 2014). In ihr spiegelt sich die Vielfalt ihres wissenschaften Denkens. JORGE LEÓN: Was fühlen Sie, wenn sich ein fremder Student oder Wissenschaftler für Ihre Werke und Theorien interessiert? Haben Sie positive oder negative Erfahrungen gehabt? PETER HÄBERLE: Wenn fremde ausländische Studenten oder Wissenschaftler sich für meine Theorien interessieren, so erfüllt mich dies mit großer Freude. Ich habe nur positive Erfahrungen gemacht, etwa seit Anfang der 90er Jahre. Vor allem aus Italien, Spanien, Griechenland, Lateinamerika, aber auch aus Japan oder Südafrika kamen junge Gastwissenschaftler an meinen früheren Lehrstuhl bzw. an meine jetzige Forschungsstelle. Viele von ihnen sind in der Zwischenzeit wohl bestallte Professoren in ihren Heimatländern geworden und halten nach wie vor Verbindung zu mir und meinen deutschen Schülern. JORGE LEÓN: Die Häberle’schen Denken ist heute weltweit anerkannt. Ihre Verfassungstheorie hat Deutschland und Europa transzendiert. Hatten Sie einmal gedacht, dass Ihr Denken in anderen Ländern sehr positiv bewertet sein würde. PETER HÄBERLE: Meine vergleichende Verfassungslehre wird nicht nur in Deutschland und Europa zur Kenntnis genommen, sondern etwa auch in Südkorea und Japan sowie Lateinamerika. Mit diesem intensiven Echo hatte ich nicht gerechnet. Erfreulich ist, dass der deutsche Schulenstreit seit der Weimarer Zeit mit Folgen bis heute im Ausland nicht so sehr im Vordergrund steht, wie im Inland. JORGE LEÓN: Sie haben eine besondere Beziehung zum Konstitutionalismus Lateinamerikas. Wann und wie begann Ihr akademisches Interesse an Lateinamerika? PETER HÄBERLE: Meine besondere Neigung gilt dem Konstitutionalismus Lateinamerikas. Alles begann dank einer Einladung von Professor D. Valadés nach Mexiko. Später folgten Gastvortragsreisen nach Brasilien, Argentinien und Peru. Dieses Glück des wissenschaftlichen Gesprächs mit Lateinamerika begann auf einer Tagung in Granada 1999. JORGE LEÓN: Viele Ihrer Theorien sind etwa in Brasilien, Kolumbien, Peru usw. durch die Verfassungsrechtslehrer und Verfassungsgerichte angenommen worden. Sind das bereits deutliche und konkrete Beispiele Ihrer universalen Verfassungslehre? PETER HÄBERLE: Manche meiner Theorien finden in den von Ihnen genannten Ländern Widerhall: besonders erfolgreich, auch mit praktischen Konsequenzen für das Verfassungsprozessrecht ist die Theorie von der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Herr Präsident G. Mendes in Brasilia war und ist hier nicht

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nur „Rezeptionsmittler“ und Übersetzer. Gleiches gilt für die Professoren Belaunde und Landa in Peru. Mit Freude höre und lese ich auch, dass sowohl das Verfassungsgericht in Kolumbien als auch das Oberste Bundesgericht in Buenos Aires meinen kulturwissenschaftlichen Ansatz zitiert. Damit gelingt vielleicht ein Stück meiner Universalisierung der Verfassungslehre und ein Brückenschlag zu anderen Rechtskulturen. JORGE LEÓN: Peter Häberle ist nicht nur Ihr Name, sondern auch der Name von Stiftungen in der Schweiz (seit 2004), Spanien (seit 2011) und Brasilien (seit 2013). Was bedeuten diese Stiftungen für Sie als Person und Wissenschaftler? PETER HÄBERLE: Ich bin sehr glücklich, dass auf Anregung der Universität St. Gallen dort eine Stiftung gegründet wurde, die regelmäßig internationale Kolloquien durchführt. Gleiches gilt für Granada (2011) und Brasilia (2013). Damit ist ein Forum geschaffen, auf dem sich junge Wissenschaftler treffen können. Da in Granada und in Brasilia auch eine Forschungsbibliothek aufgebaut wird, kommt es zu besonders ergiebigem Austausch. Vielleicht bin ich nur der Anlass und nicht der Grund für diese Entwicklungen. JORGE LEÓN: Sie vollenden ihr 80. Lebensjahr. Anlässlich Ihres Geburtstags gab es für Sie in Lissabon eine Ehrung. 50 Jahre widmeten Sie der Forschung. Um dieses Interview zu beenden, biete ich Ihnen einige Schlussüberlegungen an. PETER HÄBERLE: Zu meinem 80. Geburtstag kam es zu internationalen Kolloquien in Rom und Montpellier (2013) sowie in Lissabon. Sie geben mir jetzt freundlicherweise Raum für Schlussüberlegungen. Ihn nutze ich für folgende Stichworte: – Das Interview ist eine Wissenschafts- und Literaturgattung, die sich durch Unmittelbarkeit und größere Freiheit auszeichnet. Es kommt zu einem wirklichen Gespräch. Dafür danke ich sehr. Gerne füge ich hinzu, dass die Fragen oft besser sind als meine Antworten und die Übersetzung ebenfalls besser als meine Texte. – Der Blick auf die Internationalen Verfassungsgerichte ist eine Zukunftsaufgabe, so wie die Rechtsvergleichung eine Zukunftswissenschaft ist. Es entstehen Teilverfassungen mit vielen Beteiligten aus der ganzen Welt, nicht zuletzt der Wissenschaft. – Auch auf diesem Gebiet ist mir das Pädagogische sehr wichtig. Die nächsten Generationen künftiger Wissenschaftler müssen für den kooperativen Verfassungsstaat gewonnen werden. Nicht nur die Menschenrechte sind Erziehungsziele und Orientierungswerte, sondern auch die rechtsstaatlichen Prinzipien und die Gewaltenteilung. Die Verfassungen von Guatemala und Peru haben früh den Unterricht über die Menschenrechte zum Thema gemacht. Die Verfassung des Südsudan (2013) macht allen staatlichen Instanzen zur Aufgabe, „public awarenes“ der Verfassung zu befördern. Es ist mehr als Symbolik, wenn schon in der Weimarer Zeit einzelne deutsche Landesverfassungen anordnen, den Schülern zum Abschied ein Exemplar der Verfassung zu überreichen.

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3. Teil: Wissenschaftliche Interviews

– Dass die vergleichende Verfassungslehre „wissenschaftliche Vorratspolitik“ leisten könnte, ließe sich an der Ukraine studieren. Dort wäre das offene Föderalismusmodell hilfreich. Die gemischte Bundesstaatstheorie könnte dem Osten der Ukraine Modelle für den Minderheitenschutz liefern oder mindestens Vorschläge für eine regionalistische Struktur anbieten; dies freilich im Verbund mit einem Status der Neutralität, wie es ihn vorbildlich in Österreich trotz dessen EU-Mitgliedschaft gibt. – Der wissenschaftliche Optimismus ist nicht nur ein pädagogisches Prinzip, sondern auch erkenntnisleitend. Gerade in der Zeit der Missachtung des Völkerrechts (Annexion der Krim durch Russland) und angesichts des Rückfalls in die Barbarei im Nahen Osten sowie im Irak seitens fundamentalistischer Terrorgruppen darf man in den positiven Bemühungen um die nationalen und internationalen Teilverfassungen nicht nachlassen. Universale Jurisprudenz wird noch wichtiger als früher. Jeder nationale Verfassungsstaat und jeder junge Verfassungsjurist kann hierzu einen Beitrag leisten. Das gilt auch für Sie, der Sie sich so vorbildlich und tief in das deutsche Staatsrecht und in meine wissenschaftlichen Schriften eingearbeitet haben.

Vierter Teil

Varia (Widmungsblätter, Gedächtnisblätter, Vorworte)

I. Widmungsblatt für Diego Valadés (2011)* Diese Zeilen wollen den Jubilar Diego Valadés als hochkultivierte Persönlicheit in drei Facetten beleuchten: D. Valadés als Gelehrter, als „Organisationsgenie“ und als „homme de lettres“. Sie sind ihm aus tiefer Dankbarkeit für eine schon mehr als sieben Jahre währende Freundschaft gewidmet. Die Rechtskultur eines wissenschaftlichen Widmungsblattes ist Lateinamerika nicht fremd (vgl. nur D. G. Belaunde, in: Libro-Homenaje à G. J. Bidart Campos, 2002, S. 593 – 597). Auf diesen Spuren sucht dieses kleine Blatt aus Deutschland seine Wege.

I. D. Valadés als Gelehrter Der Jubilar hat – auch aus europäischer Sicht – in fast allen Literaturgattungen Bedeutendes geschrieben: Erwähnt sei die große Monographie (EL Control del Poder, 1998; Constitución y democracia, 2000; El gobierno de gabinete, 2005) sowie der Sammelband grundlegender wissenschaftlicher Aufsätze (Problemas constitucionales del Estado de derecho, 2002, 2. Aufl. 2004, auch verlegerisch ein großer Erfolg), die große Zeitschriftenabhandlung, auch in ausländischen Publikationsorganen, z. B. „The rule of Law as a cultural problem“, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 52 (2004), S. 59 ff., und die große Einleitungsstudie zu einem Buch, die ihrerseits den Rang einer Monographie erreicht (Peter Häberle: un jurista para el siglo XXI, zu P. Häberle, El Estado constitucional, 2001, S. XXI bis LXXXIV) kommen hinzu. Da dem Verfasser dieses Widmungsblattes keine Bibliographie des Jubilars vorliegt, kann er nur die Publikationen nennen, die ihm aus eigener Lektüre bekannt sind. So hat D. Valadés auch Vorworte verfasst (z. B. zu R. Smend, Essayos …, 2005, S. IX f.) – „Vorwortliteratur“ ist eine in Lateinamerika hoch entwickelte Literaturgattung. Der Jubilar hat auch so manche Beiträge in Festschriften für andere Gelehrte geschrieben, etwa zu Ehren der Verf. dieser Zeilen „Cabinet Governement and Latin American Neopresidentialism“ in: Verfassung im Diskurs der Welt, 2004, S. 531 ff., und im Jahre 2007 wird er auch an der Festschrift zu Ehren von H. Fix-Zamudio mitwirken. Das weit gefächerte wissenschaftliche Werk des Jubilars kann hier nicht im Einzelnen gewürdigt werden. Doch seien einige auszeichnende Besonderheiten hervorgehoben: die reiche Themenvielfalt, die Eleganz der Sprachführung, die große Lite* Erschienen in spanischer Sprache in: El Control del Poder, Homenaje a Diego Valadés, Tomo I, 2011, S. 17 ff. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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4. Teil: Varia

raturkenntnis und die Fähigkeit, schwierige Fragen des vergleichenden Verfassungsrechts aufzubereiten. Die schon erwähnte „Einführung“ in das Buch des Verfassers dieser Zeilen lässt eine erstaunliche Kenntnis der Literatur zum Thema erkennen, nicht nur Lateinamerikas, sondern auch Europas, ja der ganzen Welt und zwar aus Geschichte und Gegenwart. Dabei figurieren ebenso Klassiker der Antike wie der Moderne – „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (1981) spielen auch bei D. Valadés die ihnen gebührende Rolle: von F. A. v. Hayek bis J. Habermas, von Hegel bis F. Lasalle, von H. Heller bis C. Mortati, von J.-J. Rousseau bis I. Kant. Nicht nur das Grundsätzliche ist behandelt, etwa in Sachen „Toleranz“ (Problemas constitucionales, aaO., S. 99 ff.), auch eher technisch erscheinende Fragen wie das Wahlrecht (ebd. S. 131 ff.) werden präzise aufbereitet. Am Buch „El gobierno de gabinete“ fasziniert nicht nur das politische Einfühlungsvermögen des Autors, sondern auch die rechtsvergleichende Kleinarbeit (ebd., Quadros, S. 127 bis 145). Als Vortragsredner ist der Jubilar ein Repräsentant der eleganten Jurisprudenz. Der Verfasser dieser Zeilen durfte dies oft erleben, z. B. in Granada, 1999, ebenso zuletzt auf der Veranstaltung der brasilianischen Akademie der Advokaten in Florianopolis (Brasilien), im September 2005. D. Valadés versteht es, „jung und alt“ durch sein große persönliche Ausstrahlung zu fesseln. Seine Studenten und Schüler werden seinem pädagogischen Eros oft „erlegen“ sein. Das wissenschaftliche Echo auf das weit gespannte Werk von D. Valadés zu verfolgen, also seiner Rezeptionsgeschichte im Einzelnen, vor allem in Lateinamerika und Spanien nachzugehen, wäre ein eigenes Thema: für die jüngere Generation.

II. D. Valadés als „Organisationsgenie“ Aus der „teilnehmenden Beobachtung“ seit rund sieben Jahren kann der Verfasser dieses Widmungsblattes gewiss nur einen kleinen Ausschnitt schildern. Beginnen wir bei der Meisterschaft von D. Valadés im Organisieren großer Tagungen: sei es für Verfassungsjuristen aus „aller Herren Länder“, sei es bei den Kongressen der ebenso vielfältigen wie niveaureichen lateinamerikanischen Verfassungsrechtsgemeinschaft, die letztlich um ein gemeinlateinamerikanisches Verfassungsrecht ringt, bei aller Vielfalt. Die Tagungsbände, die unter seiner Leitung am Institut der UNAM erschienen sind, sprechen buchstäblich „Bände“ (vgl. nur D. Valadés, Editor, Gobernabilidad y constitucionalismo en América Latina, 2005). Die Strukturierung der Themen, die Gewinnung der „richtigen“ Referenten und die effektive Organisation des Tagungsablaufes im Ganzen sind bewundernswert. Als langjähriger Direktor des rechtswissenschaftlichen Institutes der UNAM hat D. Valadés darüberhinaus eine stupende Herausgebertätigkeit entfaltet. Man denke nur an die fruchtbare Reihe von Monographien über alle lateinamerikanischen Länder (z. B. A. M. Hernandez / D. Zovatto / M. Mora y Araujo, Argentina: una sociedad anomica, 2005) sowie an die groß angelegte Reihe „Constituciones Iberoamericanas“ (z. B. El Salvador, 2005, jeweils mit einem Vorwort von D. Valadés, oder Costa Rica so-

I. Widmungsblatt für Diego Valadés

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wie Chile, beide 2005). Man denke schließlich an die Initiierung des großen bahnbrechenden Bandes „Cultura de la Constitucion en Mexico“, 2003 – der den vom Verfasser dieser Zeilen 1982 vorgeschlagenen Begriff „Verfassungskultur“ weiter entwickelt und in der Realität des lebendigen Verfassungsstaates Mexiko beobachtet bzw. in sie umgesetzt hat. Die „Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ ist hier besonders greifbar, weil auch interdisziplinär angereichert. Zahlreich sind die Schriften junger Gelehrter aus dem In- und Ausland, denen der Jubilar die Gelegenheit zur Veröffentlichung an seinem Institut geschenkt hat (z. B. J. Brage de Camazano, La acción abstracta de inconstitucionalidad, 2005). Ähnliches gilt für die vielen Initiativen zur Übersetzung und Veröffentlichung von Werken älterer Staatsrechtslehrer (vgl. nur den von D. Valadés für den Verfasser dieses Widmungsblattes gestalteten Band: „Conversaciones Academicas con Peter Häberle“, 2006). Diese intensive Mittlertätigkeit, die hohe Begabung, Brücken zwischen vielen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften zu bauen, machen den Jubilar auf eine Weise zu einem „Pontifex juridicus“ besonderer Art. Dabei spielt auch seine andere Menschen gewinnende, herzliche Liebenswürdigkeit eine überaus positive Rolle. Das führt zur dritten Facette der reichen Persönlichkeit von D. Valadés, der das Persönliche der mexikanischen Rechtskultur von heute wie wenig andere Juristen verkörpert. Die Erfahrungen als Botschafter in Guatemala dürften ihn ebenso geprägt haben wie die Zeit als Verfassungsrichter.

III. D. Valadés als „homme de lettres“ Juristen, insbesondere Staatsrechtslehrer, verdienen dieses hohe Prädikat selten. Denn von ihren herkömmlichen Themenfeldern und Methoden her sind sie der Ästhetik, dem „Schönen“ im Sinne Platons, dem Künstlerischen sehr ferne. Doch gibt es Ausnahmen (in der Weimarer Zeit z. B. G. Radbruch). Zu ihnen gehört D. Valadés. Das zeigt auch, aber nicht nur seine „Krönung“ zum Mitglied der mexikanischen Akademie für Sprache am 25. August 2005 und seine meisterhafte Inaugurationsrede vom selben Tag: „La Lengua del Derecho y el Derecho de la Lengua“ – ein Stück „law as literature“ und „literature as law“. Schon der Titel ist mehr als ein Sprachspiel, und der reiche Inhalt lässt die ganze Meisterschaft eines „homme de lettres“ im Sinne der französischen Tradition erkennen. Nicht ohne berechtigten Stolz dürfte der Jubilar diese Ehrung entgegen genommen haben – in Deutschland war und ist solches nur ganz wenigen Staatsrechtslehrern vergönnt, so etwa dem Schweizer Peter Schneider in der Mainzer Akademie in den 70er Jahren. Das persönliche Gespräch, der feine Stil im Umgang mit Gästen und die effektive sowie glanzvolle Leitung von Tagungen bleiben jedem, der dabei sein durfte, unvergesslich. Besondere Erwähnung verdient die Kunst der Gastfreundschaft an der Seite von Frau Patricia im Hause D. Valadés (das auch durch die drei Kinder ein Ganzes bildet). Der Verfasser dieses Widmungsblattes durfte diese fast legendäre

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4. Teil: Varia

Gastfreundschaft schon dreimal genießen. Er bleibt unendlich dankbar für diese geistreichen Stunden. Es gibt Juristen, die zugleich Persönlichkeiten und Literaten mit einem Stück Künstlertum sind. D. Valadés, besonders der bildenden Kunst und der Musik zugetan, gehört zu diesem Kreis. Dafür sei, auch im Rahmen dieser Festschrift, gedankt.

II. Italienisch-deutsche Begegnungen – aus der Sicht eines deutschen Staatsrechtslehrers – ein Geburtstagsblatt für A. A. Cervati (2010)* Vorbemerkung Festschriften können ein Ort der Begegnung sein, besonders dann, wenn sie grenzüberschreitend einen herausragenden Wissenschaftler ehren. Die Begegnung selbst zum Thema machen – das kann nur einem A. A. Cervati zugedacht sein. Denn der Jubilar ist ein deutsch-italienischer „Brückenbauer“ der ersten Stunde nach 1945. Gewiss, auch in der älteren Generation gab es schon fruchtbare Gespräche zwischen Deutschen und Italienern: im Zivilrecht etwa in Gestalt von J. Esser, im Strafrecht dank H.-H. Jescheck. In der Weimarer Zeit und danach wirkten manche Große auf der italienischen Seite, die das deutsche Schrifttum sehr genau kannten, etwa Sandulli im Gespräch mit G. Leibholz, auch Mortati und Crisafulli sowie Esposito. Doch A. A. Cervati kommt seit den späten 60er Jahren ein besonderer Platz zu. Er „lernte“ bei keinem geringeren als bei E. Friesenhahn, dem BVerfGRichter der ersten Stunde, den er bis heute verehrt; er pflegt regen Kontakt mit dem vom Verf. 1973 so genannten „Heinrich Heine“ der deutschen Staatsrechtslehre: H. Ridder und dessen Kreis, und er lud den Verf. dieses Geburtstagsblattes erstmals 1990 als Gastprofessor nach Rom ein, was sich dank des Kreises der römischen Freunde (vor allem A. D’Atena, P. Ridola, F. Lanchester) Jahr für Jahre wiederholte, genauer: intensivierte. Parallel verlief eine Grenzüberschreitung Cervatis nach Österreich hin, gegenwärtig vor allem dank H. Schäffer. Wien war und ist für A. A. Cervati ein „Glücksort“ und „Glückswort“ – fast so wie seine geliebte Heimatstadt Neapel. Jeder Deutsche in Italien legitimiert sich bis heute auf eine Weise durch „Federico Secondo“ und J.W. von Goethe. In der Staatsrechtslehre legitimiert man sich als Deutscher dank einer Einladung durch A. A. Cervati. Sein neapolitanisches Temperament, seine gebildete Lebensart, historische Kultiviertheit und vor allem seine Kunst der Gastfreundschaft (zusammen mit Frau Linda) sind legendär – und immer neu. Seine Aufgeschlossenheit für Deutschland tut jedem Gast aus dem hohen Norden wohl. Die zwei Töchter sowie in der nächsten Generation (endlich) zwei männliche Enkel bilden eine „italienische Familie“ par excellence. Nimmt man die vielen erfolgreichen Schüler von P. Ridola über A. Cerrone bis zu A. Ves* Erschienen in italienischer Sprache: Liber amicorum Cervati, Bd. II, 2010, S. 419 – 424. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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paziani hinzu, so sieht man überdies eine wissenschaftliche Familie, wie sie auch in Italien selten ist.

I. Deutsch-italienische Begegnungen von Staatsrechtslehrern (Inhalte) Im Folgenden kann keine „Geschichtsschreibung“ gelingen. Es geht nur um Stichworte der Vergegenwärtigung mancher Begegnungen im Blick auf ihre Inhalte. Auch steht der persönliche Bezug zum Jubilar im Vordergrund. Seine Beiträge sind je „mit zu lesen“. Italienische Staatsrechtslehrer haben spätestens seit V. E. Orlando eine besondere Beziehung zur deutschen Staatsrechtslehre und blicken vorurteilsfreier und oft bewundernd auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Sie tun dies oft gerechter und intensiver als die nachgeborenen Deutschen selbst. Die Texte Weimars sind in der italienischen Wissenschaft viel behandelt und hoch geachtet. Man denke an Arbeiten etwa von C. Mortati und F. Pierandrei in den vierziger Jahren oder an G. Bognetti und F. Lanchester (1997), auch an L. Elia oder L. Paladin, unter den (Rechts-)Philosophen M. Losano, M. La Torre, U. Pomarici, A. Carrino, G. Gozzi, P. P. Portinaro, A. Bolaffi, P. Schiera, G. E. Rusconi u. v. a. m. Aus deutscher Sicht lässt sich umgekehrt die Pionierleistung der italienischen Verfassung von 1947 schärfer erkennen, vor allem ihre sozialen Grundrechte und besonders Art. 3 Abs. 2, der auch im Ausland, etwa in Spanien, Gefolgschaft fand (Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien von 1978). Es gibt deutsche Autoren wie D. Schefold und E. Denninger, die sich tief ins italienische Verfassungsrecht eingearbeitet haben. Umgekehrt ist das italienische Interesse am deutschen GG und der zugehörigen Wissenschaft und Judikatur groß (z. B. bei M. Luciani, G. Volpe). Vor allem der deutsche Föderalismus wird angesichts des „Noch-Regionalismus“ Italiens von Autoren wie A. D’Atena und Frau A. Anzon genau studiert und mitunter als Vorbild für die Reformen in Italien genommen. Hohes Interesse in Italien findet sodann das deutsche Bundesverfassungsgericht. Ihm widmen sich nicht nur große italienische Verfassungsrichter und Staatsrechtslehrer wie G. Zagrebelsky, auch spezifisch deutsch-italienische Autoren der jüngeren Generation wie J. Luther. Auch die Dissertationsliteratur in Italien wendet sich immer wieder Status, Aufgaben, Verfahren des BVerfG und seiner Judikatur zu. Dabei erweckt die Möglichkeit des Sondervotums anhaltendes Interesse. Der Verf. dieser Zeilen wurde von nicht weniger als fünf Präsidenten der Corte in Rom nach seiner eigenen Meinung gefragt (1990 bis 2006), darunter sind große Namen wie A. Corasaniti oder A. Baldassarre sowie G. Zagrebelsky. Die Antwort lautete immer gleich: Sondervoten, in der spanischen Verfassung ausdrücklich institutionell garantiert (Art. 164 Abs. 1), eröffnen m. E. den Weg zur „Verfassung als öffentlichen Prozess“ (1969), insofern die Minderheit von heute zur Mehrheit von morgen werden kann. Mag der Streit um die Frage, ob es für die Corte in Rom eines formellen Parlaments(verfassungs)gesetzes bedarf oder ob eine

II. Italienisch-deutsche Begegnungen

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Norm der Geschäftsordnung zur Einführung von Sondervoten ausreicht, bis heute offen sein: Der deutsche Betrachter bleibt neugierig, ob und wann sich Italien zum verfassungsrichterlichen Sondervotum durchringt (wie z. B. die Ukraine, Kroatien oder der EGMR in Straßburg). Die Grundrechte bilden ein Dauerthema des deutsch-italienischen Gesprächs über die Jahre hin. Man kann ihre Spuren in vielen italienischen Zeitschriften finden, auch in der verdienstvollen Kehler EuGRZ (Kommentierungen der italienischen Judikatur), dort früh aus der Feder von T. Ritterspach und heute von J. Luther. Die Italiener staunen gelegentlich halb ironisch über die Volumina der deutschen Grundrechtsliteratur, etwa die vielen Kommentare und „Handbücher“, doch sie bezeugen immer wieder großen Respekt vor der deutschen Grundrechtsdogmatik (z. B. eines K. Hesse). „Europa“ ist inhaltlich ein herausragendes „ewiges“ Gesprächsthema. So wie nach T. Mann von einem „europäischen Deutschland“ gesprochen werden soll, so kann von Anfang an von einem „europäischen Italien“ die Rede sein. Der Gründungsimpuls der Denkschrift von Ventotene (1943) ging allen deutschen und französischen Anstrengungen sogar voraus. An ihr war ein A. Spinelli beteiligt, dessen 100. Geburtstags man 2007 zu Recht an der Basso-Stiftung in Rom mit einem Kolloquium gedachte. Später waren A. De Gasperi sowie K. Adenauer „Väter Europas“: von der EWG bis heute. Italien als Gründernation der EWG – das kann ein in Zeiten der Versäumnisse eines S. Berlusconi (2004) gar nicht genug bedacht werden. Die italienische Europarechtswissenschaft kann sich nicht nur „intern“ sehen lassen. Sie kann auch mit der deutschen wetteifern. Freilich: M. E. gibt es heute gar kein abgrenzbares Wissenschaftsgebiet „Europarecht“ mehr, es gibt nur noch „Europäisches Verfassungsrecht“ und „Europäisches Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze): zu stark ist die Osmose zwischen Nationalem und Europäischem. Der Jubilar dürfte angesichts seines feinen Sinnes für langfristige geschichtliche Entwicklungen gerade dieser These des Verf. vielleicht gerne zustimmen. Es gibt gewiss noch weitere Gebiete der inhaltlichen Begegnungen zwischen italienischer und deutscher Staatsrechtslehre: vor allem im vergleichenden Religionsverfassungsrecht (fälschlich „Staatskirchenrecht“ genannt), hier gibt es einen eigenen Arbeitskreis: Namen auf deutscher Seite wie G. Robbers, auf italienischer Seite wie S. Ferrari. Doch sei der kursorische Überblick hier abgebrochen.

II. Foren der Begegnung Die Foren der Begegnung zwischen zwei unterschiedlichen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften können vielfältig sein. Sie sind auch Ausdruck der Differenziertheit und Lebendigkeit der Rechtskulturen. So gibt es ganz bestimmte Organisationsformen, in denen sich die deutsche und japanische Wissenschaftlergemeinschaft begegnen: neben wechselseitigen Gastvortragsreisen (z. B. des Verf. nach Ja-

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pan 1998, K. Hesse 15 Jahre zuvor) treten Arbeitskreise wie der von C. Starck gegründete (2005 auch in Bayreuth gepflegte). Die nachstehende Auflistung im Blick auf Italien erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie beruht auf den fragmentarischen Beobachtungen und Erfahrungen des Verf. Bei allen „Begegnungen“ aber wirkten Geist und Person des Jubilars Cervati von Anfang an mit. Die Goethe-Institute in Rom, Mailand und Turin spielten hier dank ihrer Leiter, z. B. M. von Bieberstein, eine große Rolle. Einladungen von Rom und Mailand erhielten schon in den 70er Jahren manche deutsche Kollegen. Stärker formalisiert sind Gastprofessuren bzw. Gastvorträge, z. B. in Doktorandenkolloquien. Hier sind von deutscher Seite früh die Namen von W. Leisner zu nennen (zuletzt im Blick auf Turin, für die italienische Seite ebenda G. Lombardi sowie E. Di Suni Prat). Der Verf. selbst war bis heute nicht weniger als 13 Mal Gastprofessor in Rom, teils als Gast der „Sapienza“ oder „Tor Vergata“, teils als Gast des Regionalismus-Institutes (T. Martines / E. Santantonio). A. A. Cervati war in den letzten Jahren mehrfach Gastprofessor in Hamburg, D. Nocilla weilte als Gast in Bremen. Ein besonderes Forum bildeten regelmäßige deutsch-italienische Staatslehrertreffen in der Villa Vigoni. Waren dort früher in den 80er und 90er Jahren H.-P. Schneider und der Verf. bzw. G. Zagrebelsky federführend, so wirken heute K. Stern und seine Schule vor allem H.-J. Blanke; auf italienischer Seite arbeitet S. Mangiameli. Das „deutsch-italienische historische Institut“ in Trient sei ebenfalls erwähnt. Für viele der jüngeren italienischen Kollegen ist auch weiterhin das Heidelberger MaxPlanck-Institut ein erster Ort der Begegnung (z. B. R. Bifulco). Die deutsch-italienische Staatsrechtslehrervereinigung (genauer: das seit nunmehr 30 Jahren verantstaltete deutsch-italienische Verfassungskolloquium), zu deren Gründern ein E. Denninger, P. Badura, Ch. Tomuschat und S. Cassese gehören und in deren Rahmen heute A. Pace, A. von Bogdandy, auch P. M. Huber wirken, sind ein ganz spezifisches Forum für grenzüberschreitende Verfassungsgespräche, zuletzt in Parma 2005 und Erfurt 2007. (Bilaterales weitete sich z. T. in der „FIDE“ zu Multilateralem, oft dank derselben Persönlichkeiten, zuletzt in Göttingen, 2007) Dabei sei nicht vergessen, dass die italienische Staatsrechtslehrervereinigung gelegentlich deutsche Gäste ausdrücklich zu Referaten auf ihren eigenen nationalen Tagungen einlädt (so den Verf. 1993 in Turin, später C. Starck 2006 in Rom). K. Stern referierte im Vatikan (2006). Das Forum der wissenschaftlichen Publikationsorgane verdient eine eigene Untersuchung. Auf deutscher Seite finden sich seit langem im JöR italienische Stimmen (vgl. etwa aus jüngerer Zeit: F. Lanchester, P. Ridola, A. D’Atena, P. Grossi, A. Pace, A. Anzon, J. Luther (1998, 2001, 2002, 2003, 2007)). Neu ist die eigene Kategorie „Europäische Staatsrechtslehrer“, in der sich Lebensbilder großer italienischer Juristen finden wie D. Nocilla über Crisafulli (JöR 44 (1996), S. 255 ff.), oder A. D’Atena über Esposito, Crisafulli und Paladin (JöR 55 (2007), S. 463 ff.). Auch im AöR kommen italienische Staatsrechtslehrer zu Wort (z. B. S. Mattarella über das Zweikammersystem in Italien, AöR 108 (1983), S. 370 ff.). Besprechun-

II. Italienisch-deutsche Begegnungen

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gen italienischer Werke finden sich hier ebenfalls: z. B. des Buches von G. de Vergottini durch G. Sanviti (AöR 114 (1989), S. 517 ff.); des Verwaltungsrechts S. Cassese (AöR 115 (1990), S. 167 ff. durch P. M. Huber); G. Zagrebelskys Il diritto mite durch P. Häberle (AöR 121 (1996), S. 309 ff.) und P. Ridolas Pluralistische Demokratie durch J. Luther (AöR 118 (1993), S. 156 ff.). Ergiebig ist auch die ZaöRV: vgl. etwa ZaöRV 85 (2005), S. 107 ff. della Caranea, Kritische Anmerkungen zum „fiskalischen Föderalismus“ in Italien. Die Zeitschrift „Der Staat“ betreut Italien besonders gut: vgl. etwa P. Pasquino (in Sachen Schmitt), Bd. 25 (1986), S. 385 ff.; S. Cassese und M. P. Chiti über den Einfluss des EU-Rechts auf Italien, Bd. 33 (1994), S. 25 ff. bzw. 1 ff.; U. Fiorillo über Kant, Bd. 41 (2002), S. 100 ff. – Aus der Rubrik der Buchanzeigen sei etwa P. Aimos Buch über die italienische Verwaltungsgerichtsbarkeit, Bd. 30 (1991), S. 638 ff. erwähnt. Auf italienischer Seite seien folgende Zeitschriften genannt, die deutsche Stimmen abdrucken bzw. sich deutscher Themen annehmen: Giurisprudenza costituzionale (Rechtsprechungsberichte), Quaderni costituzionali und Nomos (Cronache costituzionali), Rivista di diritto pubblico comparato ed europeo (Literaturberichte, Mikrovergleichung), Rivista trimestrale di diritto pubblico (Rezensionen), Studi parlamentari e di politica costituzionale (Gesetz-gebungsstudien), aber auch, z. B. D. Schefold, Corte costituzionale e sistema costituzionale in Germania, Giornale di Storia costituzionale, 2006, S. 209 ff. Besonders herausgestellt seien Beiträge in Festschriften. Diese Literaturgattung, die spezifisch in Deutschland und Österreich blüht, ist gerade in jüngerer Zeit personell und inhaltlich besonders ergiebig für wechselseitige Bewegungen. Man nehme die FS Leibholz (1966), mit Beiträgen von G. Del Vecchio und A. Sandulli, FS Leisner (1999) mit einem Beitrag von A. Baldassarre, FS Badura (2004) mit Beiträgen von A. Pace und A. Masucci oder das „liber amicorum“ für P. Häberle (2004): Beiträge von P. Ridola, D’Atena, A. Vespaziani, J. Luther. Eine Sonderstellung haben wechselseitige Übersetzungen von Monographien (z. B. der Autoren der Weimarer Klassik, heute von E. Denninger, H. Hofmann und P. Häberle). Aufgabe der nächsten Generation wäre es, deutsch-italienische Begegnungen auf der ganzen Breite der Monographie-Kultur aufzulisten, nicht nur im Blick auf Dissertationen, sondern ganz allgemein. Was in der Dissertation „unten“ beginnt, kann später ein „oben“ werden (vgl. z. B. J. Luther über die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, F. Rimoli für das Thema „Kultur und Kunst“).

Ausblick Dieses Geburtstagsblatt für A. A. Cervati kann aus der Feder des Verf. nur so geschrieben werden: als Dank für jahrelange Freundschaft und Gastfreundschaft, aus Respekt für eine große rechtsvergleichende und rechtsgeschichtliche Lebensleistung (Der große Beitrag Cervatis „Il diritto costituzionale tra metodo comparativo e ‚scienza della cultura‘“, dem Verf. gewidmet, in: Lo State costituzionale, Enciplope-

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dia Italiana Treccani, 2005, S. 295 – 322, verdient besonderen Dank). Die für den Jubilar typische Distanz zu allen politischen Parteien ist auch ein Anliegen des Verf. Die Besuche in Bayreuth und Weimar (1992) sind ebenso unvergessen wie die gemeinsame Lektüre von Werken eines Dante oder G. Leopardi bzw. Goethe und F. Hölderlin, teils im Haus A. A. und Linda Cervati, teils im Hause D. Nocilla. Die kleinen Hauskonzerte im Goethe-Institut in Rom (1990 bis 1999) taten ein Übriges, um via Musik eine Begegnung zu eröffnen. Sie hat wissenschaftlich begonnen und führt längst ins Künstlerische bzw. sehr Persönliche. Die Bescheidenheit des Jubilars verbietet dem Verf. mehr zu sagen. A. A. Cervati und uns seien weitere glückliche Jahre des nachhaltigen deutsch-italienischen Brückenbauens gewünscht. Bücher wie „Das Reich und Italien in der Frühen Neuzeit“ (hrsgg. von M. Schnettger / M. Verga, 2006) werden ihm ebenso gefallen wie B. Jakobs „Rhetorik des Lachens und Diätetik in Boccaccios Decameron“, 2006.

III. Staatsrechtslehre im gemeineuropäischen / atlantischen Verfassungsgespräch 1. Staatsrechtslehre im gemeineuropäischen Verfassungsgespräch (2011)* Vorbemerkung Dieses Gedächtnisblatt ist Prof. José-Juan González Encinar zugeeignet: als Ausdruck persönlicher Verbundenheit und großer Dankbarkeit. Ich begegnete seiner gewinnenden Persönlichkeit zum ersten Mal auf einer internationalen Tagung von Staatsrechtslehrern im Senat in Madrid (1988). Später war ich privat sein Gast und erinnere mich noch gut der lebendigen und anregenden Gespräche über wissenschaftliche Themen. Seine Kontakte mit Heidelberger Kollegen waren besonders intensiv. Früh war er sensibel für die europäische Dimension der einzelnen nationalen Staatsrechtslehrergemeinschaften. Darum sei ihm dieses Thema speziell im Blick auf Spanien bzw. das gesamte Europa gewidmet. Dabei sei vermerkt, dass Spaniens Wissenschaftlergemeinschaft besondere Chancen hat durch ihre einzigartige Brückenfunktion nach Lateinamerika hin.

I. Ein Theorierahmen für die Beiträge nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Europa Vorbemerkung Der Theorierahmen für unser Thema wird z. T. vom Verfasser bereits zu Ehren von A. A. Cervati in dessen Festschrift (2008) für Italien „erprobt“. Auch liegt eine Skizze mit dem Thema „Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat“ in Gestalt meines Beitrags für die FS H. Kuriki (2003) vor. Indessen sei im Folgenden das Raster für allseitige Begegnungen zwischen nationalen Staatsrechtslehrergemeinschaften auf der Welt skizziert. Dabei stehe Spanien im Vordergrund mit Namen aus der älteren Generation wie M. Garcia Pelayo1, P. Verdu sowie García Enterría2. Nicht nur Spa* Erstveröffentlichung (die spanische Gedächtnisschrift für J.-J. González Enzinar ist bis jetzt leider nicht erschienen). 1 Dazu A. López Pina, JöR 44 (1996), S. 295 ff.

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nien selbst, sondern vor allem die deutsche Staatsrechtslehre ist von der großen Verfassung Spaniens aus dem Jahre 1978 fasziniert und beobachtet die Anknüpfungen an die WRV sowie das deutsche GG mit großem Interesse. Es gibt schon heute eine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) europaweit. Hierher gehören auch Foren der Begegnung der Richter an europäischen Verfassungsgerichten. Sie sind oft in der verdienstvollen EuGRZ dokumentiert. Im Folgenden seien zwei Aspekte gewählt: zum einen die Möglichkeiten und Grenzen eines gemeineuropäischen Verfassungsgesprächs im Blick auf den Typus Verfassungsstaat; sodann die Möglichkeiten und Grenzen im Blick auf das sich seit 1991 intensivierende Werden von Gemeineuropäischen Verfassungsrecht3. Beide Blickfelder wirken in Europa vielfältig zusammen. Im Einzelnen: Der Typus Verfassungsstaat wächst auf der heutigen Entwicklungsstufe dank vielfältigen Gebens und Nehmens zwischen den einzelnen Nationen weiter. Ausgetauscht werden Verfassungstexte, Judikate, vor allem der Verfassungsgerichte als ein Stück Praxis sowie die Wissenschaft, insbesondere ihre Theorien. Es handelt sich um eine Trias. „Verfassung als Kultur“ (1982) ist dabei ebenso ein Stichwort wie „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1969). Der kulturwissenschaftliche Ansatz und das Konzept der Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung erweitert und intensiviert das Gespräch zwischen allen nationalen Staatsrechtslehren und allen nationalen Verfassungsgerichten. In Europa kommen der EuGH und der EGMR hinzu, weltweit der IGH in Den Haag sowie die UN-Tribunale, auch der Internationale Seegerichtshof. Inhaltlich und personell kommt es zu intensivem Austausch bei der Arbeit am Typus Verfassungsstaat. Nimmt man das Völkerrecht, verstanden als „konstitutionelles Menschheitsrecht“ bzw. „Grundwert des Verfassungsstaates“ hinzu, so erweitern sich die Foren und Gesprächsmöglichkeiten. Das „Gemeineuropäische Verfassungsrecht“ bietet besondere Möglichkeiten im Blick auf die Beiträge nationaler Wissenschaftlergemeinschaften. Der Prinzipiencharakter ihrer Ausdrucksformen (i. S. von H. Heller und J. Esser) wurde 1991 erarbeitet. II. Themenfelder (Auswahl) 1. Überblickt man vorweg das Ganze der Staatsrechtlehre in Spanien, die Vielzahl der Köpfe und Schulen, die Pluraliät der Universitäten bzw. verfassungsrechtlichen Seminare (dem Betrachter fällt nur die schwer begreifliche Trennung von Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht auf, ist doch das Verwaltungsrecht „konkretisiertes Verfassungsrecht“ i. S. von F. Werner), schließlich und nicht zuletzt die Fülle der wissenschaftlichen Literaturgattungen, so kann das Urteil nur positiv sein: die Dazu der Beitrag von A. Jiminéz-Blanco, in: JöR 45 (1997), S. 145 ff. P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; übersetzt in: A.-E. Pérez Luño (Coord.), Derechos Humanos y Constitucionalismo, 1996, S. 187 ff. 2 3

III. / 1. Staatsrechtslehre im gemeineuropäischen Verfassungsgespräch

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spanische Wissenschaftlergemeinschaft arbeitet in Sachen Verfassungsstaat intensiv, nachhaltig und vorbildlich – dies für Europa ebenso wie für Iberoamerika. Dabei lassen sich sowohl Rezeption als auch eigene Innovationen betrachten. Viele blicken auf das deutsche BVerfG, kommentieren und integrieren seine großen Judikate, andere orientieren sich neben den Klassikern auch an jüngeren deutschen Autoren, die am und im GG „groß“ geworden sind. Elemente des deutschen Föderalismus, etwa der Gedanke der „Bundestreue“ (R. Smend) werden in das spanische System der Autonomen Gebietskörperschaften umgesetzt. Große Ausstrahlung entfaltet die deutsche Grundrechtswissenschaft und -rechtsprechung „aus Karlsruhe“. Zu all dem tragen Übersetzungen bei. So wurden italienische Monographien (z. B. G. Zagrebelsky, „Diritto mite“, 1992 / 94) ebenso ins Spanische übersetzt wie deutsche (etwa K. Hesse, 1983 / 92 und P. Häberles Dissertation über den Wesensgehalt der Grundrechte, 1962 / 83 bzw. 1997). Das deutsche Jahrbuch des öffentlichen Rechts bemüht sich, ein Forum vor allem für Beiträge aus ganz Europa zu sein. Im Folgenden sei eine Auswahl von Themen benannt, bei denen die spanische Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat besonders fruchtbar ist und europaweit Beachtung verdient. 2. Die Arbeit am Thema Europa selbst steht in Spanien in vielen Publikationen im Vordergrund4. Man kann durchaus von der Literatur zu einem „europäischen Spanien“ sprechen (in Anlehnung an das Wort von T. Mann vom „europäischen Deutschland“). Sowohl die Lehrbuchliteratur als auch eine Fülle von Monographien beschäftigen sich mit dem Stand der europäischen Integration, den europäischen Grundrechten, den institutionellen Fragen und dem EuGH. Im Vordergrund stehen etwa die Arbeiten von Iglesias. Auch die jüngere Generation arbeitet monographisch an dem Thema Europa. 3. Man kann sagen, dass nach 30 Jahren Verfassungsrecht die spanische Dogmatik im Ganzen alle Bereiche behandelt hat: Rechtsquellen, Föderalismus und Regionalismus („Estado Autonómico“), Verfassungsgerichtsbarkeit, Grundrechte, Wahlrecht und Parlamentsrecht.

Inkurs: Ein Europa-Artikel für die geltende Verfassung? 1. Im gemeineuropäischen Vergleich fällt auf, dass Spanien noch keinen ausdrücklichen Europa-Artikel in seine Verfassung geschrieben hat. Das überrascht 4 Gute europarechtliche Literatur etwa: M. Azpitarte Sánchez, El Tribunal Constitucional ante el Control del Derecho Comunitario derivado, Dissertation Granada, 2002; zuletzt der Sammelband: L. Encrucicijada Constitucional de la Unión Europea, 2002 (E. Garcia de Enterria / R.A. Garcia, Coord.); A. Rodriguez, The European Convention on Human Rights …, JöR 49 (2001), S. 413 ff.: H. López Bofill, Formas interpretativas de decisión en el juicio de constitucionalidad de las leyes, Diss. Barcelona, 2002.

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u. a. deshalb, weil Spaniens Verfassungswirklichkeit eine europäische Verfassungswirklichkeit geworden ist. Auch gäbe es viele Vorbilder für einen Europa-Artikel. Das benachbarte Portugal z. B. hat sich in Art. 7 Abs. 5 der Sache Europa vorbildlich „verschrieben“, und selbst in einer Kantonsverfassung der Schweiz (und besonders oft in den neuen Regionalstatuten Italiens) findet sich, freilich im Gegenseatz zur neuen Bundesverfassung (2000), ein Europa-Artikel. Art. 54 Abs. 1 Verf. Bern (1993) lautet: „Der Kanton beteiligt sich an der Zusammenarbeit der Regionen Europas“. Dieses Europabekenntnis ist umso erstaunlicher, als die Schweiz (noch) nicht Teil von Europa im engeren Sinne der EU ist, wohl aber ist sie Mitglied des Europarates und der EMRK und damit von Europa im weiteren Sinne. Die vom Verfasser schon 1995 vorgeschlagene Kategorie des „nationalen Europaverfassungrechts“ sucht die Vielfalt der Europaklauseln auf einen plastischen Begriff zu bringen und zwar auf dem Hintergrund einer Systematisierung der bunten Vielfalt von Europabezügen in nationalen Verfassungen Europas. Darauf sei verwiesen. Nur wenige Beispiele seien im Folgenden erwähnt, um den verfassungsändernden Gesetzgeber Spaniens mit den begrenzten Mitteln der vergleichenden Wissenschaft anzuregen, eines Tages in nicht allzu ferne Zukunft doch noch einen EuropaArtikel in die Verfassung aufzunehmen. Erinnert sei an den grundlegenden systematischen Ort der Präambel als möglichen Platz für ein Europa-Bekenntnis. Einen solchen hat schon das deutsche GG von 1949 gewagt in den Worten: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Diese frühe Wegweisung war vorbildlich. Erst sehr viel später kam es zum neuen Art. 23 GG – als Europa-Artikel im staatsorganisatorischen Teil: Europa wurde „Staatsziel“ mit sehr konkreten Vorgaben in Sachen EU als auf „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen“ beruhendem Gebilde; sogar der Grundsatz der Subsidiarität wurde festgeschrieben. Viele west- und ostdeutsche Verfasungen haben kurz zuvor oder parallel Europabezüge in ihre Texte aufgenommen. Eine Pionierleistung hat das Saarland in Art. 60 Abs. 2 (1992) zustande gebracht. Sie sei hier zitiert, da Spanien Teilelemente gerade als Land Autonomer Gebietskörperschaften rezipieren könnte: „Das Saarland fördert die europäische Einigung und tritt für die Beteiligung eigenständiger Regionen an der Willensbildung der Europäischen Gemeinschaften und des vereinten Eruopa ein. Es arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen und unterstützt grenzüberschreitende Beziehungen zwischen benachbarten Gebietskörperschaften und Einrichtungen“. Ein deutscher Staatsrechtslehrer kann sich gewiss nicht erlauben, Spanien einen Europa-Artikel vorzuschlagen, wohl aber darf er vielleicht Textelemente herausstellen und einen systematischen Ort ins Auge fassen. Spanien hätte allen Grund, den Europabezug schon in seiner Präambel, spätestens in seinem sog. „Vortitel“ zu plazieren. Im Übrigen sollten die Autonomen Gebietskörperschaften als „Regionen Europas“ konstitutiert werden; auch wäre der Aspekt der „Grenzüberschreitung“ zu er-

III. / 1. Staatsrechtslehre im gemeineuropäischen Verfassungsgespräch

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wähnen. Neben der EU sollte das weitere Europa von Europarat und OSZE erwähnt werden, von dem Spanien ebenfalls ein Teil ist. Diese Frage sollte von der spanischen Wissenschaftlergemeinschaft im Gespräch mit der gemeineuropäischen in Angriff genommen werden. 2. Aus den Themenfeldern des Typus Verfassungstaat figurieren vor allem folgende Normenkomplexe wie in anderen europäischen Verfassungsstaaten auch in der spanischen Staatsrechtslehre: a) Präambeln, die aus meiner Sicht kulturwissenschaftlich analog als Ouvertüren und Prologe zu verstehen sind und eine Art „Verfasung in der Verfassung“ bilden (als vorweggenommenes Konzentrat der späteren Texte). Die spanische Präambel ist ja sehr reichhaltig. Gleiches gilt für die Präambeln der Regionalstatute von Katalonien und Andalusien (beide 2006), jüngst mehrere italienische Regionalstatute. b) Die spanische Staatsrechtslehre hat allen Grund, sich der Menschenwürde und den Grundrechten besonders intensiv zu widmen. Hier sind auch Einflüsse aus Italien und Deutschland zu erkennen. c) Die pluralistische Demokratie ist schon verfassungstextlich in der vorzüglichen Verfassung von 1978 präsent und entsprechend intensiv in den wissenschaftlichen Publikationen behandelt. d) Die Gewaltenteilung im engeren (staatlichen) Sinne und weiteren (gesellschaftlichen) Sinne charakterisiert auch den spanischen Verfassungsstaat. Vor allem die Prinzipien des Medienverfassungsrechts bedürfen hier immer wieder der wissenschaftlichen Durchdringung (vgl. Art. 20 Abs. 2 bis 3 Verfassung Spanien). e) Die Autonomen Gebietskörperschaften sind bekanntlich im weltweiten Vergleich eine spezifische Errungenschaft der spanischen Verfassung. Diese ist vielleicht auf dem Weg zu einem Föderalstaat. Jedenfalls testen Katalonien und Andalusien 5 mit ihren Statuten die Grenzen der Verfassung von 1978 bis auf das Äußerste. Viele typische Verfassungsthemen werde in diesen Statuten behandelt. Ähnliches lässt sich in Italien6 beobachten, wo etwa das Statut von Ligurien (2005) sich sogar selbst als „Verfassung“ bezeichnet. Spanien ist für die Wissenschaft vom „vergleichenden Regionalismusrecht“ ein besonders dankbares Arbeitsfeld. Vielleicht könnte ein spanischer Staatsrechtslehrer eines Tages „Regionalist Papers“ schreiben. f) Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird weltweit zu dem Kennzeichen der heutigen Entwicklungstufe des modernen Verfassungsstaates. Das Tribunal Constitucional in Madrid nimmt im Kreis der europäischen Verfassungsgerichte einen hohen Rang ein. Aus ganz Europa studieren Doktoranden dessen Judikatur. Gerade unter Präsident P. Cruz Villalón, der bei K. Hesse in Freiburg studiert hatte, lässt sich dies beobachten. Er ist seinerseits in Sachen deutsches Grundgesetz besonders fachkundig. 5 Aus der Lit: F. Balaguer Callejón (Coord.), El nuevo Estatuto de Andalucia, 2007; P. Häberle: Juristische Kultur in Katalonien, JöR 56 (2008), S. 503 ff. 6 Aus der Lit.: R. Bifulco, Le Regioni, 2004.

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g) In einer Art offenem Katalog könnten noch weitere zahlreiche Verfassungsthemen aufgelistet werden, die in jedem Verfassungsstaat, so auch in Spanien heute, wissenschaftlich, vor allem vergleichend zu behandeln sind und auch behandelt werden. Als Merkposten sei das Kulturverfassungsrecht erwähnt zu dessen Ergründung schon der Verfassungstext von 1978 viel Anlass gibt (vgl. Art. 25 Abs. 2, 44 und 48). Zuletzt sei das vom Verf. so genannte „Religionsverfassungsrecht“ erwähnt, das in Spanien zum Glück niemals den terminologischen Irrweg des sog. „Staatskirchenrechts“ wie in Deutschland ging. Wenn Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG sagt: „Es gibt keine Staatskirche“, so kann es auch kein Staatskirchenrecht geben. Das Vordringen des Islam als Religion in ganz Europa (in Frankreich schon an zweiter Stelle), gibt allen Grund von freiheitlichem Religionverfassungsrecht zu sprechen. Der einschlägige Art. 16 Abs. 2, 3 Spanische Verfassung enthält interessante Textelemente. Belege für viele der erwähnten Themen finden sich im folgenden Dritten Teil. III. Die Vielfalt möglicher Literaturgattungen (Auswahl) Vorbemerkung Eine nationale Rechtskultur zeichnet sich durch ihre Vielfalt der wissenschaftlichen Literaturgattungen aus. Gewiss, sie lassen sich nicht immer sauber voneinander trennen, so sind Lehrbücher gelegentlich zu Handbüchern geworden, Grundlagenaufsätze können sich auch in Zeitschriften finden. Thematisch ausgerichtete Festschriften können zu einem kleinen Handbuch werden. Dennoch seien die möglichen Literaturgattungen im Folgenden in Auswahl vorgestellt. 1. Die Monographie bleibt das „Herzstück“ rechtswissenschaftlicher Forschung. Denn sie zwingt den Autor, ein Thema grundsätzlich und nach allen Richtungen zu durchdenken, eine eigene Systematik zu entwickeln und nicht einfach schon Gedachtes zu kumulieren. Speziell in der Verfassungsrechtslehre dürfte die Monographie, vor allem in Deutschland nachweisbar, ihre Sonderstellung behalten, trotz aller monumentaler Handbücher und abundanter Sammelwerke. Man denke an den klassischen „Unitarischen Bundesstaat“ von K. Hesse (1962) oder an H. Hellers Staatslehre (1934). In Spanien blüht die Literaturgattung der Monographie und dies auch aus deutscher Sicht. Hier einige Bespiele: P. Cruz Villalón legte für seine Karriere, die ihn bis zum Präsidenten des Tribunal Constitucional in Madrid führte, die Basis durch sein Buch „La Formacion del sistema europeo de Control de Constitucionalidad (1918 – 1939)“, 1987 – dies war zugleich Ausdruck der beginnenden Verfassungsvergleichung in Spanien. Das zweibändige Standardwerk von F. Balaguer Callejon: „Fuentes del Derecho“, 1991, setzt diese große Tradition fort und bettet die spanische Staatsrechtslehre zugleich in den Kontext der wichtigsten nationalen Verfassungsrechtsgemeinschaften ein, auch sind klassische Monographien C. De Cabo: „La reforma constitucional“, 2003; J. Jiménez Campo: „Derechos fundamentales“, 1999. Genannt seien weitere Werke der nächsten Generation, die auch

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editorisch unter „monographias“ (bei Civitas, Tecnos, CEPCO, Tirant, etc.) firmieren, etwa (um die neue Schule des Verfassungsrechts in Granada zu berücksichtigen): J. M. Porras Ramirez, „Libertad Religiosa, Laicidad y Cooperation von Las Confesiones en el Estado Democratico de Derecho“, 2006, E. Gullién López, „La Continuidad Parlamentaria“, 2002, sowie M. Azpitarte Sánchez, „El Tribunal Constitucional ante el controlo del Derecho Comunitario Derivado“, 2002. Aus der Schule von F. F. Segado sei exemplarisch genannt: J. Brage Camazano, „Los Limites a los Derechos fundamentales“, 2004. Mit diesen wenigen Beispielen ist auch schon die Themenvielfalt der spanischen Staatsrechtslehre angedeutet. 2. Lehrbücher sind ein wichtiges „Ferment“ im Wachstumsprozess verfassungsstaatlicher Verfassungen. Für das deutsche GG darf hier wiederum das Werk von K. Hesse „Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland“ als exemplarisch gelten (1. Aufl. 1966, 20. Aufl. 1995, Teilübersetzung betreut von P. Cruz Villalón, der neben A. Lopéz Pina7 ein spanisch-deutscher Brückenbauer ist). Die relativ junge spanische Verfassung von 1978 hat in manchen guten Lehrbüchern mehr als ein wissenschaftliches „Gefäß“ gefunden: so im zweibändigen Werk „Derecho Constitucional“, Coord. F. Balaguer Callejon, 1999, so im Lehrbuch von F. F. Segado. (Erwähnt sei auch J. P. Royo „Curso de Derecho Constitucional, 5. Aufl. 1999 oder A. Torres del Moral „Principios de Derecho Constitucional Espanol“, 4. Aufl. 1998 oder O. Alzaga, Derecho Político Español según la Constitución de 1978, 3. Aufl. 2002, nicht zu vergessen das klassische Werk von I. de Otto, Derecho Constitucional, 2. Aufl. Barcelona, 1995). In Deutschland gehört das Buch von K. Hesse inzwischen zur „Verfassungskultur“ des GG8. Gerade im Rückblick lässt sich dies besonders klar erkennen. (Die Kommentierungsleistung eines G. Dürig für Art. 1, 2 und 3 GG in den 50er Jahren bleibt ebenfalls konstituierend.) Freilich können auch Lehrbücher „altern“, trotz aller Neuauflagen. Diese Erkenntnis gilt wohl für jede nationale Wissenschaftlergemeinschaft. Im gelingenden Fall werden sie zu „Klassikern“ auf deren „Riesen“-Schultern die späteren Generationen (mitunter als Zwerge) stehen: Eine Erscheinungsform des wissenschaftlichen Generationenvertrags. 3. Juristische Fach-Zeitschriften, seien sie allgemeiner Art (wie das AöR oder Der Staat), seien sie spezialisiert, sind für jede nationale Staatsrechtslehre unverzichtbar. Am Besten ist es wohl, wenn sie zwei- oder viermal pro Jahr erscheinen. Während in Deutschland die Zeitschriftenlandschaft sehr unübersichtlich geworden ist, kann Spanien auf eine Reihe sehr guter Zeitschriften mit unverwechselbar eigenem Programm blicken. Unter den älteren seien genannt: „Revista Española de Der-

7 Einen beispielhaften Brückenschlag zwischen Spanien und Deutschland leistet das von A. Lopéz Pina hrsgg. Handbuch des Spanischen Verfassungsrechts, 1993. Ähnliches gelang in Gestalt der Übersetzung von Teilen des Handbuchs des Verfassungsrechts, hrsgg. von E. Benda u. a., 1994 (auf Spanisch 1996 erschienen, betreut von A. Lopéz Pina, 2. Auflage 2001). 8 Zu K. Hesse: P. Häberle, Zum Tod von K. Hesse, AöR 130 (2005), S. 289 ff. In der spanischen Zeitung El Pais erschien 2005 ein Nachruf von A. Lopéz Pina (20. April 2005, S. 51).

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echo Constitucional“ (Madrid), „Revista de Derecho Comunitario Europeo“ (Madrid), „Revista de Estudios Politicos“ (Madrid); unter den jüngeren „Revista de Derecho Constitucional Europeo“ (Granada), „Teoría y Realidad Constitucional“ (Madrid) und „Derechos y libertades“ (Madrid). Viel Aufmerksamkeit verdient auch die in Valencia erscheinende Zeitschrift „Cuadernos Constitucionales“ sowie die „Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad de Granada“ (z. B. mit dem Themenheft 9 / 2006 über Europa). Auch die Zeitschrift „Patrimonio Cultural y Derecho“ sei genannt, ebenso „Contrastes“ (Málaga). Etwas ganz eigenes gelingt seit Jahrzehnten dem „Anuario de Derecho Constitucional y Parlamentario“ (Murcia): Die Sparte „wissenschaftliche Interviews“ mit großen Namen aus ganz Europa G. Canotilho, K. Hesse; auch der Verf. dieser Zeilen kam zu Wort (dank F. Balaguer Callejon: 1997 / 9, S. 9 ff.). Überhaupt ist es wichtig, dass eine Zeitschrift durch mindestens eine Besonderheit Profil gewinnt. Der „Revista de Derecho Constitucional Europeo“ gelingt dies etwa durch die Rubrik „Textos classicos“ (z. B. 5 / 2006, S. 239 ff.: H. Ehmke: Economia y Constitucion). Im Zuge der Europäisierung der nationalen Verfassungsrechte wird es auch wichtig, dass die Redaktionen Autoren aus vielen europäischen Ländern Raum geben und Übersetzungen initiieren. Dieses Ziel verfolgt etwa die Zeitschrift in Sevilla konsequent (Autoren der letzten Jahre waren hier z. B. G. Zagrebelsky, A. D’Atena sowie J. Luther aus Italien); Gleiches gilt für das Jahrbuch „Fundamentos“ (Oviedo), herausgegeben von F. J. Bastida (es hat bei uns im JöR sein Gegenstück). 4. Festschriften können ein Spiegel des Niveaus einer nationalen bzw. europäischen Wissenschaftlergemeinschaft sein, sofern sie sich auf einen großen Autor, den Jubilar, fokussieren und nicht bloße Gelegenheitsarbeiten beinhalten. Eine gelungene Festschrift ist etwa die Ruiz Rico in Granada 1999 gewidmete oder I. de Otto in Oviedo 1991, Rubio Llorente in Madrid 2002, García Morillo in Valencia 2001 zugedachte „Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten“9 ist ein eigenes Thema. In Deutschland gibt es Festschriften, deren Grundsatzbeiträge im Laufe der Zeit klassischen Rang gewonnen haben (etwa R. Smend, in Festschrift O. Mayer, 1916, S. 245 ff. in Sachen Bundestreue – bekanntlich auch für Spanien relevant – oder ders., in Gedächtnisschrift W. Jellinek in Sachen Öffentlichkeit, 1954). Der „teilnehmende Beobachter“ wie der Verf. kann dies im Blick auf die spanische Festschriftenliteratur allerdings noch nicht beurteilen, doch ist er sehr dankbar dafür, dass er selbst 2004 mit einer spanischen Festschrift geehrt worden ist: „Derecho y Cultura“ (Coord. F. Balaguer Callejon). Die Doktorandenkurse über Europa sind ihm besonders präsent. 5. Einige sonstige rechtswissenschaftliche Literaturgattungen gehören zum Gesamtbild der Wissenschafts- und Rechtskultur eines politischen Gemeinwesens. Dies gilt etwa für den Sammelband aus der Hand eines einzigen Autors. Ein präg-

9

Dazu der Verf. in AöR 105 (1980), S. 652 ff.

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nantes Beispiel liefert P. Cruz Villalón: „La curiosidad del jurista persa, y otros estudios sobre la Constitucion“, 1999 (2. Aufl. 2006) oder F. Rubio Llorente, La forma del poder, 1993 (2. Aufl. 1997). Denkbar und üblich sind auch Sammelwerke verschiedener Autoren, z. B. F. F. Segado (editor), „The Spanish Constitution in the European Constitutional Context“, 2003, mit Beiträgen von Autoren aus vielen europäischen Ländern, oder E. Espin Templado, „La Constitucion de 1978 y la Comunidades Autonomas“, 2003. Erwähnt sei auch A.-E. Peréz Luño (Coord.), „Derechos Humanos y Constitucionalismo“, 1996, sowie C. Ruiz Miguel (Coord.) „Estudios sobre la Carta de los Derechos Fundamentales de la Unión Europeo“, 2004, auch P. Cruz Villalon (Coord.) „Hacia la Europeización de la Constitucion Española“, 2006. Bereichernd und unentbehrlich zugleich sind Textausgaben. Hier darf der „Codigo Autonomico Recopilacion sistematica de los Estatutos de Autonomia“, 2003, von A. Ruiz Robledo Aufmerksamkeit beanspruchen. Auch die eben erschienene Kommentierung des Statuts von Andalusien (2006), 2007, durch einen Autorenkreis in Granada (Coord. F. Balaguer Callejon) gehört hierher: „El nuevo Estatudo de Andalucia“. Ebenso vorbildlich wie „spanisch“ ist die eigene Kategorie der „Vorwort-Literatur“10: Ältere Gelehrte zeichnen die „Novizen der Wissenschaft“ mit einem Vorwort zu ihrem Erstlingswerk aus. In Deutschland findet sich diese Tradition kaum. Für den ausländischen Beobachter faszinierend ist schließlich die eigene Jahrbuch-Tradition des Tribunal Constitucional in Madrid (z. B. „Memoria“, 2000, oder „Memoria“, 2005). Diese jährlichen Rechenschaftsberichte haben Vorbildcharakter. Sie sollten von anderen nationalen Verfassungsgerichten in Europa übernommen und weiterentwickelt werden. Sie spiegeln die Aktivitäten des Gerichts in einer für die Wissenschaft sehr nützlichen Weise, es entsteht Transparenz (in Rom gibt es etwa regelmäßige Seminare11 an der dortigen „Corte“12; das deutsche „Karlsruhe“ leistet nichts dergleichen). Das spanische Verfassungsgericht gibt sogar eine eigene Schriftenreihe der Tagungen der wissenschaftlichen Mitarbeiter heraus (z. B. 170 / 2006 „El Estado autonómico“).

10 Vorwort-Literatur z. B. P. Häberle zu M. L. Balaguer Callejón, Interpretación de la Constitución y ordamiento Juridico, 1997, S. 13 f.: J. A. Montilla Martos, Minoria Politica, 2002, S. 10 ff.: A. Jimenez-Blanco zu F. de Borja López-Jurado Escribano, La autonomia de las Universidades como derecho fundamental, 1991. 11 Allgemein erwähnt seien Tagungsbände von Wissenschaftlergemeinschaften, so etwa: A. López Pina (Hrsg.), División de Poderes e Interpretatción, 1987; ders. (Hrsg.), La garantia constitucional de los derechos fundamentales, 1991. 12 Z. B. zu Ehren des Verf. (2005) dokumentiert, in: L. Franchi (a cura di), Lo Stato costituzional, I fundamenti e la tutela, 2006 (Roma).

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Ausblick Diese Zeilen wollen nur eine Skizze sein. Sie sollen dazu anregen, dass Deutschland die spanische Staatsrechtslehre noch stärker zur Kenntnis nimmt 13 und umgekehrt die spanischen Kollegen sehen, dass wir Deutsche die hohe Qualität der spanischen Staatsrechtslehre kennen und aus ihr großen Gewinn ziehen. Bei all dem geht es nicht nur um „Lektüre“ von Publikationen. Unverzichtbar neben dem Literaturaustausch bleiben persönliche Begegnungen: sei es auf Kongressen oder – was noch besser ist – in engeren Kreisen, wie es dem Verf. dieses Gedächtnisblattes mit dem verstorbenen Gelehrten José-Juan González Encinar vergönnt war. José-Juan González Encinar hatte in den letzten Jahren sogar noch Übersetzungsprojekte mit mir geplant. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Der in dieser Gedächtnisschrift versammelte Gelehrtenkreis über Spanien hinaus mag dazu beitragen, ihm ein würdiges Gedächtnis zu bewahren.

13 Eigens verwiesen sie auf den Beitrag des Verf. in JöR 51 (2003), S. 587 ff.: „Die Vorbildlichkeit der Spanischen Verfassung von 1978 aus gemeineuropäischer Sicht“. S. zuletzt noch vom selben Verf.: Föderalismus / Regionalismus – eine Modellstruktur des Verfassungsstaates – Deutsche Erfahrungen und Vorhaben – Memorandum für ein spanisches Projekt, JöR 54 (2006), S. 559 ff.

2. Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat – Vorwort zur brasilianischen Ausgabe (2008)* I. Dieses Vorwort muss mit einem Dankeswort in zweifacher Hinsicht beginnen, einem speziellen und einem allgemeinen. Der spezielle Dank gilt der Initiative des Verlagshauses S. A. di Fabris und seines Inhabers, das aktualisierte Buch „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1995 / 2001) ins Portugiesische zu übersetzen – zuvor war im selben Verlag eine meisterhafte Übersetzung der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ dank Präsident G. F. Mendes (Brasilia) erschienen („Hermeneutica Constitucional“, 1997, Nachdruck 2002). Dank gebührt überdies dem umsichtigen und schon vielfach bewährten Übersetzer von heute: Herrn Magister des Deutschen Rechts U. Carvelli (Köln), der sowohl durch tiefe Kenntnis der deutschen Rechtswissenschaft als auch durch andere Übersetzungsprojekte ausgewiesen ist. Es ist ein Glücksfall, dass der Verlag diesen ebenso sensiblen wie souveränen Übersetzer gefunden hat, der des Deutschen mächtig ist wie wenige andere brasilianische Juristen. Der allgemeine Dank gilt der brasilianischen Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat. Die deutsche Staatsrechtslehre steht mit ihr in den Sachthemen und personell seit geraumer Zeit in einem intensiven Austausch. So erschien in dem von mir herausgegebenen Jahrbuch des öffentlichen Rechts eine frühe Übersetzung der bemerkenswerten Verfassung Brasiliens von 1988 (JöR 38 (1989), S. 462 ff.), betreut von W. Paul; so wird in diesen Tagen die Übersetzung des Bandes der „Conversaciones Académicas con Peter Häberle“ (UNAM Mexiko 2006) veröffentlicht, betreut von D. Valadés, in portugiesischer Sprache (dank Herrn Präsidenten G. F. Mendes), und so hat vor 2 Jahren I. Sarlet einen Sammelband über die Menschenwürde (Dimensões da Dignidade, 2005, S. 89 ff.) publiziert, in dem neben dem Verfasser selbst auch andere deutsche Stimmen zu Wort kamen. Erwähnt sei auch das Interview in „Consulex“, das dankenswerterweise von Pedro de Mello Aleixo Scherer übersetzt worden ist (15. Sept. 2006, Nr. 232, S. 9 ff.). Dankbar erwähnt sei der von M. A. Maliska vorbildlich betreute Band „Estado Constitucional cooperativo“, 2007. Der „Doyen“ des brasilianischen Staatsrechtlers P. Bonavides ist in Deutschland wohl bekannt. Die Gastfreundschaft, die der Verf. im September

* Erschienen in portugisischer Sprache: Os Problemas da Verdade no Estado Constitucional, Porto Alegre, 2008. – Deutsche Erstveröffentlichung.

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2006 während seiner Brasilien-Reise in Fortalezza, Brasilia, Porto Alegre und Sao Paolo sowie Florianopolis erfahren durfte, bleibt unvergessen. Übersetzungen sind der „Kunst des Dienens“ verpflichtet, indes haben sie auch etwas Schöpferisches, verlangen sie doch hohes Einfühlungsvermögen, auch in der Rechts- und Wissenschaftschaftssprache, und sie sind gewiss ein anstrengendes Unterfangen: freilich kein undankbares, denn der Verfasser dieses Vorworts fühlt sich Herrn U. Carvelli zutiefst verpflichtet. Angesichts des „annus mirabilis“ 1989 in Sachen Verfassungsstaat, das freilich fast dialektisch durch das „annus horribilis“ 2001 konterkariert wurde, bedarf es eines intensiven Austausches zwischen allen Wissenschaftlergemeinschaften, die sich dem Typus Verfassungsstaat verpflichtet fühlen. Fast weltweit lassen sich heute Rezeptionen und Produktionen beobachten: in Gestalt des Austausches der Trias von Verfassungstexten, Theorien und Praxis (vor allem der Verfassungsgerichte). Dabei gibt es keine „Einbahnstraßen“: auch von jungen Verfassungsstaaten wie Kolumbien und Brasilien kann das „alte Europa“ lernen. Die in diesem Buch behandelten „Wahrheitskommissionen“ sind ein gutes Beispiel. Das „ewige Projekt“ des „Ewigen Friedens“ i. S. von I. Kant (1795) muss seinen Angelpunkt im ewigen Ringen um den Verfassungsstaat und seine Fundamente suchen und finden. Völkerrecht, verstanden als „konstitutionelles Menschheitsrecht“ (P. Häberle), braucht den Verfassungsstaat als Garanten und eine nach Wahrheit strebende Weltöffentlichkeit als Forum. Der einzelne nationale Staatsrechtslehrer vermag hier einen nur kleinen Beitrag zu leisten – der sich freilich dank des Gesprächs mit anderen Staatsrechtslehrern aus fernen Weltgegenden intensivieren kann. Solange Lateinamerika noch keinen „Alexander von Humboldt der Rechtswissenschaft“ hat, muss Schritt für Schritt vorgegangen werden. Dazu dient vielleicht auch die hier publizierte kleine Monographie.

II. Im Folgenden sei in kleinen Stichworten auf die anhaltende Aktualität des Themas „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ hingewiesen. So lässt sie sich in vielen Politikfeldern, in vielen Wissenschaften und in der Kunst nachweisen. Dabei kann es sich dem bescheidenen Anspruch eines „Vorworts“ gemäß nicht um eine Fortschreibung im Ganzen handeln. Nur ausschnittsweise lassen sich erstaunliche neue und alte Problemfelder skizzieren. Im Einzelnen: An Beispielen aus der „großen Politik“ seien genannt: in Europa die Kontroverse um die Armenien-Resolution des Französischen Parlaments von 2001, in der die Massentötungen von Armeniern im Jahre 1915 als „Völkermord“ bezeichnet werden, denn hier geht es um Wahrheit oder Lüge (aus der Presse etwa FAZ vom 5. April 2001, S. 54: „Langer Gang am Bosporus“); genannt sei auch das Stichwort „Katyn“, d. h. die Massenermordung von Polen durch die Sowjetunion (vgl. FAZ vom

III. /2. Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat

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22. Oktober 2001, S. 9: „Katyn: Nur einen Teil zugeben, Zum Umgang mit der Wahrheit in der Sowjetunion“). Genannt sei für und in Deutschland die sog. „Gauck-Behörde“, die das Unrecht des Staatssicherheitsdienstes der DDR bzw. SED („Stasi“) aufzuarbeiten hatte (dazu FAZ vom 30. September 2000, S. 4: „Der Organisator (sc. Gauck) der Wahrheitsfindung nimmt Abschied von den Akten“). Ein Blick in die jüngste Zeitgeschichte führt nach Russland. Angesichts des Terrors in Beslan (seitens tschetschenischer Widerstandskämpfer) hatten sich die russischen Behörden in offenkundige Lügen verstrickt, diverse Anschläge wurden verharmlost (vgl. FAZ vom 10. September 2004, S. 3: „Eine Kette von Lügen im Sommer des Terrors, Desinformationen aus Moskau“). Schließlich verdient Marokko Aufmerksamkeit. Die glückliche verfassungsstaatliche Erfindung der „Wahrheitskommission“ als neuer Institution hat dort Fuß gefasst (vgl. FAZ vom 13. Februar 2006, S. 3: „Marokko stellt sich seinen ‚bleiernen Jahren’, Mohammed VI. reagiert auf den Bericht einer Wahrheitskommission und setzt eine vorsichtige Liberalisierung fort“. (Aus der Lit. zu Südafrika: P. K. Rakate, The Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report: A Review Essay, VRÜ 33 (2000), S. 371 ff.) Im Folgenden seien Stichworte bzw. Problembereiche aus den Wissenschaften namhaft gemacht. Die Theologie, und sie ist nicht nur nach deutschem Selbstverständnis eine „Wissenschaft“, hat große Texte zum Thema beigesteuert. Das gilt etwa für die Enzyklika „Fides et Ratio“ von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 1998. Gleich eingangs (in einer Art Präambel) heißt es: „Glaube und Vernunft (Fides et Ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt“. In den einzelnen Abschnitten bzw. Ziffern ist der Wahrheit ein zentraler Platz eingeräumt: vgl. Ziff. 1: „Weg, der im Laufe der Jahrhunderte die Menschheit fortschreitend zur Begegnung mit der Wahrheit … geführt hat“; Ziff. 2: „Dienst aus der Wahrheit“; Ziff. 25 „Gegenstand dieses Strebens (nach Wissen) ist die Wahrheit“; vor Ziff. 28. „Die verschiedenen Gesichter der Wahrheit des Menschen“; Ziff. 29: die „Sehnsucht nach Wahrheit“. Der neue Papst Benedikt XVI. hat sich 1977 bei seiner Bischofsweihe im Münchner Dom den Wahlspruch ausgesucht: „Mitarbeiter der Wahrheit“. In der Politischen Wissenschaft hat der St. Galler Doyen dieses „Faches“ A. Riklin seine Abschiedsvorlesung dem Thema „Wahrhaftigkeit in der Politik“ gewidmet (2001). Freilich provoziert auch ein Aufsatz wie der von U. Greiner „Macht und Lüge sind unzertrennlich“, in: Die Zeit vom 17. Februar 2000, S. 4. In der Staatsrechtslehre hat der ehemalige österreichische Verfassungsrichter S. Morscher in dem Band „Philosophie im Geiste Bolzanos“ (hrsgg. von A. Hieke / O. Neumaier, 2003, S. 243 ff.) ein Thema gewählt, das fast ein typisches „Altersthema“ ist: „Zu einigen, ‚ewigen Wahrheiten‘ der Staatsrechtslehre“. Ein eigenes Anwendungsfeld hat das Thema speziell in Deutschland gefunden: bei der Frage der Sanktionen gegenüber wissenschaftlichem Fehlverhalten. Der deutsche Hochschulverband hat dazu eine Resolution verfasst (5. April 2000) und mit Erfolg die Einrichtung von unabhängigen Kommissionen an allen Hochschulen

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gefordert. Gegeißelt wird die „wissenschaftliche Unredlichkeit“, etwa durch Fälschung von Daten, unberechtigte Nutzung fremden geistigen Eigentums oder Behinderung der Forschungstätigkeit anderer (vgl. die Zeitschrift Forchung und Lehre 6 / 2000, S. 292). Der Verf. dieser Zeilen war von 2001 bis 2006 in Bayreuth Mitglied einer solchen Kommission der Universität. Im Grunde handelt es sich um eine der Wissenschaft gewidmete spezielle Wahrheitskommission. In Portugal hat sich jüngst C. Queiroz des Themas angenommen: A Verdade e as Formas Jurídicas, FS I. de Magalhães Collaço, 2006, Bd. II. S. 921 ff. Gerade in Deutschland bleibt das Wahrheitsproblem auf der Tagesordnung der Rechtswissenschaft: vor allem im Blick auf die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens (dazu gleichnamig das Buch von T. Wandres, 2000; s. auch A. Koch, Zur Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“ im Internet: BGHSt 46, 212, in: JuS 2002, S. 123 ff.). Ältere und neuere Publikationen seien zuletzt erwähnt: D. Patterson, Recht und Wahrheit, 1999, und O. Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005. Ein Sammelband von R. Leicht, einem Journalisten und Juristen, trägt den Titel: „In Wahrheit frei“ (2006). Auf der europäischen Ebene der EU musste die Nachricht erschrecken, dass sich Griechenland seinen Euro-Beitritt „erschwindelt“ hatte (FAZ vom 16. November 2004, S. 11), denn sein Haushaltsdefizit lag zwischen 1997 und 1999 über der festgelegten Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Beruhigend ist, dass sich das deutsche BVerfG im neuesten Urteil vom 9. Juli 2007, 2 BvF 1 / 04, auf das Gebot der Wahrheit und Vollständigkeit des Haushaltsplanes festgelegt hat (FAZ vom 10. Juli 2007, S. 1). Vergegenwärtigt man sich die jüngst eingestandene Lebenslüge des großen deutschen Dichters G. Grass in Sachen seiner SS-Zugehörigkeit einerseits (er hatte jahrzehntelang als das „Gewissen der deutschen Nation“ gegolten, umso größer war die Enttäuschung seiner Leser bzw. Verehrer vor zwei Jahren, wozu auch der Verf. gehörte), andererseits den Umgang der USA mit der in der Vergangenheit zerstörten Indianer-Kultur (dazu FAZ vom 5. Okt. 2004, S. 36: „Die große Lüge“, aus Anlass eines neuen Museums für die Indianer in Washington), so ergibt sich Folgendes: Das Wahrheitsthema ist ein Menschheitsthema und sogleich ein Thema für jeden einzelnen Menschen in all seiner prekären persönlichen Existenz. Darum bleibt es ein Thema für alle Wissenschaften, vor allem für eine als Kulturwissenschaft verstandene Verfassungslehre in „weltbürgerlicher Absicht“, um die der Verf. seit 1982 ringt.

3. Vorwort für Dr. Rubén Sánchez Gil (2009)* Das Lüth-Urteil des BVerfG von 1958 als Klassikertext des deutschen Verfassungsstaates und pionierhafte Entwicklungsstufe des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung Einleitung „Vorwortliteratur“ hat in spanischsprachigen Ländern eine große Tradition. „Novizen“ der Rechtswissenschaft erfahren durch ältere Gelehrte Ermutigung und Förderung: im Sinne eines wissenschaftlichen Generationenvertrags. Auch in Italien gibt es diesen schönen Brauch. In Deutschland kommen Vorworte dieser Art bislang selten vor (doch durfte der Verfasser dieser Zeilen gerade in jüngster Zeit in romanischen Ländern mehrere Vorworte schreiben). Um so lieber entspricht er hier und heute dem Wunsch von Herrn Dr. Rubén Sánchez Gil sein bemerkenswertes Buch zum Lüth-Urteil des deutschen BVerfG (E 7, 198) zu präsentieren. Damit wird auch eine Brücke nach Mexiko und dessen lebendiger Wissenschaftlergemeinschaft geschlagen. Der Autor dieses Vorworts blickt dankbar auf eine langjährige freundschaftliche Verbundenheit mit den Professoren D. Valadés und H. Fix-Fierro, auch H. Fix-Zamudio zurück (alle von der UNAM in Mexiko City). Wohl einzigartig ist, dass ein junger mexikanischer Gelehrter aus Anlass des 50jährigen Jubiläums einer Entscheidung des deutschen BVerfG eine Monographie widmet. Dies zeigt, wie international die gemeinsame Arbeit für den und am Typus „Verfassungsstaat“ heute geworden ist. Man darf von „Produktions- und Rezeptionsverhältnissen“ in Bezug auf die Trias von Texten, Theorien und Praxis, insbesondere Urteile von Gerichten, sprechen. Im vorliegenden Falle könnte die vergleichende Verfassungsrechtswissenschaft einen bleibenden Beitrag zur Rezeption der Grundgedanken einer großen Entscheidung des deutschen BVerfG leisten. Speziell in Mexiko könnte sich die Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ erweisen, wie dies der Verfasser dieser Zeilen seit 1989 immer wieder vorgeschlagen hat. Welche Urteile eines Verfassungsgerichtes „groß“ sind und „klassisch“ sind bzw. werden, lässt sich oft erst im Nachhinein beurteilen. Ein Indiz dafür ist das auch vom BVerfG gern verwendete Kürzel „ständige Rechtsprechung“. Eine vergleichende Umschau in Raum und Zeit könnte nicht wenige Judikate nennen, die dem * Deutsche Erstveröffentlichung. Spanische Übersetzung i. E. (Mexiko).

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hohen Rang des deutschen Lüth-Urteils entsprechen. Erwähnt sei das Urteil des US-Supreme-Court Marbury vs. Madison (1803) oder die Handyside-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg (1977). Aus der Judikatur des EuGH wäre etwa die Standardentscheidung „Costa E.N.E.L.“ (1964) zu nennen. Speziell das BVerfG hat in seiner frühen Pionierzeit seit 1951 eine Reihe klassisch gewordener Entscheidungen gefällt. Erinnert sei an das Urteil von 1957 in Band E 6, 309 (361 f.) zur „Bundestreue“, in einer späteren Entscheidung, nämlich im ersten Fernsehurteil von 1961 E 12, 205 (254 ff.) unter ausdrücklichem Hinweis auf den wissenschaftlichen Schöpfer dieser Idee Rudolf Smend (1916) präzisiert. Das erste Fernsehurteil aus dem Jahre 1961 (E 12, 205) gehört ohne Zweifel ebenfalls zu den Entscheidungen, die in einem Jubiläumsjahr vom Ausland her gewürdigt werden könnten. Es geht um das Postulat der pluralistischen Strukturierung des Fernsehens, insbesondere um die neuen richterrechtlichen Begriffe von „Binnenpluralismus“ und „Außenpluralismus“. Der große BVerfG-Richter K. Hesse hat später die Idee der „Grundversorgung“ (E 73, 118 (157 f.)) geprägt als Rechtfertigung für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, Stichwort „duales System“. Zahlreiche weitere Fernsehurteile des BVerfG haben zu einer ständigen Rechtsprechung geführt, die ein Stück weit punktuelle Verfassunggebung ist. Die Grundideen dieser ständigen Rechtsprechung des BVerfG sind zum Teil europaweit rezipiert worden: sowohl durch Gerichte als auch durch Verfassunggeber (z. B. Art. 20 Abs. 3 Verf. Spanien: „Pluralismus“). Weitere Leitentscheidungen, die in Deutschland große Traditionen begründet haben, sind das „Apothekenurteil“ (BVerfG E 7, 377) aus dem Jahre 1958 mit seiner differenzierten Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie der Beschluss zur Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG (BVerfG E 12, 45) aus dem Jahre 1960, in dem das Gericht seine „Menschenbildjudikatur“ begründet hat (ebd. S. 51). Der Band von Dr. Rubén Sánchez verdient viel Lob und Aufmerksamkeit über Mexiko hinaus. Das deutsche Lüth-Urteil wird gründlich analysiert und systematisch erfasst. Der Verfasser hielt sich mehrere Wochen an meiner Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht in Bayreuth auf (2006) und hat sich auch in dieser Zeit mit den deutschen Leistungen in der Verfassungsrechtswissenschaft vertraut gemacht.

I. Verfahrensrechtliche Fragen Begonnen sei mit der Frage, welcher Senat des BVerfG für die Verfassungsbeschwerde zuständig war bzw. ist. Es handelt sich um den Ersten Senat (§§ 13 Ziff. 4a, 14 Abs. 1 BVerfGG), der 1958 hochkarätig besetzt war. In ihm wirkten unter anderem J. Wintrich als Präsident sowie die bekannten Richter K. Heck, Prof. M. Drath, E. Stein, T. Ritterspach und als erste Bundesverfassungsrichterin Frau E. Scheffler. Präsident J. Wintrich war bereits durch eine wissenschaftliche Publikation über die Grundrechte hervorgetreten (1957).

III./3. Vorwort für Dr. Rubén Sánchez Gil

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Die Verfassungsbeschwerde war zu jener Zeit zunächst nur in § 90 BVerfGG geregelt. Erst später wurde sie durch eine Grundgesetzrevision auf die Höhe der Verfassung gehoben (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 a GG aus dem Jahre 1969). Diese Hochzonung war konsequent. Denn in kurzer Zeit hat sich das deutsche BVerfG gerade durch die Verfassungsbeschwerde besonders legitimiert. Nach Ansicht des Verfasser dieses Vorworts macht gerade die Verfassungsbeschwerde das deutsche BVerfG zum „Bürgergericht par excellence“. Für das Ausland ist bemerkenswert, dass das deutsche Recht die Verfassungsbeschwerde eben auch gegen Akte der Dritten Gewalt, dass heißt gegen die Rechtsprechung eröffnet.

II. Materiellrechtliche Grundsatzfragen Viele Themenfelder und prätorische Leistungen gerade im Lüth-Urteil seien im Folgenden aus deutscher Sicht kursorisch aufgelistet, auch wenn sie der Autor Rubén Sánchez aus seiner Sicht vorbildlich herausarbeitet: – Die deutsche Theorie der Grundrechte hat durch das Lüth-Urteil einen überaus schöpferischen Impuls erfahren. Zwar heißt es schon im Beschluss des Ersten Senats aus dem Jahre 1957 (E 6, 55) in Leitsatz 5: „Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht nur ein ‚klassisches Grundrecht‘ zum Schutze der spezifischen Privatsphäre von Ehe und Familie sowie Institutsgarantie, sondern darüber hinaus zugleich eine Grundsatznorm, das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familien betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.“ Und auf diesem die Grundrechte mehrdimensional verstehenden Ansatz baut das Lüth-Urteil erkennbar auf, wenn es sagt (S. 204): „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“. Methodisch beruft sich das BVerfG auf die „geistesgeschichtliche Entwicklung der Grundrechtsidee“ bzw. auf „die Verfassungen der einzelnen Staaten“. Mit dem letzten Passus leistet das BVerfG eine Rechtsvergleichung in Raum und Zeit. Methodologisch geht es ähnlich vor, wenn es an späterer Stelle (S. 208) für das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auf Art. 11 der Französischen Erklärung von 1789 verweist und überdies einen Klassikertext von Cardozo zitiert. Auf S. 207 ist auch in Parenthese eingefügt: „wie schon in der Weimarer Verfassung“. – Der entscheidende Schritt im Rahmen der Grundrechtstheorie findet sich in Gestalt der Qualifizierung der Grundrechte als „objektive Wertordnung“ und „Wertsystem“ (S. 205). Später ist überdies von den „grundrechtlichen Wertmaßstäben“ die Rede (S. 206). Dieser wertorientierte Standpunkt kann gar nicht überschätzt werden, er geht wohl auf das Denken von J. Wintrich und G. Dürig zurück, wobei bei beiden Autoren (gewiss im Interesse der Distanzierung von der totalitären Vergangenheit) das christliche Naturrecht und / oder die Wertphilosophie von M. Scheler bewusst oder unbewusst gewirkt haben dürften. Spätere Kritik von

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4. Teil: Varia

Seiten eines C. Schmitt („Die Tyrannei der Werte“) oder sogar von E. Forsthoff (1959) blieb zum Glück ohne Wirkung. Andere Nationen haben keinerlei Schwierigkeiten damit, für ihre Verfassungen das Denken in Werten in Anspruch zu nehmen (z. B. Präambel Verf. Polen von 1997). Besonders das neue Europäische Verfassungsrecht spricht vielfältig von „Werten“ (z. B. Präambel der EUGrundrechtecharta von 2000). – Die Hochwertigkeit des Grundrechtes der Meinungsfreiheit gerade in der Demokratie ist dauerhaft und überzeugend begründet. Das zeigt sich etwa auch auf S. 208 in dem Satz, „der besondere Wertgehalt“ des Grundrechtes der Meinungsfreiheit spreche in der „freiheitlichen Demokratie“ für eine „grundsätzliche Vermutung“ für die „Freiheit der Rede“ (siehe auch S. 209: „wertsetzende Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat“). Dem Lüth-Urteil liegt ja eine sehr politische Fallgestaltung zu Grunde (V.-Harlan-Film „Jud Süß“ von 1943). – Das Urteil eröffnet der späteren wissenschaftlichen Dogmatik die Lehre vom „Doppelcharakter der Grundrechte“ (P. Häberle, 1962) den Weg, das heißt: die Unterscheidung von individualrechtlicher und objektivrechtlich-institutioneller Dimension der Grundrechte. Das führende Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, die „Grundzüge“ von K. Hesse (1. Aufl. 1966), 20. Aufl. 1995) hat diesen Ansatz übernommen. Zahlreiche neuere Verfassungstexte bedienen sich der Erkenntnis, dass Grundrechte auch in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension geschützt sind (z. B. Art. 58 ff., 63 ff., 73 ff. Verf. Portugal, Art. 27, 39, 43, 44 Verf. Spanien). Die damit zusammenhängende vom BVerfG erarbeitete Schutzpflichtendimension gehört in das Gesamtbild (E 39, 1 (36 ff., 42 ff.) – Schwangerschaftsabbruch). – Die „Ausstrahlungswirkung der Grundrechte“ hat ebenfalls Karriere gemacht. In Literatur und Rechtsprechung wird sie zwar gelegentlich kritisiert, doch ist sie seit BVerfGE 7, 198 (207) ebenso richtig wie herrschend. Im Lüth-Urteil geht es um die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht. Der Generalklausel-Charakter der Grundrechte verhilft zu dieser Wirkung. Hinzu kommt die schöne Formulierung (S. 205): „Jede bürgerlich-rechtliche Vorschrift“ müsse im „Geiste“ „dieses Wertsystems“ ausgelegt werden. Damit ist eine glückliche Anlehnung an Montesquieu (1748) und neuere „Geistklauseln“ in jungen Verfassungen gelungen. – Die sogenannte (mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte (eine Wortschöpfung von H. P. Ipsen), also die Wirkung der Grundrechte nicht nur „vertikal“ gegen den Staat, sondern auch „horizontal“ gegen gesellschaftliche Gruppen (das GG als normative Grundordnung für Staat und Gesellschaft!), ist mit Hilfe der großen Grundrechtsdogmatik von G. Dürig begründet. Er hat 1956 mit Recht die Generalklauseln des bürgerlichen Rechts als „Einbruchstellen der Grundrechte“ qualifiziert. Das Ganze gleicht freilich einer Gratwanderung: bei aller Ausstrahlungswirkung der Grundrechte darf das BVerfG nicht zur „Superrevisions“-Instanz ge-

III./3. Vorwort für Dr. Rubén Sánchez Gil

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genüber den Zivilgerichten werden (vgl. S. 207). Der Verfassungsrichter muss aus funktionellrechtlichen Gründen die Propria des Privatrechts respektieren, er darf nur Verletzungen „spezifischen Verfassungsrechts“ rügen. – Die Ermittlung der Grenzen des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG (Art. 5 Abs. 2 GG lautet: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze …“) bzw. der Grundrechte überhaupt gehört in jedem Verfassungsstaat zu den schwierigsten Aufgaben. Das BVerfG entschließt sich früh für eine „Güterabwägung“ (vgl. S. 205 f.). Es beruft sich dabei auf schon klassische Beiträge der Weimarer Staatsrechtslehre, insbesondere das berühmte Heft 4 (1928) der VVDStRL. Der Durchbruch zur Güterabwägung ist in dem Referat von R. Smend angelegt: VVDStRL 4 (1928), S. 44 (51 ff.). In der späteren Literatur wurde von manchen deutschen Autoren die Tauglichkeit der Güterabwägung bei der Fixierung der Grenzen von Grundrechten zwar immer wieder in Frage gestellt, doch ist sie als Abwägung im Einzelfall unverzichtbar. Dies nachzuweisen hat der Verfasser dieser Zeilen schon in seiner Freiburger Dissertation über den Wesensgehalt der Grundrechte versucht (1. Aufl. 1962, S. 70 ff., 3. Aufl. 1983, S. 334). Der Sache nach geht es bei allen Grundrechtsbegrenzungen um eine Bewertung der in Frage stehenden Rechtsgüter bzw. Prinzipien und ihre Abwägung (Grundsatz der Verhältnismäßgkeit, verfassungskonforme Auslegung; „Wechselwirkungstheorie“: Die allgemeinen begrenzenden Gesetze werden im Lichte der „wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts“ ausgelegt und so in ihrer begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt). Von K. Hesse stammt in diesem Geiste die schon klassische Formel von der „praktischen Konkordanz“, von P. Lerche das Wort vom „schonendsten Ausgleich“. Auch die Kunst deutet dies an, wenn sie die Justitia allegorisch seit Jahrhunderten mit einer „Waage“ darstellt. Spätestens der vom Verfasser seit 1982 unternommene kulturwissenschaftliche Ansatz darf auch solche Gerechtigkeitsbilder einbeziehen. Dies um so mehr, als das Lüth-Urteil auf S. 206 von der „Gesamtheit der Wertvorstellungen“ spricht, „die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat.“ Auch dieser Passus des Lüth-Urteils darf den Rang eines Klassikertextes beanspruchen. Er markiert ein großes Stück deutscher Verfassungs- bzw. Grundrechtsentwicklung.

III. Die Langzeitfolgen – Folgerungen Die Langzeitwirkung des Lüth-Urteils ist groß. In fünfzig Jahren ist es zu einem Klassikertext gereift: im Ganzen wie im Einzelnen. Unwiderrufbar begründet ist der in vielen neueren Verfassungen garantierte „Vorrang der Verfassung“ (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG speziell für die Grundrechte). Sowohl die Grundrechte als auch die freiheitliche Demokratie sind ein konstituierender Bestandteil des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland, die gerade „Sechzig Jahre Grundgesetz“ feiert, geworden. Es dürfte wenige Entscheidungen geben, die in solch intensiver Weise

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das hohe Prädikat „klassisch“ in Anspruch nehmen können. Die Wirkungsgeschichte des auch sprachlich dichten, ja brillanten Lüth-Urteils reicht weit über Deutschland hinaus und dürfte auch die Verfassungsgerichte in Rom und Madrid sowie die beiden europäischen Verfassungsgerichte in Luxemburg und Straßburg beeinflussen. Das deutsche BVerfG selbst hat sich mit dem Lüth-Urteil eine eigene weitreichende Kompetenz gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber und jeder Art von Gerichtsbarkeit verschafft. Es hat eine neue Textstufe der Meinungsfreiheit kreiert. Dass gerade ein junger mexikanischer Gelehrter eine ganze Monographie diesem großen Urteil des deutschen BVerfG widmet, ist ein weiterer Beleg für die Ausstrahlungswirkung eines nationalen Gerichts in der „Welt des Verfassungsstaates“. Möge es in Lateinamerika die verdiente Beachtung finden.

Literaturverzeichnis Dürig, Günter: Gesammelte Schriften 1952 – 1983, herausgegeben von H. Maurer, W. Schmitt Glaeser und P. Häberle, 1984; ebd. S. 319 ff. zum Lüth-Urteil. Häberle, Peter: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, 3. Aufl. 1983; Übersetzungen ins Spanische: La Libertad Fundamental en el Estado Constitucional, C. Landa, Lima 1997; Neue Übersetzung: La Garantía del Contenido Esencial de los Derechos Fundamentales, coord. F. Segado, Madrid 2003, Übersetzung von J. Brage de Camazano. – Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JöR 45 (1997), S. 89 ff.; in spanischer Übersetzung, in: Domingo G. Belaunde / Francisco Fernández Segado (coord.), La Jurisdiccion Constitucional en Iberoamerica, Madrid 1997, S. 225 ff., und in: Revista Jurídica de Macau, N.° Especial, O Direito de Amparo em Macau e em Direito Comparado, 1999, S. 175 ff. – Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. – Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998, in spanischer Teilübersetzung der 2. Auflage: Teoría de la Constitutión como ciencia de la cultura, 2000 (Übersetzung von E. Mikunda). – Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1. Aufl. 1987, 4. Aufl. 2008 (Übersetzung ins Spanische durch C. Landa, 1991). Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1966, 20. Aufl. 1995. Schulze-Fielitz, Helmuth: Das Lüth-Urteil – nach 50 Jahren, Jura 2008, S. 52 ff. Smend, Rudolf: Staatsrechtliche Abhandlungen und Andere Aufsätze, 1955, 2. Aufl. 1968, 3. Aufl. 1994. Wintrich, Josef Marquard: Zur Problematik der Grundrechte, 1957.

4. Vorwort zur brasilianischen Ausgabe von „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (2015)* Die brasilianische Ausgabe des Büchleins von 1981 verdankt sich einer freundlichen Initiative von Herrn Peter Naumann (Porto Alegre). Seit Jahren arbeite ich mit ihm zusammen, vor allem in wissenschaftlichen Kolloquien und Vorlesungen in Brasilien. Ich schätze seine souveräne Kunst, meine deutschen Texte sensibel ins Portugiesische zu übersetzen. Dafür danke ich ihm auch in Bezug auf dieses Buch. Herr Naumann leistet seit Jahrzehnten durch seine Dolmetschertätigkeit einen großen Beitrag zur kulturellen Vermittlung zwischen Deutschland und Brasilien. Das Übersetzen ist Handwerk, in seinen Spitzenleistungen sogar Kunst. Nicht zufällig haben in Deutschland große Dichter wie F. Hölderlin sich bei literarischen Übersetzungen ganz in die fremde Welt eingefühlt. Bei juristischen Texten kommt noch die Aufgabe hinzu, die richtige Form für die Begriffe der Fachsprache zu finden. Das Über-Setzen ist also ein sehr komplexer Vorgang. Herr Naumann beherrscht ihn. Dass der Altmeister des brasilianischen Verfassungsrechts Herr P. Bonavides ein Geleitwort schreibt, ist eine große Ehre. Ich danke ihm dafür. In den Dank einbezogen seien die Gastgeber meiner Besuche in Brasilien seit vielen Jahren: Herr Präsident G. Mendes und I. Sarlet. Herr Mendes hat in den letzten Jahren zahlreiche Bücher von mir ins Brasilianische übersetzen lassen. Besonders wichtig war seine Betreuung des Buches „Hermenêutica constitucional: A sociedade aberta dos interpretes Constituição“ (1997). Gerade die Klassikertexte dienen der kulturellen Grundierung der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. I. Sarlet ist ebenfalls viel zu verdanken. Erwähnt sei an dieser Stelle nur „Conversas acadêmicas com Peter Häberle“ (2009). A. Maliska betreute den Band „Estado Constitucional Cooperativo“ (2007). Dankbar sei das von G. Mendes gegründete und betreute Forschungsinstitut mit meinem Namen in Brasilia erwähnt. Das Echo, das der Verf. seit vielen Jahren aus Brasilien erfahren darf, hat vielleicht einen Grund. Der kulturwissenschaftliche Ansatz erlaubt es, der Identität der einzelnen Nationen und ihren Eingeborenenkulturen sowie Minderheiten gerecht zu werden. (Man denke auch an die kulturellen Differenzierungen der Völker auf dem Balkan und die Auslegung ihrer zahlreichen, oft ineinander verschränkten Verfassungen, wie z. B. in Bosnien-Herzegowina.) Neue Verfassungen in Lateinamerika sprechen gern von pluri-nationalen und multikulturellen Völkern.

* Deutsche Erstveröffentlichung. Portugisische Veröffentlichung mit einer Widmung an Prof. P. Bonavides, 2015.

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4. Teil: Varia

Auch die Erfassung der vielfältigen Vorgänge der Produktion und (oft aktiven) Rezeption im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ist dank des kulturwissenschaftlichen Ansatzes möglich. Zu sprechen ist von einer „Trias“: Rezipiert werden konstitutionelle Texte, Theorien (insbesondere Klassikertexte) und Judikate. Angesichts der weltweiten Zusammenhänge dieser Vorgänge eröffnet sich ein großes Forschungspotential gerade dank des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Er erlaubt auch, das Vergessenwerden und die Renaissance großer Texte zu beobachten. In der Musik z. B. kam es erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Wiederentdeckung des Komponisten G. Mahler, in Deutschland erfährt derzeit H. Kelsen eine gewisse Renaissance (nicht nur wegen seiner Verdienste um den Minderheitenschutz in Demokratien und um die Verfassungsgerichtsbarkeit). Aus Sicht des Verfassers gehört der brasilianische Konstitutionalismus auch dank des Bundesgerichts in Brasilia an die Spitze der verfassungsrechtlichen Entwicklungen in Lateinamerika und darüber hinaus. Umgekehrt haben deutsche Theorien einen nicht geringen Einfluss auf die brasilianische Judikatur (dazu vor allem G. Mendes: Die 60 Jahre des Bonner Grundgesetzes und sein Einfluss auf die brasilianische Verfassung von 1988, JöR 58 (2010), S. 95 (111 ff.)). Speziell in Deutschland dürften die Werke von G. Dürig und K. Hesse zu den jungen Klassikertexten des Grundgesetzes gehören. Dies zeigt sich auch an den häufigen Zitaten in der Judikatur des BVerfG (dazu die Nachweise in meiner Einleitung zur Neuausgabe der Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR Bd. 1 (1951), 2. Aufl. 2010, S. V (IX, Anm. 13)). Weltweit sind erste Umrisse einer universalen Verfassungslehre zu erkennen. Sie lebt aus nationalen Teilverfassungen und völkerrechtlichen Teilverfassungen (z. B. der UNO-Charta, den universalen Menschenrechtserklärungen, den Genfer, Haager und Wiener Konventionen sowie der Kinderrechtskonvention und der Behindertenkonvention). Konsequenterweise bedeutet dies, dass die Internationalen Gerichte wie der IGH und das Internationale Strafgericht in Den Haag, die UN-Tribunale und der Internationale Seegerichtshof in Hamburg „Teilverfassungsgerichte“ sind. Dieses Konzept hat der Verf. in seinem jüngsten Buch „Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur“, Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre“ (2013) skizziert. Eine offene Frage ist, in wessen Namen die Internationalen Gerichte judizieren: im Namen der Weltbürger?, im Namen der Menschheit? Erinnert sei auch an die Kontextthese aus dem Jahre 1979. Dieselben Texte können in unterschiedlichen Kontexten, vor allem kultureller Art, unterschiedlich zu verstehen sein („Auslegen durch Hinzudenken“). Als Klassikertext nennt der Verf. gern ein Zitat von Papst Gregor den Großen. „Scriptura cum legentibus crescit“. Im Verfassungsstaat ist dies zu lesen als: Constitutio cum legentibus et viventibus crescit. Möge die brasilianische Ausgabe eine ebenso freundliche Aufnahme finden wie seinerzeit die deutsche. Sie war eine wissenschaftliche Textstufe in den Bemühungen des Verf. seit 1982, den kulturwissenschaftlichen Ansatz Schritt für Schritt zu entwickeln. Begonnen hat dies mit der Bayreuther Antrittsvorlesung von 1982 über

III./4. Vorwort zur brasilianischen Ausgabe

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„Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen“. Gerade neuere Beispiele für gelungene Verfassungspräambeln etwa in Polen, in Albanien, in Südafrika, in Kolumbien zeigen, wie sehr Präambeln sprachlich ein „Textereignis“ sein können. Sie wollen den Bürger auf die nachfolgenden Verfassungstexte buchstäblich „einstimmen“, sie gewinnen; sie wollen die Zukunft entwerfen und die Vergangenheit interpretieren; zugleich entwerfen sie ein Konzentrat der Verfassung. Mittlerweile sind weitere Konkretisierungen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes erfolgt: im Blick auf die nationalen Feiertage (1987, portugiesische Übersetzung 2008), die Nationalhymnen (2007, spanische Übersetzung 2012), die Nationalflaggen (2008) und die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat (2011). Es handelt sich um eine kulturwissenschaftliche „Tetralogie“. Ein Seitenstück dieses Ansatzes ist die kleine Monographie: „Der Sonntag als Verfassungsprinzip“ (1988, 2. Aufl. 2006). Sie ist auch vom BVerfG ansatzweise übernommen worden. Die „Europäische Verfassungslehre“ (1. Aufl. 2001 / 2002, 7. Aufl. 2011) gehört in diesen Kontext. Auch in ihr ist auf Schritt und Tritt mit den „Klassikertexten im Verfassungsleben“ gearbeitet worden, jetzt bezogen auf Europa. Man denke darüber hinaus an große europäische Politiker von A. de Gasperi, R. Schuman und K. Adenauer bis zu F. Mitterrand und H. Kohl. Das Völkerrecht hat ebenso seine Klassiker. Sie beginnen mit Cicero und mit der Schule von Salamanca und führen über H. Grotius weit hinaus (dazu M. Kotzur, Die Wirkungsweise von Klassikertexten im Völkerrecht, JöR 49 (2001), S. 329 ff.). Es geht um Verfassungstexte im weiteren Sinne.

5. Vorwort zur 2. spanischen Ausgabe des Buches „Pädagogische Briefe …“ (2014)* 1. Das erste Wort gilt der Formulierung meines Dankes an Frau Dr. Natalia Bernal Cano dafür, dass sie eine zweite spanische Ausgabe dieses Büchleins wagt. Frau Dr. Bernal Cano ist in Personalunion vieles: Sie ist Wissenschaftlerin, Herausgeberin, Übersetzerin, Autorin und Leiterin ihres angesehenen Forschungszentrums für vergleichendes Recht in Bissendorf. Sie beginnt, mit großem Erfolg, in ganz Europa ein fruchtbares wissenschaftliches Netzwerk aufzubauen. So wie es bereits den „Europäischen Juristen“ mit ganz bestimmten Fähigkeiten und Kenntnissen gibt (Mehrsprachigkeit, Kenntnisse über verschiedene Rechtskulturen, Interdisziplinarität in Europa etc.), so könnte in Bissendorf mittelfristig ein wissenschaftliches spezifisch europäisches Zentrum gelingen. Die deutschsprachige Version der „Pädagogischen Briefe“ wurde freundlich aufgenommen (vgl. etwa die Rezension von H. Goerlich in: Juristen Zeitung 2011, S. 624). Der Tübinger Verlag Mohr-Siebeck druckte sogar eine zweite, sog. stille Auflage schon im Jahre 2012. Bereits im Sommer 2011 fand in Rom an der Universität „Sapienza“ eine öffentliche Buchpräsentation statt. Auch in China ist soeben ein Teil der „Briefe“ übersetzt worden. Die „Briefe“ sind eine ebenso alte wie neue Literaturgattung, letzteres jedenfalls als rechtswissenschaftliche Briefe. Sie leben von einem pädagogischen Optimismus: Wenn man als Dozent die jungen Menschen besser behandelt als sie sind, macht man sie ein Stück besser. Dieser wissenschaftliche Optimismus ist ein Ausschnitt des Optimismus in Bezug auf den Verfassungsstaat als Typus. Er braucht im Ganzen ein „Utopiequantum“: Man denke an das „annus mirabilis“ 1989 oder die deutsche Wiedervereinigung 1990 sowie an die Entfaltung des Sozialstaatsprinzips des deutschen Grundgesetzes seit 1949. Mag auch aus dem Arabischen Frühling von 2011 heute vieles jäh auf einen „Arabischen Herbst“ oder „Winter“ deuten (Ausnahme ist nur die vorbildliche neue Verfassung von Tunesien (2014)): der Jurist, der dem Verfassungsstaat auf seine Weise dient, darf sich nicht auf Dauer entmutigen lassen. Die Geschichte des Verfassungsstaates ist weder eine Verfallsgeschichte, noch eine einfache Fortschrittsgeschichte. Ermutigungen gibt es viele, man denke an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, an die dauerhafte Abschaffung der Sklaverei und das Wachsen des humanitären Völkerrechts, trotz aller Rückschläge. So mag auch in den arabischen Ländern als Anrainerstaaten im * Deutsche Erstveröffentlichung. Spanische Veröffentlichung in: P. Häberle, Cartas pedagógicas a un joven constitucionalista, 2014, S. 21 – 31.

III./5. Vorwort zur 2. spanischen Ausgabe

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Blick auf das Mittelmeer auf lange Sicht ein „mare nostrum (constitutionale)“ entstehen. Denkt man an die Erziehungsziele, neue etwa in ostdeutschen Länderverfassungen oder in den Verfassungen Guatemalas und Perus, so finden sich hier Menschenwürde, Toleranz und Respekt vor der Menschenwürde des Anderen. Sie sind primär in Schulen, aber auch in Universitäten und in den Medien zu lehren. Es geht um ein Stück „Verfassungspädagogik“. Hierher gehört die Erziehung zur Wahrheitsliebe im juristischen Zitierwesen und das durchgängige Verbot der Lüge i. S. von I. Kant. Beim Künstler dürfen Werk und Person getrennt werden, beim Staatsrechtslehrer und europäischen Juristen meines Erachtens nicht. Hier gehören Werk und Persönlichkeit zusammen. Darum hoher Respekt vor einem G. Radbruch oder J. Esser. 2. Die vorliegenden Briefe sind nur ein Ausschnitt aus den wissenschaftlichen Arbeiten des Verfassers. Einige Stichworte sollen diese zusammenfassen. „Verfassung“ wird als öffentlicher Prozess und als Kultur verstanden (1978 / 82); die einzelnen Nationen sind angesichts ihrer vielfältigen und dichten Verflechtungen untereinander „kooperative Verfassungsstaaten“ (1978), besonders in der Verfassungsgemeinschaft der EU, man denke an den „kooperativen Grundrechtsschutz“ unter dem EGMR, dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten. Einschlägig wird das Paradigma von den „Textstufen“ (1989): Was in einem Verfassungsstaat auf mittlere Sicht die Verfassungswirklichkeit hervorgebracht hat, wird im benachbarten anderen Verfassungsstaat neu, transparent auf Texte und Begriffe gebracht. Man denke etwa an die Erfolgsgeschichte des Prinzips der Pluralität in der Medienverfassung oder im Parteienrecht. Rezipiert wird eine Trias: Verfassungstexte, Theorien (etwa Klassikertexte oder Dogmatiken einzelner Staatsrechtslehrer, z. B. G. Jellineks Dreielementenlehre) und Judikate (z. B. des BVerfG). Der Kreis der „Rezeptionsmittler“ ist vielfältig und offen. Er reicht von Institutionen, z. B. wissenschaftlichen Zentren, über den Austausch zwischen Gelehrten und Nachwuchswissenschaftlern bis zu den (institutionalisierten) Gesprächen der Verfassungsrichter in Europa. Zu den weiteren Gedanken des Verfasser gehört das Wagnis, die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode zu kennzeichnen – nach den vier, 1840 von C. F. von Savigny kanonisierten (der Staatsgerichtshof in Liechtenstein hat 2003 diese Idee ausdrücklich rezipiert). Im Blick auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz darf von kultureller Verfassungsvergleichung gesprochen werden. Dabei sind die Kontexte wichtig („Auslegen durch Hinzudenken“). Diese Kontextthese von 1979 führt dazu, dass Verfassungsprinzipien als Texte in Zeit und Raum unterschiedlich interpretiert werden können. Ein Klassikertext zu unserem Thema ist der grandiose Satz von Papst Gregor dem Großen: „scriptura cum legentibus crescit“. Er wird hier fortgeschrieben zu dem Diktum: „constitutio cum legentibus et viventibus crescit“. Vieles von dem hier Gesagten ist komprimiert und in dem Buch „Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur“ (2013) nachzulesen. 3. Der Verfasser dieses Vorwortes und Frau Dr. Bernal Cano dürfen sich vielleicht ermutigt sehen: In den letzten Jahren wurden viele kleinere Bücher des Verf. in ausländische Sprachen übersetzt, insgesamt etwa zwanzig in mehr als ein Dutzend Spra-

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chen. Genannt seien hier nur Publikationen in Lateinamerika bzw. in Italien, Spanien und Frankreich, auch Japan. Als Hintergrund zu den „Pädagogischen Briefen“ seien sie kurz erwähnt. Beginnen wir mit Italien, der Lebens- und Wissenschaftsgeschichte gemäß die erste, dem Verf. vertraut gewordene ausländische Rechtskultur: Diritto e verità (2000); Per una dottrina della costituzione come scienza della cultura (2001); Cultura dei diritti e diritti della cultura nello spazio costituzionale europeo (2003); Costituzione e identità culturale (2006). Danach folgen viele Kongresse und Gastvorträge in Spanien, insbesondere in Granada und Madrid. Publikationen sind z. B.: Retos actuales del Estado Constitutional (1996); Libertad, igualidad, fraternidad (1998); Pluralismo y Constitución (1. Aufl. 2002, 2. Aufl. 2013, 3. Aufl. im Erscheinen); H. López Bofill, Poesía y derecho constitucional: Una conversación (2004); El Himno nacional (2012). Als Sekundärliteratur sei erwähnt E. Mikunda, Filosofà y Teoría del derecho en Peter Häberle (2008). In Frankreich wurde das Buch „Der Verfassungsstaat“ (zuerst in Italien und Lateinamerika erschienen) unter dem Titel „L’État Constitutionnel“ (2004) publiziert, betreut von C. Grewe. Lateinamerika ist den wissenschaftlichen Versuchen des Verfassers gegenüber besonders aufgeschlossen (Folge der „romanischen Seele“ des Verf., wie oft behauptet wird?). Vor allem der kulturwissenschaftliche Ansatz findet viel freundliches Echo (jüngst sogar im Obersten Bundesgericht in Buenos Aires und seit längerem besonders in Brasilien und Peru), vielleicht deshalb, weil er sich der spezifischen Identität junger Völker öffnet. „Verfassung als Kultur“ ermöglicht den Zugriff auf Themenfelder wie nationale Feiertage (1987, portugiesische Übersetzung 2008, betreut von A. Maliska), Nationalhymnen (2007, 2. Aufl. 2013, betreut von A. Oehling), Nationalflaggen (2008) und Erinnerungskultur (2011). Die Kultur wird zum vierten oder ersten Staatselement. Die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975), in Porto Alegre 1997 als selbstständiges Buch erschienen und von Präsident G. Mendes betreut, wird in vielen Juristenkreisen diskutiert. Dafür ist der Verfasser dem lebendigen Konstitutionalismus Brasiliens besonders dankbar. Erinnert sei nur an eine Reihe von Publikationen: Dimensões da Dignidade (2005); Estado Constitucional cooperativo (2007); Constituição e cultura (2008); Os problemas da verdade no estado constitucional (2008); Conversas acadêmicas com Peter Häberle (2009). Diese „Gespräche“ wurden von Prof. D. Valadés (Universität Mexiko City) angeregt. Sie sind zuvor dort 2006 in spanischer Sprache erschienen: Conversaciones académicas con Peter Häberle, sowie später der Band El estado constitucional (2007). Gleichermaßen interessiert an den Ideen des Verfassers war und ist die wissenschaftliche Öffentlichkeit in Peru: Nueve ensayos constitucionales y una lección jubilar (Lima 2004), Nachdruck 2007, betreut von G. Belaunde. Das Verfassungsgericht in Lima verwertet insbesondere die These vom „Verfassungsprozessrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ in mehreren Urteilen. „Rezeptionsmittler“ war hier insbesondere C. Landa, der vor vielen Jahren einen längeren Studienaufenthalt an meinem damaligen Bayreuther Lehrstuhl absolvierte. In Kolumbien erschien das Buch „Constitucion como cultura“, 2002. Der wissenschaftliche „Erstling“ des Verf., die Freiburger Dissertation über den Wesensgehalt der Grundrechte (1. Aufl.

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1962, 3. Aufl. 1983) wurde zweimal ins Spanische übersetzt (Lima 1997, Madrid 2003, betreut von F. F. Segado). Die „erwähnten Gespräche“ (zum Teil auch mit Gelehrten aus Peru, Kroatien, Italien, Spanien und Japan sowie Südafrika) sind formal und inhaltlich den hier vorgelegten „Pädagogischen Briefen“ nahe verwandt. Sie können persönlicher und unmittelbarer wirken als reine wissenschaftliche Abhandlungen. Zu hoffen ist, dass diese Literatur- und Wissenschaftsgattung, in Spanien „als Intervista“ durchaus bekannt, inskünftig auch in Deutschland eine größere Bedeutung erfährt. In neue Horizonte wagen sich meine jüngsten Publikationen in Richtung des universalen Konstitutionalismus, der sich aus völkerrechtlichen und nationalen Teilverfassungen herausbildet (Beispiele für jene sind die UNO-Satzung, die universalen Menschenrechtspakte, die Genfer, Haager und Wiener Konventionen sowie die Texte zum Weltkultur- und Naturerbe, die Kinderrechtskonvention – all dies im Dienste hoher Menschheitsideale). Diese Entwicklungen zu befördern, wird Aufgabe der nächsten Generation junger Verfassungsjuristen sein: in Gestalt von Monographien und Aufsätzen, noch nicht in Gestalt von „Pädagogischen Briefen“ oder wissenschaftlicher Interviews: diese sind eher im „Herbst des Mittelalters“ eines Gelehrten, d. h. im Alter, sinnvoll. In ferner Zukunft wird ein Weltbürgertum des Verfassungsstaats möglich. Mein großer Dank an Frau Dr. Bernal Cano sei erneuert.

Fünfter Teil

Fest- und Dankesreden

I. Dankesrede Ehrenpromotion in Lissabon (2007)* Magnifizenz, Exzellenzen, verehrter Herr Dekan J. Miranda, werte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, Wie kann ich Ihnen für die mir heute zuteil gewordene große Ehre danken? Die Form des Gedichts ist mir leider nicht vergönnt, das vermöchte nur ein F. Schiller oder F. Hölderlin; auch die Malerei (A. Dürer) steht mir nicht zu Gebote, die Form einer musikalischen Komposition gelingt mir ebenfalls nicht, obwohl es die „Akademische Festouvertüre“ von J. Brahms gibt, die dieser als Dank für den Ehrendoktor in Breslau komponiert hatte. So bleiben mir nur die dürren Worte der Sprache eines Juristen, freilich in meinem „geliebten Deutsch“, nicht in Ihrer neben dem Italienischen ja so musikalischen Sprache des Portugiesischen. „Sprachmusik“ und „Musiksprache“ lägen mir nahe, denn ich wagte mich an das Thema „Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ in einem neuen Büchlein (2007), in dem ich kürzlich wohl erstmals Nationalhymnen weltweit musikwissenschaftlich als Dilettant und verfassungsjuristisch als „Fachmann“ miteinander verglich. Auch die portugiesische Nationalhymne hat darin ihren besonderen Platz. Ihre Universität ist eine der ältesten Europas, ja der Welt. Sie ist eine wahrhaft „europäische Universität“, so wie man in Anlehnung an Thomas Manns Wort vom „europäischen Deutschland“ nicht erst seit heute vom „europäischen Portugal“ sprechen darf. Schon seit Studentenzeiten bewundere ich Ihren Dichter Pessoa, und in den Monaten der „Nelkenrevolution“ von 1974 hing ich am Fernsehapparat; bis heute bewundere ich Ihre große, in vielem wegweisende Verfassung sowie die Vielfalt Ihrer juristischen Literaturgattungen. Vor eineinhalb Jahren beobachtete ich in Lissabon den Umzug an Ihrem Verfassungstag – „constitutional law in public action“ – fast oder ein Stück „Verfassung als öffentlicher Prozess“. Die Leistungen Ihrer Verfassungsrechtslehrer und ihres Verfassungsgerichtes verfolge ich seit einigen Jahren mit großer Hochachtung – und ich bin glücklich zu sehen, welcher wissenschaftliche Brückenschlag Portugal nach Südamerika hin seit langem gelingt. Mein großer Lehrer K. Hesse, dem ich so viel verdanke, pflegte ebenfalls Kontakte zu einigen portugiesischen Professoren. Ob es in Portugal ebenfalls eine so fragwürdige Universitätsreform gibt wie in Deutschland, ist mir nicht bekannt. Ich wagte im Frühjahr 2007 in mehreren Zeitschriften, auch in Brasilien, ein Thesenpapier: „Die deutsche Universität darf nicht

* Deutsche Erstveröffentlichung.

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

sterben“. Ganz im Sinne des Leitbildes von W. von Humboldt („Einheit von Forschung und Lehre“, „ewige Wahrheitssuche“, Einsamkeit des Forschers und Freiheit, Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden) beklage ich sog. „Reformen“ wie die deutsche „Exzellenzinitiative“ und den unseligen „Bologna-Prozess“ (welcher Missbrauch eines großen Namens!), als ob sich die europäische Rechtswissenschaft „modularisieren“ ließe! Man muss in Lissabon oder Coimbra studieren, um Ihr Verfassungsrecht kennen zu lernen, man muss die großen anderen Gelehrten in Italien aufsuchen, vor allem in ihren Seminaren, und man sollte in Österreich studieren, um H. Kelsen zu verstehen, gerade weil er bei aller Größe methodisch so anfechtbar ist. Vielleicht bin ich zu alt, um den heutigen Reformen gerecht zu werden, doch dank Ihrer Ehrung heute werde ich sicher wieder ein Stück jünger! Im Übrigen gibt es einen wissenschaftlichen Generationenvertrag zwischen älteren und jüngeren Gelehrten: eine besondere Form des Gesellschaftsvertrages. Er gilt heute europaweit und verlangt nach Kunst der „Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung“, nach „Gemeineuropäischem Verfassungsrecht“, nach Anerkennung der Rechtsvergleichung als „fünfter Auslegungsmethode“ und nach persönlicher Unbestechlichkeit. Man spekuliert oft über den Zusammenhang von Werk und Person. M. E. darf der Künstler „beliebig“, ja willkürlich und „anarchistisch“ sein, vielleicht sogar einen schlechten Charakter haben, der wissenschaftliche Lehrer aber muss um ein Minimum an „Kongenialität“, Kongruenz zwischen persönlichem Verhalten als Vorbild einerseits und seiner Wissenschaft, seinem Werk andererseits ringen. Wissenschaftsethos ist unverzichtbar, gerade bei uns Staatsrechtslehrern, die wir es im Namen des Verfassungsstaates mit der Kontrolle der politischen Macht zu tun haben. Vielleicht müsste man sogar einen Verhaltenscodex für Juristen schreiben, einen „Professorenspiegel“ – analog den Fürsten- und Ritterspiegeln früherer Jahrhunderte. Meine demnächst erscheinenden „Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen“ ringen darum. Hätte ich noch einmal mit dem Studium zu beginnen, würde ich heute den Schwerpunkt auf die Völkerrechtslehre anlegen. Das Völkerrecht ist derzeit vielleicht die interessanteste und besonders geforderte Teildisziplin der Jurisprudenz. Das Völkerrecht als „konstitutionelles Menschheitsrecht“, seine Konstitutionalisierung, sein unverzichtbares Utopiequantum (z. B. bei der Reform des UN-Sicherheitsrates), bei der Balancierung von Freiheit und Sicherheit, bei der sog. „Globalisierung“. Neu ist verglichen mit alten Weltreichen und Weltbildern z. B. des Hellenismus und des Imperium Romanum sowie mit der Kolonialisierung wohl die Vernetzung aller Kontinente, auch dank des Internets, das alte „Veloziferische“ i. S. Goethes. Was ist das Ethos der Globalisierung? Ein Mindestmaß an Gerechtigkeitsprinzipien, an Fairness, an Solidarität auf den Gebieten der sozialen, kulturellen und ökologischen Teilhabe. Vor allem geht es um eine Bändigung der Ökonomie, die als grenzenloser Weltmarkt kein Selbstzweck ist, sondern dem Menschen instrumental zu dienen hat. Nur dank der Kultur hat der Mensch „seinen aufrechten Gang“ (E. Bloch). Und der „ewige Frieden“ i. S. Kants bleibt unser großes Ziel. Bei all dem hilft gerade heute ein wunderbares Goethe-Wort, auch in der Universität:

I. Dankesrede Ehrenpromotion in Lissabon

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„Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion, wer diese beiden nicht hat, der habe Religion“. Vielen Dank für die Möglichkeit, einer von Ihnen sein – bescheidener: „werden“ – zu dürfen.

II. Eine Festschrift als Spiegel der Rechtswissenschaften (2009 / 10)* Magnifizenz, Herr Dekan, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studenten, meine Damen und Herren, Einleitung: Hier und heute aus großen Anlass sprechen zu dürfen, ist eine Ehre und Freude; überwiegend unverdient, denn meine Kontakte zu Leipzig lassen sich rasch aufzählen: 1966 durfte ich in Heidelberg den großen Leipziger Juristen Erwin Jacobi kennenlernen, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts heute noch Aktuelles zum Thema „Öffentlichkeit der Wahlen“ geschrieben hat, für das Urteil des BVerfG jüngst von höchster Aktualität; sodann: 1989 war ich Mitglied einer Kommission des Wissenschaftsrates unter D. Simon, die die Leipziger Juristenfakultät zu evaluieren hatte (menschlich für mich sehr bedrückend) und schließlich fühle ich mich seit Jahrzehnten den Öffentlich-Rechtlern hier (der jüngst ist mein Schüler, M. Kotzur) verbunden, so dass es zu mehreren gemeinsamen Seminaren, auch in Berlin als Gast meines letzten Doktoranden K.-T. zu Guttenberg, und Dubrovnik kam. An erster Stelle wäre freilich Goethes berühmtes Wort aus dem Faust I zu zitieren: „Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein klein Paris“. Und J. S. Bach, der „fünfte Evangelist“, hat leider nicht wie J. Brahms für Breslau bzw. den ihm dort verliehenen Ehrendoktor eine Festouvertüre komponiert. Heute ist wissenschaftsgeschichtlich ein großer Tag für alle Beteiligten: die Übergabe einer Festschrift der Juristenfakultät an die Universität. Solches kommt selten vor. Bekannt ist etwa die Würzburger Festschrift „Raum und Recht“ der dortigen Juristenfakultät zum 600jährigen Universitätsjubiläum dargebracht (2002). Meine kleine Laudatio bzw. Reverenz gliedert sich in drei Teile: Erstens: Bemerkungen zum kulturellen Leben in Geschichte und Gegenwart Leipzig, zweitens: zu den Fakultäten als Kernelementen auch des heutigen Universitätslebens; drittens sei die Literaturgattung „Festschrift“ behandelt, zunächst allgemein, sodann am Beispiel der heute zu überreichenden besonderen Festgabe.

I. Bemerkungen zum kulturellen Leben Leipzigs in Geschichte und Gegenwart Hier ist naturgemäß nur eine punktuelle Auswahl möglich. Auffallend ist, dass die Geschichtsschreibung sich gerade jüngst Ihrer Stadt annimmt, etwa in Gestalt * Erstveröffentlichung in: Leipziger Universitätsreden (2009 / 10), S. 23 ff.

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des Buches von H. P. Brogiato: „Leipzig um 1900“, 2009. Freilich ist mit dem „ewigen J. S. Bach als fünften Evangelisten“ zu beginnen. Das restaurierte Mendelssohn-Haus in Leipzig spricht in jeder Hinsicht für sich. Soeben ist das erste musikalische Werke-Verzeichnis dieses großen Komponisten in Leipzig erschienen. Fünftausend Briefe sind weitgehend noch unerforscht, was im Leipziger Jubiläumsjahr besondere Impulse auslöst (FAZ vom 2. September 2009, S. 29). Mendelssohns Oratorium „Paulus“ wurde im Februar 2009 aufgeführt. Jüngst wird daran erinnert, das im Bereich der Anthropologie, Chemie oder Philosophie, auch auf dem Gebiet der Elektrizitätslehre Leipzig führend war (FAZ vom 8. Juli 2009, S. N 5). Dies illustriert die im Alten Rathaus eröffnete Ausstellung „Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften“ (dazu FAZ vom 22. Juli 2009, S. N 5: „Zurück im Chor der Wissenschaft“). Erinnert sei auch an die umfangreichen Werke der Comic-Geschichte – Comics kenne ich eigentlich nicht –, die kürzlich von Berlin nach Leipzig transportiert worden sind (FAZ vom 17. Juli 2009, S. 25). Diese Sammlung geht nun an das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig, die ostdeutsche Zweigstelle des Bonner Hauses der Geschichte. Besonders reizvoll ist die Publikation „Ein Kosmos des Wissens – Weltschriftenerbe in Leipzig“ (FAZ vom 20. Mai 2009, S. N 5). In ihr findet sich ein Heft namens „Brummkäfer oder Die Musen in carcere scholae“ (Leipzig 1822 – 1844); dabei geht es um einen Jura-Studenten, der wegen eines verbotenen Duells im Karzer saß. Sie alle kennen gewiss die beiden neuen Bücher, in denen die Autoren C. Nießen und M. Gretzschel Ihre Stadt erklären: „Heimatkunde Leipzig“ bzw. „Stille Winkel in Leipzig“ (2009). Erinnert sei auch an das von K. Löffler herausgegebene Buch „Als Studiosus in PleißAthen, Erinnerungen von Leipziger Studenten des 18. Jahrhunderts“. Die SZ vom 23. / 24. Mai 2009, S. 17 rezensierte dieses Buch unter dem suggestiven Titel: „Stutzer, Knoten und Genies“, der freilich nur für das 18. Jahrhundert und nicht für heute einschlägig sein dürfte. Leipzig kann stolz sein, dass 1906 an seiner Universität durch den Mediziner Karl Sudhoff (1853 – 1938) das erste Institut für Geschichte der Medizin gegründet worden ist. Leipzigs Bedeutung als Kunststadt zeigt sich auch darin, dass das ruhmreiche Beaux-Arts im Gewandhaus kürzlich Abschied von der Konzertbühne mit Mendelssohn und Kurtág genommen hat (FAZ vom 26. August 2009, S. 29). Leipzig als „Helden-Stadt“ ist oft gewürdigt worden, vor allem 2009, also 20 Jahre nach dem Mauerfall (z. B. im Rheinischen Merkur Nr. 21 vom 21. Mai 2009, S. 27: „Die Revolution versteckt ihre Helden“). Ein prägnantes Buch lautet: „Demokratie jetzt oder nie! Diktatur – Widerstand – Alltag“. Bewegend ist das Leipziger Tagebuch 1990 / 91 von U. Lehmann-Grube: „Als ich von Deutschland nach Deutschland kam“, 2009. Besondere Beachtung verdient der Suhrkamp-Band des bekannten Heidelberger Soziologen W. Schluchter „Neubeginn durch Anpassung?, Studien zum ostdeutschen Übergang, 1996, denn hier wird der Übergang „Vom wissenschaftlichen Kommunismus zur Soziologie und Politikwissenschaft“ am Beispiel der Rolle der Gründungskommission im Umbauprozess der Universität Leipzig vorzüglich dargestellt. Soeben hat M. Stolleis in seinem neuen Buch „Sozialistische Gesetzlich-

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

keit, Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR“, 2009, S. 109 ff. nachgezeichnet, wie sich die Leipziger juristische Fakultät von außen gesehen zu einer „Hochburg marxistisch-leninistisch angeleiteter Juristenausbildung“ entwickelt hatte. Eindrucksvoll war jüngst die Art und Weise, wie Leipzig das Jubiläum der friedlichen Revolution am 9. Oktober vor 20 Jahren gefeiert hat: Bundespräsident Köhler sprach von einem „großen und glücklichen Tag der deutschen Geschichte“ und verneigte sich vor der Zivilcourage vieler damaliger DDR-Bürger (FAZ vom 10. Oktober 2009, S. 4; s. auch SZ Nr. 233, S. 8). Die SZ vom 9. Oktober 2009, S. 4 bedauert wohl zu Recht, dass der 9. Oktober nicht zum Feiertag der Deutschen geworden ist. (Bei der großen Zeremonie am 9. November in Berlin hätte eigentlich die Zivilcourage der Leipziger am 9. Oktober 1989 gewürdigt werden müssen; sie war ja der Ausgangspunkt.) Ihr Jubiläumsprogramm ist eindrucksvoll. Eine Fülle von Veranstaltungen und Ausstellungen spiegelt Wissenschaft und Kultur, auch in Verbindung mit den europäischen Nachbarn. Man denke an die „Theologischen Tage“ der Evangelisch-theologischen Fakultäten Prag und Leipzig: Staat und Kirche in Tschechien und Deutschland (26. – 29. Oktober 2009). Erwähnt seien auch die sog. Höhepunkte des Jubiläums mit den Themen „Wissen und Ordnung“, „Wissen und Bildung“, „Jubiläumsausstellung Erleuchtung der Welt“, „Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften“. Aus der Reihe der weiteren wissenschaftlichen Veranstaltungen sei nur genannt: „Die Leipziger Germanistik – Wissenschafts- und institutionengeschichtliche Einleitung“. Man staunt auch, dass die Universität Leipzig kürzlich zu ihrem 600. Geburtstag einen Ausflug nach New York unternommen hat (FAZ vom 23. September 2009, S. 31). Überregional beachtet wurde auch die Leipziger Tagung zur Bildung im 21. Jahrhundert (FAZ vom 24. Juni 2009, S. N 5). Das Journal der Universität Leipzig ist höchst informativ, in Heft 1 / 2007, S. 25 findet sich ein Beitrag „Forschungswerkstatt für „europäische Juristen“, Wissenschaft über den Tellerrand verlangt Kooperationen zu außeruniversitären Einrichtungen“. Vorträge wie der von Ian Hacking über die „Angekündigte Abschaffung des Menschen“ wurden überregional beachtet (FAZ vom 15. August 2009, S. N 3). Erlauben Sie eine Stellungnahme zu einem kulturpolitischen Streit, der unter der Schlagzeile behandelt wurde „Oberhausen schickt DDR-Kunst zurück nach Leipzig“ (FAZ vom 20. August 2009, S. 29). Zu Recht wird kritisiert, dass es um das Ost-West-Verhältnis im Kunstbetrieb 20 Jahre nach der deutschen Einheit immer noch nicht gut bestellt ist (zu Recht wird auch in der Zeitung Die Welt vom 2. Okt. 2009, S. 27 kritisiert, dass der große Maler Tübke „verschmäht“ wurde). Ermutigend ist demgegenüber das neue jüdische Kultur- und Begegnungszentrum in Leipzig in der Hinrichsenstraße. Es wurde kürzlich eröffnet (FAZ vom 18. August 2009, S. 31). Bemerkenswert ist natürlich auch, dass der Leipziger Zoo sein „Nachwendetief“ überwunden hat und wirtschaftlich auf eigenen Füßen steht (dies war sogar der FAZ vom 8. September 2009, S. 16 einen Beitrag wert: „Tierisch erfolgreich“).

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Ernst ist der Streit um die Nachfolge des großen Malers Neo Rauch, zumal es sich hier um einen Ost-West-Gegensatz zu handeln scheint (FAZ vom 26. August 2009, S. N 5: „Einmal Leipziger Einerlei mit ’nem Kölsch“). Erwähnt sei schließlich das neue Künstlerbuch der Leipziger Prosa-Schriftstellerin Angela Krauß: „Ich muss mein Herz üben“, 2009. II. Fakultäten Fakultäten nach wie vor meist so genannt und besser bezeichnet als die in den 80er und 90er Jahren so gern geschaffenen „Fachbereiche“, sind nach wie vor „Herzkammern“ einer Universität. So sehr sie wissenschaftsgeschichtlich ein Auf und Ab erleben, man denke an die große Zeit der Tübinger Juristenfakultät in den 50er bis 70er Jahren mit Namen wie L. Raiser, J. Esser, O. Bachof, G. Dürig, auch E. Fechner und H. Schröder, Fakultäten haben „facultas“: sie haben ein bestimmtes Bild von sich selbst, suchen es heute mehr den je in der Außenwelt darzustellen, feiern sich durch besondere Tagungen, in Bayreuth sind etwa die von mir sog. „Gitter Festspiele“, d. h. Sozialrechtstage bekannt – Herr Kollege Gitter ist ja Ihr Ehrendoktor (und er hat sich auch in der heute überreichten Festschrift mit dem Arbeitsund Sozialrecht in Forschung und Lehre an der Leipziger Juristenfakultät beschäftigt, erwähnt sei auch die Honorarprofessur des kürzlich verstorbenen Juristen M. Schiedermair, der als Anwalt der Künste galt (FAZ vom 26. August 2009, S. 29: „Zum Freund geboren“)) – und die Fakultäten können sich durch Partnerschaften mit ausländischen Universitäten (konkret mit Indien und in den USA mit Miami) profilieren. Die Leipziger Juristenfakultät hat das große Privileg in räumlicher Nähe zum glücklicherweise hier wieder installierten BVerwG zu sein (noch heute ist mir unbegreiflich, dass sich der BGH nach der wiedergewonnenen Einheit weigern konnte, von Karlsruhe nach Leipzig umzuziehen. Durch ihre Schwerpunktsetzungen in der Lehre, etwa in Sachen Medienrecht oder Völkerrecht, hat jede Fakultät besondere Chancen, aber auch Lasten (der offizielle Studienführer der Leipziger Juristenfakultät, z. B. für das Sommersemester 2009, mit einer Präsentation der Lehrveranstaltungen – sogar schon mit Literaturhinweisen ist – eindrucksvoll). Das von studentischer Seite publizierte Organ „Der kleine Advokat“ sei eigens erwähnt. Im guten Sinne auffällig ist, dass sich ein prominenter Kollege aus Erlangen, nämlich Christoph Link, zu einer Blockveranstaltung „Kirchliche Rechtsgeschichte“ im Wintersemester 2009 / 2010 bereit erklärt hat (wir kennen sein gleichnamiges Buch von 2009). Man wird sich fragen dürfen, ob die modernen Hochschulreformen der klassischen Rolle von (Juristen) Fakultäten noch genügend Raum lassen, insoweit sie durch Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 11 Abs. 1 und 2, Art. 21 Verf. Sachsen geschützt sind. In einem glücklichen Falle wie wohl heute, kann sich eine Fakultät als Wissenschaftlergemeinschaft darstellen, und vielleicht sind dann auch die unvermeidliche Alltagsstreitigkeiten um Lehrstühle einmal vergessen; als ehemaliger Dekan in Marburg, ausgerechnet in der unseligen 68er Zeit, kenne ich solche Zwistigkeiten nur zu gut. So wichtig die einzelnen Lehrstühle für die Studenten als An-

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sprechpartner sind, die Fakultät als Ganzes ist eine unverzichtbare Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, auch wenn dies nur bei festlichen Anlässen, wie dem heutigen, erkennbar werden mag. Leipzig kann sich rechtswissenschaftlich wahrlich sehen lassen. Aus der Reihe der hiesigen Professoren kommen exzellente Beispiele im Ensemble wohl aller Literaturgattungen: vom erfolgreichen Kurzlehrbuch über die Monographie (zuletzt H. Goerlich / T. Schmidt, Res sacrae in den neuen Bundesländern, Rechtsfragen zum Wiederaufbau der Universitätskirche in Leipzig, 2009) bis zum Grundlagenaufsatz auch in Festschriften und Lexikonartikeln. Beispiele kennen Sie alle. Wie mag sich all dies nun in der besonderen Literaturgattung „Festschrift“ spiegeln? Damit komme ich zu meinem dritten Teil (ohne einen Hinweis auf das Leipziger Juristische Jahrbuch, z. B. 2007 / 2008 auszulassen, in dem ebenso grundsätzliche, wie aktuelle Beiträge, z. B. zu Fragen der Pornographie – mir weitgehend unbekannt – oder der Terrorabwehr durch Abschuss von Zivilflugzeugen zu finden sind).

III. Festschriften im „Kraftfeld ihrer Adressaten“, insbesondere die heute zu überreichende Festschrift Erstmals 1980 vergleichend zum Thema gemacht (AöR 105 (1980), S. 652 ff.), ist die Festschrift eine bis heute ebenso umstrittene wie häufige, ja fast abundante Literaturgattung bei uns Juristen. Kritiker sprechen vom „Grab“ für die einzelnen Beiträge, von häufig zu findenden Gelegenheitsarbeiten, horribile dictu gar nur hier veröffentlichten Gutachten, sie sprechen von Eitelkeiten der Jubilare und sonstigen Beteiligten, und in manchem haben sie ja recht. Nur sehr wenige Festschriften enthalten Beiträge, die Jahrzehnte überdauern und klassisch werden. Dies gilt etwa für R. Smends Beitrag zur FS Laband (1916) in Sachen Bundestreue oder von seinem Aufsatz in der Gedächtnisschrift für W. Jellinek in Sachen Öffentlichkeit (1954). – Gedächtnisschriften sind die edelste Form der Ehrung eines Gelehrten, auch wenn man sie sich nicht sofort wünschen sollte … – Um pluralistisch zu arbeiten, bekannt geworden ist der Beitrag von E. Forsthoff in Sachen Maßnahmegesetze (ebd.). Es gibt internationale Festschriften, welche die weltweite Ausstrahlung des Jubilars bezeugen (z. B. zu Ehren von H. Coing). Es gibt als neuere Variante das liber amicorum, und dieser Name will eine besondere Verbundenheit der Beteiligten zum Jubilar andeuten. Die Festschrift einer Juristenfakultät als zweibändige Gabe an die eigene Universität aus Anlass eines großen Jubiläums ist eine ganz besondere Variante, allenfalls noch vergleichbar einer Gabe für das berühmte Reichsgericht (1929) oder an den Juristentag sowie das BVerfG (2 Bände 2001). Auf dem Hintergrund dieses bunten Bildes sei jetzt zuletzt ein Blick in die hier zu preisende Leipziger Festschrift geworfen. Ist sie auf eine Weise „repräsentativ“, gibt sie Zeugnis von Leipzigs großer Tradition, andererseits von möglichen Zukunftshorizonten, sucht sie das interkollegiale Gespräch innerhalb der Fakultät? Kurz, was sagt Ihre Festschrift aus, die ich wenigstens im Inhaltsverzeichnis vorweg

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lesen durfte, das die Beteiligten im weiteren Sinne, also die wissenschaftliche Öffentlichkeit Ihrer Fakultät einschließlich potentieller Rezensenten aber bis heute noch nicht kennen. Der Verleger Dr. F. Simon sei freilich vorweg gerühmt. Im Einzelnen: Schon auf dem ersten Blick fasziniert die Strukturierung der Festschrift. Der erste Teil gilt dem Thema: 600 Jahre Lehre und Forschung an der Leipziger Juristenfakultät. Wir erfahren hier vieles über noch heute lebendige große Gestalten wie Benedict Carpzov (Autor ist W. Schild), Otto Mayer (gewürdigt von H. Stadie), Heinrich Triepel (dargestellt von R. Geiger und R. Schmidt-Radefeldt), W. Apelt (er war bekanntlich ein Lehrer von G. Dürig, wurde von diesem hoch verehrt und ist von C. Enders kongenial beschrieben – W. Apelt hat in seinen Lebenserinnerungen „Jurist im Wandel der Staatsformen“ (1965), seinerzeit in Leipzig ein berührendes Denkmal gesetzt (S. 15, 36 ff.)) und Erwin Jacobi, den ich bei einer Tagung der Zeitschrift Evangelisches Kirchenrecht in Heidelberg im Jahre 1965 noch persönlich erleben durfte: das DDR-Regime hatte ihm offenbar erlaubt, einen der wenigen akademischen Grenzgänger zwischen Ost und West zu sein (über Jacobis „Betriebsbegriff“ schreibt B. Boemke). Der zweite Teil gilt „Leipzig im Focus der deutschen Einigung“. Hier beginnt H. Goerlich mit dem berühmten Motto „Wir sind das Volk“. Wie Sie wissen, stammt es von G. Büchner. Ich habe es noch im Ohr von meinem Besuch mit meinem Bayreuther Seminar (1989). K. H. Fezer befasst sich mit der pluralistischen und sozialistischen Rechtstheorie des subjektiven Rechts. Herr Degenhart, allen Studenten von seinem erfolgreichen Kurzlehrbuch her bekannt, schreibt über ein Spezialproblem in Sachen „Akademische Abschlüsse“, Herr K. H. Fezer über „Pluralistische und sozialistische Rechtstheorie des subjektiven Rechts“. Der dritte Teil gilt „Leipzig als Stadt des Rechts“: Hommage an das Bundesverwaltungsgericht. Alle Juristen waren glücklich, dass wenigstens dieses Bundesgericht nach Leipzig umzog. Die drei Autoren U. Berlit, E. Hien, R. Brinktrine schöpfen das große Thema in allen Dimensionen aus (dieser Abschnitt trägt den geglückten Titel „Leipzig als Stadt des Rechts: Hommage an das Bundesverwaltungsgericht“). Die neue Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts, Frau M. Eckertz-Höfer hat kürzlich einen wichtigen Aufsatz über das Thema „Vom guten Richter“ publiziert (DÖV 2009, S. 729 ff.). Zu meiner Freude zitiert sie als ihren alten Lehrer einen meiner Mentoren Josef Esser (S. 730, Anm. 3). Der „rechtlich verfassten Universität“ gelten Arbeiten zur Aktiengesellschaft als Regelungsvorbild der Universitätsverfassung (T. Drygala) – ein Titel, der mich fast erschreckt, sowie G. Sandberger befasst sich kritisch mit der Novelle des Sächsischen Hochschulgesetzes. Die ganze Dynamik der einzelnen Teildisziplinen der Rechtswissenschaft spiegelt sich im fünften Teil wider: „Entwicklungen im Recht – Beiträge aus den Fachbereichen“. Zu recht eröffnet diesen Teil das Bürgerliche Recht. Ich kann alle Autoren und Themen leider nicht aufzählen (C. Berger würdigt den konkursrechtlichen Klassiker Ernst Jaeger). Das Strafrecht ist mit einem einzigen Aufsatz vertreten. Das Öffentliche Recht glänzt – wie nicht anders zu erwarten ist – mit sechs eindrucksvollen Beiträgen. – Erlauben Sie den Einschub: Meinen Studenten des Erstsemesters sage ich immer, sie könnten das Denken vor allem im Zivilrecht lernen,

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das Strafrecht sei nur vorübergehend wegen seiner „Sensationen“ interessant, das Reich der Freiheit und der Phantasie, dem blauen Himmel gleich, öffnet sich im Verfassungsrecht. – Ich nenne nur den auch sprachlich schönen Titel von M. Kotzur „Vorspruch und Versprechen“ – hier kommen die europäischen Präambeltexte zu Wort. M. Oldiges schreibt über parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung, F. Rottmann versieht sein Thema „Toleranz als Verfassungsprinzip?“ mit einem Fragezeichen. A. Schmidt-Recla verlebendigt das 13. Jahrhundert, W. Köck schreibt über den europarechtlichen Artenschutz, S. Haack über das Polizeirecht. Der sechste und letzte Teil lautet: „Universität im Rückblick“. Hier lesen wir einen Beitrag von E. Schumann „Von Leipzig nach Göttingen“, einen Aufsatz von G. Nolte über „Gustav Stresemann in Sachsen“ sowie von W. Gropp über „Jahre des Wiederaufbaues“ – Leipzig von 1993 bis 1998. Das Ganze bildet ein unverwechselbares Kaleidoskop und lässt die Leipziger Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen Recht in Raum und Zeit lebendig werden.

Ausblick Wir gratulieren sowohl der Leipziger Juristenfakultät als auch dem Jubilar, der Universität Leipzig. Wer hätte wie ich als Teilnehmer der Leipziger Montagsdemonstration im Oktober 1989 von Bayreuth aus daran gedacht, dass es heute eine solche Festschrift geben könnte? Die Festschrift macht ihrem Anlass Ehre, die Themen sind vielgestaltig und werden durchweg dem besonderen hohen Anlass gerecht. Möge sich nicht nur der Jubilar, d. h. die Universität, vertreten durch ihren Rektor, sondern Leipzig als „urbs“ daran freuen, „orbis“ darf ich nicht sagen, dies wäre anmaßend, aber eine europäische Ausstrahlung möchte ich Ihrer Gabe schon wünschen.

III. Dankesrede in Rom Mai 2010* Eigentlich gibt es keine Schlussworte, jedenfalls im wissenschaftlichen Diskurs nicht. Nur das deutsche BVerfG behält sich „letzte Worte“ vor, wie kürzlich im Lissabon-Urteil leider geschehen (vgl. meinen Beitrag in JöR Bd. 58 (2010), S. 317 ff.). Ich bin glücklich, dass ich auf schweizer Boden das heutige Kolloquium erleben durfte. Bei diesem Vorgang kommen drei Lebensphasen zusammen: Dreißig Jahre Verbundenheit mit der Schweiz, fast zwanzig Jahre Lehrtätigkeit als ständiger Gastprofessor in St. Gallen, zwanzig Jahre Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten und Institutionen wie dem Goethe-Institut und dem Regionalismus-Institut in Rom und fünfzehn Jahre Gastvorlesungen in Granada dank freundschaftlicher Verbundenheit mit den anwesenden Kollegen aus Spanien, nämlich den anwesenden Professoren F. Balaguer, G. Camara, M. Azpitarte, die eine neue Schule von Granada gegründet haben. Vorweg sei auch erinnert an die Pionierarbeiten, die unser Kollege A. Riklin in St. Gallen in Sachen „Republikanismus“ publiziert hat. Das mir zugedachte Schlusswort muss mit einem mehrfachen Dank beginnen: Dank an die großzügigen Gastgeber in der hiesigen, fabelhaften Schweizer Residenz, des Schweizer Kulturinstitutes bzw. seines Leiters Prof. C. Riedweg, Dank an die Stiftungsräte, an ihrer Spitze an Herrn Ehrenzeller und seine unermüdliche Helferin, Frau De Marco, Dank an die erstklassigen Referenten und lebhaften Diskutanten, insbesondere der Schweizer Studenten, die sich in Form eines Vorseminars in Zürich vorbereitet haben, was Schule machen sollte, Dank auch an alle Anwesenden.

I. Das für heute konzipierte Thema konnte wohl nur auf schweizer Boden in Rom gedeihen, so viel I. Kant über die „weltbürgerliche Absicht“ hinaus zu verdanken ist. In der Schweiz lebt der Republikanismus seit langem. Deutschland tat sich politisch und wissenschaftsgeschichtlich demgegenüber mit der „Republik“ recht schwer. Symptomatisch ist die berühmte negative Definition seitens des großen G. Jellinek: Republik als „Nicht-Monarchie“. Unter dem deutschen Grundgesetz ließ man das Republikprinzip leider lange „schlafen“. Erst 1981 wurde mein Münchener Vortrag über das Thema „Zeit und Verfassungskultur“ gehalten, in dem ich für eine Wiederbelebung der Republikklausel plädiert hatte (in Peisl / Mohler, Die * Gehalten am 14. Mai 2010 bei der Tagung der St. Gallener Peter-Häberle-Stiftung im Schweizer Kulturinstitut in Rom. Erstveröffentlichung.

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Zeit, 1983, S. 298 (328 ff.)). Fast zugleich erschienen die Arbeiten von W. Henke und J. Isensee. Immerhin gab es schon zuvor „Republikanische Reden“ von W. Jens (1979) sowie „Briefe zur Verteidigung der Republik“ (1977) vor allem mit Literaten als Autoren. Das Thema von heute passt so recht auf den römischen Boden: Nicht nur wegen Cicero’s „res publica res populi“. Vor allem wegen der Verfassung der Römischen Republik vom ersten Juli 1849. In den Grundprinzipien heißt es in Art.1 S. 2: „Il Popolo dello Stato romano é costituito in Repubblica democratica“. Auch fünf weitere Grundlagenartikel sprechen von „Repubblica“. Die neueren französischen und spanischen Verfassungen kennen den Begriff „öffentliche Freiheiten“. In Spanien dürfen wir heute seit 1978 von einer „republikanischen Monarchie“ sprechen, ein großes Kompliment; für Frankreich gilt die Provokation, die „fünfte Republik“ sei unter Sarkozy / Bruni eine „monarchische Republik“ … Wie anders die Schweiz, was wir aus den schönen Vorträgen lernen konnten. In Deutschland verdanken wir das Wort „Bundesrepublik Deutschland“ im Grundgesetz keinem Geringeren als T. Heuss (dazu jetzt meine Einleitung zur Neuausgabe des JöR Bd. 1, 2010). Spanien stellte sein materiales Republikverständnis auch praktisch unter eine Bewährungsprobe: P. Picasso hatte testamentarisch verfügt, dass Bild „Guernica“ dürfe erst dann nach Spanien gebracht werden, wenn dort die Republik wieder eingeführt sei. Diese Bedingung war von den Nachlassverwaltern und Erben Picassos zu Recht als Formel: „wenn wieder demokratische, freie Verhältnisse herrschen“ interpretiert worden, das könne auch in einer parlamentarischen Monarchie – wie dem heutigen Spanien – sein. II. Die drei Teilthemen Bürger, Staatsbürger und, wie man ergänzen müsste, europäische Unionsbürger bzw. Weltbürger, bilden keine aufsteigende Linie. Hierarchiekonzepte sind hier ebenso falsch wie sie beim modischen „Multilevel Constitutionalism“ in die Irre führen. Der nationale Bürger steht nicht irgendwo „unten“, der Weltbürger nicht „oben“. Leben und Werk der Klassiker von I. Kant über Schiller bis Goethe lehren uns dies. Goethe war gewiss Weltbürger, doch zugleich verwurzelte er sich in Weimar. Ähnliches gilt für Kant in Königsberg. Nationalbürgertum ist wohl für Weltbürgertum konstitutiv. Etwas Besonderes ist auch hier Shakespeare: er schritt wie wohl kein anderer souverän „durch alle Zeiten und Räume“. Beginnen wir mit dem „Staatsbürger“ bzw. dem eindrucksvollen Referat von Herrn Auer. Ich habe Zweifel am Begriff, so wie ich den Terminus „Staatsangehöriger“ seit Jahrzehnten, freilich ohne jeden Erfolg, ablehne. In der Schweiz mag der „Staatsbürger“ in einem anderen Kontext gedeihen. Der Bürger „gehört“ doch nicht dem Staat. Ein Wort zum „Unionsbürger“. Hierzu hat unsere Tagung kein eigenes Thema gewählt. Doch ist die Unionsbürgerschaft der EU heute in den 27 Mitgliedsstaaten spezifisch verwoben mit dem nationalen Bürger. Die Unionsbürgerschaft, besonders ernst genommen vom EuGH, ist im „Europa der Bürger“ ein zentrales

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Element der EU, verstanden als werdender Verfassungsgemeinschaft eigener Art – trotz aller etatistischer, retrospektiver Ansätze im fragwürdigen Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG. Die Unionsbürgerschaft befindet sich in einem Wachstumsprozess, teils vom Unionsrecht aus, teils dank des EuGH. Der „europäische Jurist“, wie ich ihn in meiner St. Galler Abschiedsvorlesung von 1999 / 2002 zu skizzieren suchte, ist ein Ausdruck von ihr. Die Unionsbürgerschaft kreiert einen spezifisch unionsrechtlichen Grundstatus, der zum „nucleus“ vieler Teilrechte des Bürgers wird. Er vermittelt überdies eine demokratische Legitimierung unmittelbar über das Denken vom Bürger her. An diese Stelle gehört die traurige und zugleich dankbare Erinnerung an unseren in diesen Tagen plötzlich verstorbenen Freund D. Tsatsos. Er hat das Wort von der „Europäischen Unionsgrundordnung“ geprägt, er war wie wenig andere sowohl Grieche als auch Unionsbürger und Weltbürger. Es ist symptomatisch, dass in der gegenwärtigen Finanzkrise, soweit ersichtlich, kein einziger deutscher Politiker idealistisch daran erinnerte, dass Europa von Griechenland ausging und deshalb übergreifend unionsrechtliche Solidarität gefordert ist. Freilich dürfen wir nicht eurozentrisch bleiben. So wie ich vor zehn Jahren die Idee eines „Gemeinlateinamerikanischen Verfassungsrechts“ wagte – parallel zum „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ von 1991 –, so müssen wir auch den „Civis Americanus“ konzipieren. Das würde freilich hier und heute zu weit führen. Hier noch ein Wort zu Deutschland: Der von D. Sternberger geschaffene Begriff des „Verfassungspatriotismus“ kam zur rechten Zeit und ist besonders glücklich, da er die Aufmerksamkeit auf die Verfassung bzw. das Grundgesetz und nicht den Staat lenkt (die Sprache als „portatives Vaterland“ – M. Reich-Ranicki – gehört gewiss an die erste Stelle). Angesichts der monarchischen Relikte im deutschen staatsrechtlichen Denken ist dies besonders wichtig (Stichwort: präkonstitutioneller Staatsbegriff, den es weder in der USA noch in der Schweiz gibt). Dadurch wird es auch möglich, die vier kulturellen Identitätselemente des deutschen Verfassungsstaates zu verorten: die Nationalhymne, die Nationalflagge, die Feiertage, insbesondere den 3. Oktober, und – neu zu erarbeiten – die Denkmal-Themen, z. B. das Brandenburger Tor, die Paulskirche oder wichtige Straßenbezeichnungen in allen Regionen wie die Goethe- und Schiller-Straßen, die Kleist-Straßen, die HumboldtStraßen sowie Denkmale wie die Doppelstatue von Goethe und Schiller in Weimar oder die Dresdner Frauenkirche. Das Wort „Denkmal“ ist kulturwissenschaftlich auszuschöpfen: denk-mal! Die in Deutschland derzeit so häufigen Kontroversen um Straßenbenennungen (z. B. Meister-Straße in München) gehören in diesen Kontext. Während in Deutschland sehr häufig eine radikale „damnatio memoriae“ stattfindet, lassen die Italiener selbst faschistische Monumente noch stehen (z. B. im Stadion in Rom). Der Ort des Rütli-Schwures am Vierwaldstätter See in der Schweiz (1291) ist ein Musterbeispiel für die Vitalität von kulturellen Denkmal-Themen in Verfassungsstaaten.

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

III. Zurück oder voraus zum Weltbürger. Hier hörten wir vorzügliche Einführungsreferate und Impulsbeiträge. Ich erinnere noch an mein eigenes Konzept des Weltbürgertums aus Kunst und Kultur, das in der Idee des „kulturellen Erbes der Menschheit“ greifbar wird und in Rom allerorten illustriert ist. D. Thürer hat Tiefes zum „kosmopolitischen Staatsrecht“ gedacht, so wie J. P. Müller gestern einen großen Auftakt zu „Bürger und Polis“ wagte. Wir sollten uns vor Augen halten, dass die scheinbar kleinen Kantonsverfassungen der Schweiz Texte schufen, die sich als „nationales Weltverfassungsrecht“ begreifen lassen – parallel zu meinem Vorschlag des nationalen Europaverfassungsrechts, das sich in Gestalt mannigfacher EuropaArtikel nationaler Verfassungen findet. Auch hier zeigt sich: „Felix Helvetia“ oder mit Goethe, abgewandelt: Schweiz, du hast es besser! Hier noch einige Stichworte zum Weltbürgertum: Beginnen wir mit dem Gegenbegriff. Es ist der heutige Pirat als Rechtloser auf den Weltmeeren (dazu jetzt D. Heller-Roazen, „Der Feind aller“. Der Pirat und das Recht, 2010). Wir erinnern uns des Klassikertextes von Cicero, der ihn als „communis hostis omnium“ kennzeichnet, später wird der Pirat als Feind des Menschengeschlechtes bezeichnet („hostis generis humani“). Setzen wir die Überlegungen in positiven persönlichen Beispielen fort. Ich habe schon in der Diskussion M. Gandhi genannt. Eine Schweizer Studentin verwies auf N. Mandela; wir dürfen auch A. Einstein und A. Schweitzer, natürlich Goethe, A. Dürer und W. von Humboldt zitieren. In der Musikgeschichte war D. Scarlatti auf seinen Wegen zwischen Italien, Portugal und Spanien gewiss ein früher künstlerischer Weltbürger. T. Mann wirkte besonders überzeugend als Deutscher und Weltbürger. Wir erinnern uns des Projektes von H. Küng in Sachen „Weltethos“. Sicher müssen wir um einen humanistischen Weltbürgerbegriff ringen. „Negative Weltbürger“ sind Terroristen, Diktatoren und Welteroberer auf Unrechtsbasis. Geschlossene Gesellschaften von heute wie Nordkorea, China und Birma lassen die Entwicklung zum Weltbürgertum nicht zu. Wir fragen uns, was die moralische Basis des Weltbürgertums ist, ob die Welt als „Heimat“ gelten kann: m. E. wohl nicht. I. Kant war philosophisch ein Weltbürger, aber kein praktischer, er blieb bekanntlich ausschließlich in Königsberg. Vielleicht kann auch der von C. F. von Weizsäcker geprägte Begriff der Weltinnenpolitik (1963), der auch von juristischer Seite rezipiert worden ist, genannt werden (Festschrift für J. Delbrück, 2005: „Weltinnenrecht“). Wir sollten uns vor einer Überforderung und Banalisierung des Weltbürgerbegriffs hüten. Er ist in gewisser Hinsicht von Adel.

IV. Erlauben Sie sodann noch einige Überlegungen zum Thema der Globalisierung, das wir ja im Kontext des Weltbürgers nicht umgehen können.

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1. Zunächst zu rechtlichen Erscheinungsformen der Globalisierung: Unser „blauer Planet Erde“ ist rechtlich seit langem strukturiert: Frühformen sind das ius gentium Roms, die „Schule von Salamanca“, Grotius als „Vater des Völkerrechts“, der scheiternde Völkerbund (1919) und die nur zum Teil erfolgreichen UN (seit 65 Jahren). Herangewachsen sind die Normen des Völkerrechts, seine „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, seine Genfer Abkommen (z. B. von 1907) und Wiener Verträge (1969). Ich kann hier nur dilettieren. Vor allem leisten die beiden Menschenrechtspakte (1966) ein Stück „Konstitutionalisierung“ der Welt (wobei das Wort „Konstitutionalisierung“ noch zu umschreiben wäre). Die UNTribunale und der Internationale Strafgerichtshof, ad hoc-Gerichte wie in Sachen Ex-Jugoslawien und Ruanda gehören hierher. Selbst die Raumfahrt-Abkommen wie der „Weltraumvertrag“ (1967) bilden ein Element der rechtlich greifbaren „Globalisierung“. Sichtbar wird die Idee der einen Welt, hinter der es i. S. von Giordano Bruno freilich andere „Welten“ geben mag – er wurde allerdings 1600 als Ketzer in Rom verbrannt. Stichwort ist die Metapher von der Welt als „Dorf“, bekannt der „Weltmarkt“. Ein scheinbar grenzenloser Austausch von Informationen und Nachrichten, von Gütern und Waren, auch von Menschen ist charakteristisch für das „Globale“. Die nationalen, regionalen und internationalen Rechtssysteme erleichtern dies. Freilich auch nach der Seite der Kriminalität und des Terrorismus hin. Nationale Sicherheit und internationale Sicherheit werden unteilbar. Das Privatrecht (Stichwort: „lex mercatoria“) trägt viel zur Globalisierung der Welt bei, wenn dieser Pleonasmus erlaubt ist. Handel und Wandel werden global. Die Technik, vor allem auch das Fernsehen tut ein Übriges. Die internationalen Kapitalmärkte und einzelne Repräsentanten als „Heuschrecken“, leisten hier teils positive, teils negative Beiträge. Das Ökonomische verwirklicht zwar heute Globalität, doch fehlt es an bürgerlichem Bewusstsein. 2. Sodann zu nicht-rechtlichen Erscheinungsformen der Globalisierung: „Technik“, „Handel und Wandel“ wurden schon genannt. Die NGOs gehören (neben den Medien) zum effektiven „Trägerpluralismus“ in Sachen Globalisierung. So diffus ihre rechtliche Struktur sein mag, so wirksam sind sie für die Menschenrechte als den prinzipiellen Erscheinungsformen der rechtlich fassbaren Globalisierung. Diese darf weder als „Zauberwort“ und Schlüssel für alles und jedes verwandt werden, noch verdammt und einseitig kritisiert werden. „Globalisierung“ muss in ihrer Ambivalenz erkannt werden: sie kann kulturelle Vielfalt gefährden und einebnen, wobei der Mensch ins Bodenlose stürzt, sie kann aber auch bereichern, weil die Verschiedenheiten nach Nationen und Regionen bzw. Kulturen bewusst werden. Es entsteht eine globale Weltgemeinschaft. Die Überwältigung des Menschen und seiner Rechte durch die allmächtige „Ökonomisierung“ ist das Problem (dazu später). Der sog. „Weltmarkt“, der internationale Wettbewerb, der „global player“ (worüber H. Ehmke sogar einen Roman geschrieben hat) deuten an, was gemeint ist. Rechtliches und Nicht-rechtliches spielen zusammen. Die Technik liefert z. B. in Form des Internet die äußeren Möglichkeiten. Der erhoffte Zugang aller zu wissen-

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

schaftlichen Forschungsergebnissen („global access“) gehört hierher. Es bauen sich aber auch gefährliche Macht- bzw. Wirtschaftsstrukturen auf, die den Menschen vergewaltigen, unterdrücken, Armut produzieren und Krankheiten exportieren. Was ist zu denken und zu tun? 3. Zuletzt: Ein idealistisches Bild der „einen Welt“: Bei so viel „Wirklichkeit“, Ökonomie, auch Macht, bei so viel realer Grenzüberschreitung von Gutem und Bösem ist nach einer konstitutionellen philosophischen Orientierung dank der Klassik Ausschau zu halten: M. E. ist der Globus vom Deutschen Idealismus und der Weimarer Klassik her zu verfassen. Die Menschheit, die „weltbürgerliche Absicht“ i. S. I. Kants, das „Weltbürgertum aus Kunst und Kultur“ und vor allem Goethes Gedicht sind als Maßstab zu nehmen: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, nord- und südliche Gelände ruht im Frieden seiner Hände“. Hat die UN in vielen Texten die Menschheit in den Blick genommen, so waren ihr früh deutsche Dichter und Denker von Herder bis Goethe, von Kant bis Schiller vorausgegangen. Die Menschheit darf freilich nicht als Alibi für die Verkennung der kleinen Probleme vor Ort genommen werden („Lokalpatriotismus“). Doch ist sie ein „idealer“ Bezugspunkt z. B. für das Völkerrecht, verstanden als „Menschheitsrecht“, ein Konzept von mir aus dem Jahre 1997. Die Menschenrechte meinen auch die Einzelnen als Repräsentanten der Menschheit. Zitieren wir Kant: nach ihm ist der Lügner nichtwürdig und ehrlos: „Er verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“ (Nachweise in meiner Monographie: „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“, 1995, S. 41). Vor allem aber ist der Blick in alle vier Himmelsrichtungen von Weimar her eine Orientierung. So wird die Einebnung der Vielfalt der Kulturen vermieden. Ost und West, Nord und Süd behalten ihren Eigenwert, „Grenzen“ ihren Sinn. Somit wird die Kultur als „Humus“ für den Globus erkannt, sie verschafft Menschheit und Menschen ihre Identität. Sie ermöglicht der „aufrechten Gang“. Die UNESCO-Abkommen sind in diesem Rahmen zu sehen, das „Weltkulturerbe“ und sein Schutz helfen der Welt bzw. Menschheit von der Kultur, vom Kulturrecht her. Zugleich geht es um demütige Bewahrung der Schöpfung als Natur. Nur so kann „Globalisierung“ verstanden, auch eingegrenzt, die Ökonomisierung und Vermarktung begrenzt werden. Die Menschenrechte aber haben in diesem Koordinatensystem den ihnen gebührenden zentralen Platz. Sie sind das Kulturgut par excellence, weltweit und national wie regional. So könnten wir doch die „geheimen Brücken“ zwischen Menschenrechten und Globalisierung finden. Hier hat meines Erachtens der Weltbürger, der zugleich Nationalbürger und – regional – Europa- bzw. Unionsbürger ist, seinen Platz. Vielen Dank Ihnen allen.

IV. Dankesrede am 13. Mai 2013 in Rom* Das heutige Seminar hat mich sehr gerührt und berührt. Wie soll ich nur für alles danken? An erster Stelle Paolo Ridola als Initiator und Organisator zusammen mit Paco Balaguer. Sodann danke ich für die Grußworte seitens der Präsidenten und Direktoren Giorgio Spangher, Giuseppe Santoro Passarelli sowie Cesare Pinelli und Herrn Präsidenten Antonio Baldassarre. Nicht an letzter Stelle danke ich den Vorsitzenden der Diskussionsrunden, meinem alten ersten Freund Angelo Antonio Cervati, A. D’Atena, Herrn Präsidenten Gilmar Mendes, Herrn Prorektor Fulco Lanchester (er ist der beste italienische Kenner der Verfassung von Weimar). A. A. Cervati und Gilmar Mendes durfte ich einmal Bayreuth und Weimar zeigen – in den 90er Jahren unvergessen, Weimar ist m. E. der einzige Ort, der Rom die Balance halten kann. Mein letzter Dank gilt den Referenten, auf die ich gar nicht alle eingehen kann. Herr Politi hat zusammen mit Frau Rossi vor Jahren mein Büchlein „Der Verfassungsstaat“ für die Enzyklopädie Treccani meisterhaft übersetzt. Beide haben auch heute vortrefflich referiert. 1. Wenn ich nur weniges an Inhaltlichem zu den Interventionen sagen darf: Die Menschenwürde ist für mich nach wie vor die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, die freiheitliche Demokratie ihre organisatorische Konsequenz. Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG in Karlsruhe diesen Gedanken – ohne Zitat – übernommen, auch den Begriff der „Europarechtsfreundlichkeit“. Die Referenten zum ersten Thema heute, nämlich Gregorio Cámara Villar, Markus Kotzur, Gaetano Azzaritti, Massimo Luciani, Francesco Rimoli (der Musikerjurist) sowie die Großen in unserer Zunft, nämlich Diego Valadés aus Mexico haben viel Neues hinzugefügt. Das schöne Intermezzo von Augusto Aguilar und Angelo Schillaci rührte mich besonders, denn ich habe von Anfang an, d. h. seit dem Sommersemester in Tübingen als Lehrstuhlvertreter des großen G. Dürig (1969), auf das Pädagogische ebenso viel Wert gelegt wie auf das Wissenschaftliche. Die Wissenschaft von heute ist die Lehre von morgen! Meine „Pädagogischen Briefe“ an einen jungen Verfassungsjuristen suchen dem ein wenig nachzugehen. Sie wurden ins Spanische übersetzt (2. Aufl. 2014). Die zweite Sitzung verdanken wir zunächst dem großen Referat unseres spanischen Freundes Paco Balaguer. Das Thema könnte nicht aktueller sein. Ich bin ihm angesichts fehlender wirtschaftswissenschaftlicher Kenntnisse kaum gewachsen, das glanzvolle Referat aus Granada (eine Dokumentation der „neuen Schule von Granada“) samt den Interventionen so vieler herausragender Gelehrter wie Vasco * Gehalten am 13. Mai 2013 an der Universität La Sapienza. Erstveröffentlichung.

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

Pereira da Silva (Universität Lissabon), Jörg Luther, Roberto Nania, Simona Rossi, Damiano Nocilla, Benjamino Caravita und Roberto Miccú haben hier wie in einem „europäischen Hauskonzert“ viele Fragen geklärt. Das letzte Intermezzo seitens Alessandras di Martino und Giorgio Repetto galt zu Recht meinem großen Lehrer Konrad Hesse. Alles Wesentliche verdanke ich ihm – ich sage dies bei jedem größerem oder kleinerem Anlass. Hinzu gehört die Kunst, von den Denkvoraussetzungen auszugehen, von der Verfassung her zu denken, nicht vom Staat her, das Grundsätzliche zu erfassen und das Erbe von Rudolf Smend mit gewissen Korrekturen in Europa weiter zu tragen. 2. Erlauben Sie einige Stichworte zu meinem inneren und äußeren Weg. Ganz früh waren es die Mentoren K. Hesse, J. Esser und H. Ehmke, die mir wissenschaftliche Vorbilder wurden. Ich suchte dann meinen Weg von Deutschland aus zunächst in die Schweiz. Den fünften Ruf nach St. Gallen (1981) habe ich zwar abgelehnt, aber seit 1982 war ich ständiger Gastprofessor der Rechtsphilosophie in St. Gallen. Die „kleine Schweiz“ hat mich gelehrt, das scheinbar Kleine zu achten und die Theoriehöhe der Gedanken nicht zu weit zu treiben, sondern durch den berühmten „Schweizer Pragmatismus“ korrigieren zu lassen. Auch lernte ich viel über die so gelingende halbdirekte Demokratie der Schweiz und den Föderalismus. Von der Schweiz aus suchte ich, wie viele Deutsche, den Weg nach Italien und hier besonders nach Rom, ein wenig auch nach Turin (Prof. Zagrebelsky und Girgione Luther). Früh gewann ich in Rom die Freundschaft der Professoren Cervati, D’Atena, Nocilla (die drei genannten haben den Spitznamen „das Trio Infernale“ mannhaft ertragen) und die Freundschaft mit Lanchester (seine hochgebildete, temperamentvolle Mutter ist unvergessen). Von Italien aus durfte ich den Weg nach Spanien suchen. Dort war Granada zu meiner zweiten oder dritten Heimat geworden, dank der anwesenden Freunde Balaguer und Camara. Danach war mir eine Steigerung vergönnt: der Brückenbau nach Mexiko in Gestalt von Diego Valadés und nach Brasilien in Gestalt von Gilmar Mendes und Ingo Sarlet. Fast mag man an eine Fügung glauben, doch bleiben wir bescheiden, auch wenn ich noch die Einladungen nach Lima und Buenos Aires (R. G. Ferreyra) erwähnen darf. Portugal durfte ich schon zweimal besuchen, heute danke ich besonders Herrn Vasco Pereira da Silva. Lateinamerika ist mir dank Spanien und Portugal besonders ans Herz gewachsen. Überhaupt ist es die romanische Seele, die mich so anspricht: darum das schöne Wort von Antonello D’Atena, ich sei ein „Mezzo Romano“. Diesen äußeren Wegen entspricht ein innerer Weg. Einige Stichworte müssen genügen: – die Entdeckung der Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ im Jahre 1989 – das Postulat von der kontextsensiblen Auslegung, dies meint: „Auslegen durch Hinzudenken“ (1979 / 2001) – die Lehre von der Trias von Verfassungstexten, Judikatur und wissenschaftlichen Theorien, die im Prozess der Verfassunggebung, Verfassungsänderung und der Verfassungsinterpretation relevant sind

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– die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975), die dank Gilmar Mendes in Brasilien intensiv diskutiert wird – die Orientierung am wissenschaftlichen Optimismus statt am wissenschaftlichen Pessimismus i. S. von H. Schelsky – das gedämpft optimistische Menschenbild i. S. von J. Locke und Montesquieu – das Konzept von der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982) – die Forderung nach Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ i. S. von J. Esser – die Lehre von den nationalen Verfassungen im Europa der EU und des Europarates als Teilverfassungen. – zuletzt der Versuch einer universalen Verfassungslehre im Kontext der Teilverfassungen des Völkerrechts (erscheint 2013).

3. Zuletzt einige Worte zu Italien, zum „europäischen Italien“ und zu Europa im Ganzen: Der Brückenbau nach Italien, Spanien und Portugal gerade heute bedeutet für mich höchstens wissenschaftliches und persönliches Glück. An Italien bewundere ich Vieles, trotz der heutigen Krise oder gerade wegen der heutigen Krise. In ihr spielt die deutsche Bundesregierung derzeit leider keine glückliche Rolle, auch nicht im Verhältnis zu Griechenland. Man mag streiten, wieviel Austeritätspolitik, Wachstums- und Schuldenpolitik sowie Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit für eine nationale Wirtschaft jeweils notwendig sind. Erinnert werden muss zuerst an die uns alle verpflichtende „europäische Solidarität“. Sie hat im Vertrag von Lissabon auch textlichen Ausdruck gefunden. Die EU hat bereits eine „präföderale Struktur“. Aus ihr ergeben sich für alle Solidaritätspflichten, auch „Hausaufgaben“. In den USA war es der Mitautor der Federalist Papers A. Hamilton, der für die Vergemeinschaftung von Schulden der Einzelstaaten im dortigen Bundesstaat begründet hat. Deutschland kam nach 1945 dank des Marshall-Plans wieder auf die Füße. Heute sind es vor allem die Länder des Südens, nämlich Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, die über den Finanzausgleich die nördlichen Länder wie Berlin, Bremen und Sachsen-Anhalt unterstützen. Sie alle wissen, dass Günter Grass ein außerordentliches Gedicht in Sachen Griechenland komponiert hat, das in der öffentlichen Meinung Deutschlands heftig kritisiert wurde. Es ist immer wieder daran zu erinnern, wie viel Deutschland Athen und Rom verdankt. Auch der Altkanzler H. Schmidt wagte es, die Art und Weise des deutschen Regierungshandelns heute zu kritisieren. Als bescheidene „Fußnote“ stehe ich auf dieser Linie und bin traurig, dass sich keiner der deutschen Europarechtler oder sonst bedeutenden Staatsrechtslehrern bislang zu diesem Thema exponiert hat. Umso mehr danke ich Prof. Balaguer dafür, dass er mir in seiner Zeitschrift ein Forum für meinen Diskussionsbeitrag in dieser Sache schon im November 2012 eröffnet hatte. Hier noch einige Stichworte, mit denen ich meine Bewunderung für Italien zum Ausdruck bringe:

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– das frühe „Manifest von Ventotene“ – die Regionalstatute, die als „kleine Verfassungen“ viel von den Kulturlandschaften und Städtebildern Italiens einfangen – die großen Leistungen der italienischen Staatsrechtslehrer in Vergangenheit und Zukunft und die Judikatur der Corte (z. B. unter der Präsidentschaft von A. Baldassarre und G. Zagsebelsky) – der „genius loci“ speziell von Rom; ihn sehe ich in der gleichzeitigen Präsenz fast aller Kulturepochen – von den Obelisken, der römischen Architektur bis zum Renaissance und Barock, alles gleichzeitig in dieser Stadt – ich erwähne nicht die Erfindung des Speiseeises in Palermo, des Klaviers in Florenz, der Nudelgerichte, der Notenschrift (Guido von Arrezzo) und der Oper (C. Monteverdi).

Im Ganzen: Dank Ihnen allen für die wissenschaftliche Freundschaft am heutigen Tag, Dank insbesondere Paolo Ridola als spiritus rector und Dank für seine Laudatio.

V. Abschlussreferat in Montpellier (2013)* Vorbemerkung Erlauben Sie vor meinem Dank für das außerordentlich ertragreiche Seminar hier in Montpellier einige Bemerkungen zu meiner alten Verbundenheit mit Frankreich, zu meinem hohen Respekt vor der französischen Rechtskultur und zum heutigen, so anregenden Thema. Drei Gründe gibt es für meine langjährige Verbundenheit mit Frankreich schon seit Studententagen: 1. Dank eines Stipendiums der französischen Regierung durfte ich im Wintersemester 1956 / 57 an der Universität Montpellier studieren, insbesondere bei Professor G. Péquignot. 2. Damals entdeckte ich, auch mit seiner Hilfe, die Institutionen-Theorie von M. Hauriou, dem Meister aus Toulouse. Mit ihr konnte eine Grundlegung für meine Dissertation über die grundrechtliche Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG bei K. Hesse in Freiburg gelingen (1962, 3. Aufl. 1983; italienische und spanische Übersetzungen: 1993 bzw. 1997 / 2003). Möglich wurde die Lehre vom „Doppelcharakter“ der Grundrechte: neben der subjektiv-individualrechtlichen Seite eine objektiv-institutionelle, die beide der gesetzgeberischen Ausgestaltung fähig und bedürftig sind. 3. Mit ihrem großen Gelehrten G. Burdeau kam es in den 70er Jahren zu einem freundschaftlichen Kontakt: Ich lud ihn zu einem Seminarvortrag sowie zu einem Hauskonzert nach Marburg (meine Universität 1969 – 1976) ein, und er empfing mich in seinem Ferienhaus in Burgund. So konnte ich einen Beitrag von ihm im Jahre 1983 für das (von mir als Nachfolger von G. Leibholz seit 1983 herausgegebene) Jahrbuch des öffentlichen Rechts gewinnen („Alternance et continuité“, JöR 32 (1983), S. 1– 8). Besonders wertvoll war mir seine (vermutlich in Frankreich nicht so bekannte) „Selbstdarstellung“: „Du droit à la science politique“ (JöR 33 (1984), S. 154 – 166), eine Rubrik für Autobiographisches, die ich im JöR für außerordentliche Gelehrte neu geschaffen habe und zu der zuletzt M. Fromont einen eindrucksvollen Beitrag geschrieben hat; er wird in Band 62 (2014) erscheinen. Überhaupt ist es immer wieder gelungen, französische Kollegen um Aufsätze für das JöR zu bitten, besonders für den Schwerpunktband „Frankreich: 1789 – 1989“ (JöR 38 (1989)), mit Beiträgen u. a. von J. Godechot, P. Avril, L. Philip und F. Luchaire.

* Gehalten im Dezember 2013 an der Universität Montpellier. Erstveröffentlichung.

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

I. Eine Hommage an Frankreich Mein großer Respekt vor der französischen Rechtskultur (als Teil der europäischen) hat viele Gründe. Ich erinnere nur an das einzigartige Selbstverständnis Frankreichs als „Republik“ und als Land der (universalen) Menschenrechte sowie an den Code civil. Früh bewunderte ich die prätorische Entwicklung des französischen Verwaltungsrechts, die vor allem dem Conseil d’ Etat zu verdanken war. Seine Ausstrahlung in das europäische Verfassungs- und Verwaltungsrecht bis heute ist bekannt. Eindrucksvoll ist auch die schrittweise Entwicklung des Conseil Constitutionnel in Paris zu einem veritablen Verfassungsgericht. Die französischen Klassiker wie M. Hauriou, L. Duguit und Carrée de Malberg sind Riesen, auf deren Schultern wir auch heute stehen – ganz zu schweigen von Montesquieu, Rousseau und A. de Tocqueville. Das Bild von den „Riesen“ gilt in Deutschland bis heute für die Weimarer Klassiker: R. Smend, C. Schmitt, H. Kelsen und H. Heller. Wir stehen auf ihren Schultern, und sehen, obwohl selbst Zwerge, mitunter doch ein wenig weiter als sie. In der Gegenwart sind es besonders Frau C. Grewe und Herr M. Fromont, die im Verfassungsrecht Brücken zwischen Deutschland und Frankreich geschlagen haben und das deutsch-französische Wissenschaftlergespräch vorantreiben – auch als Mitglieder der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. In der jüngeren Generation gibt es jetzt meines Wissens eine lebendige deutsch-französische Arbeitsgruppe. Von meinen italienischen und spanischen Freunden, die heute zum Teil hier sind, habe ich viel über den Typus des Regionalstaates gelernt. Ich frage mich heute und auch Sie heute, warum es Frankreich so schwer fällt, die Regionen (ihre Kulturlandschaften und Städtebilder) ideell und reell mit verfassungsrechtlichem Leben zu erfüllen. Die italienischen und spanischen Regionalstatute sind schon „kleine Verfassungen“, sie gleichen einer verfassungspolitischen „Werkstatt“ mit eigenen Stilelementen und Inhalten, einem „Laboratorium“ mit vielen Themen (z. B. Europa-Artikeln, Symbol-Artikeln, Grundrechtstexten, Verfassungsaufträgen) und vielen Akteuren vor Ort: im JöR wurde dies immer wieder dokumentiert (z. B. JöR 43 (1995), 47 (1999), 58 (2010)). Immerhin ermutigt mich die Tatsache, dass in Frankreich vor wenigen Jahren die Regionalsprachen zum kulturellen Erbe der Nation („patrimoine“) in Gestalt einer Verfassungsänderung aufgewertet wurden (Art. 75 – 1 von 2008). Die genannten Klassiker der französischen Rechtskultur haben auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung vieles geleistet. Meine Frage an die anwesenden Kollegen vor Ort lautet: Greift die heutige französische Wissenschaftlergemeinschaft diese Tradition genügend auf? Gelingt es den Kollegen, ihren Studenten ein farbkräftiges Bild des „Europäischen Juristen“ zu vermitteln? Um dieses Ideal des „Europäischen Juristen“ (dazu meine „Pädagogischen Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen“, 2010, spanische Übersetzung 2013) muss heute in ganz Europa gerungen werden und dazu hat, gewiss auch das heutige Seminar einen Beitrag geleistet. In diesem Kontext bin ich besonders glücklich, dass Frankreich auf EU-Ebene bei den Verhandlungen über eine transatlantische Freihandelszone kürzlich die berühmte „kul-

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turelle Ausnahme“ durchgesetzt hat (bei uns in Deutschland geht es um die Buchpreisbindung). Erwähnt seien auch die klassischen Leistungen Frankreichs beim Zustandekommen der Römischen Verträge (1957) sowie im EU-Konvent (2004). Ich denke etwa an die guten Texte von Giscard d’ Estaing und seine Moderation im Konvent. All dies ist dokumentiert und kommentiert in JöR 53 (2005), S. 457 ff., 54 (2006), S. 629 ff. Die unseligen US-Rating-Agenturen sollten von Europa her diszipliniert werden, etwa durch Haftungsregelungen. II. Stichworte zur eigenen Gedankenwelt Da dies der erste wissenschaftliche Kongress ist, bei dem ich in Frankreich mitwirke, ist vielleicht in Gestalt von Stichworten eine Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ im Sinne von J. Esser erlaubt und notwendig – manches findet sich in dem von Frau C. Grewe betreuten Buch von mir: „L’Etat Constitutionnel“, aus der Reihe von L. Favoreu, 2004, ursprünglich in der berühmten Enzyklopädie Treccani (Rom) erschienen. Ein früher Versuch gilt der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Juristenzeitung 1975, S. 297 ff.). Es geht um die Frage, wer die Verfassung auslegt, nämlich auch die Bürger: „Wer die Verfassung lebt, interpretiert sie (mit)“! – constitutio cum legentibus et viventibus crescit“ – (in Abwandlung einer Sentenz von Papst Gregor dem Großen). Später erweiterte ich diesen Ansatz im Blick auf den Verfassunggeber als Akteur. Die Lehre von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode schließt sich an (JZ 1989, S. 913 ff.) – die analogen fünf Gestaltungsmethoden der Verfassunggeber ließen sich für die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nachweisen (dazu die Neuausgabe von JöR Bd. 1 (1951), 2010). In Island haben 2013 viele Bürger einen Verfassungsentwurf „wie in Wikipedia“ geschrieben: eine offene Gesellschaft der Verfassunggeber. Klassikertexte sind im kooperativen Verfassungsstaat unentbehrlich (1981) – „Klassiker“ als Wert- und Erfolgsbegriff verstanden; wir beobachten dabei Renaissancen von Klassikern und ein zeitweises Vergessenwerden (wie in der Musik bei Gustav Mahler). Hinzu kommt die Kontextthese von 1979: das meint: „Auslegen durch Hinzudenken“. Das Wagnis einer „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ suchte ich 1982 / 98. Einzelausarbeitungen sind die Monographien zu den Feiertagen (1987), Nationalhymnen (2007) und Nationalflaggen (2008) als kulturelle Identitätselementen des Verfassungsstaates. Das Konzept der Verfassung als öffentlicher Prozess (1969), als rechtlicher Grundordnung von Staat und Gesellschaft kommt hinzu. Seit 2001 / 02 bemühte ich mich um eine Europäische Verfassungslehre (7. Aufl. 2011), zuvor skizzierte ich die Idee vom „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ (1991), auch den Begriff „Verfassungskultur“. Mein Textstufenparadigma von 1989 bedeutet: Die Entwicklung des Typus kooperativer Verfassungsstaat geschieht in Textstufen: Was hier und heute Judikatur und Wissenschaft bzw. die Praxis leisten, wird später in einem benachbarten oder im eigenen Verfassungsstaat auf die Ebene eines formalen Verfassungstextes gehoben (so geschehen z. B.

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in Sachen Pluralismus und Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens seitens des BVerfG, auch in der pluralen Medienfreiheit europaweit nachweisbar, z. B. Art. 11 Abs. 3 Europäische Grundrechte-Charta von 2007 bzw. Art. 4 Abs. 3, Art. 34 Verf. Frankreich). Die Trias von Texten, verfassungsrichterlicher Judikatur und wissenschaftliche Theorien formt gemeinsam den Typus kooperativer Verfassungsstaat „im Laufe der Zeit“. Zuletzt schloss sich der Entwurf einer „universalen Verfassungslehre“ im Kontext der Teilverfassungen des Völkerrechts an (2013). Es geht um die Erarbeitung der Wechselwirkungen zwischen den Prinzipien und Texten des (universalen) Völkerrechts und dem nationalen Konstitutionalismus. „Teilverfassungen“ des Völkerrechts (die auf Dauer angelegt sind, jede Art von Macht beschränken und rechtliche Orientierungswerte liefern), die thematisch (teils sich überlappend, teils komplementär, teils nebeneinander oder kumulativ) in einem Verhältnis des Gebens und Nehmens zum nationalen Verfassungsrecht stehen, sind z. B. die universalen Menschenrechtspakte oder die UN-Konventionen zur kulturellen Vielfalt, zum Weltkulturerbe, zum Artenschutz, zu den Kinderrechten, zum Behindertenschutz, zum Folterverbot, auch Aspekte des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung. Auch hier finden sich Textstufen, Produktion und Rezeption: etwa in neuen Verfassungen in Afrika (z. B. Südafrika, Kenia), in Lateinamerika (z. B. Venezuela und Ecuador) sowie auf dem Balkan (z. B. im Kosovo und in Serbien). In Deutschland gibt es nach wie vor eine lebhafte Diskussion zum „richtigen“ materialen Verfassungsverständnis. Erinnert sei positiv an die Idee, Verfassung sei „Anregung und Schranke“ (R. Smend), „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), negativ: dezisionistische Entscheidung „normativ aus dem Nichts“ (C. Schmitt). Aus meiner Sicht ist die Verfassung öffentlicher Prozess und Kultur. Die Theorien von Smend und Scheuner behalten ihr relatives Gewicht. Vor allem aber ist um die „Verfassung des Pluralismus“ (1980, spanische Übersetzung, 2. Aufl. 2013) zu ringen; wie schwer dies fällt, zeigen die Ereignisse in Ägypten im Sommer 2013. H. Kelsen („jeder Staat ein Rechtsstaat“) bleibt mir fremd. Es gibt heute verfassende Elemente jenseits des Staates: die Teilverfassungen des Völkerrechts. Im Übrigen folgen wir der Erkenntnis von R. Smend und A. Arndt: Es gibt nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert. Mosaiksteine für einen universalen Konstitutionalismus, zu dem der brasilianische (im Ganzen der lateinamerikanische) ebenso Beiträge leistet wie der französische, italienische oder spanische sind: aus den werdenden USA der Satz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: „We hold these truths …“; sodann Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: „Toute sociéte dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution“; schließlich das sich weltweit verbreitende demokratische Motto „we, the people“; auch die Idee der vertikalen Gewaltenteilung, in welchen Varianten auch immer (Föderalstaat, Regionalstaat), gehört hinzu, ebenso der „Rechtsstaat“, die rule of law, der due process, ein Stück „Weltrechtskultur“ – Ausdruck meines „wissenschaftlichen Optimismus’“.

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Hinzu kommen konstitutionelle Mosaiksteine aus dem Völkerrecht, das als universales „konstitutionelles Menschheitsrecht“ verstanden wird. Sein Kraftfeld ist die Weltöffentlichkeit. Brauchen wir ein universales Menschenrecht auf Datenschutz, ein „Internet-Völkerrecht“? Ein Merkposten sei der Hinweis auf die gebotene Erarbeitung des europäischen Religionsverfassungsrechts (statt des sehr deutschen Begriffs „Staatskirchenrecht“).

III. Das Gespräch mit den Referenten und Diskutanten unseres Kongresses Die Vielzahl der Beiträge war in Form und Inhalt beeindruckend groß. Ich kann als dankbarer Teilnehmer nur auf Weniges eingehen und dabei vereinzelt meinen eigenen europaverfassungsrechtlichen Ansatz offenlegen. Zunächst ein Wort zu dem glanzvollen Vortrag von Prof. Balaguer. Seine Kritik am Primat der entfesselten Finanzmärkte ist nur zu berechtigt (Papst Franziskus kritisierte kürzlich die „unsichtbare Tyrannei der Märkte“). Nicht selten wurden die Normen von Europa als „Rechtsgemeinschaft“ (W. Hallstein) verletzt (auch von Deutschland bei den Kriterien von Maastricht). Der Begriff „constitutionnalisme composé“ überzeugt mich. Ins Deutsche könnte er vielleicht mit dem Wort „Verbunds-Konstitutionalismus“ übersetzt werden. Aus meiner Sicht gleicht das Europäische Verfassungsrecht einer „Teilverfassung“, im lebendigen Austausch mit den nationalen Teilverfassungen. Den beliebten Begriff „Mehrebenen-Konstitutionalismus“ meide ich, weil er allzu leicht mit unangemessenen Hierarchievorstellungen verbunden ist. Es geht um die Etablierung einer spezifisch juristischen Methode im Europäischen Verfassungsrecht, die sich nicht durch ökonomische Vorgänge und Methoden überwältigen lässt. Der „europäische Jurist“ muss besser gehört werden, wieder eine Stimme gewinnen, zumal die Nationalökonomie zur Lösung der Wirtschaftskrise aus meiner Sicht Weniges beigetragen hat, ja recht eigentlich gescheitert ist. Der Eigenwert des Rechts gegenüber der Wirtschaftspolitik („orthodoxie économique“) muss betont werden. Darum stimme ich auch dem Kollegen A. Viala zu, wenn er um das Europäische Verfassungsrecht ringt. Es handelt sich in der Tat um eine eigene akademische Disziplin. Vielleicht sollte man sogar über eine interdisziplinäre „Europawissenschaft“ nachdenken, in der die Verfassungsgeschichte, die Wirtschaftswissenschaft, überhaupt die Geistesgeschichte Hand in Hand arbeiten; hier hätte dann die Wirtschaftswissenschaft einen bescheideneren Platz. Wir müssen uns auch fragen, was das oft geforderte „Mehr“ Europa praktisch bedeutet (eine Haftungsunion?, eine Bankenunion?, Eurobonds?, eine Koordination der Fiskalpolitik?, eine gemeinsame Wirtschaftsregierung?, Harmonisierung der Steuertarife?). Wo liegen die Grenzen der Vergemeinschaftung? Wir haben wohl längst ein Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, man denke an die 17 Mitglieder des Euro sowie den Schengen-Raum. Führt die ständige Erweiterungspolitik (am 1. Juli 2013 Kroatien, später vielleicht Serbien und das Kosovo

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

oder sogar die Türkei) nicht in die Irre? Wie kann Erweiterung und Vertiefung der EU gleichzeitig gelingen (Stichwort: „Überanstrengung“ der EU). Zu Recht wird „europäische Solidarität“ gefordert (sie muss freilich mit nationaler Verantwortung und effizienter Reformpolitik vor Ort gepaart sein: Solidität), erinnert sei an die Kritik von G. Grass und H. Schmidt an der kurzatmigen, ausschließlich am Sparen orientierten Europapolitik der deutschen Bundeskanzlerin A. Merkel. Hat sie in Berlin überhaupt noch eine Idee von Europa (Jerusalem!, Athen!, Rom!, Florenz!, Paris!, Chartres!, Weimar!), von Europa als generationenübergreifendem Friedensprojekt?, von Europa als rechtskultureller Vielfalt? (ihr gibt z. B. der berühmte margin of appreciation des EGMR-Raum). Jedenfalls muss die Sparpolitik durch Wachstumspolitik ergänzt werden. Die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern Südeuropas ist ein Skandal. Wir verlieren eine ganze Generation, wo wir doch sonst immer an den Schutz der künftigen Generationen in vielen neuen Verfassungstexten (nicht nur im Umweltschutz) denken. Die Zukunft Europas hängt gerade auch von der Jugend ab. Wo bleibt die zu Recht vielgerühmte „soziale Marktwirtschaft“? Ein Wort zu dem inspirierten und inspirierenden Referat von P. Ridola in Sachen Art. 6 EUV. Ich stimme ihm in jeder Hinsicht zu. Art. 6 ist aus meiner Sicht eine präföderale Strukturnorm. Dieser Art. 6 steht heute vor seiner Bewährungsprobe im Blick auf Ungarn, dem das Europäische Parlament im Sommer 2013 ein Verfahren nach Art. 7 EUV angedroht hat. Eventuelle Sanktionen müssen stets vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht sein. Das seinerzeitige Vorgehen gegen Österreich (2000) war ein Desaster und eine Verletzung des Europäischen Verfassungsrechts (kein vorheriges Anhörungsverfahren, Verstoß gegen das Treueprinzip). Im Übrigen gehört zu Europa von Anfang an der Respekt vor den kleineren Ländern. Ein Wort sodann zum Verhältnis der nationalen und europäischen juristischen Systeme (die Moderation von X. Magnon und die Referate von F. Vecchio, U. Haider und J. Arlettaz). Ich meine den „Runden Tisch“ von 12.00 bis 13.00 Uhr – er ist als solcher ein kulturelles Gen der Menschheit (Stichwort: König Artus’ Tafelrunde und der Runde Tisch in Polen 1989). Die hervorragenden Beiträge sind unter die Leitidee der rechtskulturellen Vielfalt und Einheit zu stellen. Wir befinden uns im „europäischen Haus“ und in der (schon existierenden) europäischen Öffentlichkeit in einer großen Lerngemeinschaft. Wir beobachten ein wechselseitiges Nehmen und Geben. Deutschland kann vom französischen Verwaltungsrecht lernen, umgekehrt haben Prinzipien wie die „Bundestreue“ (R. Smend) oder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (seit dem preußischen Oberverwaltungsgericht) als Element des Rechtsstaates in vielen Ländern Europas Gestalt angenommen – ich spreche ungern von „Export“ oder „Import“, weil diese Begriffe zu sehr an die Wirtschaft denken lassen (beim vielgerühmten dualen Ausbildungssystem für die Jugend mögen wir von „Export aus Deutschland“ sprechen). Errungenschaften der Rechtskultur können aber nicht mit wirtschaftlichen Begriffen behandelt werden. Vielleicht darf man beim wechselseitigen Austausch zwischen den nationalen Rechtskulturen und der europäischen Verfassungskultur mit dem Bild der „Osmose“ arbeiten. Die einzelnen Länder behalten zwar die Identität ihrer nationalen Rechtskultur, sie sind aber zu-

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gleich Teil des konstitutionellen Europas, des europäischen „Hauskonzerts“. Dabei müssen wir zwischen dem europäischen Verfassungsrecht im engeren, d. h. EU-bezogenen Sinne und dem im weiteren, d. h. auf den Europarat bezogenen, unterscheiden (das EMRK-Europa). Beide Kreise befruchten sich, zumal wenn es zu einem Beitritt der EU zur EMRK kommt. Die EMRK ist meines Erachtens auch im deutschen Grundgesetz mehr als eine bloße „Auslegungshilfe“ (so aber BVerfGE 131, 268 (295 f.)). Ein reizvoller Diskussionspunkt ist die Frage, ob es bei dem Streit um das Verhältnis zwischen dem deutschem BVerfG und dem EuGH nur um eine „querelle allemande“ geht oder ob alle nationalen bzw. europäischen Verfassungsgerichte vor der Frage des richtigen Maßes an gesamthänderischer Kooperation stehen (Stichwort: „dialoge des juges“). Jedenfalls darf es nicht zu einer dauernden Konfrontation zwischen BVerfG und EuGH, d. h. Karlsruhe und Luxemburg kommen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird jedenfalls weltweit immer wichtiger. Einzubeziehen sind auch die Internationalen Gerichte. Hier noch einige Stichworte zu meinem eigenen Konzept. Ich charakterisiere die EU als „Verfassungsgemeinschaft eigener Art“ (eine Grundrechte- und Grundwertegemeinschaft), um das Wort von der „europäischen Gemeinschaft“ im Sinne W. Hallsteins für den wissenschaftlichen Diskurs zu retten. Wir alle kennen den Ausspruch von J. Monnet: Wenn er heute noch einmal mit der europäischen Einigung beginnen würde, würde er mit der Kultur anfangen. Dies deutet auf eine frühe Kritik am ökonomistischen Denken hin; darum ist es falsch, die politische Bedeutung eines Landes nur noch an dessen wirtschaftlicher Potenz zu messen (so etwa geschehen im Fall von Griechenland und Zypern). Wir sollten uns gerade von diesem Klassiker inspirieren lassen. (Auch D. Tsatsos’ Begriff der „Unionsgrundordnung“ ist fruchtbar.) Die weitgreifende Ökonomisierung des Denkens und Handelns heute irritiert. Besonders dankbar dürfen wir für die nationalen Länderberichte, z. B. über Spanien und Italien sein (die Referate der Kollegen Cámara Villar und J. Luther). Mit einem „italienischen Europa“ könnten wir angesichts des außerordentlichen Reichtums der italienischen Kultur leben, sehen wir von dem unseligen S. Berlusconi ab …, aber das Wort vom „deutschen Europa“ sollte uns aus vielen Gründen nicht mehr über die Lippen gehen. Wir sprechen stattdessen mit T. Mann von einem „europäischen Deutschland“. Spanien liegt mir, wie Italien, besonders am Herzen. Seine wissenschaftlichen Beiträge, z. B. seitens der neuen Schule des Verfassungsrechts in Granada, seine vitalen Autonomen Gebietskörperschaften und die vielen Leistungen des Verfassungsgerichts in Madrid, aber auch, mindestens bis vor kurzem, die vorbildliche verfassungsstaatliche Monarchie („republikanische Monarchie“) sind große Errungenschaften für das vergleichende Verfassungsrecht in Europa. Gleicht Frankreich mitunter einer „monarchischen Republik“? Ein letztes Wort zur Frage der Globalisierung (zu den Beiträgen von Frau Idoux, von Herrn Kollegen Barbosa Ramos sowie Frau E. Rafalyuk und Herrn Jacobo

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

Rios). Hier wurden ebenfalls glanzvolle Referate gehalten. Wir sollten bei dem Postulat nach einem „demokratiekonformen Markt“ bleiben und nicht nach einer marktkonformen Demokratie fragen – dies zu den wichtigen Referaten von Prof. F. Martucci und E. Guillén López. Der Markt hat im kooperativen Verfassungsstaat nur instrumentale Bedeutung, so wichtig er für die Wohlstandsentwicklung ist. Es ist schwer, eine eigene Wirtschaftsverfassung der EU zu erarbeiten – darüber hat Herr Prof. V. Pereira da Silva eindrucksvoll nachgedacht. Sicher gehören die Marktfreiheiten hinzu, auch das Thema Arbeit, umschrieben im Titel „Solidarität“ der Europäischen Grundrechte-Charta. Gleiches gilt für den Respekt vor den nationalen Haushalten (deren demokratisch legitimierte Autonomie und „Gleichgewicht“ in der Zeit). Doch darf das vielgescholtene Diktat der Finanzmärkte bzw. der Troika in Griechenland das Politische und Kulturelle nicht überwältigen; der völkerrechtliche (!) Fiskalpakt und die Schuldenbremse sind zu hinterfragen. Europa kann wohl nur als wirtschaftsmächtiger, wettbewerbsfähiger Global Player (besser wohl als „universaler Akteur“) überleben. Doch muss es seine eigenen, in vielen Jahrhunderten gewachsenen Werte verteidigen, in manchem ähnlich der universalen Sprache der Musik. Dabei kann man nicht auf der nationalen Souveränität im klassischen Sinne bestehen, wenn es um die Abtretung gewisser Kompetenzen nach Brüssel geht. (Das Subsidiaritätsprinzip könnte hier als „Bremse“ wirken.) Die Demokratie ist eine „organisatorische Konsequenz“ der Menschenwürde, diese verstanden als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, wohl auch des universalen Völkerrechts (heute noch eine „konkrete Utopie“). Sehr differenziert wäre an Elemente der direkten Demokratie wie der sogenannten halbdirekten der Schweiz zu denken (Stichwort: derzeitiges Demokratie-Defizit in der EU). Die Tugend der (kulturellen) Rechtsvergleichung zeigt sich einmal mehr. Inspirieren sollte uns Goethes Wort: Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene, jetzt auf die Rechtskulturen übertragen.

Schluss und Ausblick Meine Dankesworte dürfen sich an Viele richten: zunächst an die ideenreichen Organisatoren unseres Seminars, d. h. die Professoren Francisco Balaguer Callejón, Alexandre Viala und Stéphane Pinon; sodann an die Referenten und Diskutanten, überdies die Moderatoren, die mit französischer oder römischer Eleganz (Letzteres mein Freund Antonio D’Atena) ihre Aufgabe meisterten, z. B. die Professoren P. Idoux, L. Burgorgue-Larsen, C. R. Champigneul, beim letzten Runden Tisch mit den Professoren L. Burgorgue-Larsen, A. Schillaci, M. Rodrigues Canotilho, F. Malhière, S. de Charentenay. Für mich ist es bewegend, dass dieses Seminar gerade in Montpellier stattfand. Wie erwähnt, studierte ich hier in jungen Jahren. Im „Herbst des Mittelalters“ oder besser gesagt „Winter des Altertums“ kehre ich noch einmal an diesen inspirierenden Ort zurück. Wir können nur hoffen, dass dieses europäische Wissenschaftlergespräch unter dem Stern Europas hier und dort eine Fortsetzung findet. Wir warten demütig auf große Europäer, der klassischen Generation kongenial:

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A. de Gasperi, J. Monnet, R. Schuman, A. Spinelli, Ch. de Gaulle, K. Adenauer sowie H. Kohl. Denn Europa bleibt eine Aufgabe für die politische Tat und ein Ideal. Der „europäische Jurist“ jedoch, also wir, sind trotz unserer begrenzten Möglichkeiten aufs Äußerste gefordert. Letztlich geht es um den Dienst am „europäischen Bürger“. Ihnen allen herzlichen Dank.

VI. Dankesrede in Lissabon (2014)* Einleitung Mein herzlicher Dank vorweg: an die gastgebende Fakultät hier in Lissabon, insbesondere an V. Pereira da Silva und F. Balaguer (dem ich das Album als „Bilder des Lebens“ verdanke) sowie an die Freunde aus Europa und Übersee. Ich danke auch erneut für die Ehre, auf Anregung von J. Miranda vor einigen Jahren Ehrendoktor der hiesigen Universität (2007) geworden zu sein. Zu unserem heutigen Treffen gibt es schon eine kleine Vorgeschichte: ich erinnere an das wunderbare Kolloquium in Rom am 13. Mai 2013, veranstaltet von P. Ridola, an das wissenschaftliche Kolloquium in Montpellier im Dezember 2013, dank der Professoren Pinon und Viala sowie F. Balaguer. Seit 1992 kam es immer wieder zu solchen freundschaftlichen Kongressen, etwa in Mexiko (D. Valades / Fix Fierro), in Brasilien (G. Mendes / I. Sarlet), in Lima (D. G. Belaunde / C. Landa), in Buenos Aires (dank R.G. Ferreyra und E. Zaffaroni), in Spanien, vor allem in Granada, auch in Madrid, sowie besonders in Rom (dank A. A. Cervati, P. Ridola und A. D’Atena, auch F. Lanchester). Wir erleben heute ein Stück des (Rechts)wissenschaftlichen Europas im Kleinen mit Brückenschlägen nach Lateinamerika, vielleicht sogar eine Werkstatt für die (künftige) vergleichende universale Verfassungslehre. Das heutige Abschiedskolloquium soll nicht primär mir selbst gelten, auch wenn ich nicht leugnen will, dass ich seit 80 Jahren vor allem fleißig war: etwa in Sachen Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Erster Teil

Verfassung als Kultur – das Vorbild Italien I. Das Vorbild Italien (Dokumentation eines römischen Verfassungstages) Eine – vorbildliche – Feier eines Verfassungstages war in Rom zu erleben. Er bezog sich auf 50 Jahre der italienischen Corte („Verfassungsgerichtsjahr“). In einem auch als Ausstellung präsentierten Prachtband1 wurde aus Anlass des 50-jährigen * Gehalten am 13. Mai 2014 an der Universität Lissabon aus Anlass des 80. Geburtstags des Verf. Erstveröffentlichung. 1 1956 – 2006 – 50 anni di Corte Costituzionale: le immagini, le idee, Rom 2006, a cura di P. Boragina und G. Marcenaro.

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Bestehens der Corte die Verfassung von 1947 von Seiten und mit den Mitteln der Kultur, Kunst und Wissenschaft gefeiert. Die einzelnen Artikel der Verfassung von 1947 und die zugehörigen großen Judikate der Corte wurden zugleich im Kontext von Erläuterungen berühmter Verfassungsrichter illustriert. Große Dokumente, Gemälde und Zeichnungen aus der Kulturgeschichte Italiens bis hin zu Beispielen moderner Malerei, etwa im Blick auf das Arbeitermilieu und historische Schlachtengemälde sowie Allegorien über die Gerechtigkeit, wurden dokumentiert. Hier einige Beispiele aus diesem kulturwissenschaftlich-verfassungsjuristisch einzigartigen bibliophilen Werk, das eine Ausstellung dokumentiert hat: – zu Art. 4 (insbes. Recht auf Arbeit): Gemälde einer alten Seidenspinnerei, streikender Arbeiter, auf Reisfeldern tätiger Frauen, eines pflügenden Bauern, einer Baustelle: die Arbeit wird hier zwar traditionell, aber in ihrer ganzen Vielfalt dokumentiert, konsequent angesichts des Art. 1 Satz 1: „auf die Arbeit gegründete Republik“ – zu Art. 9, 33 und 34 (insbes. Umwelt, Kultur, Landschaft, Schule): Michelangelos Entwurf des Grabmals für Leo X. und Clemens VII., ein Frauenportrait aus der Renaissance, das Autograph N. Machiavellis zur Einleitung seiner „Discorsi“ (vor 1531), ein Portrait eines Humanisten, mehrerer Astronomen (beide 16. Jh.), das Autograph eines Manuskripts von G. Galilei (1616), eine Ansicht von Venedig (F. Guardi, 18. Jh.), Gemälde des Kolosseums (18. Jh.), Olivengärten eines quasi-impressionistischen Malers, „Mein Syrakus“, ein Gemälde im eher modernen Stil, „Die Erzieherin“ (fast kubistisch) – zu Art. 29, 30 und 31 (insbes. Familie unter dem Gesamttitel ethisch-soziale Beziehungen): „Madonna mit Kind“ (ca. 1580), Familienbild im Stil der Renaissance, bürgerliches Familienbild, Familienbilder aus dem 20. Jahrhundert, mithin wird auch der Wandel des Familienbildes über die Zeit offenbar – zu Art. 2 und 3 (insbes. Gleichheit, Vereinigungsfreiheit unter dem Gesamttitel Grundprinzipien, auch Religionsfreiheit): Renaissancegemälde einer Messe, antikisierende Darstellung der Predigt eines Apostels (18. Jh.), das Innere einer Synagoge (18. Jh.), Versammlung von Quäkern (18. Jh.), mithin also auch Darstellungen anderer Religionen als der eigenen, Gemälde verschiedener Versammlungen aus unterschiedlichen Zeitperioden (etwa Komödianten auf Märkten), Menschen in einer Straßenbahn (1923) – zu Art. 5 (insbes. lokale Autonomie): Phantasie-Städtebild, das die architektonischen Wahrzeichen vieler italienischer Kommunen vereinigt, etwa Roms, Mailands, Turins, Pisas, welches freilich nur exemplarisch bleiben kann – zu Art. 11 (insbes. Verbot des Angriffskrieges): mehrere Schlachtenbilder in altem und neuen Stil, eine Allegorie des Friedens mit Lamm (18. Jh.) – zu Art. 24 und 25 (insbes. Gerechtigkeit und Justizgrundrechte): mehrere allegoriehafte Gemälde zur Gerechtigkeit aus dem 17. und 20. Jahrhundert, eine Erstausgabe des Werks C. Beccarias (1764)

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

– zu Art. 10 (insbes. internationales Recht): Gemälde des Empfangs eines Botschafters (18. Jh.); hier fällt ein Defizit ins Auge: der in Italien so früh aufgenommene Gedanke der europäischen Einigung (Ventotene!) ist durch keine einzige Abbildung präsent – zu Art. 32 (insbes. Gesundheit und Heilfürsorge): Gemälde der Armenfürsorge in Florenz (1514), Armenspeisung (17. Jh.) – zu Art. 41 und 47 (insbes. privatwirtschaftliche Initiative und Spartätigkeit): familiäre Stickerei im Adelsmilieu (18. Jh.), Portraits bekannter Kaufleute, alter handschriftlicher „Kontoauszug“ Michelangelos (1514).

Dem Verf. ist weltweit keine vergleichbare kulturwissenschaftlich-juristische Umsetzung einer gelebten Verfassung im Spiegel ihrer Teilgebiete von Religion, Wissenschaft und Kunst, politischem und sozialen Leben bekannt. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade Italien als das Kulturland Europas, ja der Welt, sich in Gestalt dieser Publikation feiert. Andere Länder bzw. verfassungsrechtliche Wissenschaftlergemeinden könnten sich in Kooperation mit (anderen) Kulturwissenschaftlern ein Beispiel an diesem Projekt nehmen. Zweiter Teil

Das Beispiel Portugal I. Verfassungswirklichkeit in Lissabon (2006) Aus der Verfassungswirklichkeit sei ein Beispiel aus Lissabon herausgegriffen. Der Verf. hat im Jahre 2006 (25. April) fast zufällig die politisch-soziale Wirklichkeit des in Lissabon gefeierten Verfassungstages Portugals erlebt. Gewiss, er war damals als Redner zu einer Festveranstaltung des portugiesischen Verfassungsgerichts und der juristischen Fakultät der alten Universität eingeladen, doch zuvor mischte er sich unter das Publikum, genauer die nationale Öffentlichkeit, die in ihrer Weise auf der Prachtstraße der Stadt, der Av. de Liberdade, die Verfassung von 1976 feierte. Man erlebte fast ein Volksfest, eine Art „Verfassung als öffentlicher Prozess“ mit vielen Bürgern und Gruppen als aktiven Interpreten. Im Einzelnen: Parteipolitische Gruppierungen, gesellschaftliche Verbände, Dorfabordnungen und Stadtteilvertretungen, aber auch vielerlei Berufsgruppen zogen in einer Art Parade den großen Boulevard zum Meer hinunter. Alle Beteiligten und fast alle Zuschauer trugen symbolisch die seit 1974 berühmte rote Nelke („Nelkenrevolution“). Auf Transparenten, teils von den Menschen getragen, teils auf Fahrzeugen gezeigt, wurde ausdrücklich auf bestimmte Verfassungs-Artikel verwiesen, etwa in Sachen Arbeit, Familie oder Umwelt, auch Frieden. Teils wurden verfassungspolitische oder allgemein politische Forderungen vorgebracht und auf schmuck dekorierten Wagen illustriert. Spürbar war eine republikanische Stimmung, eine Artikulierung des Selbstverständnisses als verfasste Nation, bei allen Defiziten, die etwa in Sachen Arbeitslosigkeit angeprangert wurden. Als „teilnehmender Beobachter“ erlebte man ein in die Tat umgesetztes

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„constitutional law in public action“. Dem Verf. bleibt all dies unvergesslich; es war ihm auch im eher akademischen Milieu der eindrucksvollen wissenschaftlichen Tagung in der Gulbenkian-Stiftung stets gegenwärtig.2 II. Die Kulturgeschichte Portugals im Kontext von Normen der Verfassung von 1976 Aus der Tiefe der Kulturgeschichte Portugals und ihrem „Humus“ seien in Anlehnung an den dokumentierten Band aus Rom jetzt folgende Bezüge zu Verfassungsbestimmungen von 1976 im Blick auf Vorkommnisse, Ereignisse, große Werke der Kunst und Kultur hergestellt: – das „Goldene Zeitalter“ (16. Jahrhundert), mit seinen großen Werken (dazu bei Art. 42) – die nationale Katastrophe des Erdbebens von 17553 – die Loslösung Brasiliens 1822 – zur inhaltsreichen Präambel: Erzählung der jüngsten Geschichte in Sachen portugiesischer Verfassungsstaat: 25. April 1974: Befreiung von der Diktatur und vom Kolonialismus, Wahrnehmung der Grundrechte, Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und „brüderlichem Lande“. Bilder von den Straßenfesten während der „Nelkenrevolution“, Dokumente der Verkündung der Verfassung durch die Verfassunggebende Versammlung (2. April 1976) – zu Art. 7 (Internationale Beziehungen): völkerrechtliche Dokumente, insbesondere zu den „freundschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des portugiesischen Sprachraums“ (Portugiesisch gilt als Muttersprache für 120 Millionen); ein Bild vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag; zum Friedensgebot als Gegendokument z. B. die Schlacht bei Aljubarrota4 – zu Art. 11 (nationale Symbole), insbesondere die Flagge: Die Flagge Portugals liest sich wie ein Geschichtsbuch; sie setzt die Staats- und Verfassungsgeschichte buchstäblich ins Bildliche um: die fünf blauen Schilde in Form eines Kreuzes repräsentieren die fünf maurischen Könige, die 1139 in einer Schlacht besiegt wurden; grün als Zeichen der Hoffnung war die Farbe Heinrich des Seefahrers5 (1394 bis 1460); das Wappen mit der Armillasphäre, einem alten Navigationsinstrument, spiegelt die große Rolle wider, die Portugal bei der Entdeckung der Welt außerhalb Europas spielte (überall trifft man auf Spuren der Weltentdecker: 2 Der Vortrag ist veröffentlicht in EuGRZ 2006, S. 533 ff.: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus. 3 Abbildung von Lissabon in: Portugal, DuMont, 1987, S. 84. 4 Abgebildet in Portugal, DuMont, 1987, S. 40. 5 Sein Denkmal: abgebildet in: Portugal, Walter-Reiseführer 1986, S. 39; ebenfalls abgebildet in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, 1. Umschlagseite.

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

in Sagres, Porto, Batalha oder sogar in Lagos: Vasco da Gama entdeckte 1497 den Seeweg nach Indien); sodann das goldene Rad mit dem goldenen Bogen in der Flagge wurde im 13. Jahrhundert von König Alfons III. auf dem Schild hinzugefügt; die fünf weißen Punkte auf jedem Schild stehen für die Wunden Christi; das rote Feld wurde als Symbol der Revolution übernommen;6 die Rezeption des Symbols aus der Revolution vom 5. Oktober 1910 wäre durch ein Dokument dieser Tage zu illustrieren. Verfassungstheoretisch zeigt sich, dass die Präambel eine kurze Phase der Entstehung des Verfassungsstaates Portugal beschreibt, während die Nationalflagge die jahrhundertelange Entwicklung des Landes graphisch und farblich nachzeichnet – zu Art. 12 f. (Grundrechte und Grundpflichten): große Judikate des Verfassungsgerichts in Lissabon und ihre Kommentierung durch die Wissenschaft – zu Art. 15 (Ausländer, europäische Bürger): Heraushebung der Staatsbürger aus Ländern des portugiesischen Staatsraums; Dokumente der Länder wie Mosambik, Kap Verde, Angola, Guinea-Bissau – zu Art. 41 (Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung): Dokumente aus der Geschichte der Kirche einschließlich der Inquisition7; das Wunder von Fátima, „Land der Burgen und Abteien“8 – zu Art. 42 (Freiheit der kulturellen Entfaltung): Abbildungen aus der portugiesischen Kunst und Kultur, z. B. Manuelische Säulen im Kloster von Belém9, portugiesische Kachelkunst, Hieronymus-Kloster in Lissabon; aus der Lit.: L. de Camões (1524 – 1580, Epos „Die Lusiaden“); F. Pessoa (1888 – 1935); der Nobelpreisträger J. Saramago „Hoffnung in Altentejo“; aus der Musik: der Fado („Saudade“). – Zur wissenschaftlichen Entfaltung: die Universitätsstadt Coimbra (Alte Universität, insbesondere die Universitätsbibliothek, von 1716 – 1732 errichtet10); die Gulbenkian-Stiftung in Lissabon; Tanzdarbietungen in Tracht11; erste Staatsrechtslehrer zur Verfassung von 1976 mit großen Lehrbüchern sind G. Canotilho und J. Miranda; als große Richter bzw. Präsidenten sind zu nennen: M. Cardoso da Costa – zu Art. 66 (Umwelt- und Lebensqualität): Kulturlandschaften wie die Algarve, Albufeira und der Nationalpark von Buçaco, Costa do Sole, der Weinanbau im Douro-Tal, s. aber auch die „Afrikanischen Akzente“12 6 Abbildung zit. nach B. J. Barker, Weltatlas der Flaggen, 2005, S. 51. Allgemein zur Symbolfunktion von Nationalflaggen: P. Häberle, Nationalflaggen: kulturelle Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 7 Abbildung der Verbrennung von Inquisitionsopfern, in: Portugal, DuMont, 1987, S. 46. 8 Abbildungen in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 84 ff. 9 Abgebildet in: Portugal, DuMont, 1987, S. 63. Die weiteren Beispiele auf S. 67 ff. 10 Abbildung in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 75. 11 Abbildung in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 48. 12 Dokumentiert in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 142 ff.

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– zu Art. 78 (kulturelles Schaffen): Abbildungen von Objekten des nationalen Kulturgüterschutzes, z. B. der kunstvollen Fliesen („Azulejos“), des Emanuelstils (1490 – 1540); Unesco-Weltkulturerbe13: Porto, Tomár, Évora, Sintra – zu Art. 79 (Körperkultur und Sport): als Kultur im weiteren Sinne zu verstehen: wohl auch der portugiesische Stierkampf – zu Art. 150 (Versammlung der Republik): Parlamentsgebäude Saõ Bento14 – Zu Art. 278 – 283 (Verfassungsgericht): Abbildung des Palastes, einer Plenarsitzung und Darstellung großer Judikate, insbesondere zu den Grundrechten

Insbesondere verdient das portugiesische Verfassungsgericht Respekt, weil es die rigorosen und schmerzlichen Kürzungen von Pensionen und Renten durch das Sparprogramm der umstrittenen „Troika“ stoppte. Dritter Teil

Stichworte zur Lage Europas heute: zum Europa der Bürger, Kommunen, Regionen und Nationen I. Der notwendige Idealismus in Sachen Europa Europa als Ganzes braucht einen neuen Impuls aus Idealismus. Er ist unverzichtbar für die Bewältigung der Krisen und auch ein Mittel gegen die weiter um sich greifende Ökonomisierung. Hier hilft schon die Vergegenwärtigung der Geschichte: die Einigung Europas hat bis heute dauerhaften Frieden geschaffen, das vereinte Europa von heute garantiert mit seinen Verfassungsgerichten die Menschenrechte, den Rechtsstaat, die soziale Sicherheit und den Wohlstand. Sie braucht freilich ein Mindestmaß an Solidarität und eine lebendige Zivilgesellschaft. Wir müssen uns fragen, ob Serbien und die Türkei wirklich schon mittelfristig in die EU aufgenommen werden sollen und wie wir Großbritannien in der EU halten. Europa muss seine Bürger schon in der jungen Biographie gewinnen, Stichwort: Europa als Erziehungsziel in ihren Schulen ebenso wie dies die Verfassungen von Peru und Guatemala für die Menschenrechte verlangen. Wir brauchen wissenschaftlichen Optimismus nicht nur politischen Optimismus. Unsere deutsche Bundesregierung muss sich fragen lassen, ob sie eine Idee von Europa hat: von Jerusalem, von Athen, von Rom, von Paris und Chartre, auch Madrid und Lissabon und von Weimar. Viele Fragen bleiben in diesem Kontext freilich offen: – Kann das Mittelmeer ein „Mare nostrum constitutionale“ werden? Hoffnung schenkt uns die neue Verfassung Tunesiens vom Januar 2014 mit nicht wenigen 13 14

Abbildungen in UNESCO-Weltkulturerbe, 2003, S. 214 – 223. Abgebildet in: Portugal, DuMont, aaO., S. 96.

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

bemerkenswerten Neuerungen: wir finden dort die Integrierung der Präambel in den Verfassungstext bzw. dessen normative Kraft (Art. 143), den Wesensgehaltschutz für Grundrechte und Ewigkeitsgarantien für bestimmte Einrichtungen i. S. von Art. 19 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG, Art. 288 Verf. Portugal bzw. Art. 48, 142 Verf. Tunesien, sowie Auslegungsmaximen (Art. 144 Verf. Tunesien: „harmonisches Ganzes“). – Was kann die Lehre vom universalen Konstitutionalismus in Sachen Privatheitsschutz leisten? Derzeit gleicht das Internet einem rechts- und staatsfreien Raum. Wird eine universale digitale Grundrechte-Charta der UN möglich, mit einem Ausgleich des Konflikts zwischen Freiheit und Sicherheit? – Können sich Katalonien und Schottland von ihren Heimatländern einfach lösen und ohne neue Aufnahme Mitgliedsstaaten der EU werden? M. E. nein. – Wie soll eine Reform der EU an Haupt und Gliedern aussehen (gemeinsame Wirtschaftsregierung? Zurückverlagerung von Kompetenzen von der EU auf die Mitgliedsländer, Abbau von Bürokratie, mehr Subsidiarität und Bürgernähe. – Wie können die Ukraine und Russland nach dem Sündenfall der Annexion der Krim (2014) in Europa eingebunden werden?

Jedenfalls ist erst recht die Zeit, wissenschaftlich an der „Europäischen Verfassungslehre“ weiter zu bauen. Wir müssen uns auch fragen, was dabei die vergleichende Verfassungslehre als Kulturwissenschaft beitragen kann.

II. Der kulturelle, insbesondere auch wissenschaftliche Generationenvertrag Der Generationenvertrag ist nichts anderes als der in den Horizont der Zeit gestellte klassische Gesellschaftsvertrag. Dies bedeutet, dass die Politik und die Wissenschaft mit der Idee der Generationengerechtigkeit arbeiten müssen. Politisch hat sich dies an der Reduzierung der skandalös hohen Jugendarbeitslosigkeit in vielen südlichen Ländern Europas zu bewähren.

III. Der europäische Jurist und das Gemeineuropäische Verfassungsrecht In der offenen Gesellschaft Europas bedarf es des europäischen Juristen mit persönlichen und sachlichen Anforderungen, etwa der Kenntnis mehrerer Rechtskulturen und Sprachen. Goethes Satz: Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene, gilt auch für die Rechtskultur. Der Austausch zwischen jungen und älteren Wissenschaftlern ist bei all dem unverzichtbar. Er hilft sowohl die verbleibende nationale Identität der europäischen Verfassungsstaaten als auch das Gemeineuropäische Verfassungsrecht zu erarbeiten.

VI. Dankesrede in Lissabon

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IV. Umrisse einer universalen Verfassungslehre Der universale Konstitutionalismus erwächst aus den nationalen, auch regionalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen. Ein paralleler Theorieentwurf manifestierte sich in dem Begriff „Kosmopolitismus“, an dem D. Thürer und A. Gamper arbeiten. Es geht um einzelne Mosaiksteine, wie die universalen Menschenrechte, die Menschenwürde, die richterliche Unabhängigkeit (bis hin zu Internationalen Gerichten) dank der Gewaltenteilung, den Rechtsstaat und den Rechtsschutz. Auf meine sieben Thesen aus Anlass des Gedächtnisses an R. Barranco-Vela sei verwiesen (von F. Balaguer übersetzt in: Direito Público 54 / 2013, S. 9 ff.).

V. Die Bereicherung Europas durch die Verbindung Portugals mit seinen ehemaligen Kolonien in Afrika und mit Brasilien Portugal leistet viel für unser gemeinsames Europa, weil es eine Brücke schlägt zum viel gerühmten brasilianischen Konstitutionalismus und zu manchen neuen Verfassungen in Afrika. Dieser Brückenbau sollte noch viel stärker in unser Bewusstsein rücken. Analoges gilt für das Verhältnis von Spanien zu seinen ehemaligen Kolonien wie Mexiko und Argentinien, auch Peru.

VI. Danksagung Meine Danksagung beginnt für die frühen guten Jahre im akademischen ärztlichen Elternhaus in Württemberg. Die Bildung und Ausbildung im humanistischen Gymnasium in Göppingen sowie die juristische Ausbildung an den Universitäten in Tübingen, Freiburg, Bonn und Montpellier waren vortrefflich. Ein spezieller Dank gebührt meinen Mentoren: K. Hesse, G. Dürig, J. Esser und H. Ehmke. Ihnen verdanke ich das Wesentliche, mehr als die bloße Grundausbildung. Mein besonderer Dank gilt dem Freundeskreis in Europa und Übersee. Er hat mich in den letzten dreißig Jahren beflügelt. Nicht zuletzt stehe eine Huldigung an die Musik als Brücke zur Transzendenz, um an Pythagoras und Goethe zu erinnern, aber auch an ein schönes Zitat von Giscard d’ Estaing. D. Barenboim bezeichnete kürzlich die Musik als „höchste Instanz“, als „klangliche Version des Monotheismus“. Übrigens gibt es geheime Verbindungen zwischen der Juristenkunst und der Musik, jedenfalls bei der Gestaltung des Satzbaues, der Rhythmen und der Sprache im Ganzen. Dieses kleine Werkstattgeheimnis sei heute nicht verraten. Letzter Satz: Wenn diese Abschiedsvorlesung eine Antrittsvorlesung wäre, ließe sich vielleicht ein Teil der Fragen beantworten. Da dem jedoch nicht so ist, hier nur mein erneuter Dank an diesen einzigartigen Kreis von Wissenschaftlern bzw. Freunden in Lissabon.

VII. Internationales Kolloquium in Rom (2015)* 1. Deutsche Version Nach den unvergesslichen Begegnungen in Rom (2013 dank P. Ridola), in Montpellier (2013 dank S. Pinon und Prof. A. Viala) sowie in Lissabon (2014 dank Vasco Pereira) darf sich dieses Seminar heute in Rom dank F. Lanchester erneut sehen. Seit Jahrzehnten wächst unser Kreis ins Offene (F. Hölderlin). Wir erleben eine Wissenschaftlergemeinschaft, die sich durch große Pluralität der methodischen Ansätze und Vorverständnisse auszeichnet, ebenso durch Toleranz und Weltoffenheit. Vielfalt der nationalen Rechtskulturen ist ein Stichwort, Gemeineuropäisches und Gemeinamerikanisches Verfassungsrecht ebenso. Vieles geht von Europa aus. Lateinamerika und sein Konstitutionalismus – pionierhaft ist Brasilien – haben längst Selbststand und schaffen Weitergreifendes. Der gemeinsame Blick auf die nationalen und universalen Menschenrechte, die Verfassungsgerichtsbarkeit in Sachen Völkerrecht, den Föderalismus und Regionalismus und das Verständnis der Verfassung „aus Kultur“ sowie der unverzichtbare Optimismus in Sachen Völkerrecht als konstitutionelles Menschheitsrecht, Internationale Verfassungsgerichte verbindet uns. Dabei kommt es zu einem vielseitigen gelebten Generationenvertrag. Heute in Rom sprechen auch ganz junge Wissenschaftler mit den älteren Kollegen und Freunden in ihrem „Herbst des Mittelalters“ und auch mit mir im „Winter des Altertums“. Wir denken neben Tizians „Allegorie der Zeit“ mit den drei Lebensbildern des Mannes an J. Haydns Vier Jahreszeiten-Zyklus, müssen jedoch froh sein, wenn wir in unserem kleinen Leben bis zum Winter kommen. Die Musik kann sich wiederholen. Unser kleines Leben nicht. Goethe hat ein wunderbares Wort geprägt: Älter werden sei ein „stufenweises Heraustreten aus der Erscheinung“; dabei sollte uns weder diese Erkenntnis, noch die Melancholie i. S. A. Dürers überwältigen, schon gar nicht die oft berufene Vanitas. Der wissenschaftliche Generationenvertrag ist eine Ermutigung. Auch wenn wir oft schmerzlich sehen müssen, dass die junge Generation im menschlichen und politischen Bereich alles neu lernen muss. Die Staatsrechtslehre als Wissenschaft kann jedoch Vieles zwischen den Generationen vermitteln, lehren und lernen, bewahren und erneuern. Welche bescheidenen Beiträge kann der vom kulturellen Vergleichen und Verstehen lebende Verfassungsjurist heute leisten? 1. Das deutsch-italienische Verhältnis. Heute hilft die Beschwörung großer Geister von Friedrich II., über Goethe bis zum Komponisten H. W. Henze, der in Italien * Gehalten am 13. Mai 2015 an der Universität La Sapienza. Erstveröffentlichung.

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so glücklich wurde, offenbar wenig. Was verdanken wir Deutsche und zum Teil die ganze Welt nicht alles Italien! Die Notenschrift (Guido von Arezzo), die Renaissance und den Barock, die Oper, das Klavier und die Nudelgerichte sowie das Speiseeis, besonders aber Verdi. Was sollen wir Deutsche nur tun, um Italien uns gegenüber freundlich zu stimmen. Kürzlich beunruhigte uns in einer Zeitung die Nachricht, dass 54% der Italiener uns als größten Feind betrachten (FAZ vom 24. Januar 2015, S. 19). Müssen wir Deutsche Selbstkritik üben, weil wir die Wirtschaft über alles stellen, von „Humankapital“ sprechen, die Ökonomisierung vieler Lebensbereiche zulassen und primär dem wirtschaftlichen Nutzen huldigen (Stichwort: homo oeconomicus)? Müssen umgekehrt nicht die Italiener verstehen, dass sich die deutschen Sparer Sorgen machen, auch wegen Draghis umstrittener Geldpolitik. Gewiss, manche Deutsche treten oberlehrerhaft auf, andererseits muss Italien verstehen, dass seine Gerichte die klassische Staatenimmunität auch für Deutschland respektieren müssen (der Fall der kurzfristigen Pfändung der Villa Vigoni). Heute kann nur dank der Wiederbesinnung auf Kunst und Kultur eine Wiederannäherung zwischen unseren Ländern gelingen. Die gemeinsame Verfassungsrechtswissenschaft wird zum tragenden Pfeiler, der „Europäische Jurist“ ein Akteur und Hoffnungsträger. Das europäische Italien leistet viel: z. B. in Sachen Mittelmeer als „mare nostrum constitutionale“. Es hat gewiss Tunesien bei seiner vorbildlichen Verfassung von 2014 geholfen und es hat viele Bootsflüchtlinge vor Lampedusa gerettet. Die EU hat Italien hier im Stich gelassen und sie begnügt sich mit der bloßen Grenzkontrolle „Frontex“ (aus der Lit.: D. Richter, Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft, 2014; D. Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biographie, 2015). Italien leistet viel Vorbildliches in Sachen Regionalismus als Vorform des Föderalismus. Die italienischen Regionalstatute gleichen schon „kleinen Verfassungen“, sie sind eine „Werkstatt“ mit vorbildlichen Europaartikeln, Katalogen für Grundrechte und Staatsziele. In der Wissenschaft ist A. D’Atena zum jungen Klassiker geworden. Vermutlich können Länder, die sich intensiv regionalisieren wollen, etwa das Vereinigte Königreich Großbritannien, vom Regionalismus Italiens lernen. Die Volksabstimmung zur Loslösungen Schottlands fiel bekanntlich recht knapp für „Westminster“ aus. Den Schotten wurde eine Verfassungsreform versprochen. Spanien steht vor der Herausforderung durch Katalonien. Das spanische Verfassungsgericht in der Via Domenicus Scarlatti hat zu Recht die Volksabstimmung in Katalonien in Sachen Sezession untersagt. Stehen wir hier freilich auch an Grenzen dessen, was Verfassungsgerichte leisten können? Jedenfalls bietet sich wieder einmal der Föderalismus als Gehäuse für kulturelle Vielfalt an. 2. Ein Wort zur vergleichenden Verfassungslehre als Vorratswissenschaft. Sie war und wäre gefordert in Sachen Ukraine. Rechtzeitig hätte die EU die Regionalisierung als verfassungspolitisches Modell im Blick auf die Ost-Ukraine anbieten müssen: einen differenzierten Regionalismus mit viel Autonomie in Sachen Sprachenfreiheit nach dem Vorbild der Schweiz. Keinesfalls sollte ein NATO-Beitritt erwogen werden. Auch läge der Status der Neutralität nahe, so wie ihn Österreich trotz seines Beitritts zur EU hat. Am Ziel der europäischen Ukraine sollte man fest-

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

halten. All dies mag angesichts einer schrecklichen Realität als Altersnaivität erscheinen. Vielleicht übersteigt dieses Denken auch die Möglichkeiten der Verfassungsrechtswissenschaft? 3. Ein Wort zum „Arabischen Frühling“ (2011), der abgesehen von Tunesien in den meisten Ländern ja leider zum Winter geworden ist. Wir beobachten Entwicklungen, die in manchem an die französische Revolution erinnern (in Ägypten erscheint der Machthaber Al Sisi als „kleiner Napoleon“). Wir sehen, wie mühsam die Wege zum Verfassungsstaat sind. Nur Tunesien gibt Hoffnung. Seine Verfassung hat aktive Rezeptionen gestaltet, z. B. in Sachen Wesensgehalt für Grundrechte. Sie steht nicht nur hier auf der Höhe gemeineuropäischer Standards. 4. Ein Wort zum „Völkerrecht als konstitutionellem Menschheitsrecht“. Es konstituiert sich aus einer Fülle von Teilverfassungen, z. B. der UN-Charta, dem Menschenrechtspakten, der WTO, den Genfer, Wiener und Haager Konventionen. Von Teilverfassungen möchte ich deshalb sprechen, weil es um die Normierung höchster Werte geht, etwa Menschenrechte, Treu und Glauben, Menschheit, humanitäre Fragen und weil sie auf Dauer (2 / 3-Mehrheit) angelegt sind. Konsequenterweise sind die Internationalen Gerichte jetzt Verfassungsgerichte. Sie sollten im Namen der Menschheit judizieren, so mein Vorschlag in der Festschrift für Zagrebelsky. Genannt sei der IGH, der Internationale Strafgerichtshof, UN-Tribunale und der Internationale Seegerichtshof. Die vielzitierten allgemeinen Rechtsgrundsätze bilden einen Grundwert des „kooperativen Verfassungsstaates“, mein Begriff aus dem Jahre 1978, ergänzt um die „kooperative Weltordnung“. 5. u. Letztens: Da es heute schmerzlich an großen Europapolitikern vom Rang eines de Gasperi, Spinelli, de Gaulle, Adenauer, Mitterand und Kohl fehlt, fällt der Blick auf Papst Franziskus. Er ist die fast einzige Lichtgestalt, er kam nach seinen eigenen Worten vom anderen Ende der Welt. Und sprach kürzlich sogar im Europäischen Parlament. Jedes Wort, jede Geste, jede Tat ist „stimmig“. Auch ich als Protestant freue mich darüber fast täglich. Hoffentlich gelingen ihm auch Schritte in Sachen Ökumene, trotz oder gerade wegen des Luther-Jahres 2017. Wir sind als Christen dem Islam gegenüber in der Defensive. Kann ein Euro-Islam gelingen? Wie demokratiefähig ist der Islam? Sein Bekenntnis zu den Menschenrechten steht ja unter dem Vorbehalt der Scharia. Vergessen wir nicht: Mohammed war ein Feldherr, Christus ließ sich kreuzigen. Wir erinnern uns freilich auch an Goethes wunderbares Gedicht: „Ob der Koran von Ewigkeit sei“? Sie sehen: Vieles ist heute in Frage gestellt, nicht nur die EU als Friedensgarantie. So wärmt die Freundschaft in unserem Kreis. Meine Dankbarkeit ist groß.

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2. Italienische Version Dopo gli indimenticabili incontri a Roma (2013 grazie a P. Ridola), Montpellier (2013 grazie a S. Pinon e A. Viala) e Lisbona (2014 grazie a Vasco Pereira), a questo seminario è concesso un nuovo rivederci a Roma grazie a F. Lanchester. Da decenni, il nostro gruppo „cresce nell’apertura“ (F. Hölderlin). Esperiamo una comunità di scienziati qualificata da un grande pluralismo di approcci metodologici e di pre-comprensioni, e allo stesso modo da tolleranza e apertura verso il mondo (Weltoffenheit). La diversificazione delle culture giuridiche nazionali è una parola chiave, come il diritto costituzionale comune europeo e il diritto costituzionale comune americano. Molti impulsi provvengono dall’Europa. L’America latina e il suo costituzionalismo, pionieristico quello brasiliano, hanno acquisito da tempo uno statuto autonomo (Selbststand) e creano qualcosa che va oltre. Ci unisce lo sguardo comune rivolto ai diritti umani nazionali ed universali, alla giustizia costituzionale in materia di diritto internazionale, al federalismo e regionalismo, la comprensione della Costituzione „a partire dalla cultura“ nonché l’irrinunciabile ottimismo per un diritto internazionale come diritto costituzionale dell’umanità con giudici costituzionali internazionali. Si realizza un patto intergenerazionale vissuto in forme multilaterali. A Roma colloquiano anche degli scienziati molto giovani con colleghi ed amici più anziani nel loro „autunno del medioevo“ e anche con me nell’ „inverno dell’antichità“. Ci ispiriamo alle immagini delle tre età dell’uomo nella cd. „allegoria della prudenza“ di Tiziano oppure alle quattro stagioni J. Haydn, ma dobbiamo essere lieti se nella nostra piccola vita arriviamo fino all’inverno. La musica può ripetersi, la nostra piccola vita no. Goethe ha trovato delle parole meravigliose: invecchiare sarebbe una „graduale uscita dall’apparenza“ („stufenweises Heraustreten aus der Erscheinung“).

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

Non deve sopraffarci né questo grandioso momento di conoscenza, né la melanconia di un A. Dürer, né tanto meno la spesso evocata „vanitas“. Il patto intergenerazionale degli scienziati serve da incoraggiamento, anche se spesso dobbiamo vedere con sofferenza che una generazione di giovani in ambito umano e politico deve apprendere nuovamente tutto. Il diritto dello Stato insegnato come scienza può tuttavia mediare tra le generazioni, fare insegnare ed imparare, conservare ed innovare molte cose.

Quali contributi modesti può prestare oggi il giurista costituzionalista che vive di comparazioni e comprensioni culturali? 1. Le relazioni tra Germania e Italia. Sembra poco utile nvocare oggi grandi spiriti, da Federico II, passando per Goethe fino al compositore H.W. Henze, diventato felice in Italia. Eppure quanta gratitudine dobbiamo noi tedeschi e deve, in buona parte, tutto il mondo all’Italia? La notazione musicale (Guido di Arezzo), il rinascimento e il barocco, l’opera, il pianoforte, la cucina della pasta e la gelateria, ma soprattutto Verdi. Cosa possiamo fare noi tedeschi per rendere l’Italia più amichevole nei nostri confronti? Recentemente apparse in un giornale la notizia inquietante che il 54% degli Italiani ci considera il nemico principale (Frankfurter Allgemeine Zeitung del 24 gennaio 2015, p. 19). Dobbiamo noi tedeschi fare autocritica perché anteponiamo l’economia a tutto, parlando di „capitale umano“, ammettendo l’economicizzazione di tanti ambiti della nostra vita e venerando prima di tutto l’utilità economica (motto: homo oeconomicus?). O non devono comprendere viceversa gli Italiani che i risparmiatori tedeschi sono preoccupati, anche per effetto della controversa politica monetaria dell’europeo M. Draghi, di accollarsi debiti altrui. Certo, alcuni tedeschi si presentano come professori delle superiori, ma l’Italia deve

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anche comprendere che i suoi giudici non hanno concesso l’immunità classica degli Stati alla Germania (nel caso del pignoramento di Villa Vigoni). Un riavvicinamento tra i nostri paesi può riuscire solo tornando a confrontarsi con l’arte e con la cultura. La scienza comune del diritto costituzionale è pilastro portante, il „giurista europeo“ attore e di portatore di speranze. L’Italia europea realizza molteplici prestazioni: ad es. nel mediterraneo il „mare nostrum constitutionale“. È stata d’aiuto alla Tunisia nella scrittura della costituzione esemplare del 2014 e ha salvato tanti boat people davanti a Lampedusa. L’Unione europea ha abbandonato l’Italia, limitandosi alle operazioni Triton di mero controllo, coordinate da Frontex (cfr.: D. Richter, Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft, 2014; D. Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biographie, 2015).

L’Italia ha realizzato un modello esemplare di regionalismo come una forma che viene prima del federalismo. Gli statuti regionali italiani assomigliano già a „costituzioni piccole“, si presentano come un „laboratorio“ con articoli esemplari sull’Europa, norme a garanzia dei diritti fondamentali e degli scopi dello Stato. Nella scienza, A. D’Atena è diventato un giovane autore classico. Possono trarre lezioni dal regionalismo probabilmente anche altri paesi desiderosi di intensificare la regionalizzazione, quali ad es. il Regno Unito. Il referendum sulla secessione della socia ebbe notoriamente un esito piuttosto esile a favore di „Westminster“. E agli scozzesi fu promessa una riforma costituzionale. La Spagna si trova di fronte alla sfida della Catalonia. Il Tribunale costituzionale in via Domenicus Scarlatti ha giustamente interdetto il plebiscito sulla secessione in Catalonia. Ma non ci ritroviamo qui anche ai confini del potere dei giudici costituzionali? In ogni caso, offresi di nuovo il federalismo come casa del pluralismo culturale. 2. Una parola sulla scienza comparata delle costituzioni come provvista di teorie. Era richiesta e sarebbe richiesta soprattutto con riguardo all’Ucraina. L’UE avrebbe dovuto in tempo offrire la regionalizzazione come modello di politica costituzionale

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5. Teil: Fest- und Dankesreden

per l’Ucraina orientale, cioè un regionalismo differenziato con molte autonomie in materia di libertà linguistiche sul modello della Svizzera. In nessun caso andrebbe preso in considerazione un’adesione alla Nato. Più coerente sarebbe uno statuto di neutralità come quello dell’Austria conservato anche dopo l’adesione all’UE. L’obbiettivo di un’Ucraina europea non andrebbe necessariamente abbandonato. Può darsi che di fronte alla tremenda realtà, tutto questo sembri un’ingenuità senile. Può un simile modo di pensare superare anche le possibilità della scienza del diritto costituzionale? 3. Una parola sulla „primavera araba“ (2011), ad eccezione della Tunisia purtroppo nella maggior parte dei paesi diventata un’inverno. Abbiamo osservato sviluppi che in alcuni aspetti ricordano la rivoluzione francese (in Egitto il presidente Al Sisi appare come „piccolo Napoleone“). Osserviamo quanto travagliati sono le vie che portano allo stato costituzionale. Solo la Tunisia da luogo a speranze. La nuova Costituzione ha realizzato recezioni creative, ad es. in punto di contenuto essenziale dei diritti fondamentali. Non solo in questo è all’altezza degli standards comuni europei. 4. Un’altra parola sul „diritto internazionale come diritto costituzionale dell’umanità“. È costituito a partire da un pieno di costituzioni parziali, ad es. la Carta delle Nazioni Unite, i patti per i diritti umani, la OMC, le convenzioni di Ginevra, Vienna e dell’Aia. Preferirei di parlare di costituzioni parziali perché si tratta di normare valori supremi come quelli sottesi ai diritti umani, alla buona fede, all’umanità e alle pratiche umanitarie, e perché ambiscono a essere permanenti (in virtù della maggioranza dei due terzi). Di conseguenza, anche i giudici internazionali sono ora giudici costituzionali. Dovrebbero giudicare in nome dell’umanità, ecco la mia proposta negli scritti in onore di G. Zagrebelsky. Basta pensare alla Corte di internazionale di giustizia, alla Corte internazionale di giustizia penale, ai tribunali dell’ONU e al Tribunale internazionale del diritto del mare. I principi generali del diritto delle nazioni civili, spesso invocate, formano un valore fondamentale dello „Stato costituzionale cooperativo“, un mio concetto dell’anno 1978. 5. Un’ultima parola: dovendo non senza sofferenze constatare che non esistono più grandi uomini politici europei della statura di un de Gasperi, Spinelli, de Gaulle, Adenauer, Mitterand e Kohl, lo sguardo va verso il papa Francesco. Sembra quasi l’unica figura di luce che, secondo le proprie parole, è venuto dall’altra fine del mondo. Recentemente prese perfino la parola nel parlamento europeo. Ogni parola, ogni gesto, ogni azione è una voce concertante („stimmig“). Anche da protestante, egli mi rallegra quasi quotidianamente. Speriamo che riesca a compiere passi avanti anche all’ecumenia, nonostante o proprio grazie all’anno di Lutero nel 2017. Da Cristiani siamo sulla difensiva nei confronti dell’Islam. Riuscirà un Euro-Islam? Di quanta democrazia sarà capace l’Islam? Il suo riconoscimento dei diritti umani è notoriamente fatto sotto la riserva della Sharia. Certo non dimentichiamo che Mohamed fu condottiero, mentre Cristo si fece crocifiggere. Ma ricordiamo pure la meravigliosa domanda poetica di J. W. Goethe: „Se sia il corano dell’eternità?“

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Frontespizio del „Divano occidentale-orientale“ (dettaglio in lingua araba).

Vediamo molte cose messe oggi in questione, non solo l’Unione europea come garanzia di pace. Pertanto l’amicizia del nostro gruppo è una fonte di calore. La mia gratitudine è immensa.*

* Trad. J. Luther.

Bibliographie (dritte Folge)* I. Selbstständige Arbeiten Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 (Freiburger Habilitationsschrift); 2. Aufl. 2006; 3. Aufl. als eBook 2015 Die Verfassung des Pluralismus. Studien zur Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft (1980), spanische Übersetzung, Pluralism y Constitución, 2. Aufl. 2013, 3. Aufl. 2014 Europäische Verfassungslehre, 6. erw. Aufl. 2009, 7. erw. Aufl. 2011 Nueve ensayos constitucionales y una lección jubilar (Lima 2004), portugiesische Übersetzung: Nove Ensaios constitucionais …, Brasilia 2012 Haben Spanien und Europa eine Verfassung?, spanischer Neudruck in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 6, Número 12, 2009, S. 353 – 393 Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, (spanische Übersetzung: El himno Nacional 2012), 2. Aufl. 2013 Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, Späte Schriften, 2009 Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen, 2010 (2. „stille“ Aufl., 2011); in spanischer Übersetzung: Cartas Pedagógicas a un joven constitucionalista, Vol. 1, 1. Aufl. 2012, 2. Aufl. 2014, Teilübersetzung ins Chinesische, in: Jahrbuch des Deutsch-Chinesischen Institutes für Rechtswissenschaft der Universität Göttingen und Nanjing, 2014, S. 21 – 42 Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011 Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur, Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre, 2013 Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht, Ausgewählte Beiträge aus vier Jahrzehnten, 2014; in japanischer Übersetzung: Verfassungsgerichtsbarkeit im Pluralismus, Tokyo 2014 Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis, Letzte Schriften und Gespräche, 2015

II. Aufsätze Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 – 305; im Internet in spanischer Sprache: http://portalacademico.derecho.uba.ar/catedras/archivos/catedras/156/

* Erste Folge: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 243 ff.; zweite Folge: A. Blankenagel u. a. (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, 2004, S. 875 ff.

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Bibliographie (dritte Folge)

lecci%F3n%206 %20-%202a.%20parte.pdf; in erneuter spanischer Übersetzung, in: contextos 05 / 2013, S. 63 – 88 Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Peter Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 2014; auch in: Revue de Droit Comparé Law Review, Vol. XLV. no. 4 (160), 2012, S. 75 – 139 Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, portugiesisch in: I. W. Sarlet (org.), Dimensões da Dignidade, Porto Alegre, 2005, S. 89 – 152, 2. Aufl. 2009, S. 45 – 103 Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen – die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrages: der Generationenvertrag, ins Spanische übersetzt in: UBA190, Facultad de Derecho, 2009 / 11, S. 17 – 37 Methoden und Prinzipien der Verfassungsinterpretation – ein Problemkatalag, in spanischer Sprache: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 7, 2010, Numero 13, S. 379 – 411; portugiesische Übersetzung in: F.D. Asensi, coord., Tratado de Direito Constitucional, Vol. 2, 2014, S. 560 – 576 Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo Número 11, Enero-junio de 2009, S. 413 – 434 Kommentar zu Art. 6 BV, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 136 – 144 Rechtswissenschaften als Lebensform, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 275 – 284 Menschenwürde und pluralistische Demokratie – ihr innerer Zusammenhang, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 80 – 92 Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: Verfassungsvergleichung in europaund weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 231 – 243 Menschenrechte und Globalisierung, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 256 – 261, spanische Übersetzung: „Derechos humanos y globalización“, in: contextos 03 / 2012, Buenos Aires, S. 31 – 40 Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 291 – 305 Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 61 – 79 Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft, in: Verfassungsvergleichung in europaund weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 121 – 135; in: A.R. Tavares u. a., Estado constitucional e organização do poder, Porto Alegre 2010, S. 123 – 141, in: Handbuch Bundesverfassungsericht im politischen System, van Ooyen / Möllers (Hrsg.), 2. Aufl. 2015, S. 31 – 45 Der Sinn von Verfassungen in kulturwissenschaftlicher Sicht, in spanischer Übersetzung in: Isotimia, 2 / 2009, S. 3 – 25; portugiesische Übersetzung in: Revista Pensamiento Juridico, N° 28 / 2010, S. 17 – 42 Rechtskultur und Entwicklung, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 44 – 255

Bibliographie (dritte Folge)

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„Gemeinwohl“ und seine Teil- und Nachbarbegriffe im kulturellen Verfassungsvergleich, in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 95 – 120 Die deutsche Universität darf nicht sterben – Ein Thesenpapier aus der Provinz, auch in: Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 306 – 309 Gedächtnisblatt für J. G. Encinar: Der Beitrag der spanischen Staatsrechtslehre zum gemeineuropäischen Verfassungsgespräch, GS für Encinar, 2011, i. E. Italienisch-deutsche Begegnungen – aus der Sicht eines deutschen Staatsrechtslehrers – ein Geburtstagsblatt für A. A. Cervati, FS Cervati, 2010 Geburtstagsblatt für G. Valadés, FS Valadés, 2011, Bd. I, S. 17 – 21 Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen und ein Konzept der Vorlesung „Rechtsphilosophie“ (3. Folge), FS Mendes, Rio de Janeiro, 2010, S. 327 – 336 Kommunale Selbstverwaltung unter dem Stern des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts, JöR 58 (2010), S. 301 – 315 (auch als selbstständige Schrift in Griechenland, 2010) El valor de la autonomia como elemento de la cultura constitucional común europea, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 5, Número 10, 2008, S. 347 – 354 Die Werte der Selbstregierung als Elemente gemeineuropäischer Verfassungskultur, JöR 57 (2009), S. 457 – 464 Die „Grundzüge“ und ihre Rezeption im Ausland, JöR 57 (2009), S. 545 – 548 Altes und Neues zu „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ (1980 / 2008), JöR 57 (2009), S. 641 – 667 Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht-II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 – 336, spanische Übersetzung in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, año 6, Número 12, 2009, S. 397 – 429 Das europäische Georgien, JöR 58 (2010), S. 409 – 417 Konstitutionelles Regionalismus-Recht – die neuen Regionalstatute in Italien, JöR 58 (2010), S. 443 – 616 Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung, 2010, S. 181 – 219 Die europäische Verfassung: Wandel von der Markt- zur Werteordnung?, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung, 2010, S. 221 – 231 Einleitung zu: Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, Neuausgabe JöR Bd. 1 (2010), S. V – XXVI Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: C. Hillgruber / C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 – 203 Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen (Zweite Folge), in: FS Fiedler (2011), S. 147 – 163 D. Th. Tsatsos (1933 – 2010), in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Ano 7, n. 14, 2010 / 11, S. 451 – 457; auch in griechischer Übersetzung in: ЕФНМЕРІΔΑ, 2011, S. 132 – 137

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Bibliographie (dritte Folge)

Entrevista: Cultura y Derecho Constitucional, in: Revista Peruana de Derecho Publico, 21 / 2010 / 11, S. 145 – 164 Entrevista: Tribunais constitucionais são advogados de valores universais, entende Peter Häberle, 29 / 05 / 2011, aufrufbar unter: http://ultimainstancia.uol.com.br/conteudo/noticias/51638/ tribunais+constitucionais+sao … Verfassung, Kultur, Gottesbezüge, Brasilianische Übersetzung in: A. P. Barbosa-Fohrmann u. a. (Org.), Estudos de Direito Público e Filosofia do Direito, Rio, 2011, S. 249 – 262; auch in FS A. Pace, I, 2012, S. 197 – 208 Die chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 329 – 351 Musik und „Recht“ – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 205 f.; in italienischer Übersetzung: Arte e limite la Misura del Diritto, a cura di, A. C. Amato Mangiamelli, 2012, S. 19 – 44 Der Arabische Frühling (2011) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 605 – 620; in spanischer Übersetzung, in: Revista de derecho Constitucional Europeo, No. 19, 2013, S. 17 – 39 Argentinien als Verfassungsstaat, JöR 60 (2012), S. 571 – 584 Föderalismus, Regionalismus und Präföderalismus als alternative Strukturformen der Gemeineuropäischen Verfassungskultur, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, 2012, S. 251 – 281 El tiempo y la cultura constitucional, in: contextos 02 / 2011, Buenos Aires, S. 36 – 81 Funciones y significado de los Tribunales Constitucionales en perspectiva comparada – y Comentario a los „60 Años del Tribunal Constitucional Federal“, in: Jurisdição Constitucional, Democracia e Direitos Fundamentais, 2012, S. 467 – 488, Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 9, Número 17, 2012, S. 501 – 528 150 Anni di Unita D’Italia, Associazione Italiana dei Costituzionalisti, Revista N° 4 / 2011, S. 1 – 4 Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ – illustriert am Vorbild Italiens und am Beispiel Portugals sowie am 60jährigen deutschen Grundgesetz – eine Projektskizze, in: I 60 anni della Legge fondamentale tra memoria e futuro (a cura di GD. Feroni u. a.), 2012, S. 3 – 27 Die neue Verfassung von Kenia (2010), FS für Canotilho, Bd. II 2012, S. 325 – 333; auch in JöR 61 (2013), S. 789 – 796 Eine Theorie des Religionsverfassungsrechts von 1976 – nach 35 Jahren wiedergelesen und im Verfassungsstaat fortgeschrieben, in: T. Holzner u. a. (Hrsg.), Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrecht, 2013, S. 29 – 71 El potencial constitucional cultural de la Argentina, in: contextos 04 / 2012, S. 37 – 53 Die Integrationskraft der Verfassung, in: Leitgedanken des Rechts: FS Kirchhof zum 70. Geb., 2013, S. 159 – 168 Die Verfassung des unabhängigen Kosovo (2008), in: FS Miranda, Vol. III, 2012, S. 409 – 420 El Constitucionalismo Universal Desde las Constituciones Parciales Nacionales e Internacionales. Siet Tesis, in: Direito Público 54, 2013, S. 9 – 13

Bibliographie (dritte Folge)

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Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen, JöR 62 (2014), S. 417 – 419; spanische Übersetzung in: Direito Público 54 Nov – Dez 2013, S. 9 – 13; auch in spanischer Übersetzung, in: Gedächtnisschrift für R. Barranco Vela, Bd. I, 2014, S. 45 – 50 Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber, Das Beispiel eines Verfassungsentwurfs für Island 2013, JöR 62 (2014), S. 609 – 616, auch in FS De Vergottini, S. 1115 – 1123, 2015, i. E. „Verfassungskultur“ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften, in: D. Lehnert u. a. (Hrsg.), Konstitutionalismus in Europa, 2014, S. 167 – 186 Integrationskraft der Verfassung, in: H. Kube u. a., Leitgedanken des Rechts zu Staat und Verfassung, Studienausgabe, 2014, S. 159 – 168 Idées associées au constitutionnalisme d’ aujourd’hui – un point de vue allemand, in: Revue du Droit Public, Paris 2014, S. 1483 – 1493 La Constitution en tant que processus public et élément culturel comparaison culturelle des évolutions de textes constitutionnels, in: Revue belge de droit constitutionnel, No 3 – 4, 2014, S. 349 – 357 Federalismo e Regionalismo come pluralismo territoriale e divisione dei poteri culturali, in: Italian papers on Federalism, No. 2 / 2013, unter: http://italianpapersonfederalism.issirfa.cnr. it/rivista/numero-2-2013/index.html

III. Buchbesprechungen und Buchanzeigen Buchbesprechung von: Regina Viotto, Das öffentliche Interesse, 2009, in: DVBl. 2010, S. 371 Buchanzeige von: M.-E. Geis / D. C. Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle, FS für R. Bartlsperger zum 70. Geburtstag, 2006, AöR 134 (2009), S. 302 – 303 Buchanzeige von: R. Grote / T. Marauhn (Hrsg.), EMRK / GG, in: JZ 2009, S. 407 f. Buchanzeige von: S. Detterbeck u. a. (Hrsg.), Recht als Medium für Staatlichkeit, FS Bethge zum 70. Geburtstag, 2009, in: AöR 135 (2010), S. 131 – 133 Buchanzeige von: G. Manssen u. a. (Hrsg.), FS für U. Steiner zum 70. Geburtstag, in: AöR 135 (2010), S. 313 f. Buchanzeige von: M. Herdegen u. a. (Hrsg.), Festschrift für R. Herzog, 2009, AöR 136 (2011), S. 180 – 182 Buchanzeige von: F. Matscher u. a. (Hrsg.), Festschrift für H.R. Klecatsky, 2010, AöR 137 (2012), S. 156 – 158 Buchanzeige von: I. Appel u. a. (Hrsg.), Festschrift für R. Wahl, 2011, AöR 137 (2012), S. 277 – 279 Buchanzeige von: U. Schliesky u. a. (Hrsg.), Festschrift für E. Schmidt-Jortzig, AöR 137 (2012), S. 306 – 308

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Bibliographie (dritte Folge)

IV. Sonstiges Diskussionsbeiträge in: VVDStRL 68 (2009), S. 96 f., 225 f., 373, 468; 69 (2010), S. 107 f., 232 f., 241, 352; 70 (2011), 94 f., 117, 460 f.; 71 (2012), S. 88, 238, 348 f.; 74 (2015), S. 92 f., 226, 353 f. Vorwort zu Rubén Sánchez, El legado del caso „Lüth“, 2014, i. E. Interview in Sachen Lissabon-Urteil des BVerfG: Urteil mit dunklen Schatten, in: Nordbayerischer Kurier, 25. August 2009, S. 18 Ein Schwabe am Rhein (60. Geburtstag von M. Morlok), 2009, Privatdruck, Düsseldorf; auch in: J. Krüper u. a. (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 155 – 162 Anmerkungen zu Klaus Vogel, in: M. Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an K. Vogel, 2009, S. 141 – 143 Interview mit R. G. Ferreyra, in: Academia Año 7 – número 13 – 2009, S. 215 – 238; auch in: Estudios Constitucionales, Chile, Año 8, N° 1, 2010, 379 – 398 Interview mit F. Balaguer Callejón, Un Jurista Universal Nacido en Europa, Entrevista a Peter Häberle, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 7, Nr. 13, 2010, S. 339 – 379, unter: www.ugr.es/~redce/REDCE13/articulos/12Entrevista.htm Interview (mit Prof. Sarlet): Die offene Verfassung, in: Estado de Direito, 2010, N° 27, S. 14 f. Diskussionsbeiträge in: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Religionsfreiheit im Verfassungsstaat, 2011, S. 53 – 56, S. 142 f., S. 221 – 223 Konrad Hesse (1919 – 2005), in: P. Häberle, M. Kilian / H. A. Wolff (Hrsg.), Staatsrechtlehrer des 20. Jahrhunderts, 2014, S. 893 – 906 Kleine Laudatio auf Wilfried Berg – bayerischer Schwabe – Rheinländer – Münsterländer – oder Oberfranke?, in: Ulrich Hösch (Hrsg.), Zeit und Ungewissheit im Recht, Liber amicorum zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Wilfried Berg, 2011, S. 15 – 18 Schlusswort, in: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Vom Staatsbürger zum Weltbürger – ein republikanischer Diskurs in weltbürgerlicher Absicht, 2011, S. 93 – 100 Deutsch-italienische Begegnungen – aus der Sicht eines deutschen Staatsrechtslehrers – ein Geburtstagsblatt für A. A. Cervati, in: Liber amicorum Cervati, Bd. II, 2010, S. 419 – 424 Interview mit Prof. H. Yildiz in: S. Demirel University, Faculty of Law Review, Band 1, Nr. 1, 2011, S. 223 – 233 Lições de Direito Constitucional em Breves Palavras, Interview in: Revista Juridica Consulex, ANO XV Nr. 350, 2011, S. 7 – 8 Vorwort (Presentación) zu Diego Valadés, El Control del Poder, Tomo II, México, 2011, S. XI – XII (zusammen mit D.G. Belaunde) Würdigung von H. Schäffer, in: JRP 20, 2012, S. 155 Nachruf auf die klassische Zeit, in: „Begegnungen“, Liber Amicorum für Martin Cramer, 2012, S. 115 – 117 Laudatio für D. Th. Tsatsos als europäischer Wissenschaftler und Politiker, in: P. Brandt (Hrsg.), Perspektiven der Unionsgrundordnung, 2013, S. 9 – 17, ebd. Diskussionsbeitrag S. 70

Bibliographie (dritte Folge)

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Laudatio auf A. D’Atena, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Nr. 17, 2012, S. 611 – 615 Gedächtnisblatt für W. Brugger, in: M. Anderheiden u. a. (Hrsg.), Verfassungsvoraussetzungen, 2013, S. 21 – 26 Geleitwort in: P. v. Matt, Recht, Gerechtigkeit und Sympathie, 2013, S. 5 f. Algunas Tesis sobre el presente y el futuro Europa: una aportación al debate, Revista de Derecho Constitucional Europeo, Nr. 18. Julio-diciembre de 2012 (2013), S. 423 – 427 Vorwort in: L’unità della Costituzione, Scritti scelti di Konrad Hesse, 2014, S. 7 – 15 Vorwort – Nachwort, JöR 62 (2014), S. VII – X Un Pionero en la Construcción de Puentes entre Espana y Alemania. Felicitación para Antonio López Pina, in: J. Alguacil González-Aurioles u. a. (eds.), Constitucion: Norma y Realidad, 2014, S. 17 – 20 Interview mit J. León Vasquez, Revista Peruana de Derecho Constitucional, 7 / 2014, S. 157 – 184 Leben, Werk und Wirkung von D. T. Tsatsos, in: P. Brandt u. a. (Hrsg.), Verfassung – Parteien – Unionsgrundordnung, Gedenksymposium für D.T. Tsatsos, 2015, S. 2035 – 2041

V. Herausgebertätigkeiten Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F., seit Band 32 (1983) – zuletzt Band 62 (2014), Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Neuausgabe von Band 1 (1951), 2010 mit Einleitung 60 Jahre deutsches Grundgesetz, 2011

VI. Mitherausgebertätigkeiten Liber amicorum in onore di A. A. Cervati, 5 Bände 2011, zusammen mit P. Ridola u. a. FS Valades, El Control del Poder, Tomo I und II, 2011, zusammen mit G. Belaunde Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts (Hrsg., zusammen mit M. Kilian / H. A. Wolff), 2014

VII. Bibliographien u. a. über Professor Häberle M. Azpitarte / J. J. Vasel, Der Aufbau des Europäischen Verfassungsrechts, Internationaler Kongress zu Ehren von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle aus Anlass seines 75. Geburtstages am 14. / 15. Mai 2009 in Granada, DÖV 2010, S. 80 ff. Zweite spanische Festgabe zu Ehren des 75. Geburtstages Revista de Derecho Constitucional Europeo, I Número 11. Enero-junio de 2009 (mit Laudatio von P. Ridola, S. 389 ff.), II año 6, Número 12, julio-diciembre de 2009

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J. Luther, La costruzione del diritto costituzionale europeo secondo il metodo haeberliano, in: www.associazionedeicostituzionalisti.it / dottrina / ordinamentieuropei / luther.html, 13. Oktober 2009 M. Kotzur / L. Michael, Das Seminar als wissenschaftliche „Lehr- und Lebensform“, SächsVBl. 6 / 2010, S. III J. J. G. Canotilho, Um Principe Renascentista do Direito Constitucional, in ders., Admirar os Outros, 2010, S. 171 – 185 M. Kotzur / L. Michael, Vom Staatsbürger zum Weltbürger – ein republikanischer Diskurs in weltbürgerlicher Absicht, DVBl. 2010, S. 1424 – 1425 J. J. Diaz Guevara, El Estado constitucional según Peter Häberle, in: Jurídica, 18. Januar 2011, S. 8 A. Schillaci, Derechos Fundamentales y Procedimiento en la Obra de Peter Häberle, in: Direitos Fundamentais & Justiça, Ano 4, N° 12, 2010, S. 60 – 77 Zwei Festhefte zu Ehren des 75. Geburtstages, in: Reviste de Derecho Constitucional Europeo, Heft 13, 2010 A Influéncia de Peter Häberle no Direito Constitucional Ibero-Americano, Observatório da Jurisdição Constitucional Brasilia: IDP, Ano 4, 2010 / 2011, ISSN 1982 – 4564 (Beiträge von G. Mendes, F. Balaguer, J. Brage-Camazano, C. Landa, D. Valadéz, C. Oliveira, A. P. Gontijo, E. F. Mac-Gregor, L. L. Streck G. F. Mendes / A. Rufino do Vale, El pensamiento de Peter Häberle en la jurisprudencia del Supremo Tribunal Federal del Brasil, in: GUİA, 6 / 2011, S. 147 ff. Conferencia del Profesor Peter Häberle, Invistió como Doctor h.c. in: Derecho al Dia, año 7, Nr. 141, Juli 2009, S. 1, 3 f., 9 Constituição Como Cultura, Interview in: Consultor Juridico, 29 maio 2011, S. 1– 4 S. Sciacca, Häberle, maestro delle costituzioni, dell’era moderna, in: La Sicilia, 11. Nov. 2011, S. 26 Igor Ramos Rosa, Peter Häberle e a Hermenêutica Constitucional no Supremo Tribunal Federal, 2012 Widmungsband der Revista de Derecho Constitucional Europeo zum 75. Geburtstag von P. Häberle, Año 6, Número 11, enero-junio de 2009, Dir. Francisco Balaguer Callejón M. Kotzur / L. Michael, Der Aufbau des Europäischen Verfassungsrechts, Internationaler Kongress zu Ehren von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle aus Anlass seines 75. Geburtstages am 14. / 15. Mai 2009 in Granada, JZ 2009, S. 1161 f., spanische Übersetzung in Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 6, Número 12, 2009, S. 345 – 350 M. Kotzur, Dignità Umana e Diritti Fondamentali Nello Stato Costituzionale Contemporaneo. Convegno in Onore di Peter Häberle, Rom, DVBl. 2013, S. 1167 – 1169 R. C. van Ooyen, Peter Häberle, die Wiener-Weimarer Staatsklassik … (zum 80. Geburtstag), Recht und Politik, 2 / 2014, S. 99 – 101 L. Michael, Geburtstagsblatt zum 80. Geburtstag von Peter Häberle, JZ 2014, S. 507 f. M. Kotzur, Glückwunsch zum 80. Geburtstag, AöR 139 (2014), S. 287 – 291

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Pereira da Silva / Balaguer Callejón (Hrsg.), Internationale FS: O constitutionalismo do sèc. XXI na sua dimensão estadual, supranacional e global, Lisboa, 2014 J. F. Palomino Manchego, El Preámbulo Constitucional en el Pensamiento de Peter Häberle, in: JustoMedio Suplemento Juridico 2015, S. 23 – 25 Dritte spanische Festschrift „The Impact of the Economic Crisis on the EU Institutions and Member States“, ed. by F. Balaguer Callejón u. a., 2015 E-Book: O constitucionalismo do séc. XXI na sua dimensão estadual, supranacional e global, Congresso em Honra de Peter Häberle, Lisboa 2014, 2015 Markus Kotzur, O constitucionalismo do séc. XXI na sua dimensão estadual, supranacional e global, Kongress am 13. 5. 14 in Lissabon zu Ehren von Peter Häberle anlässlich seines 80. Geb., in: JZ 11 / 2015. S. 567 f. Alexis Fourmont, Interview avec le Professeur Peter Häberle, in La revue du Collège Juridique Franco-Roumain d’Etudes Européennes, Le Nouvel Endroit no 1 / 2015, S. 76 – 86 (OnlineEdition) D. Valadés / F. Balaguer / J. F. Palomino, Homenaje a Peter Häberle con Motivo de sus Ochenta Años, in: Revista Peruana de Derecho Publico, Año 15, Nr. 29, 2014, S. 137 – 150 A. Voßkuhle / T. Wischmeyer, Der Jurist im Kontext. P. Häberle zum 80. Geburtstag, JöR 63 (2015), S. 401 – 428 M. Kotzur, Verfassung als kultureller Entwicklungsstand, in: Universität Bayreuth (Hrsg.), Neue Wege denken, 40 Jahre Universität Bayreuth, 2015, S. 111 Nachtrag P. Häberle / H. López Bofill, Poesía y Derecho Constitucional, Una conversación, 2015

Personen- und Sachregister Abulafia, D. 431 Abweichungsgesetzgebung 51 Adenauer, K. 48, 321, 322, 359, 384, 421, 432 Afghanistan 59, 86 Afrika 94, 105, 119, 314, 322, 328, 341 Afrikanische Banjul Charta 112, 314 Afrikanische Verfassungen 92 Aguilar, A. 409 Ägypten 209 ff., 343, 432 Aimos, P. 361 Al Sisi, A. 209, 210, 222, 231, 233 Al-Azhar Universität 213 f., 224, 226 ff. Albanien 76, 89, 105, 128, 155 Alfaro 128 Alfonso III. 426 Algerien 94 Ali, M. 224 Allgemeine Rechtsgrundsätze 207, 316 – im Völkerrecht 109 f. Allgemeine Regeln der Verfassungsinterpretation 135 – kontextorientierte 143 – pädagogische 326 – Prinzipien und Methoden 144 Alphabet 212 Alterini, A. 285 Alternativjudikatur 21, 31, 335 Alternativkultur(en) 21, 31, 296 Althing (Island) 159 Amerikanische Menschenrechtskonvention 112 amicus curiae 127 Amnesty International 324 Analogie 243 Analphabetismus 327 Andalusien 55 Angola 92 Angriffskrieg (Verbot) 423 Annus mirabilis (1989) 42, 138 Anschütz, G. 239, 240

Antarktis 100, 107 Antisemitismus 302 Anzon, A. 40, 54, 358, 360 Apelt, W. 401 Arabische Länder 94 Arabischer Frühling 17, 161, 164, 168, 184, 209, 343, 432 Arbeit 192 Arbeitsmethoden der Verfassunggebung 247 Archive 134 Arezzo, Guido von 411, 431 Argentinien 23, 62, 276, 284, 288 Aristoteles 8, 18, 25, 26, 61, 66, 79, 84, 109, 287, 289, 307, 326, 328 Arlettaz, J. 418 Arndt, A. 21, 81, 281, 344, 416 Atheismus 87 Auer, A. 404 Auslandsägypter 217, 232 Auslegung – durch Hinzudenken ~ 24, 44, 59, 98, 169, 341, 384, 387 – kontextsensible ~ 24, 410 Australien 63 Autonome – Gebietskörperschaften 367 – Organisationen 233 Averroёs 307 Avril, P. 413 Azpitarte, M. 305, 369, 403 Azzaritti, G. 409 Bach, J. S. 327, 397 Bachmann, I. 37 Bachof, O. 281, 399 Badura, P. 360, 361 Balaguer Callejón, F. 303, 304, 305, 358, 369, 370, 371, 403, 409, 410, 411, 416, 420, 422, 429 Baldassarre, A. 358, 361, 411

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Personen- und Sachregister

Balkan 6 Barbosa, R. 419 Barenboim, D. 429 Barranco-Vela, R. 38, 429 Baskenland 55 Bastida, J. F. 370 Bäumlin, R. 23 Beccaria, C. 423 Beethoven, L. van 18, 120, 307, 327 Behinderte 131 Behindertenschutz 19, 152, 206 Belaunde, D. 349, 356, 388, 422 Belgien 238 Ben Ali 168 Berger, C. 401 Bergkantone 44 Bergstraesser, A. 307 Bergsträsser, L. 244, 250, 251 Berlit, U. 401 Berlusconi, S. 190, 316, 359, 419 Bernal Cano, N. 385, 389 Beteiligtenkreis 244 f. Beuys, J. 270 Bevölkerungsprogramm 228 Bidart Campos, G. J. 356 Bieberstein, M. von 360 Bifulco, R. 360 Bilderphilosophie 237 Bildungsverfassungsrecht 194 Bill of rights 142, 145, 178 Billigkeit 99 Bindungsformel 89, 96 Biosphäre 155 Bismarck, O. von 330 Blanke, H.-J. 360 Blankenagel, A. 348 Blindensprache 140 Bloch, E. 344, 345, 393 Blockadepolitik 51 Bobbio, N. 40 Böckenförde, E.-W. 301, 302 Bodinus, J. 313 Boemke, B. 401 Bofill, H. 263, 388 Bogdandy, A. von 360 Bognetti, G. 358 Bolaffi, A. 358 Bolivar, S. 128

Bolivien 127 Bologna-Prozess 394 Bonatz, P. 302 Bonavides, P. 373, 383 Botha, H. 8 Brage de Camazano, J. 355, 369 Brahms, J. 327, 393, 396 Brasilia 336 Brasilien 62, 127, 311 Brecht, B. 61, 84, 89, 263 Brentano, H. von 244, 251, 252 Brinktrine, R. 401 Brogiato, H. P. 396 Bruckner, A. 327 Brünn 320 Bruno, G. 407 Bruttosozialprodukt 217, 227 f. Büchner, G. 401 Buchreligionen 58, 223 Bulgarien 77, 89 Bundesrepublik Deutschland 249 Bundesrichter (Schweiz) 66 Bundesstaatstheorien 46 f. – „gemischte“ ~ 46 f., 63, 350 Bundestreue 24, 42, 57, 243, 365, 378, 418 Burckhardt, J. 82 Burdeau, G. 413 Bürgerdemokratie 61 Bürgerinitiative – europäische 70 Bürgernähe 20, 57, 121 Bürgerrecht auf Nichtregierungsorganisationen 231 Bürgerschaft durch Bildung 157 Burgorgue-Larsen, L. 420 BVerfG – als Bürgergericht 184, 334, 379 Cámara Villar, G. 403, 409, 410, 419 Camões, L. de 426 Canotilho, J. J. G. 138, 145, 370, 426 Caravita, B. 410 Cardoso da Costa, J. M. 426 Cardozo, B. N. 379 Carpoz, B. 401 Carrée de Malberg, R. 27, 414 Carrino, A. 358 Carvelli, U. 373, 374

Personen- und Sachregister Cassese, S. 360, 361 Celsus, P. I. 325, 326 Cerrone, A. 357 Cervati, A. A. 40, 42, 304, 357, 360, 361, 362, 363, 409, 422 Champigneul, C. R. 420 Chapeaurouge, P. de 244 Charentenay, S. de 420 Charta von Paris 108 f. Chávez, H. 174, 281 Chemiewaffenübereinkommen 108 China 312 Chirac, J. 85 Chiti, M. P. 361 Christen 214, 224 Cicero, M. T. 18, 30, 168, 279, 290, 406 Circulo Doxa 288 Clemens VII. 423 Coing, H. 400 Corasaniti, A. 358 Crisafulli, V. 357, 360 Cruz Villalón, P. 311, 367, 369, 370, 371 D’Atena, A. 40, 42, 54, 137, 304, 357, 358, 360, 361, 370, 409, 410, 420, 422, 431 Dalai Lama 312 Dante 362 De Cabo, C. 368 De Gasperi, A. 37, 71, 321, 359, 384, 421, 432 De Gaulle, C. 281, 321, 420, 432 De Marco, D. 403 De Vergottini, G. 40, 42, 58, 153 Dehler, T. 244, 251 Del Vecchio, G. 361 Delbrück, J. 406 Delors, J. 321 Demokratie 301 – halbdirekte 65, 420 – innerparteiliche 170 – konforme Märkte 70, 420 – und Menschenwürde 300 Demonstrationsfreiheit 191 Denkmal 405 Denkschriften 245 Denninger, E. 358, 360, 361 Depenheuer, O. 376 Deutschland

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– europäisches 70 Devolution 45, 64, 144 Di Fabio, U. 320 Di Suni Prat, E. 360 Differenzierte Integration Europas 70 Digitale Welt 228 Diskriminierungsgründe 186 Diskriminierungsverbot 130 Doemming, K.-B. von 235 Dönhoff, M. 320 Drath, M. 378 Drygala, T. 401 due process 18 Duguit, L. 27, 414 Dürer, A. 393, 406, 430 Dürig, G. 21, 28, 332, 340, 369, 379, 380, 384, 399, 401, 409, 429 Eberhard, B. 244 Eckertz-Höfer, M. 401 Ecuador 127 ff. Ehe und Familie 194, 423 Ehlers, A. 244, 258 Ehmke, H. 28, 81, 307, 346, 370, 407, 410, 429 Ehrenzeller, B. 403 Eichenberger, K. 180, 201 Eichendorff, J. von 327 Eidesklauseln 85 Eingaben 245 Eingeborenenvölker 129, 132, 140 Einwanderer 317 Elfenbeinküste 89 Elia, L. 358 EMRK 76, 78, 105, 108, 124, 172, 186, 188, 315 – Living instrument 186 Enders, C. 401 Entstehungsgeschichte (GG) 6, 235 ff. Entwicklungsländer 60 Erdogan, R. T. 295 Erfahrungswissenschaftlicher Ansatz 120 Erhard, L. 325 Erinnerungskultur 23, 128, 166 Erklärung der Menschenrechte (UN) 101 Erziehungsziele 85, 87, 157, 166, 171, 193, 296, 326, 387 – Menschenrechte als ~ 130

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Personen- und Sachregister

ESM-Vertrag 68 Espin Templado, E. 371 Esposito, C. 360 Esser, J. 30, 42, 181, 331, 341, 342, 345, 357, 363, 387, 399, 401, 410, 415, 429 Estland 75, 89, 178 Ethik-Kommission 14 EU – als Rechtsgemeinschaft 69 EU-Grundrechtecharta 40, 72 f., 157, 190 Euro 68 Euro-Islam 295, 317 Europa 359 – als Erziehungsziel 299, 427 – als Verfassungsgemeinschaft 69, 71 – Artikel 30, 38, 67, 78, 125, 299, 365, 431 – der Bürger 427 – der Regionen 53 – fähigkeit 75 – im weiteren Sinne 68 – Verfassungspolitik 77 f. – Verfassungsrecht 63 – nationales ~ 67, 125, 366 – Zukunft 68 Europäische – Grundrechtstandards 299 – Öffentlichkeit 68 f., 70, 316, 319 – Rechtskultur 69 – Schuldenkrise 97 – Solidarität 68, 411, 418 – Sozialcharta 179 Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen 54 Europäische Union 319 Europäische Unionsgrundordnung 347 Europäischer Gesellschaftsvertrag 275 Europäischer Jurist 41, 405, 414, 417, 421, 428 Europarat – Satzung 111 Europarechtsfreundlichkeit 19, 409 Eurozentrismus 145 evocatio dei 147 Ewigkeitsklausel 20, 165, 185, 274, 322 Experimentierender Bundesstaat 275, 318 Fabris, S. A. di 373 Fakultäten 399 f.

Familie 167 Fausto de Quadros, C. J. 161 Favoreu, L. 415 Fechner, E. 399 Federalist Papers 45, 259, 271 Feiertage 23, 38, 295 Feiertagsgarantien 85 Feiertagssprache 121 Fernseh-Urteile 378 Ferrari, S. 359 Ferreyra, R. G. 273, 286, 311 Fest- und Dankesreden 391 ff., 422 ff. Festrede 8 Festschriften 146, 357, 361, 370, 396, 400 Fezer, K. H. 401 Finanzkrise 347 Fiorillo, U. 361 Fix-Fierro, H. 377, 422 Fix-Zamudio, H. 311, 356, 377 Flauss, J. F. 200 Flüchtlingsrecht 35 Föderalismus 20, 44 ff., 58 ff., 275 – differenzierter 64 – fiduziarischer ~ 46 – kooperativer 65 – modelle 41 ff. – reform 49 Folterkonvention 34 Folterübereinkommen 101, 107 Folterverbot 19, 73 f., 94, 149, 185, 327 Forsthoff, E. 239, 380, 400 Fortschritte im Recht 327 Fraenkel, E. 342 Fragebögen 246 Frankfurter Schule 275 Frankreich 238, 281, 413 f. Franziskus (Papst) 432 Freiheit – kulturelle ~ 21, 48 – öffentliche ~ 22, 168, 204, 230, 315, 404 Freiheit und Verantwortung 149 f. Freizügigkeit 189 Freund / Feind- Denken 301 Friedensdividende 69 Friedrich II. 430 Friesenhahn, E. 357 Fromont, M. 413, 414

Personen- und Sachregister Fundamentalismus 342 Füsslein, R. W. 235 Gadamer, H. G. 266, 307 Galilei, G. 423 Gamper, A. 429 Gandhi, M. 113, 289, 406 Ganzheitliche Verfassungsauslegung 176 García de Enterría, E. 363 García Morillo, J. 370 Garcia Pelayo, M. 363 Gauck, J. 375 Gedankenfreiheit 264 Gehlen, A. 82 Geiger, R. 401 Geistiges Schaffen 190 Geist-Klauseln 89, 142, 165, 241 f. Gelehrtenbiographie 8 Gelehrtenrepublik 304 Gemeinamerikanisches Verfassungsrecht 58, 180 Gemeinasiatisches Verfassungsrecht 310 Gemeineuropäisches Verfassungsgespräch 363 f. Gemeinlateinamerikanisches Verfassungsrecht 286, 288, 354, 405 Gemeinschaftsaufgaben 46, 63 Gemeinwohl 25, 150, 300 – als völkerrechtliche Teilverfassung 108 – europäisches 71 – gemischtes 295 – Judikatur 96, 336 Gemeinwohltheorie – prozessuale 342 Generationen – bezug 155 – Folge 103 – Gerechtigkeit 25, 216 – künftige 139 f., 158, 217, 228 – Schutz 20 – Vertrag 148, 158, 341 Genfer Abkommen 100, 106 Georgien 178 ff. Gerechtigkeit 141, 423 – als völkerrechtliche Teilverfassung 108 – lehren 29 – Prinzip 155 – soziale 227 Geschichtlichkeit 248

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Gesellschaft – verfasste 332 – vertrag 158, 326, 428 Gesetzesvorbehalte 74 Gesundheitsschutz 124 Gewaltenteilung 19 f., 48, 53, 62, 122, 148, 272, 282, 294, 324, 326, 367 – bürgerorientierte 65 Giacometti, Z. 65 Gillig, F. 259 Ginsborg, P. 40 Ginsburg, R. J. B. 283 Giorgione 307 Giscard d´Estaing, V. 415, 429 Gitter, W. 399 Gleichheit 423 Globalisierung 58, 308 f., 394, 419 f. Godechot, J. 413 Goerlich, H. 385, 400, 401 Goethe, J. W. von 21, 23, 31, 37, 42, 83, 84, 104, 113, 269, 272, 289, 307, 317, 327, 362, 393, 404, 405, 406, 407, 428, 429, 430, 432 González Encinar, J. J. 363, 372 good governance 144, 163, 175 Gottesbezug 31, 139, 147, 152, 154 Gottesbild 87 Gottesklauseln 79 ff., 85 ff., 139 Gottesstaat 165 Gozzi, G. 358 Graf Vitzthum, W. von 5, 7 Grass, G. 69, 376, 411, 418 Gregor der Große 384, 387, 415 Greiner, U. 375 Gremien – unabhängige 220 Gretzschel, M. 397 Greve, O.-H. 250 Grewe, C. 388, 414, 415 Griechenland 77, 376, 405 Griechenlandhilfe 68, 70 Grimm, D. 335, 338 Gropp, W. 402 Großbritannien 20, 61 Grossi, P. 360 Grotius, H. 18, 385, 407 Grundkonsens 81 Grundpflichten 131, 167, 197 f.

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Personen- und Sachregister

– des Staates 129 Grundrechte 129 ff., 181, 426 – Aufgaben des Staates 130 f. – Beschränkung und Missbrauch 71 ff., 76 – der dritten Generation 179 – Doppelcharakter 380, 413 – Drittwirkung 156, 325, 380 – Entwicklung 130, 182 – Entwicklungsklausel 75 – justizielle 150, 170, 183, 188, 218 – Kultur 32, 59, 183 – Politik 28, 182, 329, 331 – Reform 178 f. – Schutz – effektiver 381 – Schutzpflichten 380 – soziale ~ 38, 157, 358 – Verwirklichungsgarantie 75, 195 f. – Wirklichkeit 181 Grundwerte 122, 129, 139 Guardi, F. 423 Guatemala 158 Guinea-Bissau 92, 93 Gullién Lopéz, E. 369, 420 Gutachten 245 Güterabwägung 277, 287, 381 Gutiérrez Gutiérrez, I. 265 Guttenberg, K.-T. zu 396 Haack, S. 402 Haager Abkommen 99 Haager Landkriegsordnung 106 Habermas, J. 30, 84, 279, 292, 318, 354 Hacking, I. 398 Haider, U. 418 Hallstein, W. 19, 56, 71, 417, 419 Hamilton, A. 259, 411 Hauptstadtklausel 49, 203, 221, 234, 340 Hauriou, M. 27, 413, 414 Haydn, J. 266, 307, 430 Hayek, F. A. von 280, 290, 324, 354 Heck, K. 378 Hegel, G. W. F. 82, 139, 291, 295, 309, 320, 327, 344, 354 Heine, H. 357 Heinemann, G. 30, 290 Heinrich der Seefahrer 425 Heisenberg, W. 245

Hellenismus 308 Heller, H. 21, 25, 27, 31, 42, 81, 82, 84, 301, 316, 344, 345, 363, 368, 414 Heller-Roazen, D. 406 Henke, W. 347, 404 Henze, H. W. 37, 430 Herdegen, M. 110 Herder, J. G. 104, 329, 407 Hermeneutik 266 Hernandez, A. M. 354 Herrschaft des Rechts 109 Hesse, K. 20, 23, 28, 46, 74, 81, 138, 255, 266, 277, 287, 289, 291, 301, 305, 307, 311, 338, 344, 345, 360, 365, 367, 368, 369, 370, 378, 380, 381, 384, 393, 410, 413, 429 Heuschling, L. 200, 202, 203, 204, 208 Heuss, T. 238, 240, 241, 242, 244, 249, 250, 251, 252, 259, 404 Hieke, A. 375 Hien, E. 401 Hirsch, E. E. 78, 302 Hobbes, T. 275 Hochkultur 21, 83 Hoffmann, E.T.A. 265 Hofmann, H. 361 Hölderlin, F. 263, 270, 327, 362, 383, 393, 430 Homo oeconomicus 275 Homogenitätsklausel 322 Höpker-Aschoff, H. 244, 247 Huber, E. R. 28 Huber, P. M. 360, 361 Hugo, V. 270 Humanitäres Recht – als völkerrechtliche Teilverfassung 106 f. Humboldt, A. von 113, 374 Humboldt, W. von 23, 269, 288, 307, 393, 406 Identität – Artikel 165 – nationale 76, 84 – Verfassung 323 Idoux, P. 419, 420 IGH (Statut) 100 Iglesias, G. C. R. 365

Personen- und Sachregister Im Dienste der Entwicklung des Verfassungsstaates 61 Indien 62 Informationsanspruch 158 Informationsfreiheit 190 – innerdeutsche 237 Integration – lateinamerikanische 134 f. – lehre 80 Interamerikanischer Menschenrechtsgerichtshof 19 Internationale Beziehungen 134 Internationale Gerichte 17, 19 – als Teilverfassungsgerichte 113 f., 384 Internationale Konventionen – als Bauelemente des nationalen Grundrechtsteils 123 Internationaler Seegerichtshof 364, 432 Internationaler Strafgerichtshof 19, 102, 108, 208, 279, 432 Internet 428 Interview – wissenschaftliches ~ 7 invocatio constitutionis 91 invocatio dei 85, 147, 162 invocatio legis 91 invocatio populi 89, 93, 94, 96, 162, 174, 331, 335, 345 Ipsen, H. P. 380 Irak 86 Isensee, J. 404 Islam 162, 169, 343 – Islamische Staaten 85 f., 103, 166 Island 153 ff. Italien 37 ff., 90, 97 ff., 357, 360, 422 f., 430 ff. Jacobi, E. 396 Jaeger, E. 401 Jakobs, B. 362 Japan 310 Jay, J. 259 Jellinek, G. 25, 80, 140, 287, 340, 387, 403 Jellinek, W. 370, 400 Jens, W. 404 Jescheck, H.-H. 58, 357 Jiménez Campo, J. 368 Johannes Paul II. 82, 85, 375

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Jonas, H. 18, 79, 84, 104, 180, 287 Juden 226 judicial activism 60, 333 Judikate 6 Judikative – Aufgaben ~ 88 ff. – In wessen Namen? ~ 88 ff. Jugend – Arbeitslosigkeit 70 – Garantie 167, 342 – Schutz 131 Jurist als dienender Vermittler 268 Jurist als Diener des Rechts 330 Juristischer Berufsstand 219 Justinian I. 326 Justiz 174 Kafka, F. 268, 269 Kägi, W. 113 Kalabrien 39 Kanada 62 Kant, I. 18, 22, 23, 32, 61, 74, 113, 275, 280, 286, 287, 289, 295, 313, 320, 354, 374, 393, 403, 404, 406, 407 Kantonsverfassungen (Schweiz) 85 Katalonien 428, 431 Katholische Soziallehre 327 Katz, R. 244 Kaufmann, E. 243 Kellogg-Pakt 99 Kelsen, H. 22, 27, 32, 274, 283, 301, 384, 393, 414, 416 Kenia 93, 128, 138 ff. Kerngehaltsgarantien 277, 301 Kerngehaltsschutz (Schweiz) 73 Kinderrechte 156 Kinderschutz 19 Klassikertexte 6, 25, 88, 104, 155, 180, 238, 252, 263 f., 270, 287, 298, 329, 354, 383 ff., 385, 415 Kleist, H. von 269, 405 Klonen des Menschen (Verbot) 149 Koch, A. 376 Kohl, H. 47, 282, 310, 385, 421, 432 Köhler, H. 398 Kollektives Gedächtnis – der Nation 132 Kolumbien 127

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Personen- und Sachregister

Kölz, A. 200 kommunale Selbstverwaltung 126, 160, 175 f. Komoren 94 Komparatistik 180 Kompromissbereitschaft 257 König (Marokko) 166 Konstitutionalismus 17 ff., 25, 310, 317 f., 326 – arabischer 164, 229 – brasilianischer 384, 388, 429 – Lateinamerika 348 – universaler 17, 131, 134, 152, 339, 389, 416 – weltweiter 312 f. Kontext 145, 182, 215, 282, 318 – kultureller 84 – sensibel 88 – These 29, 384 Konventionen 33, 88 – Genfer ~ 18, 152 – Haager ~ 18, 152 – Wiener ~ 18, 152 Kooperation – internationale 123 f. – Verhältnis 7 Kooperativer Föderalismus 45, 47 Kooperativer Verfassungsstaat 286, 291, 303, 339 Korruption 167 Kosmopolitisches Staatsrecht 34, 146, 152, 406 Kosmopolitismus 152 Kosovo 91, 105, 117 ff. Kotzur, M. 5, 19, 34, 109, 385, 402, 409 Krauß, A. 399 Krim 25 KSZE-Schlussakte 100, 106, 108, 110 ff. Kultur 82 ff., 133, 141, 171, 193, 229, 241, 272, 287, 388, 419, 423 – Abbau 38 – als viertes Staatselement 340 – des Friedens 129 – Geographie 166 – griechische 69 – Güterschutz 23, 83, 229 – Konzept – offenes 60, 171, 289 – pluralistisches 60 – Staat 96, 267

– und Natur 158 – und Verfassungsrecht 273 ff. Kultur- und Naturerbe (UNESCO) 103 Kulturelle – Erbe-Klauseln 35, 43, 123, 29, 141, 155 – Identität 296 Kulturverfassungsrecht 130, 164, 230, 368 – im Völkerrecht 106, 111 Kulturwissenschaftliche Öffnung 84 Kulturwissenschaftlicher Ansatz 43, 85, 86, 141, 240 f., 383 Küng, H. 406 Kunstfreiheit 264 Kuriki, H. 363 Kurtág, G. 397 Kuwait 94 Kyoto-Protokoll 101 La Torre, M. 358 Laforet, W. 244 Lanchester, F. 304, 358, 360, 409, 410 Landa, C. 304, 349, 388, 422 Landreform 144 Lassalle, F. von 80 Lateinamerika 6, 22, 44, 117, 127, 273, 280, 288, 310 f., 353, 374, 388, 422 – Verfassungsrecht – nationales 135 Latium 39 Law as literature 355 Law in public action 18, 393 Lebenslüge 376 Lehmann-Grube, U. 397 Lehr, R. 244 Lehrbücher 369 Lehrer-Schüler-Verhältnisse 7 Leibholz, G. 66, 259, 305, 331, 338, 347, 357, 413 Leicht, R. 376 Leinen, J. 315 Leipzig 396 ff. Leisner, W. 360 Leitkultur 84 Leo X. 423 León, J. 329 Leopardi, G. 362 Lerche, P. 249, 381 Lessing, E. G. 87

Personen- und Sachregister Lex mercatoria 407 Liber amicorum 117 Liechtenstein 42, 325 Ligurien 39 Link, C. 399 Lissabonurteil (BVerfG) 25, 316, 319 f. Literatur- bzw. Wissenschaftsgattungen 5 Locke, J. 144, 275, 326, 411 Löffler, K. 397 Lombardi, G. 360 López Pina, A. 264, 369 Losano, M. 358 Löwenthal, F. 244 Lübbe-Wolff, G. 335 Luchaire, F. 413 Luciani, M. 358, 409 Luther, J. 358, 359, 360, 361, 370, 410, 419 Luther, M. 278, 432 Lüth-Urteil 377 ff. Luxemburg 90, 200 ff. Machiavelli, N. 423 Madison, J. 259 Magnon, X. 418 Mahler, G. 384, 415 Mahrenholz, E. G. 301 Malhière, F. 420 Mali 92 Maliska, A. 291, 373, 383 Mandela, N. 113, 289, 406 Mangiameli, S. 360 Mangoldt, H. von 241, 244, 250, 251, 259 Manifest von Ventotene 412, 424 Mann, T. 70, 302, 359, 365, 406, 419 Mao Tse-tung 312 Mare nostrum constitutionale 127, 165, 177, 343, 387, 427, 431 Markt 22, 48, 275, 290 f., 307 f., 324, 417 – Freiheiten 69, 325 – Welt ~ 407 Marktwirtschaft 123 – soziale ~ 24, 418 Marokko 94 Martines, T. 54, 360 Martino, A. di 410 Martucci, F. 420 Märtyrer 227

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Masucci, A. 361 Mattarella, S. 360 Matz, W. 235 Mauretanien 86 Mayer, O. 370, 401 Medien – Freiheit 143 – Rat 220 – Verfassungsrecht 23 Meeresumwelt 102 Mehrebenenkonstitutionalimus 33, 48, 56, 179 Memory of the world-Programm 103 Mendelssohn, F. 397 Mendes, G. 127, 278, 293, 304, 305, 348, 373, 383, 384, 409, 410, 411, 422 Méndez de Vigo, I. 347 Mengjiqi, M. 122 Menschen – bildjudikatur 378 – handel 149, 187 – pflichten 198 – rechte 104 f., 142, 250 – als Erziehungsziele 61, 141, 182, 215, 284 – auf Wasser 130 – verstand 92 Menschenrechtsgerichtshöfe 35 Menschenrechtskonforme Auslegung – nationaler Grundrechte 124 Menschenrechtspakte 18, 179, 202 Menschenwürde 105 f., 123, 170, 178, 204, 290, 299, 301, 367, 409 – Existenzminimum 187 Menschheit 100 ff., 155, 220, 223, 309, 408 – gemeinsames, kulturelles Erbe der 102, 103 – Gewissen 101, 103 Menschheitsbezüge 99 ff., 211 Menschheitsideale 389 Menschheitstexte 100 ff. Menschliches Klonen 187 Menzel, W. 240, 244, 246 Merkel, A. 68, 320, 418 Merkl, A. 22, 27 Methodenfragen 59 Mexiko 355 Miccú, R. 410 Michelangelo 40, 423, 424 Mikunda, E. 58, 388

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Personen- und Sachregister

Militär 168 Militärgouverneure 246 Minderheiten 38, 84 – als staatsbildende Faktoren 61 – Rechte 20 – Schutz 57, 124, 195, 280, 327 – Sprachen 125 Miranda, J. 117, 393, 422, 426 Misstrauensvotum – konstruktives 252 Mittelmeer 165, 184, 431 Mitterrand, F. 321, 385, 432 Möglichkeitsdenken 31, 154, 157, 288, 330, 344 f. Möglichkeitsvorbehalt 330 Mohammed 432 Mohammed VI. 375 Mohler, A. 403 Moldau 91 Monnet, J. 272, 419, 421 Monopolkommission 325 Montanunion 100 Montesquieu 26, 27, 30, 48, 76, 79, 84, 89, 201, 272, 287, 326, 340, 380, 411 Monteverdi, C. 411 Mora y Araujo, M. 354 Morlok, M. 310 Morscher, S. 375 Mortati, C. 354, 357, 358 Mosambik 92 Mozart, W. A. 327, 328 Mubarak, H. 219, 231, 233 Müller, J.-P. 406 Müller, P. 200, 333 Multiethnischer Charakter (Kosovo) 122, 124 Mursi, M. 209, 210, 232 Muschg, A. 264 Musil, R. 330, 344 Muslim-Brüder 209 Muslimische Gerichte 143 Nachbarwissenschaften 24 Nadig, F. 244 Namensklausel 90 Nania, R. 97, 410 Napolitano, G. 37 Narrativ 128, 148, 211, 224

Nasser, G. A. 224 nation building 121 nationale Konstitutionalisierung – von Völkerrechtsthemen 123 Nationales Europaverfassungsrecht 180 Nationalfeiertage 148 Nationalflagge 23, 120, 203, 322, 425 f. Nationalhymnen 23, 129, 166, 203, 266, 275, 322, 388, 393 Nationalkirche 157 Nationalkultur 147 Natur 82 Naturzustand 345 Naumann, P. 383 Nelkenrevolution 393 Netzneutralität 25 Neue Weltordnung 312 neuere Verfassungen 115 ff. neuere Verfassungsentwürfe 115 ff. Neugliederung 52 Neugliederung (Bundesgebiet) 246 Neumaier, O. 375 NGOs 142, 346, 407 Nießen, C. 397 Niger 92 Nil 230 Nocilla, D. 360, 410 Nolte, G. 402 Nordatlantikvertrag 101, 107 ff. Notwendigkeitsdenken 345 numerus apertus – der Rechtsquellen 23, 305 OAS 112 Obama, B. H. 330 Oehling, A. 388 Offenbarungsreligionen 223 Offene Gesellschaft der – Grundrechtsinterpreten 183 – Verfassunggeber 154 – Verfassungsinterpreten 22, 117, 142, 154, 245, 278, 304, 336 – Verfassungswirklichkeit 22, 29, 137, 149, 210 Offener Kunstbegriff 83 Offenheit der Verfassung 280 Öffentliche Freiheiten 290, 297 Öffentliches Interesse 149 f.

Personen- und Sachregister Öffentlichkeit 30, 82 – europäische 17, 32 – pluralistische 179 Öffentlichkeit des Rechts 278 Ökonomisierung 62, 407, 431 Ökonomisierungsvorgänge 279 Ökonomismus 48 Ombudsmann 20, 30, 69, 151, 159, 182, 276, 292, 298, 311 Ooyen, R. C. van 343 Opposition 173, 330 Optimismus – wissenschaftlicher ~ 25, 32, 99, 177, 350, 386, 411 Orbán, V. 147 ordre public 109 Organgesetze 173 Organhandel 230 Orientierungswerte 35, 152, 215 Orlando, V. E. 358 Orwell, G. 268 Österreich 62, 90, 418 Österreich-Konvent 45, 50 Osteuropa 42, 91, 138 Otto, I. 369, 370 Ozonschichtübereinkommen 104 Pace, A. 360, 361, 409 Paciotti, E. O. 41, 57 pacta sunt servanda 110 Pädagogik 349 Pädagogische Briefe 386 ff. Paladin, L. 358 Palästina 163 Papinian, A. 326 Parlament 151 – Island 159 – Parlamentsvorbehalt 156, 331 Parlamentarischer Rat 235 ff. Parlamentarismus 281 Parteien – Demokratie 79 – politische 231, 279 – Recht 132 Partialrevision 294 Pasquino, P. 361 Passarelli, G. S. 409 Patterson, D. 376

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Paul, W. 373 Peisl, A. 403 Péquignot, G. 413 Pereira da Silva, V. 410, 420, 422 Peréz-Luño, A.-E. 371 Pernice, I. 56 Peru 158, 251 Pessoa, F. 393, 426 Peters, A. 35 Petitionsrecht 197 Pfeiffer, A. 244 Philip, L. 413 Picasso, P. 404 Piemont 39 Pierandrei, F. 358 Pinelli, C. 409 Pinon, S. 420, 430 Piraterie 36 Pizzorusso, A. 42, 58 Platon 18, 21, 29, 287, 344 Pluralismus 163, 190, 231 – Artikel 80, 157 – Gebot 40 – kultureller 229 Pluralistische Demokratie 290, 296 Pluralität 131 Poesie 265, 270 Polen 75, 87, 128, 154 Politische Kultur 66 Pomarici, U. 358 Popper, K. R. 68, 267, 274, 275, 276, 290, 296, 313, 344, 345 Porras Ramirez, J. M. 368 Portinaro, P. P. 358 Portugal 80, 89, 90, 424 Portugal (Verf. 1976) 425 ff. Posavec, Z. 304 Präambel (GG) 249 Präambeln (Verfassungen) 23, 27, 30, 85, 120, 128, 139 f., 147, 154, 161 f., 176, 184, 210, 223 ff., 226, 250, 367, 385 – Narrativ 139 – theorie 154 Präföderale Elemente (EU-Verfassung) 55 f. Präföderale Struktur Europas 70 Pragmatische Integration von Theorieelementen 338 Praktische Konkordanz 74, 287, 381

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Personen- und Sachregister

Präsident der Republik – Ägypten 219 – Ungarn 151 Präsidentialismus 281 Preuß, H. 118 Prinzip Verantwortung 79, 104, 345 Prinzipienkatalog 94 Privatheit 143 Privatheitsschutz 20, 25, 124, 189 Professorenspiegel 394 Prozessgrundrechte 131 Ptolemäus, C. 327 Putin, W. 174 Pythagoras 429 Querioz, C. 376 Radbruch, G. 139, 255, 270, 355, 387 Rafalyuk, E. 419 Raffael 307 Raiser, L. 399 Rakate, P. K. 375 Rassendiskriminierung 123 Rating-Agenturen 415 Rationalismus 275 Rauch, N. 399 Rawls, J. 25, 29, 61, 109, 287 Reagan, R. Recht – auf Arbeit 423 – als Beruf 232 – auf fairen Prozess 143, 158 – auf gute Verwaltung 143, 207 – auf gutes Leben 130, 133 – auf persönliche Integrität 123 – auf Teilnahme 192 – auf Wasser 171 – und Freiheiten 216 Recht und Politik 329 Rechtsgespräch 7, 338 Rechtskultur 31, 298 – Europas 84 – nationale ~ 8 Rechtsprechungswirklichkeit 96 Rechtsquellenartikel 20 Rechtsstaatsprinzip 155, 202 Rechtsvergleichung 58 ff.

– als fünfte Auslegungsmethode 23, 29, 42, 59, 332, 341, 377, 415 – als fünfte Gestaltungsmethode (Verfassunggebung) 164 f. – als Zukunftswissenschaft 58 ff. – in Raum und Zeit 379 Reform der Verfassung 135 Regionalismus 20, 40, 52 ff., 58 ff., 295 – differenzierter ~ 55, 64 Regionalstaat 414 Regionalstatute 366, 412 – als kleine Verfassungen 38 Regionaltreue 119 Reich-Ranicki, M. 405 Religionsfreundlichkeit 22, 32, 150 Religionsverfassungsrecht 20, 86, 139, 185, 359 – islamisches 167 Religionswissenschaft 85 Renner, H. 244 Repetto, G. 410 Republik 140, 145, 168, 204, 403 f., 414 Republikanische Bereichstrias 82, 290, 297, 324 Republikanismus 403 Revolution 225 Rezeptionsgegenstände 238 Rezeptionsmittler 7, 29, 201, 387 Rezeptionsprozesse 42, 155 Richter, D. 431 Richterstaat 89 Richtertugenden 25 f. Ridder, H. 357 Ridola, P. 40, 42, 97, 98, 357, 360, 361, 409, 411, 418, 422, 430 Riedweg, C. 403 Riklin, A. 375 Rimoli, F. 361, 409 Ringparabel 264 Rios, J. 420 Ritterspach, T. 359, 378 Robbers, G. 359 Rodrigues Canotilho, M. 420 Rom 403 ff., 430 ff. Romantik 327 Roosevelt, F. D. 333 Rossi, S. 410 Rotes Kreuz 107, 146, 318

Personen- und Sachregister Rottmann, F. 402 Rousseau, J.-J. 18, 27, 79, 263, 275, 340, 354 Royo, J. P. 369 Rubio Llorente, F. 370 Ruiz Miguel, C. 371 Ruíz Rico, J. 370 Ruiz Robledo, A. 371 Rule of Law 140, 155, 214, 225, 232, 283 Rumänien 91 Runder Tisch 418 Rupp-von Brünneck, W. 335 Rusconi, G. E. 358 Russland 375, 428 Sadat, A. 219, 224 Salus publica ex processu 280, 300 Sánchez Agesta, L. 305 Sánchez Gil, R. 377 Sandberger, G. 401 Sandulli, A. 357, 361 Santantonio, E. 360 Sanviti, G. 361 São Tomé und Príncipe 93 Saramago, J. 426 Sarkozy, N. 85, 281, 404 Sarlet, I. 289, 304, 373, 383, 410, 422 Savigny, F.-C. von 23, 29, 59, 71, 118, 138, 180, 270, 298, 325, 326, 341 Scarlatti, D. 406 Schäffer, H. 357 Scharia 165, 169, 214, 225 Schäuble, W. 336 Scheffler, E. 378 Schefold, D. 358, 361 Scheler, M. 379 Schelsky, H. 25, 339, 411 Scherer de Mello Aleixo, P. 373 Scheuner, U. 35, 81, 113, 118, 295, 339, 346, 416 Schiedermair, M. 399 Schiera, E. 358 Schild, W. 401 Schillaci, A. 409, 420 Schiller, F. 18, 61, 263, 264, 272, 327, 340, 404, 405, 407 Schindler, D. 99 Schleiermacher, F. D. E. 266 Schlink, B. 28, 337

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Schluchter, W. 397 Schmid, C. 240, 241, 242, 243, 244, 249, 250, 259, 283, 301, 302, 329, 346, 380 Schmidt, H. 68, 310, 411, 418 Schmidt, T. 400 Schmidt-Radefeldt. R. 401 Schmidt-Recla, A 402. Schmitt, C. 22, 27, 81, 414, 416 Schmitt Glaeser, W. 9 Schneider, H.-P. 360 Schneider, P. 269, 355 Schnettger, M. 362 Schönfelder, A. 244 Schöpfergott 141 Schottland 431 Schrankendenken 72 Schröder, G. 282 Schröder, H. 399 Schule von Salamanca 286 Schulz, M. 70 Schulze-Fielitz, H. 382 Schumann, E. 402 Schumann, R. 385, 421 Schumpeter, J. 290, 324 Schura-Rat 214, 218, 221, 232 Schutzpflichten 131, 257 Schwalber, J. 242, 244 Schwarze, J. 200, 359 Schweitzer, A. 289 Schweiz 17, 62, 119, 238, 301 f. – als Werkstatt 28, 43, 46, 318 Schweizer Bundesverfassung 180 Schweizer Kantonsverfassungen 42 Seebohm, H.-C. 244, 250, 251 Seerechtsübereinkommen 101, 108, 110 ff. Segado, F. F. 369, 370, 389 Selbert, E. 244 Selbstverständnis – des Künstlers 265 – des Wissenschaftlers 150 – Klauseln 140 f. – Tunesien 164 Serbien 125 Shakespeare, W. 268, 404 Siebeck, G. 259 Simon, D. 396 Simon, H. 335 Simson, W. von 19, 34, 339

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Personen- und Sachregister

Sinn und Zweck 248 Sklaverei 327 Smend, R. 8, 20, 21, 23, 27, 28, 29, 35, 42, 80, 81, 113, 118, 243, 255, 266, 279, 295, 297, 339, 343, 344, 346, 365, 370, 378, 381, 400, 410, 414, 416, 418 Smith, A. 291 soft law 99 Sokrates 287 Solidarität 50, 133 – gemeineuropäische 320 Solon 278 Sonderstatusverhältnisse 75 Sondervoten 22 – verfassungsrichterliche ~ 30, 49, 61, 126, 320, 358 Soziale Sicherheit 188 Sozialismus 213 Spangher, G. 409 Spanien 54 f., 91, 119, 365, 419 Spinelli, A. 37, 41, 57, 321, 359, 421, 432 Sprache – bürgernahe 147 Sprachen-Artikel 122, 140, 340 Sprachenfreiheit 72 St. Galler Universitätsstiftung 146 Staat und Gesellschaft 213 Staatenimmunität 431 Staatsangehörigkeit 186 Staatsrechtslehrertagungen 97 Staatssprache 129 Staatssymbole 80, 122, 124, 129, 148, 221, 234 Staatsziele 215 Stadie, H. 401 Städtebilder 43 Starck, C. 360 status activus processualis 20, 143, 303 status culturalis 25 status naturalis 25 Statusbericht (BVerfG) 66, 259 Stein, E. 378 Stellungnahmen 245 Stern, K. 360 Sternberger, D. 31, 84, 294, 295, 405 Stolleis, M. 397 Strauß, W. 244, 245 Streitbare Demokratie 252

Stückwerktechnik 68, 290 Subsidiarität 63, 334, 420 Südafrika 65, 85, 128, 138, 154 Sudan 86 Sudhoff, K. 397 Süd-Sudan 168 Suhr, O. 249 Süsterhem, A. 241, 244, 249, 258, 259 Symbol-Artikel 182, 185, 414 Systematik 248 Teilhaberechte 170 Teilverfassungen 18, 28, 32, 33, 35, 313, 314, 315, 339, 411 – auf Weltebene 327 – gerichte 19 – nationale ~ 5, 113, 389 – völkerrechtliche ~ 5, 17, 88, 97 ff., 113, 152, 389, 416 Territoriale Organisation – des Staates 133 Textalternativen 246 Textstufen 29, 96, 246 f., 282, 311, 415 – analyse 88 – arbeit 249 – paradigma 6, 26, 65, 71, 97 ff., 118, 130, 180, 201, 341 Themenliste – verfassungsstaatliche 134 Thoma, R. 237, 238, 239, 242, 250 Thürer, D. 18, 34, 146, 406, 429 Tibet 310 Tierschutzklausel 207 Tizian 430 Tocqueville, A. de 414 Todesstrafe 106 Togo 93 Toleranz 82, 125, 131, 171, 212, 304, 402 Toleranzidee 87 Tomuschat, Ch. 360 Topoi-Katalog 247, 258, 305, 326 Torres del Moral, A. 369 Toskana 39 Totalrevision 222, 237 Transparenzgebot 220 Trennung von Staat und Religion 141 Trennungsföderalismus 51, 63, 65 Treu und Glauben 432

Personen- und Sachregister – als völkerrechtliche Teilverfassung 111 Trias von Texten, Theorien, Rechtsprechung 59, 118 f., 127, 138, 374, 387, 410, 416 Triepel, H. 401 Trilogie (Flagge, Hymne, Wahlspruch) 165 Trust-Gedanke 144 Tsatsos, D. T. 56, 309, 347, 405, 419 Tschernobyl-Artikel 274 Tübke, W. 398 Tunesien 17, 94 f., 161 ff., 343, 432 Türkei 71 ff., 74, 77, 288, 294 ff., 302 Typus Verfassungsstaat 79 f., 122, 134, 158, 364 Übergangsbestimmungen (verfassungsrechtliche) 136, 154, 220, 234 Übermaßverbot 42, 74, 75, 331 Übersee 89 Übersetzungen 374 Überwachungskapitalismus 181 Uganda 93 Ukraine 91, 350 Umwelt 150, 426 – schutz 158 Umweltstaat 282 UN-Behindertenrechtskonvention 172, 179 UN-Charta 18, 34, 100 f., 107 f., 112, 279 – als Teilverfassung 107, 179 UNESCO 313 UNESCO-Konvention 36, 408 Ungarn 18, 91, 146 ff. UN-Grundrechtecharta – digitale 428 Unionsbürger 404 Unionsbürgerschaft 135, 405 Universale Jurisprudenz 18, 331, 339, 341, 350 UN-Kinderrechtskonvention 172, 179 Unschuldsvermutung 94, 150, 158, 170 UN-Sicherheitsrat 306, 325 UN-Sondertribunale 33 UN-Tribunale 95, 339, 364, 407, 432 Urbevölkerung 141 Urheberrechte 317 Utopie 154, 271, 313 Utopie-Quantum 269, 386, 394 Utopiequantum des Verfassungsstaats 32, 171

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Valadés, D. 8, 280, 281, 304, 348, 353, 354, 355, 373, 377, 388, 409, 422 Vasco da Gama 426 Vecchio, F. 418 Vega, P. de 347, 362 Venzke, I. 113 Verantwortungsklausel 148 Verbundsföderalismus 51 Verdi, G. 38, 431 Verdross, A. 113 Verdu, P. L. 363 Verfassung – als Ganzes 135 – als Kultur 39 f., 83, 119, 126, 141, 276, 364 – als öffentlicher Prozess 21 – des Pluralismus 83, 86, 267, 346 – gemischte 64 – Kompromisscharakter ~ 20, 162 – Vorrang der ~ 20, 165, 301, 381 Verfassunggeber – internationale Gesellschaft 114 Verfassunggebung – Arbeitsmethoden 118, 119 f., 138, 305 f. – fünf Gestaltungsmethoden ~ 6, 30 Verfassungsänderung 160, 175, 176 Verfassungsautonomie 63 Verfassungsautonomie der Länder 242, 257 Verfassungsbeschwerde 126, 135, 151, 324, 379 Verfassungsentwurf 6, 153, 200 ff. Verfassungsgemeinschaft (EU) 19, 45, 56, 419 – europäische 70 Verfassungsgemeinschaft (EU) 271, 292 Verfassungsgerichte 151, 174, 225, 292 – europäische 95 – „im Namen der Menschheit“ 95, 113 f., 432 – „im Namen des Volkes“ 218, 232 – internationale ~ 19, 95, 334, 349 Verfassungsgerichtsbarkeit 19, 66, 126, 137, 151, 283, 311, 367 – in Sachen Völkerrecht 430 Verfassungsgeschichte 236 Verfassungsgespräche 81 Verfassungskultur 5, 59, 87, 334, 415 Verfassungslehre – als Kulturwissenschaft 146

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Personen- und Sachregister

– universale ~ 5, 135, 234, 384, 422, 429 – vergleichende 96 – Vorratswissenschaft 431 Verfassungspädagogik 30, 141, 293, 387 Verfassungspatriotismus 31, 84, 295, 405 Verfassungspolitik 253 ff., 256 Verfassungsprozessrecht 22, 298, 305, 333 f., 337 Verfassungsrechtswissenschaft – Selbststand ~ 24 Verfassungsreform 286 Verfassungsstaat – europaoffener 75 – kooperativer ~ 5, 19, 31, 134, 155, 160, 163, 416 – universales Projekt 136, 172 – weltoffener 81, 134 – Werkstatt des ~ 7, 160, 180, 221 Verfassungstheorie 28, 58, 86 Verfassungsvergleichung – Akteure 60, 114 – als Kontextwissenschaft 44 – als Kulturvergleichung 364 – als weltoffene 114 – fünfte Auslegungsmethode 238, 258, 325 – im Raum 120, 236 – im Völkerrecht 99, 104, 208 – kulturelle / r ~ 27 ff., 43, 71, 303, 387 – Ziele 61 Verfassungsverständnis 20, 21, 416 – gemischtes ~ 28, 31, 80, 81, 113 Verfassungswirklichkeit 65, 88, 164, 201, 222, 243, 274, 283, 343, 387, 424 Verga, M. 362 Verhältnismäßigkeit 73, 123 f., 172, 182, 183, 232, 418 Vermachtungsprozesse 279 Vespaziani, A. 358, 361 Viala, A. 417, 420, 430 Vogel, K. 19, 286 Völkerbund 108 Völkermord 18, 374 Völkermordkonvention 101 Völkerrecht 21, 32, 243, 306, 313 – als verfassungsstaatlicher Grundwert 60, 110, 252, 364 – als konstitutionelles Menschheitsrecht 34, 95, 99, 114, 293, 309, 364, 374, 394, 417

– als universales Menschheitsrecht 286 – humanitäres ~ 18, 386 – Internet ~ 417 – Rechtstaat im ~ 109 – Teilverfassungen 346 Völkerrechtsfreundlichkeit 19, 34 Völkerrechtspolitik 24, 35, 114, 339 Völkerstrafgesetzbuch – deutsches 106 Volksinitiativen 315, 319 Volkskultur 21, 83 Volksrechte 291, 315 Volkssouveränität 162, 165, 212, 226 Volpe, G. 358 Vorrang der Verfassung 135, 165, 258, 274 Vorratspolitik – wissenschaftliche 67, 199 Vorverständnis und Methodenwahl 30, 42 Vorworte 8 – Literatur 353, 371, 377 Vosskuhle, A. 320 Wagner, R. 44, 317 Wahlspruch 163 Wahrheitskommission 292, 375 f. Wahrheitsliebe 82 Wahrheitsprobleme 373 Wahrheitstheorien 307 Wahrheitswissenschaftlicher Ansatz 239 Währungshoheit 313 Walser, M. 82 Wanderungsbewegungen (Texte) 88, 210 Wandres, T. 376 Wappen 129, 148 We, the People 21, 121, 155, 211, 416 Weber, H. 244 Weber, M. 22, 82, 329 Weimarer Richtungsstreit 27, 80 Weizsäcker, C. F. von 406 Welt des Verfassungsstaates 276, 382 Weltbürger 114, 128, 404, 406 Weltbürgertum aus Kunst und Kultur 408 Weltbürgertum des Verfassungsstaat 389, 406 Weltethos 406 Weltgeist 284, 309 Welthandelsorganisation 101 Weltkulturerbe (UNESCO) 18, 389, 416, 427 Weltöffentlichkeit 17, 102, 110

Personen- und Sachregister Weltraum 102 Weltraumrecht 18 Weltraumvertrag 407 Weltrechtskultur 36, 130 Weltrechtsprinzip 106 Weltstunde des Verfassungsstaates (1989) 17, 27 Weltverfassungsrecht 134 – nationales 318 Werkstatt Schweiz 20 Werner, F. 363 Wesensgehaltgarantie (Grundrechte) 72, 119, 124, 130, 142, 149, 172, 182, 196, 206, 218, 232, 251 Wessel, H. 244, 250 Wettbewerbsföderalismus 46 f., 63 Whitehead, A. N. 276 Widmungsblätter 353 ff. Wiener Übereinkommen 101, 110 f. Wikipedia 22, 153, 415 Willkürrechtsprechung 205 Wintrich, J. 378, 379 Wirklichkeitsdenken 344 Wirtschaftskrise 320 f. Wirtschaftswissenschaften 417 Wissenschaft 24 Wissenschaftlergemeinschaft 359 Wissenschaftliche Interviews 261 ff., 302, 349

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Wissenschaftliche Literaturgattungen 256, 328, 368 ff. Wissenschaftliche Vorratspolitik 96, 138 Wissenschaftlicher Generationenvertrag 287, 343, 369, 377, 430 Wolf, Erik 307 Wolff, F. 242 work in progress 6 Wortlaut 247 Wulff, C. 330 Wurm, T.-H. 245 Yildiz, H. 294 Zaffaroni, E. R. 280, 281, 285 Zagrebelsky, G. 40, 88, 96, 323, 358, 360, 361, 365, 370, 410 Zeit 430 Zeit und Verfassung 32, 335 Zeit / Raum-Perspektive 44 Zinn, G. A. 241, 242, 244, 251, 252, 259 Zivilgesellschaft 87, 162, 176, 191, 290, 297, 323, 341 Zovatto, D. 354 Zuwanderung 86 Zweig, S. 288 Zwei-Kammer Systeme 64 ff. Zweite Kammer 57