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German Pages 538 [540] Year 2008
Walter Haug Positivierung von Negativität
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Walter Haug
Positivierung von Negativität Letzte kleine Schriften Herausgegeben von Ulrich Barton
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbiliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10813-4 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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VII
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII
I. Übergreifendes
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1
1. Wie modern ist das Mittelalter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2. Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozeß
14
3. Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst . . . . . . . . . .
31
4. Von der perfectio zur Perfektibilität
. . . . . . . . . . . . . . . . .
45
5. Schreckensorte und künstliche Paradiese. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte der Landschaftsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
6. Über Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
II. Zum höfischen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
1. König Artus. Geschichte, Mythos und Fiktion . . . . . . . . . . . . .
91
2. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem klerikalen Konzept der Curialitas und dem höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans? . . .
108
3. Die Rollen des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
4. Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram .
141
5. Die ,Theologisierung‘ des höfischen Romans in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ und in der ›Queste del Saint Graal‹ . . . . . . . . . . . . .
157
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chre´tien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg . . . . . . . . . . . .
172
7. Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹ oder Die Geburt des Romans aus dem Scheitern am Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
. . . . . .
196
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken . . . . . .
210
VI
Inhaltsverzeichnis
III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum . . . . . . . . . . . . . .
223
1. Gotteserfahrung im abendländischen Mittelalter . . . . . . . . . . . .
225
2. Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition? . . . . .
251
3. Das dunkle Licht. Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik bei Dionysius Areopagita, Johannes Scotus Eriugena und Nicolaus Cusanus . . . . . .
271
4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . .
286
5. Reden und Schweigen bei Meister Eckhart
. . . . . . . . . . . . . .
301
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
6. Eckhart, Predigt 72
7. Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹
. . . . . . . . . . . . . .
338
8. Transzendenzerfahrung in Bildern des Abschieds . . . . . . . . . . . .
354
9. Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus. Dargestellt aus der Perspektive der Analogieformel von der unähnlichen Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . .
371
IV. Diverses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
1. Szenarien des heroischen Untergangs . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
2. ›Brandans Meerfahrt‹ und das Buch der Wunder Gottes . . . . . . . . .
412
3. Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten oder Wie steht es um die Erzählkunst in den sogenannten Mären des Strickers? . . . . .
430
4. Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
446
5. Kindheit und Spiel im Mittelalter. Vom Artusroman zum ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
465
V. Reden und Nachrufe
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
479
1. Ernst Penzoldt – der Freund des Theaters . . . . . . . . . . . . . . .
481
2. Nachruf auf Wolfgang Mohr (1907–1991) . . . . . . . . . . . . . . .
494
3. Nachruf auf Kurt Ruh (1914–2002)
. . . . . . . . . . . . . . . . .
496
4. Rede bei der Gedenkfeier für Richard Brinkmann (1921–2002) am 16. Juni 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
499
5. Rede zum 80. Geburtstag von Karl Bertau
. . . . . . . . . . . . . .
507
6. Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften . . . . .
513
Abkürzungsverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
519
Nachweise der Erstpublikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
521
Register: Autoren – Werke – Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
525
Vorwort
Am 11. Januar 2008 ist Walter Haug gestorben. Weniger als zwei Monate vorher hatte er seinen 80. Geburtstag mit einem Kolloquium gefeiert, damals schon gezeichnet von seiner schweren Krankheit und doch so präsent, so freundlich-lebendiges Interesse ausstrahlend wie immer. Als Thema für sein Geburtstagskolloquium hatte er sich gewünscht ,Positivierung von Negativität: Felix culpa oder die Frucht des Scheiterns‘. Unter das erste dieser drei Stichwörter hat er auch den vorliegenden vierten und letzten Band seiner Kleinen Schriften gestellt. Die hier abgedruckten Arbeiten stammen – mit Ausnahme einiger der Reden und Nachrufe – aus den Jahren seit 2002. Sie zeigen, daß Walter Haug sich die Intensität seines wissenschaftlichen Fragens und die Lust am Zuspitzen der Probleme bis ins hohe Alter bewahrt hat. Seine Kunst der Darstellung, oft bereichert durch farbige Beispiele aus vielen Literaturen, ist auch in diesem Band immer wieder zu bewundern. Aber noch konzentrierter als in früheren Arbeiten befragt Walter Haug hier die alten Texte nach Grundproblemen menschlicher Existenz. In seinem eigenen Beitrag zum Geburtstagskolloquium – ›Die Geburt des Romans aus dem Scheitern am Absoluten‹ – versucht er, die Hauptwerke des höfischen Romans zu verstehen als Auseinandersetzung mit der unlösbaren Problematik, daß Liebe kein Maß kennt, ein Leben unter dem Anspruch absolut gesetzter Liebe aber nicht gelingen kann. Auch die Liebe zu Gott kann vom Menschen her nicht zum Ziel kommen, bleibt auf die nicht verfügbare Gnade Gottes angewiesen. Literatur kann diese Problematik nicht lösen, aber sie kann sie gestalten und damit der Reflexion zugänglich machen. Ähnliche Denkansätze finden sich allenthalben in den Aufsätzen dieses Bandes, und von ihnen her sind Walter Haugs Hauptarbeitsgebiete, höfischer Roman und Mystik, hier noch näher aneinandergerückt als in seinen früheren Bänden. Bei seinem Fragen greift Walter Haug einige Texte, Bilder, Denkmodelle und Problemformulierungen, die für ihn Schlüsselcharakter haben, wiederholt auf. Er betrachtet sie aber in verschiedenen Zusammenhängen, wie sie ihm durch aktuelle Forschungsdiskussionen und oft auch durch Tagungsthemen nahegelegt wurden, immer wieder von anderen Seiten und wagt dabei auch neue Deutungen, die mit seinen eigenen früheren Deutungen manchmal nicht ohne weiteres kompatibel sind. Wie ihm geschichtliche Zusammenhänge vor allem als Aufbrechen und Umgestalten von Traditionen bedeutsam schienen, so verstand er auch sein eigenes Forschen als immer neues Ansetzen im Bewußtsein der Überholbarkeit aller Aussagen. So mögen denn die in diesem Band versammelten Arbeiten über die konkreten Einsichten und Anregungen hinaus, die sie vermitteln, weiterwirken als Vermächtnis von Walter Haugs Forscherpersönlichkeit, die hinter aller Brillanz doch immer auf der Suche blieb. Burghart Wachinger
Vorwort des Herausgebers
Noch auf dem Sterbebett gab Walter Haug die letzten Anweisungen für den vierten Band seiner Kleinen Schriften, und die ungetrübte Klarheit, mit der er dies tat, bestätigte noch einmal eindrucksvoll, was er schon früher oftmals bekannt hatte: daß seine wissenschaftliche Tätigkeit aufs innigste zu seinem Leben gehörte, daß bei ihm Leben und Wissenschaft im Grunde eins waren. Das spiegelt sein vierter und letzter Band in mehrfacher Hinsicht wider. So ist er ein offenkundiger Beleg dafür, wie sehr ihn die wissenschaftliche Arbeit bis zuletzt bewegt hat; die Gliederung des Bandes sowie die Auswahl und Anordnung der Aufsätze hat er noch selbst vorgenommen. In ihnen interpretiert Walter Haug Literatur und philosophisch-mystisches Schrifttum vornehmlich als Ausdrucks-, ja Bewältigungsformen der Grundbedingungen und Grundwidersprüchlichkeiten des menschlichen Lebens: der Mensch in seinem Verhältnis zum geliebten Du, zu Gott, zum Tod. Die großen Linien von Walter Haugs Lebenswerk werden hier weiter- und zusammengeführt. Darüber hinaus bietet der Band auch Ausblicke auf Neues, dem Walter Haug sich in künftiger Zeit ausführlicher widmen wollte. So hatte er vor, ausgehend vom ›Tristan‹ einen neuen literaturtheoretischen Ansatz zu entwickeln, der auf einer Poetik der Wiederholung basieren sollte; die ersten Überlegungen dazu finden sich in seiner Studie ›Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chre´tien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg‹ (II.6). Walter Haug spielte auch mit dem Gedanken, in einem größeren philosophiegeschichtlichen Werk Meister Eckhart und Nicolaus Cusanus einander gegenüberzustellen und von ihnen her die Schwelle zur neuzeitlichen Philosophie zu bestimmen; welche Richtung dieses Vorhaben möglicherweise genommen hätte, läßt sich aus den Aufsätzen ›Von der perfectio zur Perfektibilität‹ (I.4), ›Das dunkle Licht‹ (III.3) und insbesondere ›Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus‹ (III.9) erahnen; dem zuletzt genannten Aufsatz hätte im vorliegenden Band zudem die Studie ›Cusanus contra Eckhart‹ folgen sollen, die Walter Haug auf der Jahrestagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft 2008 vorstellen wollte, die er jedoch nicht mehr beginnen konnte. Der I. Abschnitt, ›Übergreifendes‹, hätte abgeschlossen werden sollen mit der Studie ›Die ominöse (?) Rückkehr der Ideengeschichte‹, die als Festvortrag anläßlich der Verleihung des ›Heidelberger Förderpreises für klassisch-philologische Theoriebildung‹ am 7. Februar 2008 vorgesehen war. Da sie als kritische Stellungnahme zu aktuellen, ideengeschichtlichen Tendenzen innerhalb der Wissenschaft Walter Haug sehr am Herzen lag, seien im folgenden wenigstens seine ersten, skizzenhaften Überlegungen dazu im Wortlaut wiedergegeben; zum besseren Verständnis füge ich Verweise auf entsprechende Aufsätze des vorliegenden Bandes ein: Ideen im Wandel: Konjunktur, Kritik, Verschwinden. Die Verwandlung wird gesehen, aber die Wiederholung öffnet Abgründe. Der Blick auf die Identität im Wandel genügt nicht. Wichtig
Vorwort des Herausgebers
IX
ist, was durch das scheinbar Identische ausgespart wird [vgl. II.6]. Hier Einsetzen der philol. Genauigkeit. Beispiel Suger: leuchtende Dinge gegenüber dem Licht hinter jedem Gegenstand bei Eriugena [vgl. III.2, III.3]. Curtius gegen Geistesgeschichte. Sein Reinfall auf die Archetypen. Er braucht doch eine Instanz, die die Identität garantiert. Tiefenpsychologische Begründung der Identität, gerade dies ist verhängnisvoll. Hat man ihm früh angekreidet. Man kann Ideengeschichte schreiben, aber nur indem man zeigt, daß es sie nicht gibt, daß sie nur Konstruktion sein kann, die sich schon beim zweiten Schritt in Frage stellen muß. Man kann nur konstruieren, um zugleich das Konstrukt zu entlarven [vgl. I.6]. Traditionsstiftung ist immer Ideologie. Ideengeschichte sollte immer zugleich Ideologiekritik sein. Begriffsgeschichte? Historische Semantik. Gibt es nur das, wofür es einen Begriff gibt? [vgl. I.3]
Einige Aufsätze (I.4, II.7, III.3, III.5), darunter gerade seine letzten, konnte Walter Haug nicht mehr vollständig mit Anmerkungen versehen; bei ihnen habe ich wenigstens die bibliographischen Angaben zu den verwendeten Texten als Fußnoten hinzugefügt. Die Einheit des Menschen und des Wissenschaftlers Walter Haug wird schließlich im letzten Abschnitt des Bandes, den ›Reden und Nachrufen‹, offenkundig. Er beginnt mit Einblicken in Walter Haugs Zeit beim Theater (V.1) und endet mit einem Rückblick auf seinen Werdegang (V.6), der die Einheit und gegenseitige Durchdringung von Leben und Wissenschaft beschreibt und reflektiert. Mindestens den Nachruf auf Kurt Ruh (V.3) wollte Walter Haug noch um persönliche Erinnerungen erweitern, womit er jedoch nurmehr beginnen konnte; die wenigen Zusätze, die er bereits eingearbeitet hatte, habe ich stehen gelassen. Wie Walter Haugs Leben von der Wissenschaft geprägt war, ist seine Wissenschaft von Leben durchdrungen und lebendig vermittelt. Er selbst verstand sein Leben und sein Schaffen als untrennbar miteinander verbunden, und so stellt sein letzter Band weniger den Abschluß seines wissenschaftlichen Lebenswerkes dar als vielmehr einen Ort, an dem und von dem aus Walter Haug weiterlebt und weiterwirkt. Ulrich Barton
Dank
Aufs herzlichste gedankt sei Annette Gerok-Reiter, Derk Ohlenroth und Burghart Wachinger für vielfältigen Rat und unschätzbar wertvolle Hilfe, nicht nur beim Korrekturlesen, sowie dem Verlag, der es in freundlichem Entgegenkommen und mit vortrefflicher Arbeit möglich gemacht hat, daß dieser Band noch in Walter Haugs Todesjahr erscheinen konnte.
I. Übergreifendes
1. Wie modern ist das Mittelalter?
Meine Titelfrage bezieht sich auf den Sammelband ›Die Modernität des Mittelalters‹, den Joachim Heinzle 1994 herausgegeben hat.1 Er spricht in der Einleitung von der erstaunlichen „Konjunktur“, die das Mittelalter gegenwärtig habe. Und sie hat seitdem offensichtlich nicht nachgelassen: In Worms wurde eben ein Nibelungenmuseum eröffnet, in Magdeburg feiert man die Ottonen mit einer großen Ausstellung, das Kino bietet ›The Knight’s Tale‹; es gibt weiterhin eine Fülle mehr oder weniger seriöser Populärliteratur zu mittelalterlichen Themen, und es ist nach wie vor eine Flut von Mittelalterromanen auf dem Markt von den unverwüstlichen ›Nebeln von Avalon‹ bis zur ›Päpstin Johanna‹. Fragt man nach dem Grund dieses eigentümlichen öffentlichen Interesses, so stößt man auf eine schwer bestimmbare Mischung aus dem Reiz einer gewissermaßen als exotisch empfundenen fernen Epoche und einer mehr oder weniger ernsthaften geschichtsorientierten Bildungsbeflissenheit. Oder, wenn man es zugespitzt sagen will: Dort das Mittelalter als Disneyland und hier als Objekt eines noch nachklingenden bürgerlichen Geschichtsbewußtseins. Das ist natürlich mit der ,Modernität‘ des Mittelalters nicht gemeint, und deshalb ist meine Titelfrage abwegig. Das Mittelalter kann nicht modern sein. Die Frage muß vielmehr lauten: Inwieweit ist es möglich, das Mittelalter einem modernen Menschen unter Problemstellungen nahezubringen, die für ihn von Belang sind? Und doch deutet die Mittelalter-Konjunktur in ihren beiden Rezeptionsmöglichkeiten: Disneyland-Maskerade oder bildungsbeflissene Anbindung, gewissermaßen im Zerrspiegel, eine Verständnisalternative an, die auch unser wissenschaftliches Verhältnis zum Mittelalter prägt. Es geht darum, ob es eine uns wesensmäßig fremd gewordene Welt darstellt, die, wenn überhaupt, nur in ihrer Andersartigkeit zureichend erfaßt werden kann, oder ob unsere Kultur ihre Wurzeln letztlich im 12./13. Jahrhundert hat, so daß uns diese Zeit im Rückgriff über eine mehr oder weniger kontinuierliche Entwicklung zugänglich zu werden vermag. Das Mittelalter als eine überwundene, uns zutiefst fremd gewordene Epoche teilt Interesse oder Reiz mit dem Tal der Könige, den altchinesischen Grabfunden oder den mittelamerikanischen Pyramiden. Und so gesehen geht es uns bestenfalls im Horizont einer universalen Kulturgeschichte etwas an. Hingegen müßte das Mittelalter in der Perspektive unserer eigenen Geschichte etwas zu unserem Selbstverständnis beitragen. Man kann sagen: Wir wären nicht das, was wir sind, wenn nicht entscheidende Weichen für die spezifische historische Entwicklung des Abendlandes im hohen Mittelalter gestellt worden wären. In Stichworten: Aristotelesrezeption, neue subjektive Frömmigkeitsformen, Erneuerung des römischen Rechts, 1
Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a. M., Leipzig 1994.
4
I. Übergreifendes
Rezeption der griechisch-arabischen Medizin, beginnende Naturbeobachtung, Entwicklung einer volkssprachlichen Literatur usw.2 Das Mittelalter somit als eine schlechthin fremde Welt oder das Mittelalter als wesentlicher Teil unserer eigenen Geschichte: Was ist richtig? Wissenschaftstheoretisch stehen hinter dieser Alternative zwei konträre Modelle des Geschichtsverständnisses: Das Kontinuitätsmodell und das Alteritätsmodell – ich gebrauche diesen nicht sehr schönen, von Hans Robert Jauß propagierten Begriff ,Alterität‘ für das Andere als das Unzugänglich-Fremde3 zögerlich, d. h. nur, weil er trotz seines Jargongeruchs doch recht griffig ist. Die Frage lautet also: Läßt sich die Vergangenheit über Kontinuitäten aufschließen, die zu uns hinführen und über die wir uns erst eigentlich in unserer historischen Position und Bedingtheit verstehen? Oder ist die Vergangenheit das grundsätzlich Andere, zu dem wir keinen Zugang mehr haben und das höchstens im Sprung über die Negation dessen, was wir sind, erreichbar sein könnte? Beide Modelle führen letztlich in dieselbe Sackgasse. Das Kontinuitätsmodell zieht die Vergangenheit in die Perspektive unseres Denkens herein, es vereinnahmt sie unter den heutigen Kategorien, mit denen wir in sie zurückgreifen. Das Alteritätsmodell blockiert, radikal genommen, ein Verständnis der Vergangenheit. Will man sich doch darauf einlassen, so bestimmt sich das Vergangene durch die Negation der für uns gültigen Kategorien, man bleibt ihnen folglich auch so verhaftet. Gegenüber dem Mittelalter zeigt sich das Dilemma besonders eklatant. Es kann als Paradebeispiel dienen für die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen den beiden Modellen. Der Streit um die Alterität des Mittelalters oder einen kontinuierlichen historischen Zusammenhang mit ihm hat sich an der kulturhistorischen Bedeutung der italienischen Renaissance entzündet. Die Frage war die, ob es bei den Veränderungen, die sich im 14./15. Jahrhundert in Italien auf politisch-ökonomischem wie auf wissenschaftlich-künstlerischem Gebiet vollzogen haben, um einen fundamentalen kulturellen Umbruch handelt, der die Neuzeit heraufgeführt und das Mittelalter als eine obsolete Epoche zurückgelassen hat, oder ob die italienische Renaissance nur einen Schub in einem Entwicklungsprozeß darstellt, der sehr viel weiter zurückreicht. Konkret: Ist das, was nach gängiger Meinung die Neuzeit kennzeichnet: die Autonomie der Vernunft, die Freiheit des Denkens, die Ausdifferenzierung der Wissenschaften und der Künste, die Idee der schöpferischen Individualität, die Möglichkeit subjektiver Weltentwürfe usw. – ist all dies gegen die mittelalterliche Welt durchgesetzt worden oder gründet es letztlich in ihr? Die These vom radikalen Umbruch in der Renaissance verdanken wir insbesondere der Aufklärung, die sich damit ihre eigene Gründungslegende geschaffen hat. Sie lautet, auf eine Sentenz gebracht: Das Licht der Vernunft, das im 18. Jahrhundert voll erstrahlt, ist erstmals in der Renaissance durchgebrochen.4 Und aufgrund von Jacob 2
Siehe dazu programmatisch Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts. 9. Blaubeurer Symposion vom 9. bis 11. Oktober 1992, hg. v. Georg Wieland, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. 3 Hans Robert Jauss, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977. 4 Siehe zu dieser Legende meine Studien „Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn
1. Wie modern ist das Mittelalter?
5
Burckhardts wirkungsmächtiger Darstellung5 hat sich diese Vorstellung so sehr in unseren Köpfen festgesetzt, daß das Kontrastbild vom finster-klerikalen Mittelalter und der licht- und freiheitbringenden Renaissance nicht nur im allgemeinen Bewußtsein unausrottbar scheint, sondern es prägt auch nach wie vor unsere Fachgrenzen, die Studienordnungen und den Bildungskanon. Und all dies obschon man weiß, daß sich das wissenschaftlich längst erledigt hat. Die innige Verflechtung zwischen Mittelalter und Renaissance gerade auch in der Bewältigung des Neuen ist auf allen Gebieten des Lebens und Denkens nachzuweisen. Es gibt hier keine harte Epochenzäsur noch wäre gar ein Datum anzugeben für den Beginn der Neuzeit: der Fall Konstantinopels, die Entdeckung Amerikas, die Wende zum heliozentrischen Weltbild, die Erfindung der Räderuhr im 14. oder die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert – das kommt heute keinem Historiker mehr in den Sinn. Auf der andern Seite ist aber auch die Idee einer kontinuierlichen Entwicklung in bestimmter Richtung, etwa im Sinne einer zunehmend vernünftigeren, zivilisierteren Gesellschaft, höchst fragwürdig geworden; die großen kulturgeschichtlichen Modelle von Hegel, Marx, Max Weber oder Norbert Elias haben angesichts der Barbareien des vergangenen Jahrhunderts wie der Gegenwart ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Was bedeutet dieses Patt zwischen Alterität und Kontinuität für unser heutiges Geschichtsverständnis? Ein striktes Entweder-oder steht nicht mehr zur Debatte, es kann nurmehr um Akzentuierungen in einem Sowohl-als-auch gehen, und dies im Sinne eines Prozesses von Übergängen und Wandlungen, der über die Jahrhunderte läuft, kaum einmal mit markanten Brüchen, öfter in einem Nebeneinander von Altem und Neuem: Selbst eine so revolutionäre Erfindung wie der Buchdruck – um nur eines der genannten Zäsurdaten aufzugreifen – löst die Manuskripttradition nicht von heute auf morgen ab, sondern beides lebt längere Zeit nebeneinander weiter, ja es wird sogar Gedrucktes wieder abgeschrieben und handschriftlich verbreitet.6 Es gibt allenthalben fließende Übergänge und Überschneidungen, so daß also die Entwicklung in den einzelnen kulturellen Bereichen als ein Zusammenspiel von Diskontinuitäten und Kontinuitäten zu verstehen und zu beschreiben ist. Man erhält so eine Vielzahl von Längsschnitten: Geschichten der politischen Theorie, der Kriegskunst, der Anatomie, des Romans, usw. Die einzelnen Entwicklungslinien laufen in der Bewegung ihrer Amplituden teils parallel, teils sind sie gegeneinander verschoben.7 Solche Teilgeschichten haben durchaus ihre Berechtigung, aber sie weichen dem Grundproblem aus, denn sie besagen nichts über den Stellenwert der einzelnen Bereiche der fiktionalen Literatur“, in: Haug, Brechungen, S. 233–248, hier S. 233f., und „Kulturtheorie und Literaturgeschichte“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 616–627, mit weiterführender Literatur. 5 Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860 = Gesammelte Werke III: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Darmstadt 1955. 6 Siehe Frieder Schanze, „Der Buchdruck eine Medienrevolution?“, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 286–311. 7 Vgl. folgenden Versuch, solche Längsschnitte nebeneinanderzustellen: Mittelalter und frühe Neuzeit [Anm. 6].
6
I. Übergreifendes
in der Kultur eines bestimmten Zeitraums. Wollen wir uns davon ein Bild machen, so bedarf es eines synchronen Schnitts durch die verschiedenen Entwicklungslinien zu dem betreffenden Zeitpunkt. Dabei genügt freilich nicht das Nebeneinander sämtlicher Daten, sondern es stellt sich die Frage nach ihrer Gewichtung im kulturellen Zusammenhang: Welche Phänomene sind prägend für einen Zeitraum? Welche bleiben eher marginal? Kurz: ein Bild ergibt sich erst, wenn wir die Daten strukturieren können. Das heißt, es geht um Interpretation. Und damit präsentiert sich in neuer Sicht wieder die alte Alternative: Haben wir ein derart entworfenes Zeitbild aus dem Prozeß zu verstehen, der zu ihm hingeführt hat – also Kontinuität –, oder ist es angemessen nur von seiner ihm eigenen, unableitbaren Struktur her zu begreifen, also durch das, wodurch es sich vom vorausgehenden absetzt – somit Alterität? Man kann sagen, es sei wiederum beides zu berücksichtigen, doch wird man nicht verkennen, daß Kontinuitäten immer nur einzelne Linien betreffen, während das Gesamtbild in seiner Besonderheit, seiner Individualität, sich nur unter dem Aspekt der Diskontinuität darbietet. Das bedeutet einen hermeneutischen Vorrang des Alteritätsaspekts. Und dem entspricht denn auch unsere unmittelbare Geschichtserfahrung: Jede Generation setzt sich durch ihr spezifisches Bild von sich selbst und ihren Weltentwurf von der vorausgehenden ab, auch wenn im einzelnen vieles übernommen wird: die Achtundsechzigerrevolutionäre benützten natürlich die Kühlschränke ihrer Väter. Man gewinnt seine Identität in der Distanzierung vom Selbstverständnis der Gestrigen, und das kann bis zur programmatischen Verfälschung des Erbes gehen, von dem man sich lösen will. Harold Bloom hat eine ganze Literaturtheorie darauf aufgebaut.8 Gerade auch die literarische Rezeption bewegt sich zwischen schöpferischer Umstrukturierung und Neudeutung einerseits und gewolltem oder ungewolltem Mißverständnis andrerseits.9 Es zeigt sich also, wenn wir auf die Entwicklungslinien im einzelnen blicken, ein Zusammenspiel von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, und über solche Linien scheint uns die Vergangenheit zugänglich zu sein. Will man jedoch geschichtliche Abschnitte in ihrer Eigenart verstehen, so tritt der Wechsel sich ablösender Kulturkonzepte mit je spezifischem Selbstverständnis in den Vordergrund; die Umstrukturierungen erscheinen als Umbrüche, als Paradigmenwechsel nach den von Thomas Kuhn herausgearbeiteten, nicht nur für wissenschaftliche Revolutionen geltenden Regeln.10 In seiner Besonderheit steht jedes Zeitalter unmittelbar zu Gott, und das heißt, daß nur er es letztlich verstehen kann, während wir auf das Andersartige, das uns fremd Gewordene stoßen. Die historischen Zäsuren melden sich zurück. Und damit das Problem des Zugangs. Gibt es eine Hermeneutik der Diskontinuität? Unser Verständnis beruht auf interpretierenden Konstruktionen anhand unserer eigenen, heutigen Kategorien. Wodurch überzeugen die Zeitbilder, die wir auf diese Weise entwerfen? Doch allein durch 8
Harold Bloom, The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, New York, Oxford Univ. Press 1973, und A Map of Misreading, New York, Oxford Univ. Press 1975. 9 Zur produktiven Rezeption siehe Hans Robert Jauss, „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“, in: Ders., Literaturgeschichte als Provokation (edition suhrkamp 418), Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207, hier S. 189ff.; zur nivellierenden Rezeption siehe meine Studie „Klassikerkataloge und Kanonisierungseffekte. Am Beispiel des mittelalterlich-hochhöfischen Literaturkanons“, in: Haug, Brechungen, S. 45–56. 10 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (stw 25), Frankfurt a. M. 1967.
1. Wie modern ist das Mittelalter?
7
die Erklärungskraft, mit der die herausgearbeiteten Strukturen das Zeitbild darbieten. Aber fügen sich die Daten eines Zeitraums unbedingt zu einem strukturierten Bild? Gibt es nicht Heterogenes, das sich entzieht, steht nicht Ungleichzeitiges nebeneinander? Stephen Greenblatt hat dies treffend demonstriert, aber nicht ohne doch an ein im Hintergrund verborgenes Muster zu denken, denn ein Konglomerat von kulturellen Daten muß doch irgendwie lesbar sein, und das heißt, einen Zusammenhang besitzen, wenn es ein Verständnis ermöglichen soll.11 Man steht auf einem schwankenden Boden, und um ihn zu stabilisieren, bleibt einem letztlich kaum etwas anderes übrig, als doch wieder in den problematischen hermeneutischen Zirkel einzutreten. – Ich möchte nicht Kulturhistoriker sein. Zum Glück bin ich Literaturwissenschaftler, und das verschafft mir einen uneinholbaren Vorteil. Dies dadurch, daß man es in der Literaturgeschichte – jedenfalls zunächst – nicht mit kulturellen Daten heterogener Art zu tun hat, sondern mit Texten, die ein Bild ihrer Welt entwerfen und sich damit in ihr zu verstehen suchen. Und das impliziert die Möglichkeit, daß sie sich selbst reflektieren können. Wenn sie dabei konsequent genug sind, müssen sie von sich aus auf unser prekäres hermeneutisches Problem stoßen, und so dürfte es denn für unser Verständnis dieser Texte und der Zeit, in der sie stehen, von grundlegendem Interesse sein zu sehen, wie sie mit diesem Problem umgehen. Ein solcher Zugriff über das literarische Selbstverständnis einer Zeit würde bedeuten, daß wir unsere Kategorien zu historisieren vermöchten, und damit ergäbe sich möglicherweise die Chance, die Unzugänglichkeit der Alterität zu unterlaufen. Fragen wir also, wie man sich im Mittelalter prinzipiell zum Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Tradition und Neuerung eingestellt hat. Die Antwort mag überraschen: Die Alternative hat keine Rolle gespielt. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, hatte der ›Prediger‹ gesagt; die Welt ist immer noch so, wie sie aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist. Nur einmal ist diese Ordnung durchbrochen worden, durch die Inkarnation, und diese stellt deshalb das wahrhaft Neue, das semper novum dar, was nichts anderes heißt, als daß dadurch eine absolute Erneuerung im Sinne der Erlösung möglich geworden ist. Wer Neues von sich aus will, stellt sich gegen die gültige, göttliche Ordnung, er ist ein Häretiker.12 Nun müssen aber auch einem mittelalterlichen Menschen in mancher Hinsicht faktische Fortschritte in die Augen gefallen sein. Aber man versteht sie gewissermaßen als ein Ausspielen vorgegebener Möglichkeiten. Charakteristisch dafür ist das Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen, das im 12. Jahrhundert von Bernhard von Chartres geprägt worden ist.13 Es soll das Verhältnis der Zeitgenossen zur Tradition, konkret: das gegenwärtige Wissen zu der auf die Antike zurückgehenden Überlieferung, veranschaulichen. Die entscheidenden Erkenntnisse ver11
Siehe meine Studie „Warum darf Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein?“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 628–649, hier S. 640ff. 12 Vgl. Dieter Kartschoke, „Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. 1,10“, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, hg. v. Christoph Gerhart, Nigel F. Palmer, Burghart Wachinger, Tübingen 1985, S. 175– 188. 13 Siehe dazu meine Studie „Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen“, in: Haug, Strukturen, S. 86–109.
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I. Übergreifendes
dankt man den Gelehrten der Vergangenheit, den Riesen, aber wir, die Zwerge, stehen auf ihren Schultern, so daß wir trotz unserer geringen Größe, d. h. trotz geringem zusätzlichem Wissen, über sie hinaussehen. Die Vergangenheit ist als Tradition gegenwärtig, und Neues versteht sich nur als Funktion dieser Präsenz. Das heißt, wirklich Neues kann im Grunde nicht gesehen werden, es geht nur um eine bessere Einsicht in das, was durch die Tradition vermittelt ist, und das sind die ewigen Wahrheiten der beiden großen Bücher: die Offenbarung Gottes in der Schrift und im ,Buch der Natur‘. Das ist ein Erkenntniskonzept – aber wie gehen die Erzähler damit um, wenn sie ein solches Denken in eine Handlung umsetzen sollen oder wollen? Ihm gerecht zu werden ist nur möglich, wenn man das Geschehen als eine Bewegung konzipiert, die nicht auf eine neue Erfahrung zusteuert und schon gar nicht sich als Entwicklung auf ein offenes Ziel hin darstellt. Narratives Handeln ist unter diesen Bedingungen somit allein als Bewegung in einem Rahmen denkbar, durch den das Ziel immer schon vorweggenommen ist. Konkret: man erzählt Geschichten, indem man einen Stoff einem vorgegebenen Muster unterwirft, das den Sinn trägt. Das scheint nur beispielhaftes Erzählen zuzulassen. Doch: ist diese Folgerung zwingend? Der Paradefall für eine Erzählhandlung im vorgegebenen Rahmen ist der im 12. Jahrhundert von Chre´tien de Troyes entworfene Artusroman.14 Es ist charakteristisch für ihn, daß er mit einem Fest am Hofe des Königs beginnt, das eine ideal-harmonische Gesellschaft ins Bild bringt: Man spielt, übt sich in den Künsten, treibt Sport, man erzählt sich Geschichten. Diese ideale Balance, insbesondere auch zwischen den Geschlechtern, wird durch eine Provokation von außen in Frage gestellt. In Chre´tiens ›Erec‹ wird die Königin grob beleidigt, im ›Lancelot‹ wird sie geraubt, im ›Yvain‹ steht eine unbewältigte avanture an, im ›Perceval‹ macht ein Provokateur dem König die Herrschaft streitig. Ein Ritter der Tafelrunde muß jeweils ausziehen und den Affront kämpferisch aus der Welt schaffen. Als Sieger kehrt er an den Hof zurück. Er hat im Durchgang durch das, was die arthurische Idealität negiert, diese wieder hergestellt. Die Romanhandlung entfaltet sich also nicht auf ein erst zu realisierendes Ziel hin, der Anfang und das Ende sind vielmehr identisch. Das Interesse der Erzählung gilt der Einsicht in das Verhältnis des schon realisierten Ziels zu dem, was dieses in Frage stellt, das Verhältnis des idealen Gesellschaftsentwurfs zu einer Gegenwelt der Willkür, der Gewalt und der Begierde, die immer neu überwunden werden muß, damit jener Entwurf bestehen oder besser: als ein festlicher Augenblick aufscheinen kann. Dieses Muster ist reproduzierbar, tradierbar – und es ist trivial, denn abstrakte Handlungsschemata können, wenn sie Sinn vermitteln sollen, nur dichotomisch funktionieren, sie können nur Sinn gegen Nicht-Sinn, Gutes gegen Böses stellen. Das Andere ist immer das Negative. Damit werden die Geschichten zu Illustrationen der Sinnschemata, die ihnen zugrunde liegen. Bestätigt sich damit der vorhin vermutete Beispielcharakter dieses literarischen Typs? Es ist dagegenzuhalten: Wer sich nur am Schema orientiert, sieht über die Besonderheit des einzelnen Werks hinweg, er übersieht seine poetische Individualität – insofern es sie gibt und das Werk nicht tatsächlich trivial-exemplarisch ist. Individualität aber 14
Siehe zu diesem Typus Haug, Literaturtheorie, S. 91ff., mit weiterführender Literatur.
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heißt, daß das Andere nicht einfach als das Negative erscheint und daß es damit auch nicht über ein Schema zu verrechnen ist. Es ist zu beachten, daß der klassische arthurische Roman zweiteilig angelegt ist. Der erste Teil realisiert das simple Schema, der zweite stellt es in Frage und eröffnet die spezifische Problematik des Werks, die quer zum Schema steht. Ich demonstriere dies an Chre´tiens de Troyes Erstling, dem ›Erec‹15: Am Anfang steht, wie gesagt, die Beleidigung der Königin; sie erfolgt durch einen fremden, vorbeiziehenden Ritter. Erec, der zugegen ist, will sie rächen; er verfolgt den Beleidiger und erreicht ihn in einer Stadt, in der ein Kampf um einen Sperber als Sieges- und Schönheitspreis angesetzt ist. Das heißt, wer im Zweikampf siegt und den Sperber gewinnt, beweist damit, daß seine amie die schönste ist. Der Beleidiger der Königin ist der Titelverteidiger. Erec findet eine Herberge bei einem verarmten Edelmann, der eine wunderschöne Tochter hat: Enide; er reitet mit ihr zum Kampf und besiegt den Provokateur. Dann kehrt er mit ihr an den Artushof zurück, und damit ist die höfische Idealität wieder hergestellt. Am Ende steht das Hochzeitsfest; darauf zieht Erec mit Enide in sein eigenes Land. Soweit der erste Teil. Doch nun geschieht es, daß Erec den erotischen Reizen seiner Frau so sehr verfällt, daß er nur noch mit ihr im Bett liegt und das gesellschaftliche Leben an seinem Hof erlahmt. Als die beiden sich dessen bewußt werden, zwingt Erec seine Frau, mit ihm erneut in die Gegenwelt aufzubrechen; er stellt sich Räubern und Schurken, kämpft bis zur völligen Selbstpreisgabe, und in äußerster Not ist es Enide, die ihm das Leben rettet. Rehabilitiert kehrt er schließlich an den Artushof zurück. Das Schema ist durch dieses Happy End erfüllt, aber ist das Problem der Krise, das Problem des absoluten erotischen Anspruchs, damit wirklich gelöst? Daß es in der Schwebe bleibt, ja in der Schwebe bleiben soll, demonstriert eine Episode, die unmittelbar vor dem Schluß des Aventürenweges eingeschoben ist: die Episode der Joie de la cort.16 Erec trifft auf einen Ritter, Mabonagrain, der mit seiner amie in einem paradiesischen Baumgarten lebt. Er hat ihr versprochen, solange darin abgeschlossen nur für sie und ihre Liebe da zu sein, bis ein Ritter kommt, der ihn zu besiegen vermag. Die Köpfe der bisherigen Herausforderer stecken grausig auf den Pfählen des Wundergartens. Die Gesellschaft in der nahen Burg von Brandigan hat ihre joie verloren und ist in Trauer versunken. Erec wagt die avanture; er siegt in einem harten Zweikampf und befreit das Paar aus seiner Isolation. Die Freude kehrt nach Brandigan zurück. Aber zugleich zerstört Erec damit ein Paradies, er vernichtet die vollkommen sich selbst genügende Harmonie zweier Liebender. Der Dichter löst diesen Widerspruch nicht auf; es ist der Widerspruch des Werkes selbst, der Widerspruch, den das Schema der doppelten Aventürenfahrt nicht zu bewältigen vermag: das Andere ist nicht einfach nur das Schematisch-Negative, es ist auch das schematisch nicht Verrechenbare: hier der Absolutheitsanspruch der Liebe. Die Sonderepisode vor dem Schluß soll dies gegen den schematischen Gang der Handlung zum Bewußtsein bringen. Man stößt also nur dann auf das, worum es in dem Roman letztlich geht, wenn man auf das achtet, was vom strukturellen Konzept nicht gedeckt wird, ja prinzipiell quer zu ihm steht. 15
Ich zitiere nach: Chre´tien de Troyes, Erec und Enide, übers. u. eingel. v. Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979 [Text nach Wendelin Foerster]. 16 vv. 5367ff. Vgl. zum Folgenden meine detaillierte Interpretation „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 205–222.
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Ein zweites Beispiel: Die Mordjagd im ›Nibelungenlied‹.17 Am Burgundenhof hat man beschlossen, Sigfrid zu töten. Das Erklärungsschema, das den Plan trägt, ist fragwürdig, aber klar: Es ist das Schema vom Werber, der durch seine verdeckte Hilfe für den König bei dessen Brautfahrt zu einer potentiellen Gefahr wird. Seine Überlegenheit, die immer wieder neu manifest wird, hier insbesondere dadurch, daß Sigfrid die Königin, die sich Gunther im Ehebett verweigert, nochmals niederringt – diese massiv demonstrierte Überlegenheit demütigt den Herrscher, macht ihn zweitrangig. Der übermächtige Helfer muß beseitigt werden. Es ist Hagen, der im ›Nibelungenlied‹ die Ermordung betreibt. Er arrangiert eine Jagd und vergißt bei der Organisation der Verpflegung absichtlich die Getränke, um Sigfrid zu einer Quelle zu locken, wo er ihn, als er sich zum Wasser niederbeugt, von hinten mit dem Speer durchbohren kann. Zuvor jedoch hat der Dichter eine turbulente Szene eingeschoben: Sigfrid fängt mit bloßen Händen einen Bären, bindet ihn an den Sattel, bringt ihn zum Eßplatz und läßt ihn da los, z’einer kurzewıˆle (v. 950,4), zum Spaß: die Hunde werden wild, der Bär gerät in die Küche und bringt alles, Kochtöpfe und Speisen, durcheinander, er flieht, die Hunde hinterdrein, aber es ist Sigfrid, der ihn schließlich einholt und erschlägt. Ein übermütiger Spaß also, inszeniert von demjenigen, dessen Ermordung unmittelbar bevorsteht. Die Szene hat vom Handlungszusammenhang her gesehen keine Funktion. Aber sie bringt verdichtet noch einmal all das zur Anschauung, was in der Begründung der Mordtat nicht aufgeht. Da ist noch einmal die Demonstration der physischen Überlegenheit des Helden; doch sie erscheint völlig harmlos, ja, sie ist von einer geradezu kindischen Naivität: es ist Mutwille aus überschäumender Kraft als Selbstzweck. Dazu die Ahnungslosigkeit gegenüber dem mörderischen Ernst, der tödlich im Hintergrund droht. Die ganze Problematik des Ineinanders von Schuld und Unschuld ist in dieser Burleske vor dem Ende zusammengedrängt. Das Verwirrende, Ungelöste, das, was in der Mordbegründung falsch und zugleich richtig ist, wird offenbar. Die Szene fängt das ein, was zum Schema von der Ermordung des übermächtigen Helfers quer steht. Die Tat wird vor dem Hintergrund dieses übermütig-wilden Intermezzos begreiflicher und unbegreiflicher, schändlicher und zwingender. Der Widerspruch, von dem die Tragödie sich nährt, wird schlagartig offenbar. Noch ein drittes Beispiel: Parzival und die Vögel.18 Nach dem Kampftod ihres Mannes hat sich Herzeloyde mit ihrem Kind, Parzival, in eine Wildnis zurückgezogen. Es soll da fern vom Hofleben und seiner todbringenden Kriegergesellschaft aufwachsen. Doch Parzival trägt ritterliche Anlagen in sich, die sich nicht unterdrücken lassen. Sie zeigen sich als erstes darin, daß er sich Pfeil und Bogen schnitzt und damit Vögel schießt. Aber wenn er sie dann getötet hat, weint er darüber und rauft sich das Haar. Ja, er bricht überhaupt in Tränen aus, wenn er die Vögel singen hört. Es gibt keine Erklärung für dieses merkwürdige Verhalten, und es hat auch keine Folgen, außer daß die Mutter auf 17
Strr. 946ff. Ich zitiere nach: Das Nibelungenlied, nach der Ausg. v. Karl Bartsch hg. v. Helmut de Boor, 20., rev. Aufl., Wiesbaden 1972. 18 vv. 117,29ff. Ich zitiere nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994.
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den unsinnigen Gedanken kommt, alle Vögel umbringen zu wollen, damit das Kind nicht leidet. Unsere Kommentare wissen mit dieser Episode nichts anzufangen. Ich meine, daß hier wiederum poetisch etwas ins Bild gebracht ist, was als Unauflösbares aus dem Handlungsschema ausschert, dem der Roman folgt: Parzival verläßt seine Mutter, um Ritter zu werden. Seine erste Tat ist dann ein Mord. Als er am Artushof eintrifft, stößt er auf einen Provokateur, und er tötet ihn mit seinem Jagdspieß, um sich dessen prächtige rote Rüstung anzueignen. Die Tat prägt untergründig seinen weiteren Lebensweg, denn er hat mit dem Roten Ritter unwissentlich einen Verwandten erschlagen: das Thema des Verwandtenmordes, die Kainstat, wird sich durch die ganze Handlung durchziehen. Kämpfen und dabei in die Gefahr geraten, zu töten, Verwandte zu töten, das ist dann auch Parzivals Reaktion darauf, daß ihn die Gralsbotin verflucht, weil er es auf der Gralsburg versäumt hat, die Erlösungsfrage zu stellen. Und das Ende ist Resignation, ja Verzweiflung angesichts der Vergeblichkeit seines Bemühens, das, was er verfehlt hat, wiedergutzumachen. Die Vogelepisode im Auftakt läßt das Grundthema in seinem inneren Widerspruch subtil anklingen: Kämpfen, Töten auf dem Weg zu einem ritterlichen Ziel und die Verzweiflung, die daraus erwächst. Eine ursprüngliche schuldfreie Harmonie ist damit gleich am Anfang, und dies vor aller Ritterschaft, schon in der Wildnis, zerstört. Töten und Klagen, das wird dann zu einem Tenor des Werkes werden, der in unterschiedlichen Formen aufklingt. Besonders eindrucksvoll in der sich zu Tode trauernden Sigune, die mit ihrem erschlagenen Geliebten mehrfach an Parzivals Weg auftaucht: hier ist der Urzwiespalt gewissermaßen zu einem Emblem erstarrt. Die Handlung gibt ihrer Schematik nach einen Weg über Schuld, Buße und Gnade vor. Aber er ist letztlich nicht in ein Schema zu bringen, denn die Gnade ist nicht machbar. Aus der Ohnmacht von Schmerz und Tod kommt man nur durch einen göttlichen Akt heraus, der jedoch nur unverfügbar sein kann. So präludiert denn die Vogelepisode das, woran das narrative Muster scheitern wird. Es ließen sich zahlreiche weitere Szenen aus mittelalterlichen Romanen anführen, die in analoger Weise wie die vorstehenden Beispiele zur jeweiligen Schematik der Handlung querstehen, sie aufbrechen und den Blick auf eine Problematik freigeben, die schematisch nicht einzufangen ist. Etwa: nochmals im Gralsroman besonders eklatant die Blutstropfenepisode, in der der Held visionär die Zusammenhänge erkennt zwischen Liebe, Blut und dem Leiden auf der Gralsburg.19 Oder im ›Yvain‹/›Iwein‹ die Begegnung des Helden mit einem wüsten Hirten, der eine Herde wilder Tiere in seiner Gewalt hat – dies als Präludium des animalischen Aspekts, der sich über den Abstieg des Helden ins Tierhafte und den zahmen Löwen weit in die Handlung hineinzieht.20 Oder im ›Wigalois‹ die merkwürdige Lichterprozession in der Teufelsburg des Roaz.21 Oder Sigune im 19
vv. 281,10ff. Siehe Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Hermaea NF 94), Tübingen 2001. 20 Yvain, vv. 278ff.; Iwein, vv. 396ff. Ich zitiere nach: Chrestien de Troyes, Yvain, übers. u. eingel. v. Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), München 1962 [Text nach Wendelin Foerster], bzw. Iwein, hg. Benecke, Lachmann. 21 Wigalois, vv. 7296ff. Ich zitiere nach: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Eine Erzählung, hg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1847. Vgl. meine Studie „Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer ,nachklassischen‘ Ästhetik“, in: Haug, Strukturen, S. 651– 671, hier S. 656.
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›Jüngeren Titurel‹, die sich nackt vor Tschinotulander auszieht, als sie ihn bittet, sich auf die verhängnisvolle Suche nach der Hundeleine zu machen,22 oder die geradezu surrealen Bilderreihen in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin.23 Es sind dies alles Szenen, die nicht funktional in der Position der Handlung aufgehen, in der sie erscheinen, sondern die den Blick öffnen auf untergründige Zusammenhänge, und zwar ohne daß es möglich wäre, diese rational eindeutig zu fassen. Es handelt sich um Sinnverdichtungen in Bildern, die auf das verweisen, was jenseits der Logik der schematischen Konzepte liegt und die damit offenbaren, daß der Zugriff über diese Konzepte unzureichend ist. Strukturen als Sinnangebote und Szenen, die zu ihnen querstehen, sie unterlaufen und problematisieren: Was bedeutet dies im Hinblick auf unsere Frage nach der Möglichkeit eines Zugangs zu dieser Literatur über Kontinuitäten und Diskontinuitäten? Die den mittelalterlichen Romanen unterlegten Handlungsmuster, ob sie nun aus der Tradition stammen oder neu entworfen werden wie im Fall des arthurischen Typus, geben einen Sinn vor, der uns über ihre Kontinuitäten zugänglich wird. Man faßt hier, zumindest über mehr oder weniger lange Zeitabschnitte hin, literaturgeschichtliche Zusammenhänge, handle es sich nun um Rezeption in anlehnender oder kontrastierender Fortbildung. Wir gewinnen einen Zugang zum Andersartigen dieser Literatur über die Kategorien, mit denen die Dichter selbst gearbeitet haben. Aber es zeigt sich, daß man damit die Alterität nicht wirklich unterläuft. Denn letztlich bleibt einem dabei immer nur das Allgemeine von Strukturen und Motivkonstellationen in Händen. Und doch ist die Möglichkeit so verlockend, daß viele Literarhistoriker diese Romane mit den Schemata gleichsetzen, denen sie folgen, und sie entsprechend schematisch und d. h. trivial interpretieren. Sie übersehen, daß diese Werke ihre Besonderheit, ihre Individualität, im Spiel mit dem jeweiligen Schema, ja geradezu gegen das Schema gewinnen, gewinnen müssen. Die Dichter problematisieren im Erzählen die Muster, mit denen sie arbeiten und die sie anbieten. Sie machen deutlich, daß ihre simple dichotome Schematik nicht greift. So fügen sie, wie ich zu zeigen versuchte, immer wieder Szenen ein, die über diese Schematik nicht verrechenbar sind, die vielmehr sozusagen visionär das Zwiespältige, das Abgründige, das nicht Auflösbare der Fragen, um die es geht, zur Anschauung bringen. Dies jedoch verlangt einen hermeneutischen Zugang anderer Art, einen Zugang über eine nicht abzuleitende, vielmehr unmittelbare Einsicht. Es ist dies die direkt-offene Begegnung mit der Alterität, die jedoch nicht mehr der Beliebigkeit anheimgestellt ist, sondern vom Dichter selbst über ausscherende Schlüsselszenen dringlich gemacht wird. Das heißt für uns methodisch, daß wir nur dann eine Chance haben, 22
Str. 1283. Ich zitiere nach: Albrecht [von Scharfenberg], Jüngerer Titurel, Bd. I (Strophe 1–1927), hg. v. Werner Wolf (Deutsche Texte des Mittelalters XLV), Berlin 1955. 23 vv. 14024ff.; 15998f.; 28608ff. Ich zitiere nach: Heinrich von dem Türlin, Diu Croˆne, hg. v. Gottlob Heinrich Friedrich Scholl (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart XXVII), Stuttgart 1852. Vgl. meine Studien „Paradigmatische Poesie“ [Anm. 21], hier S. 657f., und „Das Fantastische in der späteren deutschen Artusliteratur“, in: Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposion der neusprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft Bonn, 25.–29. September 1982, hg. v. Karl Heinz Göller (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 3), Paderborn u. a. 1984, S. 133–149, hier S. 145f.
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diese Literatur in ihrer Eigentümlichkeit und Andersartigkeit zu verstehen, wenn wir das aufsuchen, was sich dem jeweils angebotenen Sinnmuster nicht fügt, ja sich grundsätzlich jeder schematischen Darstellung und Lösung entzieht. Ein solches Einsehen ist nicht zu erzwingen, und auch wenn man sich mit Geduld dafür sensibilisieren kann, so bleibt letztlich doch nur der „Tigersprung“ in das uns Fremde, wie Walter Benjamin dies genannt hat.24 Jüngere Theorien zur ästhetischen Erfahrung haben versucht, dieses unmittelbaraugenblickhafte Einsehen in bildhafte Sinnzusammenhänge mit den Kategorien der Plötzlichkeit25 oder der „Präsenz des Erscheinenden“26 zu fassen. Doch ist daran festzuhalten, daß diese Wende zur Unmittelbarkeit über die Bedingtheit und die Geschichte führt und nicht umgekehrt, was jedoch, wie gesagt, nicht heißt, daß diese Wende sich aus dem Aufweis der historischen Strukturen ergeben müßte, sondern sich unverfügbar quer zu ihnen einstellt – oder auch nicht.
24
Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I,2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 691–704, hier S. 701. 25 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981. 26 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München, Wien 2000.
2. Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozeß Einige grundsätzliche Erwägungen
I Das Thema unserer Tagung hat durch die Regensburger Vorlesung Benedikts XVI. eine überraschende Aktualität gewonnen. Da wird von einem theologisch hochgebildeten Papst der Vereinbarkeit von Vernunft und Glauben das Wort geredet, und dies im Rückgriff auf die frühen Kirchenväter, die einst die Synthese von Christentum und Griechentum in die Wege geleitet haben: der griechische Logos und der Logos des ›Johannesprologs‹ in eins gesehen als Basis für ein von der Religion getragenes vernunftbestimmtes Weltwissen und Weltverhalten.1 Und es verwundert dann nicht, wenn er dabei den Finger auf jene erste angeblich falsche Weichenstellung legt, durch die in der Reformation und in der Aufklärung die Synthese auseinandergebrochen sei.2 Man kann in der Tat einen philosophiegeschichtlichen Fixpunkt benennen, an dem die Wende zur Vernunft als alleinigem Erkenntnisprinzip augenfällig geworden ist. Als Stichdatum pflegt man jenes radikale Umdenken anzugeben, zu dem Descartes sich 1619 im Winterlager zu Neuburg an der Donau gedrängt sah und das dann 1636 seinen Niederschlag im ›Discours de la Me´thode‹ gefunden hat. Die 1. Regel im 2. Abschnitt des ›Discours‹ besagt, daß man keine Sache für wahr halten solle, von der man nicht 1
„Glaube, Vernunft und Universität“ von Papst Benedikt XVI., FAZ vom 13. September 2006, S. 8. Der Papst wendet sich, ein Gespräch zwischen Kaiser Manuel II. Palaiologos aus dem späten 14. Jahrhundert zitierend, gegen eine Bekehrung durch Gewalt. Der entscheidende Satz der Argumentation des Kaisers laute: „Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“ Und er fragt dann: „Ist es nur griechisch zu glauben, daß vernunftwidrig zu handeln dem Wesen Gottes zuwider ist, oder gilt das immer und in sich selbst? Ich denke, daß an dieser Stelle der tiefe Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch ist, und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird. Den ersten Vers der Genesis abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. Dies ist genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt.“ 2 Der Papst spricht von insgesamt drei Enthellenisierungswellen. Die erste war verbunden mit der Reformation und gipfelte in Kants Verankerung des Glaubens in der praktischen Vernunft, die zweite kam mit der liberalen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, für die Harnack steht. In einem letzten Schritt wird dann, was als wissenschaftlich zu gelten hat, auf das reduziert, was mathematisch faßbar und experimentell beweisbar ist. – Was Benedikts XVI. Vorwurf an die Reformation betrifft, so hat der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, ihn in der FAZ vom 10. Oktober 2006, S. 10, souverän zurückgewiesen.
2. Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozeß
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genaue Kenntnis habe, d. h. nichts als Wahrheit akzeptieren dürfte, was nicht klar und deutlich erkannt worden sei, so daß kein Anlaß bestehe, es in Zweifel zu ziehen.3 Und dieser Bedingung genügt, wie er zeigt, allein dieser Denkvorgang selbst, also das cogito, aus dem er dann jedoch nicht nur das eigene Sein begründet, sondern im nächsten Denkschritt auch das Sein Gottes zurückholt, wobei er sich überraschend Anselms von Canterbury ontologischen Gottesbeweis zunutze macht. Die Religion wird also nicht verabschiedet, sondern von der Vernunft her neu entworfen – bezeichnenderweise findet Descartes größten Anklang in Port Royal. Man kann sagen, das sei ein grundlegender Positionswechsel gewesen, der sich dann im 18. Jahrhundert voll entfaltet habe, und insoweit sei, in etwas anders akzentuierter Form, Benedikts XVI. Sicht durchaus zu rechtfertigen. Aber es fragt sich, ob man es dabei tatsächlich mit einem unerwarteten kulturgeschichtlichen Umbruch zu tun hat, ob damals nicht vielmehr ein Rationalisierungsprozeß zu seinem Ziel gekommen ist, der mehr oder weniger kontinuierlich das abendländische Denken und Weltverhalten von seinen Anfängen an bis zur mündigen Autonomie der Vernunft bestimmt hat.4 Es fehlt bekanntlich nicht an Versuchen, diesen Weg zur autonomen Vernunft in seinen Stufen wie Verwerfungen nachzuzeichnen. Den sicherlich wirkungsmächtigsten Entwurf verdankt man Max Weber, der diesen Prozeß „die Entzauberung der Welt“ genannt hat. Sein Ausgangspunkt ist jene frühgeschichtliche Phase, in der der Mensch in einem magischen Verhältnis zur Wirklichkeit stand, sich in göttlich-dämonische Vorgänge eingebunden wußte. „Entzauberung“ ist dann ganz konkret als Ablösung aus diesem magischen Weltverhältnis zu verstehen. Sie erfolgte in Schüben, über die von den Propheten im ›Alten Testament‹ betriebene Abwendung von den älteren orgiastischen Kulten zugunsten einer rationalen Ethik, die dann vom Christentum übernommen und mit Hilfe der griechisch-hellenistischen Philosophie ins mittelalterliche Dogmengebäude übergeführt wurde, das immer noch eine sakrale, sinnerfüllte Ordnung gewährleistete, auch wenn man seit dem 11./12. Jahrhundert begonnen hat, den Glauben philosophisch zu durchdringen. Doch der nächste große Rationalisierungsschub brachte die Verselbständigung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens, das schließlich die Vorstellung eines von metaphysischem Sinn durchwirkten Kosmos zerstörte. Dabei ist von besonderem Interesse, daß, nach Weber, der Zusammenbruch dieses Konzepts einen Rückzug der Frömmigkeit in die individuelle Sphäre zur Folge hatte: die Mystik erscheint als Fluchtbewegung aus einer rational erstarrten Dogmatik, und als auch ihr durch die Reformation die Basis entzogen wurde, wandelte sich die Weltflucht in asketische Weltbearbeitung: also Webers berühmte These von der Geburt 3
Rene´ Descartes, Discours de la Me´thode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. u. hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 30: „Le premier [pre´cepte] e´tait de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse e´videmment eˆtre telle (. . . ) et de ne comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se pre´senterait si clairement et si distinctement a` mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute.“ 4 Damit eröffnet sich eine Perspektive, die sich nicht mehr mit Benedikts XVI. Position verträgt, der die Einheit von Vernunft und Glauben bis zur Reformation gewahrt sieht, wenngleich mit einer gewissen Einschränkung in Hinblick auf die im Spätmittelalter sich manifestierenden voluntaristischen Tendenzen (Duns Scotus).
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des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus. Am Ende steht eine völlig der Naturwissenschaft und Technik ausgelieferte Wirklichkeit; das Ziel dieses Prozesses bestehe darin, „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen zu beherrschen“.5 Wohin diese Instrumentalisierung der Vernunft zur Weltbeherrschung und -ausbeutung schließlich führte, haben Horkheimer und Adorno in ihrer ›Dialektik der Aufklärung‹ erschreckend vor Augen gestellt.6 Der grandiose kulturgeschichtliche Entwurf Max Webers mit seiner dialektischen Rückseite hat ernüchternd ein älteres und sehr viel simpleres Denkschema abgelöst, das vom Vernunftoptimismus der Aufklärung geprägt war: jene dreistufige ,Heilsgeschichte‘, über die eine mündig gewordene Vernunft sich selbst zum Ziel der kulturellen Entwicklung der Menschheit setzte, wobei sie die Renaissance zu ihrem Gründungsmythos stilisierte und das Mittelalter als Verfallsphase perhorreszierte. Bekanntlich sind die Mediävisten gegen dieses Schema Sturm gelaufen, mit dem Ergebnis, daß Renaissance bzw. Aufklärung in kategoriale Begriffe verwandelt wurden, mit denen man schon im Mittelalter operieren konnte, wodurch man die radikale Zäsur zur Neuzeit, wie die Aufklärung sie propagierte, überspielte.7 Man könnte dieses ältere, simple Schema und seine Korrekturen ad acta legen, wenn es nicht verblüffenderweise in der Soziologie nochmals Karriere gemacht hätte, und dies mit denselben Verzerrungen, die man überwunden zu haben glaubte, nämlich in Form des sogenannten Zivilisationsprozesses von Norbert Elias:8 die europäische Kulturgeschichte nunmehr verstanden als zunehmende Disziplinierung der Verhaltensformen, der wachsenden Distanzierung vom Animalisch-Körperlichen, der Beherrschung der Sexualität mit dem Zielpunkt der FKK-Strände, wo die Geschlechter sich nackt gegenübertreten, ohne auf Vergewaltigung zu sinnen. Und dazu die unvermeidliche Stilisierung des Mittelalters zum Gegenbild, zu einer Epoche primitiver Aggressivität und Schamlosigkeit. Also sozusagen eine Variante des Aufklärungsschemas unter dem Aspekt der zivilisatorischen Vernunft. Und all dies mit einer unglaublichen Blindheit für die dialektische Rückseite des Prozesses. Natürlich hat man protestiert und korrigiert, und dies mit dem zu erwartenden Ergebnis, daß man den Disziplinierungsprozeß ins Mittelalter vorzog, so daß man auch Elias für das übergreifende Kontinuitätsschema vereinnahmen konnte.9 5
Siehe dazu meine Auseinandersetzung mit Max Weber, die in mehreren Schritten und wachsender Distanzierung erfolgte: „Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen zum späten Mittelalter“, in: Haug, Brechungen, S. 251–264; „Kulturtheorie und Literaturgeschichte“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 616–627. Zu Webers Rationalitätsbegriff in größerer Differenzierung Stephen Kalberg, „Max Webers Typen der Rationalität. Grundsteine für die Analyse von Rationalisierungs-Prozessen in der Geschichte“, in: Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, hg. v. Walter M. Sprondel u. Constans Seyfarth, Stuttgart 1981, S. 9–38. 6 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969. 7 Siehe zu dieser Schematik meine Studie „Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen“, in: Haug, Strukturen, S. 86–109, insbes. S. 89–92. 8 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (stw 158/159), 2 Bde., 16. Aufl., Frankfurt a. M. 1991. 9 Siehe meine Elias-Kritik „Literaturgeschichte und Triebkontrolle. Bemerkungen eines Mediä-
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II Der Grundfehler solcher kulturgeschichtlicher Schemata besteht darin, daß sie von einem vorgefaßten Zielpunkt der Entwicklung ausgehen und den Weg zu ihm hin teleologisch als Vorgeschichte dieses Zielpunkts interpretieren, sei dieser nun der Status quo oder dessen utopische Perfektionierung bzw. dessen Apokalypse. Es ist erstaunlich, in welchem Maße die Kulturhistoriker immer wieder in diese ideologische Falle tappen. Auch die Literaturwissenschaftler waren dafür anfällig oder dankbar, insbesondere wieder seit der sogenannten kulturhistorischen Wende der Disziplin, denn das Schema erlaubte ihnen, die Entwicklung der Literatur in den generellen Rationalisierungsprozeß einzuzeichnen und von daher zu deuten. Man denke etwa daran, daß Joachim Heinzle – mit reichlicher Verspätung – sich Elias für seine Idee der ,literarischen Interessenbildung‘ zunutze zu machen versuchte.10 Nun hätten gerade die diversen Abwandlungen der Rationalisierungsteleologie von Weber bis Elias aufhorchen lassen und zur Einsicht führen müssen, daß es d i e Vernunft als causa efficiens oder causa finalis eines kulturellen Universalprozesses gar nicht gibt. Was es gibt, ist immer nur die Ratio als Faktor in wechselnden historischen Konstellationen, d. h., die Ratio bestimmt sich jeweils durch ihre Position und Funktion im kulturellen Gesamtsystem. Konkret faßt man ihre historische Ausprägung am klarsten durch das, wozu sie von Fall zu Fall in Gegensatz tritt. So sind denn die Akzentuierungen, unter denen sie zur Wirkung kommt, ganz andere, wenn sie gegen ein magisches Weltbild angeht, als wenn sie sich dem Glauben entgegenstellt, und wieder andere, wenn sie gegen Autorität und Repräsentation oder wenn sie gegen Gewalt oder gegen Sinnlichkeit Front macht oder sich gegen Kontingenz oder gegen Dummheit stellt. Die große Vielfalt der Oppositionen zwingt dazu, den Begriff der Ratio dezidiert zu historisieren. Und das ist die Grundforderung, die an die aktuelle Rationalitätsdebatte zu stellen wäre. Wenn man von Rationalität oder Rationalisierung handeln will, hat das Erste also immer die Frage nach der oppositionellen Funktion zu sein, in der die Vernunft in einem bestimmten kulturgeschichtlichen Kontext erscheint. Das Zweite aber ist die Frage nach der spezifischen Dynamik, in der sich diese Opposition im historischen Raum ausfaltet. Es ist dabei der ganze Spielraum in Betracht zu ziehen von einer harten Gegenstellung bis zu unterschiedlichen Möglichkeiten, zu einem Ausgleich oder gar zu einer Integration zu kommen. Um nur ein besonders illustratives Beispiel für letzteres zu nennen: Wenn Anselm von Canterbury für eine Orientierung des theologischen Denvisten zum sogenannten Prozeß der Zivilisation“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 603– 615. 10 Heinzle geht davon aus, daß die Zivilisation der Neuzeit sich „wesentlich aus dem allseitigen Gebrauch der Schrift in der Volkssprache (. . . ) herausgebildet“ habe. Und dabei erweise sich die „Schriftkultur zugleich [als] Ausdruck und Vehikel des Zivilisationsprozesses“; siehe Joachim Heinzle, „Wie schreibt man eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters?“, Der Deutschunterricht 41/1 (1989), S. 27–40 (die Zitate S. 29). Vgl. auch seine Ankündigung in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 30, H. 4 (1983), S. 6–8, und „Usurpation des Fremden? Die Theorie vom Zivilisationsprozeß als literarhistorisches Modell“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, DFG-Symposion 2000, hg. v. Ursula Peters (Germanistische Symposien, Berichtsbände XXIII), Stuttgart, Weimar 2001, S. 198–214.
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kens an der Ratio eintritt, dann handelt es sich gerade nicht um eine Opposition zwischen Glauben und Vernunft, sondern um die Durchdringung des Glaubens durch die Vernunft. Sein oben genannter ontologischer Gottesbeweis ist kein Beweis von einer außerhalb stehenden Vernunft aus, vielmehr besagt er, daß, da Gott existiert, dies auch rational einsichtig gemacht werden kann.11 Erst Descartes hat die Argumentation auf den Kopf gestellt und genau das getan, was Anselm nicht wollte: die Existenz Gottes aus der Vernunft begründen – ein radikaler Unterschied, der immer wieder mißachtet wird, selbst von Kurt Flasch.12 Und schließlich etwas Drittes: der Rationalisierungsprozeß erscheint immer wieder ambivalent; je härter die Ratio in der Gegenposition das Nichtrationale, in welcher Erscheinungsform auch immer, ins Visier nimmt, desto prekärer kann sie auf sich selbst zurückgeworfen werden und ihre eignen Grenzen erfahren, bis hin zum abgründigen Zwiespalt. Das ergibt ein hochkomplexes Spiel von Möglichkeiten, für das man sich in den geschichtlichen Situationen offen halten muß. Jede Einlinigkeit im Sinne eines irgendwie generellen Rationalisierungsprozesses unterminiert von vornherein die Chance eines historisch adäquaten interpretierenden Zugriffs.
III Nunmehr der Einstieg in die konkreten Situationen. Ich beginne mit dem 12. Jahrhundert. Man pflegt in diesem Zeitraum von einem epochalen Rationalisierungsschub zu sprechen. Die umstrittene Frage nach der Ursache dieser Wandlung kann in unserem Zusammenhang beiseite bleiben. Ich frage meinem Ansatz gemäß nach dem Span11
Anselm von Canterbury, Proslogion, Untersuchungen, lat.-dt. Ausg. v. Franciscus Salesius Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, Kap. 2. und 3. Zum Glauben als Voraussetzung für den Zugriff der Vernunft siehe z. B. seinen Dialog Cur deus homo, lat./dt., besorgt u. übers. v. Franciscus Salesius Schmitt, 3. Aufl., München 1970; hier erklärt der Dialogpartner Boso (I,1): „So wie die rechte Ordnung es verlangt, daß wir die Geheimnisse des christlichen Glaubens annehmen, bevor wir daran gehen, sie mit unserer Vernunft zu zergliedern, so erschiene es mir andrerseits als Denknachlässigkeit, wenn wir, nachdem wir einmal im Glauben feststehen, uns nicht die Mühe machten, das, was wir glauben, auch mit der Vernunft zu erfassen“ (Sicut rectus ordo exigit ut profunda christianae fidei prius credamus, quam ea praesumamus ratione discutere, ita negligentia mihi videtur, si, postquam confirmati sumus in fide, non studemus quod credimus intelligere). Einen treffenden Überblick über die Stellen, die das Problem behandeln, bietet Christian Schäfer, „Ratio und oratio: Monastische Meditation und scholastisches Denken bei Anselm von Canterbury“, in: Mittelalterliches Denken. Debatten, Ideen und Gestalten im Kontext, hg. v. Christian Schäfer u. Martin Thurner, Darmstadt 2007, S. 49–73, hier S. 52– 56, S. 65–68. 12 Kurt Flasch, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Mittelalter, Stuttgart 1982, S. 207: Der Gottesbeweis Anselms „will, trotz der Gebetsform, ein streng geführter Beweis sein. Er setzt zu seiner Gültigkeit nicht den Glauben voraus, wie Anselm selbst am Ende des 4. Kapitels bemerkt.“ Die betreffende Stelle lautet (ebd., S. 220): „Dank Dir, guter Herr, Dank Dir, daß ich das, was ich zuvor durch Dein Geschenk geglaubt habe, jetzt durch Deine Erleuchtung so einsehe, daß ich, wollte ich es nicht glauben, daß Du existierst, es nicht nicht einsehen könnte.“ Die Basis bildet der Glaube, und es folgt dann die Erleuchtung durch die Vernunft; der Schluß ist nur ein hypothetisches Spiel, das Flaschs Behauptung nicht trägt. Vgl. die vorige Anmerkung.
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nungsfeld, in dem die Ratio hier erscheint. Ich referiere Bekanntes in Stichworten:13 Die Folie, vor der sich die Wende vollzieht, ist das frühmittelalterliche symbolische Weltbild, also ein Wirklichkeitsverständnis, nach dem das Göttliche in der Welt repräsentativ gegenwärtig ist, wobei alles einzelne seinen bedeutsamen Ort in einer universalen, heilsgeschichtlichen Ordnung hat: sie ist lesbar als liber et pictura. An ihre Stelle tritt nun die Einsicht, daß man es mit einer Vielfalt von Wissensbereichen zu tun hat, die ihre je eigenen Gesetzlichkeiten besitzen, also ihre spezifische Ratio. So kommt es zur Ausdifferenzierung der Wissenschaften, durch die nicht nur die Philosophie, die Medizin, die Jurisprudenz und die Naturwissenschaft ihr eigenes Recht erhalten, sondern auch die Theologie als Wissenschaft begriffen wird, die unter ihren Prämissen der Vernunft zugänglich sein muß. Dem entspricht eine veränderte Form der Wissensvermittlung. War Wissensvermittlung bislang Einübung in die Tradition, Übung in allegoretischer oder moralischer Hermeneutik, so kommt es nun zu einer gewissen Distanz gegenüber der Überlieferung: sie muß vor dem kritischen Urteil bestehen können. Die Dialektik gewinnt Vorrang vor der Grammatik. Das gibt dem individuellen Denken ein erhöhtes Gewicht, und dies in intellektueller wie in moralischer Hinsicht, d. h. als Selbstreflexion der Vernunft einerseits und als Orientierung am persönlichen Gewissen andrerseits; markantes Symptom für letzteres ist die Einführung der regelmäßigen Beichte durch das 4. Laterankonzil 1215. Es öffnet sich also eine personale Innenperspektive. Dabei ist im übrigen wie stets zu beachten, daß historisch überwundene Konzepte in der Regel nicht einfach verschwinden, sondern oft in Sonderbereichen weiterleben: so auch das symbolische Weltbild noch lange im kirchlichen und herrscherlichen Repräsentationsdenken. Es wirkt ferner verwandelt und umgedeutet fort in der Frage nach dem Verhältnis von dialektischer und symbolischer Wahrheitsvermittlung, wie sie in der Integumentumlehre vielfältig diskutiert wird. Der logische Diskurs wird dadurch um die Medienkritik in Sprache und Bildlichkeit ergänzt. Die Repräsentation als Präsenz des Nichtpräsenten zeigt sich somit in neuer Form in der nunmehr rationalen Brechung und Spannung der sogenannten verhüllten Wahrheit. Die Ratio macht sich selbst, indem sie ihre hermeneutischen Möglichkeiten erkundet, zu ihrem Gegenstand. Daß in der schillernden Vielfalt des integumentalen Denkens sich dies als letztes Ziel abzeichnet, hat Frank Bezner gültig herausgestellt.14 Diese epochale Umorientierung vollzieht sich bekanntlich alles andere als unangefochten, aber – und das ist der Abwehrschild – immer als Rechtfertigung der Vernunft im Glauben und durch den Glauben. Es sind vor allem die neuen monastischen Bewegungen, die sich z. T. vehement gegen eine solche vernunftmäßige Durchdringung 13
Siehe Georg Wieland, „Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen Physiognomie des 12. Jahrhunderts“, in: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, hg. v. Jan P. Beckmann u. a., Hamburg 1987, S. 61–79; Wolfgang Kluxen, „Wissenschaftliche Rationalität im 12. Jahrhundert: Aufgang einer Epoche“, in: Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur ,Renaissance‘ des 12. Jahrhunderts, hg. v. Georg Wieland, StuttgartBad Cannstatt 1995, S. 89–99; Richard Heinzmann, „Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft“, ebd., S. 123–138. 14 Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts, Leiden, Boston 2005.
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des Glaubens wehren, die aber des ungeachtet in ihrer Weise an der Wende teilnehmen, was man angesichts der Frontstellung zu übersehen pflegt. Da, wie gesagt, die Ratio auch den Blick auf den individuellen Innenraum geöffnet hat, versucht man nun in einer neuen Mystik, die personale Gotteserfahrung rational in den Griff zu bekommen, konkret: sie als Prozeß zu systematisieren. Es werden gestufte Wege der Gotteserfahrung entworfen, die zwar formal noch an das platonische Ascensus-Modell erinnern, aber nicht mehr abstrahierende Aufstiege sind, sondern als Abfolge psychischer Stadien durchdacht und dargestellt werden. Die Ratio entfaltet die religiöse Erfahrung als Psychagogie, in die sie sich selbst einbezieht. Bernhards ›De diligendo Deo‹ wäre zu nennen oder die ›Epistola ad fratres de Monte Dei‹ Wilhelms von St. Thierry mit ihren drei status, aber vor allem Richards von St. Viktor ›Beniamin maior‹, der die Gotteserfahrung als sechsstufigen Weg durchdenkt. Verknappt charakterisiert, sieht das bei Richard so aus: die erste Stufe ist diejenige der bildhaften Vorstellungen, die ungeordnet in der Imaginatio sich darbieten; auf der zweiten Stufe bringt die Ratio sie in eine Ordnung, nach Ursachen und Zusammenhängen; die dritte Stufe führt zu den intelligiblen Gegenständen. Dabei befindet man sich noch immer im Bildbereich, er wird dann auf der 4. Stufe überstiegen, auf der der Geist sich selbst reflektiert. Doch all das bleibt weiterhin im Rahmen der Vernunft. Sie wird jedoch auf der 5. Stufe zugunsten der göttlichen Offenbarung und des Glaubens zurückgelassen, während man auf der 6. Stufe nicht nur die Vernunft überschreitet, sondern sich quer zu ihr stellt, wörtlich: „In jenem höchsten und würdigsten Schauen jubelt wahrhaft der Geist und tanzt im Dreischritt, wenn er durch die Einstrahlung göttlichen Lichts das erkennt und schaut, was aller menschlichen Vernunft widerspricht.“15 Es handelt sich also um einen psychologisch-kognitiven Prozeß, hinter dem aber ein rational-systematisches Konzept steht, auch wenn die letzten Stufen nur als unbegreifliche begreifbar sind. So paradox es sich anhört: obschon man die personale religiöse Erfahrung gegen die Ratio stellt, unternimmt man es doch zugleich, diese Erfahrung rational zu durchdringen und damit verfügbar zu machen. Aus diesem Paradox erklärt sich übrigens der Widerspruch zwischen Otto Langer und Johannes Janota, was das Verhältnis zwischen Mystik und Ratio betrifft: Langer sieht die Mystik in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als kritische Auseinandersetzungen mit den aufeinanderfolgenden Rationalitätsschüben. Janota betont, vor allem im Blick auf Eckhart, die rationale Seite in der mystischen Bewältigung der religiösen Erfahrung.16 Unterscheidet man zwischen der Außen- und der Innenperspektive, so löst sich der Widerspruch auf.17 15
Siehe Ruh, Geschichte I, S. 397–406. Das Zitat: PL 196, Sp. 72B: In hac utique suprema omniumque dignissima contemplationum specula tunc animus veraciter exsultat atque tripudiat, quando illa ex divini luminis irradiatione cognoscit atque considerat quibus omnis humana ratio reclamat. 16 Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, insbes. S. 32f., S. 151–155, S. 393; Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Joachim Heinzle, Bd. III: Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit, Teil 1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, Tübingen 2004, S. 28; dazu meine Rezension, in diesem Bd., S. 74–88. 17 Ein treffendes Wort dazu aus Susanne Köbeles Besprechung von Langers Monographie, PBB 128 (2006), S. 332–342: „Die Mystiker betreiben Rationalitätskritik, aber nicht außerhalb, sondern inmitten von Rationalität“ (S. 333).
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Es zeigt sich also: die Rationalisierung, wie sie sich im 12. Jahrhundert darstellt, stößt da, wo sie sich am weitesten vorwagt, nämlich in der Selbstkritik ihrer Hermeneutik wie in ihrem Zugriff auf die personale Erfahrung, an ihre eigenen Grenzen. Und das ist letztlich immer der Punkt, zu dem die Ratio aus sich selbst heraus gedrängt wird: sie fordert die Reflexion ihrer selbst, sie fordert die Reflexion ihrer Bedingungen und Möglichkeiten. Darauf wird im folgenden durchwegs zu achten sein.
IV Macht die Literatur im engeren Sinne – um nunmehr zu unserem vordringlichen Interessensgebiet zu kommen –, macht insbesondere die neue Erzähldichtung des 12. und des beginnenden 13. Jahrhunderts diese rationale Umorientierung in ihren spezifischen Akzentuierungen in irgendeiner Weise mit? Etwa – und das wäre die erste Frage – als logische Durchdringung dessen, was die erzählte Handlung uns vorführt? Blickt man auf den Chre´tienschen Roman, wird man das schwerlich behaupten wollen. Da brechen Ritter aus eher nichtigen Gründen vom Artushof auf, begegnen Riesen, Räubern, Gewalttätern, schlagen sie tot oder domestizieren sie; sie geraten in magische Bezirke – da eine mysteriöse Gewitterquelle, dort ein Zaubergarten –, sie müssen über Schwertbrükken kriechen oder Pfeilgewitter über sich ergehen lassen, sie retten bedrohte Frauen und handeln sich dadurch allerhand Schwierigkeiten ein, bis alles mit der Rückkehr an den Artushof sein harmlos glückliches Ende findet. Das hört sich dermaßen seicht an, daß man meint, sich in einer Vorstellungswelt zu bewegen, die in ihrer Naivität keinen Hauch eines rationalen Erwachens verspürt hat. Aber das ist der falsche Ansatz. Damit operiert man einmal mehr mit einem abstrakten Rationalitätsbegriff. Man muß auch hier nach dem Oppositionsbezug fragen. Wie das zu geschehen hat, hat Klaus Ridder in einem wegweisenden Vorstoß gezeigt.18 Ich setze bei ihm an und überführe ihn in meine Perspektive. Indem sich die Wissensbereiche im spezifischen Rationalisierungsprozeß des 12. Jahrhunderts ausdifferenzieren, wird auch die Literatur als ein Bereich von eigener Gesetzlichkeit wahrgenommen. Man beginnt die spezifischen Möglichkeiten des Erzählens zu entdecken, die Freiheit der Erfindung, die Verfügbarkeit über die narrativen Materialien, und dies nicht nur in fabulierender Lust, sondern durchaus mit dem Anspruch, damit Sinn zu setzen. Die Ratio des neuen Romans liegt also in der narrativen Konstruktion, in der seine Eigengesetzlichkeit zur Geltung kommt; man muß diese Konstruktion durchschauen, man muß sehen, wie die Aventüren, die dem Helden zufallen, aufeinander bezogen sind, variierend oder antagonistisch, um den Sinn zu verstehen. Dabei ist entscheidend, daß die Kohärenz der Handlung ganz im Strukturschema liegt; es bedarf im Prinzip keiner inneren Kausalität, keiner Entwicklung des Geschehens aus dem Willen der Figuren heraus. Was mit ihnen geschieht, was sie ,durchmachen‘, ist an den Positionen abzulesen, über die sie geführt werden. Zum Bewußtsein gebracht wird all dies – und das ist der zweite signifikante Punkt – über die 18
Klaus Ridder, „Rationalisierungsprozesse und höfischer Roman im 12. Jahrhundert“, DVjs 78 (2004), S. 175–199.
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Selbstreflexion des Erzählers, der zwischen dem Autor und dem Publikum vermittelt, indem er kommentiert, damit Distanz schafft und auch vom Rezipienten Reflexion verlangt. Die Verarbeitung der Probleme ist den Figuren abgenommen, sie ist ganz dem Hörer oder Leser aufgegeben. Dem kann man freilich entgegenhalten, daß das so absolut nicht gelte, daß sich der allgemeine Rationalisierungsprozeß, was immer man damit meinen mag, auch auf den Roman auszuwirken begonnen habe. Die Figuren hätten zumindest punktuell ein Innenleben, sie seien zu Entscheidungen aufgerufen, die kausal in der Handlung weiterwirkten. Das ist nicht einfach von der Hand zu weisen, aber stark zu relativieren. Was das heißt, läßt sich beispielhaft an den Überlegungen Laudines in Hartmanns ›Iwein‹ demonstrieren, die sie nach dem Sieg des Titelhelden über ihren Mann anstellt.19 Sie fragt sich, ob sie, um ihr Land zu sichern, den Mörder ihres Gatten heiraten darf, ja muß. Sie argumentiert im Sinne einer Güterabwägung, und dies, wie man gesagt hat, nach den Regeln der zeitgenössischen Kanonistik. Aber auffälligerweise bleibt es nicht bei dieser rational-quasijuristischen Güterabwägung. Mitten in ihren Überlegungen, so sagt Hartmann, war plötzlich die gewaltige Minne da (v. 2055), die dann den Ausschlag gibt. Dieser alogische Einbruch der Liebe macht im Grunde die ganze Güterabwägung illusorisch. Und er verdankt sich selbstverständlich dem Schema, das die Heirat fordert. Das Schema ist stärker als das Raisonnement, ja hebt dieses aus den Angeln. Und das läßt sich für eine Reihe weiterer analoger Fälle von dilemmatischen Reflexionen bei Chre´tien wie bei Hartmann zeigen.20 Es gibt also im Roman des arthurischen Typus zwar Ansätze zu einer Innenperspektive, es werden Probleme von den Figuren monologisch oder dialogisch diskutiert, aber letztlich fällt die Entscheidung immer mit Rücksicht auf das Strukturmuster. Wenn die Konstruktion die Ratio dieses Erzähltyps ist, heißt das nun, daß die Ratio auch ihr Thema ist? Man kann dies so sehen, indem man argumentiert, daß die fiktionale Konstruktion darauf angelegt ist, das zu bewältigen, woran sie zu zerbrechen droht. Der durch die Ratio des Schemas garantierte Weg des Helden konfrontiert ihn mit Mächten, die einen spezifisch antirationalen Charakter haben, sie erscheinen als Gewalttäter, Bösewichte, Verführer, sie zeigen sich in Kontingenzen, in der Irrationalität des Erotischen. Der Held wird davon betroffen, er muß durch diese Gegenpositionen hindurchgehen, bis zur äußersten Gefährdung, um schließlich als Überwinder dieser Sphäre an den Artushof zurückzukehren. Aber das Disharmonische, AggressivGewalttätige, Maßlose bleibt als Rückseite der höfischen Idealität präsent, es bleibt präsent in der Erzählung des Aventürenwegs. Er muß deshalb immer wieder neu durchlaufen werden, damit davon immer wieder erzählt werden kann. Es geht nicht darum, daß der Held sich wandelt, es geht nicht um seine persönliche Erfahrung – es bleibt nichts zurück, keine seelische Verletzung, nicht einmal eine Narbe –, sondern es geht um den Entwurf einer Gesellschaft, die in der prekären Balance ihrer Ratio auf die irratio19
Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters 6), Frankfurt a. M. 2004, S. 428, vv. 2033–2072. 20 Siehe dazu ausführlicher meine Studie „Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram“, in diesem Bd., S. 141–156, hier S. 145–147.
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nale Rückseite des Lebens bezogen bleibt. Die Ratio steht hier also in dynamisch gespannter Opposition zu einer Gegenwelt, die sich nur durch eine literarische Konstruktion bezwingen läßt. Die Vermittlung erfolgt als narrative Erfahrung, d. h. im Nachvollzug, über die Einsicht in die Offenheit des literarischen Experiments. Das Problem der Rationalität in der neuen Romanliteratur des 12./13. Jahrhunderts ist also nicht von den Ansätzen zu einer kausalen Handlungslogik her anzugehen, sondern in dem zu fassen, was der Typus aus seiner ihm eigenen Ratio, seiner fiktionalen Konstruktion, in dieser Hinsicht zu leisten vermag. Nochmals in Stichworten: die Ratio als Konstruktion von eigenem Recht, ihre Selbstreflexion des Erzählens bezogen auf den Rezipienten, die Vermittlung über den Nachvollzug. Einen besonderen Fall stellt der ›Parzival‹ dar. Joachim Bumke hat bekanntlich die These aufgestellt, das Problem des Wolframschen Romans bestehe darin, daß der Held mit einem Defizit an rationalem Denken in die Welt einzutreten gezwungen sei.21 Dabei versteht er dieses Denken als die Fähigkeit zur Entschlüsselung von Zeichen im Augustinischen Sinne. Parzival versage auf der Gralsburg, weil er aufgrund seiner „habituellen Wahrnehmungsschwäche“ die Zeichen dort nicht zu deuten verstehe.22 Ich habe anderweitig gezeigt, weshalb diese These nicht zu halten ist.23 Parzival ist nach der Lehrzeit bei Gurnemanz intellektuell so weit wie jeder andere Artusritter, wenn er zu einer Aventürenfahrt aufbricht. Er verhält sich denn auch genau dem Schema entsprechend: er besiegt die Belagerer von Pelrapeire und zeigt sich dabei als vollendeter Ritter, er gewinnt die befreite Dame zur Frau und zieht dann weiter, um – ungewollt, schemabestimmt – zum Artushof zurückzukehren, wobei er unterwegs auf Munsalvaesche Station macht. Daß er in diesem Stadium noch den Geist eines Kleinkindes haben soll, wie Bumke behauptet, und deshalb auf der Gralsburg versage, ist uneinsichtig. Und mit Augustins Semiotik hat sein Schweigen überhaupt nichts zu tun. Es geht nicht darum, Zeichen zu lesen, einen Sinn zu entschlüsseln, sondern um die sehr vernünftige Abwägung, ob es nach dem höfischen Verhaltenskodex angebracht ist, sich nach dem Leiden des Anfortas zu erkundigen oder nicht. Es handelt sich also nicht um ein Vernunftdefizit, es ist vielmehr gerade das eingeübte vernünftige Denkmuster, das den Helden daran hindert, die richtige Entscheidung zu treffen. Und man muß auch hier wiederum sagen: der Held mag räsonieren, wie er will, das Schema verlangt eine bestimmte Entscheidung, es verlangt, daß Parzival sich falsch verhält. Aber das Neue dabei ist, daß dieses Verhältnis zwischen Raisonnement und Konstrukt nun zum Thema wird. Die Logik des Helden verzweifelt an dem ihm durch das Schema vorgezeichneten Weg. Parzival versteht nicht, daß es gerade darum geht, daß er nicht verstehen kann, denn er ist auf etwas gestoßen, was nicht lehr- und lernbar ist: die unschuldige Schuld als Kennzeichen der Conditio humana. Trevrizent versucht es ihm zwar zu erklären, und Parzival sieht ein, daß er sündig ist, aber er ändert sich nicht, sondern zieht weiter kämpfend durch das Land in der Hoffnung, die Gralsburg wieder zu erreichen, obschon man gesagt hat, daß man sie nicht erkämpfen kann. Er 21
Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Hermaea NF 94), Tübingen 2001. 22 Ebd., S. 77. 23 Haug [Anm. 20], S. 151–153.
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hat nichts begriffen, und es gibt auch nichts zu begreifen, denn es geht letztlich darum, daß das Unbegreifliche geschieht: die Erlösung aus Gnade. Der Dichter kann nichts anderes tun als den Helden an jenen Punkt führen, an dem seine Vernunft versagt, versagen muß. Das ist insofern eine dezidiert antirationale Position, als der Roman fordert, das Verhältnis von Natur und Gnade als etwas Unverständliches offen zu lassen. Damit steht man zentral in jener Problematik, die durch den sogenannten Rationalisierungsschub im 12. Jahrhundert aufgebrochen ist: die Ratio des literarischen Konstrukts wird zum Scheitern gebracht an der der Ratio gegenüber dem Glauben gesetzten Grenze, sie scheitert an der Unversöhnbarkeit von Natur und Gnade. Aber der arthurische Roman repräsentiert nur eine der Möglichkeiten, mit der Ratio des Erzählens umzugehen. Gleichzeitig mit ihm wird im ›Tristan‹ konträr zum chre´tienschen Typus ein vom Helden rational durchkalkulierter Lebensweg entworfen. Wieder hat man zwar eine Figur vor sich, die einer Welt von Gewalttätern, Betrügern, Neidlingen, Riesen und Zwergen, sogar einem Drachen gegenübertritt. Dies jedoch ohne ein strukturell gelenktes Spiel, vielmehr fließt hier die Handlung im Gegensatz zum Artusroman aus bewußten Entscheidungen des Helden. Und da das Konstrukt als Ratio fehlt und an seine Stelle das Kalkül des Helden tritt, erscheint als eigentlicher Gegenspieler der Zufall. Denn für die in die Planung des Helden verlegte Ratio, die mit allem Feindlichen fertig wird, bleibt als einzige Opposition die Irrationalität der Kontingenz, die den Helden immer neu herausfordert, bis er der denkbar mächtigsten Erscheinungsform des Irrationalen erliegt, dem Zufall des Liebestranks, der Irrationalität des bedingungslos Erotischen. Aber selbst dies macht Tristan zu seiner bewußten Entscheidung, wenn er die Liebe, die ihn überwältigt hat, provozierend annimmt.24 Auch dieses literarische Experiment mündet in einen unauflösbaren Widerspruch. Und wiederum geht es darum, ihn im Erzählen auszutragen und ihn über den Nachvollzug zu vermitteln. Die narrative Ratio, zeige sie sich als Strukturprinzip oder als Bewältigungsstrategie des Helden, führt also hier wie dort in die Krise. Und es geht darum, gerade dies bewußt zu machen.
V Soweit eine erste Reihe von Folgen, die die Ausdifferenzierung der Wissensbereiche im 12. Jahrhundert für die Literatur mit sich brachte. Nun hatte aber der Zerfall der symbolischen Weltordnung einen weiteren Effekt, der wiederum auch literarisch von Bedeutung war, nämlich die Vereinzelung der Dinge. Ihr gegenüber tritt die Ratio als Ordnungsinstanz auf. Es wird ein über die Jahrhunderte wirkender Impuls ausgelöst, zu sammeln und zu systematisieren. Es kommt zu einer Flut von Kompendien, Enzyklopädien, Summen in den unterschiedlichen Bereichen. Sammlungen und Summen stehen jenseits der Sinnfrage. Die höchste Form der Sinnlosigkeit ist – inhaltlich gesehen – die 24
Dies in den berühmten Versen 12494–12502: ,nu waltes got!‘ sprach Tristan / ,ez wære tot oder leben: / ez hat mir sanfte vergeben. / ine weiz, wie jener werden sol: / dirre tot der tuot mir wol. / solte diu wunnecliche Isot / iemer alsus sin min tot, / so wolte ich gerne werben / umb ein eweclichez sterben.‘ [zitiert nach: Tristan, hg. Ranke]
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alphabetische Ordnung, und ihr wird die Zukunft gehören. Sie absorbiert schlechthin alles ohne Rest. Wenn es eine Grenze gibt, dann liegt sie im rein Quantitativen, also dort, wo die Arbeitskraft oder das Schreibmaterial ausgeht. Die Ratio ist auf ein rein formales Prinzip reduziert. Sie hat keinen Widerpart außer der Unordnung, die aber von ihr kontinuierlich aufgezehrt wird. Doch es gibt eine Ausnahme. Da nämlich, wo man die Moral in ihrer Zersplitterung sammelt, ich meine: die Moral, ausgebreitet in der Fülle ihrer beispielhaften Realisierungen. Man kann moralische Exempla zwar thematisch ordnen, aber das ergibt keine innere Ordnung; es macht sie nur praktisch besser abrufbar. Jedes Exempel hat seine eigene Ratio, und damit geraten sie in Widerspruch zueinander. Es läßt sich im Prinzip für jede ,Wahrheit‘ ein Beispielfall konstruieren, also auch für das jeweilige Gegenteil: man kann genau so treffend beispielhaft belegen, daß sich Großmut lohnt, wie daß sie ins Verderben führt. Schon das ›Pan˜catantra‹ hat diese unvermeidbare Widersprüchlichkeit der Sammlung moralischer Beispielfälle vor Augen geführt und diese Erkenntnis als Weg zur Weisheit nahegelegt.25 Das ist dann auch der Schluß, den im 12. Jahrhundert Johannes von Salisbury in seinem ›Policraticus‹ aus der Widersprüchlichkeit allen exempelhaften Denkens zieht.26 Und Boccaccio wird das abschließend noch einmal unvergleichlich vor Augen führen.27 Aber das tat dem ungeheueren Erfolg dieses literarischen Typus keinen Abbruch. Und es ist dann auch nur vereinzelt die Sammlung, an der seine Problematik aufbricht. Vielmehr steckt der Widerspruch prinzipiell in jedem besonderen Fall. Man hat die Flut an beispielhaften Kurzerzählungen im späteren Mittelalter als Vehikel einer neuen Rationalisierungswelle sehen wollen, als eine Indienstnahme der Literatur zur moralischen Aufrüstung angesichts einer aus den Fugen geratenen Zeit. Fragt man nach den Oppositionsbegriffen der Exempelratio, so erscheint dies plausibel. Wogegen hier erzählt wird, zeigt sich als eine breite Palette moralischer Verwerflichkeit: Begierde, Unbeherrschtheit, Scheinheiligkeit, Gemeinheit und immer wieder Unverstand und Dummheit. Aber indem man all dies Lästerliche narrativ ad absurdum führt, und dies nicht zuletzt, indem man es mit seinen eigenen Waffen schlägt, räumt man der amoralischen Welt, soweit man darüber lachen kann, ein geheimes Recht ein. Lachen ist, wenn es sich nicht um reines Schadenlachen handelt, ein Zugeständnis an das Verlachte.28 Und man bringt dies auch immer wieder recht massiv zum Bewußtsein, denn immer wieder passen die Epimythien zu den sogenannten Mären wie die Faust aufs Auge. Die beispielhafte Kurzerzählung, deren Ratio in der Maske der moralischen Ordnung erscheint, ist im Grunde subversiv gegen sich selbst gerichtet. Jede Ordnung schreit nach Unordnung, 25
Vgl. dazu meine Studie „Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom Pan˜catantra zum ›Dekameron‹“, in: Haug, Brechungen, S. 455–473, hier S. 459–463. 26 Siehe dazu Peter von Moos, Geschichte der Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ,Policraticus‘ Johanns von Salisbury, Hildesheim, Zürich, New York 1988, insbes. S. 302–309, S. 322, S. 356–368, S. 384. 27 Dazu meine Studie „Boccaccio und die Tradition der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 394–409, hier S. 406–409. 28 Siehe dazu – in Anlehnung an Joachim Ritter – Odo Marquard, „Exile der Heiterkeit“, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik VII), München 1976, S. 133–151, hier S. 141–144.
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um der Erstarrung zu entgehen. Keine Ratio ist so offenkundig ambivalent wie die Ratio als Ordnung. Natürlich gibt es die einfache didaktische Fabel mit ihrer braven Nutzanwendung in breiter Tradition, aber ihre literarische Hochform findet die Kurzerzählung im Vergnügen über den kunstvollen Sieg der Amoral.29 Die Tendenz zur Beispielhaftigkeit und Didaktisierung ergreift auch die narrative Großform. Die Romane nach Wolfram und Gottfried können sich nun als Musterbücher für korrektes höfisches Verhalten geben, etwa des Pleiers ›Garel‹; es entstehen ausgesprochene Exempelromane wie ›Der guote Gerhart‹ Rudolfs von Ems,30 ja, im ›Jüngeren Titurel‹ ist es dem Helden aufgegeben, eine Hundeleine zu suchen, auf der als Inschrift eine universale Ethik dargeboten wird. Eine Aventürenhandlung als Suche nach einem ethischen System? Das mag als Sinnzentrum des Romans fragwürdig erscheinen.31 Jedenfalls läßt auch gegenüber der didaktischen Großform die Reaktion nicht auf sich warten. Nicht nur bricht man quer zu allem Pädagogischen das Geschehen ins Phantastische, Makabre, ins Ironische und Burleske um, sondern man kann die Erzählschemata auch unversöhnlich gegeneinander laufen lassen. Es entsteht der hybride Roman, der in seinen Widersprüchen stecken bleibt.32 Das alles zeigt das Unbehagen gegenüber einer der moralisch-didaktischen Ratio ausgelieferten Literatur. Und wie ein Fanal erscheint schließlich zu Beginn des 15. Jahrhunderts Wittenwilers ›Ring‹ in seiner Verschränkung von leerer Wissenssammlung und abgründiger Burleske, die sich gegenseitig verhöhnen und dem Untergang zutreiben.
VI Ich werfe nun einen Blick auf die weitere Entwicklung im theologisch-philosophischen Bereich. Bei allen Spannungen, die im 12. Jahrhundert zwischen Vernunft und Glauben auftraten, steuerte man, wie gesagt, nicht auf einen Konflikt zu. Das ändert sich im 13. Jahrhundert durch einen neuen Rationalisierungsschub; er führte nun bis zu dem Punkt, an dem man anfing, grundlegende Glaubenswahrheiten von der Vernunft her zu bezweifeln. Den Anstoß gab die neue Aristotelesrezeption.33 Während in der ersten 29
Siehe meinen „Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: Haug, Brechungen, S. 427–454, und die diesen Ansatz differenzierende Beispielreihe in meiner Studie „Das Böse und die Moral: Erzählen unter dem Aspekt einer narrativen Ethik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 370–393. 30 Siehe zu diesem Typus Klaus Speckenbach, „Die Ausbildung des Exempelromans bei Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann, Anne Simon (Trends in Medieval Philology 7), Berlin, New York 2005, S. 309–329. 31 Vgl. Thomas Neukirchen, Die ganze aventiure und ihre lere. Der ›Jüngere Titurel‹ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach (Beihefte zum Euphorion, 52), Heidelberg 2006, S. 331–359. 32 Grundlegend Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000. Siehe auch Mathias Herweg, „Herkommen und Herrschaft: Zur Signatur der Spätausläufer des deutschen Versromans um 1300“, Archiv 241, 156. Jg. (2004), S. 241–287. 33 Siehe zu den verschiedenen Phasen der Rezeption Otto Langer, „Aristoteles und die Folgen. Zur Rezeption der aristotelischen Logik und Wissenschaftstheorie im 12. und 13. Jahrhundert“, Freiburger Zs. f. Philosophie u. Theologie 53 (2006), S. 559–588.
2. Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozeß
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Hälfte dieses Jahrhunderts noch ein päpstliches Verbot auf das andere folgte, die es untersagten, die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles an den Universitäten zu behandeln, kam es in der Mitte des Jahrhunderts zum epochalen Umschwung. 1255 wurde das Aristotelesstudium an der Pariser Artistenfakultät zur Pflicht gemacht. Was dort in der Folge zumindest diskutiert wurde, fand seinen Niederschlag in den berühmtberüchtigten 219 Thesen, die der Pariser Bischof Tempier 1277 zusammengestellt und verworfen hat.34 Unter den inkriminierten Thesen finden sich z. B. diese: These 37: Nichts ist zu glauben, es sei denn evident (. . . ) beweisbar. These 150: Der Mensch darf, um in einer Frage Gewißheit zu erlangen, sich nicht mit einer Autorität zufrieden geben. These 152: Die Reden der Theologen beruhen auf Fabeleien. These 172: Sexuelle Lust beeinträchtigt die Geistestätigkeit nicht. These 175: Die christliche Religion verhindert, daß das Wissen zunimmt. These 176: Glückseligkeit gibt es nur in diesem Leben, nicht in einem andern. These 183: Der einfache Geschlechtsverkehr unter Ledigen ist keine Sünde.
Die Gegenpositionen dieser Ratio sind nicht zu verkennen: der Vorstoß richtet sich gegen ungeprüfte Wahrheiten, gegen den Jenseitsglauben, gegen durch Autoritäten vermitteltes Wissen, gegen die kirchliche Morallehre. Man hat von Aufklärung gesprochen, auch Kurt Flasch, freilich versehen mit einem Fragezeichen, denn auch dieser Begriff ist, wie gesagt, zu historisieren.35 Dabei ist im übrigen zu betonen, daß sich die zitierten Thesen und die vielen andern, die sich z. T. höchst konfus und bizarr ausnehmen, nicht zu einem geschlossenen Konzept verdichten. Es sind Diskussionssplitter, die aber den Horizont ahnen lassen, vor dem sich die Debatte um Ratio und Glauben in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts abspielte. Die Reaktion ist nicht ausgeblieben: Nicht nur hat die harte Verurteilung durch Tempier ihre Wirkung getan, sondern es sind auch Gelehrte gegen die Pariser Artistenfakultät aufgestanden, die mit ihrer Gegenposition großes intellektuelles Gewicht hatten, Bonaventura vor allem mit seinen Universitätspredigten schon in den 60er Jahren. Von ihm stammt übrigens noch einmal ein Aufstiegsmodell religiöser Erfahrung in der Nachfolge der psychagogischen Entwürfe des 12. Jahrhunderts: sein ›Itinerarium mentis in Deum‹, ein hochartifizieller Stufenweg mit komplex verästelten psychologisch-philosophischen Differenzierungen.36 Aber nicht diesem Aufstiegstypus sollte die Zukunft gehören. Eckhart wird bald darauf allen Wegschemata, und das heißt aller Vermittlung religiöser Erfahrung über psychagogische Praktiken, eine radikale Absage erteilen, wenngleich seine Schüler dann versuchen, dies abzumildern. Für unsere Perspektive bedeutet dieser vermittlungslose Überstieg des Vorstellens und Denkens über sich selbst die äußerste Forcierung der in 34
Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris übers. u. erkl. v. Kurt Flasch, Mainz 1989. Hier auch zum Kampf um das Aristotelesstudium im 13. Jahrhundert (S. 27–38). 35 Siehe Flasch, ebd., S. 39–41, über die unumgängliche Historisierung der Begriffe ,Rationalismus‘ und ,Aufklärung‘. 36 Siehe meine Analyse „Bonaventuras ›Itinerarium mentis in Deum‹ und die Tradition des platonischen Aufstiegsmodells“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 493–504.
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sich gespaltenen Ratio. Die Ratio erkennt, daß sie keine Möglichkeit hat, sich zum Medium der Gotteserfahrung zu machen.
VII Doch auch hier gibt es eine Gegenmöglichkeit, die, im Kontrast dazu, gerade mit der Vermittlung der Gotteserfahrung operiert. Es handelt sich um einen im 13. Jahrhundert völlig neu ansetzenden mystischen Typus. Er verdankt sich der Beginenbewegung, exemplarisch repräsentiert durch Hadewijch und Mechthild von Magdeburg. Diese neue Mystik verfährt nicht mehr psychagogisch, sondern visionär-narrativ. Hier werden nicht Erfahrungswege modellhaft systematisiert, sondern erfahrene Wege nacherzählt. Und die Vermittlung kann nur über einen Nachvollzug im literarischen Sinne erfolgen. Hadewijch wie Mechthild stammten aus gebildeten Elternhäusern, sie waren mit höfischer Literatur vertraut. Ihr Erzählen setzt deren narrative Erfahrung ins Religiöse um. Auch die Bildlichkeit ist höfisch-weltlich, jedoch legitimiert durch die freie Anlehnung ans ›Hohelied‹: Religiöse Erfahrung, dargestellt als Liebesgeschichte zwischen Gott und der Seele. Da sie nur Bild sein kann, wird man erwarten, daß die Ratio in einer Leitlinie über der Narratio zur Geltung kommt, die den Sinn vermittelt, konkret also eine Bilderfolge mit Allegoresen. Doch damit wäre die Erfahrung durch den Sprung in die Deutung ausgehebelt. Das gerade zu verhindern ist die Bemühung dieser religiösen Dichtung und damit ihr Problem. Mechthild bewältigt es in der Weise, daß sie die abstrakte Bedeutung in die sinnliche Erfahrung hineinzwingt. Gott beschreibt ihr die Vereinigung, die sie sich erhoffen darf, einmal so: Ich warte auf dich im Baumgarten der Liebe und breche dir da die Blüten des süßen Einsseins und mache dir da ein Bett aus dem freudebringenden Gras der heiligen Erkenntnis (. . . ), und ich neige da den allerhöchsten Baum der Heiligen Dreifaltigkeit zu dir herab, so daß du die grünen, weißen und roten Äpfel meiner todfreien Menschwerdung brechen kannst. Und dann beschirmt dich der Schatten meines Heiligen Geistes vor aller irdischen Traurigkeit.37
Es wird also die theologische Begrifflichkeit in die erotische Metaphorik hereingeholt, Mechthild soll bruchlos den heilsgeschichtlichen Sinn im sinnlichen Bild schauen. Otto Langer hat von „spiritueller Sinnlichkeit“ gesprochen.38 Der Widerspruch zwischen personaler Erfahrung und der Ratio als heilsgeschichtlicher Bedeutung ist aufgehoben. Selbstverständlich nur für den Augenblick der Unio. Die Verschmelzung ist nicht zu halten. Die Trennung, der Verlust sind vorprogrammiert; das ist der Preis für den Augenblick der Überwindung des Widerspruchs. Der Weg endet im Absturz, der aber bejaht wird, bejaht bis zur Selbstvernichtung, bis zum Zu-Nichts-Werden. Das ist der Gegenpol zur höchsten Höhe. Aber das Höchste und das Tiefste sind eins. 37
Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela Vollmann-Profe (Bibliothek des Mittelalters 19), Frankfurt a. M. 2003, II,25, S. 132,27–134,2. 38 Otto Langer, „Die übersinnlichen Sinne“, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, hg. v. Klaus Ridder u. Otto Langer (Körper, Zeichen, Kultur 11), Berlin 2002, S. 175– 192, hier S. 188. Langer expliziert dies so: „Die Sinnlichkeit wird intelligent und der Intellekt sinnlich“ (S. 186).
2. Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozeß
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Nirgendwo in der von mir überblickten Geschichte der Ratio wird das Problem der Sinnerfahrung im Medium der Sprache, in der Narratio und ihrem Nachvollzug dermaßen auf die Spitze getrieben. Die sonst überall auftretenden Aporien werden im Liebesakt gegenstandslos, da er die Aufhebung des Widerspruchs zwischen der „Unbegriffenheit“, wie Susanne Köbele dies nannte,39 und der Begrifflichkeit in sich schließt. Das ist nicht etwa eine Rückkehr zur frühmittelalterlichen symbolischen Präsenz Gottes, sondern es handelt sich um eine Gegenwart Gottes, die durch die Brechung, die die Ratio mit sich brachte, hindurchgegangen ist. Es gibt kein repräsentatives Mittleres als Vermittlung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, sondern es geht um einen visionären narrativ vermittelten Erfahrungsprozeß, dessen Ziel in der sinnlichsten Form mit ihrer Ratio als absoluter Bedeutung eins ist.
VIII Auch von hier aus nochmals ein Blick auf die historisch nächste Position: auf Eckhart. Eckhart wendet sich nicht nur gegen das Aufstiegsmodell als Weg zur Gotteserfahrung, sondern er schert auch aus der Bild-Begriffs-Problematik aus. Alle Erfahrung bleibt in der Negation ihrer selbst stecken. Bild und Begriff müssen zurückgelassen werden, damit jene Leere eintritt, in der es zur Gottesgeburt in der Seele kommen kann.40 Und das führt zu jenem Bruch, zu dem Mechthild im Abstieg nach der Verschmelzung von Bild und Bedeutung in der narrativen Erfahrung gelangt ist; der Schlüsselbegriff heißt wiederum: Zu-Nichts-Werden. Eckhart hat ihn aus der Frauenmystik übernommen, dies jedoch – und das ist der fundamentale Unterschied – als Grundposition, nicht als Ergebnis eines Prozesses. Denn die Erfahrung wird von ihm ja unterschlagen zugunsten des Sprungs ins Ganz-Andere des Seelengrundes. Eckhart hat bekanntlich Anstoß erregt, seine zentralen Thesen wurden verurteilt. Aber der Gedanke eines absoluten Bruchs war damit in der Welt, und der Bruch war im Grunde nicht mehr zu heilen. 150 Jahre später erscheint er bei dem Eckhartkenner Cusanus in der Form einer unendlichen Annäherung an Gott, die ihr Ziel nie zu erreichen vermag.41 Doch nicht nur waren Ratio und Gotteserfahrung nicht mehr zusammenzubringen, sondern auch das Verhältnis von Ratio und Faktizität geriet in die Krise. Mit Ockham kommt die Eigengesetzlichkeit des Denkens, die Eigenständigkeit des Begriffsapparates in einem bisher nicht gekannten Maß zum Bewußtsein. Das führt zu einer Relativierung der Erkenntnismöglichkeiten, die über das hinausgeht, was die Vieldeutigkeit des exemplarischen Denkens mit sich gebracht hatte: bei Boccaccio verbindet sich beides – er hat sich intensiv mit Ockham beschäftigt.42 39
Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen, Basel 1993. 40 Vgl. dazu meine Studie „Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 521–537. 41 Cusanus hat dies anhand seines ›Ludus globi‹-Dialogs veranschaulicht; vgl. meine Studie „Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino: der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 538–556, hier S. 551f. 42 Kurt Flasch hat dies nachgewiesen: „Die Pest, die Philosophie, die Poesie. Versuch, das De-
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So zeigt sich denn, daß die Ratio philosophisch und literarisch in immer wieder neue Konstellationen eingesetzt wird, dabei ein immer wieder anderes Gesicht zeigt und entsprechend immer wieder anders an ihre eigene Grenze stößt. Das zwingt dazu, statt mit Längsschnitten und fraglichen Teleologien, bevorzugt mit Querschnitten zu arbeiten, damit die wechselnden Positionen unverzerrt vor Augen treten können. Es gibt keine Rationalisierung als kulturgeschichtliche Generallinie, sondern nur ein Wechselspiel von rationalen Zugriffen unter sich immer wieder verändernden Aspekten. Man könnte höchstens sagen, daß sich beim Ausspekulieren der Oppositionen die Widersprüche zusehends härter artikulieren und die Abgründe immer tiefer werden. Dies insbesondere dann, wenn der von Anfang an umstrittene Gedanke einer Vermittlung über Sprache und Bild diskreditiert und preisgegeben wird. Je unreflektierter die Ratio leuchtet, desto dunkler sind die Schatten, die sie wirft. Die Nachtseiten der Aufklärung sind der Paradefall dafür.
cameron neu zu lesen“, in: Literatur, Artes und Philosophie, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 7), Tübingen 1992, S. 63–84, hier S. 82–84.
3. Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts
Die grundsätzliche Frage, die hinter dem folgenden Beitrag steht, ist diese: Wie soll die historische Semantik mit der Möglichkeit umgehen, daß es Sachen gibt, für die die Wörter fehlen, oder konkret im Zusammenhang meines Themas gefragt: Wie soll sie mit der Möglichkeit umgehen, daß es literarische Phänomene gibt, für die zeitgenössisch keine distinkten Begriffe gebildet worden sind? Ist etwa damit zu rechnen, daß es im Mittelalter ein Bewußtsein bestimmter poetischer Gattungen gab, ohne daß Termini für sie zur Verfügung standen? Ist damit zu rechnen, daß es eine Dichtungstheorie für die vulgärsprachliche Literatur gab, ohne daß man sie über ein adäquates begriffliches Vokabular hätte fassen können? Ist mit einer mittelalterlichen Ästhetik zu rechnen, obschon ein entsprechendes Begriffssystem erst Jahrhunderte später entwickelt worden ist? Wo ein Begriff fehlt, da fehlt auch die betreffende Sache: ist das ein gültiges Axiom der historischen Semantik oder ist das ein theoretischer Kurzschluß? Die meisten werden zögern, ein solches Axiom zu akzeptieren, und geraten in der Praxis doch immer wieder in seine Falle. Die Diskussion um den Begriff ,maere‘ zeigt es ebenso wie die Diskussion um den Begriff ,Fiktion‘. Wenn es keinen Begriff für das gab, was Hanns Fischer als Märe definiert hat, ist dann seine Definition ein bloßes Konstrukt, das kein Fundament in der Sache hat?1 Aber ist es nicht denkbar – so Klaus Grubmüller2 –, daß es zwar gewiß nicht Gattungen unabhängig vom Bewußtsein ihrer Benutzer, aber doch unabhängig von der Formulierung dieses Bewußtseins gegeben hat? Es gab z. B. keinen spezifischen Terminus für den von Chre´tien de Troyes geschaffenen neuen Roman. Ist die Folgerung die, daß man sich der Eigenart dieser Neuerung, ihres Strukturentwurfs im Freiraum der Fiktion, nicht bewußt war? Oder: Es gab keine Theorie zur schöpferischen Einbildungskraft. Kein mittelalterlicher Romanautor sagt, daß er seine Erzählung frei erfunden habe. Hängt das damit zusammen, daß ein Begriff für die fiktionale Erzählung fehlte? Aber waren deshalb Dichtungen, die unzweifelhaft doch frei erfunden worden sind, für den mittelalterlichen Hörer oder Leser keine Fiktionen? Man wird schwerlich annehmen können, daß das, was z. B. von den Rittern der Tafelrunde erzählt 1
Zur Diskussion um Fischers Märenbegriff Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München 1985, S. 3–28. – Die Unfestigkeit der mhd. poetologischen Termini demonstriert eindrucksvoll die Materialsammlung von Klaus Düwel, Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050–1250) (Palaestra 277), Göttingen 1983. 2 „Gattungskonstitution im Mittelalter“, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hg. v. Nigel F. Palmer u. Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 199.
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worden ist, schlicht als historische Wahrheit verstanden werden sollte, jedenfalls haben gerade die hervorragendsten Romanschriftsteller Strategien entwickelt, um den fiktionalen Charakter ihrer Werke zum Bewußtsein zu bringen.3 Aber das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion bleibt ebenso in der Schwebe, wie die Ansätze zu einem Gattungsbewußtsein sich beim konkreten Zugriff verflüchtigen. Muß man sich mit dieser semantischen Unschärfe zufriedengeben? Man wird nicht in Abrede stellen wollen, daß jedenfalls das Faktum einer mangelhaften oder vagen Begrifflichkeit in einem bestimmten Bereich eine Erklärung verlangt, und dies, wenn möglich, über eine Einbettung der Begriffsgeschichte in die Kulturgeschichte, genauer: in die Diskursgeschichte der über die Begriffe evozierten Themen.4 Doch kann man dies auch dort fordern, wo der Mangel so weit geht, daß er auch einen solchen Zugriff so gut wie unmöglich zu machen scheint? Zugespitzt formuliert: Kann es sinnvoll sein, selbst dort nach einer Diskursgeschichte zu fragen, wo eine Begriffsgeschichte, die auf einer solchen Diskursgeschichte aufruhen könnte, praktisch ausfällt? Sinnvoll dürfte ein solcher Versuch nur sein, wenn man auch die Möglichkeit in Betracht zieht, daß eine Diskursgeschichte darauf zielen kann, eine Begriffsgeschichte, die aus ihr hätte erwachsen können, zu verhindern. Somit meine These: Hinter der fehlenden Begriffsgeschichte zum thematischen Komplex: ,Fiktion‘, ,freie literarische Erfindung‘, ,schöpferische Phantasie‘ steht eine Diskursgeschichte, die die Entwicklung einer entsprechenden Begrifflichkeit blockiert hat; ja, sieht man genauer zu, so zeigt sich, daß man es nicht mit einem, sondern mit zwei Diskursen zu tun hat, die beide, was die erwähnte Blockade betrifft, im selben Sinne wirkten. Auf der einen Seite steht der theologische Diskurs zum Thema ,Kreativität‘ und auf der andern der philosophisch-poetologische Diskurs zum Thema ,Wahrheit und Lüge‘.
1. Der theologische Diskurs Die Textreihe, in der in der christlichen Antike und im Mittelalter der Kreativitätsdiskurs durchgespielt wurde, basiert auf zwei biblischen Theoremen, zum einen auf der göttlichen creatio ex nihilo der ›Genesis‹ und zum andern auf dem nihil sub sole novum des ›Predigers‹5. Aus der biblischen Schöpfungsgeschichte ist gefolgert worden,6 daß allein Gott es vermag, aus dem Nichts zu schaffen, der Begriff creare also nur seinem Tun angemessen ist:7 solus creator est deus, sagt Augustinus in ›De trinitate‹.8 Und 3
Siehe zur Debatte um Fiktionskonzepte in der mittelalterlichen Literatur meine Studie „Die Entdeckung der Fiktionalität“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 128–144. 4 Klaus Grubmüller, „Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nıˆt und haz“, in: Codierung von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. v. C. Stephen Jaeger u. Ingrid Kasten (Trends in Medieval Philology 1), Berlin, New York 2003, S. 47–69. 5 Eccl 1,10: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ 6 Die These von der ,Schöpfung aus dem Nichts‘ wird aus der ›Genesis‹ (Gen 1,1) abgeleitet, siehe Joseph Ratzinger, Art. ,Schöpfung‘, in: Lexikon f. Theologie u. Kirche 9 (21964), Sp. 460–466, hier Sp. 460; Hubert Junker, Art. ,Schöpfungsbericht‘, ebd., Sp. 466–470, hier Sp. 468. 7 Zur Geschichte dieses Theorems Euge`ne N. Tigerstedt, „The Poet as Creator: Origins of a
3. Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst
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Thomas von Aquin formuliert dasselbe negativ: relinquitur quod nulla creatura possit creare.9 Der Mensch kann nur aus etwas Vorgegebenem etwas herstellen, er ist immer nur factor, niemals creator ex nihilo. Auch der Künstler, der Dichter ist im Prinzip nur ein höherer Handwerker: artifex wird er bei Galfredus de Vinosalvo in seiner ›Poetria nova‹ genannt.10 Und dieses Verdikt ist von hartnäckiger Persistenz über die Jahrhunderte hin. Noch Nicolaus Cusanus, der immerhin den Menschen als secundus deus bezeichnet,11 gesteht dem menschlichen Geist nur ein abbildhaftes schöpferisches Entwerfen zu. Erstmals scheint Cristoforo Landino dezidiert mit dem Tabu gebrochen zu haben.12 Menschliche Kreativität im Sinne freier schöpferischer Erfindung ist also bis weit ins 15. Jahrhundert hinein aufgrund des Theorems von der göttlichen Schöpfung ex nihilo eine undenkbare Vorstellung. Diese Blockade wird weiterhin gestützt durch die erwähnte ›Prediger‹-Stelle: Es kann sub sole, d. h. in der natürlichen Welt, nichts Neues geben.13 Die Schöpfung ist im Akt der göttlichen creatio abgeschlossen worden. Nur einmal hat Gott selbst sie durchbrochen, in der Inkarnation; sie ist das eminent Neue, das semper novum, mit dem sich nichts vergleichen läßt und in das man sich, um ein im eminenten Sinn neuer Mensch zu werden, zu stellen hat.14 Wer hingegen von sich aus behauptet, etwas Neues zu schaffen, maßt sich göttliche Fähigkeiten an, und wer dies tatsächlich zuwege bringt, der muß sich widergöttlicher, dämonischer Kräfte bedient haben; er ist ein Teufelsbündler. Auf geistigem Gebiet ein Neuerer zu sein, heißt, daß man es mit einem Häretiker zu tun hat. Und wenn es tatsächlich zu etwas Neuem kommt, das man nicht leugnen kann, wie bei der Erfindung des Buchdrucks, so löst diese schwarze Kunst apokalyptische Ängste aus.15 Das Neue ist tabu oder teuflisch; die Idee der schöpferischen Erfindung, der poetischen Einbildungskraft ist auch von daher blokkiert. Metaphor“, Comparative Literature Studies 5 (1968), S. 455–488, hier S. 468; Thomas Cramer, „Solus Creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum“, in: Literatur und Kosmos. Innen- und Außenwelten in der deutschen Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, hg. v. Gerhild Scholz Williams u. Lynne Tatlock (Daphnis 15, H. 2/3), Amsterdam 1986, S. 261–276, hier S. 261–263; meine Studie „Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino. Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 538–556. 8 Sancti Aurelii Augustini De trinitate libri XV, hg. v. W. J. Mountain u. F. Glorie (CCSL 50), Turnhout 1968, lib. III, VIII,3: „der alleinige Schöpfer ist Gott.“ 9 S. Thomæ Aquinatis Summa theologica, hg. v. Charles Rene´ Billuart u. Laurentius de Rubeis, Bd. 1, Turin 1932, pars I, quaest. 45, art. 5, ad 3: „es bleibt, daß keine Kreatur erschaffen kann.“ 10 Franz Josef Worstbrock, „Wiedererzählen und Übersetzen“, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 128–142, hier S. 137. 11 Haug [Anm. 7], S. 547f. 12 Tigerstedt [Anm. 7], S. 472. 13 Grundlegend Dieter Kartschoke, „Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. 1,10“, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, hg. v. Christoph Gerhardt, Nigel F. Palmer, Burghart Wachinger, Tübingen 1985, S. 175–188. 14 2 Kor 5,17. 15 Kartschoke [Anm. 13], S. 186–188.
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Hinzu kommt eine entsprechende Sinnbindung. Mit der Schöpfung und der Inkarnation ist die Wahrheit festgelegt. Es gibt keine neuen Wahrheiten. Die Darstellung der Welt und der Geschichte im Wort kann nur das Ziel haben, die vorgegebene Wahrheit aufzudecken, d. h. die Bücher der Heilsgeschichte und der Natur nachzuerzählen und zu deuten, was jedoch, da das menschliche Verstehen verdunkelt ist, der göttlichen Inspiration bedarf. Ein imaginärer Weltentwurf mit einem eigenständigen Sinnpotential ist theoretisch ausgeschlossen.
2. Der philosophisch-poetologische Diskurs Es gibt bekanntlich seit Platon eine Debatte über die Legitimität der poetischen Erfindung. Wenn die Dichtung, wie es in der ›Politeia‹ heißt, nur der Schatten jenes Schattens ist, den diese Welt gegenüber dem Reich der Ideen darstellt, dann ist sie doppelt wertlos. Oder brüsk formuliert: Die Dichter lügen.16 Aristoteles hat dies abgeschwächt, indem er die Kategorie des Wahrscheinlichen einführte. Er argumentierte, daß etwas plausibel Erfundenes möglicherweise überzeugender sein könne als das faktisch Wahre.17 Damit hat er einer poetologischen Dreigliederung Vorschub geleistet, die dann, in Rom formuliert, fortan den Diskurs bestimmen sollte, jener Dreigliederung, die zwischen die Opposition von Wahrheit und Lüge eine dritte Möglichkeit einschob: die Erfindung, die doch Wahrheit zu vermitteln imstande ist. Prägend für dieses Konzept waren die ›Rhetorica ad Herennium‹ und Cicero.18 An das Mittelalter weitergegeben wurde sie vor allem durch Isidor von Sevilla. Der kritische und immer wieder umstrittene Begriff zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen historia und fabula, heißt argumentum. Seine Bedeutung schwankt; doch geht es immer um die relative Rechtfertigung von dichterischen Erfindungen, seien es nun Fabeln, über die eine Lehre veranschaulicht werden konnte, oder seien es Einkleidungen philosophischer Konzepte, integumenta. Ich brauche die komplexe Geschichte dieser poetologischen Dreigliederung nicht im einzelnen aufzufächern, Peter von Moos und Fritz Peter Knapp haben dies zureichend getan.19 Entscheidend für meine Überlegungen ist, daß auch unter den Voraussetzungen dieses Diskurses eine Dichtung von eigenem Recht nicht zugelassen ist. An sich wahr ist nur die historia. Erfindungen unter dem Aspekt des argumentum sind zwar erlaubt, aber sie stehen im Dienst vorgegebener Wahrheiten. fabulae im Sinne dichterischer Lügen sind verwerflich; sie können bei liberaleren Denkern bestenfalls als entspannende Unterhaltung einen eingeschränkten Freiraum beanspruchen.20 Und das bleibt nicht auf einer 16
Vgl. Platon, Politeia, X, 595a–608b; vgl. Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 81–86. 17 Ebd., S. 22–28. 18 Explizite griechische Vorläufer scheint es nicht zu geben; vgl. Martin Hose, „Fiktionalität und Lüge. Über den Unterschied zwischen römischer und griechischer Terminologie“, Poetica 28 (1996), S. 257–274. 19 Peter von Moos, „Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan“, PBB (Tübingen) 98 (1976), S. 93–130; Fritz Peter Knapp, „Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter“, in: Ders., Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, S. 9–64. 20 Joachim Suchomski, Delectatio und Utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (Bibliotheca Germanica 18), Bern, München 1975, S. 67–73.
3. Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst
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theoretischen Metaebene, vielmehr zieht sich der Lügenvorwurf gegenüber eigenständiger, d. h. weltlicher Dichtung bekanntlich penetrant durch die mittelalterlichen Jahrhunderte. Dichtung, die sich weder als historische Wahrheit legitimieren kann noch sich als Einkleidung einer Wahrheit präsentiert, ist inakzeptabel. ,Dichterische Erfindung‘ heißt im Mittelhochdeutschen lüge, auch da, wo man ihr ein relatives Recht zugesteht: daz waˆr man mit lüge kleit, sagt Thomasin von Zerclaere über die seiner Meinung nach pädagogisch doch nützlichen aˆventiure-Geschichten.21 Und so ist es denn auch bezeichnend, daß es den Begriff ,erfinden‘ in unserem Sinne im Mittelhochdeutschen gar nicht gibt: ervinden ist noch bis ins 17. Jahrhundert hinein weitgehend synonym mit vinden. Und wenn etwas in unserem Sinne ,erfunden‘ wird, dann sagt man, daß man es vindet, und bringt damit zum Ausdruck, daß man nur auf etwas stößt, was gewissermaßen schon vorhanden ist. Dem entspricht der poetologische Gebrauch: vindung übersetzt inventio, meint also das erste der fünf officia oratoris: das Heranholen und die rhetorische Präsentation eines Stoffes.22 In diesem Sinn schon bei Otfrid von Weißenburg.23 Und so kann vinden schließlich soviel wie ,dichten‘ heißen: Tristan er machete unde vant / an iegelichem seitspil / leiche und guoter noten vil.24 Die Doppelformel machen unde vinden zeigt noch deutlich die dem ersten Diskurs verpflichtete handwerkliche Auffassung des Vorgangs. Altprovenzalisch entspricht trobar mit seiner rein formalen Bedeutung.25 So bilden denn der theologische Diskurs zum Schöpferischen, der dem Menschen alles Kreative abspricht und Innovationen verdammt, und der philosophisch-poetologische Diskurs, der von der Dichotomie von Wahrheit und Lüge geprägt ist, eine doppelte Barriere gegenüber der Idee einer Dichtung von eigenem Recht und eigenem Sinn. Und doch gibt es sie selbstverständlich, immer und überall, denn bei der kreativen Phantasie, bei der Möglichkeit, im Geiste Neues zu schaffen und fiktive Sinnentwürfe durchzuspielen, dürfte es sich um ein anthropologisches Universale handeln. Die Frage, 21
Thomasin von Zirklaria, Der wälsche Gast, hg. v. Heinrich Rückert (Deutsche Neudrucke: Texte des Mittelalters), Quedlinburg, Leipzig 1852, Nachdruck Berlin 1965: vv. 1118–1126: die aˆventiure sint gekleit / dicke mit lüge harte schoˆne: / diu lüge ist ir gezierde kroˆne. / ich schilt die aˆventiure niht, / swie uns ze liegen geschiht / von der aˆventiure raˆt, / wan si bezeichenunge haˆt / der zuht unde der waˆrheit: / daz waˆr man mit lüge kleit. („Die Aventürengeschichten sind schön in eine Menge Lügen eingekleidet. Im Lügen erscheinen sie in ihrer höchsten Kunstfertigkeit. Ich will nicht auf die Aventürengeschichten schimpfen, obgleich sie uns der Gattung gemäß in ihr Lügen hineinziehen, denn sie bieten doch Bilder für moralisches Verhalten und für die Wahrheit: Wahres wird in Lüge eingekleidet.“) – Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 232ff. 22 Armin Sieber, Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit (Saecula Spiritalia 32), Baden-Baden 1996, S. 35f. inventio/vindung wird bei Notker als der wirkungsmächtigste Teil der Rhetorik bezeichnet und verstanden als Systematisierung der Materia, ebd. S. 67f.; Joachim Knape u. Armin Sieber, Rhetorik-Vokabular (Gratia 34), Wiesbaden 1998, S. 59: inventio = „Stoffindung und gedankliche Vorbereitung der Rede“. 23 Haug, Literaturtheorie, S. 34f. 24 Tristan, hg. Ranke, vv. 19196–19198: „Tristan machte/komponierte und erfand/dichtete für alle Saiteninstrumente Lieder und viele klangreiche Melodien“. 25 Das hat schon Friedrich Diez festgehalten: Die Poesie der Troubadours. Nach gedruckten und handschriftlichen Werken derselben dargestellt, 2., verm. Aufl. v. Karl Bartsch, Leipzig 1883, S. 30–35.
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die sich damit stellt, ist diese: Wie verhalten sich die Dichter theoretisch und praktisch gegenüber der durch die beiden Diskurse aufgerichteten Barriere? Die Antwort lautet: Man fälscht, man lügt, man verschleiert. Peter Landau hat gezeigt, daß entscheidende Fortschritte im mittelalterlichen Rechtswesen über Fälschungen zustande gekommen sind, ja daß sie, da Innovationen eben tabuisiert waren, anders gar nicht möglich gewesen wären.26 In der Dichtung verfährt man im Prinzip analog. Man nimmt so gut wie die gesamte Begrifflichkeit der beiden blockierenden Diskurse auf, d. h., man akzeptiert sie, aber nur, um sie dann mehr oder weniger offen zu unterlaufen oder umzudeuten. Das heißt: während im Rechtswesen der Betrug nicht aufgedeckt werden darf, wenn sein Ziel, die Neuerung, erreicht werden soll, haben die Dichter die Möglichkeit, mit ihren Verfälschungen zu spielen und damit die Blockaden, durch die diese Verfälschungen erzwungen worden sind, zu überwinden, also letztlich doch das zu vermitteln, was nicht sein darf. Das ist nun konkret zu zeigen. Ich gehe die Begrifflichkeit der beiden Diskurse unter diesem Blickwinkel durch. Es sind fünf Punkte zu erörtern: a) Die blockierte Innovation; b) Die verbotene Kreativität; c) Die Bindung der Wahrheit an das Faktische; d) Die der inspirierten Exegese vorbehaltene Sinnkonstitution; e) Die lizenzierte Erfindung im Sinne des argumentum. a) Die blockierte Innovation Es darf nichts Neues geben. Deshalb die stereotype Versicherung der Dichter, sie folgten nur getreu ihren Quellen, man habe nichts weggelassen, nichts hinzugefügt, nichts verändert.27 Wo wir dies kontrollieren können: bei Benoıˆt de Sainte-Maure, beim ›Rolandslied‹-Dichter Konrad, bei Heinrich von Veldeke u. a., stellt man fest, daß entgegen der Behauptung, daß nur die Vorlagen wiedergegeben würden, massiv in sie eingegriffen worden ist. Wird hier also grob gefälscht, und wenn ja, vielleicht im Sinne einer verschleierten Innovation? Franz Josef Worstbrock hat erklärt, das Bekenntnis zur Quelle beziehe sich in solchen Fällen auf die materia; die Abweichungen bewegten sich im Rahmen des rhetorisch erlaubten, ja geforderten Artificium, der Dilatatio, der Abbreviatio und der verschiedenen Formen des Ornatus. Und es gebe auch einen poetologischen Terminus dafür: afrz. reconter, mhd. erniuwen. „Wiedererzählen“, so sagt er, könne als „die fundamentale allgemeine Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik“ verstanden werden, als jene Art des Umgangs mit der literarischen Tradition, die vor jener Grenze gelegen habe, hinter der dann „methodische Übersetzung einerseits und genuine Fiktionalität anderseits möglich“ geworden seien.28 Vor der methodischen Übersetzung und vor der genuinen Fiktionalität: Beides ist zu relativieren. Mit dem deutschen ›Prosa-Lancelot‹ haben wir schon im frühen 13. Jahrhundert eine Übersetzung ohne jede rhetorische Dilatatio. Und was die Einschränkung des Begriffs der Wiedererzählung auf 26
„Gefälschtes Recht in den Rechtssammlungen bis Gratian“, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19. September 1986 (MGH, Schriften 33,II), Bd. 2, Hannover 1988, S. 11–49. 27 Eine Sammlung von Quellenberufungen bietet Carl Lofmark, The Authority of the Source in Middle High German Narrative Poetry (Bithell Series of Dissertations 5), London 1981. 28 Worstbrock [Anm. 10]. Das Zitat: S. 130.
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den Spielraum des Artificium betrifft, so ist damit der tiefergreifende, ja subversive Charakter des Verfahrens verkannt. erniuwen bewegt sich nicht nur im rhetorischen Spielraum, erniuwen kann auch renovatio heißen, und man tritt damit ein in die Debatte um Alt und Neu. Die Lösung des Problems erfolgt dadurch, daß man das Neue über das Alte legitimiert. Dies in dem Sinne, daß das Alte neu werden, d. h. daß das Ursprüngliche wiederhergestellt werden soll. Unter diesem Aspekt greift literarisches erniuwen also (theoretisch) vor die Vorlage zurück. Die Eingriffe rechtfertigen sich durch eine Neuinterpretation im Blick auf einen der unmittelbaren Quelle vorausliegenden oder in ihr bislang verborgenen Sinn. Der Begriff erniuwen unterläuft damit die Blokkade der Innovation. Ob nun die Dichter dabei tatsächlich glaubten, sie stellten mit der Umdichtung und Uminterpretation ihrer Vorlage deren eigentlichen Sinn wieder her oder heraus oder ob sie mit dem Begriff ihre Innovation bewußt verschleierten – das ist nur von Fall zu Fall zu entscheiden, wenn es überhaupt möglich ist. Ein aufschlußreiches Beispiel für diesen angeblichen Rückgang nicht auf die tatsächliche Quelle, sondern auf deren Basis bietet Gottfried von Straßburg, und dies in expliziter Erörterung. Er stellt fest, daß Thomas von England, als der aventiure meister (v. 151), von Tristan die rihte und die warheit gesagt (v. 156), also: ,genau und wahrhaftig berichtet‘ habe, und so will er denn in siner rihte (v. 161), ,in dessen rechtem Sinn‘, seine Erzählung verfassen; doch um dies tun zu können, habe er nach den lateinischen und französischen Quellen der Tristan-Geschichte gesucht und sei auch fündig geworden (vv. 163ff.). Gottfried gebraucht den Terminus erniuwen nicht, doch sein angebliches Verfahren beschreibt treffend, was er beinhaltet: die Legitimation der eigenen Fassung in ihrer Abweichung von der tatsächlichen Quelle durch den angeblichen Rückgriff auf eine ihr vorausliegende, ursprünglichere Version. Und seit der Entdeckung des Fragments von Carlisle wissen wir ja, wie neu sein Konzept gegenüber dem des Thomas war und wie sehr er es deshalb als nötig empfunden haben dürfte, sich durch die Vorspiegelung einer vor-Thomas’schen Überlieferung abzusichern.29 Aber hat Gottfried erwartet, daß man ihm seine Archivreise nach England wirklich glaubt? Oder sollte der Hörer/Leser sein Quellenspiel durchschauen und es als Hinweis auf die Freiheit seiner Erfindung verstehen? Es ergibt sich jedenfalls: Je mehr sich ein neues Konzept Geltung verschafft, desto deutlicher erscheint die Quellenberufung als eine poetologische List; das erniuwen der Quelle erweist sich als ein Verschleierungsbegriff für eine Innovation, die keine sein darf. b) Die verbotene Kreativität Obschon eine freie, schöpferische Erfindung von Neuem im Mittelalter prinzipiell tabuisiert ist, gibt es sie, wie gesagt, faktisch doch, und sie ist dort am offenkundigsten, wo für ein Werk oder für Werkteile keine Vorlagen namhaft zu machen sind. Es ist nicht unverständlich, daß man in solchen Fällen dem Vorwurf der Lüge dadurch zu entgehen 29
Siehe meine Studie „Gottfried von Straßburg und das ›Tristran‹-Fragment von Carlisle“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 239–255.
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suchte, daß man eine Quelle fingierte. Der Paradefall ist bekanntlich Kyot,30 über den Wolfram seine Abweichungen gegenüber Chre´tien explizit rechtfertigt, und es ist dies der Paradefall auch für die Möglichkeit, die fiktive Quelle zugleich auszuhebeln und sie in das zu verwandeln, was sie tatsächlich ist: in den freien Geist der Erzählung. Mit dem Diktum: disiu aˆventiure / vert aˆne der buoche stiure,31 diskreditiert Wolfram vorweg schon das Buch Kyots und ebenso seine Ankündigung zu Beginn, daß er ein mære niuwen (v. 4,9) wolle. Der Widerspruch zwischen der Verleugnung einer schriftlichen Vorlage und der Berufung auf eine solche läßt die Quellenfiktion platzen und macht damit deutlich, daß die aˆventiure ihre Legitimation aus sich selbst bezieht. Also gerade über das Spiel mit der fingierten Quelle kann man besonders nachdrücklich auf die erzählerische Autonomie gestoßen werden, die es eigentlich nicht geben darf. Als Quelle verkleidet, als personifizierte Aventiure, klopft die schöpferische Einbildungskraft zu Beginn des 9. ›Parzival‹-Buches an des Dichters Türe. Diese frou aˆventiure ist nur eine weitere Maske der poetischen Autonomie.32 Und wenn Wolfram dann seinen ›Parzival‹ zu Beginn des ›Willehalm‹ mit dem Hinweis darauf verteidigt, daß er nur den Weisungen der aˆventiure gefolgt sei,33 dann mag das einmal mehr Quellentreue insinuieren – was aber kein Kenner ernstnehmen konnte und kann –, und so wird man diese scheinbare Absicherung im Rückblick auf das 9. ›Parzival‹-Buch wiederum als listige Verschleierung der eigenen kreativen Kunst verstehen müssen. c) Die Bindung der Wahrheit an das Faktische Wahr im Sinne des philosophisch-poetologischen Diskurses ist allein die historia. Die Wahrheitsbeteuerungen der höfischen Dichter sind Legion. Es ist oft schwer zu unterscheiden, was bloße Floskel ist, was dezidiert Historizität meint und was in Verbindung damit oder quer dazu eine Wahrheit auf der Sinnebene anzielt. Alle Artusromane unterstellen, zumindest implizit, daß Artus eine geschichtliche Figur war. Für einen Legendenheiligen wie Willehalm versteht sich das von selbst. Und wenn Gottfried sagt, daß Tristan und Isold durch ihren Tod Brot für die Lebenden sein sollen (vv. 230ff.), so setzt dies voraus, daß sie gelebt haben. Die unterstellte Historizität sichert die Romane – parallel zu den Quellenberufungen – gegen den Verdacht poetischer Erfindung ab. Man arbeitet also mit dem Wahrheitsanspruch des Faktischen, um dieses dann aber durch die Erzählung stillschweigend zu desavouieren oder es auch mit Amüsement mehr oder weniger offen zu überspielen. Am berühmtesten ist Wolframs Kapriole im 5. Buch des ›Parzival‹ (vv. 238,8ff.), wo es um das Speisewunder auf der 30
Siehe Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994, Bd. 2, S. 651, Komm. zu 416,20–30. 31 Ebd., vv. 115,29f.: „Diese Erzählung stützt sich nicht auf Bücherwissen.“ 32 Dazu ausführlicher meine Studie „Autorität und fiktionale Freiheit“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 115–127, hier S. 122f. 33 Siehe Wolfram von Eschenbach, Willehalm, hg., übers. u. komm. v. Joachim Heinzle (Bibliothek des Mittelalters 9), Frankfurt a. M. 1991, vv. 4,20–22: ich, Wolfram von Eschenbach / swaz ich von Parzivaˆl gesprach / des sıˆn aˆventiure mich wıˆste („Ich, Wolfram von Eschenbach, was ich von Parzival erzählte, wie es die Quelle mir befahl . . . “ [J. H.]); dazu Heinzles Kommentar, S. 825, zu 4,21.
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Gralsburg geht: Wolfram unterwirft die Wahrheit dessen, was er erzählt, dem Eid seiner Zuhörer, so daß diese eben mitlügen würden, wenn er löge. Eine Lügengemeinschaft also, die natürlich scherzhaft für ein Fiktionalitätsbewußtsein auf beiden Seiten steht. Die Strategie lautet also: Absicherung durch den mehr oder weniger expliziten Anspruch auf Geschichtlichkeit, aber sozusagen nur im Vorfeld vor dem Entwurf einer literarischen Wahrheit, die das bloß Faktische dann zurücklassen kann. d) Die der inspirierten Exegese vorbehaltene Sinnkonstitution Da die Wahrheit immer schon vorgegeben ist, kann Sinnkonstitution nur heißen, daß man diese Wahrheit erfaßt und sich in sie stellt. Ist sie verdeckt – so in der Welt und in der Geschichte –, bedarf es der Erleuchtung, um sie zu sehen und sichtbar zu machen. Noch einmal Konrad: er richtet im Prolog seines ›Rolandsliedes‹ ein Gebet an Gott, er möge ihm seine heilege urkunde in den Mund legen, so daß er die luge virmıˆde, / die waˆrheit scrıˆbe.34 Also eine Bitte um Inspiration bei der Übernahme der ›Chanson de Roland‹ ins Deutsche. Und sie wird geäußert von dem Mann, der behauptet, er habe seiner Quelle gegenüber nicht das Geringste verändert. Wozu braucht er bei der angeblich bloßen Übersetzung der Vorlage göttliche Hilfe? Man könnte ausweichend antworten und sagen, die Invocatio Dei sei ein Prologtopos, der sich traditionell einstelle, er habe keinerlei Gewicht.35 Wenn man jedoch, wie erwähnt, feststellen muß, daß Konrad seine Vorlage gravierend umgestaltet hat, dann könnte die Bitte um Inspiration im Blick darauf doch wohl verständlich werden, d. h., sie könnte sich auf das erniuwen als Akt der Sinnfindung und Sinngestaltung beziehen. Die Invocatio Dei schlösse damit das durch sie eingeführte Werk an ein Verfahren an, das die in die Wirklichkeit verborgen eingeschriebene Wahrheit aufdeckt und dies in der Umsetzung der Vorlage zur Geltung bringt. Die Erneuerung als Neudeutung bietet nicht Neues, sondern nur einen Durchblick auf die ewige Wahrheit – die ewige Wahrheit auch in der Weltgeschichte. Unter diesem Aspekt wird den Prinzipien des ersten Diskurses auch mit dem Dichtergebet Rechnung getragen. Es kann jedoch auch hier wiederum zu signifikanten Verschiebungen, ja zu provozierenden Umbrüchen kommen. Dies etwa dann, wenn man davon ausgeht, daß die Inspiration nicht mehr direkt bei der sinngebenden Umformulierung eines Stoffes, sondern über eine relativ eigenständige schöpferische Kraft wirkt. So Wolfram in seinem ›Willehalm‹-Prolog. Die Grundlage für diese Wendung ist die Vorstellung vom Wirken des Heiligen Geistes in der gesamten Natur und damit auch und insbesondere im Menschen. So kann Wolfram sagen, der Heilige Geist trage auch seine poetische Kraft, und dieser fließe damit ein Wissen und Können zu, das jenseits von aller Buchgelehrsamkeit 34
Das Alexanderlied des Pfaffen Lampreht. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. v. Friedrich Maurer (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Geistliche Dichtung des Mittelalters 5), Leipzig 1940, vv. 1 u. 5–8: Schephære allir dinge (. . . ) / du sende mir ze munde / dıˆn heilege urkunde / daz ich die luge virmıˆde, / die waˆrheit scrıˆbe („Schöpfer aller Dinge, [. . . ] du, lege mir deine heilige Botschaft in den Mund, daß ich Lügen vermeide und nur die Wahrheit schreibe“). 35 Zur Invocatio Dei Haug [Anm. 32], S. 117f.; Christian Thelen, Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 18), Berlin, New York 1989.
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liege.36 Man löst sich aus der Sicherung durch die Tradition und zugleich aus der an sie gebundenen Sinnerschließung, um eine poetische Kreativität zu postulieren, die sich unmittelbar dem Geist Gottes verdankt. Die göttliche Inspiration ist damit in kühner Verschiebung in ein gottgegebenes, natürliches menschliches Vermögen umgesetzt. Auch Gottfried bittet, vorgeblich verlegen, wie er den zur Schwertleite ausgestatteten Tristan beschreiben soll, um poetische Inspiration, und er spielt dabei den antiken Musenanruf und das christliche Dichtergebet in irritierender Weise ineinander (vv. 4824ff.). Man hat viel über diese seltsame Kontamination gerätselt. Sie dürfte ironisch gemeint sein, denn es ist zu beachten – Burghart Wachinger hat darauf hingewiesen37 –, daß Gottfried hinterher sagt, er könnte zwar, in dieser Weise inspiriert, schildern, wie Vulkan Tristans Rüstung geschmiedet und Kassandra seine Kleider geschneidert habe, aber das würde nichts bringen, er würde doch so weitermachen wie vor der Inspirationsbitte, als er die Gefährten, mit denen Tristan die Schwertleite empfangen soll, beschrieben hat (vv. 4961ff.). Gottfried bedarf keiner göttlichen Inspiration mehr; ja, er desavouiert sie, indem er mit ihr die Fähigkeit verbindet, der Dichtung äußeren Glanz und wohlgefällige Glätte zu geben und sie mit gelehrtem Personal – Vulkan, Kassandra – aufzuputzen. Nicht durch die rhetorische Künstlichkeit äußerer Pracht ist Tristan aus seinen Gefährten herauszuheben, sondern durch innere Werte. Es ist ein autonomes Ethos, das Gottfrieds Dichtung trägt; aus ihm fließt die Kunst – wie schon der strophische Prolog es postuliert38 –, und darin liegt auch ihr Sinn. Sie bedarf keiner Sinnvermittlung über eine von ihr unabhängige Instanz. Die Inspirationsphantasie ist nur noch ein poetologisches Spiel. e) Die lizenzierte Erfindung im Sinne des argumentum Da der philosophisch-poetologische Diskurs die dichterische Erfindung zum Zweck der Vermittlung einer Lehre erlaubte, konnte man diese Lizenz gewissermaßen auf den Kopf stellen und freie Erfindungen durch die Unterordnung unter eine Lehre absichern. So trifft man denn immer wieder auf vorgeschobene Beispielhaftigkeit; aber man wird nicht überrascht sein, wenn man feststellt, daß sie einem durch die Erzählung dann aus der Hand geschlagen wird. Besonders markant in Hartmanns ›Gregorius‹.39 Der Prolog – ob er nun echt sei oder nicht – verspricht einen Beispielfall für die These, daß auch eine noch so schwere Sünde vergeben werden könne, wenn man sie bereue und sich rückhaltlos Gottes Gnade anvertraue. Das wird zwar, oberflächlich gesehen, durch die Erzählung gedeckt, im Grunde aber geht es ihr ja um etwas ganz anderes: nämlich um das literarische Experiment mit der Frage, ob und, wenn ja, wie es möglich ist, eine Schuld zu bewältigen, die man nicht zu verantworten hat. 17 Jahre auf einem Felsen im Meer angekettet ohne Nahrung auszuharren: das ist natürlich keine Lösung des Problems, und schon gar keine 36
Siehe Haug, Literaturtheorie, S. 184–193. „Geistliche Motive und geistliche Denkformen in Gottfrieds »Tristan«“, in: Der »Tristan« Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, hg. v. Christoph Huber u. Victor Millet, Tübingen 2002, S. 243–255, hier S. 249. 38 Siehe Haug, Literaturtheorie, S. 201–209. 39 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 134–142. 37
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beispielhafte, sondern das bringt nur das Entsetzen über das radikale Ausgeliefertsein des Menschen zum Ausdruck, der die Erfahrung der schuldlosen Schuld gemacht hat, und es ist dies eine anthropologische Erfahrung: jeder wird schuldig, gerade auch bei bestem Willen. Und so versteht es sich, daß man Lehrhaftigkeit vorgeschoben hat, um ein solches aporetisches Experiment zu rechtfertigen, auch wenn zugleich klar werden sollte, daß dieses Experiment sein Ziel nur erreicht, wenn die angebliche Lehrhaftigkeit sich ad absurdum führt. Auch den ›Iwein‹ eröffnet Hartmann mit einem Lehrsatz. Er behauptet, daß König Artus durch sein Leben der leˆre Gewißheit gegeben habe, daß demjenigen, der nach rechter güete strebe, auch saelde und eˆre zuteil werde. Und er empfiehlt dem Hörer/ Leser, dem König in seinem Verhalten nachzueifern (v. 20).40 Das scheint eine Beispielerzählung anzukündigen. Aber wiederum folgt nichts dergleichen. Nicht nur werden keine entsprechenden Taten von König Artus erzählt, sondern er erscheint im Gegenteil als eine leicht fragwürdige Figur, wenn er zu Beginn die Erzählung des Kalogrenant verschläft. Aber auch wenn man Iwein stellvertretend für Artus einsetzen wollte, würde man sich schwertun, den Lehrsatz als die Quintessenz dessen zu verstehen, was durch den Prozeß, den der Held zu durchlaufen hat, veranschaulicht werden sollte. Nun könnte es ja sein, daß Hartmann – und d. h. schon Chre´tien – sich mit diesem Diktum gar nicht auf den Artus seines Romans beziehen wollte, sondern auf jenes Artusbild, das die Historiographie vermittelte, also Galfreds von Monmouth ›Historia Regum Britanniae‹ und Waces ›Roman de Brut‹, also auf einen kämpferisch vorbildlichen König. Es ergäbe sich damit eine rahmenhafte historische Rückbindung und eine darauf aufbauende exemplarische Bedeutung. Aber das bleibt im Vorfeld und hält bestenfalls die Möglichkeit einer Legitimation durch die geschichtliche Wahrheit und eine durch sie vermittelte exemplarische Wahrheit offen. Ich erinnere aber daran, daß der Gedanke aufgegriffen worden ist: Thomasin hat, wie erwähnt, die Figuren der Heldendichtung wie die des Artusromans als pädagogische Exempel in Anspruch genommen. Und in des Pleiers ›Garel von dem Blühenden Tal‹ wird der Artusroman tatsächlich zu einem Musterbuch höfischen Verhaltens.41 Einen späten Erfolg hatte diese Unterstellung eines beispielhaften Sinns übrigens noch bei den modernen Interpreten, die nach wie vor unentwegt nach der Moral der arthurischen Romane suchen: der ›Erec‹ demonstriere, daß zu viel Sex in der Ehe schädlich sei, der ›Iwein‹, daß man tunlichst Termine einhalten solle, usw. Das wird natürlich alles nicht so plump gesagt, sondern mit gelehrtem Jargon übertüncht – ,Normendiskussion‘ nennt man das etwa –, aber wenn man ihn abträgt, stößt man auf das billige moralische Exempel.42 Die Dichter haben dem zwar Vorschub geleistet, doch hatte dies seinerzeit durchaus seinen listig-legitimierenden Sinn, indem man es zugleich darauf anlegte, das bloß Exemplarische zu unterlaufen, wenn nicht es ad absurdum zu führen:
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Detaillierter ebd., S. 119ff. Vgl. ebd., S. 271–274. 42 Vgl. meine Studie „Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram“, in diesem Bd., S. 141–156, hier S. 141–144. 41
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Ist Mabonagrin mit seinem Liebesleben im abgeschlossenen Baumgarten ein exemplarisches Spiegelbild des dem bettespil verfallenen Erec? Und wenn Erec Mabonagrin besiegt, dokumentiert er damit beispielhaft, daß er sein eigenes verligen überwunden hat? Also eine exempelhafte Sinngebung? Eine genaue Lektüre erweist dies als ein Lehrangebot, das sich in inneren Widersprüchen aufhebt.43 Mabonagrin und seine amie sind einer absoluten Liebe in einer paradiesischen Welt verpflichtet. Ihr Wille ist sein Wille und umgekehrt. Die Auswirkungen aber sind bekanntlich mörderisch. Die Liebe im Baumgarten ist vollkommen und zugleich unerträglich. Die scheinbar beispielhafte Episode der Befreiung des Paares endet in einer Aporie. Die moralische Explikation scheitert – sie soll scheitern. Der Rückgriff auf das Exemplarische dient auch hier dazu, diesen Zugriff als illusorisch zu erweisen und einen Sinn jenseits der Forderungen des zweiten Diskurses zu vermitteln. Und was Yvain betrifft, so hätten die moralisierenden Interpreten in ihm ihren fatalen Vorläufer erkennen können. Der ›Löwenritter‹ ist geschrieben worden, um zu demonstrieren, was geschieht, wenn man den ›Erec‹ lehrhaft versteht. Der Verzicht auf Sex ist keine Lösung des erotischen Problems.44 Auch in Gottfrieds ›Tristan‹-Prolog fällt der Begriff lere. Gottfried sagt zur Funktion seines Romans: Die Geschichte von Tristan und Isold solle beim Hörer/Leser bewirken, daß triuwe, liebe, tugent, ere und alles Gute überhaupt zu sich selbst kommen.45 Die Liebe, wenn sie wie hier in ihrem Ineinander von Freude und Leid vorgeführt werde, sei so beseligend, daz nieman ane ir lere / noch tugende hat noch ere (vv. 189f.).46 lere, wörtlich genommen, müßte heißen, daß die Geschichte von Tristan und Isold beispielhaft zu lesen wäre. Und so wird denn auch gesagt, daß das Paar die Liebe in ihrer höchsten Form gelebt habe, so daß die Erzählung von ihrem Leben und Tod uns heute noch zu dieser höchsten Form zu führen vermöge. Aber das Verständnis über die Beispielhaftigkeit trägt wiederum nicht. Das Leben des Paares kann keineswegs unmittelbar als Vorbild dienen, sonst müßten wir alle zu Ehebrechern werden, um wahrhaft zu lieben. Und so weist denn schon der Schluß des Prologs über alles Lehrhafte hinaus, wenn Gottfried sagt, es müsse der Tod der Liebenden für uns iemer mere / (. . . ) niuwe wesen (v. 228f.). iemer mere niuwe: das heißt nichts anderes, als daß das semper novum der Heilsgeschichte funktional für einen fiktiven Roman in Anspruch genommen wird. Das erzählende Erneuern wird zum Neuen im emphatischen Sinne. Man kann diese radikale Geste nur verstehen, wenn man sich darüber im klaren ist, daß es darum geht, das Beispielhafte zurückzulassen, das Beispielhafte durch das Beispiellose zu überwinden. Nicht nur wird damit gegen das Prinzip des theologischen Diskurses etwas Neues 43
Siehe zum Folgenden meine Studie „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 205–222. 44 Ausführlicher meine Studie „Chre´tiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹: Das Spiel mit dem arthurischen Modell“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 223–238. 45 vv. 167–170, 174f.: waz aber min lesen do wære / von disem senemære: / daz lege ich miner willekür / allen edelen herzen vür / (. . . ) ez liebet liebe und edelt muot, / ez stætet triuwe und tugendet leben („Was ich von dieser Liebesgeschichte gelesen habe, das will ich, so habe ich mich entschlossen, allen edlen Herzen vorlegen [. . . ]. Sie macht die Liebe liebenswert und veredelt das Herz, sie befestigt die Bindung und vervollkommnet das Leben“). 46 vv. 189f.: „daß niemand ohne ihre ,Lehre‘ Vollkommenheit und Ansehen besitzt.“
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geschaffen, indem man einen Roman von eigenem Recht propagiert, sondern dieses Neue wird zugleich als eine Erfahrung angeboten, die den Hörer/Leser zu einem neuen Menschen machen kann, wodurch auch die Einschränkung der Sinnvermittlung auf die Didaxe, wie der philosophisch-poetologische Diskurs sie mit sich brachte, durchbrochen ist. Der einzige, der alle Lehrhaftigkeit von vornherein explizit abgelehnt hat, war Wolfram. Statt einer Sinnvermittlung über eine Lehre fordert er im ›Parzival‹-Prolog eine Sinnerfahrung über den Nachvollzug dessen, was in der Erzählung geschieht, einen Nachvollzug über alle Wendungen und Umbrüche hinweg, und das heißt letztlich: durch alle Widersprüche und Aporien hindurch. Und nur wer das durchhält, dem wird auch hier eine Erfahrung zuteil – eine genuin literarische Erfahrung wohlgemerkt –, die einem Heilsweg gleichkommt.47 Das Fazit: So gut wie die gesamte Begrifflichkeit des theologischen wie des philosophisch-poetologischen Diskurses zur Kreativität, zur fiktionalen Erfindung, zur Sinnkonstitution usw. wird in der neuen vulgärsprachlichen Literatur des 12./13. Jahrhunderts rezipiert, aber nichts davon kann im Grunde Bestand haben, da diese Begrifflichkeit ja gerade darauf angelegt war, diese neue Literatur zu verhindern. Man hat sie also aufgegriffen, um sie z. T. geradezu programmatisch über Bord zu werfen oder umzudeuten. Bis hin zu Gottfrieds unerhörter Usurpation des semper novum für seinen fiktiven Roman. Es gab offenbar nur einen einzigen Weg, das Neue zum Bewußtsein zu bringen, eben auf das Alte zu rekurrieren und es zugleich auszustreichen. Den nächsten Schritt zu tun, eine der neuen Literatur angemessene neue Terminologie zu schaffen, lag nicht im Bereich des Möglichen. So gibt es denn keinen einzigen neuen poetologischen Terminus, d. h. keinen einzigen Begriff, der das Neue dieser Literatur hätte zum Ausdruck bringen und als Neues propagieren können – mit einer Ausnahme vielleicht. Aber sie ist in ihrer Singularität auf das heftigste umstritten: ich denke an Chre´tiens conjointure48. Da dieser Begriff jedoch völlig für sich steht, auch keine Tradition gebildet hat, wird man zögern, ihm die ganze Last des neuen Romankonzepts aufzubürden. Es kommt erschwerend hinzu, daß es sich nicht um einen Gattungsbegriff handelt, sondern um ein dichterisches Verfahren, wobei, wenn Chre´tien es charakterisiert, sich einmal mehr der typische Zwiespalt auftut. Es soll einerseits eine bele conjointure aus einer vorgegebenen Erzählung herausgeholt werden.49 Damit wird, wie üblich, das Neue als das angeblich Alte angeboten, das bislang verdeckt geblieben ist, ja Chre´tien sagt es härter: das verunstaltet, von den Sängern korrumpiert worden ist (vv. 19ff.). Anderseits aber bedeutet bele conjointure soviel wie ,schöne Fügung‘, meint also die poetische Komposition oder Struktur, und das ist etwas, was man nicht ,herausholen‘ 47
Vgl. meine Studie „Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des ›Parzival‹-Prologs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 145–159. 48 Les romans de Chre´tien des Troyes, I: Erec et Enide, hg. v. Mario Roques, Paris 1955, v. 14. 49 vv. 9–14: Por ce dist Crestı¨ens de Troies / que reisons est que totevoies / doit chascuns panser et antandre / a bien dire et a bien aprandre; / et tret d’un conte d’avanture / une molt bele conjointure („Deshalb sagt Chre´tien de Troyes, es sei richtig, daß jeder daran denke und darauf achte, gut zu reden und [seine Sache] gut zu vermitteln, indem er aus einer avanture-Geschichte eine sehr schöne conjointure herausholt“). Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 100–105.
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kann, dem vielmehr der Stoff unterworfen werden muß. Der einzige neue poetologische Begriff zeigt also noch einmal in nuce das ganze Dilemma, in dem man sich bei der literarischen Revolution des 12./13. Jahrhunderts bewegt, das Dilemma, den beiden Diskursen genügen zu müssen, die eine solche Revolution von sich aus nicht zulassen, und zugleich Wege zu finden, die Vorgaben dieser Diskurse zu überwinden. Und das Verfahren ist, um es noch einmal zu sagen, dieses: Man übernimmt die untaugliche Begrifflichkeit der beiden Diskurse und läßt sie ins Leere laufen. Man kann es auch in kühner Positivität sagen: Die Negation der Negation läßt den fiktionalen Text zu sich selbst kommen. Die Andersheit des Dichterischen wird damit zwar nicht theoretisch, aber als faktische zum Bewußtsein gebracht. Nur Chre´tien ist, wenn nicht alles täuscht, mit dem Begriff der conjointure einen kleinen Schritt weitergegangen, indem er neben dem traditionellen Rekurs auf den verdeckten Sinn – und ihm widersprechend – wenigstens mit seiner Wortprägung zugleich andeutet, was als das entscheidend Neue dieser Revolution zu gelten hat: der Entwurf fiktiver struktureller Konzepte, mit denen man experimentierend auf eine eigene Wahrheit und eine eigene Form ihrer Vermittlung zugeht.
4. Von der perfectio zur Perfektibilität
O daß dem Menschen nichts Vollkomm’nes wird, Empfind’ ich nun
– so klagt Faust in der Szene ,Wald und Höhle‘.1 Die Klage richtet sich an den „erhabenen Geist“, von dem er alles erhalten habe, worum er ihn gebeten hatte: die Erfahrung der göttlich durchdrungenen Natur und ihrer Spiegelung im Ich. Aber warum mußte dieses Vollkommene dadurch geschmälert, wenn nicht zerstört werden, daß er gezwungen wurde, sich dabei den bösen Geist Mephistopheles einzuhandeln? Und so kann man denn grundsätzlich fragen: Gibt es für den Menschen überhaupt so etwas wie Vollkommenheit? Lauert nicht immer ein „Geist, der stets verneint“, um die Ecke? Ich nehme diese Frage als Aufhänger für einen Gang durch die antike und mittelalterliche Geschichte der Vollkommenheits-Idee, die natürlich unabhängig von diesem Krisenpunkt im ›Faust‹, auf den am Ende zurückzukommen sein wird, unser Interesse beanspruchen kann. Die Idee der Vollkommenheit hat in der mittelalterlichen Philosophie ihren Ort vorzüglich im letzten Schritt einer via triplex, die verspricht, von der purgatio über die illuminatio zur perfectio zu führen. Der Zusammenhang, in dem dieser Dreiweg im abendländischen Westen auftaucht, ist die Rezeption des Schriften-Corpus eines gewissen Dionysius, der sich Areopagita nannte und sich damit als jener Grieche ausgab, den Paulus nach dem Zeugnis der ›Apostelgeschichte‹ bei seiner Areopagrede in Athen bekehrt haben soll. In Wirklichkeit war er ein Neuplatoniker, genauer: ein Christ, der die christliche Botschaft neuplatonisch umzusetzen versuchte und der nicht im 1. Jahrhundert, sondern um 500 gelebt haben muß, denn er hat Proklos benützt, der 485 gestorben ist. Aber das hat erst die Philologie des 19. Jahrhunderts zweifelsfrei aufgedeckt. Bis dahin galt der Verfasser des in Frage stehenden Schriften-Corpus als Paulusschüler und damit als eine höchste Autorität. Das aus vier Traktaten und zehn Briefen bestehende Œuvre dieses Dionysius war im 9. Jahrhundert als Geschenk des byzantinischen Kaisers an Ludwig den Frommen in den Westen gekommen. Er – der byzantinische Kaiser – habe nämlich gehört, daß man auch im Frankenreich den Dionysius verehre. Dieser Dionysius war freilich der Missionar Galliens aus dem 3. Jahrhundert, dessen Gebeine im Königskloster St. Denis ruhten. Der erste Übersetzer der Dionysischen Schriften, der Abt Hilduin von St. Denis, hat dieses Mißverständnis zweckbewußt aufgegriffen, so daß nun jener Dionysius aus dem 5. Jahrhundert, der sich als Apostelschüler aus dem 1. Jahrhundert ausgab, auch noch mit dem gallischen Missionar aus dem 3. Jahrhundert in eins gesetzt wurde – 1
Johann Wolfgang Goethe, Faust, hg. v. Albrecht Schöne (J. W. Goethe, Sämtliche Werke, I. Abt., 7/1 u. 7/2), Frankfurt a. M. 1994, Bd. 1: Texte; Bd. 2: Kommentare; hier Bd. 1, S. 140; Komm. zur Szene: Bd. 2, S. 312–319.
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eine Klitterung, die weitreichende politische wie theologische Folgen haben sollte. Die bedeutendsten Denker des Mittelalters haben sich mit den Schriften des angeblichen Paulusschülers auseinandergesetzt. Sie wurden zur bedeutendsten Einbruchstelle des Platonismus in die christliche Theologie. Dies vor allem auf der Basis der Neuübersetzung, mit der Karl der Kahle dann Johannes Scotus Eriugena beauftragt hat – Hilduin war mit den schwierigen Texten offensichtlich überfordert gewesen. Eriugena hat sich nicht mit der Übersetzung und einem Kommentar begnügt, sondern er hat eine eigene Philosophie darauf aufgebaut: das ›Periphyseon‹ oder ›De divisione naturae‹. Um auf den Dreiweg: purgatio, illuminatio und perfectio, zurückzukommen: er ist nicht nur durch Eriugenas Dionysius-Übersetzung an das westliche Mittelalter weitergereicht worden, sondern auch über Eriugenas Hauptwerk und seinen Kommentar zum ›Johannesevangelium‹, in die er die Trias aufgenommen hat.2 Der Dreiweg als aufsteigende Bewegung spielt hier zusammen mit dem Herabsteigen des göttlichen Wortes, mit der Theophanie: die Schöpfung wird als lichthaftes Ausfließen Gottes im Sohn verstanden, und indem dieses Licht auch den menschlichen Intellekt erleuchtet, kann er eins werden mit ihm: purgabitur (. . . ), illuminabitur (. . . ), perficietur per deificationem heißt es im ›Johanneskommentar‹.3 Dabei stammt nicht nur die Idee der via triplex zur Vollkommenheit aus neuplatonischer Tradition, sondern auch die Lichtmetaphysik. Was zunächst die Trias anbelangt, so lautet sie bei Dionysius: katharsis, photismos, teleiosis. Er verdankt sie seiner Hauptquelle: Proklos. Dieser wiederum basiert auf Plotin, bei dem die Trias jedoch katharsis, photismos und henosis lautet. Der Begriff der henosis zeigt, was teleiosis/perfectio letztlich meint, oder vielleicht muß man sagen: ursprünglich meinte, nämlich Vollkommenheit als Einssein mit jener Vollkommenheit, die Gott ist. Was das bedeutet, ist nur im Zusammenhang der Plotinschen Hen-Metaphysik verständlich zu machen, d. h. einer Metaphysik, die das Eine als letztes Prinzip ansetzt. Es gilt für dieses Prinzip absolute Transzendenz: das Eine ist jenseits von allem, auch jenseits des Seins. Es kann deshalb auch als ,Nichts‘ bezeichnet werden, womit zugleich gemeint ist, daß es durch keinen Begriff zu fassen ist. Und doch ist das Eine der Grund der Vielheit, die aus ihm ausfließt, aber im selben Akt zu ihm zurückfließt. Das Ausfließen ist zugleich ein Drinbleiben, was impliziert, daß es sich bei dieser Emanation um einen Vorgang jenseits von Raum und Zeit handelt. Plotin faßt ihn vorzüglich als ein ausstrahlendes metaphysisches Licht, das dabei in sich selbst bleibt. Es ist ein Ausstrahlen über die Stufen des Seins, wobei jede Stufe ihr Licht von der jeweils höheren empfängt und es an die nächst niedrigere weitergibt. Der Mensch ist in diesen Prozeß insofern einbezogen, als er zwar 2
Die via triplex ist im Mittelalter allgegenwärtig, und sie erscheint in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, so können z. B. die drei Flügel, auf denen Christus nach Tauler einhergeht, die Flügel der Taube, des Adlers und des Windes, u. a. auch als Dreiweg gedeutet werden (Jeffrey F. Hamburger, Die „verschiedenartigen Bücher der Menschheit“. Johannes Tauler über den ,Scivias‘ Hildegards von Bingen [Mitteilungen und Verzeichnisse aus der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars in Trier 20], Trier 2005, S. 42, Anm. 87), oder der Ritus, durch den Kirchen eingeweiht werden, vollzieht sich als Abfolge von Reinigung, Erleuchtung und Vollendung (Lee Bowen, „The Tropology of Mediaeval Dedication Rites“, Speculum 16 [1941], S. 469–479). 3 PL 122, 338D/339A.
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das absolut transzendente Eine denkend nicht zu erreichen vermag, jedoch, indem er alle Intentionalität ablegt, in einer Wende nach innen zu einer plötzlichen Erleuchtung gelangen kann, zu einer ekstasis, die ihm die Einigung mit dem Hen ermöglicht. Es ist die Abkehr von allem Äußeren, die in der Trias mit katharsis bezeichnet wird, photismos meint die schlagartige innere Erleuchtung, und die ekstasis ist gleichbedeutend mit der henosis. Dabei ist jedoch zu beachten, daß es sich nicht um eine Schrittfolge auf einem Weg handelt, sondern um Aspekte eines einzigen, die Zeit durchbrechenden Vorgangs. Dahinter steht das platonische exaiphnes, wie ja insgesamt die platonischen Wurzeln der Plotinschen Hen-Philosophie nicht zu verkennen sind. Eriugena hat, wie angedeutet, auch diese neuplatonische Lichtmetaphysik dem Westen vermittelt, wobei er neben Dionysius auf weitere östliche Quellen zurückgegriffen hat, vor allem auf Gregor von Nyssa und Maximus Confessor. Wenn Dionysius das neuplatonische Konzept über Proklos aufgreift, um es in christliche Theologie zu übersetzen, so ergeben sich schwerwiegende Schwierigkeiten. Er mußte das Hen mit dem biblischen Schöpfergott identifizieren und die Emanation zu dessen willentlichem Schöpfungsakt umdeuten. Und die ekstasis war nur als gnadenhaftes göttliches Entgegenkommen denkbar. Der Dreischritt von katharsis, photismos und teleiosis war dann nicht mehr ohne weiteres in diesen Übersprung in die Unio einzubinden. So verwundert es nicht, daß Dionysius zwar den Dreischritt aufnimmt, ihn aber unabhängig von jenem Lehrstück behandelt, das die Einigung mit dem Göttlichen zum Thema hat, dem Traktat ›De mystica theologia‹.4 So erscheint die Trias nunmehr als eine Abfolge auf einem begehbaren Weg in der Zeit. Und es bleibt offen, wie er sich zur Einigung als unvermittelbarem Gnadenakt verhält. Damit stehen wir beim springenden Punkt: Ist ein Weg zur henosis, zur teleiosis, zur perfectio als eine schrittweise Annäherung an eine Vollkommenheit denkbar, die als ein Einssein mit der Vollkommenheit schlechthin, mit Gott, zu verstehen ist? Oder ist dieser Akt der Einigung eine ekstasis, gekennzeichnet durch Plötzlichkeit, d. h., ist sie als ein Vorgang aufzufassen, der quersteht zu Raum und Zeit, als ein Akt, der nicht verfügbar sein kann und damit jeden Weg dahin illusorisch macht? Bei der Verchristlichung des Konzepts erscheint die Unverfügbarkeit als Gnade Gottes. Und die Frage lautet dann: Gibt es einen Weg zu Gott, an dessen Endpunkt sich die Gnade der Unio irgendwie ,einstellt‘? Je zwingender der Dreischritt auf ein solches Ergebnis zielt, um so mehr muß dies dem Wesen der Gnade widersprechen. Möglicherweise hat Dionysius deshalb seine via triplex nicht explizit an die ›Mystica theologia‹ gebunden, sie vielmehr gewissermaßen freischwebend übernommen, wobei ohnehin offenbleibt, was teleiosis/perfectio gegenüber der Plotinschen henosis/unio meint. Wie immer dem sei, festzuhalten ist, daß der Dreischritt bei Dionysius, anders als bei Plotin, nicht Aspekte eines überzeitlichen Aktes darstellt, sondern als Weg in Raum und Zeit erscheint, womit sich hier schon das Grundproblem christlicher Mystik überhaupt ankündigt. Als Frage formuliert: Ist es sinnvoll, einen Weg zur Vollendung, d. h. zur Einigung mit Gott, zu suchen, wenn ein solcher Weg vom Menschen aus prinzipiell nicht zum Ziel führen kann?5 4 5
Ruh, Geschichte I, S. 53ff. Es fließen hier noch andere, ältere Traditionen mit ein, in denen Dreierschemata für einen spirituellen Reifungsprozeß angeboten werden und die nicht unbedingt auf eine mystische Unio
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Trotz des offensichtlichen Widerspruchs zwischen Weg und Gnade hat man mit immer wieder neuen Kombinationen experimentiert, hat man immer wieder gestufte Prozesse entworfen, an deren Ende man aber stets an einen Punkt gelangen mußte, an dem man ohne göttliches Entgegenkommen auf der Strecke blieb. Blickt man weiter zurück, so stellt man fest, daß das widersprüchliche Nebeneinander schon bei Platon da ist: das Aufstiegsmodell neben der Erfahrung des Göttlichen exaiphnes. Augustinus übernimmt den platonischen Stufenweg im Dialog ›De quantitate animae‹,6 und dies ohne die kritische Bruchstelle, sie erscheint hingegen in den Visionen von Mailand und Ostia, die sich zwar als gestufte Wege, aber doch als unvorbereitete plötzliche Erfahrungen darstellen. Gregor der Große entwirft einen Aufstiegsweg zur Vollkommenheit in sieben Stufen, dies am Leitfaden der sieben Gaben des Heiligen Geistes, wobei die Siebenzahl als summa perfectionis verstanden wird.7 Zugleich aber sagt er: wenn man dabei etwas vollkommen zu schauen wähnt, dann ist es nicht Gott. Zu ihm gelangt man nur über einen raptus, also ein Emporgerissenwerden, wodurch die Gnade doch wieder in ihr Recht gesetzt wird.8 Diese in sich widersprüchlichen Entwürfe lassen sich weiter verfolgen zu Bernhards vier Graden der Liebe, die ebenfalls in den excessus münden, zu den Ascensus-Modellen der Viktoriner und zu Wilhelms von St. Thierry ›Epistola ad fratres de Monte Dei‹, dem eigentlichen Höhepunkt der christlichen Aufstiegskonzepte. Von den Bettelorden wieder aufgegriffen – man denke insbesondere an Bonaventuras ›Itinerarium mentis in Deum‹ – führt die Traditionslinie weiter zu den Niederländern und schließlich zu Juan de la Cruz. Kennzeichnend für diese mittelalterlichen Aufstiegsentwürfe ist, daß in ihnen das ursprünglich ontologisch-kosmisch fundierte Konzept psychologisiert wird, daß die Seele sich also aus sich heraus auf einen Aufstiegsweg begibt, den man als psychagogisches Programm äußerst differenziert ausarbeiten kann. Damit verdeckt man gewissermaßen das Problem, d. h., man hat sehr lange, wohl im Vertrauen darauf, daß sich die göttliche Gnade doch wohl am Ende einstellen wird, mit diesem in sich widersprüchlichen Modell gelebt, ohne es zu problematisieren. Ich möchte Ihnen diese zwiespältige Konzeption wenigstens an einem Beispiel konkret vor Augen führen. Ich wähle einen Traktat Davids von Augsburg, betitelt mit ›Die sieben Staffeln des Gebetes‹. Es handelt sich um einen meditativen Aufstiegsweg, der über sechs Staffeln oder Grade zur unio mystica führt. Der siebte Grad ist dann der vollkommenen Anschauung Gottes vorbehalten, die erst im Jenseits möglich ist. Der Traktat ist in vier Fassungen überliefert, einer lateinischen und drei deutschen. Zwei der deutschen Versionen sind mehr oder weniger frei aus der lateinischen Vorlage übersetzt. Der dritte deutsche Text aber geht mit kühnen Erweiterungen eigene Wege. Er ist von faszinierender Eindringlichkeit aufgrund der drastischen Bilder, die David aus Alltagserfahrungen bezieht und die sich fast ausnahmslos nur in der deutschen Fassung finden. Ich folge dieser Version.9 ausgerichtet sein müssen. So schon bei Origenes, vgl. Andrew Louth, The Origins of the Christian Mystical Tradition, from Plato to Denys, Oxford 1981. 6 Ruh, Geschichte I, S. 95. 7 Ebd., S. 155. 8 Ebd., S. 165. Der Aufstieg in Verbindung mit den sieben Gaben findet sich auch bei Guigo II. (Ruh, Geschichte I, S. 225). 9 David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes, in der deutschen Originalfassung hg. v. Kurt Ruh (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1), München 1965.
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Trotz des ganz auf subjektive Psychagogie ausgerichteten Prozesses verzichtet David aber nicht auf den ontologischen Rahmen. So beginnt der Text denn mit der traditionellen neuplatonisch-christlichen Vorstellung, daß Gott zugleich ewiger Anfang und Ziel alles Guten ist, daß alles, was ist, aus ihm fließt, um in der Vollendung wieder zu ihm zurückzukehren. Diese Vollendung in Gott setzt eine doppelte Gnade voraus, sie besteht zum einen in der Reinigung von allen Untugenden, zum anderen darin, daß die menschliche Natur an der Ebenbildlichkeit Gottes teilhaben darf. In diesem ontologischen Rahmen wird nun eine Beschreibung des Aufstiegs zur Vollendung als Gebetsweg geboten. So sagt denn David gleich einleitend, daß es nicht auf Fasten, Mühen und gute Werke ankomme, denn dabei hänge man immer noch der Geschäftigkeit der Welt an. Das Gebet hingegen führe das gemüete, das menschliche Denken und Fühlen, über sich selbst hinaus zu Gott. Und dann werden die einzelnen Stufen charakterisiert: Der erste Grad besteht im Beten mit dem Mund, bei dem darauf zu achten sei, daß es nicht leeres Gerede werde, sondern daß das Herz mit dabei sei. Der zweite Grad ist dann erreicht, wenn die anstrengende Konzentration auf das Gebetswort nicht mehr nötig ist, sondern das Beten sich von selbst ergibt, d. h. aus dem Herzen wie aus seinem eigenen Ursprung fließt. Das Wort des Gebets wird zum Honig, den man in sich saugt; der Honig bedeutet den Geist Gottes. Auf der dritten Stufe wird die Glut der Andacht so mächtig, daß die Worte überflüssig werden, ja die Worte das Verlangen des Herzens gar nicht mehr zu fassen vermögen. An die Stelle des Wortes treten Seufzen, Scherzen, Lachen. Darin drückt sich die Erschütterung durch die ungestüemekeit des Geistes aus, so wie der neue Most beim Gären vor Hitze aus dem Faß bricht. Auf der vierten Stufe aber kehren Sanftmut und Stille ein, man ruht in der reinen Erkenntnis Gottes, so wie der edle Wein nach der Gärung still wird und besser als zuvor, als er noch tobete. Der fünfte Grad ist dadurch gekennzeichnet, daß man betrunken ist in der Andacht. Nun ruht das Herz in Gott wie eine weiche Semmel, die in Honigseim eingetaucht ist. Alle äußeren Empfindungen sind ausgeschaltet, es ist wie ein sanfter Schlaf nach einem guten Trunk. Diese fünf Stufen zeichnen also einen Weg nach, der vom äußerlichen zum erfüllten Gebetswort führt und von da über das Wort hinaus zu einer nur noch in unartikuliertem Seufzen oder Lachen sich äußernden Erregtheit des Geistes, die aber dann umbricht in Stille und schließlich übergeht in eine trunkene Ruhe in Gott. Das ist offensichtlich nicht mehr ein spekulativ konstruierter Aufstiegsweg als Rückzug ins Innere über eine negative Theologie, sondern ein Erfahrungsprozeß, aus dem eine meditative Praxis spricht. Nach dem fünften Grad aber kommt es zu der entscheidenden Wende, denn auf der sechsten Stufe bricht nun das göttliche Licht wie ein Blitz herein, in dem die Seele sich mit Gott im Geheimnis der unio mystica vereinigt. Dieses Kernstück wird (in 387 Zeilen) extensiv beschrieben. Es wird gesagt: Die Seele, die sich in reiner Stille geübt hat, wird im göttlichen Lichtblitz über sich selbst hinausgerissen in eine Himmelsstille hinein, in der sie nichts mehr wahrnimmt außer Gott allein. In dieser Vereinigung ist sie ein Geist mit Gott, so wie das glühende Eisen ein Feuer ist mit dem Feuer in der Esse. Und
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so wie der Vater mit dem Sohn in der Liebe des Heiligen Geistes eins ist, so vereinigt sich die Seele in der göttlichen Liebe mit dem Vater und dem Sohn. Und dann folgen kühne Formulierungen, deren prekärste David sich von Wilhelm von St. Thierry geborgt hat. Er sagt: Die Seele wird in der Unio so mit Gott vereinigt, daß sie ist, was Gott ist, wenngleich sie nicht Gott ist, aber doch eins mit ihm im Herzen, im Willen, in der Liebe und im Geist. Ja, der Mensch wird so in Gott verwandelt, daß er durch die Gnade das wird, was Gott von Natur aus ist. Was zunächst als Einheit im Willen dargestellt wird – die Seele will nur noch das, was Gott will –, mündet schließlich doch in eine ontologische Verschmelzung, und dies, indem die Seele in den trinitarischen Prozeß einbezogen wird. Doch kann der Mensch selbstverständlich aufgrund seiner kreatürlichen Schwachheit nur ganz kurz in Gottes nicht zu begreifendem Licht, dem unbegriffen lieht Gottes, verweilen. Und zudem ist diese lichthafte Gotteserkenntnis gegenüber der Anschauung Gottes, die man später in der Herrlichkeit des Himmels erfahren wird, wie David sagt, nur wie ein Sonnenstrahl, der durch ein Nadelöhr fällt, oder wie ein schwacher Lichtblitz bei geschlossenen Augen. Den Abschluß aber bilden dann Überlegungen zum Sprung, der von der fünften zur sechsten Stufe erfolgt. David macht klar, daß kein Mensch aus eigener Bemühung dahin zu gelangen vermag. Allein der Heilige Geist kann den menschlichen Geist über sich selbst hinausreißen. Die Seele hat zwar als Naturgabe die Befähigung, durch Gottes Licht zu seiner Erkenntnis erleuchtet zu werden, aber sie ist nicht selbst dieses Licht, so wie das Auge in seiner Reinheit das Licht zu sehen vermag, aber doch nicht das Licht selbst ist. Bei dieser einläßlichen Schilderung eines meditativen Aufstiegswegs, bei dem eine Stufe die andere in einem durchgängigen Prozeß ablöst, kommt es also nach der fünften Stufe zu einer Bruchstelle, an der der Weg aus sich selbst heraus nicht weiterführt. Hier ist das Entgegenkommen der göttlichen Gnade erforderlich, und damit wird das Grunddilemma christlicher Mystik explizit zum Bewußtsein gebracht. Die Vollendung des Aufstiegs in der ekstasis stellt sich nicht wie beim platonischen Ascensus am höchsten Punkt wie selbstverständlich ein, vielmehr blockiert der christliche Gottesbegriff jede Möglichkeit eines Übergangs zur Unio aus eigener menschlicher Kraft. Man mag den Weg zur deificatio, wie David dies vorführt, noch so differenziert entfalten, kein christlicher Mystiker kann von der Bruchstelle am entscheidenden Schlußpunkt des Aufstiegs absehen. Es stellt sich sehr viel dringlicher als in der vorchristlich-platonischen Tradition das Problem des unverfügbaren letzten Schritts zum vollendeten Einssein mit Gott. Die perfectio ist letztlich nur als augenblickhafter Einbruch der Transzendenz denkbar. Die Idee des Weges und die Idee der Gnade widersprechen sich prinzipiell. Es gibt zwei Möglichkeiten, aus diesem Dilemma herauszukommen, nämlich dadurch, daß man entweder den Weg preisgibt oder daß man auf das Ziel verzichtet. Beide Lösungen sind je einmal mit radikaler Konsequenz durchgespielt worden. Die erste von Eckhart, die zweite von Nikolaus von Kues. Um die Lösung, die Eckhart bietet, zu verstehen, muß man von seinem spezifischen Analogiebegriff ausgehen. Nach dem klassischen Analogiemodell, der analogia proportionalitatis, die vor allem von Thomas von Aquin propagiert worden ist, ist das Irdisch-
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Geschöpfliche zwar dem Ewig-Göttlichen ähnlich, aber die Differenz ist allemal unvergleichlich größer. So ist das menschlich Gute dem Guten, das Gott ist, zwar ähnlich, aber doch wesentlich von ihm verschieden, und dasselbe gilt von der Wahrheit, vom Sein usw. Es ist bei Thomas aber noch von einer andern Analogie die Rede, von der analogia attributionis; sie gilt z. B. für das Verhältnis zwischen der Gesundheit und dem Gesunden. Hier entfällt die Differenz, denn etwas Gesundes besitzt die Gesundheit als ganze. Eckhart hat diese Attributionsanalogie auf das Verhältnis des Ewigen zum Zeitlichen übertragen, d. h., er hat sie ontologisiert. Er interpretiert also das Verhältnis zwischen dem göttlichen und dem geschöpflichen Sein in der Weise, in der Thomas das Verhältnis zwischen der Gesundheit und dem Gesunden aufgefaßt hat. Das Geschöpf hat demnach, insofern es Sein hat, dieses Sein in uneingeschränkter, in göttlicher Fülle. Damit ist das Konzept der unähnlichen Ähnlichkeit preisgegeben. Das geschöpfliche Sein ist mit dem Sein Gottes identisch, nur mit dem Unterschied, daß es dieses Sein nicht von sich aus hat, sondern daß es ihm von Gott in einer creatio continua zugeströmt wird – das ist der letzte Rest der Differenz, die Absicherung gegenüber der Häresie der absoluten Identität. Eckhart kann deshalb sagen, in sich selbst sei das Geschöpfliche ein reines Nichts, unter dem Aspekt der creatio continua aber sei es alles. Und daraus folgt, daß der Mensch, der sich dem Raumzeitlichen als solchem zuwendet, auf ein Nichts stößt. Und dies wiederum führt zur Forderung einer radikalen Wende, die nicht nur eine Ablösung von allem Eigeninteresse impliziert, sondern eine Ablösung überhaupt von allem, was das Etwassein des Geschaffenen ausmacht, also von der Individualisierung durch Raum und Zeit. Diese Seinsweise jenseits von Raum und Zeit heißt bei Eckhart abegescheidenheit; es ist ein Zustand der absoluten Freiheit der Seele, eines vrıˆ- und ledic-Seins von allem, was Eckhart eigenschaft nennt, d. h. Bindung an den Aspekt des Nichts im Geschöpflichen. Der komplementäre Begriff, die positive Formulierung gegenüber der negativen Abgrenzung durch abegescheidenheit, heißt volkomenheit. Einige Zitate aus einer Fülle von Belegstellen: abegescheidenheit ist volkomenheit.10 Wenn die Seele eins ist mit Gott, dann ist sie in ganzer volkomenheit.11 Alles, auch die Seele, ist nach der höchsten volkomenheit geschaffen.12 Alle volkomenheit liegt darin, daß der Mensch die Geschöpflichkeit und Zeitlichkeit zurückläßt und in den grundlosen Grund der Seele eingeht.13 Aber was heißt ,zurücklassen‘ und ,eingehen‘? Was hier scheinbar als Prozeß formuliert wird, kann keiner sein. Denn wenn alles Kreatürliche in sich selbst ein reines Nichts ist, so ist es auch nicht möglich, es als via negativa zur Vollkommenheit zu nutzen; der Weg reduziert sich auf den bedingungslosen Umschlag. Das Finden Gottes, so sagt Eckhart, muß aˆne wıˆse geschehen, ohne Vermittlung. Es geschieht als ein Durchbruch in den Grund der Seele, der mit Gott identisch ist, oder in trinitarischer Bildlichkeit ausgedrückt: Gott gebiert seinen Sohn in einem überzeitlichen Akt in die Seele hinein, und die Seele gebiert ihn in den Vater zurück. Dazu in Predigt 57: „Sankt
10
Pr. Pr. 12 Pr. 13 Pr. 11
30, 10, 22, 42,
DW II, S. 109,3. DW I, S. 172,5. ebd., S. 379,11, S. 380,1f. DW II, S. 309,3.
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Johannes sagt, daß der Vater sich in ganzer Vollkommenheit bei der Geburt in den Sohn ergießt“.14 Das diskontinuierliche Moment in der Begegnung mit Gott, die Existenz in der Gnade, ist also verabsolutiert. Man steht entweder in der Vollkommenheit des Seins, das Gott ist und über den Sohn vermittelt wird, oder man ist dem Nichts verfallen. Es gibt keinen Weg über die Welt der Erscheinungen, der zum Umbruch in die Vollkommenheit führen könnte, der Umbruch muß immer schon vollzogen sein: wer im Sinne Eckharts frei ist, hat ihn hinter sich. Wie diese Befreiung vonstatten gehen soll, wenn sie nicht machbar ist, darüber schweigt sich Eckhart aus. Ja, er sagt sehr hart: wer dem nicht folgen könne, dem vermöge er nicht zu helfen. Das also ist die Lösung des Widerspruchs von Weg und Gnade durch die Preisgabe des Weges. Die Vollkommenheit in Gott ist weglose Gnade. Nun zu Cusanus, der eineinhalb Jahrhunderte später die Gegenmöglichkeit durchgespielt hat: die Preisgabe der Gnade, was konsequenterweise die Preisgabe einer denkbaren Vollkommenheit impliziert. Wenn man unabdingbar ernst nimmt, daß die Gnade nicht verfügbar ist, so wird man zwar die Möglichkeit göttlichen Entgegenkommens nicht leugnen, aber es verbietet sich, damit zu rechnen, konkret: es ist nicht statthaft, die Gnade als selbstverständliche letzte Stufe in einen Aufstiegsweg einzusetzen. Damit aber wird Gott unerreichbar. Dieser Ansatz steht in der Tradition der Idee des verborgenen Gottes. Und dabei hat wiederum Dionysius eine prominente Vermittlerrolle gespielt. Bei den Neuplatonikern erfolgt der Aufstieg zum Hen im Licht; als Licht strömt es aus und bleibt zugleich in sich. Der Mensch ist über die Erleuchtung in diese Lichtmetaphysik einbezogen. Dionysius bricht mit dieser Vorstellung, indem er auch die Lichthaftigkeit des Göttlichen seiner negativen Theologie unterwirft. Das Licht, das Gott ist, ist gegenüber dem irdischen Licht so radikal andersartig, daß man es besser Dunkelheit nennt oder das Oxymoron ,dunkles Licht‘ oder ,lichthaftes Dunkel‘ verwendet. Aber es bleibt nicht bei einem bloßen Bezeichnungsproblem. Vielmehr versteht Dionysius die mystische ekstasis als ein Eintauchen in die unergründliche lichthafte Dunkelheit eines letztlich verborgenen Gottes. Dies übrigens in Anlehnung an den Aufstieg des Moses auf den Sinai, Ex 19/20, bei dem er Gott in caligine erfährt,15 wobei er diese gegen alle platonische Tradition vollzogene Wende der Interpretation der betreffenden Bibel-Stelle durch Gregor von Nyssa verdankt. In seinem Frühwerk ›De docta ignorantia‹ greift Cusanus die neuplatonische HenSpekulation in Verbindung mit der negativen Theologie auf. Gott ist das Eine, das alles ist. Als solches ist es jenseits des Gegensätzlichen, mit dem unser rationales Denken operiert. Wir können uns kein Maximum denken, ohne den Gegensatz, das Minimum, mitzudenken. In Gott jedoch fallen Maximum und Minimum zusammen. Da diese conincidentia oppositorum für unsern Geist nicht faßbar ist, stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Gott zu erkennen. Die Antwort lautet: Wir können ihn nur in sprunghafter Einsicht – in einer visio – als Nichterkennbaren erkennen. Das heißt soviel 14 15
Ebd., S. 597,2. Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia, I,3 (Ps.-Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia. De ecclesiastica hierarchia. De mystica theologia. Epistulae, hg. v. Günter Heil u. Adolf M. Ritter [Patristische Texte und Studien 36], Berlin 1991, S. 143,8–144,15).
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wie, daß wir die Ratio übersteigen müssen, um das, was jenseits von ihr liegt, zu erreichen. Und Cusanus kann dann diesen Überstieg mit dem traditionellen mystischen Begriff des raptus oder excessus kennzeichnen. In einem fünf Jahre nach der ›Docta ignorantia‹ verfaßten Traktat, ›De filiatione Dei‹, sagt er noch deutlicher, daß die Erkenntnis Gottes in der Einsicht in das besteht, was das Eine impliziert, nämlich daß in Gott als dem Einen alles ist und er in allem als der Eine ist. Aber was man mit dieser Einsicht erreicht, ist nicht Gott, sondern nur die Wahrheit, in der er sich mitteilt. Anders gesagt: Die Wahrheit Gottes ist seine Unerreichbarkeit. Und dafür tritt dann auch die dionysische Vorstellung von der Dunkelheit ein: Im Dunkel, so kann Cusanus sagen, offenbare sich Gott ohne Verhüllung. Die Frage ist, ob hier doch an eine mystische Unio zu denken ist oder ob caligo nur als eine Metapher für die docta ignorantia zu gelten hat. Es gibt Formulierungen, die beides austauschbar erscheinen lassen.16 Von Gnade ist in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht die Rede. Die Meinungen der Interpreten widersprechen sich in diesem Punkt. Es ist hier nicht der Ort, auf diese für das Verständnis der Cusanischen Philosophie zentrale Kontroverse einzugehen. Für unsere Debatte genügt es festzuhalten, daß nach Cusanus Gott bestenfalls im Vorhof seiner Wahrheit erkannt, das heißt in seinem Grund nicht erkannt werden kann. In dem späten Kugelspiel-Dialog – ›De ludo globi‹ – wird dies noch einmal höchst prägnant zur Anschauung gebracht. Es handelt sich beim Ludus globi um ein Gesellschaftsspiel, an dem Cusanus sich mit ein paar Freunden eines Tages in Rom vergnügt hat und dessen tieferen Sinn er hinterher aufdeckt.17 Auf dem Spielfeld sind zehn konzentrische Kreise eingezeichnet. Die Aufgabe für die Spieler besteht darin, mit ihren Kugelwürfen möglichst nahe an den Mittelpunkt heranzukommen. Je näher der Kreis, in dem die Kugel zu stehen kommt, zum Zentrum liegt, desto höher ist die Punktzahl, die der Spieler sich gutschreiben darf. Erschwert wird dies jedoch dadurch, daß die Kugeln auf einer Seite ausgehöhlt sind, so daß sie nicht geradlinig, sondern in Spiralen laufen. Und dies wird dann, wie gesagt, gedeutet. Die Bewegung der Kugeln auf dem Spielfeld mit den Kreisen meint das menschliche Leben, bei dem es darum geht, den Zielpunkt in der Mitte zu erreichen, und dieser Zielpunkt ist Christus. Entgegen den tatsächlichen Möglichkeiten des Spiels fügt Cusanus aber hinzu, daß man nie zu diesem Ziel kommen, sondern sich ihm nur annähern könne. Diese Annäherung erfolgt auf je verschiedenen Bahnen, denn jeder Wurf verläuft ja anders. Es gibt nicht mehr nur den einen geradlinigen Weg zu Gott, sondern unendlich viele, wenngleich letztlich vergebliche Wege. Das ist eine Umorientierung von eminenter ideengeschichtlicher Bedeutung. An die Stelle der zumindest momentan erreichbaren Vollkommenheit in Gott über einen geradlinig vorskizzierten Weg tritt ein schwer kalkulierbarer Prozeß auf ein nie zu erreichendes Ziel hin. Man kann sagen, hier habe man den epochalen Übergang von der Idee der perfectio zur Idee der Perfektibilität vor sich, einer Perfektibilität freilich avant la lettre, denn der Begriff wird erst in der Aufklärung geprägt (Turgot, Mirabeau, Diderot, Vol16
Vgl. meine Studie „Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus“, in diesem Bd., S. 371–395, hier S. 385. 17 Vgl. meine Studie „Das Kugelspiel des Nicolaus Cusanus und die Poetik der Renaissance“, in: Haug, Brechungen, S. 362–372.
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taire). Zudem gibt es der Aufklärungs-Perfektibilität gegenüber einen gravierenden Unterschied. Die Annäherung an das Ziel wird von Cusanus als individueller Akt gesehen: jeder wirft seine Kugel für sich im Wettbewerb mit den andern Spielern, während in der Aufklärung damit in erster Linie ein kulturgeschichtlicher Prozeß gemeint ist, die Erziehung des Menschengeschlechts als eine generelle und offene Vervollkommnung in Vernunft und Moral, und zwar mit einem Fluchtpunkt, der bezeichnenderweise „inde´finie“ genannt wird (Condorcet); Hegel sagt entsprechend, die Perfektibilität habe keinen Zweck und kein Ziel, d. h., die Vernunft und die Moral haben ihren Zweck und ihr Ziel in sich selbst, der Prozeß bleibt unbestimmt-offen.18 Bei Cusanus ist das unerreichbare Ziel noch eindeutig benannt: Christus. Die eigentliche Wende zur neuzeitlichen Position erfolgt also erst in dem Augenblick, in dem das objektive Ziel zugunsten einer Entfaltung subjektiver Werte preisgegeben wird. Doch schon dadurch, daß das Ziel ins Unfaßbare abgerückt wird, kommt es mit Cusanus zu einem Bruch, der die epochale Wende vorbereitet. Man hat es mit einer Kontinentalverschiebung des Denkens zu tun: auf einmal steht man woanders und entdeckt die Kluft hinter sich. Man sollte aber auch den Preis, den man für diese Absetzbewegung bezahlt, nicht übersehen. Ihre dialektische Rückseite wird sehr bald offenbar: Die Rückseite der Perfektibilität ist die Korruptibilität. Schon bei Rousseau steht beides nebeneinander. Die Problematik der Wende zeigt sich auch im Verhältnis zur Welt. Die Idee des absolut verborgenen Gottes erlaubt keinen Weg mehr über die Ähnlichkeit des Endlichen gegenüber dem Ewigen zu einer Differenz, die durch einen Gnadenakt doch noch übersprungen werden kann. Das Verhältnis läßt sich wiederum nur paradox formulieren: so wie Gott nur erreichbar ist als der Unerreichbare, so erscheint das Göttliche in der Welt als das Nicht-Erscheinende. Dieses Paradox hat Cusanus von Eriugena übernommen, der schon vor demselben Problem gestanden hatte. Die Schöpfung wird vom göttlichen Licht durchstrahlt, aber das Licht bleibt doch jenseits von ihr in sich selbst. Und auch hiermit ist der spätere radikale Umbruch vorbereitet: man braucht nur die Transzendenz des Göttlichen fallen zu lassen, das Göttliche in der Natur aber festzuhalten, dann steht man bei Spinozas pantheistischer Formel Deus sive natura. Das ist dann aber zugleich eine unendliche Natur, und es stellt sich die Frage, ob der Mensch sie fassen kann. Und damit komme ich abschließend auf Goethe zurück. Faust spricht in der Szene ,Wald und Höhle‘, wie einleitend gesagt, klagend einen „erhabenen Geist“ an, der ihm alles gegeben habe, was er wollte. Wer mit diesem Geist gemeint ist, ist nicht ohne weiteres erkenntlich. In der Forschung sind unterschiedliche Erklärungen angeboten worden. Es liegt nahe, an den Erdgeist der ,Nacht‘-Szene zu denken, der ihm ja, wie es hier heißt, sein Angesicht im Feuer zugewendet hat. Aber dieser hatte Faust abgewiesen. Faust meinte im Erdgeist seinesgleichen zu begegnen, aber die berühmte Replik lautete dann: „Du gleichst dem Geist den du begreifst, / Nicht mir“ (vv. 512f.). Überdies stimmt die Naturerfahrung, die Faust in ,Wald und Höhle‘ macht, eher zu dem Bild, das Faust dem Zeichen des Makrokosmus entnimmt, wenngleich auch diese Vision in einem Seufzer gipfelt: „Wo faß’ ich Dich, unendliche Natur?“ (v. 455) Wie immer man mit diesen Schwierigkeiten fertig werden mag, Faust sieht sich jetzt jedenfalls als königlichen Beherrscher der Natur; er hat, wie er sagt, die „Kraft, sie 18
Gottfried Hornig, Art. ,Perfektibilität‘, in: Hist. Wb. der Philosophie 7, Sp. 238–244.
4. Von der perfectio zur Perfektibilität
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zu fühlen, zu genießen“ (v. 3221), nicht als kalter Betrachter, sondern als Freund in ihr Innerstes zu schauen, alles Lebendige brüderlich zu umfangen, usw. Und wenn die Natur dann übermächtig einherstürmt, dann kann er sich in eine Höhle zurückziehen und sich den Wundern in der eigenen Brust zuwenden. Aber dann folgt eben doch die Klage: „O daß dem Menschen nichts Vollkomm’nes wird (. . . ). Du gabst mir den Gefährten“, der 3240
Mich vor mir selbst erniedrigt, und zu Nichts, Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt. Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer Nach jenem schönen Bild geschäftig an. So tauml’ ich von Begierde zu Genuß. Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde.
Und entsprechend wird Mephisto gleich darauf Fausts pantheistische Naturumarmung höhnisch persiflieren: 3282
Ein überirdisches Vergnügen! In Nacht und Tau auf den Gebirgen liegen, Und Erd und Himmel wonniglich umfassen, Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen, der Erde Mark mit Ahnungsdrang durchwühlen, Alle sechs Tagewerk’ im Busen fühlen, In stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen,
um dann mildernd hinzuzufügen, er gönne es ihm ja, „Gelegentlich sich etwas vorzulügen“ (v. 3298). Damit ist das Problem auf den Punkt gebracht. Das Allgefühl, das Faust genießt, verdankt sich einem subjektiv anverwandelten Naturentwurf. Es wird als ein ekstatischer Akt beschrieben, und so verwundert es nicht, daß sich auch hier der dialektische Umschlag einstellt. Da es keine objektive Instanz mehr gibt, die die Möglichkeit der Erfahrung des Göttlichen in der Welt garantieren würde, geht das Herausfallen aus dem Einssein so weit, daß es radikal in Frage gestellt wird: es kann sich dabei auch um eine Illusion, um einen Selbstbetrug, handeln. Mephisto ist mit seinem Hohn nur das Sprachrohr von Fausts Selbstkritik. Man kann also zwar ein vollendetes Einssein mit der vergöttlichten Natur aus einer ekstatischen Subjektivität heraus imaginieren, aber man handelt sich dabei unausweichlich den skeptischen Begleiter ein, der die angebliche Erfahrung in Nichts auflöst, um alles auf das einzig Reale und Unbezweifelbare zu reduzieren, auf Genuß und Begierde. Meinte Vollkommenheit vor der neuzeitlichen Wende eine Unio mit einem objektiv Vollkommenen, und zwar als Ziel eines – wenn auch nicht unproblematischen – Weges über das Bedingte, über das Unvollkommene hinaus, so muß nun die Vollkommenheit als subjektives Allgefühl entworfen werden, und sie wird dabei von der Endlichkeit und Anfälligkeit menschlichen Strebens in Frage gestellt, ohne daß es eine transzendente Instanz gäbe, die rettend entgegenkäme. Goethe bleibt nichts, als doch wiederum einen Himmel zu konstruieren, wenn er Faust erlösen will.
5. Schreckensorte und künstliche Paradiese Zur mittelalterlichen Vorgeschichte der Landschaftsdarstellung
I Wie der Titel des Tagungsbandes, in dem diese Studie zuerst erschienen ist: ›Ort und Landschaft‹, es anzeigt, sollte zwischen ,Ort‘ und ,Landschaft‘ unterschieden werden. Das ist nicht unproblematisch, denn der Gebrauch der beiden Termini ist semantisch alles andere als klar. Ich möchte den Unterschied im folgenden so verstehen, daß ,Ort‘ einen ausgegrenzten Bezirk meint, der sich gewissermaßen selbst genügt, dessen Bedeutung ganz in ihm selbst konzentriert ist, handle es sich nun um heilige Orte – numinose Grotten, heilige Berggipfel, sakrale Gebäude – oder handle es sich um Paradiesorte, Lustorte, amön stilisierte Naturausschnitte, wie die bukolische Tradition sie entwickelt hat. Es sind dies Sonderbereiche, herausgehoben aus der Raumzeitlichkeit, offen gegenüber Transzendenzerfahrungen oder utopischen Visionen. Sie implizieren kein Verhältnis des Menschen zur Natur als ganzer. Man begibt sich dahin zu bestimmten Zeiten, und man tritt dabei aus der gewohnten Welt heraus; man hat es nicht mit Lebensräumen zu tun. Solche Orte sind ein universales Phänomen, auch das Mittelalter kennt sie in allen genannten Formen. Auf der einen Seite also sakrale Räume, oft zu Architekturphantasien hochgetrieben, nicht nur literarisch, sondern auch realiter. Dies vor allem als Nachbildungen des Himmlischen Jerusalem, wie etwa der Gralstempel in Albrechts ›Jüngerem Titurel‹ mit seinen künstlichen Bäumen und mechanischen Vögeln, denen durch ein Röhrensystem Luft zugeführt wird, so daß sie ,singen‘ können.1 Diese Phantasien stehen in der Tradition orientalischer Automaten, die dem Herrscher dazu dienten, sich symbolisch in den Mittelpunkt eines nachgebildeten Universums zu setzen.2 Auf der andern Seite nimmt die prominente Position die Darstellung des Paradieses ein sowie dessen Abbild, der kunstvoll angelegte Garten, insbesondere der Klostergarten, soweit er nicht reiner Nutzgarten ist, sondern als Meditationsbezirk mit dem Brunnen in der Mitte als symbolischem Lebensquell und besetzt mit Symbolpflanzen konzipiert ist. Und hierher gehört auch der hortus conclusus Mariens.3 Aber auch wenn man 1
Vgl. meine Studie „Gebet und Hieroglyphe. Zur Bild- und Architekturbeschreibung in mittelalterlicher Dichtung“, in: Haug, Strukturen, S. 110–125, hier S. 120f. 2 Gustave E. von Grunebaum, Der Islam im Mittelalter, Zürich, Stuttgart 1963, S. 45f. mit Anm. 76, S. 453f.; Christoph Fasbender, „reht alsam er lebte – Nachbildung als Überbietung der Natur in der Epik des Mittelalters. Anmerkungen zu Texten und zu interpretatorischen Konsequenzen“, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters, Colloquium Exeter 1997, hg. v. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 53–64, hier S. 53– 56 mit der älteren Lit. in den Anm. 2, 7, 8. 3 Heimo Reinitzer, Der verschlossene Garten. Der Garten Marias im Mittelalter (Wolfenbütteler Hefte 12), Wolfenbüttel 1982.
5. Schreckensorte und künstliche Paradiese
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im Klostergarten gewissermaßen ins Paradies eintritt, so ist dies kein Naturerfahrungsraum, vielmehr wird hier eine Szenerie präsentiert, die sich auf eine Idealnatur bezieht, auf jene ursprüngliche Natur, die durch den Sündenfall zerstört worden ist. Es ist ein Ort, an dem man während seiner irdischen Existenz im Grunde nicht sein kann, auch wenn man sich mit solchen Darstellungen Bezirke schafft, über die man kontemplativ das Paradies zurückzurufen versucht. Kennzeichnend für den Idealgarten ist deshalb die ihn umgebende Mauer, die ihn gegen eine nicht-ideale Umwelt abgrenzt; die Mauer kann geradezu als differentia specifica für den Garten gelten.4 Etymologisch steckt im Wort ,Garten‘, χο ρτος, hortus ein Stamm, der ,flechten‘, ,umzäunen‘ bedeutet. Und auch das persische pairi-dae’za, unser ,Paradies‘, meint nichts anderes als ,Umzäunung‘, ,Gehege‘. Der mittelalterliche Garten in seiner Ausgrenzung will also nicht Naturerfahrung vermitteln, sondern er will verstanden, interpretiert werden, und zwar als Bild des Göttlichen, des Ewigen.5 Die subjektive Position des Betrachters spielt keine Rolle; er begibt sich in den Garten, betrachtet ihn von innen, oder er überblickt ihn als Bild von außen, sozusagen aus einer neutralen Distanz. Ganz anders der Gegenbegriff ,Landschaft‘. Landschaftsdarstellungen im genauen Sinn des Wortes implizieren Raumerfahrungen, die einen bestimmten Blickpunkt voraussetzen. Der Ort, von dem aus eine Landschaft im Bild wiedergegeben wird, muß auch vom Betrachter eingenommen werden.6 Und dieser Raumpunkt verbindet sich mit einem konkreten Zeitpunkt. Bewegungen im Bild sind in einem bestimmten Augenblick festgehalten. Raumzeitliche Konkretisierung aber setzt die Idee der Individualität und das Interesse an ihr voraus. Personale Erfahrung tritt an die Stelle reflektierender Deutung. Der Übergang zu dieser individualisierenden Darstellung der Natur als Landschaft ist immer wieder als eine epochale Wende gesehen worden, und sie läßt sich kulturhistorisch festmachen. Die Figuren in der mittelalterlichen Tafelmalerei erscheinen sehr lange vor einem Goldhintergrund oder einem abstrakten Muster. Werden Naturgegenstände einbezogen, so sind dies konventionalisierte Requisiten. Wenn sie nicht nur dekorativen Charakter haben, sind sie symbolisch zu deuten, d. h., sie stehen nicht für sich selbst, sondern für etwas anderes, sie verweisen auf einen dahinterliegenden, häufig auf einen typologischen Sinn. Auch Bilder in illuminierten Handschriften dienen oft nicht nur der Illustration, sondern sie können den Text auch interpretierend über sich selbst hinausführen.7 4
Peter Cornelius Mayer-Tasch u. Bernd Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies. Der mittelalterliche Garten, Frankfurt a. M., Leipzig 1998, S. 11. 5 Ebd., S. 20. Man hat von „Bedeutungslandschaften“ gesprochen, siehe Christoph Gerhardt u. Bernhard Schnell, In verbis in herbis et in lapidibus est Deus. Zum Naturverständnis in den deutschsprachigen illustrierten Kräuterbüchern des Mittelalters (Mitteilungen und Verzeichnisse aus der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars zu Trier 15), Trier 2002, S. 8. 6 Norbert H. Ott, „Wege zur Landschaft. Randbemerkungen zu den Illustrationen einiger spätmittelalterlicher Handschriften, insbesondere von Konrads von Megenberg ,Buch der Natur‘“, in: Robertshaw u. Wolf [Anm. 2], S. 119–136, hier S. 119ff. Hier auch zur Bedeutung der Perspektive für diesen Übergang. 7 Michael Curschmann, Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit (Saecula Spiritalia 43/44), 2 Bde., Baden-Baden 2007, Bd. 1, S. 21ff.
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Der Durchbruch durch den Goldhintergrund, wenn ich so sagen darf, d. h. der Durchblick von der dargestellten Szene in einen Hintergrund hinein, ist eine Neuerung der Malerei Ende des 13. Jahrhunderts; Giotto ist ihr herausragender Repräsentant.8 Aber es dauert dann noch zweihundert Jahre, bis das reine Landschaftsbild erscheint, d. h. das Landschaftsbild, in dem kein konkretes Sujet mehr zur Darstellung kommt oder in dem es nur marginal auftaucht.9 Ich verweise auf Dürers Alpenaquarelle.10 Voraus geht Joachim Patinir, den Dürer den Vater der Landschaftsmalerei genannt hat, wobei jedoch zu beachten ist, daß bei ihm die Landschaft noch bedeutungsgeladen ist, indem sie wesentlich die Bildthematik mit zum Ausdruck bringt.11 Landschaft im Sinne der Landschaftsmalerei, festgehalten als individueller Augenblick aus subjektiver Perspektive, ist also ein kulturhistorisches Konstrukt. Landschaftliche Raumerfahrung ist folglich nicht als anthropologisches Universale anzusehen, sie ist nur unter bestimmten kulturellen Bedingungen realisiert worden. Die Gegenposition vertritt, wie gesagt, das mittelalterliche Tafelbild mit Goldhintergrund oder vor einem abstrakten Muster, das kein subjektiv-räumliches Sehen verlangt. Es ist sogar möglich, daß der subjektive Standpunkt bewußt ausgeschaltet wird: es gibt in der Malerei das Christusantlitz, das den Betrachter anschaut und ihm mit den Augen zu folgen scheint, wo immer er sich hinstellen mag. Cusanus hat es in ›De visione Dei‹ beschrieben und als die Allgegenwart Christi gedeutet.12 Noch Dürer wird dies in seinem an Christus angelehnten Selbstporträt übernehmen.13 Es geht in dieser Kunst also um die unräumliche und überzeitliche Gegenwärtigkeit des Dargestellten, selbst wenn ein bestimmtes Ereignis wie die Geburt Christi oder Christus am Kreuz wiedergegeben werden.
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Man denke bei diesem Übergang auch an die ›Tre`s Riches Heures‹ der Brüder Limburg. Die Monatsbilder bieten noch keine Landschaften im eigentlichen Sinn, sondern stellen, ihrem Thema, den Monatsarbeiten, entsprechend, kultivierte Natur dar. Sie sind fast durchwegs durch Gebäude im Hintergrund begrenzt, wobei der blaue Himmel darüber keine Tiefe öffnet, sondern die Funktion des traditionellen Goldhintergrunds übernimmt. Das ändert sich bei den biblischen Themen, die z. T. zukunftsweisende landschaftliche Durchblicke bieten. – Möglicherweise muß man, was die ersten Ansätze einer Landschaftsdarstellung betrifft, noch weiter ins 13. Jahrhundert zurückgehen. Ulrich Köpf weist mich darauf hin, daß sich in der Jakobskirche in Grissian, Südtirol, ein Fresko findet, auf dem Jakob auf dem Weg zur Opferung Isaaks dargestellt ist und das wohl dem frühen 13. Jahrhundert zuzuweisen sei. Im Hintergrund erscheinen Felstürme mit schneebedeckten Spitzen, die an die Dolomiten erinnern, die man von dort aus sehen kann. Da diese Felsenreihe in dichter Folge die ganze Höhe des Bildes einnimmt, verhindert dies einen Blick in die landschaftliche Tiefe. Man hat es vermutlich mit einem lokalen Sonderfall zu tun. 9 Zur Verdrängung des Bildthemas zugunsten der Landschaft, die nun das eigentliche Thema wird, siehe Ott [Anm. 6], S. 120. 10 Rüdiger an der Heiden, „Das Werk: Die Entdeckung der Natur“, in: Albrecht Dürer 1471/1971 (Katalog zur Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 21. Mai bis 1. August 1971), München 1971, S. 299f. 11 Patinir. Essays and Critical Dialogue, hg. v. Alejandro Vergara, Madrid 2007. 12 Werner Beierwaltes, Visio absoluta. Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1978, 1. Abh.), Heidelberg 1978. 13 Joseph Leo Koerner, The Moment of Self-Portraiture in German Renaissance Art, Chicago, London 1993, S. 127ff. mit Anm. 1 und 2.
5. Schreckensorte und künstliche Paradiese
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Auf der einen Seite steht also die Präsentation einer zeitlosen und raumenthobenen Darstellung einer heilsgeschichtlichen Wahrheit, in die man sich nur anschauend und reflektierend hineinstellen kann, auf der andern stehen Entwürfe von Landschaften in raumzeitlicher Individualität als Spiegel subjektiver Welterfahrungen. Damit sind jedoch nur die Extrempositionen benannt, und so sollte man denn nicht übersehen, daß gerade die Übergänge und Verbindungen zwischen ihnen von besonderem Interesse sind. Sie zeigen das allmähliche Eindringen der subjektiven Erfahrung in ein Geschehen, das an sich von ihr unabhängig ist und als solches Anerkennung und Erkenntnis fordert, aber nicht individuelle Zugänge eröffnet. Die Entwicklung der Malerei seit dem späten 13. Jahrhundert zeigt, wie der subjektive Blick sich Schritt für Schritt der Heilsgeschichte bemächtigt, wie sie über Einbettung in eine Landschaft in die Lebenswelt des Betrachters hereingeholt wird.14 Die schrittweise Entdeckung der Landschaft läßt sich auch wortgeschichtlich verfolgen. Das Wort lantschaft ist schon althochdeutsch belegt; es bedeutet einerseits ,Landstrich‘ oder ,Gegend‘ (territorium, regio), andrerseits kann es politisch verwendet werden für die Landstände einer bestimmten Region. Der semantische Wandel zu einem Ausdruck für den ästhetisch betrachteten Naturraum wird gegen Ende des 15. Jahrhunderts faßbar, indem er nun erstmals als Terminus technicus in der Malerei verwendet wird.15 Analoge semantische Übergänge lassen sich im Italienischen, Französischen und Niederländischen feststellen. paesaggio ist zuerst bei Vasari in dem neuen, auf die bildenden Künste bezogenen Sinn belegt; das ältere Wort paese macht den Wandel mit. Im Französischen datiert der früheste Beleg für paysage ins Jahr 1556, aber noch in der Bedeutung von regio, doch 1580 verwendet Palissy in seinen ›Discours admirables de la nature des Eaux et Fonteines‹ paysage für ein dichterisches Naturbild – wohl das früheste Zeugnis für die Übertragung des Begriffs ins Literarästhetische. Im Niederländischen taucht landschap im Sinne eines schönen Naturraums in den Malerbiographien des 17. Jahrhunderts auf, und diese beeinflussen dann die Semantik von engl. landscape.16 Es gibt im übrigen parallele Entwicklungen zu individueller Erfahrung in andern kulturellen Bereichen, etwa im geistlichen Spiel, in dem der hieratische Ablauf in bestimmten Szenen im späteren Mittelalter durch eine gezielte Emotionalisierung der Zuschauer immer stärker durchbrochen wird.17 Philosophisch ist der Gedanke eines subjektiv-individuellen Wegs zum Heil erstmals im 15. Jahrhundert explizit formuliert worden, und zwar von Cusanus in seinem Dialog über das Kugelspiel. Es geht um ein Spiel, bei dem die Teilnehmer Kugeln auf ein Zentrum hin zurollen lassen. Da die Kugeln jedoch auf der einen Seite ausgehöhlt sind, beschreiben sie Spiralen, wobei jeder 14
Zu dem entsprechenden Prozeß in den illuminierten Hss. des 15. Jh.s siehe Ott [Anm. 6], S. 128f.; ferner Henrike Lähnemann, Landschaftsdarstellung und Moraldidaxe. Die Bilder der ,Renner‘-Bearbeitung cpg 471, in: Robertshaw u. Wolf [Anm. 2], S. 103–118, hier S. 108–112. 15 Rainer Gruenter, „Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte“, GRM 34 (1953), S. 110–120, hier S. 110f. 16 Ebd., S. 112–114. 17 Wilfried Werner, Studien zu den Passions- und Osterspielen des deutschen Mittelalters in ihrem Übergang vom Latein zur Volkssprache (Philologische Studien und Quellen 18), Berlin 1963, insbes. S. 105ff.
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Wurf seine eigene Bahn nimmt. Das wird von Cusanus dann allegorisch gedeutet: es gibt nicht mehr den einen, geraden Lebensweg zum Ziel, das Christus ist, sondern je individuelle Wege gleichen Rechts. Es geht folglich im Leben nicht mehr um die Frage der Befolgung des rechten Weges und der Abweichung von ihm, sondern darum, wie nahe jeder einzelne dem Ziel kommt.18
II All dies hängt zusammen mit einem sich allmählich wandelnden Verhältnis zur Natur. Im Mittelalter ist die Natur gefallene, durch den Sündenfall korrumpierte Natur. Naturerfahrung ist nur als negative Erfahrung denkbar. Die Natur außerhalb des Gartens und landwirtschaftlich der Wildnis abgerungener Nutzflächen erscheint als Bereich der Gefahr, der Bedrohung, als locus terribilis. Wir haben heute kaum mehr eine Vorstellung davon, inwieweit noch im Hochmittelalter Europa von Urwäldern bedeckt war. Unsere gepflegten Wälder sind weitgehend zu Parklandschaften geworden, und Bergbahnen führen uns mühelos auf die höchsten Alpengipfel. Als Gegenbild kann des Johannes von Salisbury schreckenerregende Beschreibung seiner Reise über den Großen St. Bernhard dienen.19 Er schildert die lebensbedrohenden Gefahren, denen er sich ausgesetzt sah, die eisige Kälte, die sogar seine Tinte habe gefrieren lassen – für einen Gelehrten das Menschen- und Kulturfeindlichste, was ihm geschehen kann! Er sagt: „Ich bin auf dem Großen St. Bernhard gewesen; zum einen habe ich von der Höhe zum Himmel emporgeblickt, zum andern schauderte ich, als ich in die Hölle der Täler hinabsah. Doch ich fühlte mich dem Himmel um so näher, als ich hoffen konnte, daß mein Gebet desto eher gehört würde.“ Und dieses Gebet lautet: „Herr, gib mich meinen Mitmenschen zurück, damit ich sie daran hindern kann, sich an diesen Ort der Qual zu begeben.“ Man hat sich gefragt, wie diese schreckliche Natur in den göttlichen Schöpfungsplan paßt. Sah die Erde immer schon so aus?20 Man suchte nach einer Antwort in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Von Bergen ist in der ›Genesis‹ vor der Sintflut nicht die Rede. Doch wie ist das zu verstehen, was sich am dritten Schöpfungstag (Gen 1,9f.) abspielte? Es heißt da nach Luther: „Gott sprach: es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besonderen Örtern, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer.“ Man konnte sich zwar denken – und es gibt phantasievolle rabbinische Kommentare dazu –, daß dabei auch Hügel und Berge entstanden. Doch wenn man sich ›The Legends of the Jews‹ von Ginzberg21 daraufhin ansieht, so herrscht die Auffassung vor, daß die Erde ursprünglich ebener, gleichmäßiger, ordentlicher aussah, nicht zerrissen durch ein Ge18
Vgl. meine Studie „Das Kugelspiel des Nicolaus Cusanus und die Poetik der Renaissance“, in: Haug, Brechungen, S. 362–372. 19 Marjorie Hope Nicolson, Mountain Gloom and Mountain Glory: The Development of the Aesthetics of the Infinite, Cornell Univ. Press 1959, S. 49. 20 Ebd., S. 81ff. 21 Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1909ff., Bd. 1, S. 18, S. 79f.
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wirr von Höhen, Tälern und Abgründen. Und diese Auffassung ist von den christlichen Kommentatoren übernommen worden. Die Verzerrungen der Erdoberfläche verdanken sich erst dem Sündenfall. Seit der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies steht die Erde selbst in der Zeitlichkeit, sie wird alt und faltig wie ein Gewand. Und man fand auch einen Anhaltspunkt dafür in Gen 3,17ff. Hier heißt es, wiederum in Luthers Übersetzung: Und zu Adam sprach er [Gott]: Dieweil du hast gehorcht der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach: du sollst nicht davon essen – verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen.
Die Stelle „verflucht sei der Acker um deinetwillen“ lautet aber in der ›Vulgata‹: maledicta terra in opere tuo. Diese Übersetzung des hebräischen Originals, die der ›Septuaginta‹ folgt, ist zweifellos falsch, aber sie ist bis heute in der lateinischen Bibel gängig. Und so konnte sich die Vorstellung durchsetzen, daß nicht der Acker, sondern die ganze Erde wegen der Tat Adams verflucht worden ist, daß sie sich also nach dem Fall wie der Mensch physisch verändert hat. Und die Vorstellung der durch die Sünde wild und wüst gewordenen Natur wurde noch verstärkt durch das, was ihr durch die Sintflut angetan worden sein soll. So vertritt Augustinus in ›De Genesi ad litteram‹ die Meinung, daß es zwar ein paar Erhebungen vor der Sintflut gegeben habe, daß sie aber weniger steil waren als heute und daß erst die Sintflut die Oberfläche derart zerklüftet habe, wie wir sie jetzt vorfinden.22 Und noch Luther schließt sich dieser These in seinem Genesiskommentar an: Ich zweifle nicht, daß vor dem Sündenfall die Luft reiner und gesünder war, das Wasser fruchtbarer, ja sogar das Licht der Sonne ist schöner und heller gewesen, so daß nun die ganze Schöpfung in jeder Einzelheit uns erinnern soll an den durch die Sünde auf sie gelegten Fluch. Und dieser Fluch ist später durch die Sintflut vergrößert worden; durch sie wurden alle guten Bäume herausgerissen und zugrundegerichtet, der Sand angehäuft und die schädlichen Pflanzen vervielfacht. Seit der Sintflut gibt es da Berge, wo früher Felder und fruchtbare Ebenen waren.23
Das Gegenbild zur verfluchten, zerklüfteten Erde ist das Paradies mit seiner unbeschädigten Natur; es ist der Urzustand sowie der Zielpunkt am Ende der Zeiten. Wenn man es nicht allegorisch, sondern literal verstand, dann mußte es noch irgendwo geographisch vorhanden sein, entweder am Rande der Welt im Osten oder, nach der Brandanlegende, als Insel im westlichen Meer. Und die Beschreibung erfolgt gegenüber der verfluchten Natur ex negativo: In Pseudo-Cyprians ›De laude martyrii‹ findet sich die erste abendländische Schilderung, die aber auf ältere Traditionen zurückgehen dürfte: Im Paradies ist die Erde von grünenden Gefilden und Blüten bedeckt. In den Hainen herrscht ewiger Frühling, es gibt weder den Wechsel der Jahreszeiten noch den Wechsel 22 23
Nicolson [Anm. 19], S. 90. Martin Luther, Weimarer Ausgabe, Bd. 41, S. 153. – Seit der Renaissance gibt es auch Versuche, die Ungestalt der Erde naturwissenschaftlich zu erklären. So hielt man die Hügel für Ausbuchtungen aufgrund von Erdbeben und die bizarren Felsen für erstarrte Ausbrüche feuriger Materien aus dem Innern der Erde; vgl. Wolfram Prinz, „Die Kunst und das Studium der Natur im 14. und 15. Jahrhundert in Italien“, in: Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. Jahrhundert, hg. v. Wolfram Prinz u. Andreas Beyer, Weinheim 1987, S. 5–16.
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von Tag und Nacht.24 Auch Augustinus vertritt ein literales Verständnis, er denkt an einen Ort im Osten, auf der Höhe eines Berges, die von der Sintflut nicht erreicht worden ist; es gebe dort weder Hitze noch Kälte, auch nicht Hunger, Krankheit und andere Beschwerden.25 Noch Luther bezieht seine Vorstellung, daß Adam vor dem Sündenfall auf den lieblichsten Wiesen unter Blumen und Rosen wandelte, aus dieser Tradition. Vor solch einem Hintergrund kann man ermessen, wie radikal der Umbruch war, als Rousseau programmatisch die korrumpierte Gesellschaft einer von Anfang an unbeschädigten Natur entgegenstellte, wobei nicht übersehen werden soll, daß diese Gegensicht weit zurückgehende Vorläufer hat, vor allem in der Pastorale. Und damit wende ich mich der literarischen Umsetzung des Konzepts von paradiesischer Utopie versus korrumpierter Wirklichkeit zu.
III In der Antike entwickelte sich eine besondere Form von Naturdichtung, die Bukolik, begründet durch Theokrits ›Idyllen‹, auf den Höhepunkt geführt in Vergils ›Eklogen‹.26 In ländlicher Umgebung unterhalten sich hier Hirten, die natürlich verkleidete städtische Intellektuelle sind, über erotische oder politische Themen. Dabei werden Naturgegenstände hereinzitiert: Blumen, Bäume, Quellen, Vögel, Bienen, Schafe, Rinder usw., wobei sich bei Theokrit durchaus konkrete Landschaftsbilder ergeben können. Doch schon bei Vergil kommt es zu einer Abstraktion zum Typischen hin,27 und so bildete sich die Vorstellung eines bukolischen Ideallandes, Arkadiens, heraus, das, mit Motiven des Goldenen Zeitalters angereichert, über die Jahrhunderte hin nachwirkte. Im frühen Mittelalter kam es zu massivem Widerstand gegen die Rezeption der antiken Bukolik. Hieronymus und Gregor von Nazianz z. B. machten Front gegen die erotisch ausgerichtete Eklogendichtung.28 Auf der andern Seite versuchte man, sie christlich umzuinterpretieren;29 der Paradefall ist die Usurpation der vierten Vergilschen 24
Reinhold R. Grimm, Paradisus coelestis – paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200, München 1977, S. 46. 25 Ebd., S. 64. 26 Einen Gesamtüberblick bietet die Sammlung von Studien Europäische Bukolik und Georgik, hg. v. Klaus Garber (Wege der Forschung 335), Darmstadt 1976. 27 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 3 1961, S. 195ff.; Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen (Probleme der Dichtung 7), Heidelberg 1965, S. 103ff.; Klaus Garber, Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Diss. Bonn, Köln 1974, S. 85ff.; Ernst A. Schmidt, „Bukolik und Utopie. Zur Frage nach dem Utopischen in der antiken Hirtenpoesie“, in: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hg. v. Wilhelm Vosskamp, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 21–36. 28 Mähl [Anm. 27], S. 104f. 29 Ebd., S. 106.
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Ekloge, die die Geburt eines göttlichen Kindes verhieß, was man auf die Ankunft Christi gedeutet hat.30 Doch Arkadien wurde dann doch durch das Paradies verdrängt, wenngleich nicht ohne daß dieses Motive aus der Bukolik an sich gezogen hätte.31 Und wenn man doch den Eklogentypus aufgriff, dann als Rahmen gerade für eine Konfrontation der antiken und christlichen Positionen. Die berühmte, in den Schulkanon aufgenommene Ekloge Theoduls z. B. inszeniert einen Hirtenwettgesang, in dem die christliche Wahrheit gegen die heidnische Antike gestellt wird. So kam es, daß die Bukolik im eigentlichen Sinne im italienischen 14. Jahrhundert neu entdeckt werden mußte und von daher ihren Siegeszug in so gut wie allen europäischen Literaturen antrat.32 Und doch wurde ein Erbstück der Bukolik für das Mittelalter von großer Bedeutung, nämlich die aus ihr abgelösten und über die rhetorische Tradition weitergegebenen Versatzstücke einer idealen Natur: der Topos des locus amoenus. Er erscheint in der mittellateinischen wie in der vulgärsprachlichen Dichtung bald knapp formelhaft, bald aber auch breit ausgestaltet. Die ältere Forschung wollte darin den Ausdruck eines unmittelbaren Naturgefühls sehen.33 Ernst Robert Curtius hat dies vehement kritisiert und dagegengehalten, daß man es mit über die Rhetorik vermittelten Stereotypen zu tun habe, die in der Antike vorgebildet waren. Der locus amoenus sei gekennzeichnet durch ein Ensemble von Motiven, über das man traditionell verfügen konnte. Die Minimalausstattung bestand aus einem schattenspendenden Baum oder mehreren Bäumen, einer Wiese mit Quelle oder Bach. Dazu kamen Blumen und Vogelgesang und laue Lüfte.34 Curtius spricht von einer „Ideallandschaft“, die über die Jahrhunderte hin immer wieder abgewandelt worden sei. Man hat die Curtius’sche These einer über Topoi vermittelten Rezeption antiker literarischer Muster sehr bereitwillig aufgegriffen, und es setzte eine Topikforschung ein, die die mittelalterliche Literatur nach rhetorischtopischen Versatzstücken durchkämmte.35 Die Reaktion blieb nicht aus. Man entdeckte, daß Topoi sich keineswegs nur selbst zu genügen brauchten, daß sie vielmehr in funktionale Zusammenhänge einbezogen werden konnten und von diesen Zusammenhängen her zu interpretieren waren.36 30
Vgl. meine Studie „Die Sibylle und Vergil in der ›Erlösung‹. Zum heilsgeschichtlichen Programm der ›Erlösung‹ und zu ihrer Position in der literarhistorischen Wende vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter“, in: Haug, Brechungen, S. 617–639, hier S. 617ff. 31 Mähl [Anm. 27], S. 107, S. 110. 32 Garber [Anm. 27]. 33 Wilhelm Ganzenmüller, „Die empfindsame Naturbetrachtung im Mittelalter“, AKG 12 (1916), S. 195–228; Elisabet Haakh, Die Naturbetrachtung bei den mittelhochdeutschen Lyrikern (Teutonia 9), Leipzig 1908; Gertrud Stockmayer, Über Naturgefühl in Deutschland im 10. und 11. Jahrhundert (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 4), Berlin, Leipzig 1910, Hildesheim 1973. 34 Curtius [Anm. 27], S. 202. 35 Walter Veit, „Toposforschung. Ein Forschungsbericht“, DVjs 37 (1963), S. 120–163; Toposforschung. Eine Dokumentation, hg. v. Peter Jehn (Respublica Literaria 10), Frankfurt a. M. 1972. 36 Helmut Beumann, „Topos und Gedankengefüge bei Einhard. Zugleich Besprechung von E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“, AKG 33 (1951), S. 337–350; Dagmar Thoss, Studien zum locus amoenus im Mittelalter (Wiener Romanistische Arbeiten X), Wien, Stuttgart 1972.
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Ein treffliches Beispiel einer solchen Funktionalisierung bietet die Naturszenerie als Hintergrund für das Frühlingsfest des Königs Marke in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹:37
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Nu was diu hoˆhgezıˆt geleit, benennet unde besprochen die blüenden vier wochen, soˆ der vil süeze meie ˆın gaˆt unz an daz, daˆ er ende haˆt, bıˆ Tintajeˆl soˆ naˆhen, daz si sich undersaˆhen, in die schœnesten ouwe, die keines ougen schouwe ie überluˆhte eˆ oder sıˆt. diu senfte süeze sumerzıˆt diu hæte ir süeze unmüezekeit mit süezem vlıˆze an si geleit. diu cleinen waltvogelıˆn, diu des oˆren vröude sulen sıˆn, bluomen, gras, loup unde bluot und swaz dem ougen sanfte tuot und edeliu herze ervröuwen sol, des was diu sumerouwe vol: man vant daˆ, swaz man wolte, daz der meie bringen solte: den schate bıˆ der sunnen, die linden bıˆ dem brunnen, die senften linden winde, die Markes ingesinde sıˆn wesen engegene macheten. die liehten bluomen lacheten uˆz dem betouwetem grase. des meien vriunt, der grüene wase der hæte uˆz bluomen an geleit soˆ wunneclıˆchiu sumercleit, daz si den lieben gesten in ir ougen widerglesten. diu süeze boumbluot sach den man soˆ rehte suoze lachend’ an, daz sich daz herze und al der muot wider an die lachende bluot mit spilenden ougen machete und ir allez widerlachete. daz senfte vogelgedœne, daz süeze, daz schœne, daz oˆren unde muote
Für diesmal war das Hoffest festgesetzt und anberaumt in den blühenden vier Wochen vom Beginn des holden Mai bis zum Monatsende vor den Toren von Tintagel, für alle überschaubar in dem schönsten Wiesengrund, wie ihn nie zuvor und nicht danach je leuchtende Augen überblickten. Die lieblich leichte Frühlingszeit, die hatte mit liebevollem Tun sich liebreizend um ihn bemüht. Die zierlich-kleinen Waldvögel, bestimmt zur Ohrenfreude, Blumen, Gras, Blätter und Blüten, und was den Augen schmeichelt und edlen Herzen zur Freude dient: die Frühlingswiese war davon erfüllt. Man fand da, was man suchte und sich vom Mai erwünschte: Schatten neben Sonnenwärme, eine Linde bei der Quelle, sanfte, weiche Lüfte – sie alle boten sich nach ihrer Art Markes Hofgesellschaft dar. Die hellen Blumen lachten aus taubenetztem Gras. Der Freund des Mai, der grüne Grund, der trug aus Blumen so wundervolle Frühlingskleider, daß sie in den Augen der lieben Gäste widerstrahlten. Die lieblich blühenden Bäume sahen einen so lieblich lachend an, daß Herz und Geist mit schimmernden Augen dem Blütenlachen begegneten und all dies lachend zurückgaben. Das lauschige Vogelgezwitscher, so entzückend und so schön, das Ohren und Herz
Tristan, hg. Ranke (diakritische Zeichen hinzugefügt).
5. Schreckensorte und künstliche Paradiese vil dicke kumet ze guote, daz vulte daˆ berge unde tal. 580 diu sælege nahtegal, daz liebe süeze vogelıˆn, daz iemer süeze müeze sıˆn, daz kallete uˆz der blüete mit solher übermüete, 585 daz daˆ manc edele herze van vröude unde hoˆhen muot gewan.
65 so überaus wohltut, das erfüllte Berg und Tal. Die wunderbare Nachtigall, das liebe, entzückende Vögelchen – möge es doch immer so entzückend bleiben –, das sang aus der Blütenpracht dermaßen übermütig, daß viele edle Herzen Freude und Hochstimmung daraus schöpften.
Es ist leicht, hier die traditionellen Versatzstücke des locus amoenus dingfest zu machen: der Wiesengrund mit Gras und Blumen, schattenspendende Bäume, der Sang der Vögel, der sanfte Wind, die Quelle. Demgegenüber aber wird man nicht verkennen, in welchem Maße das Ensemble zum Spiegelbild einer hochgestimmten Gesellschaft stilisiert ist, das in einer Wechselwirkung zum Ausdruck gebracht wird: Die Natur schmeichelt den Augen, die Blumen lachen die Menschen an, und diese lachen zurück, der Vogelsang ist übermütig und erfüllt die Herzen mit Lust. Die Harmonie der Natur steht im gegenseitig sich steigernden Einklang mit der Harmonie der Festgesellschaft. In diese Harmonie bricht dann die Liebe ein, die Liebe zwischen Riwalin, Tristans Vater, und Blanscheflur, Schwester des Königs Marke – eine Liebe, die tragisch endet: Blanscheflur gibt sich Riwalin hin, sie empfängt ein Kind, sie flieht mit ihm, Riwalin fällt im Kampf, und sie stirbt bei der Geburt des Kindes. Und damit beginnt die Geschichte Tristans. Der locus amoenus taucht später dann noch einmal auf, und zwar als Ambiente der Liebesgrotte, in die Tristan und Isold sich begeben, nachdem ihr ehebrecherisches Verhältnis den Aufenthalt am Markehof unmöglich gemacht hat.38 Hier erscheinen dieselben topischen Versatzstücke wie beim Frühlingsfest Markes, und wieder korrespondiert die harmonische Natur menschlicher Idealität, aber an der Stelle der Gesellschaft steht nun allein das Liebespaar. Es geht also nicht um rhetorischen Prunk und schon gar nicht um Naturgefühl, sondern um Naturharmonie als Bild von Idealität, wobei die Wiederholung den Abgrund aufreißt zwischen einer idealen Gesellschaft in der Hochform des Festes, die aber dann durch eine absolut gesetzte Liebe zerstört wird, und einer personalen Liebe, die die Idealität im selben Bild an sich zieht, freilich nur als Utopie an einem unwirklichen, von der Gesellschaft abgesonderten Ort. Der ›Tristan‹ muß als Sonderfall einer in höchstem Maße funktionalisierten Ausgestaltung des locus amoenus gelten. Es gibt kaum Vergleichbares. Als höchst reizvoller Nachzügler ist aber immerhin der ›Roman de la Rose‹ zu nennen.39 Dürftiger sind die Spaziergangsszenerien in den deutschen Minneallegorien.40 38
Rainer Gruenter, „Das wunnecliche tal“, Euphorion 55 (1961), S. 341–404. Mayer-Tasch u. Mayerhofer [Anm. 4], S. 88ff. 40 Johanne Messerschmidt-Schulz, Zur Darstellung der Landschaft in der deutschen Dichtung des ausgehenden Mittelalters (Vorstellung und Ausdrucksform) (Sprache und Kultur der germanischen und romanischen Völker, B. Germanistische Reihe XXVIII), Breslau 1938; Ingeborg Glier, Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971, S. 399. 39
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I. Übergreifendes
So ist es denn auffällig, daß im Vergleich zum ›Tristan‹ im klassischen arthurischen Roman eher sparsam mit Naturversatzstücken umgegangen wird. Das arthurische Fest, bei dem es dem Schema gemäß dazu kommt, daß einer der Ritter, der jeweilige Titelheld, auf Aventüren ausziehen muß, findet zwar im Frühjahr statt, aber es spiegelt sich – siehe Chre´tiens und Hartmanns ›Yvain‹/›Iwein‹ – die Idealität weniger in einem amönen Ambiente, sie realisiert sich vielmehr im harmonisch ausbalancierten Zusammenleben der Hofgesellschaft, das seinen Ausdruck insbesondere in allerhand spielerischem Zeitvertreib findet. Und wenn dann der Aventüren-Ritter den Hof verläßt und sich in die Gegenwelt begibt, so zieht er da zwar durch wilde Wälder und unwegsame Gegenden, aber nicht die Natur ist in erster Linie bedrohlich, sondern die Übeltäter, die hier auftauchen und gegen die der Held sich zur Wehr setzen muß. Die Natur spielt, bis auf Sonderfälle, nicht mit, und wenn, nur punktuell: man denke an die Gewitterquelle in Chre´tiens de Troyes ›Yvain‹.41 Das im Mittelalter verloren gegangene Arkadien wird jedoch, wie gesagt, in der Renaissance neu entdeckt, und die Tradition mündet schließlich in die Schäferspielerei des 17. Jahrhunderts. Dieses künstliche, arkadische Verhältnis zur Natur dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, daß die Landschaftsdarstellung in der Literatur sehr viel zögerlicher einsetzt als in der Malerei.
IV Die Zurückhaltung gegenüber Naturschilderungen im klassischen arthurischen Roman wird in der Nachklassik in signifikanter Weise aufgegeben. Und zwar ist es die negative Seite der Natur, die nachdrücklich ins Spiel kommt. Man kann davon sprechen, daß nun der locus terribilis ,entdeckt‘ wird. Dabei öffnen sich, wie zu zeigen sein wird, überraschenderweise erste Blicke auf individualisierte Landschaften. Die Geschichte des locus terribilis ist noch nicht geschrieben. Was die Antike betrifft, so gibt es bestenfalls Ansätze, etwa bei Properz.42 Es ist dann wieder der ›Tristan‹, der in der hochhöfischen Literatur eine Sonderstellung einnimmt. Gottfried beschreibt die Wildnis, in die Tristan von den Kaufleuten, die ihn entführt haben, ausgesetzt wird, aus dessen Blickwinkel.43 Und es gibt in der Fassung des Thomas von England eine Seesturmschilderung, die aber deutlich mit traditionellen Versatzstücken arbeitet. Doch erst in der späteren mittelalterlichen Literatur beginnt der Schreckensort unter bestimmten Bedingungen einen bedeutsamen Platz einzunehmen. Dabei zeigt sich freilich, daß man es nicht mit einem mehr oder weniger festen Bestand von topischen Motiven zu tun hat wie beim locus amoenus, sondern daß das Schreckliche sich sehr viel freier und unkonventioneller entfaltet als die ideale Naturszene, so daß man im Grunde gar nicht von einem Topos sprechen kann. 41
Eine Sonderstellung nimmt Wolfram von Eschenbach ein, siehe Otto Unger, Die Natur bei Wolfram von Eschenbach, Diss. Greifswald 1912. 42 Garber [Anm. 27], S. 226ff. 43 Rainer Gruenter, „Zum Problem der Landschaftsdarstellung im höfischen Versroman“, Euphorion 56 (1962), S. 248–278.
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Das zeigt sich übrigens schon an einem weit vor der hochmittelalterlichen Literatur liegenden, einzigartigen Beispiel, an der Schilderung eines grausigen Orts im altenglischen ›Beowulf‹ aus dem späten 8. Jahrhundert. Im Zentrum des Geschehens stehen zwei Ungeheuer, Grendel und seine Mutter. Grendel bricht in die Kriegergesellschaft in der Halle Heorot ein, und der Held der Erzählung, Beowulf, stellt sich zum Kampf. Er reißt dem Ungeheuer einen Arm aus und folgt dann der Blutspur zu seiner Behausung, deren Ambiente folgendermaßen beschrieben wird: Sie leben in einem unwegsamen Land zwischen von Wölfen durchstreiften Höhen und windgepeitschten Klippen und gefährlichen Sumpfpfaden, wo vom Berg herab die Wasserfälle zerstieben und sich im Unterirdischen verlieren. Nicht weit von hier liegt der See, in dem sie hausen und den reifverkrustete Bäume überhängen, deren dicke Wurzeln das Wasser dunkel machen. Nacht für Nacht kann man ein schreckliches Feuerspiel auf dem See sehen. Niemand weiß, wie tief er ist. (. . . ) Es ist kein Ort zum Verweilen. Schwarz steigt die Gischt der Wellen zu den Wolken empor, wenn der Wind einen schrecklichen Sturm hervorruft, bis der Himmel Regen herabweint in den dichten Dunst.44
Beowulf wagt es, in diesen grauenvollen Abgrund hineinzuspringen. In der Unterwasserbehausung der Monstren kommt es zum Kampf mit Grendels Mutter; Beowulf gelingt es, sie zu überwinden und zu töten, und dann erschlägt er auch den verwundeten Grendel. Die altenglische Beowulf-Heldensage steht in der uns überlieferten Fassung in eigentümlicher Weise in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Grendel und seine Mutter stammen von Kain ab. Die merkwürdige Vorstellung, daß die Nachkommen des Brudermörders Ungeheuer gezeugt haben, findet sich auch anderweitig in der mittelalterlichen Literatur, so in der frühmittelhochdeutschen ›Genesis‹, aber auch in irischen Überlieferungen. Der Sieg Beowulfs erscheint so als Sieg Gottes über die Kainsbrut, und so hat man denn auch versucht, den Abstieg Beowulfs zum Dämonenkampf an den biblischen Descensus ad inferos heranzurücken. Ich möchte mich nicht für eine allegorische Interpretation des ›Beowulf‹ stark machen, aber es wird zweifellos mit heilsgeschichtlichen Analogien gearbeitet, und so evoziert denn der locus terribilis, wo die Ungeheuer leben, die terra maledicta des Sündenfalls. Wenn der arthurische Roman sparsam mit Naturversatzstücken umgeht, so gilt dies, wie gesagt, auch für die böse Natur. Die höfische Gegenwelt, in der sich die Helden nach ihrem Auszug vom Hof bewegen, erscheint als Wald oder Wildnis. Berühmt ist der Wald von Broceliande, der als Wald der aventiuren par excellence gilt.45 Aber in der Regel kommt es dabei nicht zu ausgearbeiteten locus terribilis-Szenerien, wie ja auch, anders als im ›Tristan‹, dem arthurischen Fest ein locus amoenus-Ambiente fehlt. Die Natur spielt, wie gesagt, kaum einmal mit. Die gesellschaftliche Utopie realisiert sich vielmehr in erster Linie in harmonischen menschlichen Beziehungen, und so ist denn auch die Gegenwelt durch negative menschliche Figuren gekennzeichnet. Es sind Räuber, Riesen, Gewalttäter, Verführer, denen sich der höfische Held zu stellen hat. Und 44
Beowulf and The Fight at Finnsburg, hg. v. Friedrich Klaeber, Boston u. a. 1928, S. 51f., vv. 1357–1376. 45 Marianne Stauffer, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter, Bern 1959.
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diese haben keinen spezifischen, d. h. sie kennzeichnenden Ort, sondern sie tauchen gewissermaßen aus dem Nichts auf.46 Dies ändert sich signifikant in nachklassischer Zeit. Es geschieht dadurch, daß die unangefochtene Idealität des Helden in Frage gestellt wird. Man wird sich der Grenzen des höfischen Romanmodells bewußt. Es mußte insbesondere dann problematisch werden, wenn nicht mehr konkrete böse Gegner auftauchen, die zu besiegen sind, sondern der Tod selbst zum Antagonisten des Helden wird. Der Todeserfahrung hat die höfische Idealität nichts entgegenzusetzen; sie ist die Grenze des Spielcharakters der höfischen Welt. Die Preisgabe der höfischen Idealität besteht folglich darin, daß der Held nicht mehr unbeschadet durch die Gegenwelt hindurchgeht, daß er vielmehr in Ängste gerät, und als deren Korrelat taucht nun die wilde Natur auf. Sie ist nicht nur Zeichen der Verfallenheit an den Tod, in ihr erscheint der Tod ganz konkret. In den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts hat Konrad von Würzburg nach französischer Vorlage einen Roman geschrieben, der zwar der Zweiphasen-Struktur des arthurischen Romans folgt, sie aber nach dem Amor-Psyche-Schema neu gestaltet: ›Partonopier und Meliur‹.47 Es geht also wie im klassischen Artusroman um Gewinn, Verlust und Wiedergewinn einer Frau, aber nun einer zauberkundigen Frau, die den Geliebten mit einem Tabu belegt – sie kommt nur nachts zu ihm, und er darf sie nicht sehen –, wobei dann der Tabubruch die typische Krise auslöst. Das führt auch zu einer eigentümlichen Veränderung im Charakter des ersten Aventürenwegs. Sie zeigt sich als Bruch in der Idealität des Helden. Es geschieht Folgendes: Am Hof des Frankenkönigs Clogiers wächst dessen Neffe, Partonopier, heran. Vom Glück gesegnet, erscheint er als das typische Bild des idealen Ritters. Eines Tages aber reitet er mit dem König auf die Jagd in den Ardennenwald. Bei der Verfolgung eines Ebers entfernt er sich immer weiter von der Jagdgesellschaft, schließlich ist sein Pferd erschöpft, und die Hunde haben sich verlaufen. Zornig und traurig setzt er sich unter eine Eiche. Dann irrt er im Wald umher, bis die Dämmerung hereinbricht. Auf den Bäumen meint er wilde Tiere zu sehen, und er beginnt zu klagen: Wenn die Nacht mich hier überfällt, dann ist das mein Tod; der Wald ist voller Drachen; da liegt im Verborgenen der böse Aspis, daneben schläft schnarchend das Krokodil, versteckt lauert der Basilisk, der den Menschen mit seinem Blick tötet. Herr Gott, beschütze mich, sonst bin ich tot.48
Voller Angst und der Ohnmacht nahe führt er das hungrige und abgehärmte Pferd durch den wüsten, wilden Wald; er erreicht schließlich eine felsige Anhöhe. Von da aus erblickt er ein wildes, tobendes Meer. Auf einem steinigen Pfad steigt er zum Ufer 46
Thoss [Anm. 36], S. 5. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. v. Karl Bartsch, Wien 1871; vgl. zum Folgenden meine Studien „Der Teufel und das Böse im mittelalterlichen Roman“, in: Haug, Strukturen, S. 67–85, hier S. 78f.; „Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall“, in: Haug, Brechungen, S. 214–232, hier S. 228f.; „Über die Schwierigkeiten des Erzählens in ,nachklassischer‘ Zeit“, ebd., S. 265–287, hier S. 274f., S. 283f.; Annette GerokReiter, Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik (Bibliotheca Germanica 51), Tübingen, Basel 2006, S. 258ff. 48 Konrad, Partonopier [Anm. 47], vv. 528ff. 47
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hinunter und weiß dann nicht weiter. Doch da bricht das Licht des Mondes durch die Wolken, und er sieht ein Schiff am Strand. Er steigt ein. Es ist ein wunderbares Schiff, mit Gold und Edelsteinen geschmückt. Aber es ist menschenleer. Ermattet legt Partonopier sich hin, und während er schläft, trägt es ihn davon in eine ferne, wundervolle Stadt. Er steigt aus, er trifft aber auf keinen Menschen und beginnt wieder, sich zu fürchten. Dann reitet er zur prachtvoll ausgestatteten Burg hoch, wo er von unsichtbaren Händen bedient und dann in ein Schlafzimmer geführt wird. Hier erscheint in der Dunkelheit eine Gestalt, vor der Partonopier zunächst erschrickt; er fürchtet, es sei der Teufel. Als sie sich jedoch zu ihm ins Bett legt und er sich ihr nähert, entdeckt er, daß es eine wunderbare Frau ist. Sie geben sich der Liebe hin, und dies dann Nacht für Nacht; aber es muß eine Liebe in der Dunkelheit bleiben. Tagsüber ist Partonopier allein in der leeren Burg und Stadt; er verbringt die Zeit aber mit Jagen, wofür ihm zwar eine Meute Hunde, aber keine menschlichen Helfer zur Verfügung stehen. Wie es dann dazu kommt, daß er in Zweifel zurückfällt und meint, es könnte doch der Teufel in Weibsgestalt sein, der ihn nachts besucht, und wie er das Sehtabu bricht und die Geliebte verliert, um sie erst auf einem langen, zweiten Weg zurückzugewinnen, kann hier beiseite bleiben. In unserem Zusammenhang ist in erster Linie von Interesse, daß wir es, anders als beim klassischen Typus, mit einem Helden zu tun haben, der Angst hat und in seiner Angst versagt. Und er projiziert seine Angst nach außen in die Landschaft hinein, er sieht in der Wildnis auf dem Weg zum Meer allenthalben fabelhafte Ungeheuer. Es ist also eine subjektive Befindlichkeit, die eine entsprechende Landschaft evoziert, eine Landschaft voller Grauen und Schrecken. Das Neue in Konrads Roman ist die Begegnung des Helden nicht mit gewalttätigen Gegnern – Menschen tauchen auf Partonopiers Weg überhaupt nicht auf –, sondern die Begegnung mit dem drohenden Tod, die einen ideal-unangefochtenen Helden nicht mehr zuläßt. Und in dieser Begegnung, die die Möglichkeit in sich trägt, daß der Held sterben kann, öffnet sich ein subjektiv-emotionaler Innenraum, der dann auch einen korrespondierenden Weltblick nach sich zieht. Vom traditionellen Helden, der mit stereotyper Idealität ausgestattet ist, hebt sich der individuelle Held also dadurch ab, daß er an eine Grenze stößt, an der seine Idealität zerbricht, zerbrechen muß. Individualität ist also zunächst das Ergebnis einer Erfahrung, bei der der Held versagt. Und es ist diese Individualität, die auch die Welt individualisiert und d. h. zur erfahrungsträchtigen Landschaft macht. Das letzte und besonders eindrucksvolle Beispiel für einen Artusroman, der die Grenzen seines Modells narrativ reflektiert, den Helden damit zu einer individuellen Erfahrung, zur Todeserfahrung, führt und dies in einer entsprechend negativ gezeichneten Landschaft sich spiegeln läßt, bietet der mittelenglische ›Sir Gawain and the Green Knight‹ aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.49 Er beginnt zwar wie üblich mit einem arthurischen Fest, aber es findet entgegen der Tradition nicht im Frühjahr, sondern mitten im Winter, am Neujahrstag, statt. Auch die Figur, die nun hereinreitet und das Geschehen anstößt, ist ein höchst ungewöhnlicher Provokateur: es 49
Sir Gawain and the Green Knight, hg. v. John R. R. Tolkien, Eric V. Gordon, Norman Davis, Oxford 21976; vgl. meine Studien „Der Artusritter gegen das Magische Schachbrett oder Das Spiel, bei dem man immer verliert“, in: Haug, Strukturen, S. 672–686, hier S. 680ff.; „Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen zum späten Mittelalter“, in: Haug, Brechungen, S. 251–264, hier S. 261ff.; „Über die Schwierigkeiten“ [Anm. 47], S. 274.
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ist ein gewaltiger Kerl, ganz in Grün gekleidet, mit grünem Haar und auf einem grünen Pferd. Er hat eine Axt bei sich und fordert die Ritter auf, ihm damit den Kopf abzuschlagen, doch dies unter der Bedingung, daß der Betreffende sich dann bereit finden müsse, auch seinen Kopf für den Gegenschlag hinzuhalten. Die Tafelrunde ist wie gelähmt, aber als der Grüne sie zu verhöhnen beginnt, nimmt Gawain die Herausforderung an. Er ergreift die Axt und schlägt dem Kerl den Kopf herunter, der blutig über den Boden rollt; aber der Rumpf erhebt sich, geht auf den Kopf zu, packt ihn an den Haaren und steigt damit aufs Pferd. Dann beginnt der Kopf zu sprechen und Gawain lachend zu ermahnen, sich in einem Jahr in der Grünen Kapelle dem Gegenschlag zu stellen. Als es dann so weit ist, zieht Gawain unter allgemeinem Wehklagen aus, um die Grüne Kapelle zu suchen. Er reitet durch Logres, also das arthurische Reich, bis hin nach Nordwales und von da durch Furten an Vorgebirgen vorbei, bis er in die Wildnis von Wyrale kommt. Überall fragt er nach dem Grünen Ritter, aber niemand weiß etwas von ihm. An jedem Fluß oder See trifft er auf böse, wilde Gegner, mit denen er kämpfen muß, aber auch auf Drachen, Wölfe und Waldmänner, die in Felsspalten hausen, oder auf Wildstiere, Bären, Eber und Riesen. Schlimmer als diese Kämpfe aber, so heißt es, ist der Winter. Der kalte Regen aus den Wolken gefriert, bevor er den Boden erreicht. Vom Hagel beinahe erschlagen, schläft Gawain etliche Nächte in seiner Rüstung zwischen nackten Felsen, wo kalte Gießbäche von den Höhen herabschießen und Eiszapfen hoch über seinem Kopf hängen. Am Tag vor Weihnachten kommt er in einen tiefen, wilden Wald zwischen hohen Hügeln; es sind graue, hochragende Eichen, dicht beisammen. Haselbüsche und Hagedornsträucher sind zu Gestrüppen ineinander verflochten, und alles ist von wildem, zottigem Moos überwachsen. Viele Vögel sitzen freudlos auf kahlen Zweigen und piepsen jämmerlich, gepeinigt vom Frost. Gawain hat Sorge, die Weihnachtsmesse zu versäumen. Er beginnt zu beten und seine Sünden zu bereuen, und nachdem er sich dreimal bekreuzigt hat, erblickt er plötzlich auf einer lichten Höhe eine prächtige Burg. Er wird da freundlich aufgenommen und vom Burgherrn aufgefordert, bis zum Neujahrstag sein Gast zu sein; im übrigen sei die Grüne Kapelle, die er suche, ganz in der Nähe. Dann trifft man eine spielerische Verabredung. Während Gawain sich in der Burg ausruhen soll, will der Hausherr jagen gehen, und am Abend wollen sie dann das, was sie am Tag erbeutet haben, austauschen. Am nächsten Morgen erscheint, während der Hausherr ausgeritten ist, dessen Frau an Gawains Bett und versucht, ihn zu verführen. Aber er bleibt standhaft, und es kommt nur zu einem Kuß, den er am Abend an den Burgherrn weitergibt. Das wiederholt sich am zweiten Tag. Aber als die Hausherrin ihm am dritten Tag einen grünen Gürtel schenkt, der vor tödlichen Schlägen schützen soll, gibt er ihn nicht weiter. Am Neujahrstag sucht Gawain die Grüne Kapelle auf, die sich als ein schauriges Erdloch erweist, in dem der Grüne Kerl schon wartet und seine Axt wetzt. Gawain entblößt den Hals, zweimal holt der Unhold aus, erst beim dritten Mal schlägt er zu, aber so, daß er Gawain nur ganz leicht verletzt. Dann erklärt ihm der Grüne, daß er der verwandelte Burgherr sei, daß er den Artushof aufgesucht habe, um Gawains Tapferkeit zu prüfen, und wenn er ihn mit seiner Axt ein wenig gestreift habe, dann deshalb, weil er ihm den Zaubergürtel nicht ausgehändigt habe. Gawain ist zutiefst beschämt. Er kehrt an den Artushof zurück und berichtet da von seiner Schande. Er will den grünen Gürtel künftig als Zeichen seines Versagens tragen. Aber die Artus-
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ritter sind nicht bereit, das zu akzeptieren, sondern feiern ihn als den mutigsten Ritter, und alle lassen sich grüne Gürtel anfertigen, um sie als Ehrenzeichen zu tragen. Man will also Gawains Versagen nicht wahrhaben, sondern man insistiert, wie die Tradition es verlangt, auf einem makellosen Helden. Was ist hier geschehen? Gawain zieht nicht wie der traditionelle Artusritter aus, um sich mit provozierenden anti-arthurischen Figuren zu messen, sie zu besiegen und damit die Idealität des Hofes wiederherzustellen; solche Figuren kommen zwar auf seinem Weg auch vor, aber es geht nicht um sie, er reitet vielmehr einem Feind entgegen, den er nicht besiegen kann, er geht ganz bewußt einen Todesweg. Und er hat Angst, und er versagt. Das Grauen spiegelt sich in einer schrecklichen Landschaft, im Ritt durch Eis und Schnee. Das ist bewußt gegen die Frühlingsszenerie der traditionellen Ausgangsposition des klassischen Artusromans und den Weg des Helden durch eine Gegenwelt, die ihm letztlich nichts anhaben kann, gesetzt.
V Die narrative Traditionslinie des locus terribilis läuft hier aus. Die Frage ist: Wann und wo kommt es zu einem Neueinsatz, der eine Landschaftserfahrung möglich macht, die nicht am Gegensatz zwischen Idealität und menschlicher Fehlbarkeit und Sterblichkeit aufbricht? In der älteren Forschung herrschte die Meinung vor, daß der Aufstieg Petrarcas auf den Mont Ventoux von 1336 eine grundlegende Wandlung im Verhältnis des abendländischen Menschen zur Natur markiere:50 erstmals begibt sich hier jemand auf einen Berg, nur von dem Wunsch getrieben, von der ungewöhnlichen Höhe aus den Blick in die Weite schweifen zu lassen. Petrarca hat diesen Aufstieg in einem Brief an Francesco Dionigi beschrieben und erläutert.51 Dabei gerät jedoch schon der mühsame Aufstieg in eine allegorische Perspektive. Petrarca deutet ihn als den anstrengenden Weg zum Gipfel der ewigen Seligkeit. Auf der Höhe läßt er dann zwar den Blick kurz in die Ferne schweifen, aber dann treibt es ihn doch, wie er sagt, den Geist noch Höherem zuzuwenden. Er greift zu Augustins ›Confessiones‹, die er vorsorglich in die Tasche gesteckt hatte, schlägt das Buch auf und liest da: ,Es gehen die Menschen und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheueren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans, die Kreisbahnen der Gestirne und vergessen dabei sich selbst.‘ Diese Worte treffen ihn zutiefst, und er zürnt darüber, vergessen zu haben, was 50
So z. B. Joachim Ritter, „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“, in: Ders., Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 141–163, hier S. 141ff., siehe insbes. S. 146. Kritisch dazu meine Studie „Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert“, in: Haug, Brechungen, S. 332–361, hier S. 343ff.; weitere Lit. S. 343, Anm. 40; ferner Rainer Piepmeier, Art. ,Landschaft, III. Der ästhetisch-philosophische Begriff‘, in: Hist. Wb. der Philosophie 5, Sp. 15–28, hier Sp. 16. 51 Petrarca, Le Familiari I–IV (Edizione Nazionale delle opere di Francesco Petrarca, X–XIII), Florenz 1933–1942, I, 4,1, S. 153ff.
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I. Übergreifendes
er schon von den heidnischen Philosophen hätte lernen können, daß nämlich nichts wunderbarer ist als der menschliche Geist. Wenn es hier Ansätze zu einer Landschaftsbetrachtung und -erfahrung gibt, dann werden sie sogleich wieder zurückgenommen und desavouiert. Von jener angeblich spektakulären Wende in der Sicht auf die Natur kann nicht die Rede sein. Die traditionelle Haltung setzt sich ohne Einschränkung durch. Was es auch immer an frühen Ansätzen solcher Art, sei es in der bildenden Kunst wie in der Literatur, gegeben haben mag, das Verhältnis zur Natur grundsätzlich zu verändern und sie im Sinne einer Landschaft ästhetisch erfahrbar zu machen, das war offensichtlich von bestimmten kulturhistorischen Bedingungen abhängig. Meine These lautet: Es war dies erst möglich, als es gelang, das harte Gegenüber von utopischem Paradiesort und schrecklicher realer Natur aufzubrechen. Dazu bedurfte es zweier Voraussetzungen. Zum einen mußte die Natur technisch so weit domestiziert sein, daß sie ihre Schrecken für den Alltag – abgesehen von Katastrophensituationen – verlor. Die beherrschte, zivilisatorisch genützte Natur erlaubte es im Gegenzug, sie für eine ästhetische Erfahrung freizugeben.52 Zum andern mußte der ebenso harte Gegensatz zwischen Transzendenz und Immanenz zumindest verwischt werden. Diese Situation wird durch die pantheistische Formel Spinozas: Deus sive natura, erreicht. Der Weg führt weiter zu Leibniz, Herder, Goethe und den Romantikern. Gott konnte nunmehr in einem ganz neuen Sinn, d. h. nicht analogisch-allegorisch, sondern unmittelbar in der Natur erfahren werden. Die Landschaft öffnete sich als Raum einer mehr oder weniger religiös geprägten Weltund Selbsterfahrung. Man denke z. B. an den Brief Werthers vom 10. Mai: Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich. Und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfache Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mücken näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! Wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papier einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!53
Als entsprechender Musterfall im Bereich der bildenden Kunst wäre z. B. Caspar David Friedrich zu nennen.54 52
Zu dieser ästhetischen Wende im Verhältnis zur Natur und ihrer philosophischen Grundlegung siehe Piepmeier [Anm. 50], Sp. 17ff. 53 Johann Wolfgang von Goethe, Hamburger Ausgabe, Bd. 6, S. 9. 54 Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich and the Subject of Landscape, New Haven, London 1990, Part II: Art as Religion, S. 29ff.; Piepmeier [Anm. 50], Sp. 19f.
5. Schreckensorte und künstliche Paradiese
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Am Ende dieser Entwicklung gelingt es auch, die noch unbeherrschten Bereiche der Natur, das Hochgebirge vor allem, in die ästhetische Erfahrung einzubeziehen. Die Ansätze liegen im 17. Jahrhundert, als die Engländer, John Dennis und Shaftesbury, die Alpen ,entdecken‘. Dabei ist zwar immer noch vom Ungeheuerlichen der wilden Natur die Rede, aber das Entsetzen mischt sich nun mit Faszination. Dennis nennt dies in seinen ›Reisebriefen‹ „a delightful Horrour, a terrible Joy.“55 Die Idee des Erhabenen aber ermöglicht es schließlich, auch die letzten Schrecken der Natur ästhetisch zu vereinnahmen56 – freilich nicht, ohne daß die negative Seite der Überwältigung immer wieder durchschlagen würde: die romantische Naturerfahrung schwankt zwischen Enthusiasmus und Einsamkeitsmelancholie, ja Todesgrauen.57
55
Nicolson [Anm. 19], S. 277. In Hallers ›Alpen‹ wird das Hochgebirge gar zu einem Ort bukolisch-idealer Schweizer Hirten. Siehe Garten und Wildnis. Landschaft im 18. Jahrhundert, hg. v. Hansjörg u. Ulf Küster, München 1997, S. 31–49. 57 Hans Robert Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung (UTB 692), München 1977, S. 119ff.; Holger Funk, Ästhetik des Häßlichen. Beiträge zum Verständnis negativer Ausdrucksformen im 19. Jahrhundert (canon 9), Berlin 1983, S. 75ff. 56
6. Über Literaturgeschichte Anläßlich des Erscheinens von Johannes Janotas ›Literaturgeschichte des 14. Jahrhunderts‹
Als Karl Bertau in seinen wilden Jahren sein imposantes Erstlingswerk ›Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter‹ vorlegte,1 schrieb Werner Schröder eine schonungslos vernichtende Kritik. Doch Helmut de Boor, der Herausgeber der ›Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur‹, in denen sie zur Veröffentlichung anstand, schickte eine eigene Würdigung voraus, in der er als einer, der wußte, was eine Literaturgeschichte einem abverlangt, Bertaus kühnem Versuch, trotz massiven Vorbehalten, die Hochachtung nicht versagte.2 Diese souveräne Geste hat allgemein Eindruck gemacht. Nur Bertau selbst scheint sie nicht sonderlich beherzigt zu haben, denn als er daran ging, Kurt Ruhs ›Höfische Epik des Mittelalters‹3 zu besprechen, hat er kein Wort über das damit Geleistete verloren, sondern das Werk als im Prinzip verfehlt erklärt und sich daran gemacht, statt es zu rezensieren, es von Grund auf neu zu schreiben (jedenfalls den II. Teil).4 Er widmete das Buch, das so entstand, dann zwar „Kurt Ruh als Zeichen vielfältigen Dankes“, und er hat das zweifellos ehrlich gemeint, aber wenn man seine Gegendarstellung gelesen hat, klingt diese Huldigung wie Hohn. Und Kurt Ruh empfand sie denn auch, wie er sagte, als „eine Beerdigung erster Klasse“. Will man Bertaus Position gegenüber der luziden und bewußt Studenten-gerechten Literaturdarstellung Ruhs kennzeichnen, genügt es, einen Satz aus seinem Kritik-Buch zu zitieren: „Daß die Werke Wolframs und Gottfrieds über einem Abgrund entstehen, scheint mir für den Begriff von Literatur, ja von Kunst in der Geschichte fundamental zu sein. Der Punkt des Erreichten und Gewonnenen ist immer nur scheinbar, in Wahrheit stets unheimlich, und ,der Glückliche hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen‘“ (S. 28f.). Ich meine, daß Bertau sich damit einer Wahrheit gestellt hat, der gegenüber man bei der Interpretation von Literatur nach wie vor grundsätzlich offen sein sollte.5 1
Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972/73. Werner Schröder, PBB 96 (1974), S. 383–395; Helmut de Boor, ebd., S. 303–335. In einem Punkt hat de Boor sich freilich geirrt; er prophezeite nämlich am Ende: „Ich sage ihm [Bertaus Werk] eine starke Einwirkung auf die Forschung der nächsten Generation voraus“ (S. 335). Da die Ideologie, von der es getragen wurde, sich aber überlebt hat, ist leider auch das, was es an fruchtbaren Impulsen enthält, zusammen mit ihr untergegangen. Das Werk ist weitgehend wirkungslos geblieben. 3 Ruh, Höfische Epik, I, II. 4 Karl Bertau, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983. 5 Vgl. dazu meinen Essay „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 172–184. 2
6. Über Literaturgeschichte
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Mit Joachim Heinzle betrat eine neue und noch einmal anders orientierte Generation die literaturtheoretische und -historische Bühne. Auch Heinzle machte sich – vor nunmehr über zwanzig Jahren – daran, der gängigen Form von Literaturgeschichten des deutschen Mittelalters, wie sie gerade auch durch diejenige Helmut de Boors repräsentiert wurde,6 eine grundsätzlich neue entgegenzusetzen, und da das Ergebnis eindrucksvoll ist, verdient es jene Mischung aus Respekt und Kritik, die mein Vorspann als die einer großen wissenschaftlichen Leistung würdige Einstellung vor Augen führen wollte. Heinzle hat seine ›Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit‹ – abgesehen von ihm selbst – fünf Mediävisten anvertraut, denn die Zeiten sind vorbei, als noch ein Einzelner sich die Kompetenz in einem so weitgespannten Bereich zumuten konnte.7 Dieses Großunternehmen im Team, das mit des Initiators eigenem Band 1984 begonnen und mit den Bänden von Gisela Vollmann-Profe 1986, von Wolfgang Haubrichs 1988 und L. Peter Johnson 1999 beharrlich durch viele Fährnisse hindurch fortgesetzt wurde, ist mit Johannes Janotas Literaturgeschichte des 14. Jahrhunderts beim vorletzten Band angelangt. Man wird das zum Anlaß nehmen dürfen, auf die Prämissen zurückzublicken, unter denen dieses ehrgeizige Unternehmen seinerzeit in die Wege geleitet worden ist, und zu fragen, ob sich der Neuansatz bewährt hat und heute angesichts der sich inzwischen gewandelten Vorstellungen von dem, was von einer Literaturgeschichte zu erwarten, ja zu fordern ist, noch Geltung beanspruchen kann. Doch zunächst zu den Bedingungen, unter denen dieses Team angetreten ist. Zur selben Zeit, als Heinzle den Plan zu seinem Unternehmen faßte, hat Rene´ Wellek der Literaturgeschichtsschreibung zwar nicht den Untergang prophezeit, aber sie doch als ein unbefriedigendes, wenn nicht im Prinzip unmögliches Genre hingestellt.8 Denn sie hat es, wie er demonstrierte, mit einem unlösbaren Dilemma zu tun. Auf der einen Seite sieht sich der Literarhistoriker der Singularität der Einzelwerke gegenüber, die je für sich letztlich unvermittelte Interpretationen erfordern, mit allen hermeneutischen Problemen, die sich daraus ergeben, vom zirkelhaften Verfahren angesichts der historischen Kluft bis zum ,Tigersprung‘. Auf der anderen Seite ist Geschichte nur denkbar, wenn sich Kontinuitäten herausarbeiten lassen. Das Einzelwerk ist dann zwar unter mehrfachen Aspekten in sie einzubinden, doch je höher sein literarisches Niveau ist, desto weniger ist es möglich, es geschichtlich zu verrechnen. Kontinuität läßt sich nur entweder auf der Basisebene der Gattungen, Typen, Formen und Stoffe verfolgen oder aber unter übergreifenden Perspektiven darstellen, die selbstredend, mehr oder weniger ideologisch gefärbt, geistes- oder kulturgeschichtlichen Modellen verpflichtet sind. Die Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet v. Helmut de Boor u. Richard Newald. Die ersten drei Bände betreffen das Mittelalter: die Bde. I, II und III,1 hat de Boor selbst verfaßt; die Bde. I und II sind inzwischen von Herbert Kolb bzw. Ursula Hennig neu herausgegeben worden; J. Janota hat den Bd. III,1 grundlegend revidiert; an Bd. III,2, hg. v. Ingeborg Glier, haben sieben Autoren mitgearbeitet. 7 Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Joachim Heinzle unter Mitwirkung von Wolfgang Haubrichs, Johannes Janota, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe, Werner Williams-Krapp, Bde. I/1, I/2, II/1, II/2, III/1, III/2, Königstein/Ts., Frankfurt a. M., Tübingen 1984ff. – Siehe im einzelnen die Anm. 16–19, 21. 8 Rene´ Wellek, „The fall of literary history“, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. v. Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel (Poetik und Hermeneutik V), München 1983, S. 427–440. 6
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I. Übergreifendes
sogenannte Rezeptionsästhetik meinte zwar einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden zu haben, doch es ergeben sich von ihrem Ansatz her, genau besehen, bestenfalls kurzfristige Kontinuitäten, die im übrigen um so eher Diskontinuitäten sind, als der Rezeptionsprozeß zur Auseinandersetzung, ja im Sinne von Harold Bloom zum Vatermord tendiert.9 Die Gadamersche Idee einer kontinuierlichen Horizontverschmelzung ist eine klassizistische Illusion.10 Doch obgleich die Einsicht in diese Dilemmatik es hätte verhindern müssen, daß man weiterhin Literaturgeschichten schreibt, wurden und werden unentwegt neue produziert, und dies, wie nicht anders zu erwarten, als ein schwankend wechselndes Gemisch aus den genannten divergierenden Zugriffen, und das Ergebnis ist folglich jeweils eine mehr oder weniger gelungene Klitterung von Einzelinterpretationen, sozialgeschichtlichen und biographisch-psychologischen Befunden, formen- und stoffgeschichtlichen Längsschnitten und mehr oder weniger plausiblen kulturhistorischen Bedingungszusammenhängen.11 Wie stellt sich Heinzles Konzept einer neuen Literaturgeschichte des Mittelalters zu dieser Misere? Seine Lösung des Dilemmas, die er am ausführlichsten 1989 im ›Deutschunterricht‹ vorgestellt hat,12 erfolgt über zwei Argumentationsschritte. Erstens erklärt er mit mutiger Entschiedenheit, daß Literaturgeschichtsschreibung ein thetisches Genre sei. Die Darstellung müsse sich, wenn nicht an einer Grundidee (wie einst dem nationalen Gedanken), so doch an „einer ,Grundfrage‘ oder ein[em] Ensemble solcher Fragen“ ausrichten (S. 28). Diese Frage lautet bei ihm: „Wie hat sich die alphabetische, d. h. wesentlich aus dem allseitigen Gebrauch der Schrift in der Volkssprache gegründete Zivilisation der Neuzeit herausgebildet?“ Dabei erweise sich die „Schriftkultur zugleich [als] Ausdruck und Vehikel des allgemeinen Zivilisationsprozesses“ (S. 29). Anvisiert ist also eine Darstellung der Literatur in der Perspektive einer übergreifenden Kulturtheorie, wobei die Anlehnung an Norbert Elias nicht zu übersehen ist und später auch offen propagiert wird.13 Dabei werde man aber angesichts der insbesondere im Spätmittelalter ausufernden Gebrauchsliteratur exemplarisch verfahren müssen. Gegenüber dieser kul9
Siehe Harold Bloom, The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, New York, Oxford Univ. Press 1973, und A Map of Misreading, New York, Oxford Univ. Press 1975. 10 Die wichtigste Literatur zur Diskussion um die Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauss findet sich zusammengestellt bei Joachim Bumke, Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe (Vorträge / Rheinisch-Westfälische Akad. der Wiss.: Geisteswiss., G 309), Opladen 1991, S. 13, Anm. 23. 11 Ausführlich zur Problematik der Literaturgeschichtsschreibung unter den verschiedenen zur Debatte stehenden Aspekten Bumke, ebd., S. 8–19. Vgl. auch meinen Aufsatz „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?“, DVjs 73 (1999), S. 69–93, wieder abgedruckt in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 628–649, unter dem Titel: „Warum darf Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein?“ – Man hat meine Ausführungen als Plädoyer für eine immanente Literaturinterpretation grob mißverstanden. Ein Blick in meine Arbeiten genügt, um den Vorwurf als absurd zu erweisen. 12 Joachim Heinzle, „Wie schreibt man eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters?“, Der Deutschunterricht 41/1 (1989), S. 27–40. Siehe auch seine Ankündigung in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 30, H. 4 (1983), S. 6–8. 13 Siehe Joachim Heinzle, „Usurpation des Fremden? Die Theorie vom Zivilisationsprozeß als literarhistorisches Modell“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. DFGSymposion 2000, hg. v. Ursula Peters (Germanistische Symposien, Berichtsbände XXIII), Stuttgart, Weimar 2001, S. 198–214.
6. Über Literaturgeschichte
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turhistorischen Einbindung sollen jedoch die genuinen Möglichkeiten literarischer Eigengestaltung nicht vernachlässigt werden, vielmehr gehe es gerade auch darum, im Rahmen eines weit gefaßten Literaturbegriffs die allmähliche Differenzierung zwischen ,poetischen‘ und ,nicht-poetischen‘ Texten mit zur Darstellung zu bringen. Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich eine doppelte Darstellungsperspektive: Zum einen tritt das breite Spektrum der Gebrauchsliteratur in den Blick, das zumindest beispielhaft die übergeordnete Entwicklungslinie in ihrer Kontinuität reflektieren müßte, zum andern und quer dazu sollte die schrittweise Emanzipation des genuin Literarischen sich abzeichnen. Dann folgt die zweite Überlegung. Sie setzt bei der Einsicht an, daß die Ausfaltung der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters sich nicht einfach aus sich selbst vollzogen habe, vielmehr müsse diese Bewegung von Impulsgebern ausgegangen, d. h. von konkreten Interessen getragen worden sein. So kommt das ins Spiel, was Heinzle ,Literarische Interessenbildung‘ nennt. Es geht also um die Frage, ob es möglich ist, bestimmte Interessen, etwa macht- oder kulturpolitischer Art, hinter literarischen Produktionen dingfest zu machen. Ist das gelungen, so ist zu prüfen, in welchem Maße diese Literatur funktional in ihnen aufgeht bzw. in welchem Maße sie sich freispielt, ja unter Umständen sich gegen bestimmte Interessen oder einfach nur quer zu ihnen stellt. Das ist der punktuelle Zugriff unter dem Gesichtspunkt der oben genannten generellen Emanzipationstendenz hin zum genuin Literarischen. Daß gerade dieser Aspekt besondere Aufmerksamkeit verdient, war ein gewichtiges Ergebnis des von Heinzle initiierten DFG-Kolloquiums über ›Literarische Interessenbildung im Mittelalter‹ von 1991,14 auch wenn er es selbst in der Einleitung zum Tagungsband dann etwas unwillig zurückgedrängt hat. Wie aber geht man mit jenen Texten um – und es handelt sich um die weit größere Masse –, bei denen keine hinter ihnen stehenden konkreten Interessen faßbar sind? Hier greift Heinzle auf die konventionelle Gattungsgeschichte zurück. So propagiert er denn ein zweisträngiges Verfahren. Zunächst soll jene Literatur modellhaft vorgestellt werden, die nachweisbar in je spezifische kulturelle Kontexte eingebunden erscheint. In einem zweiten Durchgang ist dann Formengeschichte zu bieten, also wie üblich: Formen der Lyrik, Formen der Epik, Formen der Lehrdichtung usw. Schwenkt Heinzle hier notgedrungen auf die ganz traditionelle Literaturgeschichtsschreibung ein? Oder darf man erwarten, daß in diesem Teil dann jene übergreifende Perspektive hervortritt, in der die Literatur sich als Vehikel des Zivilisationsprozesses zeigen soll? Das ist theoretisch nicht mit ausreichender Deutlichkeit formuliert, könnte aber implizit gemeint sein. Doch auch die praktische Realisierung hält dann nicht durchwegs eine klare Antwort bereit. Jedenfalls steckt in dem Verfahren ein Zwiespalt, der aber ganz bewußt in Kauf genommen wird,15 womit selbstverständlich noch nichts über die Qualität der 14
Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. v. Joachim Heinzle (Germanistische Symposien, Berichtsbände XIV), Stuttgart, Weimar 1993. Siehe auch JanDirk Müller, „Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur. Zu einigen neueren Forschungstendenzen“, in: Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, hg. v. Wilhelm Vosskamp u. Eberhard Lämmert (Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 11), Tübingen 1986, S. 56–66. 15 Wer hier kritisch einwendet, daß die beiden Verfahren nicht in Einklang zu bringen seien, der
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I. Übergreifendes
zweisträngigen Präsentation im einzelnen gesagt ist. Aber ob gelungen oder nicht, es ist damit die entscheidende Frage aufgeworfen, ob dies angesichts der Schwierigkeiten, überhaupt Literaturgeschichte zu betreiben, und trotz offenen Problemen im einzelnen nicht doch die beste aller Möglichkeiten darstellt. – Es wird darauf zurückzukommen sein. Wie sieht das nun konkret aus? Heinzle hat mit seinem eigenen Band zur Literatur des 13. Jahrhunderts das Muster vorgegeben.16 Die Zweisträngigkeit im Zugriff ist hier gut ausgewogen. Man findet unter dem Aspekt ,Literarische Interessenbildung‘ vorzügliche Situationsanalysen im Zusammenhang herrscherlicher Literaturförderung, man gewinnt lebendige Einblicke in die schriftstellerischen Betriebe im Umkreis der Babenberger, der Staufer, der Habsburger und in die städtischen Literaturszenen von Straßburg und Basel. Hier zeigt sich vorzüglich, was der neue Zugriff zu leisten vermag. Als zweites Modell wählt Heinzle das Schrifttum der neuen religiösen Bewegungen, was im Ansatz bis zu einem gewissen Grad überzeugen mag; doch wird man schwerlich übersehen können, daß der Begriff des Interesses sich schließlich immer mehr verflüchtigt. Wo faßt man Interessen, die die Gedichte einer Hadewijch oder ›Das fließende Licht der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg zu begründen vermöchten oder auch nur angestoßen haben könnten? Die für den religiösen Bereich zuständige Institution, die Amtskirche, zeigte gegenüber den Beginen kein ,Interesse‘, vielmehr brannten, wo sie die Bewegung nicht einbinden konnte, wie üblich die Scheiterhaufen. An diesem Punkt kann man also Bedenken schwerlich unterdrücken. Dann zum zweiten Teil, der also das umfaßt, was sich interessenmäßig nicht einbinden ließ, und der sich in Form von Längsschnitten literarischer Gattungen oder Typen darbietet. Es wäre unbillig, hier mehr als bestenfalls treffliche, auf dem jüngsten Stand der Forschung basierende, aber notwendigerweise vor allem innerliterarische Skizzen zu erwarten. Daß dem Durchbruch der Prosa ausreichend Raum gegönnt wird, versteht sich unter dem Aspekt der stetigen Verbreiterung des deutschsprachigen literarischen Geländes von selbst. Dem Gesichtspunkt der zivilisatorischen Disziplinierung verdankt sich eine gewisse Überbetonung des didaktisch-exemplarischen Moments bei den Kurzerzählungen gegenüber dem selbstzweckhaft Spaßhaften und einer Chaotik, die im Gegenzug antrat, eine immer wieder erstarrende Ordnung mutwillig herauszufordern. Immerhin aber öffnen sich Durchblicke auf die postulierte Entwicklungstendenz. Wie sind die vier nachfolgenden Bände in ihrem Verhältnis zu Heinzles Musterentwurf zu charakterisieren? Man wird nicht allzu überrascht sein, wenn man feststellt, daß in ihnen mit den Programmvorgaben sehr unterschiedlich umgegangen worden ist. Das lese den Schluß von Heinzles Ankündigung [Anm. 12], S. 8: „Ausdrücklich sei angemerkt, daß die Zweisträngigkeit der Darstellung nicht als Notlösung verstanden sein will. Selbst wenn es möglich wäre, das gesamte Material unter dem Aspekt der literarischen Interessenbildung zu ordnen, könnte auf eine Darstellung der Formenzusammenhänge nicht verzichtet werden. Beschränkung auf den einen oder den andern Aspekt verstellte den Blick entweder auf die historischen Grundlagen oder auf die Entwicklung des Instrumentariums der werdenden Schriftlichkeit.“ Der unausweichliche Zwiespalt ist also Programm! 16 Bd. II: Joachim Heinzle, Vom hohen zum späten Mittelalter, Teil 2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90), Königstein/Ts. 1984, 2Tübingen 1994 [zit.].
6. Über Literaturgeschichte
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hängt gewiß nicht in erster Linie am Willen oder Unwillen der Autoren, sich ihnen zu fügen, sondern an den unterschiedlichen Literatursituationen einschließlich der differierenden überlieferungsgeschichtlichen Gegebenheiten. Die geringsten Probleme mit Heinzles Programm hatte offenkundig Wolfgang Haubrichs bei seiner Darstellung der Anfänge volkssprachlicher Schriftlichkeit.17 Ihm gelingt es auf das vorzüglichste, die literarischen Formen in die verschiedenen Orte oder Situationen der ,literarischen Interessenbildung‘: Adelskultur, Klostergemeinschaft, Schulbetrieb und Laienbildung, einzubinden. Es handelt sich in dem fraglichen Zeitraum fast durchwegs um von oben initiierte und gelenkte Literatur. Die Zweisträngigkeit wird damit gewissermaßen integriert, und es ergibt sich ein geschlossenes und dank des stupenden Kenntnisreichtums des Interpreten ein überaus fesselndes Bild der Frühzeit deutschsprachigen Schrifttums und seiner kulturpolitischen Einbettung. Wenn Gisela Vollmann-Profe im historisch anschließenden Band die frühmittelhochdeutsche Literatur präsentiert,18 so muß man sich von vornherein dessen bewußt sein, daß die inzwischen völlig veränderte Kultur- und Literatursituation ein solches Bild nicht mehr erlaubt. Den kirchlichen Interessen und ihren literarischen Bemühungen von oben begegnen Ansprüche und Erwartungen von unten. Es zeigen sich immer wieder neue und andersartige Schnittstellen. Die Autorin arbeitet überzeugend mit Modellen, die dies zum Ausdruck bringen, wobei der Begriff ,Modell‘ bei den von ihr interpretierten Texten zwar grundsätzliche Möglichkeiten andeuten mag, doch steht etwa beim ›Ezzolied‹, beim ›Annolied‹ oder beim ›König Rother‹ und beim ›Rolandslied‹ die jeweilige Singularität des literarischen Versuchs entschieden im Vordergrund. Es gibt dann in Vollmann-Profes Band programmgemäß auch die Rubrik ,Literarische Formen‘, aber sie bieten eher einen Rahmen für wiederum Singuläres, als daß sich in ihm Gattungstraditionen zu entfalten vermöchten – ein Bild, das aber wohl nicht zuletzt auch der besonderen Überlieferungssituation zu verdanken ist: die späten Sammelhandschriften bewahren Trümmer aus einer überholten Entwicklungsphase. So hat man denn ein Experimentierfeld mit Einzelstücken vor sich, in dem, abgesehen von der Sammelperspektive, kaum Traditionslinien auszumachen sind. Auch damit ist dem zweisträngigen Verfahren der Stachel des Zwiespältigen genommen, und man darf das Ergebnis in der Weise zusammenfassen, daß man sagt, die Autorin habe es erreicht, die Ausfaltung einer literarischen Aufbruchssituation im Gegenspiel von Interessen in ihrer ganzen, offenen Heterogenität überzeugend zur Anschauung zu bringen. Den Band L. Peter Johnsons zur sogenannten mittelhochdeutschen Blütezeit schlägt man mit einiger Verblüffung auf.19 Auch er setzt zwar mit Modellen an, nämlich mit der Literaturproduktion an zwei Höfen, zum einen jenem Hermanns von Thüringen, zum andern demjenigen Wolfgers von Erla. Doch was nach Heinzles Programm den einen Schwerpunkt der Darstellung bilden sollte, umfaßt in Johnsons 450-Seiten-Buch gerade 17
Bd. I: Wolfgang Haubrichs, Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Teil 1: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60), Frankfurt a. M. 1988. 18 Bd. I: Gisela Vollmann-Profe, Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Teil 2: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60–1160/70), Königstein/Ts. 1986. 19 Bd. II: L. Peter Johnson, Vom hohen zum späten Mittelalter, Teil 1: Die höfische Literatur der Blütezeit (1060/70–1220/30), Tübingen 1999.
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mal 15 Seiten, wobei zudem das, was zu Wolfgers Literaturinteressen gesagt werden kann, sich, abgesehen von der berühmten Gabe an Walther, in Vermutungen erschöpft. Alles übrige ist im Prinzip traditionelle Gattungsgeschichte mit vorwiegend monographisch gereihten Darstellungen der großen mittelhochdeutschen Lyriker und Epiker. Johnson will zwar, den theoretischen Vorgaben gemäß, diese Literatur ebenfalls als „einen sozialen und wirtschaftlichen Vorgang“ verstehen (S. IX), was sich aber weitgehend in der ideologisch obsoleten Behauptung erschöpft, daß der wirtschaftliche Aufschwung für die Blüte der Literatur um 1200 verantwortlich sei (S. 30). Vielmehr bekennt sich der Autor dezidiert zum autonom-ästhetischen Aspekt dieser BlütezeitLiteratur, ja, er möchte ihr eine Überzeitlichkeit bescheinigen, der gegenüber „nur ein Mindestmaß an historischen Spezialkenntnissen voraus[gesetzt werden müsse], damit man sie genießen“ könne (S. 4). So sehr man von einem nicht erst heutigen literaturtheoretischen Bewußtsein aus über eine solche hermeneutische Bedenkenlosigkeit den Kopf schütteln mag, so sehr freut man sich dann über den frischen Wind, den Johnson durch die Unmittelbarkeit seiner Begegnung mit der höfischen ,Klassik‘ in seine Interpretationen hineinträgt.20 Und dabei verbindet sich sein unbekümmerter Zugriff mit einer assoziativen Darstellungskunst, die ihre Gegenstände als einen reichbestickten bunten Teppich vor einem ausbreitet. Jedenfalls: eine höchst unkonventionelle Konventionalität! In Hinsicht auf Heinzles Konzept ist festzuhalten, daß damit jenem genuin literarischen Aspekt prononciert Rechnung getragen wird, der in ihm zwar sein Recht hat, aber eben doch erst in zweiter Linie in den Blick kommen sollte. Versagt somit vor den überragenden literarischen Leistungen der Zugriff über die ,Interessenbildung‘ oder hat Heinzle hier in schöner Liberalität einer prinzipiellen Gegenposition Raum gegönnt? Damit wende ich mich dem Anlaß zu, der meine Überlegungen zur Problematik der Literaturgeschichtsschreibung im allgemeinen und zu meinem Blick auf das Heinzlesche Unternehmen im besonderen herausgefordert hat: dem Band Johannes Janotas, der grob gesagt das 14. Jahrhundert behandelt, genauer die Zeit zwischen 1280/90 und 1380/90.21 Den Auftakt bildet ein breites politisch-kulturgeschichtliches Panorama, das auf jene Fragen ausgerichtet ist, die nach Heinzles Vorgaben in Form eines thetischen Entwurfs die Darstellungslinie im großen bestimmen sollten, hier vor allem: die Frage nach den allgemeinen Triebkräften, die das Schrifttum des in Frage stehenden Zeitraums geprägt haben. Janota bietet eine glänzende Situationsanalyse unter dem Aspekt, unter dem sich der spezifische Charakter dieser Literatur seines Erachtens enthüllt: es gehe um Orientierung einerseits für das Leben in dieser Welt und anderseits im Hinblick auf das Heil der Seele. Die dringliche Suche nach solcher Orientierung wird begründet durch die politischen und wirtschaftlichen Katastrophen der Zeit: die mangelnde Stabilität im Reich nach dem Tod Rudolfs von Habsburg, das zwanzigjährige Interdikt gegen Lud20
Der Wind kann freilich manchmal auch etwas schief wehen, etwa, wenn dem Artusroman eine „frivole Tiefsinnigkeit“ bescheinigt (S. 305) oder der ›Tristan‹ als „sehr keusch“ (S. 315) bezeichnet wird. 21 Bd. III: Johannes Janota, Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit, Teil 1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90), Tübingen 2004.
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wig den Bayern, die Dezimierung der Bevölkerung durch die Pest, verbunden mit Mißernten und Hungersnöten. Was man literarisch dagegensetzte, war ein Schrifttum, das pragmatisch ausgerichtet war, indem es den Laien eine eigenständige Kompetenz in der Bewältigung der alltäglichen Probleme sowie eine religiöse Sicherung vermitteln sollte.22 Zu diesem Zweck treten an die Stelle der großen fiktionalen Entwürfe des 12./13. Jahrhunderts historische Rückbindungen und eine Verankerung im unmittelbar Faktischen. Somit: Literatur als Trägerin von an der Vernunft ausgerichteten Lebenslehren in Reaktion auf zunehmende Kontingenzerfahrung. Janota spricht von „einer forcierten Rationalität“ als dem „vorrangige[n] mentale[n] Kennzeichen“ des Jahrhunderts (S. 28). Damit geht einher, daß der Blick nun insbesondere auf das konkrete Einzelne fällt, d. h. sich ein empirischer Zugriff auf die Wirklichkeit vordrängt gegenüber der Ausrichtung auf ein Ganzes. Das signalisiert einen allgemeinen Mentalitätswandel. Auf philosophischer Ebene manifestiert er sich im Nominalismus Wilhelms von Ockham. Was das Gattungsspektrum betrifft, so erscheint nun zum Zweck der dringlichen praktischen Lebensbewältigung eine Flut von didaktischer Literatur, vor allem in Form der Gattung ,Rede‘. Auf der andern Seite bildet sich aus Sorge für das Seelenheil, insbesondere im Dominikanerorden, eine spekulative, teils mystische Theologie heraus, durch die man die Glaubenswahrheiten rational zu durchdringen und zu erfassen versucht. Hier mag man zögern, vorbehaltlos zuzustimmen, denn so bedenkenswert eine solche ratioorientierte Einschätzung des dominikanischen Schrifttums erscheinen mag, so fragt es sich doch, ob nicht gleichzeitig eine verstärkte religiöse Emotionalität dagegensteht. Janota weist selbst auf die neue Compassio-Frömmigkeit und die Leidensmystik hin, will aber doch am Vorrang der intellektuell-rationalen Ausrichtung festhalten (S. 28). Die Entscheidung der Frage hängt davon ab, welches Gewicht man der teilweise doch exzessiv emotionalen Frauenmystik zugesteht, ja, ob man nicht noch einen Schritt weitergehen und Otto Langers These ins Feld führen will, nach der die mittelalterliche Mystik ihren großen Aufschwung als affektive Gegenbewegung zur Rationalisierung der Theologie in der neuen Dialektik des 11./12. Jahrhunderts erhalten habe.23 Wie immer dem sei – es wird darauf zurückzukommen sein –, Janota hat in der Einleitung zu seinem Band ganz im Sinne Heinzles die die Literatur des 14. Jahrhunderts bestimmende Grundfrage klar formuliert und thetisch stark gemacht. Er folgt den Vorgaben dann im weiteren dadurch, daß auch er zunächst ,Modelle literarischer Interessenbildung‘ bietet und dann ,Die literarischen Formen‘ anschließt. Es werden zwei Modelle vorgestellt. Das erste gilt der Literatursituation in Wien von Rudolf von Habsburg bis zu Albrecht III. Es wird detailliert geschildert, wie sich in der habsburgischen Residenzstadt ein bewegtes wirtschaftliches und kulturelles Leben entwickelt. Doch das Schrifttum bleibt weitgehend lateinisch, die deutsche Literatur spielt, 22
Diese Zeitdiagnose ist selbstverständlich nicht neu, sondern entspricht dem gängigen Bild von der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen ,Krise‘ im 14. Jahrhundert; auch Janotas Leitbegriffe: Literatur als Orientierungshilfe, Rationalisierung, Didaktisierung usw., finden sich z. B. schon bei Thomas Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, München 1990, S. 15f., freilich ohne daß dessen knappe Skizze mit Janotas Darstellung Schritt halten könnte. 23 Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, insbes. S. 32f., S. 151–155, S. 393.
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wenngleich einige namhafte Figuren wie Suchenwirt, Konrad von Megenberg oder Heinrich von Neustadt auftauchen, nur eine marginale Rolle. Auch das, was der inzwischen erschienene dritte Band von Fritz Peter Knapps monumentaler ›Geschichte der Literatur in Österreich‹ an Ergänzungen bringt, verändert dieses Bild nicht.24 Wenn das als ein Modell für ,Interessenbildung‘ Geltung haben soll, dann bestenfalls als ein negatives, was nicht heißt, daß es nicht auch als solches aufschlußreich ist und damit sehr wohl seine Berechtigung hat. Als zweites Modell dient dann, in genauer Entsprechung zu Heinzles Band, das Schrifttum der deutschen Mystik, wobei sich hier die dort von mir vorgebrachten Bedenken in noch stärkerem Maße einstellen. Gerade bei den großen mystischen Denkern Eckhart, Tauler und Seuse tritt das höchst Individuelle ihrer theologischen Entwürfe heraus, die denn auch zu Spannungen mit der Amtskirche führten und bei Eckhart bekanntlich in einem Häresieprozeß gipfelten. Es lassen sich keine dezidierten Interessen fassen, die diese Literatur hervorgebracht und getragen haben könnten, es sei denn, man verstehe unter ,Interesse‘ jenes allgemeine Orientierungsbedürfnis in den bedrängenden Wirrnissen der Zeit, das, wie Janota sagt, gerade im mystischen Schrifttum seinen „beredteste[n] Ausdruck“ gefunden habe (S. 59). Freilich kann er dann aber nicht umhin, die Ansätze dazu bis ins 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen, und macht damit nolens volens deutlich, daß es sich hier um einen Texttypus handelt, der in einer längeren Tradition wurzelt und bestenfalls durch die besondere Situation im 14. Jahrhundert befördert worden sein kann. Auf der andern Seite sollte nicht übersehen werden, daß die mystische Bewegung nach der Mitte des Jahrhunderts, d. h. nach dem Tod von Tauler und Seuse, zwar nicht abbricht, aber ihre innovative Kraft verliert und in gemäßigt praktischer Frömmigkeit aufgeht, die dann viel eher der Orientierungs-These Janotas entspricht. Man wird also sagen müssen, daß es nicht die besonderen Bedingungen des 14. Jahrhunderts waren, denen sich die Mystik eines Eckhart, Tauler und Seuse verdankt, daß diese vielmehr von einer innerreligiösen Problematik ihren Ausgang genommen hat, die schon im 12./13. Jahrhundert virulent geworden ist und für die Eckhart eine radikale Lösung anzubieten versuchte, die dann von den Nachfolgern wieder zurückgenommen werden mußte. Die Problematik bestand in der Frage, wie eine Unio mit Gott nicht nur als augenblickhafter Durchbruch in die Transzendenz, sondern auf Dauer möglich sein könnte, und Eckharts Antwort war seine Fassung des Theologumenons von der Gottesgeburt im menschlichen Herzen, verstanden als ein Prozeß, der den Menschen in seinem tiefsten Grund in das überzeitliche trinitarische Geschehen einbezog.25 Das übersteigt letztlich alle Rationalisierungsproblematik. Janota hat den Weg, der Eckhart dahin führte, in knappen Zügen treffend dargestellt und hat dann in besonders sorgsamer Weise die Eckhart-Nachwirkungen in einer Reihe von mystischen Traktaten verfolgt, um anschließend auf die Positionen von Tauler und Seuse einzugehen. Als Abschluß bietet er eine Überschau über die Gnadenviten-Literatur in den Frauenklöstern und über das Schrifttum der Gottesfreunde, mit einem 24
Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, II. Halbband: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358–1439), Graz 2004, S. 197–217. 25 Siehe dazu meine Studie „Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 446–463.
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schnellen Blick am Ende auf die franziskanische Mystik. Dieses sehr divergierende Bild der verschiedenen mystischen oder frömmigkeitsgeschichtlichen Richtungen läßt ein durchgängiges Verständnis von der Rationalisierungs-These her in verstärktem Maße fragwürdig erscheinen. Die religiöse Thematik wird dann gegen Schluß des Bandes im weiteren Rahmen der geistlichen Prosa noch einmal zur Sprache kommen, wo das, was hier vorweggenommen ist, dann gewissermaßen eine Lücke bildet. Man kann dem Leser nur empfehlen, diesen Modell-Komplex dort einzusetzen, wo er im Grunde hingehört. Es folgen programmgemäß die Längsschnitte der ,Literarischen Formen‘; dies auch hier nach den traditionellen Kategorien: Lyrik, Großepik, Kleinepik, Rede, Spiel und Prosa mit den ebenfalls üblichen Untergliederungen in spezifische Typen. Es ist unmöglich, den großen Reichtum, der hier dargeboten wird, in seiner ganzen differenzierten Ausfaltung gebührend zu präsentieren und zu würdigen. Ich muß und möchte mich deshalb darauf beschränken zu prüfen, ob dabei Linien heraustreten, die sich zu einem Entwicklungsbild im Sinne der thetischen Perspektive zusammenschließen. Heinzle hatte als zeitlichen Einsatz für seinen Band eine Zäsur um 1220/30 postuliert, die dadurch gekennzeichnet sei, daß bestimmte neue Formen volkssprachlicher Schriftlichkeit nun erstmals faßbar würden: Rechtsprosa, geistliche Prosa, geistliches Schauspiel und episch-didaktische Kleinformen in Versen.26 Analog setzen um 1280/90 wieder neue Entwicklungen ein, die eine Grenzziehung erlauben und es rechtfertigen, hier den nächsten Band der Literaturgeschichte beginnen zu lassen. Sie bestehen jedoch, wie Janota dann betont, nicht im Auftreten neuer Formen, sondern in „erhebliche[n] Umschichtungen im Gattungsspektrum und zum Teil so tiefgreifende[n] Neuerungen, daß unter ein und demselben Begriff ganz Unterschiedliches gemeint sein kann“ (S. 144). Dazu kommt ein großer Schub, was die deutschsprachige Verschriftlichung des Wissens auf so gut wie allen Lebensgebieten betrifft. Demgegenüber stellt man doch auch wieder beharrliche Verhaftungen an die Tradition fest; so erweist sich eine Reihe literarischer Formen, insbesondere die Erzählliteratur und die didaktischen Typen, als resistent gegenüber der starken Tendenz zur Prosa (S. 144). Wie stellt sich das in den Hauptlinien dar? Im Bereich der Lyrik ergeben sich auffällige Umakzentuierungen: Das Minnelied wird zum Liebeslied, die Sangspruchdichtung geht in den Meistersang über, die Themen der Leichdichtung werden von der Rede übernommen. Mit dem geistlichen Lied und dem historisch-politischen Ereignislied verbreitert sich der Raum der nichthöfischen Lyrik. Die Umbruchszeit fällt in die Mitte des Jahrhunderts. Als herausragend in diesem Übergang präsentiert sich das Œuvre Frauenlobs mit seiner extremen Subjektivierung der Liebeslyrik. Es stellt sich eine Reihe sehr individuell ausgeprägter Liedcorpora dazu – Hadlaub, Hugo von Montfort, der Mönch von Salzburg u. a. m., die Janota alle sehr feinsinnig charakterisiert, wodurch die Wandlungsfähigkeit des Typus in seiner ganzen Lebendigkeit eindringlich vor Augen tritt. Im Sangspruch wird thematisch die Tradition des 13. Jahrhunderts fortgeführt, doch kündigt sich der Übergang zum Meistersang des 15. Jahrhunderts mit seinem Tönetraditionalismus schon an. Wieder kommt es zu großen Leistungen, Frauenlob ist noch einmal zu nennen, dann Heinrich von Mügeln – hier gelingen Ja26
Heinzle [Anm. 16], S. 4.
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nota einmal mehr höchst präzise Konturenzeichnungen. Mit Frauenlob vollendet sich auch die Leichtradition, was zugleich heißt, daß sie in der Mitte des Jahrhunderts versiegt. In der Großepik geht die produktive Phase der Artusepik mit dem ›Rappoltsteiner Parzifal‹ zunächst einmal zu Ende. Es folgen noch eine Reihe Liebes- und Abenteuerromane, der ›Reinfried von Braunschweig‹, der ›Wilhelm von Österreich‹, der ›Friedrich von Schwaben‹, Heinrichs von Neustadt ›Apollonius von Tyrland‹ u. a. m. Kennzeichnend für sie ist eine Tendenz zur Historisierung, Rationalisierung und Subjektivierung unter z. T. herrschaftspolitischen Aspekten – alles Züge, die sich schon im 13. Jahrhundert abzuzeichnen begannen. Nicht übersehen sollte man jedoch einen Hang zur Hybridisierung, der in der neueren Forschung für den späten Roman herausgestellt worden ist und der zu Spannungen und nicht-gelösten Widersprüchen führt, die zur Rationalisierung auffällig querliegen. Es empfiehlt sich, das Kapitel über ›Wilhelm von Österreich‹ in der ›Poetik des Hybriden‹ von Armin Schulz dagegenzuhalten.27 Übermächtig drängt sich eine neue geistliche Epik – insbesondere im Deutschen Orden – vor, flankiert von einer Geschichtsepik, die nun breit zur Prosa übergeht. Die Gattungsverschiebungen in diesem Bereich werden in Janotas Darstellung überaus augenfällig. Besonders charakteristisch für das 14. Jahrhundert aber ist der große Aufschwung, den die erzählerische Kleinform in ihren verschiedenen Typen nimmt. Als Betreuer von Hanns Fischers ›Studien zur deutschen Märendichtung‹ ist Janota hier in hervorragender Weise in seinem Element.28 Dieser Abschnitt ist ein Glanzstück an interpretatorischer Differenzierungskunst. Generell versteht er die auffällige Wende zur Darstellung beispielhafter Einzelfälle als Ausdruck der neuen Rationalität; das Exemplarische, das alle Formen der Kurzerzählung bestimme, vermittle Handhaben zur Bewältigung konkreter Lebenssituationen. Für die Mären insbesondere sei es kennzeichnend, daß dem Hörer ein moralisches Urteil abgefordert werde, und es seien hier gerade die häufig unrealistisch überzogenen Konstellationen, die ihn dazu zwängen, auf Distanz zu gehen, aus der er die über die Erzählung vermittelte Lehre erfassen sollte (S. 263). Das ist treffend gesehen, wenngleich diese ausschließlich didaktische Sicht den Möglichkeiten der Märendichtung nicht völlig gerecht wird, wie ich das schon im Zusammenhang mit Heinzles Verständnis der Kurzerzählungen angemerkt habe. Das Subversive behauptet immer wieder sein Eigenrecht. Eine besonders breite Darstellung verlangte die Rede in ihren verschiedenen Ausprägungen, gehört sie doch zu den produktivsten literarischen Formen im 14. Jahrhundert. Es werden die geistlichen wie die weltlichen Varianten in der Fülle ihrer Spielarten vorgestellt, wobei es sich jedoch fragt, ob es tunlich ist, auch Gebete oder Rätsel ein27
Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000, S. 121–152. Siehe auch die Charakterisierung des neuen Romantypus durch Mathias Herweg, der neben der (Pseudo-)Historisierung und der Enzyklopädisierung (die von Janota nicht übersehen wird) gerade auch die Hybridisierung als eigentümlichen Zug heraushebt: „Herkommen und Herrschaft: Zur Signatur der Spätausläufer des deutschen Versromans um 1300“, Archiv 241, 156. Jg. (2004), S. 241–287. 28 Johannes Janota hat die 2. Auflage in revidierter und erweiterter Form zum Druck gebracht: Tübingen 1983.
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zubeziehen, wenn ,Rede‘ sich dadurch definiert, „daß Sachverhalte räsonierend dargelegt (,beredet‘) werden“.29 Der weite Blick kommt zwar der Tatsache, daß der Typus in allen Richtungen in vielfältigen Übergangsformen offen ist, zugute, führt aber dazu, daß dieser Abschnitt als der heterogenste im ganzen Buch erscheint:30 Marienklagen stehen neben Tischzuchten, Gesundheitslehren neben Lügengedichten, Fabelsammlungen neben umfassenden Moral- und Heilslehren, didaktische Liebesbriefe neben großen Minneallegorien, usw. Das belegt zwar alles die Leitperspektive, nach der sich dieser literarische Zeitraum aufschließen läßt: die Suche nach Orientierung über mit immer wieder anderen Mitteln dargebotene Lebenslehren, und es bezeugt zugleich die breite Entfaltung der volkssprachlichen Literatur in alle Wissensgebiete hinein. Das Gelände, in das man sich dabei begibt, ist unwegsam, und es ist nicht leicht, Höhen und Tiefen zu unterscheiden. Immerhin aber sind durch den Umfang der einzelnen Abschnitte Gewichtungen markiert. Die Ausführungen zum geistlichen Spiel gehören zu den lebendigsten Partien des Buches. Die Entwicklungsschritte und die divergierende Entfaltung des Typus werden in konkreter Prägnanz dargeboten, wobei man jedoch die untergründigen Aspekte, die aggressiven Potentiale, die sich später bei den Aufführungen entladen werden, nicht übersehen sollte – auch hier reicht der Blick auf Pädagogik und zivilisierende Ratio in längerer Sicht nicht aus. Was die Formen der Prosa betrifft, so überflügeln sie der Masse nach, abgesehen von der Rede, alle übrigen literarischen Gattungen. Es „zeigt sich im Prosaschrifttum jene ab dem Spätmittelalter grundlegende Vorstellung, daß die Erfassung, Deutung und Aneignung der Welt, daß die Orientierung, Reglementierung und Normierung des gesellschaftlichen und geistlichen Lebens durch die Verschriftlichung verläßlich zu leisten und zu garantieren ist und daß die dafür angemessene Form die Prosa darstellt.“ (S. 378) Das ist, auf die grundlegende literarische Verschiebung im Gattungsspektrum bezogen, noch einmal die große Programmthese, von der nach Heinzles Literaturgeschichtskonzept auszugehen ist und an der die Analyse und Deutung der Texte zu orientieren sind. Es besteht kein Zweifel, daß neben der Rede das Prosaschrifttum die überzeugendsten Belege für sie bietet. Bei der Prosa des Rechts, die nun breit einsetzt und immer wieder weitreichende Traditionen begründet, versteht sich das von selbst. Aber es gilt auch für die Geschichtsschreibung, die sich nun insbesondere in Lokalchroniken auf die Räume konzentriert, in denen die Rezipienten leben, und die damit der Orientierung in der je eigenen geschichtlichen Situation dient. Hinzu kommt praxisbezogene Sach- und Fachliteratur. Und am Schluß steht dann die um die Mystik amputierte geistliche Prosa, also Predigtsammlungen, theologische Traktate, Erbauungsschriften, katechetische Lehrtexte, Gebetsammlungen, Legenden und Bibelübersetzungen. 29
Dies die Definition von Heinzle [Anm. 16], S. 144, wo aber schon zu monieren wäre, daß er Gebete und dergl. einbezieht, indem er erklärt: „Gebet ist Rede an Gott oder eine heilige Person“ (S. 149). Gebete können selbstverständlich räsonierenden Charakter haben, aber das sind dann doch wohl eher Spezialfälle. 30 Janota scheint sich dessen auch bewußt gewesen zu sein, denn er entschuldigt sich halbwegs dafür, daß er sich bereit gefunden hat, hier den Vorgaben in Heinzles Muster-Band zu folgen: S. 269.
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I. Übergreifendes
Janotas Literaturgeschichte des 14. Jahrhunderts ist bewunderungswürdig in der Beharrlichkeit, mit der sie erstmals in dieser Breite die kaum überschaubare Masse der literarischen Zeugnisse aufarbeitet und die auch dort nicht nachläßt, wo man es mit eher unattraktivem Schrifttum zu tun hat. Es gibt Durststrecken für den Leser, und man würde auf ihnen verzagen, wenn Janota nicht auch das Trockenste und Sprödeste souverän darzubieten verstünde und es aus seiner Interpretationsperspektive so weit wie möglich zum Leben zu erwecken vermöchte. Ja, der Gewinn ist nicht zuletzt da besonders groß, wo er sich geduldig auf das einläßt, was man gewöhnlich gegenüber den bekannten, bedeutenden dichterischen Leistungen gerne links liegen läßt. Wie Janota mit den Heinzleschen Vorgaben umgegangen ist, müßte durch mein Referat deutlich geworden sein. Es war für ihn offensichtlich problemlos, für die breite Entfaltung der volkssprachlichen Literatur im 14. Jahrhundert eine thetische Grundlinie zu postulieren und sie anhand der Texte zu rechtfertigen. Rationalisierung, Zuwendung zum Faktischen, Subjektivierung der Erfahrung, und dies in didaktischer Zielrichtung literarisch umgesetzt: das ergibt die Perspektive, auf die hin die große Materialpräsentation immer wieder durchsichtig wird. Daß sich das mit Heinzles Leitthese eines kulturgeschichtlichen Disziplinierungsprozesses auf dem Wege zur Neuzeit, wann immer man ihn ansetzen mag (das Mittelalter war keineswegs so undiszipliniert, wie Elias meinte31), mühelos vereinbaren läßt, liegt auf der Hand. Zugleich ist jedoch dagegenzuhalten, daß man mit einer einlinigen Betrachtungsweise Gefahr läuft, die Diskontinuitäten auszublenden. Jeder Fort-Schritt in eine bestimmte Richtung ist zwangsläufig auch eine Beschränkung und ruft Gegenbewegungen herauf. Was quer liegt, ja opponiert, gehört deshalb genauso zum Gesamtprozeß wie das, was sich dem Trend fügt, und gerade die Literatur bewegt sich, nicht nur, wo ihr Niveau hoch ist, aber da besonders verantwortungsbewußt, eher auf der Seite des Widerständigen.32 Es war im Zusammenhang meiner würdigenden Kritik gelegentlich anzumerken, was zur Vervollständigung des Bildes in dieser Richtung noch mit zu berücksichtigen wäre. Nach diesem Überblick über Art und Weise, wie die Mitautoren Heinzles und vor allem Janota mit dessen Konzept umgegangen und zurechtgekommen sind, kehre ich zum Schluß zu den grundsätzlichen Fragen zurück. Hat sich der Weg, den Heinzle eingeschlagen hat, um der Dilemmatik der Literaturgeschichtsschreibung zu entgehen, als erfolgreich erwiesen? Kann man sagen, daß unter den von ihm postulierten Prämissen die prinzipiell totgesagte, aber als unmögliche Klitterung nicht totzukriegende Literaturgeschichte doch sinnvoll möglich ist? Die Antwort kann nicht ein schlichtes Ja oder Nein sein, denn es stellten sich immer wieder Irritationen ein. Entscheidend aber ist, daß Heinzles Ansatz sich vorzüglich eignet, die Bedingungen zu klären, unter denen es sich erlaubt, literarhistorisch verantwortungsvoll zu arbeiten. Von zentraler Bedeutung ist sein grundlegender Gedanke, daß eine Doppelstrategie unumgänglich ist, ein zweisträngiges Verfahren, das nicht in beliebigen Klitterungen endet, sondern das die zwei elementaren Anforderungen, die an den Umgang mit Geschichte zu stellen sind, in ihrer 31
Vgl. meine Studie „Literaturgeschichte und Triebkontrolle. Bemerkungen eines Mediävisten zum sogenannten Prozeß der Zivilisation“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 603–615. 32 Siehe ebd., S. 615.
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harten Unversöhnlichkeit festhält.33 Denn Geschichtsdarstellung ist nur möglich, wenn man auf Kontinuitäten abhebt; Kontinuitäten lassen sich aber nur fassen als Abstraktionen unter einem Leitbild oder -gedanken. Das ist Heinzles thetischer Ansatz. Aber Abstraktionen sind unweigerlich einsinnig. Sie sind deshalb nur statthaft, wenn man sich dessen bewußt ist und sie laufend dadurch korrigiert, daß man das Diskontinuierliche mit berücksichtigt, daß man auch das Widerständige und Gegenläufige programmatisch einbezieht. Diese Selbstkorrektur des thetischen Verfahrens steckt bei Heinzle in der Forderung, quer zur kulturellen Leitlinie der Entfaltung des volkssprachlichen Schrifttums nach seinen Gebrauchsfunktionen die Emanzipation des genuin Literarischen ins Spiel zu bringen. Sein zweiter Zugriff steht von vornherein quer zur thetischen Linienführung, richtet er sich doch auf je spezifische historische Situationen, in denen sich bestimmte literarische Formen zu entfalten vermochten. Heinzle hat sie unter den Aspekt des Interesses gestellt, der sicherlich von fundamentaler Bedeutung ist, doch läuft man damit Gefahr, die Sicht allzusehr zu verengen; jedenfalls zeigte es sich, daß er, vor allem bei Johnson und Janota, Probleme mit sich brachte. Es fragt sich also, ob der situative Einstieg nicht weiter geöffnet werden könnte, ja müßte, und zwar im Sinne von Zugriffen in je eigentümliche kulturelle Bedingungszusammenhänge mit je wechselnden Positionen und Funktionen des Literarischen. In den USA hat man dies in großem Stil versucht: Denis Hollier und David E. Wellbery haben Geschichten der französischen bzw. der deutschen Literatur initiiert, die über die Jahrhunderte hin in immer neuen punktuellen Einstiegen über Ereignisse mit Signalcharakter die literarischen Bewegungen aufzuschließen suchen.34 Das ergibt freilich keine Literaturgeschichten im eigentlichen Sinn mehr – alle kontinuierlichen Linien werden zerbrochen –, vielmehr entsteht ein Mosaik von literarisch-kulturellen Momenten, die sich da, wo sie dicht genug beieinander liegen, zu Zeitbildern zusammenschließen können, meist aber doch nur über ein mehr oder weniger lockeres Netz von Querverbindungen miteinander in Berührung stehen. Das ist die radikale Konsequenz aus der Überzeugung, daß Literaturgeschichte im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung nur verfehlt sein kann. Man wird gerne zugeben, daß es auf diese Weise immer wieder zu treffend gestochenen literarischen Miniaturen in vielfältigen Kontexten kommt, die überaus erhellend und faszinierend sein können, so daß man die beiden Bände mit größtem Gewinn liest – vorausgesetzt freilich, daß man eine traditionelle Literaturgeschichte sozusagen im Hinterkopf hat; andernfalls ist man verloren. Das Fazit liegt klar zu Tage: Einerseits ist die Konstruktion von Kontinuitäten unabdingbar – die Forderung nach thetischen Setzungen im Sinne Heinzles ist zu akzeptieren –, sonst zerfällt einem die Geschichte unter den Händen, aber man darf sich, da sie immer nur Teilwahrheiten bieten, allein unter der Bedingung auf sie einlassen, daß man sie beständig in Frage stellt. Anderseits wird Geschichte nur in ihren konkreten Situationen lebendig, man braucht also den punktuellen Zugriff. Es lassen sich dabei zwar synchrone Bedingungszusammenhänge entfalten, will man aber von ihnen aus in die Geschichte vorstoßen, so verwandeln sie sich 33
Es sei nochmals auf die in Anm. 15 zitierte klare Formulierung dieser Position aus Heinzles Ankündigung [Anm. 12] verwiesen. 34 A New History of French Literature, hg. v. Denis Hollier, Cambridge, London 1989; A New History of German Literature, hg. v. David E. Wellbery, Cambridge, London 2004.
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I. Übergreifendes
kaleidoskopartig; die jeweils nächsten Stufen sind, wenn es auch immer wieder eher kurzfristige Rezeptionsbögen geben mag, nicht ableitbar, sondern müssen in neuen Querschnitten unter veränderten Vorzeichen angegangen werden. Diese doppelte Sichtweise verlangt ein gespaltenes Analyse- und Darstellungsverfahren, wie es im Prinzip bei Heinzle vorgegeben ist, also eine Verbindung von kontinuierlichen Linienführungen mit situativen Brechungen, wobei jedoch beide Zugriffe in der konkreten Ausformulierung ihr je spezifisches Ungenügen stets mitreflektieren und d. h. sich Schritt für Schritt selbst relativieren müßten – dies bis hin zur Offenheit gegenüber dem Abgründigen im Sinne Bertaus. Das ist ein prekäres Unterfangen, und es wird nicht durchwegs gelingen, weil allzu oft die Daten zu dürftig und die hermeneutischen Unwägbarkeiten zu groß sind, aber es bleibt nichts, als diese Gratwanderung immer wieder zu versuchen. Es verdient bewundernde Beachtung, daß Heinzle und seine Mitautoren sich auf diesen schwierigen Weg gemacht haben: ihr Vorbild könnte in kritischer Weiterentwicklung zukunftsträchtig sein.
II. Zum höfischen Roman
1. König Artus Geschichte, Mythos und Fiktion
I König Heinrich II. von England soll in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts die Mönche des Klosters Glastonbury in Somerset angewiesen haben, in ihrem Friedhof nachzugraben, denn er habe von einem Waliser erfahren, daß Artus, d. h. Arthurus/ Arthur1 da bestattet liege. Und tatsächlich stieß man auf ungewöhnlich große Knochen eines Mannes, daneben auf das Skelett einer Frau, und dabei lag ein Bleikreuz mit einer Inschrift, die besagte, daß es sich um die Überreste von Arthur und seiner Gemahlin handle. Und Heinrich veranlaßte ferner, daß die Gebeine dann in ein prächtiges Marmorgrab übergeführt wurden. – Dies berichtet Giraldus Cambrensis.2 Welche Absicht stand hinter dieser spektakulären Aktion? Nach dem Volksglauben, dem vor allem die keltische Bevölkerung anhing, war König Arthur nicht gestorben, sondern seinerzeit, im Kampf gegen die eindringenden Sachsen schwer verwundet, auf die Jenseitsinsel Avalon gebracht worden, von wo er einmal zurückkehren und die Herrschaft über England wieder antreten werde.3 Es liegt nahe anzunehmen, es sei das Ziel des Grabungsauftrags an die Mönche von Glastonbury gewesen, diesen Glauben zunichte zu machen. Denn wenn es gelingen sollte nachzuweisen, daß Arthur gar nicht nach Avalon entführt worden war, sondern in Glastonbury begraben lag, konnte man die Hoffnung auf seine Wiederkehr zerstören.4 Doch das ist nur der eine und wohl nicht der entscheidende Aspekt. Das Kloster Glastonbury stand in besonders enger Beziehung zum anglonormannischen Königshaus.5 Von ihm gefördert, entwickelte es sich im 12. Jahrhundert zu einem herausra1
Die uns gewohnte Namensform ,Artus‘ ist die französische Schreibweise. Edmund. K. Chambers, Arthur of Britain, London 1927, S. 269–274 [ich verweise auf diese Textsammlung, da die Materialien hier am bequemsten zugänglich sind; der Darstellungsteil ist überholt; siehe die Supplementary Bibliography im Neudruck von 1964]; Roger Sherman Loomis, „The Legend of Arthur’s Survival“, in: Arthurian Literature in the Middle Ages, hg. v. R. Sh. Loomis, Oxford 1961, S. 64–71, hier S. 66f. [auch Arthurian Literature, hg. v. Loomis, ist ergänzungsbedürftig, kann aber immer noch als erste Einführung dienen]; Karl Heinz Göller, „Giraldus Cambrensis und der Tod Arthurs“, Anglia 91 (1973), S. 170–193, hier S. 179ff.; Amaury Chauou, L’ide´ologie Plantageneˆt. Royaute´ arthurienne et monarchie politique dans l’espace Plantageneˆt (XII e–XIII e sie`cles), Rennes 2001, S. 214ff. 3 Mary Honora Scanlan, The Legend of Arthur’s Survival, Diss. Columbia University, New York 1950; Loomis, „The Legend“ [Anm. 2]. 4 Lit. zu dieser These bei Alexander Ostmann, Die Bedeutung der Arthurtradition für die englische Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin 1975, S. 20; ferner Chauou [Anm. 2], S. 228f. 5 Clark H. Slover, „Glastonbury Abbey and the Fusing of English Literary Culture“, Speculum 10 (1935), S. 147–160. 2
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II. Zum höfischen Roman
genden kulturellen Zentrum. Man nannte es gar Roma secunda. Als es 1184 durch einen Brand zerstört wurde, ließ Heinrich II. es prachtvoll wieder aufbauen. Dieses Königskloster zur Grabstätte von Arthur und Guennuvar/Ginover zu erklären, erlaubte es den Plantagenets, nicht nur den keltischen Rückkehrmythos zu zerstören, sondern Arthur für sich zu usurpieren. Heinrichs Nachfolger machten ihn denn auch programmatisch zum Ahnherrn der eigenen Dynastie. Einige nennen sich geradezu arturus redivivus und deuten damit das Wiederkehrmotiv metaphorisch um. Und so konnte das Grab in Glastonbury zu einer memorialen Kultstätte werden.6 Edward I. ließ die Gebeine nochmals exhumieren und vor dem Hochaltar beisetzen. Er war ein ,Arthur-Enthusiast‘, er veranstaltete Turniere, die er Tafelrunden nannte, ebenso Edward III., der 1344 eine konkrete Tafelrunde als Rittergemeinschaft einführte und 1348 den Hosenbandorden gründete.7 Noch der erste Tudorkönig, Heinrich VII., bindet sich in diese Tradition ein, indem er das arthurische Drachenbanner übernimmt und seinem ersten Sohn den Namen Arthur gibt.8 Doch wie kommt man auf den Gedanken, ausgerechnet Glastonbury als Begräbnisstätte von König Arthur ins Spiel zu bringen? Im Hintergrund steht eine Gleichsetzung von Ortsnamen, die einige Rätsel aufgibt.9 Der keltische Name für Glastonbury war Ynis Gutrin, d. h. ,Glasinsel‘. Ist dies die ursprüngliche Bezeichnung, die man ungenau ins Angelsächsische übersetzt hat? Vielleicht weil das Wasser, in dem der Ort einst lag, verlandete und nur noch Sümpfe übrig geblieben waren, so daß man nicht mehr von einer Insel sprechen konnte? Oder steckt in Glastonbury – wohl eher – ein Eigenname, aus dem man ,Glas‘ herausgehört und dies dann mit Gutrin übersetzt hat? Die Glasinsel (oder vielleicht besser: Bernsteininsel) aber war in keltischer wie auch in nordischer Tradition eine Bezeichnung für das paradiesische Jenseitsland im westlichen Meer, wo es keine Winter gab und wo einen wunderschöne Frauen erwarteten.10 Das heißt: ,Glasinsel‘ war ein anderer Name für die Jenseitsinsel Avalon, walisisch Ynis Avallach, was (nach Galfred von Monmouth u. a.) von keltisch aval: ,Apfel‘, abgeleitet sein soll; doch steht möglicherweise der Name eines Totengottes, Avalloc, dahinter. Wenn also Avalon und die Glasinsel identisch waren, so lag es nahe, zu folgern, daß mit der Entführung des sterbenden Arthur nach Avalon seine Überführung nach Glastonbury gemeint sei. Diese Identifizierung wird von Giraldus explizit vorgenommen.11 Und so lautet denn die Inschrift auf dem Grabkreuz bei ihm: Hic jacet sepultus inclitus rex Arthurus cum Wenneuereia vxore sua secunda in insula Avallonia („Hier auf der Insel Avallon liegt der ruhmreiche König Arthur begraben zusammen mit seiner zweiten Frau Guennuvar“).12 6
Peter Johanek, „König Artus und die Plantagenets. Über den Zusammenhang von Historiographie und höfischer Epik in mittelalterlicher Propaganda“, Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 346–389, hier S. 379ff. 7 Ebd., S. 363ff. bzw. S. 362f.; James P. Carley, „Arthur in English History“, in: The Arthur of the English. The Arthurian Legend in Medieval English Life and Literature, hg. v. William R. J. Barron, 2Cardiff 2001, S. 47–57, hier S. 50ff.; Juliet Vale, „Arthur in English Society“, ebd., S. 185–19’, hier S. 185ff.; Chauou [Anm. 2], S. 261, S. 264f., S. 275ff. 8 Carl Lofmark, „Der Rote Drache der Waliser“, in: Festgabe für Otto Höfler, hg. v. Helmut Birkhan, Wien 1976, S. 429–448, hier S. 438f.; Johanek [Anm. 6], S. 361f. 9 Slover [Anm. 5], S. 148ff. 10 Materialien und viel Spekulatives bei Alexander H. Krappe, „Avallon“, Speculum 18 (1943), S. 303–322. 11 Siehe dazu Göller [Anm. 2], S. 174f.
1. König Artus
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Die Verbindung von Glastonbury mit Jenseitsvorstellungen ist im übrigen nicht ad hoc erfunden worden, sondern sie besaß Tradition. So erzählt Caradoc von Llancarvan in seiner ›Vita Gildae‹, daß Melvas, der König der aestiva regio = Somerset, die Frau König Arthurs, Guennuvar, nach Glastonia entführt habe, was walisisch Ynisgutrin heiße und was von den Sachsen dann mit Glastiberia übersetzt worden sei; und das bedeute Vitrea Civitas. Arthur belagert daraufhin die Stadtfestung des Melvas, und der gibt schließlich die Königin auf Vermittlung des Abtes von Glastonbury wieder heraus.13 Das ist nichts anderes als eine klerikale Adaptation jener Entführungsgeschichte, die Chre´tien de Troyes später in seinem Lancelot-Roman erzählen wird: der Raub der Königin durch Meleagant, der sie in sein Jenseitsreich entführt.14 Man hat also Glastonbury in den Sümpfen von Somerset schon vor Giraldus mit der Jenseits-Glasinsel und ihrem ewigen Sommer identifiziert. Und vor dem Hintergrund solcher Überlieferungen wird denn auch der Auftrag Heinrichs an die Mönche von Glastonbury verständlich, im dortigen Friedhof nach Arthurs Grab zu suchen, und daß diese mitgespielt haben, ist, da dies nur zum Ruhm des Klosters beitragen konnte, ebensowenig verwunderlich, wie daß man programmgemäß auch fündig wurde. Aber das Volk ließ sich den Glauben an die Wiederkehr des Königs nicht nehmen. Auf eine Reihe von meist kritischen Bedenken bei Schriftstellern des 12. Jahrhunderts zu diesem keltischen Aberglauben folgen immer neue Hinweise auf ihn aus dem 13. und den folgenden Jahrhunderten:15 in der Chronik Roberts von Glouchester, bei Lydgate, bei Malory usw. Und sie sind keineswegs auf England beschränkt, sondern es gibt auch Zeugnisse aus Italien und Spanien: Julian del Castillo berichtet noch 1582, es werde behauptet, daß Philipp II. von Spanien zur Zeit seiner Heirat mit Maria der Katholischen geschworen habe, er werde auf seinen Thron verzichten, wenn König Arthur zurückkehre.16 Es kommt im übrigen auch zu Kontaminationen mit der Sage vom König im Berg: Gervasius von Tilbury will, als er um 1190 in Sizilien war, den britischen König in einem unterirdischen Palast im Ätna gesehen haben, und Caesarius von Heisterbach berichtet Ähnliches.17 Die Vorstellung taucht auch im ›Wartburgkrieg‹ auf, einer mittelhochdeutschen Dichtung aus dem 13. Jahrhundert.18 Ja, noch im 19. Jahrhundert glaubte man in Nordengland an das Weiterleben des Königs in einer Höhle.19 Und selbst in Somerset wurden seinerzeit Archäologen, die Cadbury Castle besichtig12
Ebd., S. 185. Chambers [Anm. 2], S. 262–264; Tom Peete Cross u. William A. Nitze, Lancelot and Guenevere, Chicago 1930, S. 21ff.; Jean Frappier, „Chre´tien de Troyes“, in: Arthurian Literature [Anm. 2], S. 157–191, hier S. 178; meine Studie »Das Land, von welchem niemand wiederkehrt«. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chre´tiens ›Chevalier de la Charrete‹, im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven und im ›Lancelot‹-Prosaroman (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21), Tübingen 1978, S. 6f.; Oliver J. Padel, Arthur in Medieval Welsh Literature, Cardiff 2000, S. 44ff., S. 67ff. 14 Unnötig skeptisch gegenüber einem mythischen Ansatz John S. P. Tatlock, The Legendary History of Britain. Geoffrey of Monmouth’s Historia Regum Britanniae and Its Early Vernacular Versions, University of California Press 1950 (Nachdr. New York 1974), S. 189ff. 15 Loomis, „The Legend“ [Anm. 2]. 16 Ebd., S. 65. 17 Chambers [Anm. 2], S. 276f. bzw. S. 277f.; Loomis, „The Legend“ [Anm. 2], S. 68f. 18 Ebd., S. 69. 19 Keith Snowden, King Arthur in the North, Pickering 2001. 13
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ten, von einem alten Mann gefragt, ob sie gekommen seien, König Arthur auszugraben20 – dies also in unmittelbarer Nähe von Glastonbury, wo man 700 Jahre zuvor die Gebeine des Königs gefunden haben will! Der Mythos vom Weiterleben des Königs und seine Toterklärung in Verbindung mit der politischen Usurpation durch das anglonormannische Herrscherhaus haben also nebeneinander über die Jahrhunderte hin weitergewirkt. Wer war dieser König Arthur, den man in so widersprüchlicher Weise in Anspruch nahm? Ob man an seine Wiederkehr oder an die Grablege in Glastonbury glaubte, beides setzt ja voraus, daß Arthur tatsächlich gelebt hat. Worauf beruhte und beruht noch die Plausibilität einer historischen Person namens Arthurus?
II Die früheste Erwähnung findet sich in der Nennius zugeschriebenen ›Historia Brittonum‹ aus dem 9. Jahrhundert.21 Hier ist die Rede von einem Arturus, der sich als Heerführer im Kampf gegen die Sachsen ausgezeichnet habe, und es werden zwölf Schlachten genannt, aus denen er als Sieger hervorgegangen sei. Die letzte und entscheidende Schlacht wurde am Mons Badonicus geschlagen, in der Arthur 960 Gegner eigenhändig getötet habe. Bemerkenswert ist im weiteren, daß er in der Schlacht beim Castellum Guinnion ein Bild Marias auf den Schultern getragen haben soll, was ihm zum Sieg verhalf. Es gibt eine zweite Quelle, die ›Annales Cambriae‹, aus dem 10. Jahrhundert,22 aber auf das 9. Jahrhundert zurückgehend, die, abweichend von Nennius, berichten, Arthur habe in der Schlacht am Badon ein Kreuz auf den Schultern getragen. Ferner wird hier hinzugefügt, daß Arthur in der Schlacht von Camlann zusammen mit Medraut gefallen sei. Medraut dürfte identisch sein mit Modred/Mordred, der in den späteren Überlieferungen vom Tod des Königs eine entscheidende Rolle spielen wird. Die ›Annales Cambriae‹ bieten offenkundig Materialien, die von Nennius unabhängig gewesen sind. Es muß also alte, wohl mündliche Traditionen von einem Helden namens Arthur zur Zeit der Sachsenkriege gegeben haben. Die Schlacht am Mons Badonicus wird übrigens schon von Gildas, ca. 540,23 erwähnt, aber ohne daß der Name des Siegers genannt würde – vielleicht weil er selbstverständlich bekannt war. Damit kommt man zeitlich recht nahe an den historischen Vorstoß der Sachsen heran, der um 500 in Wessex aufgehalten worden ist. 20
J. Armitage Robinson, Two Glastonbury Legends: King Arthur and St. Joseph of Arimathea, Cambridge 1926, S. 53. 21 Robert Huntington Fletcher, The Arthurian Material in the Chronicles, (Hanover, N. H. 1905) 2New York 1966, S. 8ff.; Chambers [Anm. 2], S. 238–240; Tatlock [Anm. 14], S. 180ff.; Thomas Charles-Edwards, „The Arthur of History“, in: The Arthur of the Welsh. The Arthurian Legend in Medieval Welsh Literature, hg. v. Rachel Bromwich, Alfred O. H. Jarman, Brynley F. Roberts, Cardiff 1991, S. 15–32, hier S. 15ff. 22 Fletcher [Anm. 21], S. 31ff.; Chambers [Anm. 2], S. 240f.; Tatlock [Anm. 14], S. 183; Charles-Edwards [Anm. 21], S. 25ff. 23 Fletcher [Anm. 21], S. 3ff.; Chambers [Anm. 2], S. 234–237.
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Von der lateinischen Historiographie unabhängige Arthur-Traditionen gibt es in walisischen Dichtungen, die freilich erst relativ spät das Pergament erreicht haben, etwa im ›Schwarzen Buch von Carmarthen‹ um 1200 oder im ›Buch von Taliensin‹. Hier erscheint Arthur als Kämpfer gegen Ungeheuer, und hier ist auch von einer Fahrt des Königs mit seinen Kriegern zur Jenseitsinsel die Rede, wo man einen Wunderkessel gewinnt.24 Mit der Figur des Königs sind also, wenn sie greifbar wird, schon sehr unterschiedliche, teils mehr geschichtliche und teils mehr fabulöse Überlieferungen verbunden. Es ist nicht auszuschließen, daß es einen historisch-faktischen Kern gab. Aber wirklich beweisen läßt sich dies nicht. Die gelehrte Diskussion geht unentwegt weiter.25 Auffällig ist, daß die frühen Daten zu Arthurus/Arthur so disparat sind, daß sich keine geschlossene Kontur ergibt.
III Um jenes Bild des Königs zu schaffen, das die Jahrhunderte überdauern sollte, bedurfte es eines souveränen Neuzugriffs. Er erfolgte durch Galfred von Monmouth in seiner ›Historia Regum Britanniae‹.26 Monmouth, wohl Galfreds Geburtsort, liegt in Wales; er stammte aber aus einer britischen Familie und stand in enger Verbindung zur normannischen Herrscherschicht. Er ist urkundlich zwischen 1129 und 1151 in Oxford bezeugt, vermutlich war er dort auch Magister. 1152 wird er zum Priester geweiht, im selben Jahr wird er Bischof von St. Asalph – ein Amt, das er vermutlich nie wahrgenommen hat. Er war kein kirchlicher Mann.27 Die ›Historia‹ hat er aller Wahrscheinlichkeit nach 1136 vollendet.28 Zwei weitere Werke sind von ihm überliefert, die ›Prophetiae Merlini‹, die er in die ›Historia‹ eingebaut hat, und die ›Vita Merlini‹. Wir kennen sein Todesjahr: 1155. Mit der ›Historia Regum Britanniae‹ hat Galfred eine Vor- und Frühgeschichte der britischen Herrscher verfaßt, was es bislang nicht gegeben hatte. Er will sie zwar aus dem Britannischen übersetzt haben, was ,bretonisch‘ oder ,walisisch‘ heißen kann, doch es handelt sich wohl um eine Quellenfiktion, womit nicht gesagt sein soll, daß er nicht 24
The Arthur of the Welsh [Anm. 21], hier insbes. Patrick Sims-Williams, „The Early Welsh Arthurian Poems“, S. 33–71; Padel [Anm. 13]. 25 Einen Überblick über die Diskussion bietet Marylyn Jackson Parins, „Looking for Arthur“, in: King Arthur. A Casebook, hg. v. Edward D. Kennedy, New York 1996, S. 3–28. Die Geschichtswissenschaft bleibt äußerst zurückhaltend: Christopher A. Snyder, An Age of Tyrants, Philadelphia 1998, S. 253–255. 26 Fletcher [Anm. 21], S. 43ff.; Tatlock [Anm. 14]; Walter F. Schirmer, Die frühen Darstellungen des Arthurstoffes (Arbeitsgemeinschaft der Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 73), Köln, Opladen 1958, S. 7–40; John Jay Parry u. Robert A. Caldwell, „Geoffrey of Monmouth“, in: Arthurian Literature [Anm. 2], S. 72–93; William R. J. Barron, „Geoffrey of Monmouth’s Historia Regum Britanniae“, in: The Arthur of the English [Anm. 7], S. 11–18; Chauou [Anm. 2], S. 35ff. 27 Zur Biographie Tatlock [Anm. 14], S. 438ff.; Parry u. Caldwell [Anm. 26], S. 72ff. 28 Zur Datierung Tatlock [Anm. 14], S. 433ff.; Parry u. Caldwell [Anm. 26], S. 80f.
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aus mündlichen Überlieferungen geschöpft hätte.29 Aber er nützt auch die älteren lateinischen Chroniken: Gildas, Beda, Nennius, sowie zeitgenössische Werke, etwa William von Malmesbury.30 Was er von andern bezieht, steht freilich in keinem Verhältnis zu dem, was das Werk seiner eigenen, unglaublich blühenden Phantasie verdankt. Doch hat dies zu seiner Zeit kaum jemand durchschaut oder durchschauen wollen. Immerhin gab es zwei Kritiker: William von Newburgh sagt in seiner ›Historia Regum Anglicarum‹ von ca. 1198, Galfred habe den Finger von Artus dicker gemacht als die Lenden von Alexander dem Großen.31 Und Giraldus Cambrensis berichtet in seinem ›Itinerarium Cambriae‹ von einem gewissen Meilerius, der von Teufeln besessen war, so daß man mit ihm einen Wahrheitstest machen konnte: wenn man das ›Johannesevangelium‹ auf ihn legte, so verschwanden die Teufel; wenn man es jedoch gegen die ›Historia‹ Galfreds austauschte, kamen sie massenweise zurück.32 Galfreds Geschichtsklitterung wurde ein überwältigender literarischer Erfolg. Es sind noch über 200 Handschriften erhalten. 1155 vollendet Wace, ein normannischer Kleriker aus Jersey, der in Frankreich studiert hat, seine französische Übersetzung des Werkes,33 die Layamon (Lawman) dann um 1190 ins Mittelenglische übertrug.34 Es gibt mehrere walisische Versionen.35 So wirkte es über den Kreis der lateinisch Gebildeten hinaus in die Breite. Das Werk hat das britische Geschichtsbewußtsein über vier Jahrhunderte hin geprägt, und dies so gut wie unangefochten, ja man hat sich bei Gebietsansprüchen auf sie als auf ein historisches Dokument berufen. Das größte Gewicht in der über 1800 Jahre sich erstreckenden Geschichte der britischen Könige hat auf der einen Seite die Abstammungssage, die – nach Nennius – der auf dem Kontinent vorgeprägten Anbindung an antike Helden folgt,36 und haben auf der andern Seite die Taten Arthurs. Der Ahnherr und Heros eponymus der Briten ist der Römer Brutus, der, aus seiner Vaterstadt vertrieben, in Griechenland versprengte Trojaner um sich versammelt und mit ihnen über Gallien nach England zieht; er gibt dem Land seinen Namen: Britannia. Es folgen über tausend Jahre mit der Schilderung von blutigen inneren Fehden, dann 500 Jahre Kämpfe mit den einbrechenden Römern und mit Schotten, Pikten, Dänen, Norwegern, ja Hunnen. Dieses politische Chaos bereitet den Boden für den glorreichen Auftritt Arthurs. Er erscheint schon in jungen Jahren als großer Kämpfer. Schritt für Schritt unterwirft er sich Britannien und die umliegenden Inseln, auch Island, Norwegen und Dänemark und schließlich Gallien. Am Ende steht dann die große Auseinan29
Zur Frage schriftlicher walisischer Quellen Chauou [Anm. 2], S. 35f. Fletcher [Anm. 21], S. 49ff.; Chambers [Anm. 2], S. 53–99. 31 Ebd., S. 274–276; weitere Kritikpunkte: Johanek [Anm. 6], S. 377. 32 Chambers [Anm. 2], S. 268f. 33 Fletcher [Anm. 21], S. 127ff.; Tatlock [Anm. 14], S. 463ff.; Schirmer [Anm. 26], S. 41–53; Charles Foulon, „Wace“, in: Arthurian Literature [Anm. 2], S. 94–103; Franc¸oise Le Saux, „Wace’s Roman de Brut“, in: The Arthur of the English [Anm. 7], S. 18–22. 34 Fletcher [Anm. 21], S. 147ff.; Tatlock [Anm. 14]; Schirmer [Anm. 26], S. 54–82; Roger Sherman Loomis, „Layamon’s Brut“, in: Arthurian Literature [Anm. 2], S. 104–111; Franc¸oise Le Saux, „Layamon’s Brut“, in: The Arthur of the English [Anm. 7], S. 22–32. 35 Brynley F. Roberts, „Geoffrey of Monmouth, Historia Regum Britanniae and Brut y Brenhinedd“, in: The Arthur of the Welsh [Anm. 21], S. 97–116, hier S. 111ff. 36 Chauou [Anm. 2], S. 174ff. 30
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dersetzung mit dem römischen Kaiser Lucius. Da Arthur sich weigert, die Zinsforderungen der Römer anzuerkennen, bricht Lucius mit einem gewaltigen Heer gegen Britannien auf. Als Arthur davon erfährt, überläßt er die Herrschaft seinem Neffen Modred und fährt mit seinen Kriegern über den Kanal. Als er in Frankreich landet, trifft er am Mont Saint-Michel auf einen fürchterlichen Riesen, der gerade die Nichte eines seiner Getreuen vergewaltigt und dabei zu Tode gedrückt hat. Er besiegt ihn in einem wilden Kampf, indem es ihm gelingt, dem Riesen eine so schwere Wunde auf dem Kopf beizubringen, daß das Blut ihm in die Augen läuft und er nichts mehr sehen kann. Dabei wird noch an einen früheren Kampf des Königs gegen einen andern Riesen erinnert, der sich aus den Bärten der von ihm getöteten Könige einen Pelzrock machte.37 Daß er auch den Bart Arthurs forderte, kostete ihn das Leben. Diese Riesenkämpfe nehmen sich inmitten der politischen Auseinandersetzungen, die bei aller Hyperbolik in menschlichem Rahmen bleiben, sehr seltsam aus. Und doch wird gerade die Mont Saint-Michel-Episode, wie zu zeigen sein wird, einen besonderen Erfolg haben. Der Riesenkampf auf dem Mont Saint-Michel ist der Auftakt zu langen wechselvollen, blutigen und überaus verlustreichen Kämpfen mit den Römern in Gallien, bis Arthur schließlich Lucius tötet. Er will nun gegen Rom ziehen. Doch da kommt Nachricht, daß sein Neffe Modred ihn verraten und sich nicht nur die Krone aufs Haupt gesetzt, sondern sich auch die Königin Guinevere ins Bett geholt hat. Zornentbrannt kehrt Arthur nach England zurück, bei Winchester kommt es zur Schlacht, Modred flieht, Arthur verfolgt ihn, stellt ihn erneut zum Kampf, bei dem auf beiden Seiten so gut wie alle fallen. Der König tötet seinen Neffen, und er selbst wird schwer verwundet; man bringt ihn nach Avalon, damit er dort Heilung finde. – Galfred nimmt also, wenn auch nur in knappster Form, die Entführung des sterbenden Königs auf die Jenseitsinsel in seine Chronik auf und trägt damit zur Verfestigung des Wiederkehrmythos bei. Der arthurische Teil der ›Historia‹ war offenkundig als der Höhepunkt dieser Vorgeschichte des normannischen Königtums gedacht. Und er besaß zweifellos politische Brisanz, denn er zielte kaum verhüllt darauf, die Eigenständigkeit, ja die Überlegenheit Britanniens gegenüber Frankreich herauszustellen; zugleich sollte wohl mit Arthur ein Gegenbild zu Karl dem Großen entworfen werden.38 Das Werk insgesamt war aber auch innenpolitisch ausgerichtet: es war angesichts der Wirren nach dem Tod Heinrichs I. als Mahnung zu Versöhnung und Einigkeit gedacht.39
37
Vgl. Tatlock [Anm. 14], S. 388f.; ferner Chauou [Anm. 2], S. 150ff. Erich Köhler, „Quelques observations d’ordre historico-sociologique sur les rapports entre la chanson de geste et le roman courtois“, in: Chanson de geste und höfischer Roman. Actes du colloque de Heidelberg, Heidelberg 1963, S. 21–35, hier S. 29; siehe hingegen die Diskussion: S. 32, sowie Tatlock [Anm. 14], S. 311 mit Anm. 23; Johanek [Anm. 6], S. 351, S. 375; Chauou [Anm. 2], Introduction und S. 39ff. 39 Schirmer [Anm. 26], S. 25–28. 38
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IV So bedeutsam dieser Aspekt aber auch war und wie sehr die politische Konstruktion auf die nachfolgende Geschichtsschreibung einwirkte, im gesamteuropäischen Bewußtsein lebte die Gestalt des Königs Artus weitgehend abgelöst von den großen politischen Zusammenhängen und selbstverständlich auch abgelöst von der politischen Aktualität weiter. Sie wurde vielmehr geprägt durch jene Episoden, die ein mythisches Potential in sich trugen. Und das waren zunächst einmal zwei: der Riesenkampf und sein Verschwinden am Lebensende. Der Mythos vom Weiterleben des Königs in einem Jenseitsland und seiner künftigen Wiederkehr war, wie gesagt, über die Jahrhunderte hin und über die Kulturgrenzen hinweg präsent. Nachzutragen ist dazu noch, daß zur Verwundung im Kampf mit Modred und der anschließenden Jenseitsfahrt eine eigentümliche Variante im Umlauf war.40 Sie ist in unterschiedlichen Versionen überliefert. Es handelt sich um Artus’ Kampf mit einer dämonischen Katze. Nach der Version des ›Livre d’Artus‹, eines Gauvain-Romans des 13. Jahrhunderts, erfährt Artus, daß ein Katzenungeheuer die Gegend am Genfer See heimsuche. Er zieht mit einigen seiner Ritter aus – auch Merlin ist dabei –, um das Tier unschädlich zu machen. Als sie sich seiner Höhle nähern, schickt der König seine Leute zurück, Merlin beginnt zu pfeifen, die Katze stürzt heraus, und es kommt zu einem blutigen Kampf, aus dem der König schließlich als Sieger hervorgeht. Es gibt demgegenüber aber auch Versionen mit einem tragischen Ende, so in dem mittelhochdeutschen Roman ›Manuel und Amande‹, ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert. Im ›Romanz des Franceis‹ eines gewissen Andre´, datiert auf 1204, heißt es, es werde erzählt, daß die Katze den König getötet habe. Und Andre´ nennt ihren Namen: Capalu. Um 1193 schreibt Henricus Septimellensis eine lateinische Elegie, in der erwähnt wird, daß Artus mit einem Untier gekämpft habe, daß das Tier von ihm besiegt worden, er aber nicht nach Hause zurückgekehrt sei, und deshalb warteten die Bretonen noch immer auf seine Rückkehr. Daß Artus von der Katze entführt worden sei, erwähnt auch der provenzalische Troubadour Peire Cardenal. Der Ursprung der Sage könnte wohl walisisch sein, denn in mittelkymrischen Texten ist mehrfach von einem Katzenungeheuer mit Namen Cath Paluc die Rede, wenngleich nicht in Verbindung mit Arthur. Die Belege zu dieser Sage sind also weit verstreut, und das Ende erscheint merkwürdig variabel. Aber sie muß eine große Faszination ausgeübt haben. Dies auch unter den Normannen Süditaliens, denn sie haben den Katzenkampf des Königs auf dem Fußbodenmosaik der Kathedrale von Otranto bildlich festgehalten, und zwar an exponierter Stelle: an der Spitze des Mittelschiff-Mosaiks. Etwas links von der Mitte ist hier ein Reiter mit einer Keule auf einem seltsamen bockähnlichen Tier dargestellt. Er ist durch die Inschrift rechts über dem Tier unzwei40
Vgl. meine Studie „Artussage und Heilsgeschichte. Zum Programm des Fußbodenmosaiks von Otranto“, in: Haug, Strukturen, S. 409–446, hier S. 410f., S. 425ff. Materialien: Emile Freymond, „Artus’ Kampf mit dem Katzenungetüm. Eine Episode der Vulgata des Livre d’Artus, die Sage und ihre Lokalisierung in Savoyen“, in: Beiträge zur romanischen Philologie. Festgabe für Gustav Gröber, Halle 1899, S. 311–396.
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felhaft zu identifizieren: Rex Arturus. Vor ihm springt eine gefleckte Katze hoch. Darunter eine zweite Szene: hier wirft sich die Katze über den auf dem Rücken liegenden König. Es wird damit offensichtlich die tragische Variante festgehalten. Rätsel gibt der Bildzusammenhang auf. Links von den Artusszenen findet sich oben eine Darstellung der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Darunter das Gegenbild, der Antitypus: der Gute Schächer vor dem Himmelstor. Rechts von den Artusszenen Kain und Abel, zunächst das Opfer, wobei deutlich gemacht ist, daß nur Abels Opfer von Gott angenommen wird; daneben die Ermordung Abels durch Kain. Die Vertreibung aus dem Paradies als Folge des Sündenfalls und die Rettung des Guten Schächers als Folge der Erlösungstat Christi markieren den Anfang und den Endpunkt der Heilsgeschichte. Die Tötung Abels weist in kirchlicher Exegese präfigurierend voraus auf die Tötung Christi. Was hat König Artus hier zu suchen? Ist er in Parallele zum Tod Abels gesehen, als ein Repräsentant des Guten, der sich im Kampf mit dem Bösen opfert? Artus als normannischer Abel? Das mag einem allzu abenteuerlich vorkommen. Aber es gibt im ›Livre d’Artus‹ eine Vorgeschichte zum Katzenkampf, die sich in eigentümlicher Weise mit dem Opferthema der Kain-Abel-Geschichte berührt. Es wird berichtet, daß an einem Himmelfahrtstag ein Fischer auf den Genfer See hinausfuhr. Dabei gelobt er, Gott den ersten Fang darzubringen. Doch er tut einen so guten Fang, daß er sein Gelöbnis bereut und Gott den zweiten Fang verspricht. Doch da die Beute diesmal noch größer ist, vertröstet er Gott auf den dritten Fischzug. Beim dritten Mal geht ihm eine kleine schwarze Katze ins Netz. Er nimmt sie nach Hause, wo sie schnell zu einem gefräßigen Untier heranwächst und schließlich den Fischer und seine Familie verschlingt. Dann zieht sie in eine Höhle am Genfer See, wo sie alles tötet, was in ihre Nähe kommt. In der Bibel wird kein Grund dafür angegeben, weshalb Gott Kains Opfer nicht annimmt. Aber die christlichen Exegeten haben ihn nachgeliefert: denn da es nur bei Abel heißt, daß er die Erstlinge seiner Herde Gott dargebracht habe, bei Kain aber nicht, hat man unterstellt, Kain habe das Beste seiner Ernte für sich behalten. In der
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Katzengeschichte wie bei Kain erscheint also die Selbstsucht als Wurzel allen Übels, die Guten unterliegen ihr, bis mit dem letzten Opfer, mit Christi Tod, das Böse besiegt wird. Wenn diese Interpretation richtig ist, wäre damit die britische Frühgeschichte über König Artus in kühner Weise einbezogen worden in die christliche Heilsgeschichte. Das ginge noch einen bedeutenden Schritt über das hinaus, was Galfred an phantastischen weltgeschichtlichen Konstruktionen geboten hat. Jedenfalls: der Wiederkehrmythos ist auch an einen Kampf mit einem Ungeheuer angeschlossen worden – und damit komme ich zum zweiten Motiv mit mythischem Potential: zu Artus’ Riesenkampf auf dem Mont Saint-Michel.
V Merkwürdigerweise haben nicht in erster Linie die Feldzüge und Schlachten das gesamteuropäische Bild von Artus als kriegerischem Helden geprägt, sondern sein Riesenkampf. Propagiert wurde es durch einen Heldenkatalog, den Jacques de Longuyon erfunden hat, und zwar in seinem pseudohistorischen Roman ›Les Voeux du Paon‹ von 1312/13.41 Artus erscheint hier in einer Reihe von neun Helden: drei heidnischen, drei jüdischen und drei christlichen. Die drei Heiden sind: Hektor, Alexander und Julius Cäsar; die drei Juden: Josua, David und Judas Makkabäus; die drei Christen: König Artus, Karl der Große und Gottfried von Bouillon. Dieser Roman, den heute nur noch die Fachleute kennen, war der große literarische Erfolg des 14. Jahrhunderts. Er ist in fast alle europäischen Sprachen und ins Lateinische übersetzt worden. Aber dieser Erfolg wurde noch überboten von der Ausstrahlung des hier eingebauten Schemas der Neun Helden, das unabhängig vom Roman weitergegeben worden ist und in Literatur und bildender Kunst über mehr als 500 Jahre kanonisch nachgewirkt hat. Am bekanntesten ist es wohl heute noch durch die Wandmalereien in der Galerie des Sommerhauses auf der Burg Runkelstein bei Bozen.42 Jacques de Longuyon hat also Artus neben Kriegshelden wie Hektor, Alexander, Julius Cäsar usw. gestellt. Man würde denken, daß seine Feldzüge und nicht zuletzt der Kampf mit Rom dies ausreichend hätten rechtfertigen können. Davon gibt es in der Charakterisierung durch Jacques aber nur eine Andeutung; das Hauptgewicht liegt vielmehr auf dem Kampf mit dem Riesen von Mont Saint-Michel, wobei er die beiden Riesen der ›Historia‹ zusammenzieht. Es ist nun der Riese von Saint-Michel, der den Königen die Bärte abschneidet.43 Artus wird also als Riesenkämpfer in den Kanon der Neun Helden aufgenommen. Als Figur mit mythischen Konnotationen führt er die christliche Triade an. Über Karl den Großen geht die Linie zu Gottfried von Bouillon, 41
Horst Schroeder, Der Topos der Nine Worthies in Literatur und bildender Kunst, Göttingen 1971; Ders., „The Nine Worthies. A Supplement“, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 218 (1981), S. 330–340; vgl. meine Studie „Das Bildprogramm im Sommerhaus von Runkelstein“, in: Runkelstein. Die Wandmalereien des Sommerhauses, hg. v. Walter Haug, Joachim Heinzle, Dietrich Huschenbett, Norbert H. Ott, Wiesbaden 1982, S. 15–62, hier S. 27ff. 42 Ebd., S. 24, S. 95f. (Abb. 1–3). 43 Schroeder, Der Topos [Anm. 41], S. 47.
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d. h., sie endet in der jüngsten mittelalterlichen Vergangenheit. Artus erhält damit eine Position in einem weltgeschichtlichen Konzept. Es steht wohl hinter Jacques’ Schema die Dreiteilung der Geschichte nach Augustinus, freilich in eigentümlicher Abwandlung.44 Zunächst die Geschichte ante legem, für die hier die Heiden eintreten, dann die Geschichte sub lege, die jüdische Geschichte von Josua bis Judas Makkabäus, und schließlich die Geschichte post legem, also die christliche Zeit, eingeleitet durch König Artus im Blick auf seinen Ungeheuerkampf, möglicherweise zu verstehen als symbolischer Sieg über das Böse, wodurch Artus einmal mehr in eine heilsgeschichtliche Perspektive gerückt würde.45 Jedenfalls aber wird sein herausragender heroischer Rang durch eine mythische Tat dokumentiert.
VI Verfolgt man die 500jährige Tradition des Neun-Helden-Kanons, so wird zwar das Bild, das Jacques de Longuyon von Artus zeichnet, vielfach übernommen, aber meist vermischt mit anderen Zügen.46 So taucht auch das Mythologem vom Weiterleben im Jenseitsland auf; am häufigsten aber wird Artus zusätzlich als Gründer der Tafelrunde herausgestellt. Damit kommt ein Motiv ins Spiel, das bis heute wohl in erster Linie, jedenfalls auf dem Kontinent, mit der Figur des Königs verbunden ist: der Runde Tisch, an dem die arthurischen Ritter sich gleichrangig zum Mahl versammeln.47 Es findet sich jedoch noch nicht bei Galfred, sondern die Installation der Tafelrunde taucht erstmals bei seinem Übersetzer Wace auf, der sich dafür auf mündliche Überlieferung beruft. Doch was die Tafelrunde ins Bild bringt, die festlich-harmonische Gemeinschaft aller Edlen – sie ist bei Galfred schon vorgeprägt. In der ›Historia‹ veranstaltet Arthur nach seinen Siegen und der Konsolidierung seiner Herrschaft ein glanzvolles höfisches Fest, zu dem Könige und Fürsten aus ganz Europa sich einfinden – es gibt eine ebenso lange wie phantastische Gästeliste. Galfred sagt: Britannien hatte damals einen solch hohen Stand edler Gesittung erreicht, daß es alle übrigen Königreiche an Reichtum, an glänzender Ausstattung und höfischer Haltung übertraf. Jeder Ritter, der sich Ruhm durch seine Tapferkeit erworben hatte, trug Kleidung und Waffen von einer bestimmten Farbe. Die reizvollen Damen erschienen in aufeinander abgestimmten Kleidern und hielten es für ehrenvoll, ihre Liebe keinem Mann zu schenken, der sich nicht dreimal im Ritterdienst bewährt hatte. So wurden die Frauen züchtig und immer tugendhafter und die Ritter infolge ihrer Liebe immer mutiger. 44
Ebd., S. 49f., S. 54. Weitere Belege zur Tendenz, Artus in eine christlich-religiöse Perspektive zu rücken: Karl Heinz Göller, „Arthurs Aufstieg zum Heiligen. Eine weniger beachtete Entwicklungslinie des Herrscherbildes“, in: Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Gießen 1984, S. 87–103. 46 Schroeder, Der Topos [Anm. 41], S. 104ff. 47 Zur Geschichte dieses Motivs Hildegard Eberlein-Westhues, „König Arthurs ,Table Ronde‘. Studien zur Geschichte eines literarischen Herrschaftszeichens“, in: Der altfranzösische Prosaroman, hg. v. Ernstpeter Ruhe u. Richard Schwaderer, München 1979, S. 184–269. 45
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Erquickt durch das Mahl, gingen sie schließlich auf die Wiesen außerhalb der Stadt, um sich der eine an diesem und der andere an jenem Spiel zu beteiligen. Die Ritter planten eine Scheinschlacht und begannen ein Spiel zu Pferd. Die Damen aber schauten oben auf den Mauern zu und entflammten sie, wie dieses Spiel es forderte, zu heftigstem Eifer. Einige Ritter maßen sich im Stabhochspringen, andere im Speerwerfen, wieder andere mit dem Werfen schwerer Steine, jene mit Schach oder mit Würfelspielen und all den übrigen Spielen, und so vertrieben sie sich den Rest des Tages, wobei alle Streitigkeiten vermieden wurden. Wer immer den Sieg in einem Spiel errang, den belohnte Arthur mit reichen Gaben. Als die ersten drei Tage auf diese Weise vergangen waren, wurden zu Beginn des vierten Tages all jene herbeigerufen, die Arthur in einem bestimmten Amt gedient hatten, und jeder von ihnen wurde mit Besitztümern beschenkt, mit Burgen und Städten, mit Erzbistümern und Bistümern, mit Abteien und andern Ehrentiteln.48
Damit ist ein Bild höfischer Idealität entworfen, dessen kulturgeschichtliche Folgen kaum überschätzt werden können. Wace hat dieses Bild nicht nur übernommen, sondern es breit ausgeschmückt, und er hat, wie gesagt, die Tafelrunde eingefügt.49 Von ihm aus hat Chre´tien de Troyes dann dieser ,Sozialutopie‘ – wenn ich so sagen darf – in dem von ihm geschaffenen Artusroman eine entscheidende Position eingeräumt, und über den epochalen Erfolg dieses Romans konnte sie ihre gesamteuropäische Wirkung entfalten, die keineswegs nur literarisch war. Es klingt geradezu prophetisch, wenn Galfred von Arthur sagt: Er führte solch edle Sitten an seinem Hof ein, daß er weit entfernte Völker zur Nacheiferung antrieb. So wurden die Edelsten allenthalben angespornt, und sie schätzten es, sich im Kleiden und Waffentragen wie die Arthurritter zu verhalten. Schließlich verbreitete sich der Ruf von Arthurs Freigebigkeit und Tapferkeit bis zu den äußersten Grenzen der Erde.50
Diese „Nacheiferung“ fand auch auf dem Kontinent ihren Niederschlag in der Bildung von Artusgesellschaften, die Artusfeste mit Turnieren veranstalteten; das wurde geradezu zu einer Obsession, die dann in Flandern und in den Hansestädten auch das städtische Patriziat ergriffen hat.51 Diese teilweise geradezu groteske Umsetzung eines literarischen Entwurfs in die Wirklichkeit hat die arthurische Utopie gesellschaftspolitisch instrumentalisiert und dabei das preisgegeben, worum es im Roman wesentlich ging, nämlich die Problematik, die im Übergang von der Chronik zum Roman aufbrach und die dessen raison d’eˆtre war. Man muß sich vergegenwärtigen, was bei diesem Übergang mit dem Artusstoff und seinem Protagonisten geschehen ist. Es ist wohl das Verblüffendste in dieser so wechselvollen Geschichte des britischen Königs: Artus, der große Eroberer, der Kämpfer gegen Riesen, der Held, der, von den eigenen Leuten verraten, heroisch untergeht und auf den man als Retter wartet – dieser Action-Held par excellence wird im Übergang von der Chronik zum Roman zu einer gänzlich passiven Figur. Er versammelt die besten Ritter in seiner Tafelrunde, aber die Aufgaben, der sie sich stellen muß, über48
Übersetzung frei nach: König Artus und seine Tafelrunde. Europäische Dichtung des Mittelalters, hg. v. Karl Langosch, Stuttgart 1980, hier S. 38. 49 Ebd., S. 94ff., S. 104ff. 50 Ebd., S. 31. 51 Vgl. meine Studie „Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers ›Ring‹“, in: Haug, Brechungen, S. 312–331, hier S. 320f.; Vale [Anm. 7], S. 185ff.
1. König Artus
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nimmt nicht er selbst, sondern es sind seine Ritter – Erec, Yvain, Lancelot, Perceval usw. –, die vom Hof ausziehen, die auf Aventürenfahrt gehen, während Artus an seinem Hof bleibt, höchstens mit ihm umherzieht – er bleibt am Hof und wartet darauf, daß seine Ritter zurückkommen und von ihren Taten berichten. Selbst Aventüren, die man früher von Artus selbst erzählt hat, wie die Rückgewinnung der geraubten Königin, werden nun auf andere Helden übertragen. Wie ist es dazu gekommen? Wie ist es möglich geworden, daß man eine Figur in ihrem Charakter so radikal umgestülpt und ihre Funktion ganz neu definiert hat? Verstehen läßt sich dies nur, wenn man sich klar macht, was der Gattungswechsel von der Geschichtsschreibung zum Roman und d. h. zur Fiktion bedeutet – Fiktion verstanden als freie literarische Erfindung, und dies in der Erwartung, daß auch das Publikum sich dessen bewußt ist. Nicht auf das, was geschieht, kommt es an, denn vieles, was da erzählt wird, ist allzu phantastisch, als daß man es hätte wörtlich nehmen können, vielmehr ist der Blick auf das zu richten, was es bedeutet; ja, je klarer der fiktionale Charakter der Handlung heraustritt, desto nachdrücklicher wird man auf den Sinn gestoßen, den sie vermitteln soll. Und die Dichter versäumen es denn auch nicht, immer wieder augenzwinkernd darauf aufmerksam zu machen, daß nicht Wahrheit an sich geboten wird, sondern daß die Wahrheit in der Fiktion liegt. Artus mag zwar auch noch im Roman als historische Figur gelten, aber darauf liegt kein Gewicht, vielmehr erfolgt die Absage an die Geschichte geradezu programmatisch. Hartmann von Aue, der Übersetzer von Chre´tiens ›Erec‹ und ›Yvain‹, sagt: ,Die Briten glauben, daß Artus noch lebe, und damit haben sie durchaus recht, denn obschon er gestorben ist, lebt er doch in den Erzählungen über ihn weiter.‘ Damit ist der Avalon-Mythos literaturtheoretisch umformuliert.52 Und mit dem Gattungswechsel verändert sich die Funktion. Die mittelalterliche Geschichtsschreibung ist politisch orientiert, sie verfolgt konkrete Zwecke, sie schafft Legitimationen, liefert ideologische Absicherungen, propagiert Grundsätze zu Macht und Herrschaft, entwirft möglicherweise ideale Gesellschaftsvorstellungen bis hin zu ethischen Konzepten, die auch die Herrschenden einbinden. Der Roman hingegen, so beispielhaft er sich gelegentlich auch geben mag, ist nicht pragmatisch ausgerichtet, sondern er ist problemorientiert. Das, was die Historiographie positiv lehrhaft vertritt, wird im Roman zur Diskussion gestellt. Wenn Arthur bei Galfred den Heldenweg geht, bis er in einer Friedenspause die ideale ritterliche Gesellschaft verwirklichen kann, so setzt der Roman bei diesem Zielpunkt an: er verbindet die Figur des Königs mit dem Status, den er optimal zu erreichen vermochte, und fragt nun, unter welchen Bedingungen er nicht nur zu verwirklichen, sondern auch zu erhalten wäre. So steht denn in dem von Chre´tien kreierten Romantypus bezeichnenderweise das höfische Fest, der ideale Status der Gesellschaft, immer schon am Beginn der Handlung. Er wird beschrieben als Balance aller menschlichen Kräfte, als ein Leben in maßvoll-spielerischer Harmonie: es tauchen alle jene Motive auf, die Galfred und Wace zur Charakterisierung des arthurischen Hoffestes verwendet haben, und es kommen neue hinzu. Zu Beginn des Yvain-Romans wird es so beschrieben: Man übt sich in Turnierkämpfen, man treibt Sport, man macht Musik, man tanzt, 52
Haug, Literaturtheorie, S. 119ff.
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II. Zum höfischen Roman
man unterhält sich, man dient den Damen, man erzählt sich Geschichten. Aber – und dies ist die entscheidende, neue Frage – ist diese Balance zu halten, ja gibt es diese soziale Harmonie überhaupt unangefochten? Man kann dieses spielerische Leben zwar in dem ausgegrenzten Bezirk des Hofes als festlichen Moment in Szene setzen, aber man kann die Welt außerhalb letztlich nicht ignorieren, und so meldet diese denn im Gegenzug als Teil der Wirklichkeit ihr Recht an. Das Problem, das sich damit stellt, ist also dies, ob sich das Negative jetzt und immer wieder in der Weise bewältigen läßt, daß die Idealgesellschaft stets neu aus der Auseinandersetzung hervorgehen kann. Narrativ konkret heißt das: Der Artushof wird provoziert: man brüskiert den König, man beleidigt die Königin, ja man entführt sie. Ein Ritter muß ausziehen, in die Disharmonie der Gegenwelt eintreten. Sie zeigt sich ihm als ein Bereich von Gewalt und Begierde, verkörpert in Riesen, Räubern, Entführern, Vergewaltigern. Die Artusritter gehen am Ende als Sieger aus der Auseinandersetzung mit ihnen hervor, sie kehren an den Hof zurück, und das utopische Fest kann erneuert werden, wobei zu diesem Fest nun das Erzählen der Aventüren gehört, die bestanden worden sind, d. h., die Gegenwelt wird ins Bewußtsein hereingenommen, so daß sie potentiell immer mit da ist. Das Fest, das Spiel, das Glück lebt vor dem Hintergrund der überwundenen Gegenwelt, es lebt im Bewußtsein der Gefährdung und im Blick auf den nächsten Einbruch von außen. Ins Bild gebracht wird diese latente Schattenseite durch einen ganz anderen Artus: durch den versonnenen Artus, den gedankenverlorenen König; auch das Motiv, daß er nicht essen will, bevor man ihm nicht von einer Aventüre berichtet hat,53 d. h. bevor nicht das Konfliktträchtige mit präsent ist, gehört hierher. Der Artus des Romans: tatenlos, mit melancholischer Geste, die übrigens leicht ins Komische abrutschen kann, dieser Artus ist geradezu als Gegenbild zum rabiaten Helden der Geschichtsschreibung stilisiert. Als der junge wilde Perceval in Chre´tiens Gralsroman in den Artushof einreitet und den König grüßt, ist der so tief in Gedanken versunken, daß er nichts hört und sieht. Ungeduldig, weil der König nicht reagiert, reißt der Junge sein Pferd herum und wirft ihm dabei die Mütze vom Kopf. Erst jetzt wacht Artus aus seiner Nachdenklichkeit auf. Doch das problematische Gegenüber von arthurischer Idealität und brutaler Aventürenwelt, das sich in der Melancholie des Königs spiegelt, faßt nur die halbe Wahrheit des neuen Romans.54 Denn es geht Chre´tien und den Nachfolgern, solange sie auf seinem Niveau bleiben, nicht einfach nur darum, daß Artusritter ausziehen und die Bedrohung des Hofes und seiner sozialen Utopie abwenden: das Gute besiegt das Böse – das wäre trivial. Die arthurische Idealität beruht auf dem Prinzip der mesure, der maˆze, der maßvollen Mitte zwischen den Extremen, einem Prinzip, auf dem schon die Antike ihre Ethik aufgebaut hat. Dem steht nun jedoch nicht nur die Unbeherrschtheit entgegen, die die anti-arthurische Welt kennzeichnet, sondern auch das, was im positiven Xenja von Ertzdorff, „König Artus’ site: ,Nehein rıˆter vor im az / des tages swenn aventiure vergaz / daz si sıˆnen hof vermeit‘ (Parz. 309,6ff.)“, in: Ist zwıˆvel herzen naˆchgebuˆr. FS Günther Schweikle, hg. v. Rüdiger Krüger u. a., Stuttgart 1989, S. 193–201; sie meint, daß Wolfram das Motiv erfunden haben könnte; siehe hingegen Bernadette Smelik, „Koning Arthur wil niet eten“, Madoc 15 (2001), S. 19–27. 54 Vgl. zum Folgenden meinen Essay „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 172–184. 53
1. König Artus
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Sinn das Maß überschreitet. Und da sich hier ein zweites Problem zeigt, folgt im Chre´tienschen Roman auf den ersten Auszug ein zweiter, und dieser wird nun nicht mehr von außen provoziert, sondern er wird durch eine innere Krise angestoßen. In Chre´tiens Erstling, seinem Erec-Roman, wird die Königin von einem vorbeiziehenden Ritter grob beleidigt, und der Held, Erec, verfolgt den Übeltäter. Es ergibt sich eine Gelegenheit zum Kampf, in dem der Beleidiger besiegt wird. Damit ist die Untat an der Königin gerächt. Doch Erec hat nicht nur seine Aventürenfahrt erfolgreich zu Ende gebracht, sondern er hat dabei auch eine Frau gewonnen, Enide, die er mit an den Hof bringt und heiratet. Seine Liebe zu ihr erweist sich aber als so übermächtig, daß er nur noch mit ihr im Bett liegt, so daß das gesellschaftliche Leben erlahmt. Als Enide ihn darauf aufmerksam macht, zieht er ein zweites Mal aus, mit ihr zusammen, und er besteht eine Reihe von Aventüren, die ihn an den Rand des Todes bringen, und es ist Enide, die ihm letztlich das Leben rettet. Diese zweite Krise ergibt sich also daraus, daß die ideale gesellschaftliche Balance nun nicht mehr durch Brutalität und Gemeinheit herausgefordert wird, sondern durch eine ,positive‘ Maßlosigkeit, durch den absoluten Anspruch der Liebe. Sie kann sich in der antihöfischen Welt bewähren, sich rechtfertigen bis hin zur Selbstpreisgabe für den geliebten Partner. In einer Welt des Maßes aber hat sie keinen Platz. Und doch hat sie ihr Recht. Dasselbe gilt für den religiösen Anspruch in seiner Absolutheit: auch er steht quer zur höfischen Welt. Perceval versäumt es, auf der Gralsburg die Frage zu stellen, die Anfortas heilen würde. Seine Zurückhaltung wird durch die höfische Regel, nicht durch vieles Fragen lästig zu werden, diktiert. Hier hätte eine andere Norm Geltung gehabt, eine Norm, die die höfischen Verhaltensformen bricht. Und so wird der vom Artushof dann gefeierte und in die Tafelrunde aufgenommene Perceval von einer Botin aus dem Gralsreich verflucht. Das zwingt auch ihn zu einem zweiten Auszug, auf dem er mit dem konfrontiert wird, was nicht machbar ist, was quer steht zu allen gelernten Regeln: es geht um die Erfahrung der göttlichen Gnade – unter diesem Aspekt jedenfalls hat Wolfram von Eschenbach den Fragment gebliebenen Gralsroman Chre´tiens zu Ende geführt. Chre´tien demonstriert also in seinen Artusromanen, daß die gesellschaftliche Harmonie auf dem maßvollen Ausgleich der menschlichen Bestrebungen beruht. Sie kann gewonnen und bewahrt werden, indem man die Gegenkräfte besiegt. Zugleich aber macht man die Erfahrung, daß es quer dazu absolute Forderungen gibt, die erotische Forderung durch das Du und die religiöse Forderung, die beide ohne Maß sind. Eine Versöhnung ist nicht denkbar. Es bleibt nichts, als den Widerspruch auszuhalten. Doch es gibt dabei Grenzen, man kann den Bogen überspannen. Zum kritischen Fall ist ein altes, ursprünglich mythisches Thema geworden: die Entführung der Königin.55 Chre´tien hat es in seinem Lancelot-Roman aufgegriffen. Die Königin Guenievre wird von Meleagant in ein schwer zugängliches Land gebracht, in dem andeutungsweise noch das ehemalige Jenseits erkennbar ist; es heißt: ,Das Land, von welchem niemand wiederkehrt‘. Lancelot macht sich auf, die Geraubte zurückzuholen, aber er ist kein uneigennütziger Retter im Dienste des Königs, denn er liebt die Königin leidenschaftlich, und sie begegnet ihm dementsprechend mit der absoluten Forderung. Sie mani55
Haug [Anm. 13].
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II. Zum höfischen Roman
festiert sich in einer berühmten Szene: Lancelot hat bei der Verfolgung des Entführers sein Pferd eingebüßt. Will er weiterkommen, muß er einen Schandkarren besteigen, einen Karren, auf dem man Verbrecher zur Hinrichtung führt. Er zögert nur einen kleinen Augenblick. Aber als er dann nach unendlichen Mühen und blutend nach dem Übergang über eine Schwertbrücke das Land Meleagants erreicht und diesen im Zweikampf besiegt hat, zeigt ihm die Königin wegen dieses kleinen Zögerns nur Verachtung. Er hat die absolute Forderung verletzt. Erst nach längerem Hin und Her, bei dem beide beinahe zu Tode kommen, erfolgt die Versöhnung, und Lancelot kann eine Nacht mit der Geliebten verbringen. Das ist eine Aventüre, die selbstverständlich nicht mehr hinterher am Hof erzählt werden darf; die ehebrecherische Liebe muß ausgegrenzt und sie muß einmalig bleiben in einer andern, quasi-jenseitigen Welt. Der Aventürenweg des Helden dient nur noch äußerlich der Abwehr einer Bedrohung des arthurischen Hofes. Das Schema: höfische Idealität, Herausforderung, Auszug eines Artusritters und Bewältigung des Angriffs aus der Gegenwelt, bleibt zwar formal erhalten, aber es hat seinen Sinn verloren, es geht nur noch um die quer dazu stehende absolute Liebe Lancelots. Diese künstlich-kunstreiche Konstruktion Chre´tiens, mit der er ein Äußerstes gewagt hat in der Konfrontation zwischen der höfischen Idealität des Maßes und der Maßlosigkeit des Eros, diese Konstruktion hat der voluminöse Lancelot-Prosaroman des 13. Jahrhunderts dann rückhaltlos über Bord geworfen. Hier sind nun die zahllosen Aventüren, auf die der Held sich einläßt, überhaupt nicht mehr in ein Schema gebunden, das der Bewährung und Erneuerung einer höfischen Idealität dient, sie sind vielmehr nur noch Demonstration von Lancelots Liebe zur Königin. Diese erprobt dabei immer wieder seine totale Ergebenheit, indem sie ihn z. B. veranlaßt, in einem Kampf die Seiten zu wechseln. Die Parteinahme des Artushelden für das Recht und gegen das Unrecht spielt keine Rolle mehr. Und dabei wird Lancelot in seiner Liebesverfallenheit geradezu zu einer grotesken Figur, so etwa wenn er, in den Anblick Guenievres versunken, in einen Fluß reitet und nicht merkt, daß er zu ertrinken droht. Die Königin muß jemanden hinschicken, um ihn herauszuholen. Indem damit der Bezug der Aventüren auf den Hof und seine Idealität ersetzt wird durch eine Funktionalisierung der Aventüren im Zusammenhang der verabsolutierten erotischen Beziehung, muß sich auch die Figur des Königs noch einmal wandeln. Er ist nicht mehr der ruhende Pol des Geschehens, sondern er wird in Mitleidenschaft gezogen, es entgleitet ihm die Regie. Er wird fragwürdig als betrogener Ehemann, denn die Liebe zwischen Lancelot und der Königin kann auf die Dauer nicht geheim bleiben, es kommt zum Eklat. Artus will die Königin verbrennen lassen. Lancelot rettet sie im letzten Augenblick vor dem Scheiterhaufen. Doch bei dieser Rettungsaktion tötet er einen Bruder Gauvains, seines besten Freundes. Daran zerbricht die arthurische Gemeinschaft, es kommt zum unerbittlichen Kampf zwischen den Rittern der Tafelrunde. Und dabei öffnet sich das Geschehen nun wieder jener historischen Perspektive, unter der die Artus-Tradition einst angetreten war und die durch die Wende zum Roman verdrängt worden ist: der König gewinnt bei den Querelen um den Ehebruch Guenievres etwas von seiner ursprünglichen kämpferischen Natur zurück. Der gallische Feldzug wird hereingeholt und schließlich auch der Verrat durch Modred und der Tod mit der Entführung nach Avalon.
1. König Artus
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Aber Artus verwandelt sich dabei nicht einfach in den großen Helden des Anfangs mit seinen mythischen, ja heilsgeschichtlichen Aspekten zurück. Denn die Schatten lasten schwer auf ihm, und dies von Anfang an. Das Unheil, das über ihm schwebt, wird ihm in einem dreiteiligen Traum offenbart. In einer ersten Nacht träumt er, daß ihm alle Haare auf dem Haupt und im Bart ausfallen, in der zweiten Nacht, daß ihm alle Finger außer dem Daumen abfallen, und in der dritten Nacht verliert er im Traum alle Zehen außer den großen. Er ruft die Gelehrten des Landes zusammen und zwingt sie unter Todesdrohung, die Träume zu deuten. Sie sagen, daß er seine Ehre verlieren und von den Getreuesten verlassen werde. Trotz seiner Versuche, durch Buße und Selbstpeinigung Gottes Segen zurückzugewinnen, und trotz seines ehrlichen Willens, das Unrecht, das in seinem Land geschehen ist, wiedergutzumachen, treibt das Geschehen unaufhaltsam dem Abgrund zu. Der Untergang ist dann nicht mehr wie bei Galfred ein heroischtragisches Ende nach einem ruhmvollen Leben, sondern er ist von Anfang an als düsteres Verhängnis vorgezeichnet. Die Geschichte steht unter dem Gesetz der Fortuna: auf die Erhöhung folgt zwangsläufig der Absturz.56 Wer und was also war König Artus für das Mittelalter und noch weit in die Neuzeit hinein? Er war zunächst, aus dunkler Herkunft ans Licht geholt, die Glanzfigur in Galfreds britischer Königsgeschichte. Er war dann im arthurischen Roman der Repräsentant einer ritterlich-sozialen Utopie, der ruhende Pol in einem fiktiven Geschehen, bei dem es um die Frage nach der Realisierbarkeit dieser Utopie ging. Und als dieses Konstrukt bei der Erprobung seiner Grenzen zusammenbrach, da ging mit der arthurischen Welt auch ihr König unter, wobei man sich unter neuen, verschärften Prämissen der alten historischen Fabel von Verrat und Untergang bediente. Aber wohlgemerkt: Diese so unterschiedlichen Artus-Bilder sind zwar in eine literaturgeschichtliche Abfolge zu bringen – der Roman erwächst aus der Historiographie, und die historische Tradition holt den Roman am Ende wieder ein –, aber die drei Bilder leben über die Jahrhunderte hin nebeneinander weiter: der heroische Kämpfer Artus in der Chronistik und insbesondere im Kanon der Neun Helden, der Repräsentant der höfischen Idealität in den auf Chre´tien aufbauenden zahllosen weiteren Artusromanen in so gut wie allen abendländischen Literaturen, der gedemütigte und verratene König schließlich in der weiten Ausstrahlung des Lancelot-Prosaromans, wobei es zugleich zu immer neuen Verflechtungen zwischen den historiographischen und den romanhaften Überlieferungen kommt.
56
Karl Josef Höltgen, „König Arthur und Fortuna“, Anglia 75 (1957), S. 35–54.
2. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem klerikalen Konzept der Curialitas und dem höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans?
Worin besteht das Höfische des mittelalterlichen höfischen Romans? Was ist gemeint, wenn hier von cortoisie, hövscheit, courtliness die Rede ist? Und inwiefern bestimmen diese Begriffe den betreffenden literarischen Typus, sei es der Thematik, sei es der gesellschaftlichen Einbettung, sei es einem Weltentwurf nach? Auf diese Fragen hin wird sich beim Kenner mittelalterlicher Literatur sogleich ein facettenreiches Bild von dem einstellen, was höfisches Leben im Roman des 12./13. Jahrhunderts ausmacht: da ist der arthurische Hof mit der ihn auszeichnenden idealen Balance aller menschlichen Kräfte und seiner edlen Eleganz des zwischenmenschlichen Umgangs, insbesondere zwischen den Geschlechtern; dies verbunden mit sportlichen Spielen, Übung in den Künsten, Musik und Erzählen – Erzählen gerade auch als Selbstreflexion dieser Idealität. Und diese Leichtigkeit des gesellschaftlichen Seins wird getragen von einer Hochstimmung, von einem festlichen Bewußtsein, das seinen Ausdruck im Begriff der joie, der vreude findet. Hartmann von Aue hat dieses Bild der höfischen Gesellschaft besonders reizvoll zu Beginn seines ›Iwein‹ skizziert (vv. 31ff.1): Es ist wie üblich Pfingsten, nach dem Festessen unterhalten sich die einen mit den Damen, andere gehen spazieren, andere tanzen oder singen, laufen oder machen Weitsprünge, wieder andere hören Musik, üben sich im Scheibenschießen, oder man erzählt von Liebe und Heldentaten. Hartmann nennt das ein wunschleben (v. 44).2 Nun ist immer wieder die Frage gestellt worden, wie es zum Entwurf einer solchen Idealgesellschaft kommen konnte, welchen literatursoziologischen Bedingungen er sich verdankt, wo er letztlich seine Wurzeln hat und was seine Beziehung zu einer Realität 1 2
Ich zitiere nach: Iwein, hg. Benecke, Lachmann. Zum Begriff hövesch/hövescheit und seiner Geschichte siehe Peter Ganz, „Der Begriff des ,Höfischen‘ bei den Germanisten“, Wolfram-Studien 4 (1977), S. 16–32; Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, S. 78–82, S. 425– 430; Peter Ganz, „curialis/hövesch“, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200, hg. v. Gert Kaiser u. Jan-Dirk Müller, München 1982, S. 39–56; Klaus Grubmüller, „höfisch – höflich – hübsch im Spätmittelalter. Beobachtungen an Vokabularien I“, in: wortes anst – verbi gratia. donum natalicium gilbert a. r. de smet, hg. v. Heinrich L. Cox, Valeer F. Vanacker, Edward Verhofstadt, Leuven 1986, S. 169–181; Paul Gerhard Schmidt, „Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der lateinischen Quellen“, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen höfisch-ritterlicher Kultur, hg. v. Josef Fleckenstein (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), Göttingen 1990, S. 15–26; Ulrich Mölk, „Curia und curialitas – Wort und Bedeutung im Spiegel der romanischen Dichtung: Zu fr. cortois(ie) / pr. cortes(ia) im 12. Jahrhundert“, ebd., S. 27–38; Peter Ganz, „,hövesch‘/,hövescheit‘ im Mittelhochdeutschen“, ebd., S. 39–54; Karlheinz Stierle, „Cortoisie. Die literarische Erfindung eines höfischen Ideals“, Poetica 26 (1994), S. 256–283.
2. Curialitas und höfischer Weltentwurf
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war, gegenüber deren Härte, ja Brutalität er utopisch erscheinen mußte, was Hartmann ja mit dem Begriff wunschleben deutlich genug zum Ausdruck bringt. Kurz: wie konnte sich dieses Konzept eines durch hövscheit geprägten zwischenmenschlichen Umgangs herausbilden, und welche Funktion erfüllte es im zeitgenössischen Lebenszusammenhang? Auf diese Frage hat niemand eine so entschiedene Antwort gegeben wie Stephen Jaeger, dessen eindrucksvolle Studie ›The Origins of Courtliness‹3 gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist4 und dadurch neue Aufmerksamkeit auf sich ziehen dürfte.5 Jaeger versteht courtliness als ein spezifisches Ensemble von Werten und entsprechenden Verhaltensweisen, das sich in Stichworten folgendermaßen umreißen läßt: Adel des Blutes und des Geistes, Tapferkeit verbunden mit Großmut, Beherrschung der Affekte, formgeprägtes Verhalten, Eleganz der Erscheinung, Gewandtheit in der Rede und in den übrigen Künsten, Serenität und überlegene Distanz. Jaeger vermag plausibel zu machen, daß dieser Tugendkatalog nicht eine Erfindung der ritterlichen Kultur des 12. Jahrhunderts war, daß er vielmehr auf das Konzept der Curialitas zurückgeht, das sich seit dem 10. Jahrhundert an den Domschulen herausgebildet hat und von den Fürstbischöfen im Dienste des Herrschers verwirklicht worden ist. Die entsprechenden lateinischen Begriffe sind elegantia morum, disciplina, urbanitas, facetia, hilaritas – ein gelehrtes Bildungs- und Verhaltenskonzept, das seine Wurzeln letztlich in ethischen Vorstellungen der Antike hatte. Jaeger kann den Zusammenhang zwischen dem höfischen Gesellschaftsentwurf der Romane und der Curialitas der Domschulen durch Textparallelen vor Augen führen, die zeigen, wie nahe sich die höfischen Vorstellungen der Romane und die Zeugnisse zur Lebensform der großen Fürstbischöfe der ottonischen Zeit stehen. Dabei dient ihm auf der literarischen Seite vor allem die Tristanfigur Gottfrieds von Straßburg als Muster für den Typus des vielgewandten, universal ausgebildeten Höflings.6 Ein Wertekatalog letztlich antiken Ursprungs über klerikale Vermittlung an die Ritterkultur des Hochmittelalters weitergegeben – stehen wir damit wieder bei Gustav Ehrismanns ,ritterlichem Tugendsystem‘?7 In gewisser Weise ja, freilich in einer historisch sehr viel differenzierteren und fundierteren Ausführung. Die böse Kritik von Ernst Robert Curtius an dieser angeblich germanistischen Erfindung8 kann ihr insofern nichts 3
C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939–1210, Philadelphia 1985. 4 Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter (Philologische Studien und Quellen 167), Berlin 2001. 5 Siehe auch C. Stephen Jaegers Aufsätze „The Courtier Bishop in Vitae from the Tenth to the Twelfth Century“, Speculum 58 (1983), S. 291–325; „Beauty of Manners and Discipline (schoene site, zuht). An imperial Tradition of Courtliness in the German Romance“, in: Barocker LustSpiegel. Studien zur Literatur des Barock. FS Blake Lee Spahr, hg. v. Martin Bircher, JörgUlrich Fechner, Gerd Hillen (Chloe 3), Amsterdam 1984, S. 27–45; „Cathedral Schools and Humanist Learning 950–1150“, DVjs 61 (1987), S. 569–616. 6 Jaeger [Anm. 3], S. 101ff.; vgl. auch Jaeger, „The Courtier Bishop“ [Anm. 5], S. 322ff. 7 Gustav Ehrismann, „Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems“, ZfdA 56 (1919), S. 137– 216; auch in: Ritterliches Tugendsystem, hg. v. Günter Eifler (Wege der Forschung LVI), Darmstadt 1970, S. 1–84. 8 Ernst Robert Curtius, „Das ,Ritterliche Tugendsystem‘“, DVjs 21 (1943), S. 343–368, auch in:
110
II. Zum höfischen Roman
anhaben, als die historischen Zusammenhänge, die Jaeger postuliert, von ihm konkret belegt werden, wobei zugleich deutlich wird, daß es sich dabei nicht etwa um die bloße Tradition rhetorischer Materialien im Sinne topischer Versatzstücke handelt, sondern daß der in Frage stehende Tugendkatalog – von einem ,System‘ kann man selbstverständlich nicht sprechen9 – an den Höfen seit ottonischer Zeit propagiert und gelebt worden ist. Die kühne These lautet also: Die Curialitas-Idee war eine historische Realität der klerikalen Kultur des Frühmittelalters und ist von da aus in die Literatur übernommen worden. Die kritische Frage ist freilich die: Wie und mit welchem Ziel erfolgte die Umsetzung dieser Lebensform in das Idealkonzept des höfischen Romans? Die Brücke ergibt sich nach Jaeger über die durch klerikale Schulung durchgegangenen vulgärsprachlichen Dichter, die von diesem Bildungshintergrund her mit der Tradition der Curialitas vertraut waren und deren Werte nun mit Hilfe des neuen Romans dem Feudaladel nahebringen wollten. Hinter dem höfischen Roman stünde demnach ein klerikales Erziehungsprogramm. Pointiert gesagt: Triebkontrolle über Literatur. Norbert Elias bleibt nicht unerwähnt,10 wenngleich Triebkontrolle nicht in dessen Sinne als sozialgeschichtliches Prinzip, sondern als ein von einer bestimmten sozialen Gruppe gezielt eingesetzter pädagogischer Entwurf aufgefaßt wird. So glänzend dieser Brückenschlag präsentiert wird und so sehr er zunächst einleuchten mag, man gerät doch in erhebliche Schwierigkeiten. Ich erörtere sie anhand von vier Fragen: 1. Weshalb sollen vulgärsprachliche Dichter sich veranlaßt gesehen haben, dem Feudaladel curiale Gesittung beizubringen? Und dies über eine eigens zu diesem Zweck entwickelte neue Literatur? Es handelt sich doch offensichtlich nicht um ein von irgendeiner Instanz gesteuertes klerikales Programm, sondern man hat es mit einzelnen literarischen Entwürfen zu tun, die zwar z. T. voneinander abhängen, ja Schule machen, so daß sich Traditionszusammenhänge bilden, doch wird man hinter ihnen schwerlich einen übergeordneten und gezielt wirkenden pädagogischen Willen annehmen dürfen. Die kirchlich-lateinische Kultur wird um so weniger initiativ Pate gestanden haben, als Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 508– 523, und in: Eifler [Anm. 7], S. 116–145. Der Sammelband Eiflers dokumentiert die Diskussion um die Curtiussche Kritik an Ehrismann. Bumke [Anm. 2], S. 416, zieht daraus das Fazit, „daß die ganze Diskussion wenig Klarheit gebracht hat und daß das historische Verständnis des höfischen Ritterbegriffs durch sie kaum gefördert worden ist. Nicht einmal das Sonderproblem, ob es einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung des adligen Gesellschaftsideals und der Antikenrezeption im 12. Jahrhundert gegeben hat, konnte befriedigend geklärt werden. Praktisch muß die Forschung wieder da anknüpfen, wo Ehrismann 1916 stehengeblieben war: bei der Bestandsaufnahme und Analyse der Vorstellungen und Begriffe von ritterlicher Vorbildlichkeit in der höfischen Literatur.“ Der Abschnitt mündet dann (S. 445ff.) in Überlegungen zur „Rolle der Hofkleriker“ und nimmt damit Jaegers Neuansatz auf, ohne daß Bumke Jaegers Hauptwerk noch in seiner ganzen Tragweite hätte berücksichtigen können – siehe S. 831. Vgl. aber seine spätere positive Einschätzung: Joachim Bumke, „Höfischer Körper – Höfische Kultur“, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1994, S. 67–102, hier S. 69f. 9 Das betont Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen (748–1280), München 1993, S. 249, zu Recht. 10 Jaeger [Anm. 3], S. 5.
2. Curialitas und höfischer Weltentwurf
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die neue vulgärsprachliche Dichtung für sie so belanglos war, daß deren prominente Autoren – Chre´tien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg – in keinem einzigen lateinischen Dokument Erwähnung finden.11 Und wenn man von dieser Seite auf die höfische Literatur zu sprechen kommt, dann eher mit Zurückhaltung, wenn nicht mit Ablehnung.12 Aber selbst da, wo es positive Äußerungen gibt, sind sie verbunden mit Vorbehalten. So meint z. B. Thomasin von Zerclaere wohlwollend, daß man von der volkssprachlichen Romanliteratur durchaus vorbildhaftes Verhalten lernen könne, doch handle es sich um eine Form der Vermittlung sittlicher Werte, die zwar für die Jugend empfehlenswert sei, nicht jedoch für den reifen Mann, der vielmehr fähig sein sollte, Ethik nicht über Vorbilder, sondern als systematisches Konzept zu begreifen (vv. 1079ff.13). Wenn man von klerikaler Seite auf die adelige Lebensführung Einfluß nehmen wollte, dann hat man dies direkt getan, über massive Hofkritik,14 über kirchlich-juristische Maßnahmen15 oder über die Fürstenspiegelliteratur.16 Über diese Schiene sind dann dem Adel sehr wohl ideale Konzepte einer höfischen Kultur – mit mehr oder weniger Erfolg – vermittelt worden, die sich in vielem mit dem literarischen Bild decken, die jedoch in der Akzentuierung, wie zu zeigen sein wird, deutlich abweichen. 2. Die Idealität höfischen Lebens, die man aus den Romanen herauslesen kann, steht – und Jaeger übergeht dies nicht – in hartem Kontrast zur immer wieder brutalen Pragmatik der feudalen Wirklichkeit.17 Auch wenn die Kirche sich bemüht hat, Einfluß 11
Es lassen sich auch so gut wie keine geistlichen Auftraggeber vulgärsprachlicher Romanliteratur namhaft machen. Bumke [Anm. 2], S. 670ff., nennt, abgesehen von dem hypothetischen Passauer Gönner des ›Nibelungenlied‹-Dichters, nur einen Fall vom Ende des 13. Jahrhunderts, und dieser gehört in eine städtische Literaturszene: den Domkantor Dietrich am Orte in Basel, für den Konrad von Würzburg seinen ›Trojanerkrieg‹ geschrieben hat. 12 Es fällt auf, daß die klerikalen Vorbehalte gegenüber der neuen vulgärsprachlichen Literatur nicht sonderlich brüsk und auch nicht sehr spezifisch sind; sie bewegen sich vielmehr weitgehend in der Bahn traditioneller Invektiven gegenüber weltlicher Dichtung insgesamt. Die geistliche Kritik gilt eher der ritterlichen Wirklichkeit als dem höfischen Roman. Beispiele für klerikale Stellungnahmen zu weltlicher Dichtung bei Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, S. 27, Anm. 71 (Thomas de Cabham, Johannes de Grocheo), S. 58 (Peter von Blois), S. 89ff. (Engelbert von Admont); Haug, Literaturtheorie, S. 152f., mit weiterführender Literatur in Anm. 27. 13 Ich zitiere nach: Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. v. Heinrich Rückert, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann (Deutsche Neudrucke: Texte des Mittelalters), Berlin 1965. Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 232ff. – Jaeger, der Thomasin mehrfach zitiert, übergeht diese Einschränkung. 14 Bumke [Anm. 2], S. 583ff.; Jaeger [Anm. 3], S. 54ff., S. 176ff.; Thomas Szabo´, „Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung“, in: Fleckenstein [Anm. 2], S. 350–391; Klaus Schreiner, „,Hof‘ (curia) und ,höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit“, in: Kaiser u. Müller [Anm. 2], S. 67–139, hier S. 90ff. 15 Insbesondere ist an die Vorstöße der Kirche gegen die feudale Ehepraxis zu denken, siehe dazu meine Studie Der Tristanroman im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie, Vorträge 10), Freiburg/Schweiz, S. 14f. 16 Zur Fürstenspiegelliteratur Bumke [Anm. 2], S. 382ff., S. 828. 17 Vgl. ebd., S. 430ff.; ferner zur geschichtlichen Wirklichkeit des Hoflebens gegenüber der poetischen Fiktion Schreiner [Anm. 14], S. 67ff.
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zu nehmen, und zivilisatorische Effekte nicht ausgeblieben sind – die Hofkritik freilich geht unentwegt weiter –, so muß man sich doch stets dessen bewußt bleiben, daß die höfische Welt der Literatur eine Fiktion war und in keiner Weise, wie dies vor allem in der älteren Forschung geschehen ist, als Zeugnis für die historische Wirklichkeit genommen werden darf. Ist es angesichts solch prononciert wirklichkeitsferner Fiktionalität überhaupt denkbar, daß die höfischen Autoren mit der Absicht angetreten sind, die feudale Realität mit ihren Romanen moralisch verändern zu können? Und kann man sich vorstellen, daß der Feudaladel die Dichter an die Höfe geholt hat, um sich von ihnen belehren zu lassen? Oder waren die Dichter so klug, so Horaz-gebildet, daß sie ihre Lehren in spannende Geschichten verpackt haben? Haben sie die Adligen erzogen, ohne daß diese es gemerkt hätten? Wenn ja, müßte man es am Erfolg dieser angeblichen Erziehungsversuche ablesen können. Hat die höfische Literatur die Realität in ihrem Sinne verändert? Konkret: Ist das Gebaren des Feudaladels im 14. Jahrhundert weniger roh und gewalttätig als im 12.? Leider bricht Jaegers Buch mit Gottfrieds mutmaßlichem Tod, also um 1210, ab. 3. Wie immer man sich zur These dieser angeblichen klerikalen Pädagogik stellen mag, unleugbar bleibt doch die Tatsache, daß der Feudaladel die neue Romanliteratur goutiert, ja begierig aufgenommen hat. Doch kaum deshalb, weil man die angeblich damit propagierte Triebkontrolle sehr verlockend fand. Und Jaeger behauptet dies auch nicht. Er ist vielmehr der Ansicht, daß der Adel sich von der höheren Lebensform, die diese Romane vermittelten, habe faszinieren lassen. Also Verfeinerung, Eleganz, Pracht als prestigeträchtige Elemente, durch die man sich von der groben Art der Unhöfischen absetzen konnte. Das ist das Elias’sche Argument für die zunehmende Formalisierung des zwischenmenschlichen Verhaltens im Zivilisationsprozeß. Also doch eine Verführung zur Kultur über den Reiz der kunstvollen Form und das Raffinement des Gebarens? Man wird die Möglichkeit eines solchen Effekts gewiß nicht in Abrede stellen wollen, aber die erzieherische Absicht dürfte schwerlich die eigentliche Triebkraft der Romanautoren gewesen sein, auch wenn der eine oder andere von der erzieherischen Vorbildlichkeit und dem moralischen Nutzen seines Werkes spricht.18 4. Wie aber steht es mit den konkreten pädagogischen Programmen dieser Romane, Programmen, die ja immer wieder explizit ausformuliert worden sind: in der Erziehung Tristans, in der Erziehung Parzivals durch Gurnemanz, in der Erziehung Lancelots. Ist aus ihnen abzuleiten, daß der höfische Roman seit Chre´tien „the education or the moral formation of the knight“ im Auge gehabt hat, wie Jaeger behauptet?19 Gerade sein Musterbeispiel, der ›Tristan‹, schlägt dem hart ins Gesicht. Nicht nur dadurch, daß das ideale höfische Verhaltenskonzept mit dem Liebestrank dann seine Bedeutung verliert, sondern es erscheint schon dadurch fragwürdig, daß Tristans Verhalten, wenn man genauer zusieht, auch zuvor keineswegs von ritterlicher Idealität geprägt erscheint. Heimtücke und Betrug spielen von Anfang an eine entscheidende Rolle. Unmittelbar 18
Das ist Prologtopik, die der eigentlich intendierten literarischen Erfahrung über den Nachvollzug des epischen Geschehens nicht gerecht wird. So wendet sich Wolfram in seinem ›Parzival‹Prolog explizit gegen die Erwartung, daß sein Werk eine Lehre vermitteln sollte; vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 159ff.; siehe zu der grundsätzlichen Frage didaktischer Intentionen mittelalterlicher Romane ebd., S. 417, Register s. v. ,Dichtung als Lehre‘. 19 Jaeger [Anm. 3], S. 267.
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nachdem der König Tristan bei der Schwertleite auf die ritterlichen Werte verpflichtet hat: wis diemüte und wis unbetrogen, / wis warhaft und wis wolgezogen (vv. 5029f.20), ermordet er seinen Lehensherrn Morgan mit Heimtücke und Brutalität; und es folgt dem eine ganze Reihe von Gewalt- und Trugtaten, die dem höfischen Erziehungsprogramm Hohn sprechen.21 Das Höfische ist für Tristan äußere, verfügbare Form, letztlich Mittel zum Zweck. Wolfram bietet eine höfische Mustererziehung, wenn er Gurnemanz dem unerzogenen Helden ritterliche Tugenden beibringen läßt, in Stichworten: erbärme, milte, güete, diemüete, maˆze, Männlichkeit und Zuversicht, Verehrung der Frauen, nicht zuviel fragen (vv. 170,15ff.22). Aber gerade diese letzte Regel wird ihn veranlassen, auf der Gralsburg zu schweigen, so daß er es versäumt, die Erlösungsfrage zu stellen. Deutet das nicht auf ein Ungenügen eines bloß katalogartigen Wertekanons? Man erinnert sich, daß Wolfram schon gleich im Prolog eine Warnung ausgibt: was er mit seiner Erzählung sagen wolle, lasse sich nicht in eine Lehre fassen.23 Und so kommt es denn auch bei der zweiten Einkehr Parzivals am Artushof zum Zusammenbruch all dessen, was der Held an Tugenden gelernt, was er von höfischer Idealität realisiert hat: als strahlend vollendeter Ritter tritt er auf, verehrt und bewundert wird er Mitglied der Tafelrunde, doch dann wird diese ganze höfische Selbstdarstellung von Cundrie als Täuschung diffamiert. Sie mag ihm Unrecht tun, aber zunächst einmal trägt das Erziehungsprogramm offensichtlich nicht. Und schließlich Lancelot: Vom ritterlichen Wertekatalog, der ihm bei seiner Erziehung durch die Frau vom See vermittelt wird – überhöht noch durch die Militia Christi-Idee24 –, bleibt nach der Begegnung mit der Königin nicht viel übrig: die unvergleichliche Schönheit Guenievres wirft ihn völlig aus der Bahn; und was er von nun an im Zeichen der absolut gesetzten Liebe auf sich nimmt, liegt jenseits jeder Moral. Lancelots Rittertaten fließen nicht aus einem höfischen Ethos, auch wenn er in typische arthurische Aventüren eintritt, sondern sie dienen allein dem Zweck, der Geliebten seine unbedingte Hingabe zu demonstrieren; die Parteien, für die er kämpft, sind auswechselbar. Ja, gerade diese moralische Standpunktlosigkeit wird zum Beweis seiner alle Rücksichten sprengenden Leidenschaft.25 Fazit: Die Erziehungsprogramme in den Romanen tragen die epische Handlung nicht. Sie bieten zwar Abrisse des höfischen Wertesystems, aber sie lassen sich als Programme nur in Anspruch nehmen, wenn man sie isoliert. Sobald man sie in den Hand20
Ich zitiere nach: Tristan, hg. Ranke. Vgl. meine Studie „Aventiure in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹“, in: Haug, Strukturen, S. 557–582, hier S. 569ff. 22 Ich zitiere nach: Parzival, hg. Lachmann. 23 Siehe Anm. 18. 24 Vgl. dazu Fritz Peter Knapp, Chevalier errant und fin’amor. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten. Studien zum Lancelot en prose, zum Moriz von Crauˆn, zur Krone Heinrichs von dem Türlin, zu Werken des Strickers und zum Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein (Schriften der Universität Passau. Reihe Geisteswissenschaften 8), Passau 1986, S. 11ff., sowie Prosalancelot, hg. Steinhoff, II, S. 853ff., Komm. zu 332,1– 340,35. 25 Siehe meine Studie „Das Endspiel des arthurischen Romans im ›Prosalancelot‹“, in: Haug, Brechungen, S. 288–300. 21
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II. Zum höfischen Roman
lungszusammenhang stellt, erscheinen sie illusorisch; es sei denn, man wolle die epischen Handlungen als Negativexempel zu den Erziehungsprogrammen lesen. Das führt jedoch zu sehr querständigen Lektüren, was freilich wohl schon zeitgenössisch möglich war – man denke an die klerikale Umdeutung des arthurischen Romans im ›ProsaLancelot‹: so die ansprechende These Fritz Peter Knapps.26 Angesichts dieser dringlichen kritischen Bedenken stellt sich die Frage: Wo liegt der wunde Punkt in Jaegers großangelegter Genealogie der Romanidee des Höfischen? Ich denke darin, daß er die Position der Dichter an den weltlichen Höfen nicht zutreffend einschätzt. Sie sind keine moralischen Autoritäten. Man zieht sie heran, weil man sich auch mit den Künsten schmückt. Die Dichtung ist – neben anderen kulturellen Leistungen – prestigeträchtig, und die Höfe treten dabei miteinander in Wettstreit. Mustergültig in dieser Hinsicht ist im 12. Jahrhundert der englische Hof Heinrichs II., der dadurch, daß er fast zwei Drittel der französischen Autoren der Zeit an sich zieht, alle andern abendländischen Residenzen kulturell überflügelt.27 Aber Dichter waren und sind unzuverlässige Gesellen: bald lassen sie sich politisch vereinnahmen, bald tun sie nur so, als ob sie sich vereinnahmen ließen, bald kuschen sie, bald sind sie mehr oder weniger offen subversiv. Je höher das Niveau, desto subversiver. Denn Niveau heißt, daß man sich nicht mit einer einfachen Wahrheit zufrieden gibt, komplexe Wahrheiten aber widerstreben der Didaktisierung. Sie lassen sich nicht in Erziehungsprogramme umsetzen. Etablierte Mächte, weltliche wie geistliche, können Dichtern nur mit Mißtrauen begegnen. Heute wie damals. Von den Romanautoren hat man nicht Belehrung erwartet, sondern Geschichten, gute und böse, Geschichten, die in spannende Konflikte hineinführen, die brisante Fragen aufwerfen, Fragen, die jenseits aller Verhaltensregeln liegen. Letztere waren zur Genüge billiger zu haben. Was bleibt von Jaegers Buch? Zweifellos die wichtige Feststellung, daß es einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang geben muß zwischen dem Ethos der DomschulenCurialitas und der höfischen Idealität des neuen Romans. Aber welcher Art ist er, wenn es nicht darum gehen kann, daß irgendwelche Kleriker es sich in den Kopf gesetzt haben, ihr curiales Erziehungskonzept dem Adel zu oktroyieren? Ich will eine Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, indem ich nicht nur nach den Übereinstimmungen, sondern auch nach den Differenzen frage. Es fällt auf, daß bestimmte klerikal-curiale Positionen übernommen werden, während andere in den Hintergrund treten, so daß es zu markanten Akzentverschiebungen im literarischen höfischen Konzept kommt. Das Wichtigste ist altbekannt:28 Was in der 26
Knapp [Anm. 24], S. 43ff., S. 71ff. Siehe Reto R. Bezzola, „Der französisch-englische Kulturkreis und die Erneuerung der europäischen Literatur im 12. Jahrhundert“, Zs. f. romanische Philologie 62 (1942), S. 1–18. Vgl. auch Charles H. Haskins, „Henry II as a patron of literature“, in: Essays in Medieval History presented to T. F. Tout, Manchester 1925, S. 71–77. Zum deutschen Kaiserhof siehe Bumke [Anm. 2], S. 639ff.; speziell zur kulturellen Bedeutung des Stauferhofs Sturlese [Anm. 9], S. 228ff.; ferner z. T. einschlägig Thomas Cramer, „brangend unde brogent. Repräsentation, Feste und Literatur in der höfischen Kultur des späten Mittelalters“, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky u. Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 259–278. 28 Bumke [Anm. 2], S. 427ff. 27
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klerikalen Tradition als Hochmut, superbia, negativ besetzt ist, erscheint nun positiv als hoˆher muot, er drückt sich nicht nur in der Festlichkeit des Höfischen aus, sondern auch im kämpferischen Selbstbewußtsein der Helden – die physische Kraft wird exzessiv verherrlicht –, und dieser hoˆhe muot prägt auch die erotische Beziehung zwischen den Geschlechtern. Weder das eine noch das andere hatte im klerikalen Konzept eine Rolle gespielt. Andrerseits vermißt man wesentliche Züge des klerikalen Konzepts: so spürt man bei den Romanhelden wenig von der Souveränität des Geistes, die auf Distanz zur Aktion geht, von einer Gelassenheit, die in Heiterkeit und Humor münden kann. Am ehesten findet sich noch etwas davon im narrativen Rahmen, in der mesure/maˆze, die die ideale Balance des Hofes am Anfang und am Ende auszeichnet. Anderes ist in der klerikalen Curialitas zwar vorgeprägt, es erfährt nun aber eine unerhörte Steigerung und Dramatisierung. Ich denke insbesondere an die höfische Schönheit. Die Form, in der sich das klerikale Ethos darstellt, sich darstellt in der kunstvollen Rede und in stilisierter Gebärde – das nennt sich nicht nur elegantia morum, sondern man spricht sogar von flagrantia morum. Der Ornatus der Rede und der Glanz der Erscheinung spiegeln die moralische Vollkommenheit. Und die Entsprechung von Schönheit und Ethos steht wiederum in Korrespondenz zur Ordnung des Universums, zur Harmonie der kosmischen Bewegungen, die herrlich aus der göttlichen Liebe fließen. Es ist daran zu erinnern, daß Platons ›Timaios‹ im 11. Jahrhundert eine hervorragende Bedeutung gewinnt. In der Schönheit, dem sichtbaren Ausdruck des curialen Ethos, erscheint das Göttliche im Irdischen.29 Schönheit, die über sich selbst hinausweist, begegnet auch im höfischen Roman. Zwar ist die Schönheit des Helden und vor allem die der Heldin ein episches Klischee, aber wenngleich man hier immer wieder nur mit überkommenen Schablonen arbeitet, so wird doch an zentralen Stellen das bloß Rhetorische zurückgelassen. Die Leuchtkraft der Schönheitsbeschreibungen kann nicht nur poetisch originell sein, sondern sie erscheint in Steigerungsformen, die alles Natürliche zurücklassen. Und daß dies nicht in topischer Descriptio-Artistik aufgeht, zeigt sich insbesondere auch daran, daß dies immer wieder zum Thema wird. Schon im ersten Artusroman, in Chre´tiens ›Erec et Enide‹, ist die Schönheit das Initialmotiv. Die costume der Jagd auf den weißen Hirsch erlaubt es dem, der das Wundertier erlegt, das schönste Hoffräulein zu küssen. Ein konfliktträchtiges Unternehmen, denn jeder muß für seine amie in Anspruch nehmen, daß sie die schönste ist. Und wenn Erec, der nicht an der Jagd teilnimmt, einem Ritter folgt, der die Königin beleidigt hat, so gerät er in eine Situation, bei der es wiederum um eine Schönheitsentscheidung geht: Die Tjost um den Sperber, auf die Erec sich mit dem Beleidiger einläßt, ist ein Kampf, bei dem der Sieger beweist, daß seine amie die schönste ist. Die seltsame Logik dieses Zusammenhangs ist nur verständlich, wenn man unterstellt, daß demjenigen, der für die größere Schönheit kämpft, auch die größere Kraft zuwächst. Es ist nicht zuletzt der Anblick Enides, der Erec schließlich die Kraft zum Sieg gibt. Was ist das für eine Schönheit? Was steht hinter ihr? Es ist offensichtlich zunächst einmal nur die Schönheit des Körpers, bei Enide pointiert hervorgehoben dadurch, daß 29
Jaeger, „The Courtier Bishop“ [Anm. 5], S. 298ff.; Ders., „Beauty“ [Anm. 5], S. 31ff.; Ders., „Cathedral Schools“ [Anm. 5], S. 570f.; Ders. [Anm. 3], S. 30f.
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sie durch das zerschlissene Kleid oder bei Hartmann gar durch ein schmutziges Kleid hindurchleuchtet. Und Erec wagt es, sie in diesem Aufzug als seine Braut zum Sperberkampf zu führen, ja, er weigert sich auch nach dem Sieg, sie schön einkleiden zu lassen; er bringt sie so abgerissen, wie sie ist, an den Artushof, damit die Königin ihr eines ihrer Gewänder geben kann. Nur das ist ihr angemessen. Und wenn nunmehr das prächtige Kleid der körperlichen Schönheit entspricht und Enide an der Hand der Königin in strahlendem Glanz – ,herrlicher als die Sonne‘,30 sagt Chre´tien – vor die versammelte Tafelrunde tritt, so sind die Ritter – so Hartmann – dermaßen erschrokken, daß sie sich selber vergessen und nur dieses Wunder anstarren können. Und es ist natürlich keine Frage, daß Enide den Schönheitskuß verdient; sie erhält ihn vom König selbst, der inzwischen den weißen Hirsch erlegt hat. Die überwältigende Schönheit Enides löst den drohenden Konflikt problemlos auf. Es ist also der königlich schöne Körper unter dem zerrissenen Kleid, der Enides Anspruch auf eine entsprechende prachtvolle Ausstattung und auf einen entsprechenden Rang in der Gesellschaft begründet, und das bringt auch die Welt auf wunderbare Weise in Ordnung. Die körperliche Schönheit trägt von Anfang an eine Art Verheißung in sich. Wie wird das begründet und was bedeutet sie? Wenn Erec Enide beim Sperberkampf sozusagen als Wert einsetzt, so ist das eine merkwürdige Form von Brautwerbung. Er handelt sich das wunderschöne Mädchen im Blick auf diesen Kampf von ihrem verarmten Vater ein, und es ist dies die Chance, auf die dieser für sich und seine Tochter gewartet hat. Enide wird nicht gefragt; es versteht sich von selbst, daß sie aus dem Prinzip der Korrespondenz zwischen dem Tapfersten und der Schönsten heraus einverstanden sein muß. Die Liebe erwacht dann in dem Maße, in dem die beiden sich dessen bewußt werden. Sie können auf dem Heimritt nicht genug davon bekommen, einander anzuschauen; sie sind sich völlig gleich in corteisie, Schönheit, Liebenswürdigkeit und Klugheit.31 Das Ende ist drängende Ungeduld.32 Die beiden halten es kaum aus, bis sie endlich ins Bett kommen, und wenn sie dann drin sind, wollen sie nicht wieder heraus – was die bekannten bösen Folgen hat. Man ist damit offensichtlich doch sehr weit weg von der Schönheit des curialen Klerikers und seinem kosmischen Eros. Die Harmonie, die sich in der überwältigenden körperlichen Schönheit ankündigt, verwandelt zwar die Gesellschaft, aber sie erfüllt sich in der körperlichen Vereinigung des Paares. Gerade das jedoch erweist sich als problematisch. Weshalb? Die Antwort kann nicht das schulmeisterliche Klischee sein, daß es darum gehe, gesellschaftliche Ansprüche und private Lust in ein ordentliches Verhältnis zu bringen. Das Verfahren, die körperliche Schönheit und ihre Wirkung quer zu dem, was ein Mensch sonst ist, auszuspielen, zeigt sich gesteigert in Chre´tiens ›Conte du Graal‹ und 30
vv. 1781f.: an ceste a asez plus biaute´ / qu’il n’a el soloil de clarte´. Ich zitiere nach: Les romans de Chre´tien de Troyes. I. Erec et Enide, hg. v. Mario Roques (Les Classiques Franc¸ais du Moyen ˆ ge 80), Paris 1952. Bei Hartmann kommt ein analoger Vergleich später: vv. 1768ff.; ich zitiere A nach: Erec, hg. Leitzmann. 31 Bei Chre´tien vv. 1463ff.; bei Hartmann vv. 1484ff. 32 Bei Chre´tien zunächst, v. 1869, nur schwach artikuliert; vv. 2027ff. folgt dann der Vergleich mit einem gehetzten Hirsch, der nach der Quelle lechzt, und einem hungrigen Sperber. Bei Hartmann, vv. 1845ff., entspricht, ausführlicher, das Bild des hungrigen Habichts.
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noch deutlicher in Wolframs ›Parzival‹. Parzival bekommt von seiner Mutter Narrenkleider verpaßt, und er benimmt sich wie ein Tölpel, aber seine Schönheit ist so atemberaubend, daß alle, die ihm begegnen, von ihr in Bann geschlagen werden: vor seinem Aufbruch in die arthurische Welt schon Karnahkarnanz und seine Begleiter, am Hof dann der Rote Ritter, der den schönen Flegel für würdig erachtet, Artus seine Botschaft zu überbringen, Cunneware, die seinen Auftritt mit einem prophetischen Lachen quittiert, der stumme Antanor, der plötzlich sprechen kann, der ritterliche Lehrer Gurnemanz usw. – alle sind sie hingerissen, nur Keie sieht wie üblich nichts – oder ist er der einzige, der sich nicht täuschen läßt? Und wie bei Enide ist die körperliche Schönheit in der unangemessenen Aufmachung auch bei Parzival Verheißung. Die Ausstattung und die Verhaltensformen werden sich ihr Schritt für Schritt angleichen. Und wenn er schließlich zum zweiten Mal, nunmehr in höfischer Vollkommenheit am Artushof auftritt, ist der Glanz seiner Person in seiner Makellosigkeit so überwältigend, daß die Königin ihm sogar die Ermordung des Roten Ritters, die sie sehr getroffen hat, weinend verzeiht. Es scheint wiederum die Schönheit der Erscheinung als Manifestation der Harmonie alle Probleme auszulöschen. Aber es kommt auch hier zum Bruch. Cundrie, die Gralsbotin, tritt auf und sagt, er sei in seiner ganzen Schönheit häßlicher als sie in ihrer grausigen Gestalt. Und so muß Parzival zu seiner zweiten, eigentümlich hoffnungslosen Aventürenfahrt ausziehen. Um so überraschender aber ist es, daß die Schönheit des Helden von Wolfram in Beziehung gesetzt wird zum Lichthaften des Göttlichen. Wenn Herzeloyde auf Parzivals Frage nach Gott sagt, er sei noch liehter denne der tac, dies mit der göttlichen triwe verbindet und ihn vor dem ,Schwarzen‘ warnt (vv. 119,19ff.33), dann geht es nicht, wie man gemeint hat, um eine katechetisch mangelhafte Einführung in den christlichen Glauben, was Verirrungen zur Folge haben müsse, sondern um den Hinweis auf den letzten Grund dessen, was im Irdischen als Schönheit erscheint. Und wenn Parzival Ritter werden will, dann, weil er im Rittertum jenen göttlichen Glanz zu sehen meint, von dem die Mutter ihm gesprochen hat. Die Mißverständnisse, die daraus erwachsen, tun der Tatsache keinen Abbruch, daß damit das Konzept der curialen Schönheitsmetaphysik nicht nur anklingt, sondern daß es sich am Schluß durch die Begnadung des Helden zu bestätigen scheint. Der entscheidende Unterschied ist jedoch der, daß die Korrespondenz nicht mehr selbstverständlich ist, daß sie vielmehr fragwürdig erscheint und daß man sie deshalb nicht mehr einfach leben kann, sondern in ihre Problematik hineingeführt werden muß – die Frage ist nur: Mit welchem Ziel? Was ist der Grund dafür, daß man das klerikale Curialitas-Konzept mit seinem analogischen Weltbild nicht einfach übernehmen, daß man es nicht, wie Jaeger meint, ohne weiteres ins Literarische umsetzen konnte? Der Grund ist der, daß jenes Weltbild im 12. Jahrhundert in die Krise geraten ist. Man hat daran zu zweifeln begonnen, daß es den bruchlosen Übergang vom Göttlichen ins Irdische gibt, daß die Welt so sehr vom Göttlichen durchdrungen ist, daß man sich nur in die Präsenz dieses Göttlichen hineinzustellen braucht, um sein Leben in ihm zu erfüllen. Man ist sich demgegenüber dessen bewußt geworden, daß die Differenz zwischen Gott und der Welt radikal ist. In der 33
Ich zitiere nach: Parzival, hg. Lachmann.
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Analogieformel des Laterankonzils von 1214 wird dies dann offiziell festgeschrieben: Es gibt keine Ähnlichkeit zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen, der gegenüber die Differenz nicht immer größer wäre.34 Das stellt auch das ethische Konzept der Domschulen auf den Prüfstand. Wodurch ist garantiert, daß das Innere, das Denken, die Moral dem äußeren Glanz entsprechen, einem Glanz, der beansprucht, das Göttliche zu spiegeln? Es gibt eine böse Kritik von Abailard am traditionellen Gelehrtentyp, einem Typ, der in Frankreich etwa von Anselm von Laon verkörpert worden ist. Abailard sagt von diesem hochberühmten und weitverehrten Lehrer: er kann wunderschöne Worte machen, aber sie ergeben keinen Sinn.35 Daß der Name Abailard in diesem Zusammenhang fällt, wird nicht überraschen. Seine Ethik trennt erstmals radikal die Tat von der Gesinnung, das Innere vom Äußeren. Wer Gutes will und unbeabsichtigt Böses tut, ist ohne Schuld. Wenn Judas der Überzeugung war, es sei moralisch richtig, Jesus zu verraten, hätte er eine Sünde begangen, wenn er es nicht getan hätte.36 Subjektives und Objektives treten auseinander, die Entsprechung zwischen Ethos und Schönheit läßt sich so wenig sichern, wie eine Analogie zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen gewährleistet ist. Es gibt keine zwingenden Korrespondenzen mehr. Der höfische Roman entsteht vor diesem Hintergrund. Man weiß noch um das traditionelle harmonisch-analogische Konzept. Man kann es sogar zitieren. Hartmann tut dies in seinem ›Iwein‹-Prolog: 1
swer an rehte güete wendet sıˆn gemüete dem volget sælde und eˆre. des gıˆt gewisse leˆre künec Artuˆs der guote (. . . ).
(Wer sich mit seinem ganzen Fühlen und Denken dem wahrhaft Guten zuwendet, dem wird Segen, Glück und Ansehen zuteil. Das lehrt unzweifelhaft König Artus in seiner Vollkommenheit [. . . ].)
Das ist die alte klerikale Position: Dem Ethos, dem guot-Sein, entspricht die eˆre, die gesellschaftlich anerkannte Stellung, und beides wird gedeckt durch sælde, ,Glück‘, ,höheren Segen‘. Inneres und Äußeres und göttliche Garantie stimmen zusammen. König Artus soll das lehren, soll Beispiel dafür sein. Wie ernst ist das zu nehmen? So ideal gleich darauf das höfische Szenario beschrieben wird, so zwiespältig nimmt sich dann der Beginn der Handlung aus: Der König verschläft eine Aventürengeschichte, und es 34
Vgl. meine Studien „Literatur und Leben im Mittelalter. Eine neue Theorie zur Entstehung und Entwicklung des höfischen Romans“, in: Haug, Brechungen, S. 31–44, insbes. S. 39ff., und „Grundfragen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell“, ebd., S. 501–530. 35 Jaeger, „Cathedral Schools“ [Anm. 5], S. 589. 36 Vgl. Peter Abelard’s Ethics, hg. v. David E. Luscombe, Oxford 1971, insbes. S. 4ff., und Ders., „The Ethics of Abelard: Some further Considerations“, in: Peter Abelard. Proceedings of the International Conference Louvain May 10–12, 1971, hg. v. E´loi M. Buytaert (Mediaevalia Louvaniensia, Series I / Studia II), Leuven, Den Haag 1974, S. 65–84.
2. Curialitas und höfischer Weltentwurf
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gibt Streit. Und dieser disharmonische Auftakt steht nicht allein. Ähnliches stößt allenthalben in den Romanen das Geschehen an. Der ideale Artushof ist eine Vision, während der konkrete Hof im Handlungszusammenhang immer nur als Übergang erscheint. Deshalb liegt auf ihm oft eine gewisse Melancholie; das Bild dafür: der versonnene König; und dahinter stehen Irritationen oder unbestimmte Erwartungen, die auf eine untergründige Labilität weisen.37 Wenn man also das alte Konzept noch aufscheinen läßt, dann nur, um gleich zu zeigen, daß es fragwürdig geworden ist. Was die äußere Erscheinung betrifft, so ist von zentraler Bedeutung immer noch die Schönheit, der strahlende Körper, der Glanz der Kleidung, die vollendete Form der Gebärden.38 Aber man kann nicht mehr wissen, was dahinter steht, was sie trägt. Ihrem Ursprung nach ist Schönheit noch immer göttlich, und dies um so mehr, als sie nicht mehr am Ethos hängt, sondern als Wunder für sich steht. Es ist, wie immer wieder gesagt wird, Gott, der einem Menschen körperliche Schönheit gibt – Wolfram wird nicht müde, das zu betonen39–, aber nun eben nicht mehr im Sinn problemloser Präsenz einer harmonischen Ordnung, sondern bestenfalls als Versprechen sich selbst und der Gesellschaft gegenüber, als Verheißung, die in die Zukunft wirkt, ja Zukünftiges vorwegnimmt. Aber der Weg zur Erfüllung kann nurmehr sehr bedingt Angleichung sein; das verlorene Konzept ist, wenn es einmal zerbrochen ist, nicht zurückzugewinnen, vielmehr läuft alle Erfüllung, soweit sie denkbar ist, über die Erfahrung der Differenz, oder narrativ gesagt: über die Unerreichbarkeit des Ziels. Parzival kämpft um etwas, was nicht zu erkämpfen ist.40 Im ›Prosa-Lancelot‹, in der ›Queste‹, werden die Aventüren als Zugänge zum Heil blockiert. In der Liebe ist der körperliche Vollzug Berührung mit einem augenblickhaften Absoluten. Sie ist Ahnung einer Versöhnung, die die Welt draußen läßt. Das Absolute – Gott, die Liebe – ist bedingungslos, und wenn man dies ernst nimmt, kann auch hier kein Konzept mehr greifen, das analogische Korrespondenzen, Übergänge, integrale Lösungen anbietet. Das Göttliche in der Schönheit ist nun ein Einbruch quer zur irdischen Bedingtheit. Deshalb ist Erec gezwungen, erneut auf Aventürenfahrt zu gehen, mit Enide, die ihr schönstes, also wohl das königliche Kleid anziehen muß. Und er verteidigt sie noch einmal in ihrer Schönheit. Dann versucht er den moralischen Weg der guten Tat, er hilft einem Bedrängten und kommt dabei fast zu Tode. Er versucht also die Vorgabe einzuholen. Aber dies löst das Problem nicht. Am Ende schlafen sie zwar wieder miteinander; aber darauf wird die Radikalität des erotischen Anspruchs in der Schlußepisode noch einmal vor Augen gestellt: Erec besiegt Mabonagrain in seinem mörderisch-pa37
Besonders auffällig z. B. die Versonnenheit des Königs im ›Conte du Graal‹ beim ersten Auftritt des Helden: vv. 907f.; 911; 924ff. 38 Vgl. zum Folgenden Ingrid Hahn, „Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens und Verkennens im Parzival“, in: Verbum et Signum. FS Friedrich Ohly, hg. v. Hans Fromm, München 1975, Bd. 2, S. 203–232; Leslie Peter Johnson, „Parzival’s Beauty“, in: Dennis Howard Green u. Leslie Peter Johnson, Approaches to Wolfram von Eschenbach. Five Essays (Mikrokosmos 5), Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1978, S. 273–291. 39 z. B. v. 140,5 oder vv. 148,26–30. 40 Vgl. zu diesem vieldiskutierten Motiv den Kommentar Nellmanns: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994, Bd. 2, S. 776 und 777, zu 798,3 bzw. 798,26.
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II. Zum höfischen Roman
radiesischen Baumgarten, und dies ohne daß der Widerspruch zwischen der vollkommenen Liebe des isolierten Paares und seiner Erlösungsbedürftigkeit aufgeklärt würde.41 Die joie der Gesellschaft ist zwar nach all dem wiederhergestellt, aber sie lebt nun entscheidend aus dem Erzählen der Aventüren, d. h. dem Erzählen des Nichtintegrierbaren. Entscheidend ist nicht, daß eine höfische Vervollkommnung des Lebens erreicht oder wieder erreicht wird, sondern das eigentliche Ziel ist eine Änderung des Bewußtseins über die Erfahrung der unlösbaren Aporien des höfischen Weltentwurfs.42 Parzival muß gerade dann wieder aufbrechen, als er das erreicht hat, was den höfischen Ritter auszumachen scheint: vollendete Form im Verein mit der natürlichen Schönheit, ein Ethos, aus dem heraus es ihm gelungen ist, früheres Fehlverhalten wiedergutzumachen. Aber jenseits davon gibt es ungelöste Probleme, und Parzival weiß das, es wird ihm bewußt, noch bevor er von Gawan ins Artuslager geleitet wird. Die eigentliche Umbruchsszene ist die Blutstropfenepisode. Drei Tropfen Blut auf frisch gefallenem Schnee, Blutstropfen von einer Wildgans, die ein Falke geschlagen hat, Parzival versinkt in ihren Anblick; ein Bild steigt in ihm auf: das Antlitz seiner Frau Condwiramurs in seiner ganzen Schönheit, weiß und rot, und dazu die Tränen, die sie um ihn geweint hat. Und auch die Blutstropfen an der Gralslanze spielen hinein, denn es fließen für Parzival zwei Erinnerungen in einer doppelten noˆt ineinander: das, was er auf der Gralsburg gesehen hat, und das Bild der geliebten Frau (vv. 296,5ff.).43 Schönheit, Blut und Tränen, auch dies eine gebrochene Verheißung. Öffnet sich hier eine abgründige Innerlichkeit, die in ihrem Gegensatz zum äußeren Glanz dann von Cundrie nur noch bestätigt wird? Es wird sich dann zwar am Ende zeigen, daß Cundrie sich mit ihrer Verfluchung geirrt hat. Parzivals Schönheit bewahrt ihr Recht als Verheißung, eine Verheißung, die über die höfische Erfüllung hinauszielt. Die doppelte noˆt, geboren aus der Vision der Blutstropfenszene, treibt den Helden weiter, bis er schließlich entgegen aller Logik zum Ziel kommt. Er scheint den Gral zu erkämpfen; und man ist so überrascht wie Trevrizent, der das für unmöglich erklärt hatte. Und als Parzival die Erlösungsfrage stellt, taucht das Leitmotiv noch einmal auf: Anfortas wird nicht nur geheilt, sondern er erblüht in einer unglaublichen Schönheit, in einem solchen Glanz, dem gegenüber alle Schönheit, die Absalons, Vergulahts, Gahmurets und auch die Parzivals ein wint, ein Nichts ist. Es ist eine von Gott bewirkte Auferstehung vom Tod – wie bei Lazarus, wird gesagt (vv. 795,30ff.). Menschliche Schönheit als Verheißung meint damit letztlich Erlösung von Leid und Sünde. Also ein gnadenhafter Sprung über die Differenz hinweg – und das ist etwas ganz anderes als die analogische Erscheinung des Göttlichen in der Welt.44
41
Siehe zur Problematik der ,Erlösungstat‘ meine Studie „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 205–222. 42 Dazu grundsätzlich „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, ebd., S. 172–184. 43 Vgl. Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Hermaea NF 94), Tübingen 2001, S. 52, S. 59ff. 44 Wolfram scheut sich nicht, das Schönheitsmotiv ins Groteske zu überziehen, so beim Auftritt Parzivals im Artuslager (vv. 311,15ff.): Es wird von ihm gesagt, die Schönheit seiner Gesichtshaut könnte als Zange dienen, die jeden in unverbrüchlicher Treue festhalten müßte! Das Überirdische im Irdischen tendiert dazu, ins Komische umzuschlagen.
2. Curialitas und höfischer Weltentwurf
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Die prachtvollste Szene in Gottfrieds ›Tristan‹ ist der große Auftritt des Helden nach dem Drachenkampf am irischen Königshof (vv. 10885ff.). Tristans Inkognito ist in einer brisanten Situation gelüftet worden, er hat sich mit den beiden Isolden und dem König versöhnt. Es geht nun darum, den Anspruch des Truchsessen auf Isold, der vorgibt, den Drachen getötet zu haben, zurückzuweisen. Der Adel des Landes ist versammelt, und Tristan hat die cornischen Fürsten, die ihn begleitet haben, vom Schiff kommen lassen. Eine prunkvolle Hofgesellschaft. Dann erfolgt der Auftritt Isolds. Herrlich gekleidet und auf das kostbarste geschmückt, geht sie an der Hand ihrer Mutter, wie die Sonne mit dem Morgenrot.45 Der Truchseß wiederholt seine Lüge: Wo ist der, der ihm den Anspruch auf die Königstochter streitig machen will? Da läßt man Tristan eintreten, an der Hand Brangaenes, auch er prächtig, in fremdartiger Manier gekleidet. Während der Truchseß nur den Drachenkopf als Beweis für seine angebliche Tat präsentiert, kann Tristan die Zunge, die er dem Drachen herausgeschnitten hat, vorzeigen. Der Betrüger ist entlarvt. Isold fällt an Tristan, d. h., er nimmt sie für seinen Onkel Marke in Empfang. Die Versöhnung der beiden verfeindeten Länder scheint damit gelungen: das höfische Meisterstück des Strategen Tristan. In höfischer Schönheit wird die Welt in Ordnung gebracht. Aber wieder zielt die Schönheit der Protagonisten über das gesellschaftliche Arrangement hinaus; es dringt ihr absoluter Anspruch durch. Er wird symbolisiert durch den Liebestrank. In seiner unbedingten Forderung fallen auch hier Ethos und Eros auseinander. Und indem Tristan und Isold freiwillig den Zwang des Tranks annehmen, werden sie, wie es heißt, in ihrer Liebe immer schöner (vv. 11856ff.). Als später der Jäger des Königs die Liebenden schlafend in der Minnegrotte entdeckt, scheint es ihm unmöglich, daß Isold in ihrer unglaublichen Schönheit ein irdisches Wesen sein könnte, er hält sie für eine Göttin. Isold ist als Markes Frau für Tristan unerreichbar, erreichbar ist sie nur gewissermaßen quer zur höfischen Welt, im absoluten, göttlichen Augenblick. Die Minnegrotte ist die Chiffre dafür. Die Situation Lancelots fügt sich in dieses Bild: seine Erziehung im Wunderland der Frau vom See hat ihn zum besten Ritter der Welt gemacht. Er ist bereit für ein glanzvolles Leben am Artushof. Aber als er da auftritt, begegnet er der Königin, deren Schönheit ihn so überwältigt, daß er sprachlos ist, nicht einmal seinen Namen vermag er zu nennen. Es folgt ein Aventürenleben quer zur höfisch-arthurischen Welt, mit wenigen Glücksmomenten und immer härteren Konflikten, die am Ende unvermeidbar in die universale Katastrophe führen. Die höfische Welt geht zugrunde. Nicht zugrunde aber geht die höfische Literatur. Auch wenn sich der zitierten Devise am Beginn des ›Iwein‹: swer an rehte güete / wendet sıˆn gemüete / dem volget sælde und eˆre, bei ernsthafter Lektüre nichts mehr fügt, hat man sich daran gemacht, diese Literatur zu didaktisieren, d. h. den Riß zwischen Schönheit und Moral wieder zu kitten, das Äußere und das Innere wieder in eins zu setzen. Das ist die triviale Wende des höfischen Romans, sei es, daß man ihn in der Rezeption entsprechend entproblematisiert, oder sei es, daß man neue Formen geschaffen hat, die das Problematische von vornherein unterschlagen.46 Und man muß wohl damit rechnen, daß diese didaktische 45
Vgl. auch vv. 9456ff. Zu einem hyperbolischen Sonnenvergleich versteigt sich schon Tristan, wenn er von Isold nach seiner Rückkehr von Irland sagt, er könne nun nicht mehr glauben, daß die Sonne in Mykene aufgehe, vielmehr gehe sie mit Isold im Westen auf (vv. 8273ff.). 46 Siehe meine Studie „Über die Schwierigkeiten des Erzählens in ,nachklassischer‘ Zeit“, in: Haug, Brechungen, S. 265–287, insbes. S. 268ff.
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II. Zum höfischen Roman
Reduktion von Anfang an möglich war, und es ist ebenso damit zu rechnen, daß sie eine lebenspraktische Wirkung ausgeübt hat, gegen die Intention der Autoren, aber vielleicht doch von ihnen schon mitbedacht – ein letzter Rest von Jaegers These. Das heißt: In welchem Maße der höfische Roman in seiner ganzen Abgründigkeit verstanden und akzeptiert worden ist und in welchem Maße man ihn nivelliert und moralisiert hat, läßt sich nicht feststellen. Die Entscheidung lag und liegt bei jedem einzelnen Rezipienten. Es ist wie immer, bis in unsere Literaturgeschichten hinein, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Was sich aber feststellen läßt, ist eine Umsetzung auf der Basis der trivialen Rezeption, die kulturell und realhistorisch eine immense Bedeutung erlangen sollte: Schon im 13. Jahrhundert hat man begonnen, das ritterliche Turnierwesen arthurisch zu fiktionalisieren.47 Arthurische Szenen werden nachgespielt, Frauen erscheinen als Kampfpreise. Die Tafelrundenturniere werden zu einer europäischen Manie. Man gründet allenthalben Ritterorden mit idealisierenden Statuten, wobei die Herrscher sie häufig für politische Zwecke zu instrumentalisieren verstehen. Selbst den Krieg versuchte man in höfisch stilisierte Formen überzuführen. Am berühmtesten wurde der combat des trente von 1351, bei dem mitten im Hundertjährigen Krieg vereinbart wurde, daß je dreißig englische und französische Ritter gegeneinander zum Kampf antreten sollten.48 Die Bedingungen wurden vorher ausgehandelt, das Schlachtfeld ausgewählt. Man ging in die Messe und tauschte Höflichkeiten aus, bevor man begann, sich totzuschlagen. Es sind Preisgedichte auf diesen Kampf verfaßt worden, er wurde in Bildern und auf Wandteppichen festgehalten. So hat man arthurische Idealität gespielt in einer vom Krieg verwüsteten Welt, der ansonsten an Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Johan Huizinga hat dies einen „ungeheuren Selbstbetrug“ genannt.49 Und man muß hinzusagen: Es war ein Selbstbetrug mit immer wieder unabsehbaren politischen Folgen. Die ersten großen Niederlagen der Franzosen im Hundertjährigen Krieg kamen dadurch zustande, daß der Adel es sich nicht nehmen lassen wollte, zuerst in den Kampf zu reiten, während die Engländer wider alle ritterlichen Regeln ihre Bogenschützen vorschickten, die die Pferde niederschossen, so daß die walisischen Fußsoldaten mit ihren großen Messern die in ihren Panzerkokons am Boden liegenden Ritter geruhsam abstechen konnten. Die letzte große Katastrophe von nunmehr weltgeschichtlicher Bedeutung, die diese Ritterideologie verursacht hat, war dann der Untergang des Christenheeres bei Nikopolis 1393.50 Man war in prunkvollen Aufzügen, in einer Abfolge von Festlichkeiten den Türken entgegengezogen. Als man 47
Vgl. zum Folgenden meine Studie „Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers ›Ring‹“, in: Haug, Brechungen, S. 312–331, hier S. 320ff., mit weiterführender Literatur; hinzuzufügen sind Werner Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 1994, S. 93ff.; Stephan Selzer, Artushöfe im Ostseeraum. Ritterlichhöfische Kultur in den Städten des Preußenlandes im 14. und 15. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1996, und Martin Neumeyer, Vom Kriegshandwerk zum ritterlichen Theater. Das Turnier im mittelalterlichen Frankreich, Bonn 1998, insbes. S. 343ff. 48 Siehe Barbara Tuchmann, Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, München 2 1983, S. 130. 49 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 71953, S. 78. 50 Tuchmann [Anm. 48], S. 497ff.
2. Curialitas und höfischer Weltentwurf
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auf den Feind stieß, schlug Sigismund vor, seine walachischen Fußsoldaten gegen dessen Vorhut antreten zu lassen, denn die Türken pflegten zunächst immer ein zweitrangiges Kontingent einzusetzen, um den Gegner zu ermüden und dann mit der Kerntruppe nachzustoßen. Aber die Franzosen wiesen den Vorschlag Sigismunds entrüstet zurück. Man konnte doch nicht einer Bauernmiliz den Vortritt auf dem Schlachtfeld lassen! So siegte die Ritteridealität über die strategische Vernunft, und das Ergebnis war eine Tragödie, mit deren Folgen wir noch heute auf dem Balkan konfrontiert sind. Dieses absurde Ineinander von ideologischer Verblendung und pragmatischer Brutalität: das war das Endergebnis jener angeblichen literarischen Erziehung des Feudaladels zu höfischem Verhalten. Oder zugespitzt gesagt: Entscheidende Verhängnisse unserer abendländischen Geschichte beruhen auf einer Fehllektüre des mittelalterlich-höfischen Romans.
3. Die Rollen des Begehrens Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman
Für Volker Mertens zum 65. Geburtstag Ende 1992 traf ich Volker Mertens zufällig in einer Buchhandlung in Amsterdam. Er wies mich auf eine Veröffentlichung jüngeren Datums hin, von der er meinte, daß sie mich interessieren müßte. Es handelte sich um ›Sexual Personae‹ von Camille Paglia.1 Ich habe das Buch gekauft und es seitdem mehrmals gelesen, immer mit der gleichen von ihm hervorgerufenen Mischung aus Faszination und kritischem Widerstand. Man wird im nachstehenden Beitrag die Spuren dieser Lektüre nicht verkennen. Seine Hauptüberschrift verdeutscht Paglias Buchtitel – freilich in eigenwilliger Weise, indem sie meine Perspektive über die ihre legt.
I Aufgrund der logisch und sprachlich binären Verfaßtheit unseres Geistes pflegen wir in Dichotomien zu denken: weiß-schwarz, gut-böse, geistig-sinnlich, rational-irrational, männlich-weiblich, Kultur-Natur, Ordnung-Chaos usw. Es ist schwer, der Versuchung zu widerstehen, diese Oppositionen sozusagen übereinander zu kopieren und damit ein dualistisches Weltkonzept zu entwerfen, wobei es über die ethische Opposition zu einer durchgängigen Wertung und Hierarchisierung kommen kann: die männlich-geistige Kultur, in unermüdlichem Kampf abgerungen einer weiblich-chaotischen Natur, und dies in immer neuer Anfechtung und letztlichem Mißlingen angesichts der der Natur ausgelieferten Körperlichkeit des Menschen. Es ist dann verlockend, mit diesem Modell kulturgeschichtlich zu operieren, also die Oppositionenreihe in der Fülle ihrer historischen Varianten aufzusuchen und ihre Dialektik vom alten Ägypten bis Hollywood durchzuspielen, wie Camille Paglia dies getan hat. Wer sich aber darauf einläßt, gerät kaum vermeidlich in den Sog des dualistischen Universalschemas, und alle Versuche, sich ihm zu entziehen, scheinen nur die männliche Weigerung zu entlarven, sich mit der letztlich dominanten Macht des Weiblich-Naturhaften abzufinden. Jedenfalls aber gehört auch die Frage nach der Möglichkeit der Verweigerung mit in die Geschichte des männlich-weiblichen Rollenspiels zwischen Sinnlichkeit und Geist. Nach Paglia gibt es als Antwort nur entweder die männliche Disziplinierung mit dem Extrem naturfeindlicher Askese oder aber das Scheitern mit 1
Camille Paglia, Sexual Personae. Art and Decadence from Nefretiti to Emily Dickinson, Yale Univ. Press 1990, published 1991 [zit.].
3. Die Rollen des Begehrens
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Gelächter, die Bewältigung des Chaotischen durch die Überantwortung an das Komische. Oder ist ein historisches Verständnis denkbar, das sich der binären Logik seiner eigenen Kategorien zu entziehen vermag und dadurch der Falle entgeht, seinen Gegenstand dualistisch zu reduzieren und d. h. ihn der harten Moral oder der mehr oder weniger lachenden Resignation zu überantworten? Möglicherweise findet sich ein Ausweg, indem man den Umgang und die Auseinandersetzung mit den Dualismen in den einschlägigen Texten aufsucht und damit die Frage selbst als literarhistorisches Thema begreift. Dies ist das Experiment, das ich im folgenden anhand einer Reihe mittelalterlicher Erzählsituationen unternehmen möchte. Bei der Suche nach literarischen Orten der Auseinandersetzung stößt man auf einen bevorzugten Topos für die Selbstreflexion der dualistischen Schematik: das Spiel. Es ist der Gegenbegriff zur wertend-hierarchischen Binarität. Seine schwarzen und weißen Spielsteine oder farbigen Figuren bilden zwar Oppositionen und die Bewegungen verlaufen antagonistisch, aber die Sets entsprechen sich gleichwertig, und die Bedingungen für den Ablauf sind für jeden Beteiligten dieselben. Dabei kommen sie in freier Setzung von Regeln zustande; sie sind also allen anthropologischen und historischen Zwängen entzogen.2 Unter dem Leitbegriff des Spiels bietet es sich an, den Entwurf und die Selbstkritik jenes Gesellschaftskonzepts zu analysieren, die der mittelalterlich-höfische Roman im arthurischen Hof ins Bild gebracht hat. Dieser Hof wird vorgestellt als schwebende Balance aller menschlichen Kräfte und Strebungen, insbesondere der Ansprüche und Widersprüche der Geschlechter: man ergeht sich in formvollendetem Umgang, übt sich in den Künsten, treibt Sport, arrangiert Kampfspiele und vor allem: man unterhält sich, man erzählt sich Geschichten. Das Hofleben ist als Gesellschaftsspiel stilisiert, d. h., man verbringt die Zeit nicht nur mit Spielen, sondern man versucht, das Leben insgesamt als spielerisches Fest zu inszenieren. Die ihm entsprechende innere und alles Tun durchstrahlende Befindlichkeit heißt joie, vröude.3 Es handelt sich dabei offenkundig – fern jeder Realität – um ein literarisches Konstrukt, und als solches wird es denn von Anfang an nicht nur dargeboten, sondern auch problematisiert, ja, der ideale Entwurf und seine Problematisierung sind das eigentliche Thema des Romantyps. Als Handlungsschema formuliert: Die spielerische Idealität der arthurischen Gemeinschaft wird herausgefordert und muß im Kampf mit den Mächten, die sie in Frage stellen, bewährt werden, und dies offenbar immer wieder neu. Das Spiel kann nur Spiel sein, insofern es sich aus einer Wirklichkeit heraushebt, die es verneint. In binärer Logik kann man diesen Roman deshalb als Paradebeispiel für die Unmöglichkeit lesen, die Chaotik der Natur durch ein formvoll diszipliniertes Zusammenleben in so geglückter Weise zu überwinden, daß es unangefochten auf Dauer festzuhalten wäre. Die Spielidee verfällt damit selbst wiederum dem dualistischen Zugriff: unverbindliche Spielwirklichkeit versus Verbindlichkeit des Faktischen. Es gilt einmal mehr, 2
Zum Spielbegriff ausführlicher meine Studien „Der Artusritter gegen das Magische Schachbrett oder Das Spiel, bei dem man immer verliert“, in: Haug, Strukturen, S. 672–686, hier S. 677f., und „Der Zufall: Theodizee und Fiktion“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 64–87, hier S. 77ff. 3 Vgl. meine Studie „Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers ›Ring‹“, in: Haug, Brechungen, S. 312–331, hier S. 312, S. 317ff.
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II. Zum höfischen Roman
daß unsere Kategorien immer nur das greifen, was sich ihnen fügt. Die Frage ist: Vermag man sie zu übersteigen, indem man dem nachspürt, was sich ihnen nicht fügt?
II Chre´tien de Troyes hat im 12. Jahrhundert mit ›Erec et Enide‹ das Muster des arthurischen Romantyps geschaffen. Die Handlung beginnt mit dem Osterfest am Hof des Königs. Das Miteinander der stolzesten, mutigsten Ritter und der schönsten Edelfrauen und Königstöchter signalisiert die vollendete Geschlechterbalance. Da beschließt am Ende des Festes der König überraschend, den weißen Hirsch zu jagen. Gauvain warnt, denn wer das Tier erlegt, darf nach dem Brauch das schönste Mädchen küssen, und da sich um die 500 Jungfrauen am Hofe befinden, deren Ritter die jeweils ihre für die schönste halten müssen, könnte das zu einem Streit mit üblen Folgen führen: maus (. . . ) mout granz4. Aber Artus bleibt bei seinem Vorsatz, und am nächsten Morgen zieht die Gesellschaft aus zur Jagd. Die Königin Guenievre reitet mit einem Hoffräulein hinterher. Zu ihr gesellt sich der beste Ritter der Tafelrunde, Erec, nicht im Jagdkostüm, sondern prachtvoll-elegant gekleidet: ein Hermelinmantel, ein Rock aus edelster Seide, Beinkleider aus Brokat, goldene Sporen. Die Drei verlieren die Jagdgesellschaft aus den Augen; man hört nur aus der Ferne noch die Hornrufe und das Gebell der Hunde. Da taucht ein unbekannter Ritter auf, begleitet von einer Dame und einem Zwerg. Die Königin verlangt zu wissen, wer der Fremde ist, sie schickt ihr Hoffräulein hin, aber als es sich höflich erkundigen will, erhält es vom Zwerg einen Peitschenhieb, und Erec, der daraufhin dasselbe versucht, ergeht es nicht besser: mit einer Wunde im Gesicht kommt er zurück. Da er ungerüstet ist, kann er sich nicht rächen. Es bleibt ihm nichts, als dem Fremden nachzureiten in der Hoffnung, daß sich eine Gelegenheit finden wird, die Schmach zu tilgen. Die Exposition der Handlung läuft also über eine kritische Bruchstelle. Wie ist sie zu verstehen? Die Jagd beendet das höfische Fest. Sie schert schon als solche aus der idealen Balance aus. Die Warnung Gauvains deutet dies an, und der beste Ritter, Erec, entzieht sich: er scheint im Zusammenspiel mit der Königin am Hofleben in seiner konfliktfreien Idealität festhalten zu wollen. Die Jagd ist die männliche Domäne schlechthin. In ihr reaktiviert sich der archetypische Kampf gegen das Animalische und Chaotisch-Irrationale. Das Urbild ist der Mythos vom Drachenkampf; er versteht sich als primordiale Kulturtat; er ist häufig mit Stadtgründungen verbunden.5 Im Zusammenhang der Jagd ist der Übergang besonders schön in der Zerlegung des Hirschs und des ästhetischen Rearrangements seiner Teile durch Tristan ins Bild gebracht, womit er sich als überlegener höfischer Formkünstler bei Marke einführt:6 die animalisch-wilde Natur wird auf dem Weg zum Hof in Kultur, ja in Kunst verwandelt. Zur mythischen Szene gehört auch, daß dem Untierkämpfer 4
Chre´tien de Troyes, Erec et Enide, hg. v. Wendelin Foerster, Halle 31934, v. 49. Siehe Jürgen Trumpf, „Stadtgründung und Drachenkampf (Exkurse zu Pindar, Pythien I)“, Hermes 86 (1958), S. 129–157. 6 Tristan, hg. Ranke, vv. 2788ff. 5
3. Die Rollen des Begehrens
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eine Frau zufällt: das Irrational-Weibliche – Gorgo bringt diesen Aspekt des Urungeheuers ins Bild – stellt sich nach dem Sieg über das Chaos im wunderschön-hilflosen Mädchen dar, das, gerettet durch den Sieger oder für ihn ausgelobt, ihm dankbar überantwortet wird: die durch die Überwindung der urtümlichen Naturgewalt scheinbar harmlos gewordene Weiblichkeit. Die untergründig weiterwirkende Problematik aber klingt deutlich noch an in der Konfliktträchtigkeit der Erec’schen Jagd-costume. Weshalb Erec, der beste Ritter am Hof, nicht an der Jagd auf den weißen Hirsch teilnimmt, sondern sich zur Königin gesellt, wird nicht gesagt. Sie scheint aber die Geste zu schätzen: vostre conpeignie / Aim je mout (vv. 112f.). Ist das, einvernehmlich mit Erec, kritische Distanzierung im Sinne der Bedenken Gauvains? Oder unterstellt man damit schon zuviel? Dann folgt der unerwartete Zwischenfall, durch den der Held zum Auszug in eine hoffeindliche Welt gezwungen wird. Wieder drängen sich Motivationsfragen auf: Weshalb will die Königin wissen, wer der fremde Ritter und seine Begleiterin sind? Weshalb reagiert der Zwerg so brutal? Und dies offenbar im Einverständnis mit dem Ritter, der dies widerspruchslos geschehen läßt. Auch für all dies gibt es keine Erklärungen. Die Szene ist voller Leerstellen. Doch man sollte sich hüten, sie zu dezidiert mit Psychologie zu füllen. Es geht nicht um einen durchsichtig begründeten Ablauf, sondern darum, eine bestimmte Konstellation herbeizuführen. Ihre Bedeutung erschließt sich paradigmatisch, nicht syntagmatisch – was ja für diesen ganzen Romantypus kennzeichnend ist.7 Erec entzieht sich der Jagd, unkämpferisch, ungerüstet – bloˆz als ein wıˆp, wird Hartmann in seiner Version anmerken.8 Ob darin ein Vorbehalt steckt oder nicht, es ist dann die Königin, die sich zwar über seine Begleitung erfreut zeigt, ihn aber gewollt-ungewollt auf einen Weg schickt, der in gewisser Weise parallel läuft zur versäumten Jagd, indem er sie in signifikanter Weise abwandelt. Was vermieden werden soll, kommt in anderer, neuer Form zum Zug. Die Situation ist voller eigentümlicher Ambivalenzen. Dabei ist der Auftakt höchstens leicht beunruhigend, jedenfalls nicht problembeladen. Die Jagd des Königs gilt einem weißen Wundertier. Das Animalische ist märchenhaft verfremdet. Der Hirsch als Jagdtier ist ja an sich schon nicht sonderlich gefährlich. Im Horizont erscheint immerhin noch der konfliktträchtige Kuß. Das Thema ist gewissermaßen emblematisiert; es ist zurückgenommen, ist bloßer Rahmen geworden. Doch es wird dann unter veränderten, differenzierteren Bedingungen in der eigentlichen Handlung sehr viel gefährdender ausgespielt. An der Stelle des Tieres steht nun der böse Gegner; das Ungestalte aber wird noch repräsentiert durch die Miniaturmißgestalt des Zwergs. Und auch hier wird der Sieg erotisch eingelöst: Erec überwindet den Beleidiger und gewinnt damit Enide, die Begleiterin, mit der er zu einem Kampf antritt, der zugleich als Schönheitstest angesetzt ist. Enide wird durch Erecs Sieg als die Schönste ausgewiesen, und sie kann deshalb, als das Paar am Hof eintrifft, den Kuß des Königs empfangen, der inzwischen den weißen Hirsch erlegt hat. So wird das Prekäre der Jagd-costume unterlaufen, das Erotische problemlos in die Auseinandersetzung mit dem Unhöfischen eingebunden – jedenfalls zunächst. 7
Zur Struktur des arthurischen Romans Haug, Literaturtheorie, S. 97ff., mit weiterführender Literatur; Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. v. Friedrich Wolfzettel, unter Mitwirkung von Peter Ihring, Tübingen 1999. 8 Erec, hg. Leitzmann, v. 103.
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II. Zum höfischen Roman
Es zeigt sich also, daß die Formel, die der Rahmen vorgibt, sich in der Erec-avanture mehrschichtig ausfaltet. Das einfache, binär angelegte Schema – männlicher Sieg über das wilde Tier und der Kuß der schönsten Frau als Preis für den Sieger – wird überstiegen. Der neue, komplexe Prozeß wird von einer Frau in Gang gesetzt, und zwar von der Königin selbst, der höchsten Verkörperung der Weiblichkeit am Hof, genauer: sie wird zum Anlaß dafür, daß gerade jener beste Ritter, der sich dem Schema verweigert, in Aktion tritt, und dies dadurch, daß er im Gesicht blutig geschlagen wird, sich demütigen muß, um sich dann einer Brutalität anderer Art zu stellen: menschlicher Bosheit und Arroganz. Und die Königin tritt erneut auf, wenn der von Erec Besiegte mit seinem Fräulein und dem Zwerg am Hof erscheint, und schließlich wird sie es sein, die Enide königlich einkleidet, was Erec freilich dezidiert so plant, wenn er seine Braut in ihrem armselig-abgerissenen Kleid am Hof einführt. Und im übrigen war es auch die Königin, die vorschlug, den Kuß der costume zu verschieben, bis Erec zurück sei. Das simple männliche Ritual soll – das steht hinter ihrem Vorschlag – nicht zum Zug kommen, der Kuß soll auf anderer Grundlage gegeben werden. Die Schlüsselstellung der Königin Guenievre in diesem ganzen Prozeß ist also offenkundig, doch was sie tut, schillert merkwürdig zwischen Aktivität und Passivität, zwischen signifikanter Zurückhaltung und deutlicher Zeichensetzung. Sie nimmt unter dem Aspekt der höfischen Idealität Abstand vom männlichen Schema des Tierkampfs und seiner erotischen Pointe. Aber die Rolle ihrer Weiblichkeit ist zwiespältig, d. h., sie wird zwiespältig, wenn der König zur Jagd auszieht, denn davon ist auch ihre Position tangiert; sie kann nicht mithalten. Guenievre bewirkt dann, daß der erotische Aspekt in der höfischen Welt anders realisiert wird, als das krude Schema der costume es vorsieht. Erec gewinnt Enide durch seinen Sieg, und er gewinnt seinen Sieg durch Enide. Das ist das Gegenkonzept, auf das die bewußt-unbewußte Regie der Königin zielt. Und so reaktiviert schließlich die Hochzeit der beiden Protagonisten noch einmal das ideale Fest. Aber es ist durch die Doppelung des Weiblichen in eine neue Spannung eingetreten: hier die königliche Frau im Wissen um die Gefährdung der höfischen Welt und in bedachter Lenkung des Zufälligen gegen den kruden Vorstoß des Königs, dort das Mädchen mit seiner drängenden Leidenschaft gegenüber dem erotisch ebenfalls erwachenden Partner. Das harmonische Verhältnis der Geschlechter ist konstitutiv für den Idealentwurf des arthurischen Gesellschaftsspiels. Doch in der Sexualität stößt das Spiel an seine Grenze. Das Erotische als Spiel kann zwar eingebunden gedacht werden in die höfische Balance, im Orgasmus jedoch wird es gebrochen. Erec und Enide, sich selbst überlassen, verweigern sich der Einbindung. Als sie sich bewußt werden, was dies bedeutet, kommt es zum zweiten Auszug. Es geht dabei nicht um gesellschaftliche Verpflichtungen versus individuelle Ansprüche, wie immer wieder behauptet wird, sondern um die Frage nach der Macht von Oppositionen, um die Frage nach den Zwängen, die daraus erwachsen, daß das Spiel doch letztlich in der faktischen Wirklichkeit verankert ist, konkret: von der Radikalität des Erotischen und des Todes eingeholt wird, die das Spiel durch seine Regeln ausklammert. Der weitere Gang der Handlung läuft dann darauf hinaus, das Geschehen dem dichotomen Zwang zu entziehen. Erec geht das Szenario des ersten Kursus noch einmal durch; er setzt Enide wieder aufs Spiel; und schließlich bleibt er im Durchgang durch
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3. Die Rollen des Begehrens
den scheinbaren Tod Sieger durch sie, bleibt er am Leben durch sie. Die letzte Episode ist die Begegnung mit Mabonagrain, der, mit seiner amie in einen paradiesischen Baumgarten eingeschlossen, allein der Liebe lebt. Er kann nur dann in die Gesellschaft zurückkehren, wenn ein Ritter ihn zu besiegen vermag, was bisher keinem gelungen ist. Die Köpfe der Besiegten stecken auf den Zaunpfählen des Wundergartens – ein mörderisches Paradies, das Erec rettend und zerstörend aufhebt. Der innere Widerspruch dieser Tat bleibt ungelöst stehen.9 Als Schlußpointe zielt er nachdrücklich darauf, daß die Erfahrung der Grenze, und dazu gehört insbesondere die Erfahrung der Radikalität des Erotischen, ins Bewußtsein aufgenommen wird – ein Bewußtsein, das dann im Erzählen der Aventüren dem Hof in seiner reaktivierten Idealität weitergegeben wird. Im Erzählen, das das Spiel und das Nicht-Spiel übergreift, kann reflektierend die Grenze zwischen beidem aufgehoben und damit das Denken in Oppositionen zurückgelassen werden. Man erzählt – seiner höchsten Möglichkeit nach – nicht um einer Lösung in einem binären Sinn, sondern um der Unmöglichkeit willen, die Wirklichkeit anders denn als einen Prozeß zu verstehen, in dem das Unintegrierbare dadurch integriert wird, daß man es aushält. Das ist die literarische Gegenposition zur mythischen Dualität und den binären Ideologien mit ihren stereotypen Rollenspielen, die jene fortsetzen oder auf sie zurückfallen.
III Was im höfischen Auftakt des ›Erec‹ eher zurückhaltend skizziert wird, kommt in Chre´tiens ›Yvain‹ gleich anfangs in beunruhigender Weise zur Sprache. Mitten in dem auch hier obligaten Fest zu Beginn zieht sich der König mit Guenievre zu einem Schäferstündchen zurück, und, ermüdet davon, schläft er ein. Ein kleiner Mißklang10 zumindest als Andeutung der Problematik des Sexuellen im Zusammenhang höfischer SpielIdealität. Guenievre hingegen erhebt sich und hört einer Geschichte zu, die vor dem Schlafgemach von Calogrenant erzählt wird: es ist die Geschichte einer von ihm verfehlten avanture, der avanture an einer Quelle, an der man durch einen Wasserguß ein zerstörerisches Ungewitter auslösen und damit den Quellenherrn herausfordern kann. Calogrenant hat den Kampf gegen ihn nicht bestanden. – Der Erzähler sieht die sich hereinstehlende Königin als erster, springt ehrerbietig auf und erntet den Spott Keus: ihr gegenüber sei Calogrenant preu und saillant (v. 72), ganz anders, als wie er sich bei seiner avanture verhalten habe! Die Königin weist den Spötter zurecht, und Keu antwortet grob. Und darauf erklärt Calogrenant Keus Charakter: es sei seine Art, Gift zu versprühen, er könne nicht anders, sowenig wie ein Misthaufen nicht stinken könne usw. Er will nicht zu Ende erzählen, aber man drängt ihn, und so berichtet er denn weiter von seiner Schmach. Nach der Geschichte kommt es dann noch einmal zu einem Rededuell mit Keu, der Yvain verhöhnt, weil dieser gleich ausziehen und die Niederlage 9
Vgl. meine Studie „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 205–222. 10 Daß der König sich zurückzieht, ruft eine gewisse Irritation hervor: Chre´tien de Troyes, Yvain, hg. v. Wendelin Foerster, Halle 41912, vv. 42ff.
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Calogrenants auswetzen will. Und wieder tadelt die Königin den Schwätzer. Schließlich erscheint Artus doch noch, und es ist nun Guenievre, die für ihn die Geschichte Wort für Wort nacherzählt, worauf er beschließt, innerhalb von vierzehn Tagen mit seinem Hof zur Gewitterquelle zu ziehen. Da Yvain fürchtet, ein anderer könnte ihm dort den Kampf streitig machen, zieht er heimlich los und besiegt den Quellenritter, bevor Artus mit den Seinen eintrifft, um dann Keu, der gegen ihn antritt, den verdienten Denkzettel zu verpassen. Wieder gibt es wie im ›Erec‹ einen Rahmen, der das Thema in simpler Schematik skizziert: ritterliche avanture als Kampf mit einem beliebigen Gegner um des Kampfes, d. h. des Siegens willen. Eine entsprechende Erklärung wird von Calogrenant unterwegs einem wüsten Hirten wilder Tiere gegenüber abgegeben, der nach dem Sinn von avanture fragt (vv. 356f.). Die ironische Note der Episode ist nicht zu verkennen: die Bezähmung wilder Tiere durch einen unhöfischen Hirten erscheint sinnvoller als der Ritterkampf als Selbstzweck. An der Stelle der offenen Jagd im ›Erec‹ steht im ›Yvain‹ die noch offene Bewältigung des Herrn der Gewitterquelle. Und wieder spielt sich der Auftakt der Handlung in Anwesenheit der Königin und in Abwesenheit des Königs ab, wobei eine eigentümlich überreizte Situation entsteht, die durch Keu verschuldet wird, deren letzte Ursache aber der unerwartete Auftritt der Königin ist. Er beleidigt Calogrenant, die Königin und Yvain. Und das zwingt letzteren, heimlich aufzubrechen. Keus gehässig-kränkende Reden stehen an der Stelle des Peitschenschlags des Zwergs. Die innere Verwundung sitzt ebenso tief. Die Königin und das provokative Moment gegenüber dem Hof gehören wiederum in einem zwielichtig schillernden Rollenspiel zusammen. Übrigens ist auch das erotische Moment auf dem Weg der avanture nicht ausgespart: der Gastgeber, bei dem Calogrenant über Nacht einkehrt, hat eine wunderschöne Tochter, die sich in der liebenswürdigsten Weise um ihn kümmert. Er solle nach dem Kampf zu ihm und ihr zurückkommen, und das klingt vor dem Hintergrund des ›Erec‹ wie ein Liebesversprechen. Aber wenn Yvain dann die avanture besteht, schließt sich eine Verbindung mit der Tochter des Gastgebers aus. Sie verschwindet von der Bildfläche zugunsten der Quellenherrin, d. h., das Mädchen in der Herberge markiert nur die erotische Komponente des Unternehmens im Anklang an den ›Erec‹ und macht damit zugleich darauf aufmerksam, daß die Geschichte nicht mehr so ablaufen soll wie dort. Das erotische Moment wird nunmehr in anderer Weise eingelöst: der Sieger gewinnt Laudine, die Frau des getöteten Gegners, eines Gegners, der hier markant durch das Naturchaos gekennzeichnet ist, mit dem er heraufbeschworen wird. Das ist eine märchenhaft stilisierte, aber hinreichend symbolträchtige Form des Gewalttätig-Naturhaften, das zu überwinden ist, und dies wiederum mit dem Ergebnis, daß dem Sieger eine Frau aus dieser Sphäre zufällt. Guenievre spielt dabei keine Rolle mehr, denn Laudine bedarf der Erhöhung nicht; sie ist selbst Königin und eine reife, leidenschaftliche Frau. Das schlichte Kampfschema scheint damit weniger stark in die Schwebe gebracht als im ›Erec‹. Yvain folgt dem Muster Calogrenants, auch der Aventürenidee nach. Der Unterschied scheint nur der zu sein, daß Yvain da siegt, wo sein Vorgänger versagt hat; aber das Problem ergibt sich gerade daraus, daß Yvain dem Schema verhaftet bleibt. Das zeigt sich im Übergang zum zweiten Teil der Handlung. Yvain will nach seiner stürmischen Liebeserfahrung den ,Fehler‘ Erecs vermeiden, er zieht sich von Laudine
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zurück in die Männergesellschaft, übt sich in Ritterspielen – über Gebühr, d. h. über den für die Rückkehr vereinbarten Termin hinaus, und verfällt dadurch gerade jenem Bereich, dem er sich entzogen zu haben glaubt, dem Animalischen in seiner rohesten Form: als ein Wahnsinniger reißt er sich, als Laudine ihm ihre Liebe aufkündigen läßt, die Kleider vom Leib und lebt wie ein Tier in der Wildnis. Die rein männliche Welt der Turnierspiele, der ritualisierten Form der Ordnung durch kämpferische Bewährung, kippt in die Gegenposition um, ins Naturhaft-Bestialische. Das dichotomische Prinzip, von dem her Yvain im Blick auf das Erec-Beispiel denkt – falsch denkt –, antwortet gleichsam mit einem Gegenzug. Der weitere Aventürenweg Yvains nach der Wunderheilung und Rehumanisierung ist dann ein Weg durch scheinbar unauflösbare Alternativen: der Held wird vor ihn gleichzeitig fordernde Aufgaben gestellt. Und er verwickelt sich schließlich in einen beinahe tödlichen Kampf mit seinem Freund Gauvain. Er wird überanstrengt durch ritterliche Verpflichtungen, und das Ende ist fast eine Katastrophe. So führt die Dichotomie von Ordnungstat und Animalität zu einer Pattsituation, und so groß dabei auch die Bemühungen und Hoffnungen Yvains sind, es führt kein Weg zu Laudine zurück. Die männliche Tat ist keine Antwort auf das mit dem Bruch der arthurischen Idealität aufgeworfene Problem. Die Lösung, d. h. die Versöhnung mit Laudine, kann schließlich nur spielerisch über einen Trick erfolgen: Laudine braucht einen Verteidiger für ihre Gewitterquelle; ihr Hoffräulein, Lunete, verspricht ihr als Kämpfer den berühmten ,Löwenritter‘ – das Inkognito Yvains auf seinem zweiten Weg –, unter der Bedingung, daß sie diesen mit seiner Gattin versöhne. Laudine sagt zu und muß nun das Versprechen ihrem eigenen Mann gegenüber einlösen. Und wenn Yvain auf diese Weise in seine Ehe zurückkehrt, wird er zum Quellenritter, und er ist damit, d. h. als mörderischer Verteidiger seiner Herrschaft und seiner Frau, gerade mal soweit wie Mabonagrain. Das Problem einfach auszusparen ist keine Lösung, im Gegenteil, man verfällt erst recht dem dichotomen Schema. Man sollte den ›Yvain‹ in erster Linie als komödienhaftbedenklichen ›Erec‹-Kommentar lesen.11
IV Chre´tiens ›Lancelot‹ liegt chronologisch vor dem ›Yvain‹. Er forciert das ›Erec‹-Thema zunächst in anderer Richtung, nicht in Richtung auf die Distanz zum Erotischen, sondern auf dessen Exzeß. Ein Fremder, Meleagant, erscheint am Artushof und fordert die Ritter zum Einzelkampf. Dabei soll die Königin selbst der Einsatz sein. Ferner will der Provokateur, wenn er unterliege, arthurische Ritter und Damen freigeben, die er gefangen hält. Keu erpreßt den König, daß er den Kampf gegen den Fremden aufnehmen darf, indem er vorgibt, den Hof verlassen zu wollen, wenn man ihm nicht blind einen Wunsch gewähre. Und es ist die Königin, die sich vor ihm niederwirft und ihm diese Bedingung für sein Bleiben entlockt. Artus muß sein Wort halten, und zur Bestürzung aller macht Keu sich, 11
Siehe meine Studie „Chre´tiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹: Das Spiel mit dem arthurischen Modell“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 223–238.
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begleitet von Guenievre, auf, um den Kampf mit dem Fremden zu bestehen. Er unterliegt, und der Provokateur führt ihn, verwundet, zusammen mit der Königin fort. Man wird in diesem Auftakt die bekannte Grundkonstellation ebensowenig verkennen wie ihre für diesen Roman eigentümliche Abwandlung. Die Rolle der Königin ist dadurch besonders pointiert, daß sie nicht nur in die Herausforderung der arthurischen Idealität zwiespältig verwickelt erscheint, sondern daß es ihre Entführung ist, durch die die höfische Geschlechterbalance aufgebrochen wird. Bekanntlich wird auch damit ein mythisches Schema angespielt: der Wechsel zwischen Präsenz und Absenz der heilbringenden weiblichen Figur am Herrscherhof als Dichotomie zwischen Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, zwischen Leben und Tod. Der Entführer ist ursprünglich eine dämonische Jenseitsfigur, und noch Chre´tien bezeichnet Meleagants Reich als ,Das Land, von welchem niemand wiederkehrt‘.12 Das Schema wird jedoch auch hier wiederum problematisiert durch die schillernde Doppelfigur des Weiblichen: die Königin einerseits an Artus’ Seite im Spiel der höfischen Balance und die Königin andrerseits als Funktion eines Gegenbereichs, der durch Eros und Tod gekennzeichnet ist. Dies jedoch nicht mehr im Sinne eines mythischen Wechsels, sondern als literarisches Experiment, das ihn gerade aufzulösen sucht. Bezeichnend ist einmal mehr die Rolle Keus. Man kann kaum daran zweifeln, daß es in Chre´tiens Quelle der Entführer selbst war, der sich von Artus eine Gabe erbat, ohne sie zu nennen, und der dann freventlich die Königin verlangte. In dieser Form erzählt Hartmann die Geschichte im ›Iwein‹.13 Die Übertragung des rash boon-Motivs auf Keu verändert die Situation grundlegend. Es geht nun nicht nur darum, daß ein Ritter, oder wie es wohl ursprünglich war, der König selbst, auf die Entführung reagiert, sondern daß Keu die Königin aus freien Stücken aufs Spiel setzt. Damit wird die klare Dichotomie der mythischen Konstellation aufgelöst, das Geschehen wird entscheidend am Hof selbst durch das eigentümliche Zusammenspiel zwischen Keu und der Königin angestoßen. Und wenn es dann um die Rettung Guenievres geht, tritt quer zu Artus und Meleagant wiederum ein Dritter auf, Lancelot, mit dem die Königin anscheinend von Anfang an in einer dunklen Beziehung steht. Als sie mit Keu wegreitet, sagt sie nämlich leise ein merkwürdiges Wort: „Ha! ha! se vos le seussiez / Ja, ce croi, ne me leississiez / Sanz chalonge mener un pas!“14 („,Ach, ach, wenn Ihr dies wüßtet, ich glaube, daß Ihr es nicht widerstandslos zuließet, daß man mich auch nur einen Schritt davonführt.‘“) Das Rätselwort kann sich schwerlich auf jemand andern als auf Lancelot beziehen, der in diesem kritischen Augenblick nicht am Hof ist, der aber dann doch überraschend auftaucht und sich an die Verfolgung des Entführers macht.15 Das 12
Vgl. meine Studie »Das Land, von welchem niemand wiederkehrt«. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chre´tiens ›Chevalier de la Charrete‹, im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven und im ›Lancelot‹-Prosaroman (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21), Tübingen 1978, S. 6ff. 13 Iwein, hg. Benecke, Lachmann, vv. 4530ff. 14 Chre´tien de Troyes, Karrenritter und Wilhelmsleben, hg. v. Wendelin Foerster, Halle 1899, vv. 211ff. 15 Der Wortlaut der Stelle schwankt in der Überlieferung. Mario Roques folgt in seiner Ausgabe, Paris 1958, vv. 209–211, dem Ms. Guiot: hier spricht Guenievre den König an. Das ist aber nicht sonderlich sinnvoll; zudem wird bemerkt, daß Guenievre so leise vor sich hin spricht, daß niemand es hören kann. Auch Jean Frappier legt seiner neufranzösischen Übersetzung, Paris 1982, S. 19, Foersters Lesart zugrunde.
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Publikum dürfte aus anderen Quellen von diesem prekären Verhältnis gewußt haben, so daß Chre´tien es nur anzudeuten brauchte. Das mythische Entführungsschema nimmt also im ›Lancelot‹ jene Position und Funktion ein, die im ›Erec‹ die costume der Jagd auf den weißen Hirsch und im ›Yvain‹ das Aventürenkonzept Calogrenants innehaben. Es dient als dichotome Folie für einen Handlungsansatz, der den Mythos unterläuft, indem das Gegenüber von Hof und antihöfischer Welt von außen wie von innen in Bewegung gebracht wird. Das Weibliche auf höchster Ebene, die Königin selbst, erscheint zunehmend deutlich von Anfang an als instabiles Moment. Man mag einwenden, daß die innere Instabilität beider Pole zum mythischen Schema gehöre und die ,Untreue‘ der Königin nur als narrative Motivation für die Mechanik des Wechsels fungiere. Daß der Einwand letztlich nicht greift, zeigt der weitere Gang der Handlung. Lancelots Weg in die quasi-mythische Gegenwelt zielt auf die Besiegung des Entführers und die Rettung der Königin, zugleich aber auch auf ihre Liebe. Die Frau als Kampfpreis in der Auseinandersetzung mit dem Provokateur ist hier nicht nur die Spiegelfigur der Königin wie Enide oder Laudine, sondern sie ist mit ihr identisch. Der Ehebruch ist die radikalste Chiffre für die untergründige Ambivalenz der arthurischen Geschlechterharmonie. Dabei wird die erotische Bedingungslosigkeit nunmehr zum Äußersten getrieben. Lancelots Verfolgung des Entführers bis ins ,Land, von welchem niemand wiederkehrt‘, ist gekennzeichnet durch Bilder völliger erotischer Verfallenheit. Und als er ein einziges Mal vor der totalen Selbstpreisgabe zurückschreckt – er soll einen Karren besteigen, mit dem man Verbrecher zur Hinrichtung führt, um dem Entführer und der Königin folgen zu können, und er zögert dabei einen Moment –, da wird ihm das von der Königin als Liebesverrat angerechnet: nach all den Mühsalen, Qualen und Kämpfen, über die er Guenievre endlich erreicht und nun als Sieger vor sie hintritt, hat sie nur Verachtung für ihn übrig. Erst nach der Aufklärung verwirrend falscher Nachrichten – man sagt Guenievre, daß Lancelot getötet worden sei, und ihm wird wiederum berichtet, daß sie tot sei, worauf er sich umbringen will – kommt es zur Versöhnung. Mit blutenden Wunden kann er Guenievre eine Nacht lieben. Eine Nacht in einem Land, das gewissermaßen irrealen Charakter hat, eine ehebrecherische Nacht, die, quasi-mythisch ausgegrenzt, folgenlos bleiben kann und muß. Denn davon darf natürlich am Hof nicht erzählt werden. Erzählt werden kann nur von der Rettung der Königin, wobei Gauvain, nicht Lancelot, sie zurückbringt, da dieser von Meleagant eingekerkert worden ist. Die Wiederherstellung der Integrität des Hofes findet ohne den Retter statt. Er kommt aber später rechtzeitig frei, um Meleagant in einem am Artushof anberaumten Kampf erneut zu besiegen und nun zu töten. Angesichts der bedingungslosen erotischen Forderung bricht hier das narrative Konzept Chre´tiens auseinander: er führt sein eigenes Modell der Integration des Unintegrierbaren an seine Grenze. Das Publikum kann das vielleicht noch ertragen und mittragen, die Erzählung selbst vermag es nicht mehr zu verarbeiten, sie kann das Absolute nur ins Unfaßbare abrücken. Es ist ein Absolutes, das jedenfalls nicht mehr Pol einer Bewegung sein kann, sich vielmehr einem mythischen Verständnis entzieht. Der spätere Lancelot-Prosaroman wird übrigens die narrativen Konsequenzen ziehen und das Artusreich an der Liebe zwischen Lancelot und der Königin zugrunde gehen lassen.16 16
Siehe dazu meine Studie „Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot“, in: Haug, Brechungen, S. 288–300.
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V Überraschenderweise scheint diese ganze Problematik, wenn Chre´tien zu seinem letzten, unvollendeten Roman, dem ›Conte du Graal‹, ansetzt, ihre Aktualität verloren zu haben. Der Gegensatz von Hof und unhöfischer Natur gibt sich als ein rational zu bewältigendes Verhältnis. Das Unhöfische läßt sich höfisch überformen, Fehler aus Ungeschick und Unwissenheit sind wiedergutzumachen, aus dem wilden Jungen Perceval wird schließlich ein vollendeter Ritter der Tafelrunde. Frauen spielen soweit keine kritische Rolle. Als ein Provokateur, der Rote Ritter, am Artushof einreitet und vom König verlangt, daß er sein Land von ihm zum Lehen nehme, reißt er einen Becher Wein so ungestüm an sich, daß er ihn über die Königin gießt. Sie eilt völlig aufgelöst auf ihr Zimmer, und man fürchtet um ihr Leben. Damit ist sie ausgeschaltet, d. h. jener Funktion beraubt, die sie in den drei oben vorgestellten Romanauftakten ausübte. Keu hingegen bewahrt seine Rolle. Als Perceval auftritt und vom König ungebärdig die Waffen des Roten Ritters verlangt, mahnt Artus ihn zur Besonnenheit, doch Keu stachelt ihn an, worauf er hinausreitet und den Provokateur mit seinem Wurfspieß tötet. Ein Mädchen, das erst wieder lachen wollte, wenn es den besten Ritter vor sich sähe, beginnt zu lachen, als der wilde Bursche zum Kampf hinauszieht, was Keu veranlaßt, es zu verprügeln. Das lachende Mädchen steht an der Stelle des Hoffräuleins im ›Erec‹, und die Schläge, die es einsteckt, werden mit zur Triebkraft für Percevals Aventüren: er ist darauf bedacht, sie zu rächen. Es folgt dann zwar auch im ›Conte du Graal‹ die typische Kampftat, die dem Helden die Liebe einer Frau einbringt: Blancheflor, die er von ihren Feinden befreit, wird seine amie. Aber nach kurzer Zeit verläßt er sie, ohne daß es eine Krise in dem erotisch vergnüglichen Verhältnis gegeben hätte. Der Grund: Perceval will seine Mutter wiedersehen – ein Auszug, für den keine Bedingungen gesetzt sind, abgesehen davon, daß er verspricht, zurückzukommen, wenn er sie lebend oder tot gefunden habe – ein Versprechen, das er nicht halten wird. Kurz, das Schema: Provokation der arthurischen Idealität, Sieg des Helden über den Provokateur, Gewinn einer Frau durch Kampf – hier in verschobener Position –, die Trennung von ihr, ist zwar bewahrt, aber die erotische Komponente ist so gut wie ausgespart, jedenfalls was ihre problematische Seite betrifft. Schon das Verschwinden der Königin zu Beginn ist als Signal zu sehen. Es geht um einen kämpferischen Weg, der sich zugleich als Selbstdisziplinierung darstellt. Die hofferne Natur, in der Perceval als Wildling aufwächst, wird von ihm schrittweise zurückgelassen. Es gibt keine irgendwie dämonischen Gegner mehr, das Chaotische ist ganz in ihn selbst verlegt und kann somit durch einen Lernprozeß überwunden werden. Wenn am Ende dieses Prozesses Percevals Aufnahme in die Tafelrunde erfolgt, so ist er damit als vollendeter Ritter im Sinne der arthurischen Idealität ausgewiesen. Chre´tien inszeniert hiermit eine rein männliche Welt, die – von erotischer Ambivalenz unbehelligt – ihre Aufgaben, d. h. ihr Kulturproblem, ohne Rest zu lösen vermag. Selbstverständlich aber wird es dann darum gehen, zu zeigen, daß dies eine bittere Illusion ist. Ein abgrundhäßliches Mädchen auf einem Maultier erscheint am Artushof und verflucht den Helden, weil er es auf der Gralsburg versäumt hat, nach der blutenden Lanze und nach dem Gral zu fragen, was den verwundeten Fischerkönig geheilt hätte. Die offene Wunde des Königs parmi les quisses ambedesdeus17 ist in ihrer sexu17
Chre´tien de Troyes, ,Le roman de Perceval‘ ou ,Le Conte du Graal‘, hg. v. William Roach (Textes Litte´raires Franc¸ais 71), Gene`ve, Paris 21959, v. 3513.
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ellen Bedeutung nicht zu verkennen. Die Unheilsbotin formuliert sie mit aller Deutlichkeit: die Wunde nimmt dem König die Kraft, seinen Aufgaben als Herrscher nachzukommen; die Frauen verlieren ihre Männer, die Jungfrauen finden keinen Gatten, das Land bleibt unfruchtbar (vv. 4669ff.). Die erotischen Konnotationen der unterlassenen Frage rufen das zurück, was aus dem männlichen Weg des Helden ausgegrenzt worden ist. Wenn Perceval dem höfischen Gebot, nicht zu viel zu fragen, folgt und angesichts der Vorgänge auf der Gralsburg schweigt, dann also letztlich deshalb, weil er sich in seiner männlich-höfischen Verfaßtheit der erotischen Problematik verschlossen hat. Sie sollte sich ihm angesichts des an den Genitalien geschädigten Fischerkönigs aufdrängen, aber es fehlt ihm signifikanterweise das Wort, das die Öffnung und Erlösung hätte bringen können. Seine Kusine erklärt ihm hinterher, daß er versagt habe, weil er am Tod seiner Mutter schuld sei: sie ist aus Schmerz darüber, daß er sie verlassen hat, gestorben. Und der Einsiedleronkel wird diese Erklärung bestätigen. Das deckt die Symbolik der Wunde mit ab: mit seinem Ausritt aus der Wildnis hat Perceval die weibliche Welt als eine kulturferne Sphäre zurückgelassen, und diese Absage versperrt ihm den Zugang zur Frage nach der erotischen Wunde. Die letzte Szene vor der Einkehr an den Artushof bindet dann die kritischen Motive visionär ineinander: Drei Tropfen Blut einer von einem Falken geschlagenen Wildgans sind auf den frischen Schnee in der Lichtung vor dem Artuslager gefallen. Für Perceval erscheint in den roten Tropfen auf der Weiße des Schnees das Antlitz Blancheflors, und er versinkt völlig in seinen Anblick. So wird das Bild der verlassenen Frau dringlich zurückgerufen, und es wird zugleich der Bogen zurückgeschlagen zur blutenden Lanze und zur erotischen Wunde des Fischerkönigs. Der Bann bricht erst, als die Sonne den Schnee wegschmilzt, so daß Gauvain den Helden an den Artushof führen kann. Gauvain interpretiert seine Versunkenheit übrigens als Ausweis höfischer Liebe und damit als Zeichen seiner ritterlichen Vollendung; das stimmt zur Rationalität, die mit der Sonne wieder Einzug hält – ein Irrtum, den die Gralsbotin enthüllen wird. Ihre tierische Häßlichkeit pointiert dabei den negativen Aspekt, unter dem das Verdrängte sich Geltung verschafft. Sie entspricht dem tierischen Status Yvains, in dem er in die von ihm verdrängte Welt zurückgeworfen wird. Mit dem Motiv des waste land wird wie im ›Lancelot‹ eine mythische Schematik angespielt. Aber während dort der Versuch gemacht wird, den objektiven Wechsel durch die subjektiv-personale Integration des Unintegrierbaren zu übersteigen, wird im ›Conte du Graal‹ das mythische Schema durch die Unfähigkeit des Helden, in die Erlöserrolle einzutreten, jedenfalls zunächst einmal nicht überstiegen, sondern abgewiesen, und zwar durch die Überzeugung des Helden, eine arthurische Idealität in unangefochtener Selbstherrlichkeit erreichen zu können. Für Perceval ist der Hof nicht mehr Ausgangspunkt mit schwebenden Ambivalenzen, sondern er ist nach dem ersten wilden Durchgang das Ziel seiner ritterlichen Karriere, die Schritt für Schritt darauf bezogen erscheint. Das Versagen auf der Gralsburg und die Blutstropfenszene, ja, wohl schon die Sehnsucht nach der Mutter stehen quer dazu und deuten über ihre weiblichen Aspekte an, was dafür geopfert wurde. Perceval scheint nach den Enthüllungen der Gralsbotin zu begreifen, daß er etwas Wesentliches versäumt hat; er hat nun nurmehr das eine im Sinn: die Gralsburg wiederzufinden und die Fragen zu stellen, die offen geblieben sind, die Frage nach der blutenden Lanze und die Frage nach der Funktion
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des Grals. Doch die Möglichkeit dazu kann sich schwerlich als ein äußerlicher Vorgang darstellen, sondern nur das Ergebnis einer inneren Umorientierung sein. Wir wissen nicht, ob und, wenn ja, wie Chre´tien in dem fehlenden Schlußteil die weiblich-erotische Welt in den Lebensweg Percevals zurückgeholt hätte. Wenn er im ›Lancelot‹ die ›Erec‹-Linie des Exzessiv-Erotischen in der Weise fortgeführt hat, daß sie quälend in der Problematik stecken geblieben ist, so scheint er im ›Conte du Graal‹ die ›Yvain‹-Perspektive neu aufzunehmen, nachdem er dort den Knoten eher spielerisch durchschlagen hat, statt ihn überzeugend auseinanderzulegen. Deutet die Karfreitagseinkehr Percevals beim Einsiedleronkel nunmehr eine religiöse Lösung an? Wolfram hat das in seiner Bearbeitung so verstanden; aber um den Gedanken durchzuziehen, mußte er Parzival zu einem Verwandtenmörder machen und dies an die Kainstat als Urschuld binden, also das Fehlverhalten entsprechend religiös verankern. Nichts bei Chre´tien deutet eine solche Umakzentuierung an. Aber es könnte wohl sein, daß die Mahnung zu christlicher Demut der Auftakt sein sollte für die Einsicht des Helden in die Notwendigkeit, die männliche Bewältigungsrolle mit ihrer dualen Schematik aufzugeben und sich dem Nichtzubewältigenden zu öffnen.
VI ,Das heißeste Weib sollte kälter sein als der kühlste Mann.‘18 So sieht die Königin das ideale Geschlechterverhältnis in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, und sie beruft sich dabei auf medizinisch-physiologische Theorien. Das überzieht die klassische Balance in weiblicher Überforderung. Das Wort fällt im Zusammenhang einer höhnischen Invektive gegen den König, der durchfroren von einer Winterjagd nach Hause gekommen ist und sich müht, seine eisigen Hände an der Glut des Kaminfeuers zu wärmen. Was das für ein Benehmen sei, sich zu verzärteln wie ein Weib, sagt sie. ,Eure Hitze wäre dahin, solltet Ihr in dünnen Kleidern liegen, wie Frauen sie tragen‘, d. h., nicht einmal als Frau wäre er warm genug. Wenn man den ganzen Wald in Brand steckte, wäre die Glut eher vergangen, als daß er in Hitze geriete. Und dann berichtet sie von einem Ritter, der nur im Hemd in Sommerhitze wie Winterkälte an der Furt zum Schwarzen Dorn seiner Liebsten Lieder singe. Als sie sieht, wie tief Artus getroffen ist, bereut sie ihre Schnellfertigkeit; sie sieht ein, daß sie ihre ere zerredet und weibes zvht und scham zerbrochen hat (vv. 3431ff.). Der Dichter stellt es übrigens als allgemein weibliche Art hin, sich gach: ,ungestüm‘, und widerbrvht: ,widerborstig‘, zu benehmen (vv. 3371ff.). Die mehr oder weniger verdeckte Ambivalenz des Weiblichen am Romananfang erscheint hier psychologisiert. Dabei wird die Königin sich selbst ihres fragwürdigen Charakters bewußt, und der Dichter verallgemeinert dies zum Klischee. Damit korrespondiert das Bild der Winterjagd, die nicht gerade als eine männliche Tapferkeitsprobe gelten kann, da das Kleinwild, das man erlegt, in der Kälte und im tiefen Schnee kaum zu fliehen in der Lage ist. Alles in allem ein eklatantes Gegenbild zum traditionellen frühsommerlichen Artusfest als Handlungsauftakt mit einer turbulenten Hirschjagd oder einer Kampfaventüre. 18
Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), hg. v. Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner (ATB 112), Tübingen 2000, vv. 3379f.
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Der König, der, wie es heißt, durch den Spott Gynovers seine Freude verloren hat, begibt sich bedrückt zu seinen Rittern und berichtet ihnen davon. Da schimpft Key auf die Königin: Sie sollte in ihren Gemächern bleiben und die Männer ihre Sache verrichten lassen. Es gehe nicht an, daß sie einfach daherrede, wie sie wolle. Also auch in der ›Krone‹, diesem arthurischen Spätling, nochmals die klassische Personenkonstellation: die Königin, Key und Artus und im Horizont der Provokateur. Aber Gynover versammelt nun in eigentümlicher Weise all das traditionell Schillernde der Figur der Königin in sich. Sie erscheint komplex-widersprüchlich in ihrem Verhalten und in ihrer Rede. Sie provoziert nun den König massiv durch ihren pointiert geäußerten erotischen Anspruch. Aber sie reflektiert ihr Tun sofort, sie erkennt, daß sie das Maß überschritten hat. Der Erzähler tadelt es. Aber Artus ist deprimiert und trägt seinen Kummer weiter, worauf Key mit Vorwürfen reagiert. Wieder schaltet sich der Erzähler ein (vv. 3483ff.): Artus hätte gegenüber seinen Rittern besser den Mund gehalten. Er hat sich nur neues Leid eingehandelt. Man soll selbst mit seinen Schwierigkeiten fertig werden, statt sich Sorgen zu machen wie ein Weib. Es sei weiblich, sich etwas zu Herzen zu nehmen. Aber gerade dadurch seien die Frauen auch wiederum getiuret, es mache sie zu etwas besonders Kostbarem, zu etwas Liebenswertem (v. 3509). Artus weist Key scharf zurecht, er spricht von seinem gewohnten Haß gegenüber allen. Er verteidigt seine Frau als getriwe und wol gezogen (v. 3527). Dann folgt wieder eine Reflexion des Autors über Männer, die ihren Frauen Vorwürfe machen oder auf Vorwürfe anderer hören. Das ist ein Redegespinst, das in seinem dauernden Standpunktwechsel alles Harmonisierende zersetzt. Man weiß nicht mehr, was man glauben soll. Und auch der Autor ist keine feste Instanz, sondern er bezieht sich mit seinen Meinungen in das Wechselspiel mit ein. Doch dann nimmt der König die Herausforderung an: man zieht hinaus zur Furt am Schwarzen Dorn, um die Wahrheit von Gynovers Behauptung zu überprüfen. Neben Artus sind Gales, Aumagwin und Key mit von der Partie. Getrennt legen sie sich in der Kälte auf die Lauer. Und der Sänger im bloßen Hemd erscheint tatsächlich, die drei Artusritter rennen einzeln gegen ihn an und werden von den Pferden gestochen; Aumagwin fällt dabei in einen eisigen Bach; die andern beiden müssen ihn herausziehen. Der König indessen friert einmal mehr vor sich hin. Er überlegt sich, ob es nicht Dummheit sei, sich das um einer Frau willen anzutun (vv. 4332ff.). Und es folgen noch einmal Reflexionen über den weiblichen Charakter: Frauen können nichts zurückhalten; die Natur hat ihnen ein übervrävel leben gegeben (v. 4345). Was sie ärgert, das verschweigen sie nicht. Sie wollen in Ernst oder Spaß über Recht und Unrecht verfügen. Sie tun so, als ob an ihnen alle Freude hinge. Aber eigentlich möchte Artus nun lieber heimreiten, denn was sie gesagt hat, war wohl doch nicht ehrenrührig, sondern nur Spaß aus lauterr einvalt (v. 4362). Er ist sich dessen gewiß, daß sie sich über ihn freut. Die Geschichte mit dem Ritter, der ja gar nicht komme, dürfte doch nur eine Fabel sein, die sie gehört hat. Viele Frauen verheimlichen ihren Freunden, was sie freut. Wer kann herausfinden, was Frauen wirklich meinen? Sie meinen doch wohl nur Liebes. Man dürfe das nicht falsch verstehen. – Das sind wieder unkontrolliert schwankende Überlegungen, die das, was Weiblichkeit ausmacht, zu begreifen versuchen, und dies abgelöst von jeder Position und Funktion in einem Handlungsmodell. Die schematisch
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notwendige ,Untreue‘ der Frau im Mythos, die der klassische Artusroman in ein literarisch-anthropologisches Problem verwandelt hat, ist in der ›Krone‹ zu einer geschlechtsspezifischen Charakterfrage geworden, die unentwirrbar ins Absurde führen muß.19 Aber da erscheint der Ritter doch (vv. 4385ff.): mit den Pferden der drei Besiegten, was den König mit großer Sorge erfüllt. Es kommt zu einem harten Kampf, bei dem der König den Fremden hätte töten können, aber er hält es für eine Schande, einen Gegner, der nur im Hemd kämpft, umzubringen. Er drängt ihn, seinen Namen zu sagen, aber der Fremde will sich nur Artus gegenüber nennen. Als der König sich daraufhin zu erkennen gibt, sagt er, er heiße Gasoein de Dragoz und er fordere von Artus sein Recht. Als Artus verwundert nachfragt, erklärt er, daß Gynover seine rechtmäßige Gattin sei und er komme, sie zurückzuholen. Der König weiß nicht, was er denken soll. Einerseits erscheint ihm das unglaublich, andrerseits aber sieht er darin, daß die Königin ihn gegen den nächtlichen Sänger aufgestachelt hat, ein Indiz dafür, daß Gasoein Recht haben könnte. Man beschließt, sich in sechs Wochen in Karidol zu treffen und die Frage durch einen Zweikampf zu entscheiden. Dann reitet der König zurück, greift unterwegs die drei besiegten Ritter auf, und dann schläft man sich erst einmal tüchtig aus. Indessen hat die Königin schlechte Träume. Böse Vorahnungen bedrücken sie. – Zur rechten Zeit verlegt man den Hof nach Karidol, und als der kritische Termin naht, ist auch Gasoein da. Es kommt wieder zu einem erbitterten Kampf zwischen ihm und dem König, wobei keiner den andern zu überwinden vermag. Schließlich einigt man sich darauf, Gynover selbst die Entscheidung zu überlassen. Vor versammeltem Hof soll sie erklären, wem sie zugehören will: Artus oder Gasoein. Sie schweigt lange, sie scheint nicht zu wissen, wie sie sich verhalten soll. Und Gasoein spricht von Nötigung. Schließlich wendet sie sich an den König und sagt, sie habe es nicht um ihn verdient, daß er ihr zumute, sie könnte sich für einen Mann entscheiden, den sie überhaupt nicht kenne. Gasoein reitet voller Zorn weg. Die Verwirrung scheint gelöst. Doch einer ist nicht überzeugt, daß die Königin die Wahrheit gesagt hat: ihr eigner Bruder. Er interpretiert ihr langes Zögern dahingehend, daß sie es unter dem Druck des versammelten Hofes nicht gewagt habe, sich zu Gasoein zu bekennen. Er bemächtigt sich ihrer und will sie töten. Im kritischen Moment aber erscheint Gasoein und rettet ihr das Leben, doch nur, um sogleich den Versuch zu machen, sie zu vergewaltigen. Und wieder kommt im letzten Augenblick Rettung. Gawein taucht auf, kämpft mit Gasoein und führt Gynover schließlich unversehrt an den Hof zurück. Viel später erst wird die Sachlage geklärt: Gasoein widerruft seine Ansprüche auf die Königin. Offenbar hat er mit seiner Fiktion eines älteren Rechts auf Gynover für sie nur die Möglichkeit schaffen wollen, seine leidenschaftliche Liebe zu akzeptieren. Die Königin muß die Taktik durchschaut haben, denn es scheint ihr nicht leicht zu fallen, der Versuchung, darauf einzugehen, zu widerstehen. Die Interpretation des Bruders ist also nicht völlig aus der Luft gegriffen. 19
Es wäre in diesem Zusammenhang übrigens nachzutragen, daß der Roman nicht mit der Winterjagd beginnt, sondern mit einer Treueprobe, bei der alle Damen des Hofes und auch sämtliche Ritter – außer Artus – versagen. Die Treulosigkeit wird damit als etwas konstitutiv Menschliches schon gleich am Anfang des Romans programmatisch vor Augen geführt.
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3. Die Rollen des Begehrens
Gasoein spielt mit seinem Anspruch auf die Königin die typische Herausfordererrolle. Man hat es mit der Lancelotsituation in neuer Form zu tun. An der Stelle der Entführung steht eine rechtliche Forderung. Und die Königin wirkt bei der Provokation auch hier in hintergründiger Weise mit, so daß Artus immer wieder in Zweifel gerät. Die traditionelle Undurchsichtigkeit im Verhalten der Königin im Auftakt der Handlung wird in der ›Krone‹ zur offenen Zweideutigkeit. Die Reaktion ist dann zwar auch hier die ritterliche Abwehr, aber die beiden Kämpfe, zu denen Artus antritt, bleiben offen. Man fällt auf die Rechtsfrage zurück, die nur Gynover entscheiden kann. Und wenn sie dann für Artus votiert, so weiß man nicht, ob man ihr glauben darf. Und das gilt auch noch nach dem Widerruf Gasoeins. Denn selbst wenn die Untreue nicht mehr faktisch-real zur Debatte steht, so bleibt sie doch als eine latente Möglichkeit bestehen. Das Neue besteht darin, daß sich alles im Raum der Emotionen, Vorstellungen und Erwägungen abspielt. Dabei dringen die Erwartungen aber doch provozierend in die Wirklichkeit ein und lassen wie die Königin auch den König in doppeltem Licht erscheinen: frierend und seiner Liebe nicht sicher, macht er eine leicht komische Figur; in den entscheidenden Augenblicken aber wahrt er durchaus gefaßt seine Würde. Das Gelächter ist nicht die letzte Antwort, sondern eher ein verhaltener Schmerz angesichts offener, unerfüllbarer Erwartungen. Man kann in dieser Geschichte um Gynover das traditionelle Romanmuster zwar durchaus noch erkennen: die Provokation des Hofes von außen, das schillernde Spiel der Königin, der Kampf eines Protagonisten gegen den Störenfried. Aber es ist sozusagen nur noch in Fragmenten da. Die lügnerische Provokation Gasoeins ist ein verstecktes Experiment, bei dem er verführerisch auf die traditionelle Rolle der Königin setzt. Das heißt, der Vorstoß spekuliert im falschen Spiel mit dem Schema auf eine substantielle anstelle einer funktionalen Untreue. Das ist die neue Situation, die die Königin in Verwirrung stürzt. Sie möchte zwar durchaus, daß der kühlste Mann heißer ist als die heißeste Frau, aber das Erotische läßt sich nicht mehr über eine Aventüre in die Welt des Hofes einbringen. Es ist Winter, und die Treulosigkeit ist zu einer ganz persönlichen Angelegenheit geworden.
*** From the beginning of time, woman has seemed an uncanny being. Man honored but feared her. She was the black maw that had spat him forth and would devour him anew. Men, bonding together, invented culture as a defense against female nature. (. . . ) The identification of woman with nature is the most troubled and troubling term in this historical argument. Was it ever true? Can it still be true? Most feminist readers will disagree, but I think this identification not myth but reality.20
Wenn diese Behauptung Camille Paglias zutrifft, dann sind „personae“ nur Masken der Sexualität, nicht aber Rollen, die spielbar, d. h. auf Distanz zu bringen wären und mit denen man experimentieren könnte. An dieser Frage hängt die Überzeugungskraft ihres Buches. Wenn ich mich gegen die Identifikation und für eine ,mythische‘ Auffassung 20
Paglia [Anm. 1], S. 9.
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entscheide, dann aus der Einsicht heraus, daß die übereinanderkopierten Oppositionen nicht ,natürlich‘ sind, sondern sich der Interpretation, einer Interpretation auf der Basis unserer binären Begrifflichkeit verdanken. Interpretationen aber sind revidierbar, Rollen lassen sich umschreiben, das ganze System des dualistischen Ansatzes kann in Frage gestellt werden. Dies geschieht in den oben analysierten Texten über die Möglichkeit, die mythische Schematik zu durchbrechen und eine personale Erfahrung an ihre Stelle zu setzen, in der das Unintegrierbare nicht einem fatalen Dualismus geopfert, sondern in seiner bedingungslosen Widersprüchlichkeit stehen gelassen und angenommen wird.
4. Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram
Die Forschung zum Artusroman scheint einmal mehr auf einen Umbruch zuzusteuern. Seit geraumer Zeit zeichnet sich eine Tendenz ab, gegenüber dem bislang gängigen Zugriff vom strukturellen Konzept her die handelnden Figuren in ihrem Erkennen und Wollen stärker in den Vordergrund zu rücken. Christoph Huber hat die neue Einstellung mit ihrer Berücksichtigung der Figurenperspektive jüngst in einer beispielhaften Fallstudie so festgehalten: Das vormoderne, typus- und rollenbetonte Erzählen (. . . ) orientiert seine Erzählsyntax an formelhaften Zusammenhängen, die in einfachen oder komplexeren Strukturschemata, in präformierten Handlungsabläufen, vorgegeben sind und im Hinblick auf diese variiert werden. Das struktur- und rollenfixierte Erzählen hat aber auch die Möglichkeit, durch Brechung und Kombination von Rastern Abläufe neu zu gestalten; es kann mit Motivationen in der Figurenperspektive arbeiten und punktuell oder streckenweise in die Darstellung der Innenwelt der Gestalten eintauchen.1
Das ist das zurückhaltend-besonnene vorläufige Fazit dieser ,subjektiven‘ Umorientierung. Im Hintergrund steht eine Reihe von Vorstößen, die sich erheblich radikaler geben, indem sie vom ersten Teil des Huberschen Diktums meinen weitgehend absehen zu dürfen. Sie sind als eine nicht unbegreifliche Reaktion auf ein Unbehagen zu verstehen, das durch ein allzu schematisch durchgezogenes Strukturdenken ausgelöst worden ist, ein Denken, das seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts den literarhistorischen Umgang mit dem höfischen Roman des 12./13. Jahrhunderts bekanntlich entscheidend geprägt hat.2 So verständlich dieser antistrukturalistische Affekt aber auch ist, man sollte doch nicht undankbar vergessen, was die strukturalistische Wende seinerzeit an im Prinzip noch immer gültigen Einsichten brachte, indem sie zeigen konnte, daß der Sinn des chre´tienschen Romantyps sich nicht über die Analyse einer inneren Entwicklung der Helden, sondern über eine spezifische Schematik der Handlungsführung erschließt, oder genauer gesagt: daß das äußere Geschehen nicht aus einem inneren Prozeß fließt, sondern daß es einen inneren Prozeß meint. Es war dies damals eine Befreiungstat gegenüber der älteren literarhistorischen Schule, die in ihrem Verständnis 1
Christoph Huber, „Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei Konrad von Würzburg“, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hochund Spätmittelalters. FS Volker Mertens, hg. v. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 283–308, hier S. 288f. 2 Siehe zur Strukturdebatte Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. v. Friedrich Wolfzettel, unter Mitwirkung von Peter Ihring, Tübingen 1999, insbes. Wolfzettels Vorwort.
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schwankte zwischen einem etwas hilflosen Blick auf die offensichtlichen stofflich-motivlichen Klitterungen, in denen man eine eher ungeordnete, wenn auch nicht unbedingt kunstlose Fabulierlust sah, und einer entwicklungspsychologisch-moralischen Sicht auf den Helden. Gustav Ehrismann konnte – um die maßgebliche Literaturgeschichte der vorstrukturalistischen Zeit zu zitieren – zum ›Erec‹ sagen: „Die Komposition verläuft nicht nach einem genau durchdachten Plan, die einzelnen Teile sind in ihrem Werte nicht deutlich abgestuft.“3 Es werden Motive aus unterschiedlichen Quellen herangezogen, sei es, daß sie „aus bekannten Erzählungszügen umgebildet“ oder „dem allgemeinen Motivschatz entnommen“ sind4 – Ehrismann wird nicht müde, die einzelnen Elemente aufzulisten5 –, wobei „die Rücksicht auf die fabulierende Wirkung (. . . ) die Tragkraft der Grundfabel“ überwiege.6 Und doch wollte Ehrismann in diesem Erzählen „sittliche Kräfte“7 am Werk sehen; es gehe im ›Erec‹ um die Pflicht zu einem tätigen Leben: „Im Grunde liegt die moralische Schuld Erecs in seiner Unfähigkeit, die Triebe zu zügeln. Er kann aus Willensschwäche seine Lust nicht seiner Pflicht unterordnen. (. . . ) Seine Kämpfe bedeuten [dann] eine Läuterung vom Genießen zum Handeln.“8 – Es ist nicht zu verkennen, daß man es hierbei mit einer klassisch preußischen ›Erec‹Interpretation zu tun hat! Wenn man sich diese Charakterisierung und Beurteilung aus dem Jahre 1927 in Erinnerung ruft, wird deutlich, eine wie revolutionäre Tat es war, als Wilhelm Kellermann, Reto R. Bezzola und vor allem Hugo Kuhn entdeckten, daß die Geschichte von Erec und Enide keineswegs planlos dahin erzählt wird, daß der Chre´tiensche Erstling wie die nachfolgenden Varianten des damit geschaffenen Erzähltyps vielmehr einem wohlkalkulierten strukturellen Konzept gehorchen und daß es dieses Strukturkonzept ist, das den Schlüssel zum Verständnis liefert.9 Damit war ein wesentlich neuer Interpretationsansatz gewonnen, der das, was die Literaturgeschichtsschreibung der Ehrismann-Ära zum höfischen Roman zu sagen wußte, obsolet erscheinen ließ. Man sollte dies nicht gering achten, wenn man nunmehr, des ausgeleierten Umgangs mit der Struktursymbolik überdrüssig geworden, den damaligen Neuansatz am liebsten totaliter über Bord werfen möchte.10 Doch es ist ungeachtet aller Kritik an der Einsicht festzuhalten, daß man sich mit einem handlungslogischen Zugriff eine adäquate Interpretation des arthurischen Romans verbaut. Denn die Handlungslogik trägt offensichtlich nicht; die äußeren kausalen Zusammenhänge sind dürftig; die Psychologie der Figuren wird alles andere als schlüssig entwickelt. Unter diesem Aspekt muß das Geschehen tatsächlich als ein ord3
Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, Zweiter Teil, II,1, München 1927, S. 168. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 167f. 6 Ebd., S. 168. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 169. 9 Hugo Kuhn, „Erec“, in: Ders., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 21969, S. 133–150. Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 97ff. 10 Es sei an Elisabeth Schmids sympathisch-wilde Invektive erinnert: „Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung“, in: Wolfzettel [Anm. 2], S. 69–85.
4. Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht?
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nungsloses Fabulieren im Sinne von Ehrismann erscheinen. Um beim ›Erec‹ als Beispiel zu bleiben: Der Held folgt nach der Begegnung mit Yder und seinem bösen Zwerg zwar dem Beleidiger in der Absicht, die Schmach, die der Königin und ihm angetan worden ist, zu rächen. Aber wie dieses Ziel erreicht wird, das liegt völlig außerhalb dessen, was Erec hätte planen können. Es ist der Dichter, der die entsprechenden Situationen arrangiert, also den Kampf um den Sperber in Szene setzt und die Voraussetzungen dafür schafft, daß Erec in ihn eintreten kann, indem er ihn zu dem alten Edelmann führt, der ihm Waffen gibt und für dessen bezaubernde Tochter er dann den Schönheitspreis fordern kann. Immerhin aber gibt es da auf der subjektiven Seite wenigstens den Willen zur Rache, während es im zweiten Teil des Romans völlig undurchsichtig bleibt, was Erecs neue Aventürenfahrt, von ihm aus gesehen, für einen Sinn haben soll. Als er von Enide erfährt, daß sein Hof unzufrieden ist, weil er nur noch mit ihr im Bett liegt und sich nicht mehr um seine gesellschaftlichen Pflichten kümmert, tut er jedenfalls nicht das, was man erwarten würde, nämlich wieder Feste und Turniere veranstalten, sondern er zwingt Enide, mit ihm auszureiten, und kündigt ihr dabei jede Gemeinschaft auf; er untersagt ihr sogar zu sprechen. Es ist zwar, vor allem bei Chre´tien, von einer Prüfung Enides die Rede, aber das geht doch in merkwürdiger Weise am eigentlichen Problem vorbei, d. h., die ominöse Frage nach Enides Schuld bietet keine zureichende Erklärung; es ist letztlich das Handlungsschema, das die Krise und den zweiten Auszug verlangt. Das Paar wird dabei von Station zu Station geführt, ohne daß es kausallogische Zusammenhänge zwischen ihnen gäbe. Es sind disparate Setzungen durch den Autor, wohlkomponierte Setzungen freilich in Form von zwei Aventürentriaden, die sich bedeutungsvoll in ihren kontrastiven Akzentuierungen aufeinander beziehen.11 Für die Figuren zeigen sich diese Setzungen als avanture, d. h. als Ereignisse, die unvorhersehbar auf sie ,zukommen‘.12 Was, strukturell gesehen, sinnkonstituierende Planung ist, erscheint handlungsintern als Zufall.13 Die Handlung dieses Romantyps folgt also einem Muster auf der Metaebene, das die Aventürensequenzen mit ihrer Gliederung in einen doppelten Kursus und einer Krise in der Mitte steuert und ihnen eine symbolische Bedeutung verleiht: So lautete, formelhaft verkürzt, die These des strukturalistischen Ansatzes. Die These implizierte natürlich die Frage nach dem konkreten Sinn dieses leitenden Musters, also die Frage nach dem, was denn nun eigentlich in seinem Rahmen thematisch verhandelt werden soll, und da muß man denn doch einigermaßen enttäuscht feststellen, daß die alten moralistischen Ansätze in neuer Verkleidung wieder auftauchen. Der Ehrismannsche Kampf der Pflicht gegen die unbeherrschte Lust im ›Erec‹ heißt nun Normendiskussion zwischen individuellen und sozialen Ansprüchen und Werten. Das klingt niveauvoller, aber auch blutleerer. Ehrismann hatte immerhin noch deutlich ausgesprochen, daß es um Erotik ging. Die These von der Normendiskussion, die als Lösung nur einen Kompromiß anbieten kann, verwässert die erotische Problematik des Romans zu einer Art narrativem Konsensdiskurs. Das Ergebnis sind Tri11
Siehe Kuhn [Anm. 9], S. 138ff. Zum Begriff der avanture Elena Eberwein, Zur Deutung mittelalterlicher Existenz (Kölner Romanistische Arbeiten 7), Bonn, Köln 1933. 13 Vgl. meine Studie „Der Zufall: Theodizee und Fiktion“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 64–83, hier S. 75ff. 12
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vialitäten, die dann im akademischen Unterricht billig reproduziert werden konnten: Sex ja, aber bitte mit Maßen!14 Schon 1976 habe ich davor gewarnt, den strukturalistischen Ansatz in mechanischoberflächlicher Schematik erstarren zu lassen. In meiner Einleitung zum Kolloquium der Wolfram-Gesellschaft über ›Strukturalistische Methoden in der mediävistischen Literaturwissenschaft‹ steht zu lesen: Wenn man die lebendige Fülle eines Kunstwerkes auf seine Struktur reduziert, so bewegt man sich wie in einer ausgebrannten Stadt, von der nur die Grundrisse übriggeblieben sind. Wer darin sein Ziel sieht, dem kann man nur raten, sie möglichst schnell wieder mit Leben zu füllen, d. h. die Abstraktion zugunsten der konkreten vollen Gestalt wieder rückgängig zu machen.15
Man hat nicht darauf geachtet, sondern sich in der ausgebrannten Stadt der arthurischen Struktur sattsam eingerichtet und viel Leerlauf produziert. Erst jetzt, wo die Unzufriedenheit gegenüber dem Strukturdenken sich breit macht, setzen Versuche ein, die verlorene Lebendigkeit zurückzugewinnen. Dies, indem man Prozesse aufdeckt, die quer zur Struktur liegen. So sieht man die Figuren nicht mehr bloß als leere Rollenträger in einem narrativen Schema, sondern man versucht, sie als lebendige Akteure zu begreifen. Nicht daß man dabei wieder anachronistisch an Individuen im modernen Sinne denken würde, doch rechnet man mit Zwischenformen zwischen bloßer Rolle und voller Individualität. So hat man denn begonnen, insbesondere den Wahrnehmungs- und Erkenntnishorizont der Figuren zu bestimmen; man fragt nach möglichen Bewußtseinsvorgängen, und man wagt es, sie als Prozesse zu fassen, die auf personale Identität zielen. Wie aber verhalten sich diese ,subjektiven‘ Spielräume zum strukturellen Muster und seiner narrativen Leitfunktion? Kann beides zur Dekkung gebracht werden? Oder handelt es sich um prinzipiell widersprüchliche Darstellungsperspektiven? Man hat es, soweit ich sehe, bislang versäumt, diese Frage zu stellen. Und möglicherweise läßt sich auch gar keine generelle Antwort geben; es sind jedenfalls verschiedene solche Spielräume namhaft zu machen.16 14
So simpel wird dies natürlich in der Regel nicht gesagt, sondern man spricht von einem „harmonischen Ausgleich der Werte“, und selbst wenn man sensibel genug ist, zu erkennen, daß man damit zu flach interpretiert, lautet das Fazit dann doch so: „Der Roman ist der Weg Erecs durch ein Scheitern zur Selbstverwirklichung. Der Maßstab, an dem dies gemessen wird, ist ein höfischer Verhaltensentwurf. Ausgefüllt ist er nur, wenn Minne in der Partnerbeziehung sich ganz verwirklicht und die Aktivität des Ritters gewahrt wird, ohne daß eines das andere verkürzt, und beide Werte in ihrer Einfügung in die Gesellschaft gelebt werden – als Partnerschaft inmitten höfischer Geselligkeit und als Kampf und Herrschaft im sozialen Auftrag“ (Christoph Cormeau u. Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985, S. 191f.). Wer eine solche utopische Synthese des Unvereinbaren als Zielpunkt des arthurischen Romans ansetzt, beweist damit nur, daß er die Unbedingtheit des erotischen Anspruchs nicht wirklich ernst genommen hat. 15 Wolfram-Studien V (1979), S. 8–21, hier S. 15. 16 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht mir im folgenden nicht um die Frage nach der Entdeckung oder Neuentdeckung des Subjekts im Mittelalter, nicht um das Problem der historischen Ausbildung einer Subjektivität, die sich als autonome Instanz gegenüber einer Objektwelt etablieren und dabei in ihrer Selbstvergewisserung sich als Individualität erfahren und bejahen würde. Ich beziehe die Begriffe ,subjektiv‘ und ,Subjektivität‘ streng auf die Darstellung intellektueller, emotionaler oder allgemein: bewußtseinsmäßiger Vorgänge, durch die in den literarischen Figuren der hochhöfischen Romane Inneres zur Äußerung kommt. Der Gegen-
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Ich möchte im folgenden drei Hauptmöglichkeiten für den Ansatz von Subjektivität im Rahmen schematischer Handlungsführung erörtern: 1. Dilemmatische Situationen, die eine Figur zu Reflexion und Entscheidung drängen, 2. Erfahrungen, die eine Figur verarbeiten muß und über die sich Identität konstituieren kann, 3. Einsichten, die sich im Gedächtnis einer Figur niederschlagen und dadurch eine innere Kontinuität begründen.
1. Dilemmatische Situationen, die eine Figur zu Reflexion und Entscheidung drängen Sabine Heimann-Seelbach hat vor kurzem Fälle im höfischen Roman diskutiert, in denen Normenkonflikte von den Figuren intellektuell bewältigt werden müssen, d. h. in denen es für die handelnden Personen darum geht, in Konfliktsituationen durch Güterabwägung die ethisch richtige Entscheidung zu treffen.17 Es wird von ihnen also eine Reflexion mit einem sich anschließenden Urteil verlangt, das dann kausallogisch das Geschehen weitertreibt. Das Musterbeispiel ist Laudines Dilemma, in das sie gerät, als sie sich fragt, ob sie, um ihren Landesfrieden zu sichern, den Mörder ihres Gatten heiraten darf, ja soll. Heimann-Seelbach stützt das Recht Laudines zu diesem problematischen Schritt durch den Verweis auf das Prinzip der Güterabwägung und die dadurch legitimierte Wahl des kleineren Übels, wie dies in der zeitgenössischen Kanonistik diskutiert und propagiert worden ist.18 Es ist nun zwar zweifellos richtig, daß von Laudine eine subjektive Entscheidung verlangt und getroffen wird, aber es fragt sich doch, ob es sich wirklich um eine rein moraltheologische Abschätzung von Werten handelt. Das Verhalten Laudines hat die Interpreten nicht grundlos immer wieder irritiert. Es gibt hier einen Problemrest, der sich mit der Theorie der Güterabwägung nicht beseitigen läßt. Mitten in ihren Überlegungen, so heißt es bei Hartmann, war diu gewaltige Minne zur Stelle (vv. 2054f.).19 Sie tritt offensichtlich quer in den Prozeß der Güterabwägung ein, und man fragt sich, inwieweit Laudine von diesem Augenblick an die Güterabwägung nurmehr dazu nützt, um ihre Liebe zum Mörder ihres Mannes vor sich selbst zu rechtfertigen.20 Und die plötzliche Liebe kann natürlich nichts anderes als eine schemabedingte Setzung sein. Jedenfalls ist festzustellen, daß der subjektiven Erwägung zwar ein Spielraum eröffnet wird, daß sie aber etwas Spielerisch-Verspieltes hat und haben darf, weil es doch letztbegriff ist dabei nicht eine objektive Welt, sondern eine gewissermaßen ,objektive‘ Handlung, durch die die Figuren hindurchgeführt werden. Das Interesse konzentriert sich ganz auf dieses Verhältnis. 17 Sabine Heimann-Seelbach, „Calculus Minervae. Zum prudentiellen Experiment im Iwein Hartmanns von Aue“, Euphorion 95 (2001), S. 263–285. 18 Ebd., S. 268ff., unter Berufung auf Uta Störmer-Caysa, Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 14), Berlin, New York 1998. 19 Ich zitiere nach: Iwein, hg. Benecke, Lachmann. 20 Bei Chre´tien heißt es unverblümt: S’an dit ce, que ele voldroit (v. 1776): ,So legt sie sich die Sachen ihren Wünschen gemäß zurecht‘. Ich zitiere nach: Chre´tien de Troyes, Yvain, hg. v. Wendelin Foerster, Halle 41912.
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lich das Schema ist, das die Verbindung Laudines mit Yvain/Iwein verlangt. Der psychische Innenraum, in den man damit vorstößt, trägt seinen erzählerischen Reiz in sich selbst; handlungslogisch ist die innere Bewegung eher locker eingebunden. Sabine Heimann-Seelbach zieht dann weitere dilemmatische Situationen im ›Iwein‹ heran, die mit einer Güterabwägung gerade nicht zu lösen sind, so vor allem die Harpin-Episode (vv. 4869ff.).21 Iwein durchdenkt monologisch die Notsituation, in die er dadurch geraten ist, daß er gleichzeitig für Lunete einen Gerichtskampf ausfechten und einem bedrohten Burgherrn gegen einen Riesen helfen soll, und er erkennt verzweifelt, daß er sich in einem Konflikt befindet, bei dem eine Entscheidung aufgrund einer Werteabwägung nicht möglich ist. Eine Tragödie wäre unvermeidlich, wenn der Dichter die Verwicklung nicht dadurch löste, daß er den Riesen so rechtzeitig auftreten läßt, daß Iwein mit ihm kämpfen, ihn töten und darauf den Gerichtstermin noch einhalten kann. Einmal mehr dominiert also die Führung durch die Struktur gegenüber der subjektiven Bewegung einer Figur, ja, sie desavouiert diese geradezu. Weiter verschärft wird das Problem im Ginover-Exkurs, wo der König sich in einer dilemmatischen Situation falsch entscheidet (vv. 4530ff.) – falsch entscheiden muß, da nur dadurch die Handlung in Gang kommen, d. h. das vorgegebene Schema greifen kann.22 Schließlich entsteht eine dilemmatische Situation, als die beiden Freunde Gawein und Iwein, ohne sich zu erkennen, in einen Gerichtskampf verwickelt werden, durch den ein Erbstreit zwischen den beiden Töchtern des Grafen vom Schwarzen Dorn entschieden werden soll (vv. 6895ff.). Die beiden Kämpfer sind sich ebenbürtig, die Entscheidung steht auf Messers Schneide. Da erklärt die jüngere Tochter, die im Recht ist, daß sie, um den Tod eines der beiden so tapferen Ritter zu verhindern, bereit sei, auf ihre Ansprüche zu verzichten (vv. 7291ff.). Aber Artus kann nicht darauf eingehen. Der Vorstoß aus einer subjektiven Erwägung heraus greift also nicht, seine Funktion beschränkt sich darauf, den Edelmut der jüngeren Tochter herauszustellen. Eine Katastrophe wird nur dadurch verhindert, daß der Dichter es Nacht werden läßt, so daß der Kampf abgebrochen werden muß, was es den Freunden erlaubt, ihre Namen zu nennen, sich in die Arme zu fallen und sich gegenseitig den Sieg zuzuerkennen. Schließlich gelingt es dem König durch ein geschicktes Manöver, Recht und Unrecht zu scheiden und die Versöhnung herbeizuführen. Wieder hängt die Möglichkeit zur Lösung des Dilemmas wie in der HarpinEpisode an den vom Dichter gesetzten äußeren Gegebenheiten. Es sind also in den ›Iwein‹ immer wieder Reflexionen der handelnden Personen eingeschoben, die zwar subjektive Spielräume eröffnen, die aber in ihrer prononcierten Spannung zur Struktur gerade das Gegenteil von dem demonstrieren, was man erwarten würde, sie machen verstärkt deutlich, daß die Handlung letztlich allein dem narrativen Muster verpflichtet ist, und sie signalisieren dem Hörer/Leser, daß er sein Augenmerk darauf zu richten hat. Es ließe sich eine Vielzahl weiterer Situationen aus den höfischen Romanen des 12./13. Jahrhunderts heranziehen, in denen Entscheidungen in dem beschriebenen Sinne verlangt und damit Reflexionsspielräume eröffnet werden. Viele sind schon vor Heimann-Seelbach in anderen Zusammenhängen diskutiert worden, etwa unter der Frage 21 22
Heimann-Seelbach [Anm. 17], S. 273ff. Ebd., S. 276ff.
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nach der historischen Entwicklung der Idee des Gewissens, so vor allem von Dieter Kartschoke und Uta Störmer-Caysa.23 Ich verweise darauf und begnüge mich damit, noch eine besonders viel diskutierte Episode herauszuheben: Enite, der Erec unter Todesandrohung verboten hat, zu sprechen, sieht, vorausreitend, Gefahren auf ihn zukommen. In einem inneren Monolog wägt sie ab, ob sie das Verbot mißachten, Erec warnen und dabei ihr Leben riskieren soll oder ob es ratsamer wäre, zu gehorchen und damit Erec der Gefahr auszusetzen, überrascht und umgebracht zu werden (vv. 3145ff.).24 Da ihre Sorge um Erec das größere Gewicht hat als die Rücksicht auf ihr eigenes Leben, entscheidet sie sich für die erste Alternative.25 Die Frage, inwiefern Enite sozusagen Erecs Gewissen verkörpert, kann hier beiseite bleiben. Statt dessen ist wiederum zu überlegen, ob damit eine subjektive Entscheidung vorgenommen wird, die die Schematik des Handlungsverlaufs überspielt, ja zurückläßt. Man wird auch hier schwerlich übersehen können, daß der Reflexionsspielraum in einem vorgegebenen schematischen Rahmen eröffnet und das Resultat der Überlegungen zwar kausallogisch verknüpft wird, daß sie aber doch punktuell bleiben und in erster Linie dazu dienen, Enites bedingungslose Liebe zu ihrem Mann zu demonstrieren. Die Handlung läuft dem Stationen-Schema gemäß weiter, und die dilemmatische Situation wiederholt sich.26 Es zeigt sich also immer wieder aufs neue, wenngleich unter wechselnden Akzenten, daß arthurische Helden intellektuell gefordert werden können, wobei sich Einblicke in subjektives Geschehen eröffnen. Die Entscheidungen, die damit getroffen werden, durchbrechen aber das vorgegebene Schema nicht, sondern fügen sich ihm ein. Die Funktion besteht in erster Linie darin, die Figuren zu charakterisieren; es ist jedoch auch möglich, daß die subjektiven Prozesse darauf abzielen, die Planung durch den Dichter gegen die kleine Freiheit, die den Figuren gegeben ist, auszuspielen und so das narrative Konstrukt bewußt zu machen.
2. Erfahrungen, die eine Figur verarbeiten muß und über die sich Identität konstituieren kann Ich gehe im folgenden von einer Studie Edith Feistners aus, die nach der Identitätskonstitution der Helden bei Chre´tien und Hartmann fragt.27 Feistner erprobt ihren 23
Dieter Kartschoke, „Der epische Held auf dem Weg zu seinem Gewissen“, in: Wege in die Neuzeit, hg. v. Thomas Cramer, München 1988, S. 149–197; Störmer-Caysa [Anm. 18]. 24 Ich zitiere nach: Erec, hg. Leitzmann. 25 Kartschoke [Anm. 23], S. 168; Störmer-Caysa [Anm. 18], S. 48ff. 26 Erwähnung verdient noch ein weiterer Sonderfall: Iwein sieht einen Löwen mit einem Drachen kämpfen (vv. 3828ff.). Er fragt sich, auf welcher Seite er eingreifen soll, und aus der Überlegung heraus, daß der Löwe ein edles Tier sei, steht er diesem bei und gewinnt damit einen dankbaren und hilfreichen Begleiter. In diesem Fall wird unabhängig vom Handlungsschema von einer subjektiven Entscheidung des Helden her ein eigenständiger Erzählstrang entwickelt und mit der Leithandlung so verflochten, daß man sagen kann, es werde dadurch Iweins provisorische Identität als Löwenritter ins Bild gebracht. 27 Edith Feistner, „Bewußtlosigkeit und Bewußtsein. Zur Identitätskonstitution des Helden bei Chre´tien und Hartmann“, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 236 (1999), S. 241–264.
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Ansatz zunächst am ›Erec‹.28 Sie stellt fest, daß der Bewußtseinsstatus des Helden, insbesondere bei Hartmann, sich im Lauf der Handlung verändert. Erec hat über den ersten Handlungsweg in der Bewältigung der ihm gestellten Aufgabe problemlos-ungebrochen seine Identität als arthurischer Ritter gefunden. In der Krise von Karnant wird er sich dann unvermittelt eines Fehlverhaltens bewußt, aber dieses Bewußtsein bleibt zunächst in bloßer Negativität stecken. Indem er erneut auf Aventüre auszieht, bricht er mit seiner im ersten Kursus gewonnenen Identität, ohne diesen Verlust jedoch positivieren zu können. Das wird ihm offenbar selbst klar, denn bei der Begegnung mit dem Artushof nach der dritten Aventiure des zweiten Weges ist er sich dessen bewußt, daß er noch nicht artuswürdig, d. h., daß er noch nicht an seinem Ziel ist, da er erst noch über die bloße Negativierung seines Fehlverhaltens hinauskommen muß. Der neue Status wird dann in der Wende von der Bewußtlosigkeit nach dem Cadoc-Kampf zum Wiedererwachen auf Limors manifest, und so reflektiert Erec denn auch sein fragwürdiges Kampfverhalten nach dem sich anschließenden zweiten Guivreizkampf kritisch: Es sei töricht, ja unmaˆze gewesen, gegen alle anzurennen, die ihm in den Weg gekommen seien (vv. 7012ff.). Damit, so sagt Feistner, hole Erec sich „im wahrsten Sinn des Wortes selbst ein“.29 Und sie fügt hinzu: Wenn in Hartmanns Explikation der Held vom Zeitpunkt seines Erwachens an die eigene Geschichte einholt, dann ist damit auch Chre´tiens Struktursymbolik komplett dechiffriert: Bei Hartmann vermittelt sich der Sinnbezug der aneinandergereihten Stationen insgesamt nicht mehr über die Struktursymbolik als solche, sondern über Erecs Bewußtseinsstatus, der als Interpretament zum Bestandteil der Handlung selbst geworden ist und so auch thematisch die Bewährung des Helden im Zusammenspiel von Minne und Kampf entscheidend überformt.30
Der Held verfügt nun durch die Begegnung mit sich selbst über seine Geschichte, er hat bewußt seine wahre Identität erreicht. Das demonstriere dann abschließend die Joie de la curt-Aventüre, auf die Erec in freier Entscheidung zugehe. In Mabonagrin erkenne er sein Spiegelbild, und sein Sieg über ihn bedeute deshalb auch den Sieg über sich selbst. Erec kehre somit aus dem zweiten Kursus „mit der Entdeckung seiner eigenen Geschichte zurück“.31 Feistner erschließt also beim Helden aus punktuellen Indizien einen durchgängigen Bewußtseinsprozeß, in den Hartmann die Chre´tiensche Struktursymbolik umgesetzt habe. Man faßt ihn freilich immer nur an den Umbruchspunkten, eine Bewußtseinskontinuität kann man bestenfalls hypothetisch unterstellen. Doch auch wenn man bereit ist mitzugehen, indem man annimmt, daß der Dichter gerade dies von uns verlangt, so bleibt doch die Frage offen, was denn das neue Bewußtsein, zu dem Erec erwacht, konkret ausmacht. Feistner muß das Problem selbst gesehen haben, denn sie schließt einen zweiten Argumentationsgang an, in dem sie Erecs inneren Weg als Konflikt zwischen zwei Identitätsformen zu verstehen sucht, einer gesellschaftsbezogenen Identität, die durch den ersten Kursus erreicht wird, und einer zweiten, die ihm durch die Begeg28
Ich beschränke mich auf ihre ›Erec‹-Interpretation, da die sich anschließende ›Iwein‹-Analyse analog vorgeht, wobei das Ergebnis aber vielleicht doch nicht ganz so überzeugend ausfällt. 29 Feistner [Anm. 27], S. 248. 30 Ebd., S. 249. 31 Ebd.
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nung mit Enite zuwächst und durch die die Gesellschaft ausgeschlossen wird. Die Lösung heißt dann aber doch wieder Balance, oder nunmehr bewußtseinsbezogen ausgedrückt: Selbstkontrolle im Hinblick auf die Rolle in der Gesellschaft.32 Damit steht man einmal mehr bei der traditionellen Vorstellung eines Konflikts zwischen personaler Liebe und sozialer Einbindung, nur daß er jetzt als Identitätserfahrung und -konstitution subjektiviert erscheint. Man wird Feistner unumwunden zustimmen, wenn sie sagt, daß Erec aus dem zweiten Kursus seine Geschichte mitbringe, und er erzählt sie ja dann auch am Artushof. Und es kann dies durchaus eine Geschichte seines Bewußtseins sein, aber dieses Bewußtsein löst die Struktur nicht ab, indem sie sie „dechiffriert“, sondern es bleibt in Spannung auf sie bezogen, und dies schließlich insbesondere dadurch, daß es sie am Ende übersteigt. Indem man innerhalb der Erzählung erzählt, vermag man zu enthüllen, daß das narrative Schema, dem die Handlung sich fügt, nur ein konstruiertes Happy End bieten kann, daß also über strukturelle Arrangements Probleme nicht zu lösen sind. Im Erzählen werden die Widersprüche bewußt gehalten, die durch die Linienführung des Handlungsschemas scheinbar überwunden sind. Die Unlösbarkeit des ›Erec‹-Problems springt nirgends so deutlich in die Augen wie bei dem Dilemma, durch das die letzte Station des Aventürenweges, die Joie de la curt-Episode, geprägt ist.33 Auch hier ist es zwar der Zufall, der den Helden zur Aventüre führt, der Zufall, daß man den falschen Weg einschlägt, aber Erec versteht diese Aventüre in besonderer Weise als die seine, er nimmt sie nicht einfach an, wie die bisherigen Aventüren, sondern er geht emphatisch auf sie zu und läßt sich durch keinen noch so gut gemeinten Rat davon abbringen. In dem Ritter, der mit seiner amie, eingeschlossen in einem zauberischen Baumgarten, nur seiner Liebe lebt, spiegelt sich, wie man immer wieder hervorgehoben hat, Erecs eigene Situation. Auf der einen Seite ist diese Liebe von paradiesischer Idealität, auf der andern ist sie gesellschaftsfeindlichmörderisch. Indem Erec den Ritter im Kampf besiegt, befreit er das Paar aus der Isolation, zu der es sich selbst verpflichtet hat, und gibt es der Gesellschaft und der Gesellschaft damit die vreude zurück, aber er zerstört zugleich das Liebesparadies. Und es ist die Erzählung des Besiegten, die nach dem Kampf das Dilemmatische der ganzen Konstellation aufdeckt und die dann durchaus als Schlüssel zu Erecs eigenem Weg anzusehen ist, wenn er wiederum seine Geschichte am Artushof erzählt. Vom Handlungsschema her gesehen, bringt die schlichte physische Besiegung des Minneritters die äußere Lösung, im Bewußtsein aber bleibt die Aporie, die durch diese Aventüre aufgedeckt wird. Was bewußtseinsmäßig geschieht, desavouiert das narrative Konstrukt.34 Man kann also sagen, daß Subjektivität unter diesem Aspekt darin besteht, daß der Held sich seiner eigenen Geschichte bewußt wird, und zwar einer Geschichte, deren Problem, auch wenn das Schema eine Lösung präsentiert, nicht lösbar ist, die vielmehr allein im Bewußtsein der Spannung zwischen Schema und Problem seine Erfüllung findet. 32
Ebd., S. 251f. Das Folgende findet sich detaillierter dargestellt in meiner Studie „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 223– 238. 34 Grundsätzlich zum aporetischen Charakter des höfischen Romans mein Essay „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 172–184. 33
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3. Einsichten, die sich im Gedächtnis niederschlagen und dadurch eine innere Kontinuität begründen Etwa gleichzeitig mit Edith Feistners Aufsatz ist eine Studie Klaus Ridders erschienen, die ebenfalls die Frage nach dem Bewußtsein des Helden stellt; sie gilt bei ihm Wolframs ›Parzival‹.35 Ridder faßt Parzivals Subjektivität über die schmerzlichen Erinnerungen, durch die sich seine Erfahrungen über die disparaten Episoden hinweg miteinander verklammern, so daß sich immer wieder übergreifende bewußtseinsmäßige Kontinuitäten herstellen. Parzival hält nach seinem Auszug die Lehren der Mutter bis zur Begegnung mit Gurnemanz als Lebenshilfen im Gedächtnis fest. Von dort an werden sie durch die neuen höfischen Verhaltensnormen abgelöst, die Gurnemanz ihm vermittelt. Aber die Auseinandersetzung mit der Mutter verlagert sich, so sagt Ridder, nach innen.36 Im weiteren führt eine Erinnerungslinie von Jeschute zu Liaze und von ihr zu Condwiramurs. Und wenn Parzival dann von Pelrapeire aufbricht mit dem Ziel, die Mutter wiederzusehen und Aventüren zu suchen, wird die Erinnerung an die geliebte Frau so stark, daß er die Orientierung verliert und das Pferd die Führung übernehmen muß: Es bringt ihn zur Gralsburg, und das heißt, zur Begegnung mit der Familie der Mutter. Die Blutstropfen im Schnee am Plimizoel erscheinen dann sozusagen als die objektivierte Präsenz des schmerzhaft Erinnerten. Es verflicht sich dabei der Schmerz über die Trennung von der geliebten Frau mit jener noˆt, in die Parzival durch sein Versagen auf der Gralsburg geraten ist. Und es ist dann diese doppelte noˆt, die ihn weitertreibt in der Hoffnung, truˆrens erloˆst zu werden (vv. 296,5ff.; 329,18).37 Aber es folgt zunächst ein neuer harter Schlag, die Verfluchung durch Cundrie, was ihn zur Abwendung von Gott verführt und ihn damit in die tiefste Depression stürzt. Trevrizent öffnet ihm dann zwar über die schmerzliche Erinnerung seiner Verfehlungen die Einsicht in die Familienverflechtungen, ja in die heilsgeschichtlichen Zusammenhänge seiner Schuld. Heilung aber bringt erst die überraschende Berufung zum Gral, die sein Versagen löscht, und die Wiederbegegnung mit Condwiramurs, die bedeutungsträchtig auf jener Wiese stattfindet, auf der er einst in den Anblick der Blutstropfen versunken war. Die Identitätskonstitution vollzieht sich damit nicht nur, wie Ridder sagt, als ein Sich-Hineinarbeiten in die leidvolle Erinnerung, sondern über ein Erinnern, das sich mehrschichtig akkumuliert. Was man in Hartmanns ›Erec‹ nicht ohne Mühe aus punktuellen Durchblicken herausholen, ja rekonstruieren muß: eine Kontinuität im Bewußtsein des Helden bis zu jenem Punkt, an dem er dann seine Geschichte ,hat‘, das drängt sich im ›Parzival‹ also sehr viel nachdrücklicher auf, wenngleich ebenfalls Brüche zu überspielen sind: Es ergibt sich eine Erinnerungslinie, in der das Bewußtsein des Helden die arthurische Schematik übergreift und lineare Zusammenhänge subjektiver Art herstellt. Und darüber, daß es nun sehr prägnant auch um Identitätskonstitution über Selbstverlust und Selbstgewinn geht, besteht wohl Konsens.
35
Klaus Ridder, „Parzivals schmerzliche Erinnerung“, LiLi 114 (1999), S. 21–41. Ebd., S. 28. 37 Ebd., S. 35. – Ich zitiere nach: Parzival, hg. Lachmann. 36
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Wie beim ›Erec‹ wird man aber wiederum den Bewußtseinsprozeß auf die Frage hin zu analysieren haben, was dabei, sei es im Zusammenspiel mit dem strukturellen Konzept oder sei es quer zu ihm, von den Problemen bewältigt zu werden vermag, die den Helden bedrängen. Ist das, was die Führung über das Strukturschema bedeutet, in Deckung zu bringen mit dem, was der Held subjektiv erfährt? Oder ist es gar so, daß die Subjektivität des Helden das Strukturschema neu begründet? Dabei ist zu bedenken, daß Parzival, anders als Erec oder Iwein, nicht als idealtypisch leere Figur ins arthurische Schema eintritt, sondern daß er zu dem betreffenden Zeitpunkt, bei der ersten Begegnung mit dem Artushof, schon Erfahrungen hinter sich hat, die ihm gewissermaßen schemafrei zugefallen sind und die ihm eine bestimmte Prädisposition verschaffen, so daß zu fragen ist, was geschieht, wenn er, in derart spezifischer Weise vorgeprägt, durch den traditionellen doppelten Kursus und seine Krise hindurchgeführt wird. Wie also verhalten sich die Vorgeschichte und die Vorprägung zum traditionellen Schema? Ist der Bezug so angelegt, daß die subjektiven Vorgaben beim Helden zu Spannungen mit der narrativen Konstruktion führen, ja diese herausfordern? Oder vermögen sie sie umzuformulieren und mit einem neuen Sinn zu erfüllen? Die offensichtlich spezifische subjektive Disposition Parzivals hat Joachim Bumke veranlaßt, sie zum Leitgedanken einer breit angelegten Studie ›Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ,Parzival‘‹ zu machen.38 Bumke fragt nach den besonderen Möglichkeiten des Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens, die für Parzival aufgrund seiner von der höfischen Kultur abgeschnittenen Kindheit anzusetzen sind, und er tut dies, indem er diese spezifische Disposition in den Bezugshorizont der mittelalterlichen Erkenntnistheorie einzeichnet. Es sind dieser Theorie nach zwei Formen von Erkenntnis zu unterscheiden. Zum einen die rationale Erfassung der Erscheinungen und ihrer Bedeutung, und dies insbesondere im Sinne der Augustinischen Zeichenlehre. Ihr zufolge spielen neben natürlichen Zeichen, die sich von selbst verstehen – Rauch etwa als Zeichen dafür, daß es ein Feuer gibt –, die wichtigere Rolle die künstlichen Zeichen: Worte, Gesten, deren Bedeutung sich aber nicht von selbst versteht, die man vielmehr lernen muß. Dieser rationalen Semiotik steht die Erkenntnisform der Visio gegenüber, durch die es möglich ist, in augenblickhafter Schau Einsichten zu gewinnen, die die Vernunfterkenntnis durchbrechen. Es handelt sich um ein inneres, kontemplatives Erkennen, wie es insbesondere für die mystische Gotteserfahrung charakteristisch ist. Unter diesem zweiten Aspekt ist, nach Bumke, die Blutstropfenepisode zu sehen. Für Parzival erscheine im roten Blut auf dem weißen Schnee nicht nur das Antlitz seiner Frau, sondern über das Blut stelle sich zugleich eine ahnungsvolle Beziehung her zwischen seiner Liebe und der blutenden Lanze auf der Gralsburg. Und darin offenbare sich ihm „das Doppelziel seines Lebens“ als Weg zurück zum Gral und als Wiedergewinn der geliebten Frau.39 Es mag dahingestellt bleiben, ob es sich wirklich erlaubt, eine Form religiöser Erfahrung wie die Visio ohne weiteres auf einen literarisch inszenierten Erkenntnisakt zu übertragen,40 jedenfalls aber hat Bumke richtig gesehen, daß Parzival in der Bluts38
Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Hermaea NF 94), Tübingen 2001. 39 Ebd., S. 49. 40 Burkhard Hasebrink hat in seiner Studie „Gawans Mantel. Effekte der Evidenz in der Bluts-
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tropfenszene Einsicht in rational nicht faßbare Zusammenhänge gewinnt. Der Blick auf die Blutstropfen reaktiviert in ihm verschiedene Erinnerungsstränge, und sie verbinden sich zu einem Bezugsgeflecht, das ihn so fesselt, daß er in eine Art Trancezustand verfällt, aus dem er auch bei der Abwehr der Angriffe der Artusritter Segramors und Keie kaum heraustritt – er weiß hinterher nicht einmal mehr, daß er die beiden von den Pferden gestochen hat. Ganz anders stellte sich die Erkenntnissituation dar, als Parzival sich den seltsamen Vorgängen auf der Gralsburg gegenübersah: der König, leidend auf einem Liegebett, die wunderbare Gralsprozession, die blutende Lanze, das Speisewunder, die Überreichung von Mantel und Schwert usw. Parzival hätte all dies, so Bumke, als Zeichen im Sinne der Augustinischen Semiotik sehen und deuten sollen. Daß er dazu nicht in der Lage war und sich deshalb falsch verhalten hat, beruhe darauf, daß ihm die Fähigkeit zu rationalem Erkennen fehlte, und Bumke meint, daß dies auf ein Erziehungsmanko zurückzuführen sei: Seine Mutter habe ihm durch ihren Rückzug in die Wildnis die Möglichkeit zur Einübung diskursiven Denkens genommen, und wenn er von dort aufbreche, dann habe er noch den Geist eines Kleinkindes, und deshalb versage er dann auch auf der Gralsburg. Die Erklärung dafür, daß Parzival die Erlösungsfrage nicht stellt, läge also in seiner, wie Bumke sagt, „habituellen Wahrnehmungsschwäche“, die auf einer mangelhaften Erziehung beruhe.41 Das würde bedeuten, daß das arthurische Schema mit seiner Krise ganz in den Dienst eines neuen, aus der Jugendgeschichte des Helden entwickelten spezifischen Problems gestellt worden wäre. Gegenüber dieser These stellen sich Bedenken ein: 1. Parzival mag sich bei seinem Ausritt aus der Wildnis reichlich kindisch benehmen, wenn er auf den Rat seiner Mutter hin, dunkle Furten zu meiden, sich nicht traut, einen seichten, von Gräsern überschatteten Bach zu durchreiten, oder wenn er sich gegenüber Jeschute, wieder in falscher Befolgung eines der mütterlichen Ratschläge, unsinnig und flegelhaft benimmt, aber man wird schwerlich unterstellen dürfen, daß der Held nach der Erziehung durch Gurnemanz, und nachdem er beim Kampf um Pelrapeire vollendete höfische Ritterlichkeit an den Tag gelegt hat, immer noch auf der geistigen Stufe eines Kleinkindes gestanden und deshalb auf der Gralsburg nicht begriffen habe, worum es ging.42 2. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß Parzival mit einem Erziehungsmanko zu kämpfen hat und daß dies seinen Weg entscheidend mitprägt, aber ebensowenig wird man übersehen dürfen, daß dieser Weg zunächst so angelegt ist, daß es dem Helden gelingt, dieses Manko auszulöschen. Was er aufgrund seiner unzureichenden Erziehung falsch macht, vermag er in einem stufenweisen Lernprozeß zu durchschauen und seine Fehler ohne Rest wieder in Ordnung zu bringen. Der letzte Akt dieser Wiedergutmachungsserie vollzieht sich bei der zweiten Begegnung mit dem Artushof, und die Aufnahme in die Tafelrunde bedeutet die Vollendung dieses Prozesses. Der Einbruch der Krise steht tropfenszene des ,Parzival‘“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann, Anne Simon (Trends in Medieval Philology 7), Berlin, New York 2005, S. 237–247, berechtigte Bedenken erhoben. 41 Bumke [Anm. 38], S. 77. 42 Auch Manfred Günter Scholz hat dies in seiner Rezension kritisch angemerkt, Arbitrium 2002, S. 19–24, hier S. 21.
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quer dazu. Ihre Ursache kann, das wird gerade durch den gelingenden Weg zum Artusrittertum demonstriert, nicht in der Kindheitsgeschichte liegen. 3. Auf Munsalvaesche sieht Parzival sich rätselhaften Vorgängen gegenüber. Es ist schwer vorstellbar, daß er sie durch diskursives Denken und mit Hilfe Augustinischer Semiotik hätte durchdringen können, ja, es geht überhaupt nicht darum, eine verborgene Bedeutung zu entschlüsseln, sondern darum, nach der Bedeutung dessen, was vorgeht, zu fragen. Und der Held sieht sich auch durchaus dazu gedrängt, und wenn er schweigt, dann nicht aus mangelnder Einsicht, sondern weil er einer höfischen Regel folgt, d. h., er spielt die Möglichkeiten der dilemmatischen Situation wohlüberlegt durch und entschließt sich, nicht zu fragen, wobei er im übrigen damit rechnet, daß sich später eine Gelegenheit ergeben werde, sich nach dem Sinn der eigentümlichen Vorgänge zu erkundigen. Welche rationale Überlegung hätte ihn dahin führen können zu erkennen, daß es bei der Frage auf den einen entscheidenden Moment ankommt? Er begeht also gar keinen Denkfehler, vielmehr tut er das, was ihm nach bestem Wissen richtig erscheint. 4. Wenn die ganze Problematik des Romans sich darin erschöpft, daß der Held falsch erzogen worden ist, so daß er mit einer Wahrnehmungsschwäche durch das Leben gehen muß, dann macht die Einbettung des Geschehens in die religiöse Dimension der Erbsünde und der Gnade wenig Sinn. Denn hätte Herzeloyde nicht pädagogisch versagt, wäre diese Problematik gar nicht aufgebrochen. Polemisch zugespitzt, müßte die Botschaft des Romans unter dieser Prämisse lauten: Erzieht eure Kinder zu rationalen Denkern, dann erübrigen sich alle Fragen nach Schuld und Erlösung. Bumke sieht natürlich das Problem, und so muß er denn die falsche Erziehung doch „fast als Glücksfall“ ansehen.43 Aber das ist eine eher mutwillige felix culpa-Volte. Es erweist sich also zwar als fruchtbar, aufzuzeigen, inwiefern sich in Wolframs Roman eine innere Dimension eröffnet, wobei sich Bewußtseinszusammenhänge konstituieren – über Leiderfahrungen insbesondere –, aber man geht einen Schritt zu weit, wenn man eine spezifische, und das heißt letztlich, eine individuell an bestimmten Lebensumständen hängende Prädisposition des Helden ansetzt, um von ihr her eine eigene Handlungslogik zu entwickeln, über die das Problem des Romans aufzuschließen wäre. Man fiele damit im Prinzip wieder auf eine vorstrukturalistische, individualpsychologische Position zurück. Die Frage, weshalb Parzival nicht versteht, was er sieht und hört, weshalb er nicht begreift, was ihm geschieht, muß anders angegangen werden. Parzivals Subjektivität, nun wieder verstanden als Bewußtseinskontinuität schmerzlicher Erinnerungen, beruht entscheidend auf Erfahrungen, in die er aufgrund der Handlungsführung gestoßen wird, die durch das narrative Schema vorgezeichnet ist. Das typische arthurische Muster ist nicht zu verkennen. Es setzt mit dem Auftritt des Helden am Artushof ein und wird dann über die charakteristischen Stationen durchgezogen: der Kampf mit dem Provokateur, der Gewinn einer Frau, die Trennung von ihr, die Krise nach der Wiederbegegnung mit dem Artushof, und dann – freilich nur bruchstückhaft sichtbar – ein zweiter Weg, der in harmonisierender Linienführung die Lösung bringt. Das sind die üblichen strukturlogisch gesetzten, kausallogisch nicht oder schwach verbundenen Stationen, die das Schema vorgibt und durch die der Held hindurchzugehen hat, auch wenn dies zum Teil sehr wohl mit seinem Willen geschieht. 43
Bumke [Anm. 38], S. 105.
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Was nun das Verhältnis von Subjektivität und Handlungsschema betrifft, so stellt sich die Frage, ob Parzival zu einer mit der Leiderfahrung verbundenen subjektiven Einsicht gelangt, die für ihn – und für uns – den äußeren Weg als inneren Prozeß verständlich machen würde. Hier liegt das Spezifikum des Erkenntnisproblems im Gralsroman. Was Parzival schmerzt, die doppelte noˆt, die Trennung von der geliebten Frau und das Fehlverhalten auf der Gralsburg und dann die Verfluchung durch Cundrie – das alles ist zwar schematisch vorprogrammiert, doch da Parzival noch viel weniger als Erec eine bloße Rollenfigur darstellt, die die Aventürenstationen entlanggeführt wird, sondern mit einem Bewußtsein ausgestattet ist, muß er zu durchdringen versuchen, was ihm geschieht. Er kann dabei jedoch nicht – wie wir – etwas vom Sinn und Zweck des arthurischen Schemas wissen. Was ihm begegnet, muß ihm deshalb unverständlich sein und muß ihm zur Qual werden, und so bleibt ihm nichts, als ein unbestimmtes Schicksal anzuklagen, das ihn unverschuldet in Schwierigkeiten gebracht hat, ja letztlich Gott die Schuld zuzuschieben. Denn unter den Voraussetzungen, unter denen er gehandelt hat, muß er davon überzeugt sein, alles richtig gemacht zu haben: Es muß ihm richtig erscheinen, daß er von Pelrapeire aus seine Mutter aufsuchen und auf Aventürenfahrt gehen wollte, und es muß ihm richtig erscheinen, daß er auf der Gralsburg geschwiegen hat, und es muß ihm folglich auch richtig erscheinen, daß man ihn als vollendeten Ritter in die Tafelrunde aufnimmt. Und wenn er sich auf seinem Weg bis dahin doch hatte etwas zuschulden kommen lassen und er sich dessen bewußt geworden war, hat er sich, wie gesagt, redlich bemüht, seine Fehler wiedergutzumachen: so hat er seine rabiate Kindlichkeit abgelegt, er hat höfisches Verhalten gelernt, er hat Jeschute, die seinetwegen einen Leidensweg gehen mußte, mit ihrem Gatten versöhnt, und er blieb fest entschlossen, Keie für seine Untaten an Cunneware und Antanor zu bestrafen. Also: durchaus gelingende Erkenntnis und Bewältigung der dabei aufgedeckten Probleme in all diesen Fällen – wie sollte er da verstehen können, weshalb er am Ende dieses Weges doch von Cundrie verflucht wird? Es ist ihm dies deshalb nicht möglich, weil die Gründe dafür außerhalb jenes Zusammenhangs liegen, den Parzival mit seiner Vernunft durchschauen und mit seinem Wollen steuern kann: sie liegen im Strukturschema, d. h. in der Willkür des Dichters. Hier faßt man nun den kritischen Punkt der hier zur Debatte stehenden subjektiven Wende, die Wolfram wohl erstmals mit aller Deutlichkeit und in ganzer Konsequenz vollzogen hat: Im Prinzip liegt dieser kritische Punkt auch hier im Widerspruch zwischen objektiver Struktur und subjektivem Bewußtsein. Je weniger man einen arthurischen Helden als Rollenfigur in einem Schema behandelt, je mehr man ihn auch mit Bewußtsein ausstattet, desto mehr wird er zwangsläufig bewußt mit dem konfrontiert, was ihm von vornherein verschlossen bleiben muß: mit der von der Struktur bestimmten Handlungsführung. Die Folge davon ist, daß der Held an dieser Diskrepanz leidet, denn es gibt keine Vermittlung zwischen Struktur und Bewußtsein. Das wird besonders augenfällig am inneren Widerspruch, der Parzivals zweiten Weg prägt: Parzival will den Gral wiederfinden, und dies obschon die Regel gilt – und der Held weiß davon –, daß man ihn willentlich gar nicht finden kann. Anders gesagt: Das Erreichen des Ziels, des Grals, ist eine Position im Schema; sie liegt als solche nicht in der Verfügung des Helden. Und aus demselben Grund darf man auch nicht fragen, weshalb Parzival auf der Gralsburg versagt hat, sondern die Frage muß lauten: Was bedeutet es, daß er versagt
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hat, und die Bedeutung ergibt sich natürlich aus der Position der Episode im strukturellen Schema. Der Zugang dazu ist, wie gesagt, dem Helden prinzipiell versperrt. Und doch gibt es eine Möglichkeit, diese Sperre zu durchbrechen, und dazu nützt Wolfram jene zweite Erkenntnismöglichkeit, von der Bumke gesprochen hat: die unvermittelte Schau von Zusammenhängen, die rational nicht faßbar unter der Oberfläche der Erscheinungen verborgen liegen. Parzival schaut in der Blutstropfenszene den Zusammenhang zwischen dem Blutbild seiner Liebe und den Blutstropfen auf der Gralslanze. Er ahnt unbewußt, daß es hier eine Verbindung gibt, obschon er sie nicht versteht. Doch die Ahnung von dieser Verbindung, die doppelte noˆt, treibt ihn weiter dem doppelten Ziel entgegen, zur Suche nach dem Gral und in der Erwartung einer Wiederbegegnung mit Condwiramurs. Es ist ein rational aussichtsloses, verzweiflungsvolles Unternehmen, das den Helden über Jahre hin ins Ungewisse führt, bis er seine Verzweiflung schließlich seinem Onkel Trevrizent offenbart, der ihm den nur geahnten Zusammenhang zu erklären versucht. Er beruht auf drei miteinander verflochtenen Verfehlungen, von denen Parzival nur das ihm unbegreifliche Versagen auf der Gralsburg kennt; von den beiden andern wußte er bislang nichts: Es ist der Tod seiner Mutter, die daran starb, daß er sie verlassen hat, und es ist die Ermordung des Roten Ritters, der ein Verwandter von ihm war. Aber wie hängt das zusammen? Über einen Hintergrund, der nun ebenfalls aufgedeckt wird. Da ist Anfortas, der Bruder der am Trennungsschmerz gestorbenen Herzeloyde, der mit einer unheilbaren Wunde an den Geschlechtsteilen infolge einer Liebesaventüre unsägliche Schmerzen leidet und auf den Erlöser wartet. Und das erinnert an all jene im näheren oder weiteren Umkreis, die ebenfalls in das Doppelschicksal von Mord und Eros verflochten sind: Gahmuret, ebenso dessen Vater und Großvater und sein Bruder, die Kusine Sigune mit dem toten Geliebten im Schoß, auch Cidegast, Isenhart, und wie sie alle heißen. Trevrizent bindet diese von Unheil gezeichnete Conditio humana an die Erbsünde, genauer an den Urmord, zurück, an die Kainstat, bei deren Blutvergießen die jungfräuliche Erde für immer befleckt worden ist. Daß Parzival nicht fragte, bedeutet, daß ihm der Zugang zu dieser erotisch-kämpferisch verfallenen Welt verschlossen war. Er weiß nichts von ihr, aber er hat seine Wurzeln in ihr, und er gerät unwillentlich in sie hinein. Eine erste Ahnung davon hat er in der Blutstropfenszene gewonnen, aber wenn Trevrizent nun die Zusammenhänge aufdeckt, so ist zwar vieles erklärt, zugleich jedoch alles blockiert. Parzival kann seine Fehler mehr oder weniger reuig zur Kenntnis nehmen, doch was er nun weiß, vermag nicht wirklich zu einer Erfahrung zu werden, die ihm weiterhelfen würde. Er bleibt sich gleich.44 Er zieht von neuem aus, in der Absicht, den Weg zum Gral zu finden, obschon man ihm gesagt hat, daß das nicht gelingen könne, und er reitet wie eh und je kämpfend durch die Welt, immer in Gefahr, wieder eine Kainstat zu tun, indem er sich erneut unwissentlich in Verwandtenkämpfe verwikkelt, in einen Kampf mit seinem Freund und Verwandten Gawan und in einen Kampf mit seinem Halbbruder Feirefiz. Der erste geht nur zufällig nicht tragisch aus, beim
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Dieser These, daß die Einkehr bei Trevrizent keine eigentliche Wende bedeutet – ich habe sie in „Parzival ohne Illusionen“, in: Haug, Brechungen, S. 125–149, vorgetragen –, hat auch Bumke [Anm. 38], S. 88ff., zugestimmt.
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zweiten greift Gott im kritischen Moment ein. Die durch das Schema vorgegebene positive Lösung wird ermöglicht durch göttliche Gnade. Wolfram nützt also die Diskrepanz zwischen dem Bewußtsein des Helden und der Führung des Geschehens durch das Strukturschema, um die Erkenntnis des Helden gegenüber einer Bedeutungssetzung scheitern zu lassen, die ihm verschlossen ist. Parzival kann den Weg nicht verstehen, den er geführt wird, und auch wenn er das Ziel kennt, ist es doch seinem Wollen entzogen. Gerade dies aber erscheint als das Thema, auf das hin die Struktur durchsichtig wird. Das heißt: Was zwischen Subjektivität und Schema ausgespielt wird, erweist sich letztlich als das aporetische Verhältnis von menschlichem Wollen und göttlicher Gnade. Es ist nicht auflösbar und kann doch von der Gnade her aufgehoben werden. Parzival wird schließlich zum Gral berufen, und er darf die Erlösungsfrage stellen. Hat er den Gral also erzwungen, wie Trevrizent am Ende verblüfft zu glauben scheint? Sicherlich nicht. Seine tiefe Resignation nach dem Gawankampf steht dagegen. Er hat eingesehen, daß die Gnade nicht verfügbar ist. Der geniale Gedanke Wolframs bestand darin, diese Unverfügbarkeit über das Strukturschema darzustellen, das zwar dem Dichter zur Verfügung steht, das dem Helden aber unverständlich bleibt und an dem sein Bewußtsein sich deshalb abquälen muß. Es geht für ihn – und uns – um die Einsicht in die Paradoxie der schuldlosen Schuld, dichterisch umgesetzt im Widerspruch zwischen Struktur und Bewußtsein. Parzival muß verstehen lernen, daß dies etwas ist, was sich nicht verstehen läßt.
5. Die ,Theologisierung‘ des höfischen Romans in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ und in der ›Queste del Saint Graal‹
Es gibt bekanntlich seit Platon eine Debatte über die Legitimität poetischer Erfindungen. Wenn die Dichtung, wie es in der ›Politeia‹ heißt, nur der Schatten jenes Schattens ist, den diese Welt gegenüber dem Reich der Ideen darstellt, dann ist sie doppelt wertlos. Oder radikaler formuliert: Die Dichter lügen.1 Aristoteles hat dieses Verdikt abgeschwächt, indem er den Begriff des Wahrscheinlichen einführte. Er argumentierte, daß etwas plausibel Erfundenes möglicherweise überzeugender sein könne als das faktisch Wahre.2 Damit hat er einer poetologischen Dreigliederung Vorschub geleistet, die über Jahrhunderte die Auffassung von dem bestimmen sollte, was Literatur zu leisten habe. In dem für die lateinische Tradition maßgebenden, auf die ›Rhetorica ad Herennium‹ und auf Cicero zurückgehenden Konzept lauten die drei literarischen Formen: historia, argumentum und fabula, und es sollte, vor allem durch Isidor von Sevilla weitergegeben, für das Mittelalter – mit gewissen Variationen – kanonische Geltung erlangen.3 Die historia bezieht sich auf das, was faktisch geschehen ist. Man kann sie beispielhaft interpretieren und ihr damit einen moralischen Sinn abgewinnen, oder sie kann dadurch sinnvoll werden, daß man sie typologisch in die Heilsgeschichte einbindet, d. h., man hat nicht nur alttestamentliche, sondern auch profan-historische Ereignisse auf das Erlösungsgeschehen hin interpretiert. Das Faktische wird damit in jedem Fall sinnträchtig; die Wahrheit des Faktischen garantiert eine Wahrheit höherer Art.4 Das argumentum meint etwas, das zwar nicht historisch-wahr ist, was aber geschehen sein könnte, Erfindungen also, die aber doch aufgrund ihrer Wahrscheinlichkeit als Exempel zu dienen vermögen, also: Lehrdichtung. Mit fabula wird etwas Erfundenes bezeichnet; sie ist weder wahr noch sinnvoll, es sei denn, man gestehe ihr eine rekreative Funktion zu.5 Eine Sonderform jedoch hat sich
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Politeia, X, 595a–602c. Dies ist jedoch nur die eine Seite von Platons Dichtungstheorie; es gibt daneben positive Aspekte; siehe Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 72–77. Daß die Dichter lügen, sagt nicht nur Platon, sondern der Vorwurf findet sich schon bei Hesiod, auch bei Solon, Xenophanes und Pindar; ebd., S. 82f. 2 Poetik, Kap. 9, mit Kap. 24 und 25. Dazu Fuhrmann [Anm. 1], S. 22–28. 3 Grundlegend Peter von Moos, „Poeta und Historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan“, PBB (Tübingen) 98 (1976), S. 93–130; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, S. 9–64. 4 Wegweisend dazu die Arbeiten von Friedrich Ohly; siehe insbes. seine Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, und Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, Stuttgart 1995. 5 Burghart Wachinger, Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter (Schriften der philos.-hist. Kl. der Heidelberger Akad. d. Wiss. 23), Heidelberg 2001.
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gegen das Verdikt durchgesetzt: das integumentum, die dichterische Einkleidung philosophisch-theologischer Wahrheiten.6 Es versteht sich, daß im Rahmen dieses poetologischen Konzepts eine Dichtung von eigenem Recht und eine entsprechende Ästhetik nicht zu begründen waren. Und so schlägt sich denn die Ablehnung jeder poetischen Erfindung, die nicht einem dezidiert lehrhaften oder integumentalen Zweck dient, das ganze Mittelalter hindurch in stereotypen klerikalen Invektiven gegen die lügenhaften weltlichen Dichtungen nieder.7 Überraschenderweise entstand trotzdem im 12. Jahrhundert eine volkssprachliche Erzählliteratur, die sich diesem poetologischen Schema nicht fügte, die vielmehr bewußt fiktional sein wollte und die dann als solche einen unaufhaltsamen Siegeszug durch alle westlichen Kulturen antrat, ohne daß die poesiefeindlichen Rigoristen etwas gegen sie auszurichten vermochten. Dabei ist diese neue Poesie verblüffenderweise nicht zuletzt von Klerikern getragen worden, d. h. von Autoren, die durch eine klerikale Schulung durchgegangen waren, denn Lesen- und Schreiben-Können war die Voraussetzung für die Begründung einer solchen Literaturtradition. Und so gab es denn, auch wenn diese volkssprachliche Dichtung sich abseits der dominanten lateinischen Kultur etablierte, durchaus Verflechtungen: die klerikal gebildeten Dichter schöpften auch aus lateinischen Quellen, man denke an die altfranzösischen und mittelhochdeutschen Alexanderromane oder an die ins ritterliche Milieu umgesetzte ›Aeneis‹, die sich freilich als historiae rechtfertigen ließen. Der eigentliche Durchbruch zu einem neuen Dichtungsverständnis aber erfolgte über frei verfügbare Stoffe, konkret: über die sogenannte matie`re de Bretagne, einen mündlich tradierten Erzählfundus keltischer Provenienz. Und man verdankt diesen Durchbruch einem Mann: Chre´tien de Troyes, dem Schöpfer des Artusromans. Mit seinem Erstling, dem Roman von Erec und Enide, hat er das Muster geschaffen, das – neben der historisch verankerten Literatur – in einer Fülle immer neuer Abwandlungen die europäische Tradition der Großerzählung bis ins spätere Mittelalter prägen sollte.8 Dieser epochalen literaturgeschichtlichen Wende gegenüber stellen sich drei grundsätzliche Fragen: 1. Worin bestand die Faszination dieses neuen fiktionalen Erzähltypus, der sich so unaufhaltsam gegen die Prinzipien der lateinisch-kirchlichen Poetologie durchsetzte? 2. Womit begründete dieser neue Typus seine Wahrheit, wenn er denn mehr sein wollte als unverbindliche Unterhaltung – was ich vorläufig einmal unterstelle –, und was waren die Voraussetzungen dafür, daß diese Wahrheit über eine Fiktion, also etwas bloß Erfundenes, plausibel vermittelt werden konnte oder sollte? Und: 6
Es handelt sich freilich um ein Verfahren, das in vielfältigen Formen erscheint und nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Die differenzierteste Darstellung bietet Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts, Leiden, Boston 2005. 7 Haug, Literaturtheorie, vgl. das Register s. v. ,Dichtung als Lüge‘. 8 Zur Diskussion um die Entdeckung der Fiktionalität im 12. Jahrhundert siehe Haug, Literaturtheorie, S. 105–107, und meine Studie „Die Entdeckung der Fiktionalität“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 128–144; Knapp [Anm. 3], insbes. S. 121–132, und Ders., Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005, insbes. S. 225–256.
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3. Wo stieß dieser neue Typus an seine Grenzen? Oder anders gefragt: Inwieweit waren auf der Basis und unter den Bedingungen dieser profanen fiktionalen Erzählliteratur Probleme fundamental-anthropologischer Art zu fassen und zu bewältigen? Meine These, auf die die nachstehenden Ausführungen zielen werden, lautet, daß das dreigliedrige lateinisch-klerikale Literaturkonzept zwar über Bord geworfen werden konnte, daß die Frage nach dem Verhältnis von objektiver Wahrheit und Dichtung, letztlich: von Theologie und Poesie, von innen her schließlich doch wieder aufbrechen mußte. Somit denn erstens: Was macht die Faszination des neuen, des arthurischen Romans aus? Folgen wir dem Muster, das die Tradition begründet hat, dem Roman von Erec und Enide. Entworfen wurde er, wie gesagt, von Chre´tien de Troyes, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts an den Höfen der Marie de Champagne und Philipps von Flandern tätig war, ohne daß wir mehr als dies über ihn wüßten.9 Hartmann von Aue hat diesen Roman gegen 1200 ins Mittelhochdeutsche umgesetzt und damit die deutschsprachige arthurische Literaturtradition in die Wege geleitet.10 Ich gebe eine knappe Inhaltsskizze, die aber leider nichts vom erzählerischen Reiz und der formalen Eleganz dieser Verserzählung zu vermitteln vermag: Die Handlung beginnt am Hofe des Königs Artus. Die Ritter der Tafelrunde brechen auf, um den weißen Hirsch zu jagen; wer ihn erlegt, darf die schönste Dame des Hofes küssen. Einer aus dem Gefolge des Königs, Erec, zieht nicht mit, sondern begleitet die Königin auf einem Spazierritt. Da wird sie von einem vorbeiziehenden Ritter grob beleidigt. Erec sieht sich gezwungen, ihm unbewaffnet, wie er ist, zu folgen und auf eine Gelegenheit zu hoffen, den Schimpf zu tilgen. Und sie ergibt sich denn auch, denn der Beleidiger ist auf dem Weg zum Kampf um einen Sperber, bei dem der Sieger zugleich für seine Dame in Anspruch nehmen darf, daß sie die schönste ist. Erec findet in der überfüllten Stadt, wo der Kampf anberaumt ist, nur eine dürftige Unterkunft bei einem verarmten Edelmann, der ihn aber mit Waffen ausstattet, so daß er, begleitet von dessen wunderschöner Tochter Enide, für die er den Sperberpreis beanspruchen will, gegen den Provokateur antreten kann. Erec siegt – selbstverständlich – und hat damit die Beleidigung der Königin gerächt und die Ehre des arthurischen Hofes wiederhergestellt. Er kehrt mit Enide, in die er sich verliebt hat, an den Hof zurück; sie erhält da als die Schönste den Kuß des Königs, der inzwischen den weißen Hirsch erlegt hat. Erec heiratet sie und begibt sich mit ihr in seine eigene Residenz. – Damit schließt sich ein erster Handlungskreis.
9
Chre´tien de Troyes, Erec und Enide, übers. u. eingel. v. Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979 [Text nach Wendelin Foerster]. 10 Hartmann von Aue, Erec, hg. v. Manfred Günter Scholz, übers. v. Susanne Held (Bibliothek des Mittelalters 5), Frankfurt a. M. 2004. Zur Einführung Hugo Kuhn, Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 21969, S. 133–150; Ruh, Höfische Epik I, S. 106–141; Haug, Literaturtheorie, S. 91–100.
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Erec liegt nun jedoch nur noch mit seiner schönen Frau im Bett. Das gesellschaftliche Leben an seinem Hof erstirbt. Als Enide ihn darauf aufmerksam macht, reagiert er brüsk; er verlangt, daß sie mit ihm ausreitet, vor ihm her in ihrem schönsten Kleid als Lockvogel für Räuber und Verführer. Und die kommen dann auch, und Enide warnt ihren Mann, obschon er ihr bei ihrem Leben verboten hat zu sprechen. Dabei läuft die Handlung dieser zweiten Ausfahrt als eine Aventürenfolge ab, die in zwei korrespondierenden Triaden angeordnet ist – es handelt sich um Kämpfe gegen Gewalttäter und Lüstlinge, auch gegen einen überstarken kleinen Ritter, Guivret, der, besiegt, dann vom Feind zum Freund wird, um dann aber doch wieder aufgrund unglücklicher Umstände zum Feind zu werden. Dieser Aventürenweg führt das Paar bis an die Grenze des Todes, vor dem allein die Liebe rettet. Am prekärsten erscheint die Schlußaventüre der Doppelreihe, der zweite Kampf mit Guivret, zu dem es nur kommt, weil man sich nicht erkennt, und der für den geschwächten Erec tödlich ausginge, wenn Enide nicht im letzten Moment verzweifelt seinen Namen rufen würde. Es folgt – ohne Rücksicht auf Erschöpfung und Wunden – eine intensive Liebesnacht im Freien, und dann macht man sich nach einer nun wirklich nötigen vierzehntägigen Erholungseinkehr in Guivrets Burg auf den Rückweg zum Artushof. Das Erzählkonzept, das Erecs doppelter Aventürenfahrt zugrunde liegt, ist ebenso simpel wie durchsichtig. Auf der einen Seite steht der Hof des Königs Artus, der sich als eine ideale Gemeinschaft von Rittern und Damen darstellt, und der Hof Erecs ist als Spiegelbild dazu zu denken. Das Leben am prototypischen Artushof ist charakterisiert durch ein ausbalanciertes Zusammenspiel aller Kräfte und Interessen. Es erfüllt sich im höfischen Fest, das sowohl den Ausgangs- wie den Zielpunkt der Handlung bildet. Es bietet ein utopisches Gesellschaftsbild vollkommener Harmonie: man vergnügt sich auf jede Art und Weise: mit Spazieren, Gesprächen, Erzählen und sportlichen Wettkämpfen.11 In Opposition dazu gibt es eine Gegenwelt, die gekennzeichnet ist durch Disharmonie, Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Begierde. Ein Vertreter dieser Gegenwelt provoziert die arthurische Gemeinschaft, so daß ein Artusritter ausziehen muß, um den Provokateur in die Schranken zu weisen und die arthurische Idealität zu restituieren. Wenn dieses Erzählschema jedoch nur auf den Sieg des Geordneten über das Ungeordnete, des Harmonischen über das Disharmonische, des Guten über das Böse zielte, wäre es trivial und könnte kaum Interesse beanspruchen. Es wird jedoch dadurch problematisiert, daß der Held im Zusammenhang mit seinem Kampf gegen den Repräsentanten der anti-arthurischen Welt eine Frau gewinnt, die er mit an den Hof nimmt und heiratet. Die erotische Beziehung des prototypischen Paares erfüllt sich also zwar mit der Rückkehr an den Hof, aber sie gründet im Abstieg in die Gegenwelt. Damit gerät die Opposition zwischen den beiden Bereichen ins Zwielicht. Kann der Eros, der dem Bereich des Subversiven, des Ungebändigten entstammt, in die arthurische Welt des Maßes, des ausbalancierten Spiels, integriert werden? Das muß, wie der weitere Gang der Handlung zeigt, mißlingen. Es kommt zu einem Konflikt zwischen der unbedingten 11
Der Eingang von Hartmanns ›Iwein‹ schildert dies sehr anschaulich: Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters 6), Frankfurt a. M. 2004, S. 320–322, vv. 59–72.
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erotischen Bindung und den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens. Es schließt sich ein zweiter Handlungskreis an, ein Stationenweg durch die Gegenwelt mit Kämpfen gegen Figuren, die die Brutalität, die Chaotik, die Unberechenbarkeit dieser antiarthurischen Sphäre zum Ausdruck bringen. Und Enide ist in prekärer Weise darin involviert, sie steht aber rückhaltlos zu ihrem Mann, und sie rettet ihm schließlich das Leben. Auf der Handlungsoberfläche ist all dem nur mit Mühe ein Sinn abzugewinnen. Man spricht von Bewährungsproben für Enide. Aber weshalb sind sie erforderlich? Erec scheint selbst nicht recht zu wissen, was er tut – was er seiner Frau antut! Ein Sinn ergibt sich allein vom strukturellen Konzept her: Die Liebe in ihrem absoluten Anspruch wirft das Paar dahin zurück, wo sie ihren ursprünglichen Ort hat, in den Bereich des Ordnungs- und Maßlosen. Und hier kann sie ihre übermächtige Kraft positiv entfalten; hier in der Welt des Bösen, Chaotischen, Brutalen kann sie gerade durch ihre Unbedingtheit ihre Wirkung tun. Und dies ist offenbar – aber einigermaßen überraschend – die Erfahrung, die nunmehr die Rückkehr an den Artushof erlaubt. Diese Rückkehr gründet jedoch nicht in einer inneren Logik des Handlungsverlaufs, sondern sie kommt allein dadurch zustande, daß der Dichter die Liebenden auf einem von ihm programmierten Weg zu diesem Ziel hinführt, und dies in kunstreicher Komposition, die das Sinnlose, das dem Helden zufällt, in eine sinnvermittelnde Struktur einbindet. Die Rückkehr an den Hof, durch die sich der zweite Handlungskreis schließt, bedeutet damit zwar strukturell die Bewältigung des Problems, aber sie bedeutet sie nur. Wie die Integration des Erotischen nach dem Happy End konkret aussieht, danach wird nicht gefragt: Enide als wohltemperierte Hausfrau – das kann schwerlich die Antwort sein, auch wenn die modernen Interpreten dies mehr oder weniger offen unterstellen.12 Statt dessen sollte die Einsicht in das strukturelle Konzept klar machen, daß das eine falsche Frage ist: Nicht um die nunmehr angemessene Rolle der Erotik in der Ehe geht es – etwa: Sex ja, aber nicht zuviel! –, sondern der Hörer oder Leser ist gehalten, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie die Lösung zustande gekommen ist, und dabei gilt es zu erkennen, daß sie sich allein der poetischen Konstruktion verdankt, die sich, indem sie sich ins Bewußtsein drängt, selbst entlarvt. Hier schließt sich meine zweite Frage an: fiktionale Freiheit heißt, daß – anders als beim Interpretationsschema der traditionellen Poetik – kein Sinn vorgegeben ist. Der Roman kann und muß also Sinn programmatisch setzen, aber als bloße Setzung wird er zugleich, was seine Verbindlichkeit betrifft, fragwürdig. Wer garantiert die Wahrheit einer Erfindung? Wer garantiert, daß der Weg, den Erec und Enide das beschriebene Strukturschema entlang geführt werden, zur Lösung des aufgebrochenen Konflikts führt? Doch einzig und allein die Setzung dieses Schemas durch den Dichter. Als solche muß sie sich aber, wenn der Entwurf Niveau hat, selbst problematisieren. Und das Ergebnis einer solchen Problematisierung kann nur lauten, daß der Konflikt nicht wirklich lösbar ist. Die anti-arthurische Welt und insbesondere die in ihr wurzelnde Erotik in ihrer Unbedingtheit ist in die spielerische gesellschaftliche Balance des Hofes prinzipiell nicht 12
Es ist dies Handbuchwissen geworden; siehe als Beispiel für viele Christoph Cormeau u. Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985, S. 191f.
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integrierbar. In der Einsicht in die fiktiv-konstruierte Bewältigung des Problems endet der Roman aporetisch. Das Paar ist zwar versöhnt in der Bewährung der absoluten Liebe, aber die Rückkehr an den Hof, den es gerade wegen des absoluten Anspruchs dieser Liebe verlassen hat und der sich unterwegs eindrucksvoll bewähren konnte, erweist sich im Grunde als ein Widerspruch in sich selbst. Doch gerade in dieser Einsicht liegt der Erkenntnisgewinn. Und diese Erkenntnis lautet: Der Artushof und die Aventürenwelt sind unlösbar aufeinander bezogen; die ausbalancierte Artuswelt ist auf ihre Negation in der Gegenwelt angewiesen. Der Artushof als Ort idealer Sinnhaftigkeit kann sich als solcher nur selbst erfahren, indem er sich der Gegenwelt öffnet, die diesen Sinn in Frage stellt. Jede Erfahrung in der eminenten Bedeutung des Wortes sprengt vorgegebene Sinnsetzungen, die Du-Erfahrung aber ist die höchste Form dieser alle Setzungen zurücklassenden Transgression auf das Andere hin. Wenn man sie in das Aventürenschema hereinnimmt, dann kann gerade über sie das Aporetische des Entwurfs in eklatanter Weise zutage treten. Man könnte dieser Interpretation des ›Erec‹ auf das Aporetische hin entgegenhalten, daß es auf dem Rückweg des Paares zum Artushof noch eine letzte, in meiner Inhaltsskizze übergangene Aventüre gebe, mit der Chre´tien signalisiere, daß Erec sein Problem sehr wohl bewältigt habe: die Aventüre von der Joie de la cort.13 Erec, Enide und Guivret kommen zur Burg Brandigan, in der Jammer herrscht. Denn vor ihren Toren wird eine Aventüre angeboten, die noch jeden, der sich auf sie eingelassen hat, das Leben kostete. Es handelt sich um den Kampf mit einem Ritter namens Mabonagrain, der in einem durch Zauber abgeschirmten Baumgarten mit seiner amie allein der Liebe lebt. Es ist ein paradiesischer Ort, die Bäume tragen das ganze Jahr hindurch zugleich Blüten und Früchte. Das Mädchen hat Mabonagrain das Versprechen abgenommen, so lange in diesem Wundergarten nur für sie da zu sein, bis jemand ihn im Kampf besiege – was sie nicht für möglich hält. Schon viele Ritter haben es vergeblich versucht. Ihre Köpfe stecken als grausige Trophäen auf den Pfählen des Wundergartens. Erec ist wie versessen darauf, diese Aventüre zu bestehen. Keine Warnung kann ihn davon abhalten. Er versteht sie als die ihm in besonderer Weise zugedachte Aufgabe. Und so besiegt er denn Mabonagrain in einem äußerst harten Kampf, befreit das Paar aus seiner Isolation und bringt dem Hof von Brandigan die Freude, die joie de la cort, zurück. Die ›Erec‹-Interpreten sind sich weitgehend darüber einig, daß die Liebe Mabonagrains und seiner amie im abgeschlossenen Baumgarten das bettsüchtige Liebesleben Erecs und Enides nach dem ersten Handlungszyklus spiegeln soll. Wenn nun der Held am Ende der zweiten Aventürenreihe gewissermaßen seiner eigenen, früheren Situation begegnet und er darauf dringt, das Paar im Baumgarten aus seiner Isolation zu befreien, so liegt der Gedanke nahe, daß dies symbolisch zu verstehen ist. Daß Erec, so hat man gesagt, diesen Befreiungsakt unternehme und er ihm gelinge, bedeute, daß er seine eigene gesellschaftsfeindliche Liebe überwunden habe.
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Chre´tien, Erec [Anm. 9], vv. 5367–6410. Im folgenden fasse ich eine ausführlichere Analyse dieser Episode von mir zusammen: „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 205–222.
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Doch diese symbolische Interpretation übersieht etwas Wesentliches: Die Liebe des Paares im Baumgarten wird einerseits als vollkommen hingestellt, andrerseits und zugleich führt sie in eine gesellschaftliche Katastrophe. Mabonagrain verteidigt sein Glück unter dem Einsatz seines Lebens und ist dann doch dankbar, daß man ihn aus der Gefangenschaft im Baumgarten befreit. Offensichtlich soll damit vor Augen geführt werden, daß eine vollkommene Liebe nur an einem irrealen Ort in völliger Abgeschlossenheit denkbar ist, daß sich dies aber gesellschaftlich verhängnisvoll auswirkt. Das kann doch nicht heißen, die Joie de la cort-Episode symbolisiere, daß Erec das Problem des absoluten erotischen Anspruchs bewältigt, daß er diesen Anspruch mit den Forderungen der Gesellschaft versöhnt habe, im Gegenteil: diese bedeutungsträchtig herausgehobene Episode signalisiert, unmittelbar bevor der Handlungskreis harmonisch geschlossen wird, daß der Widerspruch nicht aufzuheben ist. Eine genaue Lektüre dieser Schlüsselaventüre zeigt somit – und damit stelle ich mich gegen die gängige Meinung –, daß ihre Funktion darin besteht, die aporetische Konstellation, die dem ›Erec‹ zugrunde liegt, narrativ noch einmal aufzurufen und sie in die über das Strukturschema konstruierte Lösung hineinzunehmen. Daß es gerade darum geht, bringt der Roman übrigens auch in der Weise zur Anschauung, daß der Artushof nicht nur das Handlungsziel, sondern zudem der Ort des Erzählens ist. Der an den Hof zurückkehrende Ritter berichtet von seinen Aventüren. Und Artus und sein Hof erwarten auch, daß er sie durch seine Erzählung an ihnen teilhaben läßt. In den Erzählungen von der Erfahrung der Gegenwelt aber wird das Unintegrierbare ins utopische Ziel hereingenommen. Es offenbart sich damit der prekäre Status der Fiktion, die ihre Wahrheit nur dadurch zur Erscheinung bringen kann, daß sie sie über die Einsicht in die Problematik des narrativ Vermittelbaren vermittelt. Chre´tien hat in seinem zweiten Roman, dem ›Yvain‹14, die ›Erec‹-Konstellation noch einmal, aber mit umgekehrten Vorzeichen durchgespielt.15 Am Beginn der Handlung steht wiederum eine Provokation des Artushofes, diesmal dadurch, daß ein Artusritter von einer schimpflichen Niederlage erzählt, die er vor längerer Zeit einstecken mußte. Sofort zieht der Titelheld, Yvain, aus, um diese Schande für das Artusrittertum zu tilgen. Er bewältigt die in Frage stehende Aventüre und gewinnt mit dem Sieg über seinen Gegner, der dabei zu Tode kommt, dessen Frau. Der Artushof erscheint und feiert mit ihm die Hochzeit. So schließt auch hier der erste Handlungskreis mit der Restitution der höfisch-idealen Harmonie. Aber nun will Yvain nicht in den Fehler Erecs verfallen, und so erbittet er sich von seiner Frau Urlaub, um sich auf Turnieren ritterlich zu betätigen. Doch er versäumt dann die für die Rückkehr gesetzte Frist. Die zutiefst getroffene Gemahlin kündigt ihm über eine Botin ihre Liebe auf. Das treibt Yvain in den Wahnsinn, aus dem er erst wieder zurückgeholt werden muß, bevor es auch hier zu einem zweiten Aventürenweg kommt, an dessen Ende sich das Paar wiederfindet. 14
Chrestien de Troyes, Yvain, übers. u. eingel. v. Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), München 1962 [Text nach Wendelin Foerster]. Hartmann von Aue hat das Werk kongenial ins Mittelhochdeutsche umgesetzt: ›Iwein‹ [Anm. 11]. 15 Siehe dazu ausführlicher meine Studie „Chre´tiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹: Das Spiel mit dem arthurischen Modell“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 223–238.
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Auch hier verdanken sich der Lauf der Handlung und die narrative Lösung offenkundig dem narrativen Schema, wobei es wie im ›Erec‹ offen bleibt, wie man sich nach der Versöhnung des Paares das Verhältnis zwischen der erotischen Bedingungslosigkeit und den gesellschaftlichen Ansprüchen konkret zu denken hat. Es ergibt sich also, daß das Chre´tiensche Romankonzept, das vom idealen Status der arthurischen Gesellschaft ausgeht und über dessen Provokation den Helden in die Handlung eintreten läßt, um ihn entlang eines doppelten Aventürenweges zur Idealität des Anfangs zurückzuführen, auf eine bestimmte Einsicht zielt: Es soll zur Erfahrung bringen, daß eine solche Idealität nur als prekärer Moment im Durchgang durch das, was ihr entgegensteht, zu realisieren ist. Und das heißt – um es noch einmal zu sagen –, daß es gar nicht um eine Bewältigung des Problems geht, sondern darum, es bewußt zu machen. Und man darf diesen aporetischen Strukturentwurf Chre´tiens, ob der leichten Hand, mit der er ihn hinsetzt, in seiner Kühnheit nicht verkennen, denn er hat damit nichts anderes versucht, als die Möglichkeit einer innerweltlichen Idealität narrativ auszuloten, und er hat sie als Experiment einer spielerischen Balance unter der Regel des Maßes in Szene gesetzt. Etwas Derartiges hatte man seit der Antike nicht mehr gewagt. Zugleich jedoch hat er diese Idealität als eine Art Utopie gefaßt, indem er – und das ist neu – das Spiel von seinen Grenzen her problematisierte und die dabei unvermeidliche Transgression funktional in sein Konzept hereinholte. Das Maßlose, im Bösen wie im Guten, bleibt unabdingbar der Horizont, vor dem die prekäre Balance anvisiert wird.16 Aber auch wenn dieses Konzept als rein profaner Entwurf mit der Tradition brach, so gab er sich doch nicht als Provokation. Hartmann kann in seinem ›Iwein‹-Prolog sagen, daß rehtiu güete, was soviel meint wie den Inbegriff ethisch wie ästhetisch erfüllten Lebens – wofür König Artus der Garant ist –, nicht nur innerweltlich-gesellschaftliches Ansehen in sich schließt, sondern auch sælde, d. h. von Gott geschenktes Glück, mit sich bringt.17 Die irdische Vollkommenheit fügt sich in den Rahmen des religiösen Weltbildes, ohne selbst religiös geprägt zu sein. Aber das bleibt ein Wagnis, und es wundert einen nicht, daß es nicht länger als einen historischen Moment durchzuhalten war. Das Konzept besaß zu viel innere Sprengkraft, um sich nicht selbst herauszufordern. Und dies führt zu meiner dritten Frage, zur Frage nach den Einschränkungen und Ausgrenzungen, denen das neue fiktionale Erzählkonzept unterworfen war und die zum Stachel für kritische Gegenbewegungen werden mußten. Zunächst ist Folgendes zu bedenken: Die Kreisbewegung, die bedingt, daß der ideale Status des Beginns am Ende wiederherzustellen ist, bringt schwerwiegende Konsequenzen für den arthurischen Heldentypus mit sich. Was die Protagonisten auf ihren Fahrten durchmachen, darf keine Spuren hinterlassen, Wunden müssen ohne Narben verheilen – notfalls helfen Wundersalben! –; wenn Erec und Enide oder Yvain am Tod vorbeigehen oder symbolisch durch ihn hindurchgehen, tangiert sie das nicht auf Dauer; seelische 16
Dabei soll nicht übersehen werden, daß der ideale Status des Anfangs selbst schon Momente in sich enthalten kann, die auf das Umkippen hinweisen oder hindrängen. Die Figur des Störenfrieds Keu gehört in diesen Zusammenhang. 17 Hartmann, Iwein [Anm. 11], S. 318, vv. 1–5: Swer an rehte güete / wendet sıˆn gemüete, / dem volget sælde und eˆre. / des gıˆt gewisse leˆre / künec Artuˆs der guote (. . . ).
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Verletzungen haben keine bleibenden Folgen; es darf nichts geben, was sich zwischenmenschlich nicht bereinigen ließe. Die Zeit ist ausgeblendet, die Helden werden nicht älter. Die umstürzenden Erfahrungen in der Gegenwelt werden an den Figuren nur gezeigt; sie jedoch zu einer grundsätzlichen Erfahrung zu machen, das ist dem Hörer oder Leser aufgegeben: in ihnen soll sich eine Bewußtseinsänderung vollziehen, in ihnen soll die Erzählung ihre Spuren hinterlassen. Der Held muß die Aporie nicht austragen, ja, er kann sie gar nicht austragen; die narrative Struktur hat sie ihm von vornherein abgenommen. Damit das funktioniert, müssen zwei Bedingungen eingehalten werden: 1. Die Helden dürfen bestenfalls punktuell so etwas wie Subjektivität besitzen. Eine Innerlichkeit, die sich über Erinnerungen durchhält und sich dabei anreichert und entfaltet, würde den Helden in die Aporie hineinstellen und ihm Entscheidungen abverlangen, deren Folgen er zu tragen hätte, d. h., sie wären nicht mehr mit dem Schema zu verrechnen. Und 2. ist es dem Erzähler nicht erlaubt, über den Doppelweg des Helden hinauszugehen. Bei einer Fortsetzung nach dem Abschluß des zweiten Handlungskreises sähe er sich gezwungen, sich mit der Aporie auseinanderzusetzen, und damit würde der aporetische Effekt zurückgelassen. Und dabei sollte man nicht übersehen, daß es diese Restriktionen sind, die dem Chre´tienschen Roman – über seinem verborgenen Ernst – seine spielerische Heiterkeit, ja einen geradezu märchenhaften Zauber geben, dem man sich auch im Bewußtsein seiner Künstlichkeit schwer zu entziehen vermag. Aber es versteht sich, daß man sich diesen Restriktionen auf Dauer nicht unterwerfen wollte und konnte. Man ist gegen beide Bedingungen angegangen; man hat begonnen, den Helden Innerlichkeit zuzugestehen, mit der Folge, daß sie die Aporie als personale Erfahrung zu bewältigen hatten. Und man hat den Rahmen des Schemas gesprengt, da es nicht imstande war, eine Lösung für den inneren Konflikt zu bieten. Denn die Frage wurde unumgänglich, ob sich persönliche Verletzungen ohne weiteres über ein narratives Schema auslöschen lassen. Und noch problematischer erscheint dies bei Verletzungen höherer Ordnung, und damit komme ich zum zentralen Punkt meiner Überlegungen: inwieweit war es möglich, metaphysische Schuld über die Chre´tiensche Doppelkreisstruktur zu bewältigen? Schon Chre´tien selbst ist auf diese Fragen gestoßen. Er hat nach dem ›Erec‹ und dem ›Yvain‹ zwei weitere Artusromane geschrieben, den ›Lancelot‹ und den ›Perceval‹, die jedoch beide unvollendet geblieben sind. Andere haben sie abgeschlossen, überarbeitet, weiterentwickelt. Godefroi von Leigni hat den Lancelot-Roman wohl nach Vorgaben Chre´tiens zu Ende geschrieben, und er ist dann im frühen 13. Jahrhundert in die riesige ›Prosa-Lancelot‹-Kompilation eingegangen und dabei strukturell wie thematisch in eine völlig neue Perspektive gestellt worden. Wolfram von Eschenbach hat das ›Perceval‹Fragment ins Mittelhochdeutsche umgesetzt, den fehlenden Schluß frei ergänzt und dabei ebenfalls das Konzept grundlegend verändert. In beiden unvollendeten Romanen Chre´tiens deuten sich, wenngleich in unterschiedlicher Richtung, schon jene Probleme an, mit denen sich die Fortsetzer und Umarbeiter dann konfrontiert sahen und an denen sie sich abgearbeitet haben: die Probleme hinsichtlich der Grenzen des profan-fiktionalen Konzepts; und sie sollten schließlich dem neuen Roman doch wieder eine in gewisser Weise theologische Dimension eröffnen. Es handelt sich dabei also nicht, wie man behauptet hat, in erster Linie um eine klerikale
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Reaktion gegen den profanen Typus, ja, um eine geistliche Usurpation der neuen weltlichen Dichtung,18 sondern um eine Wende aus ihren inneren Bedingungen heraus. Zunächst zu Chre´tiens ›Perceval‹ oder ›Conte du Graal‹.19 Auch dieser Roman ist, soweit aufgrund des Fragments ein Urteil möglich ist, deutlich dem mit dem ›Erec‹ entworfenen Strukturmuster verpflichtet. Zwar hat der Gralsroman eine Vorgeschichte; es wird vorweg die Jugend des Helden erzählt. Perceval wächst fern von der höfischen Gesellschaft in einer Waldwildnis auf, wohin sich seine Mutter mit ihm nach dem Rittertod ihres Mannes zurückgezogen hat. Doch der Junge bricht aus, verlockt dadurch, daß er zufällig ein paar Rittern im Glanz ihrer Rüstungen begegnet. Der Wildling erscheint am Artushof und tritt hier, so ungeeignet er dazu ist, in die traditionelle Rolle des Aventürenritters ein: er stellt sich in frecher Anmaßung einem Provokateur, der Artus herausgefordert hat. Dies jedoch nicht in ritterlichem Zweikampf, sondern er tötet den Gegner, der ihn nicht ernst nimmt, mit seinem Jagdspieß. Und er zieht dann in dessen Rüstung weiter, um typische Aventüren zu bestehen, wobei er Schritt für Schritt sein Erziehungsdefizit überwindet. Er lernt ritterlich kämpfen, sich höfisch verhalten, er rettet eine Frau vor ihren Feinden und gewinnt sie für sich, um sie dann aber wieder zu verlassen. Dem Schema gemäß müßte er eigentlich mit ihr an den Artushof zurückkehren, aber er zieht allein los und gelangt zunächst auf rätselhaft-zufällige Weise zu einer wunderbaren Burg, der Gralsburg; er nimmt dort an der Seite des gelähmten Gralskönigs an einem festlichen Mahl teil, bei dem eine blutende Lanze und ein geheimnisvolles Gefäß, der Gral, durch den Raum getragen werden. Doch Perceval fragt nicht, was es mit dieser Lanze auf sich habe und wen man mit dem Gral bediene, weil er dies aufgrund dessen, was er über höfisches Verhalten gelernt hat, für ungehörig hält. Er hätte mit dieser Frage den leidenden Gralskönig heilen können. Am nächsten Morgen findet er die Burg menschenleer, er reitet irritiert davon, worauf er seine Kusine trifft, die ihm klar macht, daß er versagt hat und auch weshalb – und die Begründung ist sehr merkwürdig –, sie sagt, seine Mutter sei aus Schmerz darüber, daß er sie verlassen habe, gestorben, und diese Sünde habe ihm den Mund verschlossen. Also zwei Erklärungen: eine narrativ-logische – die Verhaltensnorm, der Perceval folgt – und eine untergründige, an einer Schuld hängende, die für den Helden wie für den Hörer/Leser undurchsichtig bleibt. Als Perceval dann doch schemagemäß an den Artushof kommt, wird er da zwar als glänzender Held gefeiert und in die Tafelrunde aufgenommen, aber dann erscheint eine Botin aus dem Gralsreich und verflucht ihn wegen seines Versagens. Das ist der Anstoß zu der typischen zweiten Aventürenfahrt, deren Ziel es zweifellos sein sollte, daß Perceval zur Gralsburg zurückfindet und die versäumten Fragen stellen darf. Wie sich Chre´tien die Wende am Ende des zweiten Weges dachte, wissen wir nicht. Das Letzte, was wir in seinem Fragment über Perceval erfahren, ist, daß dieser, nachdem er fünf Jahre umhergeritten ist, ohne je eine Kirche zu betreten, zu einem Einsiedler kommt, der sich als sein Onkel erweist. Perceval hat sich offenbar wegen seines Versagens von Gott abgewendet, obschon dies nicht explizit gesagt wird. Jedenfalls fühlt er 18
Dies die Position von Fritz Peter Knapp, Chevalier errant und fin’amor. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten (Schriften der Universität Passau, Reihe Geisteswissenschaften 8), Passau 1986, S. 73. 19 Chre´tien de Troyes, ,Le Roman de Perceval‘ ou ,Le Conte du Graal‘, übers. u. hg. v. Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991.
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sich schuldig gegenüber Gott (vv. 6335f.). Der Einsiedleronkel nimmt ihm die Beichte ab und löst ihn von seinen Sünden. Perceval versagt – im Prinzip wie Erec oder Yvain – vor einem Anspruch, der quer steht zur höfischen Idealität, aber dieser Anspruch ist hier metaphysischer Art, das Versagen hängt mit einer Schuld zusammen, die innerweltlich nicht gelöscht werden kann. Man mußte deshalb eine Instanz einführen, die sie an der Stelle Gottes zu vergeben vermag. Als solche läßt sie sich in der Gestalt des Einsiedleronkels durchaus ins Schema einfügen. Sünde, Beichte, Vergebung und Buße: das ist freilich eine Bewältigung des Problems, die der typischen Mechanik der Legende folgt, wo sie gattungsmäßig legitimiert ist. Kann man sie fraglos in einen fiktiven Roman einbauen? Jedenfalls ist es dann gerade die Chre´tiensche Behandlung der Schuldfrage, die Wolfram bei seiner Überarbeitung und Ergänzung des französischen Fragments problematisiert.20 Dies, indem er als erstes diese Frage massiv verschärft. Was bei Chre´tien nur angedeutet ist, die Abwendung des Helden von Gott, wird bei Wolfram zur trotzigen Auflehnung. Parzival versteht überhaupt nicht, was ihm geschehen ist. Er rechtet mit Gott, weil er ihn unschuldig in diese fatale Situation gebracht habe. Und er zieht verbittert los und streift kämpfend durch die Lande im hartnäckigen Bestreben, die Gralsburg wiederzufinden. Und zugleich hat Wolfram den Schuldzusammenhang erweitert. Dies schon gleich zu Beginn des Aventürenweges mit einer überraschenden Neukonzeption der Provokationsszene am Artushof. Wolfram macht den Provokateur zu einem Verwandten Parzivals. Und das hat nachhaltigste Folgen. Während bei Chre´tien dieser Totschlag auf dem weiteren Weg des jungen Perceval keine Rolle mehr spielt, hat man es bei Wolfram mit einem Verwandtenmord zu tun und d. h. einer Schuld, die aus eigener, aus menschlicher Kraft nicht wiedergutzumachen ist. Und Parzivals Einsiedleronkel Trevrizent erklärt ihm dann auch, daß diese Schuld neben dem Tod der Mutter mit dafür verantwortlich sei, daß er die Erlösungsfrage nicht zu stellen vermochte. Dabei wird das Geschehen von Trevrizent in eine heilsgeschichtliche Perspektive gestellt. Im Hintergrund steht die Kainstat der ›Genesis‹, der erste Brudermord, der sich im ritterlichen Kämpfen und Töten wiederholen kann. Und die große Frage, die sich stellt, ist die: Ist es möglich, sich über einen ritterlichen Aventürenweg aus einer solchen Verstrickung, letztlich aus der Verstrickung in die Erbsünde zu lösen? Auch bei Wolfram beichtet Parzival dem Einsiedleronkel seine Sünden, aber auffälligerweise ändert das nichts an seinem Verhalten. Er zieht weiterhin kämpfend durch die Lande in der Hoffnung, auf diese Weise den Rückweg zur Gralsburg zu erzwingen, und dies obschon ihm Trevrizent gesagt hat, daß man sie willentlich gar nicht finden könne. Und vor allem: er gerät dabei erneut in Gefahr, Verwandtenmorde zu begehen. Er kämpft unwissentlich mit seinem Freund und Verwandten Gawan, und nur ein Zufall verhindert es, daß er ihn tötet, und er kämpft mit seinem Halbbruder Feirefiz, und wieder wäre es 20
Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994. Siehe zum Folgenden meine Studien „Hat Wolfram von Eschenbach Chre´tiens ›Conte du graal‹ kongenial ergänzt?“, in: Haug, Brechungen, S. 109–124, und „Parzival ohne Illusionen“, ebd., S. 125–139, sowie „Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram“, in diesem Bd., S. 141–156.
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beinahe zu einem Verwandtenmord gekommen: hier ist es Gott selbst, der eingreift und dafür sorgt, daß im entscheidenden Augenblick Parzivals Schwert bricht. Was hilft es, wenn ihm die Sünden vergeben worden sind, er aber nicht begriffen hat, worum es geht, sondern in derselben Verstrickung weiterlebt wie bisher? Am Ende sehen wir ihn erschüttert im Bewußtsein, wie knapp er neuer Schuld entgangen ist. Doch damit ist es dann so weit, daß Gott Gnade walten läßt und die Botschaft kommt, daß Parzival zur Gralsburg zurückkehren und die Erlösungsfrage stellen darf und damit Gralskönig werden kann. Eine Begründung gibt es dafür nicht. Damit deckt Wolfram die Grundproblematik des Romans auf: Gnade ist narrativ nicht verfügbar, man kann nur so auf sie hin erzählen, daß diese Unverfügbarkeit zutage tritt. Metaphysische Schuld ist anders als eine zwischenmenschliche Verletzung nicht über ein narratives Schema aufzuheben, oder anders gesagt: der Erzähler kann Gott nicht wie ein beliebiges Motiv in sein Schema einsetzen, und schon gar nicht kann er den Gnadenakt aus der Handlung entwickeln, ohne ihm seine Freiheit zu nehmen; er kann nur zeigen, daß er das nicht kann, indem er das Eingreifen Gottes aller Handlungslogik entzieht. So ergibt sich denn für den Parzival-Roman: Schulderfahrung setzt Innerlichkeit voraus, wodurch die erste Restriktion des Typus gebrochen wird, und das Korrelat dieser Schulderfahrung, die Erfahrung der Gnade, kann nicht über einen Aventürenweg begründet werden, sonst würde die Gnade ihre Unverfügbarkeit verlieren. Das fiktionale Erzählen scheitert am Theologumenon der Gnade, es kann sie bestenfalls in diesem Scheitern zum Bewußtsein bringen. Nun zum Vorstoß gegen die zweite Restriktion des Doppelkreisschemas: Wohin führt es, wenn man das Leben des Helden weiterverfolgt, nachdem die Aporie offengelegt worden ist? Wenn man also über den zweiten Handlungskreis hinaus weiterdenkt, weitererzählt? Es ist, wie gesagt, der große Lancelot-Prosaroman, der in dieser Weise das Schema gesprengt hat.21 Chre´tien hat auch dieser Perspektivenwende in überraschender Weise vorgearbeitet. Er hat mit Lancelot eine Figur geschaffen, die wie Perceval, wenngleich auf ganz andere Weise, sich nur noch scheinbar in das klassische arthurische Konzept fügt.22 Die Handlung beginnt zwar wiederum schemagemäß mit einer Provokation des Artushofes, und zwar einer besonders massiven Provokation: Die Königin wird von einem Ritter, Meleagant, entführt. Er kommt aus einem Land, das kaum verdeckt Züge eines Jenseitsreiches zeigt, und er will die Königin dahin bringen. Lancelot macht sich an die Verfolgung, wobei er aber nicht vom Artushof aufbricht, sondern von irgendwoher auftaucht. Er tritt damit zwar in die typische Rolle des Artusritters ein, der gegen den Provokateur des Hofes angeht, aber die Rolle ist nur ein Deckmantel, denn er liebt die Königin, und er geht seinen Aventürenweg im eigenen Interesse. Dabei wird der absolute Charakter dieser Liebe auf das äußerste gesteigert, er manifestiert sich in bizarr 21
Lancelot, Roman en prose du XIII e sie`cle, hg. v. Alexandre Micha, Bde. I–IX, Gene`ve 1978– 1983. Der Roman ist in mehreren Ansätzen ins Deutsche übertragen worden, siehe Prosalancelot, hg. Steinhoff, II, S. 764–768. 22 Chrestien de Troyes, Lancelot (Le Chevalier de la Charrete), übers. u. eingel. v. Helga JaussMeyer (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13), München 1974.
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überzogenen Situationen: als Lancelot die Königin von einem Fenster aus vorbeireiten sieht, schlägt ihn ihr Anblick so sehr in Bann, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre, wenn man ihn nicht festgehalten hätte. Oder als er zufällig einen Kamm mit ein paar Haaren der Königin findet, droht er ohnmächtig vom Pferd zu fallen. Es gelingt Lancelot schließlich, nach gefährlichsten Aventüren das Land des Entführers zu erreichen und ihn im Kampf zu besiegen und dann heimlich eine Liebesnacht mit der Königin zu verbringen. Die Königin kann zurückkehren, der Handlungskreis schließt sich. Es bleibt aber bei der einen Liebesnacht in einem quasijenseitigen Land, von der niemand etwas erfährt. Der Konflikt ist damit vermieden, der Ehebruch wird – übrigens ganz deutlich als Replik auf den ›Tristan‹23 – schadlos gehalten. Wie es nach der Rückkehr Lancelots und der Königin am Artushof weitergeht, bleibt offen. Man kann darin noch einmal und skandalös verschärft die typische Aporie sehen. Aber ist ein Ehebruch über das Aventürenschema wirklich zu bewältigen? Er ist zu bewältigen, aber eben nur, indem man ihn kunstreich ausklammert. Hier hat der Prosaroman angesetzt und die Liebe zwischen Lancelot und der Königin in einem umfassenden biographischen Rahmen entwickelt und in die Krise geführt:24 von der ersten Begegnung über den ersten Kuß zur ersten Liebesnacht und dann zu immer größeren Verstrickungen, bis es zum Eklat kommt, an dem die arthurische Gemeinschaft zerbricht, und schließlich mit dem Tod des Königs das Artusreich untergeht. Und dabei wird der Anspruch des Eros zum Äußersten getrieben. Die absolut gesetzte Liebe erscheint im Bereich irdischer Relativität nach Chre´tienschem Vorbild als lachhafte Groteske. Es beginnt schon damit, daß der junge Lancelot bei der ersten Begegnung mit der Königin von ihrer Schönheit dermaßen überwältigt wird, daß er völlig die Fassung verliert, daß ihm die Sprache versagt. Vor ihr fliehend, stürzt er sich in die ungeheuerlichsten Aventüren, er versucht, sprachlos, seine Liebe über Taten zu vermitteln, wobei aber ihre Illegitimität ihn dazu zwingt, anonym zu bleiben. Er setzt also mit seinen Taten Signale und verdeckt sie zugleich. Sie müssen von der Königin entziffert werden, sie muß die Anonymität des Helden durchdringen, und sie erreicht dies durch ein bizarres Spiel: sie verlangt, um sich Gewißheit über die Identität des unerhörten Ritters und seine Liebe zu verschaffen, daß er im Kampf die Fronten wechselt, sich gegen seine eigenen Leute stellt, daß er sich feig gibt, von Schwächeren besiegen läßt usw. Damit zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß die Aventüren ihren Sinn für die Gesellschaft verloren haben. Es gibt keine Struktur mehr, über die der Weg des Helden und der Artushof aufeinander zu beziehen wären, sondern was vorliegt, ist eine Folge von Aventüren, die sich über immer gefährlichere Situationen steigert, so daß ein schwer entwirrbares, aber hochartifiziell durchkonstruiertes Handlungsgeflecht entsteht. Die absolut gesetzte Liebe ist der Fluchtpunkt, doch kann sie in ihrer Absolutheit nur augenblickhaft Erfüllung finden. Die Ehebruchsituation markiert diese Möglichkeit in der Unmöglichkeit, das Ziel auf Dauer festzuhalten. Und so ist denn das Verhängnis 23
Vgl. dazu meine Studie »Das Land, von welchem niemand wiederkehrt«. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chre´tiens ›Chevalier de la Charrete‹, im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven und im ›Lancelot‹-Prosaroman (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21), Tübingen 1978, S. 83–88. 24 Siehe zur Entwicklung des Stoffes und seiner Thematik ebd. und meine Studie „Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot“, in: Haug, Brechungen, S. 288–300.
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II. Zum höfischen Roman
von Anfang an in Lancelots Aventürenweg eingeschrieben. Zunächst vorgestellt als der beste Ritter, den es je gegeben hat, wird er Schritt für Schritt demontiert. Dies schon früh, indem man ihn auf Aventüren stoßen läßt, die er nicht bewältigen kann, die vielmehr, wie man ihm sagt, einem andern, einem makellos vollkommenen Ritter vorbehalten seien. Das bereitet jenen Teil des Romans, die ›Queste‹25, vor, in dem dieser Ritter – es ist Galaad, Lancelots Sohn – auftritt und ein neues absolutes Ziel vorgestellt wird: es geht um die Suche nach dem Gral, der hier mit der Abendmahlsschüssel Christi und zugleich mit dem Eucharistiekelch gleichgesetzt wird. Als mit dem Auftritt Galaads der Gral in wunderbarer Weise zur versammelten Tafelrunde hereinschwebt und wieder verschwindet, brechen sämtliche Artusritter außer dem König zur Suche auf, doch bis auf drei scheitern sie alle, und Lancelot ganz besonders wegen seines schuldhaften Verhältnisses zur Königin. Und von den dreien – es sind neben Galaad Bohort und Parceval – vermag nur Galaad das ganze Geheimnis des Grals zu schauen. Am Ende werden diese drei mit dem Gral auf einem Wunderschiff in den Orient entführt, wo er schließlich in den Himmel gehoben wird und Galaad nur noch um seinen Tod bitten kann, was ihm auch gnädig gewährt wird. Parceval wird Einsiedler, während Bohort an den Artushof zurückkehrt, um Bericht zu erstatten. An die Stelle des absoluten erotischen Ziels tritt in der ›Queste del Saint Graal‹ also ein absolutes religiöses Ziel, und die Bedingungen, unter denen man sich hier wie dort auf das Absolute zubewegt, entsprechen sich in eigentümlicher Weise. Beide Wege verlaufen quer zur Gesellschaft, ja, wenn die Ziele erreicht sind, bricht die Gesellschaft zusammen: das Artusreich geht am Ehebruch Lancelots zugrunde und zugleich deshalb, so wird gesagt, weil der Gral der Welt entzogen worden sei. Die Aventüren, die weder hier noch dort eine gesellschaftliche Funktion mehr haben, können nur noch Zeichen sein, bei Lancelot Zeichen seiner Liebe; bei der Gralssuche jedoch sind es nicht Zeichen, die die Helden setzen könnten, sondern es sind göttliche Zeichen f ü r sie, Zeichen dafür, daß sie auserwählt oder verworfen sind. Die Aventüren erscheinen dabei völlig undurchsichtig, die Ritter können sie nicht verstehen, es müssen hinterher geistliche Deuter auftreten, die ihren allegorischen Sinn entschlüsseln. Bohort trifft z. B. auf zwei Ritter, die seinen Bruder gefangen davonführen, um ihn zu töten. Doch als er ihm zu Hilfe kommen will, sieht er eine Jungfrau, die ein Rohling zu vergewaltigen droht. Im Zwiespalt, wem er beistehen soll, entschließt er sich, das Mädchen zu retten. Später wird ihm erklärt, daß diese Entscheidung richtig gewesen sei, weil er die christliche Liebe der natürlichen Bindung vorgezogen habe. Der Bruder stirbt übrigens nicht, es war alles nur ein Trugbild. Oder: um seine Keuschheit zu bewahren, nimmt Bohort es in Kauf, daß zweihundert Frauen sich von einem Turm in den Tod stürzen. Auch das erweist sich lediglich als eine teuflische Versuchung. Aber wie hätte Bohort dies durchschauen können? Die Helden vermögen allein deshalb richtig zu handeln, weil sie begnadet sind, ja, diese Begnadung offenbart sich gerade darin, daß sie unwissentlich richtig handeln. Bohort äußert zwar einem Priester gegenüber, es komme bei ethischen Entscheidungen allein auf das menschliche Herz an, es sei wie das Steuerruder, das das 25
›La Queste del Saint Graal‹, Roman du XIII e sie`cle, hg. v. Albert Pauphilet (Les Classiques ˆ ge 33), Paris 21984; Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 9–541. Franc¸ais du Moyen A
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Schiff in den Hafen oder in den Untergang führen könne. Der Priester widerspricht: entscheidend sei nicht das Steuerruder, sondern der Steuermann, der es führe, und der sei entweder der Heilige Geist oder der Teufel.26 Das heißt, der menschliche Wille ist nur ein Instrument in der Hand Gottes oder des Teufels. Das bringt die immer wiederholten Ermahnungen der Geistlichen, zu beichten und Buße zu tun, ins Zwielicht. Beichte und Buße sind zwar Bedingungen auf dem Weg zum Heil, aber sie können ihn nicht garantieren. Auch Lancelot wird schließlich beichten und bereuen, aber er kommt trotzdem nicht zum Ziel, ja, er verfällt dann doch wieder seiner ehebrecherischen Liebe. Alles hängt letztlich an der undurchschaubaren göttlichen Regie. Das Höchste ist unerreichbar, wenn es sich nicht selbst schenkt. Und wie im ›Parzival‹, nur sehr viel plakativer, zeigt sich, daß Gnade narrativ nicht zu explizieren ist, sie bricht den erzählerischen Zusammenhang auf, d. h., sie kann sich selbst nur dadurch darstellen, daß sie ebendies, daß sie erzählerisch nicht zu fassen ist, demonstriert, indem sie jedes sinnvermittelnde Erzählen zerstört. Die Frage von Schuld und Gnade ist undurchsichtig und unlösbar geworden, und doch gibt es eine Lösung, eine einzige und fragwürdige: die Erfindung des vollkommen schuldlosen Ritters, die Erfindung der Figur des Galaad. Sie bleibt aber völlig weltfremd. Galaad erledigt alle noch offenen Aventüren, um daraufhin zu verschwinden. Es gibt danach keine Aventüren mehr zu bestehen und zu erzählen, keinen Sinn und keine Zeichen mehr. Die Artuswelt kann zugrunde gehen. Das ist alles, was noch erzählt werden kann. Die ,Theologisierung‘ des arthurischen Romans gründet also auch bei der ›Gralssuche‹ im ›Prosa-Lancelot‹ darin, daß man das fiktionale Erzählen auf die Schuldfrage hin öffnet, die es aber nicht zu bewältigen vermag. Der Roman muß vor ihr versagen, weil die göttliche Gnade fiktional nicht verfügbar ist. Machte man sie verfügbar, würde man ihr gerade ihr Wesentliches, ihre Unverfügbarkeit, nehmen. Das führt zu der irritierenden Gnadenwillkür in der ›Queste‹. Man kann bei dieser ,Theologisierung‘ der Fiktion also nichts anderes tun, als das Erzählen selbst am Widerspruch der fiktionalen Verfügung über das Unverfügbare scheitern zu lassen und die poetisch-theologische Aporie dadurch zum Bewußtsein zu bringen. Auf den Beginn meiner Ausführungen zurückblickend, ist also festzuhalten: Mit dem höfischen Roman ist die volkssprachliche Literatur im 12. Jahrhundert aus der Bindung an vorgegebene theologische Wahrheiten ausgebrochen; sie hat an ihre Stelle eine eigene fiktionale Wahrheit gesetzt. Sie mußte aber an der Grenze des fiktional zu Bewältigenden doch wieder auf Fragen stoßen, die eine selbstkritische, die Grenze problematisierende und damit letztlich poetisch-theologische Antwort verlangten.
26
La Queste del Saint Graal [Anm. 25], S. 165,9–17; Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 326,12–24, wo versehentlich segel statt ,Steuerruder‘ steht; siehe den Komm. zu 326,18f.
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chre´tien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg
I Die These von der Entdeckung der Fiktionalität im 12. Jahrhundert, die ich in meiner ›Literaturtheorie im deutschen Mittelalter‹ entwickelt habe und die dann als Schlagwort weitergegeben worden ist,1 kann in dieser Verkürzung nur irreführend sein. Denn man brauchte die Fiktionalität nicht zu entdecken, vielmehr handelt es sich bei der Fähigkeit, etwas zu fingieren, um ein Anthropologikum: der Mensch ist nicht nur ein animal rationale, sondern auch ein animal mendax: das Tier, das lügen kann. Die Frage nach dem Status der Fiktionalität meint also die Frage nach einer möglichen Positivierung dieser Fähigkeit zur Lüge, oder poetologisch gesagt: die Frage nach der Legitimität des Umgangs mit erdichteten Sachverhalten. Man hat sich bekanntlich schon in der Antike mit dieser heiklen Frage beschäftigt. Das Ergebnis war ein literaturtheoretisches Konzept, das alle Möglichkeiten abzudekken schien und das denn auch als ,klassische‘ Lösung des Problems über die Jahrhunderte hin leitend blieb. Es bestand in der auf die ›Herennius-Rhetorik‹ und Cicero zurückgehenden Gattungstrias historia, argumentum und fabula, die dann vor allem über Isidor von Sevilla an das Mittelalter weitergegeben wurde. Historia meint die Wiedergabe von Faktisch-Wahrem, argumenta sind Erfindungen, die doch Sinn vermitteln, und fabula bezeichnet Erfundenes, das keinen Sinn – außer vielleicht den, zu unterhalten – beanspruchen kann. Das ist das Grundkonzept, das freilich vielfältig variiert worden ist. Doch kann diese sehr komplexe Geschichte in diesem Zusammenhang beiseite bleiben,2 denn es geht hier nur um die grundsätzlichen Möglichkeiten im Verhältnis von Wahrheit und Fiktion, die in dieser Trias formuliert sind. Dabei ist zu beachten, daß einerseits argumentum – was immer darunter wechselnd verstanden worden ist – und fabula insofern in Opposition zur historia stehen, als sie beide fiktiven Charakter besitzen. Andrerseits treten historia und argumentum dadurch gegenüber der fabula näher zusammen, daß sie beide der Wahrheit verpflichtet sind, einer Wahrheit aber nunmehr, die bei dieser Zusammenstellung jenseits des bloß Faktischen liegt, näm1
Haug, Literaturtheorie, S. 105; Joachim Heinzle, „Die Entdeckung der Fiktionalität. Zu Walter Haugs ›Literaturtheorie im deutschen Mittelalter‹“, PBB 112 (1990), S. 55–80; meine Studie „Die Entdeckung der Fiktionalität“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 128–144. 2 Diese Geschichte ist gültig von Fritz Peter Knapp, „Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter“, in: Ders., Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, S. 9–64, und von Peter von Moos, „Poeta und Historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan“, PBB (Tübingen) 98 (1976), S. 93–130, aufgearbeitet worden.
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
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lich der Wahrheit des Beispielhaften. So gesehen vermag u. U. etwas Erfundenes eine Wahrheit sogar treffender vor Augen zu führen als etwas Historisches, das sich in seiner Kontingenz als weniger wahrscheinlich präsentieren kann als eine in sich schlüssige Fiktion. So schon Aristoteles in seiner ›Poetik‹.3 Schließlich aber kann der Gesichtspunkt der möglicherweise höheren Wahrscheinlichkeit der poetischen Erfindung dem Geschichtlich-Faktischen gegenüber sogar völlig zurücktreten zugunsten einer offenkundig irrealen, aber um so pointierteren Inszenierung einer Wahrheit; man denke etwa an die Tierfabel: man setzt sie mühelos über ihre Unwahrscheinlichkeit hinweg in ihren exemplarischen Sinn um. Im Gegenzug jedoch hat man wiederum auch der historischen Darstellung gewisse fiktionale Lizenzen zugestanden und dies durch eine Rhetorik- und Poetiktheorie abgesichert, die die Spielräume für die fiktionale Ausgestaltung des Faktischen festlegte. Als Paradefall gilt die fingierte Rede handelnder Personen in historischen Berichten. Auf diese Weise wurde die strenge Opposition zwischen dem historisch Wahren und dem legitim Fiktiven durch die höhere Wahrheit des Exemplarischen überspielt, die mit theoretisch wechselnder Präferenz sowohl dem einen wie dem andern Bereich abzugewinnen war. Poetische Wahrheit ist also in diesem literaturtheoretischen System, an welchem Material sie sich auch darstellen mochte, grundsätzlich beispielhafte Wahrheit. Anders gesagt: sie stand hier wie dort im Dienst der Demonstration vorgegebener moralischer Maximen. Einen Sonderfall klammere ich aus, der durch das christliche Geschichtsverständnis zur antiken Theorie hinzugetreten ist: historische Fakten als Präfigurationen heilsgeschichtlicher Ereignisse; inwieweit dieses typologische Konzept quer zur beispielhaften Wahrheit für die mittelalterliche Literatur Bedeutung besaß, ist eine Frage für sich.4 Die exempelhafte Vermittlung von Wahrheiten war über die Jahrhunderte hin von übermächtiger Wirkung. Und dies ungeachtet der Tatsache, daß die Wahrheit des Beispielhaften, genau besehen, zutiefst fragwürdig ist. Denn sie ist fast unbegrenzt manipulierbar. Aber gerade dies trug wohl mit zum ungeheuren Erfolg der Exempelliteratur bei. Man sammelte Beispielfälle bekanntlich in riesigen Kompendien, um sie nach Belieben zur Verfügung zu haben. Doch gerade wenn man Exempla nebeneinanderstellt und zusammensieht, wird offenkundig, daß sich eine bestimmte ,Wahrheit‘ ebenso gut wie ihr Gegenteil anhand von Beispielfällen plausibel machen läßt. Im 12. Jahrhundert wird man sich dessen nachdrücklich bewußt, doch ist diese Einsicht uralt. Das ›Pan˜catantra‹ kann deshalb als Weisheitsbuch gelten, weil es widersprüchliche Exempla nebeneinanderstellt: so wird auf der einen Seite etwa beispielhaft demonstriert, daß sich Vertrauen auszahlt, und auf der andern, daß man mit grundsätzlichem Mißtrauen besser fährt. Der Paradefall für sich gegenseitig blockierende Beispielerzählungen sind die ›Sieben weisen Meister‹: hier spielt man so lange Exempla gegeneinander aus, bis die Zeit reif geworden ist, die eigentliche Wahrheit zu enthüllen. Johannes von Salisbury ist der große Meister eines Denkens, das den dubiosen Charakter des Exemplarischen durchschaut und die Paralysierung, die sich aus den Widersprüchen ergibt, in den weisen Standpunkt verwandelt, abwägend auf Distanz zum Handeln zu gehen.5 3
Aristoteles, Poetik, 9,1; vgl. Knapp, „Historische Wahrheit“ [Anm. 2], S. 24f., Anm. 60. Siehe dazu Haug, Literaturtheorie, S. 224–227. 5 Dazu grundlegend Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der 4
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II. Zum höfischen Roman
So stehen im 12. Jahrhundert die Proliferation des Exemplarischen und die skeptische Weisheit ihm gegenüber nebeneinander. Die Exempelwahrheit ist billig zu haben, aber jeder Einsichtige muß ihr mißtrauen. Und so fragt es sich denn, ob überhaupt eine zureichende Begründung moralischer Einsichten über Beispielfälle denkbar ist. Handelt es sich nicht grundsätzlich um einen Mißbrauch der Literatur, wenn man sie dazu benützt, Wahrheit über exemplarische Fiktionen zu vermitteln? Und das führt zur Gegenfrage, ob es einen literarischen Ausweg aus dieser Situation gab: War es möglich, fiktional Sinn zu vermitteln und sich dabei der Verpflichtung auf Beispielhaftigkeit zu entziehen oder sie zu unterlaufen? Und es ist dies die Frage, auf die das Wort von der Entdeckung der Fiktionalität im 12. Jahrhundert letztlich zielt: die Frage also nach einer neuen, nicht exemplarisch erschlichenen fiktionalen Wahrheit.
II Vorab ist festzustellen, daß der neue volkssprachliche Roman des 12. Jahrhunderts zunächst der traditionellen lateinischen Literaturtheorie verhaftet bleibt. Insofern er sich als Historie versteht, erhebt er den Anspruch, faktisch wahr zu sein, seine Legitimation aber bezieht er der Theorie gemäß daraus, daß er eine Wahrheit beispielhafter Art zu vermitteln vermag – abgesehen davon, daß er darüber hinaus noch heilsgeschichtlich eingebunden sein kann. Diese doppelte Wahrheit, d. h. das Verhältnis zwischen der Wahrheit des Faktischen und der Wahrheit des Sinns, offenbart sich denn auch in einem scheinbaren Widerspruch, indem einerseits auf strenger Quellentreue insistiert wird und andrerseits die Ausrichtung auf den exemplarischen Sinn durchaus eine mehr oder weniger weit gehende Bearbeitung erlaubt, ja fordert. So versichert etwa Konrad, der Dichter des deutschen ›Rolandsliedes‹, daß er von seiner Quelle nicht im geringsten abgewichen sei. Doch ein Blick auf diese Quelle, die ›Chanson de Roland‹, zeigt, daß er ganz im Gegenteil massiv in sie eingegriffen hat.6 Die höhere Verpflichtung gilt der Wahrheit hinter dem Stofflich-Faktischen. Und man kann sie u. U. durch Verdeutlichungen evidenter vor Augen führen, als die Quelle dies getan hat. Der Terminus für dieses Verfahren heißt afrz. reconter, mhd. erniuwen. Formal betrachtet, kann man es unter dem Aspekt jener Spielräume sehen, die die rhetorische Poetik literarischen Bearbeitungen zugestand. Aber es geht um mehr als um bloß Formales. Der Anspruch auf exemplarische Wahrheit verschafft dem ,Neuerzählen‘ eine höhere Legitimation. Das Ergebnis kann denn auch schillern zwischen rhetorischer amplificatio, gezielter Sinnvertiefung und weitgehender Neuinterpretation, wobei ich nach Silvia Schmitz’ ›Poetik der Adaptation‹ nicht übersehe, daß die letzten beiden Möglichkeiten auch in der Inventiolehre der lateinischen Poetiken einen gewissen Anhalt haben konnten.7 Antike zur Neuzeit und die historiae im ,Policraticus‘ Johanns von Salisbury (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), Hildesheim, Zürich, New York 1988; vgl. auch meine Studie „Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom Pan˜catantra zum ›Dekameron‹“, in: Haug, Brechungen, S. 455–473. Siehe auch unten Anm. 13. 6 Siehe Haug, Literaturtheorie, S. 76–80. 7 Silvia Schmitz, Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ,Eneas‘ Heinrichs von Veldeke,
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
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Bei allen Freiräumen, die sich hier schon auftaten, ist jedoch festzuhalten, daß es erst mit Chre´tiens arthurischem Roman zu einem signifikanten Bruch mit dieser literaturtheoretischen Tradition kommt.8 Zwar operiert Chre´tien im ›Erec‹-Prolog noch mit der Vorstellung, daß er eine vorgegebene Wahrheit aus einer Geschichte ,herausholen‘ (der betreffende Terminus heißt treire: ,herausziehen‘) wolle, die die Erzähler bislang verderbt und verstümmelt hätten.9 Aber auffälligerweise ist das, was er ,herausholt‘ und was er conjointure nennt, ein struktureller Entwurf, der den Sinn der Erzählung herausstellt. Konkret zeigt sich diese conjointure als ein Konstrukt, das Episodenreihen über zwei Handlungskreise in einem komplexen Spiel von Korrespondenzen und Oppositionen miteinander verschränkt. Man hat es somit nicht nur mit einem strukturlogischen Handlungsverlauf zu tun, sondern zugleich mit einem darüber gelagerten Netz von Episoden, die sich in Abwandlungen wiederholen, so daß also sowohl auf den mehr oder weniger stringenten kausalen Zusammenhang der Ereignisse wie auf deren paradigmatische Verflechtung zu achten ist. Nur unter dieser Bedingung vermag sich einem der Sinn der Handlung zu erschließen. Im Musterfall, dem ›Erec‹, folgt auf einen einfachen, weitgehend linear durchgezogenen ersten Handlungskreis – Erec besiegt einen Provokateur und gewinnt eine Frau, Enide – ein zweiter, ausgelöst durch eine Krise, weil Erec, liebessüchtig, seine gesellschaftlichen Pflichten vernachlässigt, und dieser zweite Kursus spielt den ersten in komplexerer Form nochmals durch, wobei er wiederum in zwei sich spiegelnde Triaden gegliedert ist. Die Aventüren der ersten Triade – Kämpfe mit Räubern, Abwehr eines Verführers, der es auf Enide, die mit unterwegs ist, abgesehen hat, ein Kampf mit dem kleinen, überstarken Guivret – gelingen mit relativ leichter Hand. Wenn sich die Situationen in der zweiten Triade abgewandelt wiederholen – ein Riesenkampf, Enide hilflos in der Hand eines Verführers, neuer Kampf mit Guivret –, so führen diese Episoden nun an die äußerste Grenze zum Mißlingen. Man muß, wie gesagt, diese Konstruktion in ihrer paradigmatischen Episodenverflechtung durchschauen, um ihren Sinn zu erfassen. Das impliziert jedoch, daß sie als Konstruktion erkannt wird, und das heißt, daß man sich ihres fiktiven Charakters bewußt wird. Damit steht man vor dem zentralen Problem des Typus. Fiktionen können nach dem herkömmlichen Poetikverständnis nur exemplarische Wahrheiten vermitteln. Sind Chre´tiens Romane also Beispielerzählungen? Die meisten Interpreten sind auf diese Linie eingeschwenkt. Der ›Erec‹ soll ihrer Meinung nach beispielhaft demonstrieren, daß zu viel Sex in der Ehe für das gesellschaftliche Leben schädlich ist; der ›Yvain‹ soll beispielhaft zeigen, daß man Termine gefälligst einzuhalten habe. Das sagt man natürlich nicht so schulmeisterlich platt, sondern man spricht von ,Normendiskussion‘ und dergleichen; doch das kaschiert nur durch gelehrten Jargon die Banalität Tübingen 2007. Angestoßen wurde die Diskussion um den Begriff des erniuwen durch Franz Josef Worstbrock, „Wiedererzählen und Übersetzen“, in: Ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Susanne Köbele u. Andreas Krass, Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters, Stuttgart 2004, S. 183–196. Vgl. meine Auseinandersetzung mit seiner These in meiner Studie „Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts“, in diesem Bd., S. 31–44. 8 Zur Frage der Vorbereitung dieses Umbruchs siehe Hans Fromm, „Doppelweg“, in: Ders., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 122–136. 9 Siehe Haug, Literaturtheorie, S. 100ff.
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II. Zum höfischen Roman
dieses Verständnisses. Beispielhaftigkeit setzt einen klaren kausallogischen Handlungsgang voraus; sie unterstellt, daß unter bestimmten Voraussetzungen ein bestimmtes Resultat zu erwarten ist. Um den Chre´tienschen Roman in diesem Sinne zu lesen, ist man gezwungen, die paradigmatische Ebene des Geschehens zu vernachlässigen und es auf eine flache teleologische Linie zu reduzieren. Ich setze dem die These entgegen, daß der Chre´tiensche Roman darauf zielt, gerade das, was eine Fiktion nach traditioneller Theorie bieten müßte: beispielhafte Wahrheit, kritisch zu unterlaufen. Und dies geschieht durch die paradigmatische Überlagerung der handlungslogischen Linie. Die variierende Wiederholung einzelner Episoden bricht die Teleologie auf. Es war Rainer Warning, der die entscheidende Bedeutung dieser Wiederholungsstruktur für das Verständnis des Chre´tienschen Romans erkannt hat.10 Um ihren subversiven Sinn aufzudecken, hat er sich die Einsichten von Gilles Deleuze in ›Diffe´rence et re´pe´tition‹ zunutze gemacht.11 Wiederholung bedeutet nach Deleuze immer Verkleidung. Dabei verändert die gezielt variierende Wiederholung rückwirkend das Wiederholte, sie wird zur Maske des Vorgängers und macht auch diesen zur Maske. So löst eine Maske die andere ab, ohne daß dahinter eine distinkt faßbare Wahrheit stünde. Das Maskenspiel dient somit allein dazu, die Differenz aufzureißen gegenüber aller teleologischen Erfüllung des Geschehens.12 Die Applikation auf den höfischen Roman lautet – in Warnings Worten –: Jede einsinnig teleologische Lesung tilgt den differentiellen Wert der einzelnen Abenteuer, die nicht einen Begriff, eine Norm verkleiden, sondern als Agon von Normativität und anderweltlicher Dysfunktionalität, anderweltlicher Überschüssigkeit eingesenkt sind in die Ebene der Masken von Leben und Tod.13
Konkret: Wenn der erste Kursus des Chre´tienschen Romans in variierender Abwandlung in der zweiten Ausfahrt wiederholt wird, so wird der syntagmatische Handlungsbogen gebrochen, es öffnen sich die Abgründe der Gegenwelt: Gewalt, Begierde und Tod, und dies in gesteigerter Stufung, und wenn dies doch nicht zur Katastrophe führt, dann dank der fiktionalen Konstruktion, die sich mit ihrem Happy End über die Brüche hinwegsetzt, doch nicht ohne dies zugleich dem aufmerksamen Rezipienten durch seine hohe Artifizialität zum Bewußtsein zu bringen. Programmatisch wird dies in der außerhalb der Triaden stehenden und damit pointiert herausgehobenen Schlußaventüre der Joie de la cort dargestellt: dem Kampf Erecs 10
Rainer Warning, „Fiktion und Transgression“, in: Konzepte der Fiktionalität und die Kulturen des Mittelalters, hg. v. Ursula Peters u. R. Warning [in Vorbereitung]. 11 Gilles Deleuze, Diffe´rence et re´pe´tition, Paris 1968, 102000. 12 Ebd., S. 28: „La re´pe´tition est vraiment ce qui de´guise en se constituant, ce qui ne se constitue qu’en se de´guisant. Elle n’est pas sous les masques, mais se forme d’un masque a` l’autre, comme d’un point remarquable a` un autre, d’un instant privile´gie´ a` un autre, avec et dans les variantes. Les masques ne recouvrent rien, sauf d’autres masques. (. . . ) Bref, la re´pe´tition est symbolique dans son essence, le symbole, le simulacre, est la lettre de la re´pe´tition meˆme. Par le de´guisement et l’ordre du symbole, la diffe´rence est comprise dans la re´pe´tition.“ 13 Warning [Anm. 10]. Was Warning ,Teleologie‘ und ,Normativität‘ nennt, heißt bei Deleuze ,ge´ne´ralite´‘, also das, was vorgibt, identisch zu sein, in Wirklichkeit jedoch über die Abgründe, die in der Wiederholung stecken, hinwegtäuscht. Das Beispielhafte, das Exempel, wäre demgemäß das täuschende Simulakrum par excellence.
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
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gegen Mabonagrain. Mabonagrain hat sich mit seiner amie in einen Zaubergarten eingeschlossen, um dort nur der Liebe zu leben. Er ist als paradiesischer Ort einer vollkommenen Liebesgemeinschaft gezeichnet. Doch diese Idylle steht unter einer Bedingung: sie kann nur so lange währen, als es niemand vermag, Mabonagrain im Kampf zu besiegen. Bislang ist dies niemandem gelungen: die Köpfe der getöteten Herausforderer stecken auf den Zaunpfählen des Gartens. Und die Witwen der Toten leben freudlos in der nahen Burg von Brandigan. All dies schreckt Erec nicht ab, den Kampf zu wagen, ja, er sieht in dieser Aventüre eine in besonderer Weise ihm zugedachte Aufgabe. Er überwindet Mabonagrain, erlöst das Paar aus seiner Isolation und bringt Brandigan die verlorene Freude zurück. Man hat die Symbolik dieser Schlußepisode nicht übersehen.14 Man pflegt darin eine Replik auf das bettsüchtige Leben Erecs und Enides zu sehen, das die zweite Aventürenfahrt angestoßen hat. Man versteht Erecs Sieg über Mabonagrain in dem Sinne, daß er demonstrieren solle, daß Erec nunmehr seine eigene überzogene Erotik hinter sich gelassen habe. Diese gängige Interpretation verkennt die Differenz in der Wiederholung. Was in der Joie de la cort-Episode aufbricht, ist etwas, was Erecs und Enides Liebeslust weit zurückläßt: es ist die untergründige Verbindung von Eros und Gewalt. Die Thematik des Romans zeigt hier ihren letzten Abgrund. Daß der Kampfsieg Erecs ihn äußerlich überspielt, kann nicht bedeuten, daß er überwunden ist, der Zwiespalt, der sich im Miteinander von paradiesischer Liebe und Bluttat offenbart, ist nicht einsichtig bewältigt. Der Sieg über Mabonagrain als bloße Krafttat ist keine Lösung der inneren Widersprüche dieser Episode. Der Leser muß die offensichtliche Aporie in das Happy End hineintragen, und die Erzählung tut dies auch explizit in der Handlung selbst. Nach der Rückkehr des Paares an den Artushof erzählt Erec seine Geschichte, und so wird ihre nur artifiziell übertünchte Abgründigkeit auch in der arthurischen Idealgesellschaft bewußt gehalten. Und man wird sie immer wieder neu auszuloten haben, Erecs Nachfolger in den weiteren Romanen des Typs werden jeder auf seine Weise vor ihr stehen. Jeder Zugriff von einer moralischen Beispielhaftigkeit aus geht also am Entscheidenden vorbei. Den schlagenden Beweis dafür liefert der ›Yvain‹. Yvain begeht denselben Fehler wie die modernen Interpreten: er mißversteht den ›Erec‹ als Exempel. Er will sich deshalb vor dem angeblichen Fehlverhalten Erecs hüten; er verläßt seine schemagemäß im ersten Kursus gewonnene Frau, um nicht seine Rittertüchtigkeit zu verlieren, und scheitert gerade dadurch nur desto katastrophaler. Und auch hier kommt es zu keiner überzeugenden Lösung – und handlungstechnisch beruht sie gar nur auf einem durchtriebenen Trick –, vielmehr landet Yvain am Ende als Verteidiger der Gewitterquelle genau dort, wo Mabonagrain vor seiner Niederlage gestanden hat: er muß wie dieser den Zauberbereich – hier symbolisiert durch die Gewitterquelle –, in dem er mit seiner Frau lebt, unter Lebensgefahr abschirmen. Witziger hätte Chre´tien das Antiexemplarische seines ›Erec‹ nicht demonstrieren können.15 14
Siehe zum Folgenden meine detaillierte Analyse „Chre´tien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 205–222. 15 Eine detaillierte Analyse bietet meine Studie „Chre´tiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹: Das Spiel mit dem arthurischen Modell“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 223–238.
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II. Zum höfischen Roman
Man kann das Aporetische des Chre´tienschen Fiktionalitätskonzepts in den Nachfolgeromanen weiterverfolgen. Im ›Lancelot‹ treibt Chre´tien den Widerspruch und seine Unlösbarkeit auf die Spitze, indem er die absolute Forderung der Liebe ins Groteske überzieht und auf jede Harmonisierung auch äußerlicher Art verzichtet: es fehlt hier die übliche Schein-Integration; die absolute Liebe bleibt in einem quasi-jenseitigen Land von der Artuswelt getrennt und verborgen. Die Aporie ist sozusagen in lokale Positionen auseinandergerissen, zwischen denen es so gut wie keine Berührung gibt – über eine Schwertbrücke höchstens, auf der man sich blutig schneidet. Das Problem zeigt sich auch im Gralsroman. Wie Chre´tien hier damit umgegangen wäre, läßt sein Torso nicht erkennen, doch Wolfram hat es in seiner Umarbeitung klar erfaßt. Es bleibt im ›Parzival‹ offen, wie es dazu kommt, daß der Held am Ende die Erlösungsfrage stellen darf, d. h., Wolfram weigert sich, die Handlung beispielhaft zu konstruieren. Es wird alles vermieden, was man als fiktionale Logik auf das Ziel hin mißverstehen könnte. Parzival versucht den Gral zu erkämpfen, obschon ihm mit aller Deutlichkeit gesagt wird, daß die Gralsburg willentlich nicht zu erreichen ist. Er sieht das nicht ein, und trotzdem gelingt es ihm erstaunlicherweise: es gelingt ihm aus reiner Gnade. ,Reine Gnade‘ heißt, daß Wolfram die Exempelmechanik von Schuld, Reue, Buße und Gnade dezidiert aufbricht und der Unverfügbarkeit der Gnade zu ihrem Recht verhilft. Es gibt im ›Parzival‹ keine Begründung für den rettenden Eingriff Gottes, auch wenn Generationen von Germanisten sich in ihrem exempelverhafteten Unverstand bemüht haben, eine zu finden. Der theatralische Schluß – das „Opernfinale“, wie Bertau gesagt hat16 – spielt auf der Oberfläche über den Bruch hinweg und macht sich untergründig über das bloß inszenierte Ergebnis lustig. Auch Wolfram verweigert sich also – in seiner ihm eigenen, besonders provozierenden Weise – einer beispielhaften fiktionalen Lösung zugunsten einer Wahrheit, die sich nur quer zur Konstruktion in den Bruchstellen zu enthüllen vermag.17 Im Prolog hat er sich bekanntlich explizit zu dem Problem geäußert: der Sinn seiner Erzählung lasse sich nicht als Lehre fassen, d. h., sie ist nicht als moralisches Beispiel zu lesen, sondern ihr Sinn kann nur im Sich-Einlassen auf das narrative Konstrukt und sein Versagen erfahren werden: swer mit disen schanzen allen kan, / an dem haˆt witze wol getaˆn.18 Zwischenbilanz: Wahrheit im eigentlichen Sinn ist über Fiktionen so wenig lehrbar wie über Fakten; fiktional zu vermitteln ist immer nur die Scheinwahrheit des Exempels, und das Exempel vermag, wie gesagt, aus sich selbst heraus keine Wahrheit zu konstituieren, es kann sie nur von woandersher beziehen, aus einem vorgegebenen Wertekanon etwa. Deshalb gilt: Wenn man Geschichten fingiert, kann eine Wahrheit, 16
Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972/73, hier Bd. 2, S. 978. 17 Daß dabei wiederum paradigmatische Bezüge eine bedeutsame Rolle spielen, hat Beate Kellner, „ein maere wil i’u niuwen. Spielräume der Fiktionalität in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘“, in: Peters u. Warning [Anm. 10], gezeigt. 18 Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übers. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994, hier Bd. 1, S. 12, vv. 2,13f. Vgl. meine Interpretation „Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des ›Parzival‹-Prologs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 145–159.
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6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
die jenseits der Beispielhaftigkeit liegt, nur in der Demonstration der Tatsache bestehen, daß sie über Fiktionen nicht erreichbar ist, sondern nur in deren Scheitern aufscheinen kann. Und dieses Scheitern erfolgt technisch über die subversive Wiederholung, die die teleologische Linie aufbricht. Darin besteht die erregende Neuentdeckung der Fiktionalität, d. h. ihrer Problematik, im 12. Jahrhundert. Entscheidend bei dieser Neuentdeckung ist, daß sie ein Fiktionalitätsbewußtsein beim Rezipienten voraussetzt, oder genauer: es evoziert. Im Chre´tienschen Roman ist es die dezidierte Künstlichkeit des Konstrukts, das über seine Episodenkorrespondenzen und -oppositionen dieses Bewußtsein jedem, der nicht in völliger Naivität befangen ist, aufdrängt. Darüber hinaus sparen die Dichter nicht mit mehr oder weniger massiven Fiktionalitätssignalen verschiedenster Art. Die Forschung hat dies hinreichend herausgestellt: die Verwendung märchenhafter, völlig unglaubwürdiger Motive, die spielerische Einbeziehung des Publikums in den Erfindungsprozeß, offenkundig fiktive Quellenberufungen usw. Daß die Absicht all dieser Strategien darin besteht, den fiktionalen Charakter des Erzählten bewußt zu machen, ist schwerlich zu bezweifeln. Doch man darf bei dieser Feststellung nicht stehen bleiben, sondern muß, wie gezeigt, auch den nächsten Schritt nachvollziehen, der mit dem neuen Roman getan worden ist: man muß ihn als Protest gegen die traditionelle Literaturtheorie und ihren exemplarischen Fiktionalitätsbegriff lesen. Der scheinbar über die teleologische Handlungslinie vermittelte exemplarische Sinn wird durch die Wiederholungsstruktur aufgebrochen, wodurch eine untergründige Problematik zutage tritt, die nicht wirklich bewältigt wird, sondern offen bleibt. Daß dies Schwierigkeiten macht, zeigen nicht nur die Mißverständnisse der modernen Interpreten, sondern auch die Nachfolgeromane, die nur allzu bereitwillig wieder in die Bequemlichkeit des Exemplarischen zurückfallen, ja sich ausdrücklich als Exempelromane präsentieren können, besonders prägnant: ›Der guote Gerhart‹.19
III Es muß somit im Hinblick auf die sogenannte Entdeckung der Fiktionalität im 12. Jahrhundert zweierlei unterschieden werden: einmal das Bewußtsein des Dichters, daß er über seine Materialien frei verfügen kann, und dies im Einverständnis mit seinem Publikum, dem er diese Freiheit bewußt macht; und zum andern, auf beiden Seiten, das Wissen darum, daß Fiktionen, wenn sie als solche bewußt gemacht werden, insofern fragwürdig erscheinen, als ihre Wahrheit als bloß exemplarische Wahrheit unverbindlich bleiben muß. Deshalb zielt die Frage nach der neuen Fiktionalität darauf, ob und, wenn ja, in welcher Weise es möglich geworden ist, die windige Wahrheit des Beispielhaften zurückzulassen und der Dichtung einen Zugang sui generis zur wirklichen Wahrheit oder einer wirklichen Wahrheit zu eröffnen. Chre´tien hat im Prinzip den Weg gewiesen, den die Dichtung zu gehen hat. Er führt über eine Organisation der Materialien, bei der die teleologische Handlungslinie Beispielhaftigkeit suggeriert, in paradigmatischer Ver19
Siehe Klaus Speckenbach, „Die Ausbildung des Exempelromans“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann, Anne Simon (Trends in Medieval Philology 7), Berlin, New York 2005, S. 309–329.
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II. Zum höfischen Roman
netzung aber gebrochen wird. Und in diesen Brüchen scheint die Gegenwelt der arthurischen Idealität auf, die zwar in der Handlung überspielt wird, im Erzählen jedoch präsent bleibt. Ich überprüfe nun diesen am arthurischen Roman gewonnenen Befund zur Bedeutung des Fiktionalitätsbewußtseins für die neue Erzählliteratur des 12. Jahrhunderts an einem Werk, dessen Entstehungsbedingungen von ganz anderer Art waren. Ich denke an den ›Tristran‹ des Thomas von England. Thomas könnte am bedeutendsten literarischen Zentrum der Zeit, am Hof Heinrichs II., tätig gewesen sein, wenngleich dies nicht zu sichern ist.20 Jedenfalls aber darf man davon ausgehen, daß er von der neuen Romanliteratur Kenntnis hatte und damit auch um ihre Fiktionalitätsproblematik wußte. Der ›Tristan‹ tritt bekanntlich nicht als literarischer Entwurf plötzlich auf den Plan wie Chre´tiens Artusroman, sondern als Thomas diesen Stoff aufgreift, ist er schon über mehrere Stufen herangewachsen und in seinem Ablauf grosso modo festgelegt, d. h., es war ihm nur sehr beschränkt möglich, fiktional frei über den Stoff zu verfügen. Konnte also das neue Literaturverständnis auf der Basis des Fiktionalitätsbewußtseins bei ihm irgendwo ansetzen? Nur dann war der Stoff auf dem literarischen Niveau der Zeit zu bearbeiten, andernfalls mußte man sich zwangsläufig mit einer beispielhaften Wahrheit begnügen. In den uns erhaltenen Fragmenten des Thomas’schen ›Tristran‹ – es sind freilich nur etwas über 3000 Verse, wohl etwa ein Viertel des ganzen Werkes – finden sich zwei literaturtheoretische Stellen. Die erste steht vor jener Episode, in der berichtet wird, daß Tristran im Kampf für Tristran Le Naim durch einen vergifteten Speer verwundet wird, was schließlich zu seinem Tod führt.21 Thomas bemerkt, daß diese Episode in unterschiedlicher Weise erzählt werde. Er wolle sie vereinheitlichen (unir) und nur so viel berichten, wie nötig sei, und alles Überflüssige beiseite lassen. Aber er möchte mit dieser Vereinheitlichung doch nicht zu weit gehen: Ne vol pas trop en uni dire (v. 2265). Das bleibt im Rahmen rhetorischer Lizenzen. Und dann bemerkt er zu den unterschiedlichen Fassungen: er habe sie zur Kenntnis genommen und dabei festgestellt, daß viele nicht jener einzig richtigen Version folgten, die sich Breri verdanke, der sie den Chroniken über die britischen Könige und Grafen entnommen habe. Dieser Breri war ein auch anderweitig erwähnter bretonischer Sänger.22 Es handelt sich also um eine Autoritätsberufung. Und schließlich geht Thomas kritisch auf eine bestimmte Version ein, nach der Tristran seine vergiftete Wunde von einem Zwerg empfangen haben soll, mit dem er sich, Kaherdin unterstützend, in einen Kampf einlassen mußte, nachdem dieser die Frau des Zwergs verführt hatte. Tristran habe, nach dieser Version, dann Guvernal zu Ysolt geschickt, um sie herzubitten, damit sie ihn heile. Das aber könne nicht richtig sein, denn Guvernal sei in England so bekannt gewesen, daß er keine Chance gehabt 20
Siehe Bartina H. Wind, „Nos incertitudes au sujet du ,Tristan‘ de Thomas“, in: Me´langes (. . . ) offerts a` Jean Frappier, Gene`ve 1970, 2 Bde., hier Bd. 2, S. 1129–1138. 21 Thomas, Tristan et Yseut, hg. u. übers. v. Ian Short u. Christiane Marchello-Nizia, in: Tristan et Yseut, hg. v. Christiane Marchello-Nizia (Bibliothe`que de la Ple´iade), Paris 1995, S. 123–212, hier S. 184, vv. 2261ff. 22 Zur Diskussion um diesen Sänger siehe die Literatur bei Marchello-Nizia [Anm. 21], S. 1275, Anm. 1 zu S. 185.
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
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hätte, Ysolt die Botschaft zu bringen und mit ihr wegzufahren. Wer so erzähle, verletze die Logik; er wolle demgegenüber jene Version bieten, die sich durch ihre raisun legitimiere. Rhetorische Lizenz, Autoritätsberufung, Handlungslogik – das ist eine ebenso massive wie traditionelle Absicherung. Man kann den Verdacht schwer loswerden, daß Thomas sich unter diesem dreifachen Deckmantel einen literarischen Spielraum eröffnen wollte, um seine eigene Version zu bieten, eine Version, die es – soweit wir die Stoffgeschichte überschauen – zuvor vermutlich nicht gab. Jedenfalls macht ein Vergleich mit der Tradition, wenn man sie hauptsächlich durch die sogenannte ›Estoire‹ und Eilhart repräsentiert sieht, augenfällig, wie stark er in die Überlieferung eingegriffen haben dürfte. Doch dieses Verfahren führt – anders als bei den arthurischen Dichtern – nicht dazu, daß der literaturtheoretisch traditionelle Ansatz in einen expliziten Anspruch auf fiktionale Freiheit umkippt; es gibt bei Thomas in den erhaltenen Fragmenten keine Signale, über die er sich mit seinem Publikum über den fiktionalen Charakter seiner Erzählung verständigen würde. Es wird auch in der Schwebe gehalten, wo der Roman zwischen Historie und Fiktion anzusiedeln ist. Heißt das, daß beim Publikum kein Fiktionalitätsbewußtsein zum Verständnis des Werks vorausgesetzt wird? Und wenn nein, ist daraus zu folgern, daß der ›Tristran‹ exemplarisch zu lesen ist? Es überrascht nicht, daß die überwiegende Mehrheit der Interpreten dieser Meinung ist. Doch stellt man mit einiger Verblüffung fest, daß die Deutungen völlig kontrovers ausfallen. Die einen halten den Roman für eine Verherrlichung der fin’amor,23 die andern sehen in ihm eine Beispielerzählung zur Demonstration der Verderblichkeit sinnlicher Liebe.24 Wie ist es zu erklären, daß man ihn dermaßen widersprüchlich verstehen konnte? Ich ziehe die zweite literaturtheoretische Stelle zu Rate. Sie findet sich im Epilog (vv. 3279ff.). Hier sagt Thomas, daß er nach bestem Können erzählt und die ganze Wahrheit geboten habe. Dabei habe er zweierlei getan: zum einen die Geschichte in eine schöne Form, in Verse, gebracht, damit man Vergnügen daran haben könne, und zum andern habe er mit ihr ein Beispiel (essample) geben wollen – also das traditionelle delectare und prodesse –, aber dann fährt er fort: ein Beispiel, damit Liebende da und dort in ihr etwas zu finden hätten, u se puissent recorder, wörtlich: ,wo sie sich erinnern können‘, gemeint ist damit wohl: etwas, das bei ihnen anklingt, das sie sich zu Herzen nehmen können; Baumgartner/Short sagen in ihrer Ausgabe: eine „matie`re a` me´diter“.25 23
z. B. Jean Frappier, „Structure et sens du Tristan: version commune, version courtoise“, Cahiers de Civilisation Me´die´vale 6 (1963), S. 255–280 und S. 441–454, hier S. 260ff.; Anthime Fourrier, Le courant re´aliste dans le roman courtois en France au Moyen-Aˆge, Bd. 1: Les de´buts (XII e sie`cle), Paris 1960, S. 106f.; Douglas Kelly, „Topical Invention in Medieval French Literature“, in: Medieval Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Medieval Rhetoric, hg. v. James J. Murphy, Berkeley 1978, S. 231–251, hier S. 247ff. 24 z. B. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik (Beihefte zur Zs. f. romanische Philologie 97), 2. Aufl., Tübingen 1970, S. 149ff.; Pierre Jonin, Les personnages fe´minins dans les romans franc¸ais de Tristan au XIIe sie`cle. E´tude des influences contemporaines, Aix-en-Provence 1958, passim; Evelyn Birge Vitz, „Desire and Causality in Medieval Narrative“, Romanic Review 71 (1980), S. 214–243, hier S. 229ff. 25 Thomas, Le Roman de Tristan, suivi de La Folie Tristan de Berne et La Folie Tristan d’Oxford, hg. u. übers. v. Emmanue`le Baumgartner u. Ian Short (Champion Classiques, Se´rie ,Moyen ˆ ge‘ 1), Paris 2003. A
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II. Zum höfischen Roman
Und das soll den Liebenden Trost (confort) geben angesichts der Unbeständigkeit der Liebe, ihres Unrechts, ihres Leids, ihrer Tränen und all ihrer Ränkespiele.26 Der Schluß irritiert. Inwiefern soll die Geschichte von Tristran und Ysolt für Liebende ein Beispiel sein? Und inwiefern und zu welchem Zweck kann ein literarischer Beispielfall mit den eigenen Erfahrungen der Hörer oder Leser zusammenspielen? Und schließlich, wie vermag das Nachdenken darüber confort, ,Trost‘, ,Erleichterung‘, zu bringen? – confort angesichts jener Erfahrungen, die am Ende genannt werden: angesichts der desaströsen Folgen der Liebe – Thomas sagt encuntre: ,gegen‘ diese Folgen –, und das heißt doch wohl, daß seine Geschichte von den Hörern oder Lesern positiv verstanden werden sollte. Aber was spendet denn ,Trost‘? Der Epilogschluß bezieht sich ja auf die Liebenden allgemein, also auch auf die negativen Erfahrungen, die die Hörer oder Leser selbst mit der Liebe gemacht haben. Man gerät dadurch überraschend auch hier in einen Widerspruch hinein, der eine platte Beispielhaftigkeit fragwürdig macht. recorder meint – entgegen dem essample-Hinweis – nicht exemplarische Vergegenwärtigung: bei diesem recorder geht es vielmehr um einen Erfahrungsprozeß anhand einer Erzählung, der quersteht zu allem, was einer eindeutigen Lösung des Problems gleichkäme. Wenn diese Position das Konzept des Romans prägt, stellt sich die Frage, wie Thomas es narrativ umgesetzt hat und wie er es seinem Publikum zu vermitteln versuchte. Er kann ja nicht wie Chre´tien und seine Nachfolger ein Konstrukt entwerfen, das sich in seiner Fiktionalität selbst entlarven und damit in eine Aporie hineinführen würde, und er verzichtet, wie gesagt, auch darauf, seine Erzählung als freie Erfindung explizit bewußt zu machen, ja, er kaschiert dies vielmehr mit Bedacht. Doch Thomas hat offensichtlich vom arthurischen Roman eines gelernt, nämlich die Brechung der linearen Handlung durch Episodenvariation. Da er aber nicht die Möglichkeit hatte, die Episoden analogisch-kontrastiv in eine Struktur einzusetzen, konnte er sie nur in freier Opposition gegeneinanderstellen. So hat er denn in der auffälligsten Weise mit spiegelbildlichen Szenen gearbeitet, wobei ihm entgegenkam, daß der Stoff schon eine Reihe von Doppelungen mit sich brachte: zwei Irlandfahrten Tristrans, zwei Vergiftungen, die Blonde Ysolt gegenüber Ysolt Weißhand, mehrfache Englandfahrten in wechselnden Verkleidungen nach der Trennung u. a. m. Thomas hat diese Doppelungstechnik signifikant weitergetrieben. So schafft er kontrastiv zur Liebesgrotte, in der die Liebe Tristrans und Ysolts ihre höchste, symbolische Erfüllung findet, eine Statuengrotte, in der Tristran sich mit den lebensnahen Gestalten Ysolts, Brengveins und anderer Figuren aus der Vergangenheit umgibt und ihnen gegenüber seine Zweifel und seine innere Verwirrung artikuliert. Er erfindet zwei Riesenkämpfe, wobei Tristran im ersten schwer verwundet wird, während er im zweiten heil davonkommt, und dies spiegelt sich wiederum im Kampf gegen Estult, dessen Beiname Orgillius mit dem Namen des ersten Riesen identisch ist, wobei er nun seine tödliche Wunde empfängt. Und diese vergiftete Wunde hat wiederum das Gegenbild in der Giftwunde, die Morolt ihm beigebracht hat: 26
Thomas, Tristan [Anm. 21], vv. 3289–3298: E diz e vers i ai retrait, / Pur essample issi ai fait / Pur l’estorie embelir, / Que as amanz deive plaisir, / Et que par lieus poissent trover / Choses u se puissent recorder. / Aveir em poissent grant confort / Encuntre change, encontre tort, / Encuntre paine, encuntre dolur, / Encuntre tuiz engins d’amur.
6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
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im ersten Fall ist er durch Ysolt, die Mutter, geheilt worden, im zweiten Fall wird Ysolt, die Tochter, zu spät kommen, um ihn zu retten. Zweimal gelangt Tristran nach der Trennung an den Markehof, einmal künstlich verunstaltet als Aussätziger und das zweite Mal als Pilger verkleidet. Beim ersten Mal findet er beinahe den Tod, und nur in äußerster Not und durch unerwartete Hilfe kommt er davon und kann er die Geliebte erreichen; das zweite Mal gelangt er mühelos zu ihr und wagt es dann, sich anonym an einem Turnier zu beteiligen, um als Sieger daraus hervorzugehen. Aber Thomas hat diese Doppelungstechnik nicht nur aus seiner Quelle übernommen und weitergetrieben und die teleologische Linie dadurch – in auffälliger Analogie zur arthurischen Episodenvariation – aufgebrochen und sie vor ihre Abgründe geführt, sondern er hat ihr noch einen zusätzlichen Sinn gegeben. Es kommt immer wieder zu Spiegelungen von Figuren und Situationen, durch die Prozesse ausgelöst werden, in denen die Betroffenen zu sich selbst kommen. Tristran heiratet die zweite Ysolt nur, weil sie den gleichen Namen hat wie die Blonde Ysolt und so schön ist wie diese; andernfalls, so heißt es ausdrücklich, hätte er sich nicht auf die zweite eingelassen (vv. 403ff.). Ysolt Weißhand ist fast seine irische Ysolt, sie ist ihr zum Verwechseln ähnlich und ist eben doch nicht mit ihr identisch; er versucht also sozusagen, Ysolt mit ihr selbst zu betrügen und dabei zugleich zu erfahren, wie sie ihre Beziehung zu Marke erfährt, d. h. wie es ist, wenn man sich der Lust hingibt, ohne zu lieben, und versucht so, sich ihr anzunähern. Eine Variation dazu bietet die Grotte: die Statue Ysolts ist seiner Geliebten so lebensnah ähnlich, daß er mit ihr argumentieren, sie beschimpfen oder umwerben kann. Aber sie ist eben doch nur ein Abbild, über das er die wirkliche Ysolt nicht wirklich in die Gegenwart zu holen vermag. Es geht um eine Verlebendigung der Erinnerung, die zum Äußersten getrieben wird und die ihn am Ende doch auf sich selbst zurückwirft. Und schließlich wird auch Tristran selbst gedoppelt, er begegnet einem zweiten Tristran, Tristran le Naim, der als die Verkörperung jener absoluten Liebe erscheint, die für ihn selbst bestimmend ist. Dieser zweite Tristran fordert ihn zwingend dazu auf, ihm zu helfen, seine Geliebte, die man ihm geraubt hat, zu retten. Er duldet es nicht einmal, daß man den nächsten Tag abwartet, sondern er verlangt im Namen jener Liebe, der Tristran verpflichtet ist, daß man sofort aufbricht und sich in den Kampf gegen den Entführer stürzt. Man stellt sich tollkühn einer Übermacht entgegen; Tristran le Naim kommt dabei um, und er nimmt damit Tristrans Tod vorweg, den dieser durch jene vergiftete Wunde erleiden wird, die er in diesem Kampf empfängt. Tristran stirbt also letztlich, weil er durch jene absolute Liebe gebunden ist, die ihm in Tristran le Naim begegnet. Aber wenn er einerseits aufgrund dieser Bindung an die unbedingte Liebe stirbt, so stirbt er andrerseits, weil er lügt, weil er täuscht: er belügt seine Frau, und als sie es erfährt, belügt sie ihn wieder, indem sie behauptet, daß das Segel des rettenden Schiffs schwarz sei, und sein Glaube an die Liebe Ysolts bricht vor dieser Lüge zusammen. Und darin zeigt sich, daß die Figuren sozusagen auch in sich selbst gedoppelt sein können: Tristran opfert sich bedingungslos für die Liebe, und er verzweifelt an der Liebe. Einen Paradefall für diesen personalen Umschlag in den Widerspruch stellt auch Brengvein dar: sie, die getreueste Freundin und Helferin der Liebenden, erscheint – mit forciert eigenwilliger Begründung – plötzlich als ihre härteste Kritikerin: ihr vernichtendes Urteil bei der großen Auseinandersetzung mit Ysolt würdigt deren Liebe zu einer Gemeinheit, zu einem Verbrechen herab.
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II. Zum höfischen Roman
Auf diese Weise können die Aspekte immer wieder radikal umkippen. Indem einzelne Szenen oder Figuren Gegenszenen bzw. Gegenfiguren in Erinnerung rufen, die sie abwandeln, zuspitzen oder konträr umformulieren, oder indem sie in sich selbst changieren, erscheinen die Ereignisse in einem zwiespältigen Geflecht von analogen oder kontrastiven Korrespondenzen. Nicht nur der Hörer oder Leser steht ihnen irritiert gegenüber – das erklärt die radikal konträren Interpretationen –, sondern auch die handelnden Personen werden in zwiespältige Situationen gestoßen. Und diese veranlassen sie zu Reflexionen, die sich in Monologen, ja dramatischen inneren Dialogen darstellen und die von einer Zerrissenheit des Denkens und Empfindens zeugen, wie man sie in einem arthurischen Roman vergeblich suchen würde. Und dazu kommt, daß man in diesem Variieren der Aspekte und Verständnismöglichkeiten nirgendwo einen Standpunkt findet, den man dem Erzähler oder gar dem Autor zuweisen könnte. Die Widersprüche treten unversöhnt zutage und müssen ausgehalten werden. In dem Maße aber, in dem einem dies bewußt wird, wird man jeder Eindeutigkeit des Verständnisses und d. h. aller Beispielhaftigkeit eine Absage erteilen und statt dessen in das Erinnerungsspiel eintreten, das Thomas einem vorführt, und man wird dieses recorder, wie er es im Epilog verlangt, zum Rezeptionsmodus machen. Man kann sagen, daß man mit dieser Sicht einer Vielstimmigkeit in einem komplexen literarischen Horizont, vor der der Autor zurücktrete, ihr Recht gebe,27 doch darf man dies nicht als postmoderne Beliebigkeit mißdeuten, sondern muß es im Sinne der Thomas’schen Literaturtheorie als Appell verstehen, sich auf den Erfahrungsprozeß, der dabei vorgeführt wird, einzulassen. Man kann nun fragen, ob das Eintreten in dieses Spiel ein Fiktionalitätsbewußtsein voraussetzt, und man wird wohl zu antworten haben, daß es eher implizit bei der literarischen Erfahrung mitschwingt, als daß es explizit gefordert würde. Es gibt kein Konstrukt, das in seiner Fiktionalität in die Reflexion geraten müßte, so daß die Aporien zutage treten, sondern die Aporien werden hier in offenen Variationen und Perspektivenwechseln unmittelbar vor Augen geführt. Man könnte jedoch auch hier die These von Deleuze aufgreifen, nach der die Wiederholung nicht als etwas Identisches in Variation anzusehen ist, sondern als eine Verkleidung, ein Simulakrum, in dem die unvermeidliche Differenz steckt, und damit, so sagt Deleuze, sei sie ihrem Wesen nach imaginär, sie besäße demnach fiktiven Charakter. Die Wiederholung als solche decouvriert sich als etwas Erfundenes und macht damit rückwirkend auch das Wiederholte zur Fiktion.28 Doch auch dies muß nicht zwingend ins Bewußtsein treten.
27
Siehe Volker Roloff, „Intertextualität und Problematik des Autors (am Beispiel des Tristan von Be´roul)“, in: Artusroman und Intertextualität (Beiträge der deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16. bis 19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.), hg. v. Friedrich Wolfzettel, Gießen 1990, S. 107–125. 28 Siehe Warning [Anm. 10]. Er bezieht sich auf Deleuze [Anm. 11], S. 103: „Soutirer a` la re´pe´tition quelque chose de nouveau, lui soutirer la diffe´rence, tel est le roˆle de l’imagination ou de l’esprit qui contemple dans ses e´tats multiples et morcele´s. Aussi bien la re´pe´tition dans son essence est-elle imaginaire, puisque seule l’imagination forme ici le ,moment‘ de la vis repetitiva du point de vue de la constitution, faisant exister ce qu’elle contracte a` titre d’e´le´ments ou de cas de re´pe´tition.“
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6. Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein
IV Rezeption als Erinnerungsprozeß im Blick auf die variierenden Spiegelungen von Situationen und Figuren als erstes, ungelöst offene Widersprüchlichkeit als Blockade alles Beispielhaften als zweites und drittens ein verdecktes Fiktionalitätsbewußtsein – was wird aus diesen drei Charakteristika des Thomas’schen Romans, wenn Gottfried von Straßburg ihn adaptierend ins Mittelhochdeutsche umsetzt? Ich beginne mit dem letzten Punkt. Gottfried macht den bei Thomas impliziten fiktionalen Charakter der Tristan-Erzählung programmatisch bewußt. In dieser Absicht hat er die erste Literaturstelle des Thomas in pointierter Abwandlung übernommen. An die Stelle von dessen Gewährsmann Breri, der allein die richtige Fassung überliefert haben soll, setzt Gottfried seine eigene Quelle, also: Thomas, auf den er sich zu verlassen vorgibt; doch die Suche nach der richtigen Version in den Chroniken überläßt er nicht nur diesem, sondern er will sich selbst auf den Weg nach England gemacht haben, um dessen Fassung anhand von walschen und latıˆnen buochen zu überprüfen.29 Gottfried hat offensichtlich die Quellenfiktion des Thomas durchschaut und sich einen Spaß daraus gemacht, sie zu überbieten und damit die Fiktion offenzulegen. Zugleich übernimmt er dessen Strategie, sich über die Absicherung durch die angeblich einzig authentische Fassung einen Freiraum für die eigene Version zu eröffnen. Aber indem er dieses Verfahren durch die angebliche Archivreise nach England, von der er annehmen konnte, daß niemand sie ihm glaubt, überzieht und damit ironisiert, nimmt er, anders als Thomas, von Anfang an unverstellt eine fiktionale Freiheit für sich in Anspruch. Und das ist nicht das einzige Fiktionalitätssignal, sondern es findet sich ein massives Bekenntnis zur Fiktionalität an jener Stelle, an der er seine Geschichte völlig ins Irreale überhebt, ich denke an die Minnegrotte. Gottfried lokalisiert diese Grotte in Cornwall, bemerkt aber, daß er sie selbst auch betreten habe, obschon er nie dort gewesen sei. Die Grotte ist jenseits ihrer Position in der Tristan-Geschichte ein imaginärer Ort, der für die Erfahrung der vollkommenen Liebe steht. Sie ist immer und überall möglich und insbesondere im Zusammenwirken mit der erzählten Geschichte. Und dies wiederum hängt mit einer hier nun explizit ausformulierten Literaturtheorie zusammen. Was Thomas mit recorder als Form der Rezeption nur andeutet, das entwickelt Gottfried zu einer programmatischen Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer bloß beispielhaften Literatur. Zwar wird die Liebe Tristans und Isolds als ein idealer Paradefall beschworen, aber ihre Geschichte ist kein Exempel, das als Vorbild nachzuahmen wäre, sondern sie ist ,Brot‘ für die Hörer und Leser. Die Brotmetapher bedeutet, daß man sich die Erzählung als Liebender anverwandelt und sich dabei mitverwandelt. Und weiterhin verlangt die explizite Ablehnung aller Beispielhaftigkeit ein entsprechendes Verhältnis zum Widersprüchlichen. Während die konträren Positionen bei Thomas aporetisch nebeneinander stehen, thematisiert Gottfried die Widersprüchlichkeit und erhebt sie zum Prinzip seiner Liebesidee. Bei Thomas wechseln dolur und confort in der Liebe einander ab, bei Gottfried gehört beides im Innersten zusammen. Liebe ist höchste Beseligung und Sündenfall in einem, sie ist Verklärung und Verbre29
Tristan, hg. Ranke, vv. 157ff.
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II. Zum höfischen Roman
chen. Die Maßlosigkeit des Absoluten muß das Maß verletzen, und das Maß bleibt defizient ohne die Rückbindung an die Maßlosigkeit: Gottfried hat dies in seinen Exkursen grandios expliziert30, und man könnte sich wohl denken, daß es die offene Aporetik des Thomas war, die ihn aufstachelte – wie sie auch die heutigen Leser aufstachelt –, ja, die ihn geradezu gezwungen hat, sie theoretisch zu durchdringen. Es ist jedenfalls offensichtlich: Gottfried baut sein Konzept von Thomas her auf. Er hat die kritischen Punkte des Thomas’schen Erzählprinzips klar erfaßt, sie programmatisch herausgestellt und in die Reflexion gebracht: er hat – um es noch einmal zusammenzufassen – 1. die bei Thomas implizite Fiktionalität explizit gemacht, er hat 2. eine antiexemplarische Literaturtheorie entworfen: das recorder des Thomas ist zum Nachvollzug im Sinne eines Erfahrungsprozesses über eine Fiktion geworden, während er 3. den Positionswechsel in der Variation in ein prinzipiell aporetisches Liebeskonzept übergeführt hat. Damit ist ein nachgerade moderner literaturtheoretischer Fiktionalitätsbegriff gewonnen, und er hätte das künftige Erzählen auf seinem hohen Niveau weiterführen können – wenn man ihn denn verstanden hätte und nicht schnell wieder in die Billigkeit des Beispielhaften abgerutscht wäre. Aber wie könnte man das den Zeitgenossen verdenken, wenn auch heutige Interpreten, die es besser wissen müßten, genau so billig verfahren?
30
Siehe meine Analyse „Erzählung und Reflexion in Gottfrieds ›Tristan‹“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 160–171.
7. Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹ oder Die Geburt des Romans aus dem Scheitern am Absoluten
I Der altfranzösische Tristan-Roman des Thomas von England erzählt das Ende der Geschichte so: Das Schiff, auf dem die irische Isold zur Bretagne fährt, hat weiße Segel aufgezogen – das ist das Zeichen dafür, daß sie Tristans Hilferuf folgt und kommt, um den an einer Giftwunde dahinsiechenden Geliebten mit ihrer Wunderarznei zu retten. Aber Tristans Gattin, Isold Weißhand, die über das Zeichen Bescheid weiß, lügt ihren Mann an, als er nach der Farbe der Segel fragt: sie sagt, sie seien schwarz, worauf Tristan in Verzweiflung stirbt. Isold, die wegen eines Sturms und dann einer Windstille verzögert das Ufer erreicht, eilt durch die trauernde Stadt zu seinem Totenbett, sie legt sich neben ihn, und ihr Herz bricht. Daraufhin läßt Isold Weißhand die beiden getrennt auf den gegenüberliegenden Seiten der Kirche begraben, aber aus den Gräbern wachsen zwei Bäume hoch, deren Äste sich über dem Kirchendach verflechten. ,So mächtig‘, heißt es, ,war Tristans und Isolds Liebe.‘ Und dies wird geboten als Apotheose einer ehebrecherischen Leidenschaft, die keine Grenzen kennt und an der das Paar schließlich zerbricht, zerbricht durch ein Ineinanderspielen von äußeren Zufälligkeiten und innerer Verzweiflung! Der Tristan-Roman ist ein Skandalon, und der Schluß treibt es auf die Spitze. Wer das nicht sieht, ist romantisch verblendet. Nun findet sich das Motiv der sich verflechtenden Bäume freilich nur in der norwegischen Bearbeitung durch einen Bruder Robert1. In den beiden Fragmenten der Vorlage, also der Version des Thomas2, die den Schluß überliefern, fehlt es. Sie bieten ihn im übrigen in unterschiedlicher Weise, d. h., sie haben ihn vermutlich jedes auf seine Weise gekürzt. Es ist nicht mit völliger Sicherheit zu sagen, daß das Motiv ursprünglich bei Thomas gestanden hat, aber die Wahrscheinlichkeit spricht doch sehr dafür. Denn der norwegische Übersetzer hat seine Vorlage hauptsächlich gekürzt und kaum Neues hinzugefügt. Zu dem wenigen, was offensichtlich von ihm stammt, gehört aber ein Gebet Isolds vor ihrem Tod, in dem sie Gott um Vergebung bittet. Das war sein klerikaler Ausweg, dem Skandalon des Schlußmotivs der sich verflechtenden Bäume den Stachel zu nehmen. Man hätte freilich erwartet, daß er das Motiv dann entsprechend interpretieren würde, nämlich als Zeichen dafür, daß Gott den Liebenden vergeben hat. Stattdessen hat Robert den wohl ursprünglichen provokativen Kommentar stehen lassen: ,So mächtig war ihre Liebe.‘ 1 2
Tristrams Saga ok I´sondar, hg. u. übers. v. Eugen Kölbing, Heilbronn 1878, S. 112. Thomas, Tristan, hg. u. übers. v. Gesa Bonath (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 21), München 1985.
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II. Zum höfischen Roman
Wenn man also wohl berechtigt ist, den norwegischen Schluß der Vorlage zuzuweisen, dann faßt man in dieser Macht der Liebe, ins Bild gebracht durch die sich verflechtenden Bäume, dann faßt man in diesem Bild und diesem letzten Wort gegenüber dem Scheitern der Liebenden das Thomas’sche Romankonzept. Tristan und Isold mögen an Lügen, Verwirrungen, Zweifeln zugrunde gehen, die Wahrheit ihrer Liebe, ihre Unbedingtheit, die immer wieder durchschlägt, behauptet ihr Recht über die Katastrophe hinweg. Man versteht, daß die Überlieferung mit diesem ungeheuerlichen Finale nicht zurechtgekommen ist und daß die modernen Interpreten ebenso davor versagt haben. Und keinesfalls ist dies eine morbide Verbindung von Liebe und Todessehnsucht, es ist keine romantische Verklärung des Eros im Tod, sondern es handelt sich um das Gegenüber einer Wirklichkeit, die vor dem Absoluten versagen muß und in der das Absolute doch seine Macht und sein Recht erweist. Das ist eine Aporie, die nicht aufzulösen ist, von der man nur erzählen kann, die man nur im Erzählen begreift, indem man sie dabei gerade nicht begreift, aber sie über allem Begreifen als Wahrheit erfährt.
II Wir wissen nicht, wie Gottfried von Straßburg, der den Thomas’schen Roman ins Mittelhochdeutsche umgesetzt hat,3 den Schluß gestaltet hätte, denn er hat seine Fassung, aus was für Gründen auch immer, bekanntlich nicht zu Ende führen können. Aber etwas bevor er abbricht, hat er einen Exkurs eingefügt, den sogenannten huote/wipheit-Exkurs, der, richtig interpretiert, deutlich macht, daß Gottfried das Konzept des Thomas genau verstanden hat, ja, dieser Exkurs wird überhaupt erst vor dem Hintergrund jener Problematik, die bei Thomas aufbricht, in seinem Sinn durchsichtig. Gottfried sagt in diesem Exkurs, es gehe weder darum, eine Frau so zu bewachen, daß ihr kein Fehltritt möglich sei, noch darum, daß sie asketisch sich selbst diszipliniere und ihre wipheit, ihre Weiblichkeit, ihre weibliche Erotik, damit verleugne, vielmehr käme es darauf an, daß eine Frau lip und ere, ihre Weiblichkeit und ihre Einbindung in die gesellschaftliche Ordnung, zu einem Ausgleich bringe. Wenn ihr dies gelinge, so verwandle sie das Herz des Mannes, dem sie sich zuwende, in ein lebende[z] paradis (v. 18066). Man hat dies immer wieder als eine utopische Forderung verstanden, um dann festzustellen, daß auch Tristan und Isold ihr nicht zu genügen vermochten, denn es folgt gleich darauf jene Szene im Baumgarten, in der die Liebenden in flagranti beim Ehebruch ertappt werden. Und in diesem Zusammenhang spielt Gottfried denn auch explizit auf den biblischen Sündenfall an: Isold ,verführt‘ Tristan dazu, sich am hellichten Tag mit ihr der Liebe hinzugeben, sie werden von König Marke überrascht. Während der König geht, um Zeugen herbeizuholen, kann Tristan fliehen – dies deutlich genug als Variante zur Verstoßung des Urelternpaars aus dem Paradies. Und nach der Trennung der Liebenden treibt alles in einem Wechselspiel von Wiederbegegnungen unter Mißverständnissen, Täuschungen, Quälereien und Versöhnungen unaufhaltsam dem Untergang zu: ein Sündenfall, der so nicht als felix culpa gelten kann. Das Ende ist glücklos. 3
Tristan, hg. Ranke.
7. Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹
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Doch die übliche Interpretation auf eine scheiternde Utopie hin geht am Entscheidenden vorbei. Tristans und Isolds Liebe ist gewissenlos, ja, sie scheut vor keinem Trug, keiner Tücke, ja selbst vor kriminellen Akten nicht zurück – man denke insbesondere an Isolds Mordversuch an der bis ins letzte getreuen Brangäne –, und doch wird diese Liebe von Gottfried als höchste Möglichkeit erotischer Erfüllung gepriesen. Er sagt im Prolog programmatisch: Ohne daß man die lere, die diese Geschichte enthält, sich zu eigen macht, hat man weder tugende noch ere (v. 190), ist man weder ethisch vollkommen noch gesellschaftlich würdig. Doch lere heißt hier nicht etwa Vorbildlichkeit, die zur Nachahmung empfohlen wird, das wäre ja eine Handlungsanweisung zum Ehebruch, sondern lere heißt hier Einsicht in genau jene Aporie, auf die schon Thomas den Hörer/Leser hingeführt hat. Auf der einen Seite eine Liebe ohne Maß und Grenzen, mit allen Folgen einer solchen Radikalität. Und dem gegenüber das, was Gottfried in seinem huote/wipheit-Exkurs als für die Zuhörer oder Leser zumindest denkbar herausstellt: der Ausgleich zwischen dem Anspruch des Eros und dem Anspruch der Gesellschaft. Das Machbare erscheint zweifelhaft, aber es ist zumindest ein Angebot. Es steht jedoch quer zur Maßlosigkeit des Eros, die in der Erzählung vorgeführt wird. Diese ist, wie gesagt, nicht nachzuahmen, vielmehr soll man sie in ihrem Prinzip begreifen und als die Perspektive sehen, in der jeder Versuch, ein Maß zu finden, zu beurteilen ist. Das Maß zu finden ist nicht nur schwierig, sondern es wird auch fragwürdig vor der unbedingten erotischen Forderung, die in der Liebe des Protagonistenpaares gelebt wird. Es geht also – um dies nochmals ganz deutlich zu sagen – nicht darum, die Liebe Tristans und Isolds an der utopischen Balance des Exkurses zu messen und abzuurteilen, wie man das immer wieder getan hat, sondern es geht umgekehrt darum, die BalanceUtopie des Exkurses vor dem Hintergrund der radikal gelebten Liebe des Protagonistenpaares zugleich zu befürworten und in ihrer Beschränktheit bewußt zu machen. Wer das Höchste will, muß sich an das Absolute wagen, aber der Preis dafür ist der Sündenfall; wer das Vollkommene erstrebt, gerät ins Übermenschliche, und das erweist sich als unmenschlich. Es mußte sich deshalb anbieten, eine Ethik der Balance zu entwerfen, eine Ethik des Maßes, als Ausgleich zwischen den Extremen, aber sie bleibt kompromißhaft, unbefriedigend; das Paradies dieser Mitte steht auf des Messers Schneide. Es ist hier wohl nur als utopischer Augenblick erfahrbar, als Augenblick, der sich auf das Absolute hin öffnet. Alles Weitere bleibt im Menschlich-Möglichen, und das heißt eben im Ungenügen, stecken. Gottfried schreibt seine Liebesgeschichte für Liebende, nur für Liebende. Sie allein können und sollen ihre Liebe vor dem Hintergrund der erotischen Aporie sehen und verstehen. Die literarische Liebesgeschichte somit als Medium für die Selbstvergewisserung in der Not erotischer Erfahrung? Taucht hier nun doch die felix culpa-Idee auf? Umgesetzt in eine Rezeptionstheorie? Die Schuld der Liebenden bei ihrem Scheitern am Absoluten, so könnte man sagen, wird zum Glück für die Hörer oder Leser, indem sie sich des Wesens ihrer Liebe vor dem Hintergrund der geschilderten Aporie bewußt werden und mit ihrer Problematik zu leben lernen.
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II. Zum höfischen Roman
III Von dieser Lesart des Gottfriedschen Romans aus gesehen, stellt sich sein Werk einer allgemeinen, weit zurückreichenden Debatte, die mit dem Schub zu einer säkularen Kultur im 12. Jahrhundert eine neue Aktualität gewonnen hat. Man hat sich im Rückgriff auf die Antike um eine innerweltliche Ethik bemüht, eine Ethik, wie Aristoteles sie begründet hat und wie sie über die römische Moralphilosophie schon den Kirchenvätern vermittelt worden ist: eine Tugendlehre auf der Basis der µεσο της, der Mitte zwischen den Extremen, der Mitte zwischen Übermaß und Mangel. Tapferkeit, um an das Musterbeispiel zu erinnern, wird verstanden als Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit. In dem ersten großen deutschsprachigen Ethikhandbuch, dem ›Welschen Gast‹ des Thomasin von Zerclaere von 1215/16,4 heißt es denn auch ganz im klassischen Sinne (vv. 9937f.): die rehte mazze hat ir zil / enzwischen lutzel unde vil: ,das rechte Maß hat seinen Bestimmungsort zwischen Wenig und Viel.‘ Der Kampf um diese Maßethik ist in seinem historischen Wechselspiel spannungsgeladen. Die aristotelische µεσο της ist als temperantia unter die vier christlichen Kardinaltugenden aufgenommen worden, wobei man sie auch immer wieder als deren eigentliche Grundlage verstanden hat. Die Lehre von den Kardinaltugenden wird zwar in der kirchlichen Ethik von den drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung übergriffen, und diese gelten absolut, aber es wird unter ihrem Dach eben doch die rein innerweltlich fundierte antike Maßethik erneuert, und dies nicht zuletzt als Gegengewicht gegen eine asketische Maßlosigkeit, die die temperantia zur radikalen Disziplinierung der Affekte verengt, ja verfälscht. Auf der andern Seite brauchte man das Dach der drei religiösen Tugenden nur zu entfernen, und es blieb ein Gebäude, in dem sich rein pragmatisch-säkulare Ethik einrichten ließ. Aber der Protest blieb nicht aus. Bernhard von Clairvaux hat gesagt, daß die Liebe kein Maß kenne, und schon Augustinus hatte erklärt: ,Liebe und tue, was du willst‘. Und Eckhart wird sagen, daß, wer aus seinem Seinsgrund lebt, der eins ist mit Gott, der werde sich von selbst moralisch richtig verhalten. Das heißt: Jedes Denken im Transzendenzbezug muß an der Idee des Maßes Anstoß nehmen, es kann aber nur eine radikal-überethische Forderung dagegensetzen, die in absolute Rücksichtslosigkeit mündet. Mit der Bergpredigt kann man nicht leben, aber sie bleibt das Übermaß, dem gegenüber jede innerweltlich-pragmatische KonsensEthik sich ihrer Relativität, ihres Ungenügens, ja ihrer Schuldhaftigkeit bewußt bleiben muß oder sollte.
IV Es ist schwerlich zu verkennen, daß das das Problem war, das dem neuen vulgärsprachlichen Roman des 12./13. Jahrhunderts seinen entscheidenden Impuls gegeben hat. Und dies nicht etwa in der Erwartung, daß er eine Lösung zu präsentieren vermöchte, sondern um die Unlösbarkeit des Problems narrativ vorzuführen und bewußt zu machen. 4
Thomasin von Zerclaere, Der welsche Gast, hg. v. Friedrich W. von Kries, 4 Bde., Göppingen 1984/85, Bd. 1.
7. Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹
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Das gilt nicht nur für den ›Tristan‹, sondern unter andern konzeptuellen und formalen Bedingungen auch für den Artusroman. Hier wird das Maß durch die gesellschaftliche Balance des idealen Hofes repräsentiert. Das zwischenmenschliche Zusammenleben erfüllt sich konfliktlos im festlichen Spiel, insbesondere im freien, formvollen Umgang der Geschlechter miteinander. Doch der Hof ist ein utopisch ausgegrenzter Bezirk. Außerhalb des Hofes dominieren die Gegenkräfte, und es ist die Aufgabe des Romanhelden, sich dieser Gegenwelt zu stellen, sie zu bezwingen und die durch sie herausgeforderte Idealität des Hofes zu restituieren. Aber schon das Bewußtsein vom punktuell-utopischen Status der idealen Gesellschaft macht den Weg des Helden als Lösungsprozeß fragwürdig. Die Utopie scheint nur dadurch auf, daß immer wieder ein Held sich mit den Gegenmächten auseinandersetzt. Das Positive gibt es nur an der Spitze des Durchgangs durch das Negative. Und wie im ›Tristan‹ öffnet sich der Abgrund in der Geschlechterbeziehung. Erec, der Held von Chre´tiens de Troyes erstem, den Typus prägenden Roman,5 liegt, nachdem er auf seinem Aventürenweg in die Gegenwelt eine wunderbare Frau gewonnen hat, nur noch mit ihr im Bett. Man pflegt darin ein gesellschaftsfeindliches Fehlverhalten, ja Erecs spezifische Schuld zu sehen, die zur Krise und zu seinem erneuten Auszug führt. Es ginge also um so etwas wie sexuelle Hörigkeit, und der zweite Weg diente dann dazu, sie zu überwinden. Dies die gängige Meinung. Sie ist falsch. Erecs verligen ist der Idee der maßlosen, bedingungslosen Liebe geschuldet, sie hat ihr Recht und ist doch gesellschaftlich nicht tragbar. Das offenbart sich spätestens in der letzten Aventüre, die der Held zu bestehen hat, dem Kampf mit Mabonagrin, der mit seiner amie, abgeschlossen von jeder Gesellschaft, in einem Zaubergarten lebt. Er kann daraus nur befreit werden, wenn einer ihn im Zweikampf besiegt, und Erec gelingt denn auch, was bisher keinem gelungen ist. Der Zaubergarten Mabonagrins ist als Paradies stilisiert, die Bäume tragen das ganze Jahr hindurch zugleich Blüten und Früchte, die Liebe des Paares ist vollkommen. Aber auf den Zaunpfählen des Gartens stecken die achtzig Köpfe, die Mabonagrin seinen Herausforderern abgeschlagen hat. Könnte man sich eine grausigere Umfriedung für ein Paradies denken? Das ist grausiger als alles, was die unbedingte Liebe Tristans und Isolds an schrecklichen Folgen zeitigt. Wer das als ein höfisches Märchen auffaßt, in dem Kollateralschäden mühelos verkraftet werden, hat nichts verstanden. Die Mabonagrin-Szene spiegelt jene absolute Liebe, der auch Erec sich nach seiner Hochzeit verpflichtet sah, sie spiegelt sie mit den ganzen entsetzlichen Konsequenzen ihrer paradiesisch maßlosen Herrlichkeit. Sie bewahrt als solche ihr Recht und offenbart zugleich ihre Unmöglichkeit. Die Liebenden sind denn auch teils froh und teils traurig über die Zerstörung ihres Paradieses. Und man soll sich dieser Aporie bewußt bleiben, wenn der Weg des Helden dann schemagemäß in arthurischer Festfreude endet, denn Erec erzählt die Geschichte seiner Aventüren in diese Festfreude hinein. Man darf sich über das formal mühelose Zusammenbiegen der Handlungslinien nicht täuschen lassen. Das Happy End ist über einem Abgrund errichtet. Doch die meisten Interpreten verschließen die Augen davor und spüren nicht das Erregende in dieser scheinbar harmlosen Unterhaltungsgeschichte. 5
Chre´tien de Troyes, Erec und Enide, übers. u. eingel. v. Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979 [Text nach Wendelin Foerster].
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II. Zum höfischen Roman
V Die weiteren Artusromane Chre´tiens, der ›Yvain‹,6 der ›Lancelot‹,7 variieren das Thema anhand von wechselnden Konstellationen. Nur sein ›Conte du Graal‹8 schert aus. Es gibt in ihm auffälligerweise keine aporetische Geschlechterproblematik, und Wolfram folgt ihm darin in seiner Bearbeitung und in der freien Fortsetzung des Fragments.9 Es findet sich zwar im ›Parzival‹ parallel zur Haupthandlung, in den Gawan-Büchern, eine Reihe von Liebesgeschichten, aber sie führen nach mehr oder weniger großen Schwierigkeiten demonstrativ zu pragmatischen Lösungen jenseits der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem irdisch Möglichen und der absoluten Forderung des Eros. Das ist um so überraschender, als der Gralsroman sich in der Haupthandlung nicht nur am Aventürenschema des doppelten Weges orientiert, sondern auch an der typischen Sequenz ,Gewinn einer Frau, Verlust und Wiedergewinn‘ als thematischem Handlungsbogen festhält. Parzival gewinnt Condwiramurs, indem er sie von ihren Feinden befreit, verläßt sie dann aber, um seine Mutter wiederzusehen und Aventüren zu suchen. Die Trennung ist zwar schmerzlich, aber sie ist nicht, dem Typus gemäß, durch eine Krise der Beziehung gekennzeichnet, die Krise bricht vielmehr quer dazu ein: sie resultiert aus dem Versagen des Helden auf der Gralsburg. Und dieses Versagen stellt sich dann – ich folge Wolfram – als Zeichen für eine ganz andere Aporie heraus: für die Aporie von Schuld und Gnade. Es wird nämlich erklärt, Parzival habe die Erlösungsfrage auf der Gralsburg nicht stellen können, weil er durch den Totschlag eines Verwandten, des Roten Ritters, gleich zu Beginn seines Aventürenweges Schuld auf sich geladen habe. Und diese Schuld stehe im Zusammenhang mit dem ersten Verwandtenmord, mit dem Mord Kains an Abel. Und das macht letztlich überhaupt jeden Totschlag zu einem Verwandtenmord. Das ist erzähllogisch unverständlich. Auch Parzival begreift es nicht, obschon er sich durch diese Erklärung, die ihm sein Einsiedleronkel Trevrizent gibt, seiner Schuld bewußt wird. Das verändert seine Haltung aber im Grunde nicht. Er will weiterhin mit aller Gewalt die Gralsburg wiederfinden, um seinen Fehler gutzumachen, und dies obschon ihm mehrfach erklärt wird, daß das willentlich unmöglich sei. Er hört halsstarrig nicht darauf, sondern zieht wie bisher wild kämpfend durch die Lande und gerät dabei erneut in Gefahr, Verwandte zu erschlagen: Gawan, seinen Halbbruder Feirefiz. Eine höhere Fügung verhindert dies jeweils zwar im letzten Augenblick, aber der Held wird aufgrund dieser Erfahrungen nicht zur Einsicht in die zugrundeliegende Aporie geführt, er kann bestenfalls resignieren. Und so erfolgt denn die Berufung zum Gral, die Begnadigung durch Gott, schließlich ganz unvermittelt, verdienstlos. Gnade 6
Chrestien de Troyes, Yvain, hg. u. übers. v. Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), München 1962 [Text nach Wendelin Foerster]. 7 Chrestien de Troyes, Lancelot (Le Chevalier de la Charrete), übers. u. eingel. v. Helga JaussMeyer (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13), München 1974. 8 Chre´tien de Troyes, ,Le Roman de Perceval‘ ou ,Le Conte du Graal‘, übers. u. hg. v. Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991. 9 Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994.
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7. Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹
ist nicht machbar, sie ist auch narrativ nicht verfügbar, d. h., der Gnadenakt ist erzähllogisch nicht plausibel darzustellen. Dargestellt werden kann nur die unüberbrückbare Kluft, die irritierende Konfrontation mit der Aporie von Natur und Gnade. Die meisten Interpreten wollen das natürlich nicht wahrhaben, sondern sie schlagen zur ihrer Beruhigung eine Brücke zwischen Parzivals Sündenbekenntnis und seiner gnadenhaften Berufung zum Gral. Wer genau liest, sieht, daß es diese Brücke nicht gibt. Der von mir skizzenhaft nachgezeichnete Entfaltungsprozeß des höfischen Romans dürfte deutlich machen, was hier geschehen ist: Wolfram hat das erotische AporieKonzept des arthurischen Typus in dessen narrativem Rahmen ins Religiöse umgesetzt und damit das oben angesprochene theologische Grundproblem erzählerisch zu bewältigen versucht: die Erbsünde in ihrer Unbegreiflichkeit und ihr ebenso unbegreifliches Verhältnis zur Erlösung – felix culpa.
VI Und doch gibt es im Gralsroman eine Figur, die in merkwürdiger Weise zur Einbruchstelle auch für die erotische Problematik werden sollte. Chre´tiens Perceval trifft, nachdem er von der Gralsburg weggeritten ist, auf eine junge Frau, die unter einer Eiche sitzt und, herzzerreißend klagend, einen toten Ritter im Schoß hält. Sie fragt den überraschend in dieser menschenfernen Wildnis Auftauchenden, woher er denn komme, und als er von der Begegnung mit dem Gralskönig erzählt, forscht sie ihn aus nach dem, was auf der Gralsburg geschehen ist, und als sie von seinem Versagen erfährt, prophezeit sie ihm Unheil. Sie enthüllt ihm ferner, daß sie seine Kusine sei, die einige Zeit am Hofe seiner Mutter mit ihm auferzogen worden sei. Perceval will sie mit sich nehmen, den Mörder ihres Freundes suchen und den Ermordeten rächen. Aber die Trauernde möchte bei dem Toten bleiben, sie wünscht sich selbst nur noch den Tod. Der erschlagene Ritter im Schoß einer jungen Frau, das hat an die Pieta` erinnert, die es freilich zu der Zeit noch nicht gab. Hingegen drängt sich der Gedanke auf, darin ein Gegenbild zum Schlußtableau des ›Tristan‹ zu sehen. Dort Isold an der Bahre des toten Tristan, bereit, ihm nachzusterben, hier der tote Schianatulander im Schoß seiner Geliebten, die sich nur noch den Tod wünscht. Die Szene bleibt bei Chre´tien freilich isoliert, sie führt – jedenfalls in dem erhaltenen Text – zu keinen Weiterungen. Anders bei Wolfram. Das Bild hat ihn offensichtlich umgetrieben und nicht mehr losgelassen. Er hat aus der einen Begegnung Parzivals mit seiner Kusine, der er durch Silbenumstellung den Namen Sigune gegeben hat, vier gemacht. Dabei hat er die erste Begegnung vorgezogen (vv. 138,11ff.): Parzival trifft Sigune mit dem Toten, der bei ihm Schianatulander heißt, schon auf dem Weg zum Artushof, und er begegnet ihr dann wieder, wie bei Chre´tien, nachdem er die Gralsburg verlassen hat (vv. 249,11ff.): nun sitzt sie, merkwürdigerweise, mit dem einbalsamierten Leichnam auf einer Linde, abgezehrt und kaum wiederzuerkennen. Das dritte Mal sehen sie sich, als nach der ersten Reihe der Gawan-Aventüren im IX. Buch die Erzählung von Parzival wieder einsetzt. Sigune lebt nun in einer Klause, den toten Schianatulander neben sich in einem Sarg; sie ist der Welt abgestorben und wird nur von der Gralsbotin Cundrie mit einer Hostie als Speise versorgt. Und schließlich findet Parzival sie dort tot, nachdem er zum Gral
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II. Zum höfischen Roman
berufen worden ist und die Erlösungsfrage gestellt hat. Ihr Sterben ist synchronisiert mit dem sich schrittweise erfüllenden Leben des Helden. Was bedeutet das? Wolfram hat schon im ›Parzival‹ zur Sigune-Begegnung andeutungsweise eine Vorgeschichte erfunden; sie bleibt hier freilich rätselhaft. Sigune sagt, daß ihr Freund, der Parzivals Erbländer zu verteidigen suchte, im Kampf gefallen sei, und dabei habe eine Hundeleine ihm den Tod gebracht; das ist alles, was über die Umstände von Schianatulanders Tod im ›Parzival‹ gesagt wird. Das weitere sollten wir in einem Sigune-Roman erfahren, den Wolfram in Angriff genommen hat, dem sogenannten ›Titurel‹,10 der jedoch nicht über zwei Fragmente hinaus gediehen ist. Sigune und Schianatulander sind zusammen unterwegs – so das zweite Fragment –; sie halten Rast. Da taucht ein freilaufender Hund auf, der der Blutspur eines Wildes folgt. Schianatulander fängt ihn ein und bringt ihn Sigune. Sie entdeckt, daß die Hundeleine beschrieben ist. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte. Sigune beginnt sie zu lesen, doch da reißt der Hund sich wieder los; sie möchte aber um alles in der Welt die Geschichte zu Ende lesen, und so schickt sie Schianatulander auf die Verfolgung des Hundes, bei der er umkommen wird. Er stirbt also, wie es heißt, an einer Hundeleine: ein bracken seil gap im den pıˆn (Pz, v. 141,16). Das ist grotesk formuliert. Eine Leine kann nicht töten. Die groteske Formulierung verschleiert und enthüllt zugleich, daß Sigune es ist, die ihm den Tod bringt. Ist dies einfach eine Backfischlaune, die zu einer Katastrophe führt? Und erübrigen sich damit weitere Überlegungen? Schianatulander liebt Sigune, aber das Mädchen ist nicht, noch nicht zur Gegenliebe bereit, sie fragt sich, ja, sie rätselt herum, was denn Minne eigentlich sei. Offenbar erwartet sie eine Antwort von der Erzählung auf der Hundeleine. Liebeserfahrung über die Lektüre von Liebesgeschichten? Das hört sich so an, als hätte Sigune die Literaturtheorie Gottfrieds zur Kenntnis genommen – und mißverstanden! Gottfried hat den ›Tristan‹, wie gesagt, für Liebende geschrieben, damit sie ihre Erfahrungen verstehen lernen und sie bewältigen können. Sigune hat keine erotischen Erfahrungen gemacht, sie hat sich ihrem Freund nicht hingegeben. Sie will offenbar zuvor literarisch lernen, was Liebe ist; aber was sie bewirkt, ist nur, daß sie das Endergebnis jener Liebe erfährt, die der ›Tristan‹ thematisiert: den Tod des Geliebten, einen Tod jedoch gerade nicht als Ergebnis gelebter, durchlittener Liebe, vielmehr wird das Leben in der Liebe gewissermaßen übersprungen, so daß Sigune nichts bleibt, als ihren Tod zu leben. Sie kann also nicht wie Isold dem Geliebten nach dem gemeinsamen Wagnis absoluter Liebe nachsterben, sondern sie kann nur ein ungelebtes Leben der Liebe als lebenslanges Sterben in triuwe einholen. Das Eintreten in die erotische Aporie wird damit vermieden. Oder man kann auch sagen, es wird ihr ausgewichen, indem die radikale, bedingungslose Liebe nicht den Bedingtheiten des Lebens ausgesetzt wird, vielmehr das Leben auf das Sterben reduziert erscheint und damit für das Negative nicht anfällig ist. So jedenfalls kann die absolut gesetzte Liebe rein bleiben. Oder: fast rein, denn es taucht auch hier – in signifikanter Analogie zur Parzivalgeschichte und in entsprechend neuer Weise – die Schuldfrage auf. Sigune weiß sich schuldig, sie bereut, aber nicht etwa, daß sie den Geliebten auf die tödliche Suche nach der 10
Wolfram von Eschenbach, Titurel. Mit der gesamten Parallelüberlieferung des »Jüngeren Titurel«, kritisch hg., übers. u. komm. v. Joachim Bumke u. Joachim Heinzle, Tübingen 2006.
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7. Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹
Hundeleine schickte, sondern, daß sie nicht geliebt hat: ich hete kranke sinne, / daz ich im niht minne gap: (. . . ) nu minne i’n alsoˆ toˆten (Pz, vv. 141,20–24): ,ich war nicht bei Verstand, daß ich ihm meine Liebe vorenthielt: (. . . ) nun muß ich ihn als Toten lieben.‘ Das impliziert aber doch auch, daß, wenn Sigune sich dem Geliebten geschenkt hätte, die Suche nach der Hundeleine hinfällig geworden wäre und Schianatulanders Tod hätte vermieden werden können. Sigune löscht ihre Schuld durch ihr liebendes Sterben. Wenn Tristan und Isold in Schuld geraten, so bereuen sie sie nicht, ihr Tod löscht ihre Schuld nicht aus, sie rechtfertigt sich vielmehr über den Tod hinweg durch die Bedingungslosigkeit ihrer Liebe. Ist Wolframs Entwurf zu einer Sigunegeschichte seine Antwort auf den ›Tristan‹? Sicherlich nicht direkt. Aber sie erscheint insofern als provozierendes Gegenbild, als sie die wohl einzige Möglichkeit eröffnet, die absolute Geschlechterliebe der Aporie zu entziehen, indem man ihr das Leben verweigert. Der Sterbensweg Sigunes ist ebenso grandios wie schrecklich: er bietet nach der fragmentarischen Vorgeschichte nur noch erschütternde Stationen einer Passion im doppelten Sinne des Wortes. So greift denn hier auch Gottfrieds Rezeptionstheorie ,Liebesgeschichten für das Selbstverständnis Liebender‘ nicht mehr. Die Siguneerzählung hilft dem Hörer oder Leser nicht, mit dem Aporetischen der eigenen Liebeserfahrung umzugehen. Das Absolute scheitert nicht, und damit wird es fruchtlos.
VII Aus den Ihnen vorgetragenen Beobachtungen zum höfischen Roman vom ›Tristan‹ bis zum ›Titurel‹ läßt sich, was die literarische Fiktionalisierung des Sündenfallmotivs betrifft, einiges Grundsätzliches ablesen. Es lag nahe, ja, es war fast zwingend, dieses Motiv in irgendeiner Form in ein Romangeschehen, das ein gewisses Problemniveau, konkret: eine Sicht auf die Conditio humana beanspruchte, hereinzuholen. Schwieriger aber war es, es zu positivieren, d. h. es als felix culpa zu verstehen. Denn das heilsgeschichtlich Geheimnisvolle und nicht wirklich verständlich zu machende Glück menschlicher Schuld, wovon die Ostervigil spricht, mußte auf fiktionaler Ebene als ein bloßes poetisches Konstrukt erscheinen und damit ins Triviale abrutschen. Als billig zu habendes Happy End. Zu verhindern war dies nur dadurch, daß man das Abgründige des Wagnisses zum Absoluten offen oder unterschwellig festhielt. Das war nur als Widerspruch zu präsentieren, also narrativ nicht aufzulösen. Die Möglichkeit einer Versöhnung war damit allein der Einsicht der Rezipienten in diesen Widerspruch zu unterstellen, und so konnte die felix culpa zu einem Moment der literarischen Erfahrung werden – implizit oder auch, wie bei Gottfried, theoretisch explizit. Das ist es, was uns dabei heute noch ergreift. Ich schließe mit einem Nietzsche-Wort: „Wir haben die Kunst“ – und ich sage: insbesondere die Literatur –, „wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit verzweifeln.“11
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Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (Kritische Gesamtausgabe VIII.3), Berlin, New York 1972, S. 296, wörtlich: „(. . . ), damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.“
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
Wenngleich der ›Prosa-Lancelot‹ in seiner offenen Vielschichtigkeit auf einen mehrstufig-komplexen Entstehungsprozeß verweist, liegt es doch nahe, anzunehmen, daß er, zumindest was die letzte Überarbeitungsphase betrifft, als klerikaler Gegenentwurf zum arthurischen Roman konzipiert worden ist. Und man kann dann sagen, die Methode, mit der diese Replik durchgeführt wurde, sei ebenso klar erkennbar wie das Geschick, mit dem man sie handhabte. Es werde hier – so läßt sich das Verfahren kennzeichnen – der volkssprachliche Roman nicht mehr in traditioneller Invektive als lügenhafte Erfindung gebrandmarkt und einfach abgelehnt, vielmehr habe man mit dem ›Lancelot propre‹ zunächst die arthurische Tradition aufgenommen, sie dann aber Schritt für Schritt unterhöhlt. In ersten Andeutungen schon dadurch, daß man den als besten Ritter gepriesenen Lancelot vor Aventüren stellte, die er nicht zu bewältigen vermag, wobei ihm explizit gesagt wird, daß sie einem andern, besseren vorbehalten seien. Die neue Figur wird sein Sohn, Galaad, der guote, der vollkommene Ritter sein. Die ›Queste del Saint Graal‹ bringt dann die radikale Wende: Lancelot erscheint vollends als sündiger Versager; der Gralsheld Galaad übernimmt als Verkörperung eines neuen, geistlichen Rittertums die Führung, und nachdem er seinen Weg bis zur Schau des Gralsgeheimnisses gegangen ist, kann in ›La Mort le Roi Artu‹ die arthurische Welt dem Untergang anheimgegeben werden. Es hätten also kirchliche Kreise die höfisch-arthurischen Romane nicht mehr wie bislang – und vergeblich – als Lügengespinste zu verdammen versucht, sondern den Typus aufgegriffen, um ihn von innen her zu zerstören. Fritz Peter Knapp spricht von „unnachahmlich raffinierter (. . . ) Usurpation“.1 So einleuchtend diese These erscheint, es ist doch zu fragen, ob eine solche interessenorientierte Sicht für ein Verständnis wirklich ausreicht. Ist nicht auch mit Faktoren zu rechnen, durch die die arthurische Tradition innerliterarisch zu einer selbstzerstörerischen Umgestaltung getrieben worden sein könnte? Die Voraussetzung für diese Möglichkeit ist jedoch, daß man den Artusroman Chre´tiens de Troyes nicht als einen in sich geschlossenen, in sich vollendeten Typus betrachtet, sondern in der Abfolge vom ›Erec‹ bis zum ›Gralsroman‹ einen poetischen Prozeß sieht, der, durch spezifische Fragestellungen angestoßen, immer wieder neu eine bestimmte narrative Konstellation durch-
1
Fritz Peter Knapp, Chevalier errant und fin’amor. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten (Schriften der Universität Passau, Reihe Geisteswissenschaften 8), Passau 1986, S. 73. Oder in Joachim Heinzles Formulierung: „Daß im ,Lancelot‘ die Artuswelt rehistorisiert und aufs radikalste mit den Ansprüchen des Jenseits konfrontiert wird, bedeutet Verurteilung der höfisch ritterlichen Ideologie im Medium der Darstellung dieser Ideologie selbst: im Roman, dessen Tradition noch über die Form als lügenhaft denunziert wird“: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, II/2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert, 2Tübingen 1994, S. 183.
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
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spielte, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen. Ich habe des öfteren darauf hingewiesen, daß Chre´tiens Romane, genau gesehen, aporetisch enden, d. h., daß mit der von ihm entworfenen Struktur zwar die Handlungslinien am Ende zusammengebogen und auf diese Weise narrativ-oberflächlich Lösungen geboten werden, daß damit aber die Grundfragen nicht wirklich bewältigt sind, daß es vielmehr angesichts der unverkennbar künstlichen Harmonisierung gerade darum geht, sie in ihrer Problematik zum Bewußtsein zu bringen. Die Sinnkonstruktion über den charakteristischen Doppelweg macht sich selbst fragwürdig.2 So bleibt es vom ›Erec‹ über den ›Yvain‹ zum ›Chevalier de la Charrete‹ offen, wie in der Geschlechterbeziehung der absolute Anspruch der Liebe im Hinblick auf die arthurische Idealgesellschaft sein Recht behalten kann. Von Roman zu Roman erscheint das Problem immer weiter verschärft und die Lösung immer prekärer: am Ende, im ›Chevalier de la Charrete‹, wird die Liebeserfüllung zu einem einmaligen Akt in einer quasi-jenseitigen Welt. Die Frage nach einer möglichen Integration in das arthurische Konzept ist hier einfach gekappt.3 Zugleich aber wird die erotische Unbedingtheit in einer Weise forciert, daß der Held des Romans, Lancelot, immer wieder eine bizarre Figur abgibt.4 – Im ›Perceval‹ schließlich öffnet sich Chre´tiens Artusroman einer anderen, neuen Dimension: Mit dem Versagen des Helden gegenüber dem leidenden Fischerkönig deutet sich eine Schuldproblematik an, die Fragen religiöser Natur aufwirft. Bedauerlicherweise findet sich in Chre´tiens Fragment keine Andeutung, wie er sie zu lösen im Sinne hatte. Doch Wolfram hat sie begriffen und die Aporie der Schuldthematik offengelegt.5 Er führt die Ohnmacht des Helden gegenüber seinem eigenen Versagen vor, um schließlich die Gnade uneingeschränkt, d. h. in ihrer Unverfügbarkeit und Grundlosigkeit, einbrechen zu lassen.6 In Frankreich ist dann zwar der Gralsroman auch in vielfältiger Verzweigung, doch eher unproblematisch fortgesetzt worden. Wichtiger im Blick auf den ›ProsaLancelot‹ wurde die heilsgeschichtliche Neuinterpretation des Gralthemas durch Robert de Boron. Er arbeitet mit einem dreistufigen Geschichtskonzept: von der Abendmahls2
Zusammenfassend: „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 172–184. – Es sei dazu noch angemerkt: Man hat es beim Chre´tienschen Roman mit einem Paradefall literarischer Sinnkonstruktion zu tun. Sinnkonstruktionen erweisen sich grundsätzlich als trivial, wenn sie sich nicht als solche mitreflektieren oder zumindest ihre Problematik für den aufmerksamen Leser offenlegen. 3 Vgl. meine Studien »Das Land, von welchem niemand wiederkehrt«. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chre´tiens ›Chevalier de la Charrete‹, im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven und im ›Lancelot‹-Prosaroman (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21), Tübingen 1978, S. 45, S. 49, S. 86f.; „Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot“, in: Haug, Brechungen, S. 288–300, hier S. 291f. 4 Es sei z. B. an die Episode erinnert, in der Lancelot, der Königin nachblickend, aus dem Fenster gestürzt wäre, wenn man ihn nicht gewaltsam zurückgehalten hätte, oder an die Episode, in der er beim Anblick von ein paar Haaren im Kamm der Königin beinahe ohnmächtig vom Pferd gefallen wäre. 5 Inwieweit er dabei Chre´tiens Intentionen genau getroffen hat, ist eine offene Frage. Vgl. dazu meine Studie „Hat Wolfram von Eschenbach Chre´tiens ›Conte du graal‹ kongenial ergänzt?“, in: Haug, Brechungen, S. 109–124. 6 Siehe meine Studie „Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram“, in diesem Bd., S. 141–156.
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II. Zum höfischen Roman
gemeinschaft über die arthurische Tafelrunde zur Gralsgemeinschaft. Kurt Ruh vermutete einen Einfluß der Drei-Status-Lehre Joachims von Fiore.7 Doch stehen, schon weil diese vor den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts kaum zur Kenntnis genommen worden ist, eher allgemein gängige geschichtstheologische Vorstellungen im Hintergrund.8 Jedenfalls aber war bei Robert ein Stufenmodell vorgegeben, auf das der ›Prosa-Lancelot‹ bei seiner Wende zu einem religiös orientierten Ritterbild zurückgreifen konnte.9 Daß dabei auch hier schwerlich mit einer Anlehnung an joachitische Vorstellungen zu rechnen ist, wie man dies verschiedentlich glaubhaft zu machen suchte, hat Klaus Speckenbach überzeugend dargelegt.10 Der Gedanke, daß es den Autoren des ›Prosa-Lancelot‹ darum ging, eine in irgendeiner Weise neue Geschichtsideologie zu propagieren, führt in die Irre. Es gab also zwei Fragen, die bei Chre´tien offen geblieben waren, die Frage nach der Bewältigung des Erotischen im Sinne eines unbedingten Anspruchs, der in das arthurische Balance-Konzept nicht zu integrieren war, und die Frage nach dem Verhältnis zwischen höfischer Ritteridealität und der menschlichen Verstrickung in Schuld, das aufgrund der Inkongruenz zwischen Tugend und Gnade erzählerisch nur mit Schwierigkeiten umgesetzt werden konnte.11 Da beide Fragen im ›Prosa-Lancelot‹ drängend wieder auftauchen – die erotische Problematik in direkter Anknüpfung an die ›Charrete‹12 –, sollte man nicht nur die Ablösung der einen durch die andere in den Blick nehmen, sondern auch darauf achten, wie die narrative Aporiediskussion in der Erotik sich zu jener auf religiöser Ebene verhält. Ist man unvoreingenommen dazu bereit, fallen eine Reihe von Analogien auf zwischen dem Weg Lancelots vor allem im ›Lancelot propre‹ und dem Weg des oder der Gralshelden in der
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Kurt Ruh, „Joachitische Spiritualität im Werke Roberts von Boron“, in: Typologia litterarum. FS Max Wehrli, hg. v. Stefan Sonderegger u. a., Zürich 1969, S. 167–196. 8 Selbst bei der Verurteilung Joachims auf dem Laterankonzil von 1215 wird seine Drei-StatusLehre nicht erwähnt. Sie wird erst virulent, als die Bettelorden sie aufgreifen. Es ist also sehr unwahrscheinlich, daß Robert sie gekannt hat. Siehe zur Joachim-Rezeption Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford 1969, S. 37–58; Dies., Joachim of Fiore and the Prophetic Future, London 1976, S. 27–58; Klaus Speckenbach, „Endzeiterwartung im ,Lancelot-Gral-Zyklus‘. Zur Problematik des Joachitischen Einflusses auf den Prosaroman“, in: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand, Klaus Speckenbach (Münstersche Mittelalter-Schriften 51), München 1984, S. 210–225, hier S. 214, mit weiterer Lit. – Für eine Überprüfung dieses negativen Befunds habe ich Matthias Riedl, Erlangen, zu danken. Zu Joachims Drei-Status-Lehre sei auf seine Monographie verwiesen: Joachim von Fiore. Denker der vollendeten Menschheit (Epistemata. Reihe Philosophie 361), Würzburg 2004, S. 280–308. 9 Es wird explizit auf Roberts de Boron ›Estoire dou Graal‹ Bezug genommen, und es gibt eine Fülle motivlicher Verknüpfungen; vgl. Friedrich Wolfzettel, „Ein Evangelium für Ritter: La Queste del Saint Graal und die Estoire dou Graal von Robert de Boron“, Speculum medii aevi 3 (1997), S. 53–64. 10 Speckenbach [Anm. 8], S. 215–221. 11 Siehe zu Wolframs Lösung Haug [Anm. 6], S. 155f. 12 Das heißt, man hat den Chre´tienschen ›Karrenritter‹ nicht nur eingebaut, sondern im Blick darauf die vorgängige und nachfolgende Liebesgeschichte zwischen Lancelot und der Königin frei entfaltet. Dabei mußte gerade das, was Chre´tien durch die Auslagerung der einen Liebesnacht in ein quasi-jenseitiges Land zu verhindern sich bemühte, der Ehebruchs-Konflikt am Hof, voll aufbrechen. Siehe Haug, „Das Endspiel“ [Anm. 3], S. 292.
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
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›Queste del Saint Graal‹. Ich hebe in fünf Punkten die Motivkonstellationen heraus, in denen solche Analogien sichtbar werden:13 1. Lancelot und Galaad wachsen fern von der arthurischen Hofwelt heran, Lancelot, elternlos, im magischen Land der Frau vom See, Galaad, nach Kinderjahren bei seiner Mutter, in einem Nonnenkloster unter der Aufsicht eines geistlichen Lehrers. In ritterfähigem Alter werden beide von ihren Mentoren zu König Artus gebracht. Dort demonstrieren sie durch spektakuläre Gesten ihren Sonderstatus, Lancelot, indem er einem Ritter, der auf einer Bahre an den Hof gebracht wird, unter unerhörten Bedingungen zwei Lanzenspitzen aus dem Leib und ein Schwertstück aus dem Kopf zieht, Galaad, indem er sich schadlos auf den Gefährlichen Sitz in der Tafelrunde setzt und indem er mühelos ein Schwert aus einer Säule zieht, was bislang noch keinem gelungen war. 2. Beiden Helden begegnet bei ihrem Auftritt am Artushof das, was das Ziel ihres ritterlichen Lebens ausmachen wird. Bei Lancelot ist es die Königin, bei Galaad der Gral. Die Manifestation dieses Ziels hat etwas Schockartig-Zwingendes. Lancelot wird von der unvergleichlichen Schönheit der Königin dermaßen überwältigt, daß er wie betäubt ist und kaum sprechen kann. Der Gral erscheint unvermittelt in einem übermächtigen Glanz in der Tafelrunde, und alle erstarren in Sprachlosigkeit. 3. Nach dieser schicksalhaften Erfahrung brechen beide Helden vom Hof auf. Galaad jedoch – anders als Lancelot – nicht allein, sondern zusammen mit allen übrigen Rittern der Tafelrunde. Doch wird vorweg schon gesagt, daß nur drei das Ziel erreichen werden:14 neben Galaad noch Bohort und Parceval, wobei jedoch allein Galaad das ganze Geheimnis des Grals schauen wird. Der Auszug erfolgt nach Aventürenart, d. h., es wird mit jener Strukturvorgabe gearbeitet, die für den Artusroman konstitutiv ist: die Helden wissen um keinen Weg zu ihrem Ziel; sie brechen auf unter der Prämisse, daß sich Aventüren einstellen werden, die wegweisend sind. Und das bleibt wie üblich unreflektiert; die Garantie durch den Typus scheint ausreichend zu sein. 4. Diese Strukturvorgabe unterscheidet sich jedoch in einer Hinsicht wesentlich von jener des klassischen Artusromans, denn die Aventüren Lancelots und Galaads besitzen keine Funktion mehr in einem Konzept, das den Auszug des Protagonisten auf den Hof bezieht, sie sind vielmehr auf das quer zu ihm oder jenseits von ihm liegende Ziel bezogen, und dies in indirekter, zeichenhafter Art. Lancelot setzt seine Aventüren als Zeichen der Liebe für die Königin, Galaad erfährt seine Aventüren als Zeichen seiner Auserwähltheit. 13
Ich arbeite im folgenden, soweit nicht Textvarianten zu berücksichtigen sind, mit der von HansHugo Steinhoff neu herausgegebenen, übersetzten und kommentierten mhd. Version des ›Prosa-Lancelot‹ (Prosalancelot, hg. Steinhoff). Dies rechtfertigt sich dadurch, daß „der mittelhochdeutsche Text als gleichberechtigte Redaktion innerhalb des französisch-deutschen Textcorpus“ gelten kann; so Cornelia Reil, Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot (Hermaea NF 78), Tübingen 1996, S. 10. 14 Eine Klausnerin kündigt dies vorweg an, wobei sie sich auf eine Prophetie Merlins beruft: Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 154,7–14. – Man sollte diese Prophetie im Blick behalten, wenn man die Frage diskutiert, inwieweit auch Lancelot eine Gralsschau zuteil wurde; siehe zur Diskussion ebd., Komm. zu 490,13–500,25.
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II. Zum höfischen Roman
5. Beide Helden erreichen schließlich ihr Ziel. Doch die Erfüllung ist prekär. Die Königin gibt sich Lancelot plötzlich und unerwartet hin, und wann immer das geschieht, bleibt es augenblickhaft. Als Frau des Königs ist sie für Lancelot nicht auf Dauer zu gewinnen, d. h., die Erfüllung der Liebe bricht stets um in den Verlust und immer wieder in die psychische Katastrophe. Galaads volle Gralsschau ist einmalig; er wünscht sich danach nichts mehr als den Tod, damit er in den Himmel eingehen kann, und der Wunsch wird ihm von Gott gewährt. Diese bei allen Differenzen doch recht auffälligen Entsprechungen zwischen Lancelots Weg zur Königin und Galaads Weg zum Gral dürften die Frage legitimieren, ob sie möglicherweise auf einem Denkmodell beruhen, das zumindest im Prinzip für die Wege beider Helden bestimmend war. Ich gehe die fünf Punkte noch einmal im Blick auf die konzeptuellen Bedingungen durch, denen die Analogien sich verdanken könnten: Ad 1: Die Herkunft der Helden von außerhalb der arthurischen Welt und ihr spektakulärer Auftritt am Artushof15 Diese Eröffnung findet sich in den ersten Artusromanen Chre´tiens nicht; er hat sie erst in seinem letzten Werk, im ›Gralsroman‹, verwendet. Anders jedoch als Perceval ist sowohl Lancelot wie Galaad eine Ausbildung zuteil geworden, die sie nach der Schwertleite als vollendete Ritter erscheinen läßt. Was Lancelot betrifft, so dürfte eine spezifische Tradition Pate gestanden haben, denn für seine Erziehung in einem Feenreich gab es ältere Überlieferungen.16 Während Lancelot aber immerhin noch etwas von der Naivität des Außenseiters hat, ist Galaad in jeder Hinsicht von Anfang an vollendet, und seine Identität ist getragen vom Bewußtsein seiner Bestimmung. Daß sie außerhalb der arthurischen Welt aufwachsen, heißt aber für beide Helden, daß sie nicht in der üblichen Weise sozialisiert sind. Ihr Verhalten durchbricht schon gleich bei ihrem Auftritt die gesellschaftlichen Regeln oder zumindest Erwartungen. Es gelten für sie Sonderbedingungen, sei es, daß diese einfach in Anspruch genommen werden, weil sie von vornherein feststehen – so bei Galaad –, oder sei es, daß man sie schlichtweg und bedenkenlos fordert – so Lancelot. Diese Ansprüche beziehen sich zunächst auf Aufgaben, die die arthurische Ritterschaft nicht lösen konnte oder nicht zu lösen wagte: das Schwert in der Säule auf der einen, die Heilung des Ritters auf der Bahre auf der andern Seite. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, daß man auf Galaad gewartet hat; er ist als der Gralsheld angekündigt; es wird schon früh im ›Lancelot propre‹ gesagt, daß er die ungelösten Aventüren bewältigen werde.17 Die Inschrift auf dem 15
Zu dem narrativen Muster, das dahinter steht, vgl. meine Studie „Einsame Erfahrung und gesellschaftliche Integration: Zur Anthropologie eines narrativen Musters“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 35–48. 16 Der ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven belegt dies ebenso wie eine Andeutung in Chre´tiens ›Le ˆ ge 86], Chevalier de la Charrete‹ (hg. v. Mario Roques [Les Classiques Franc¸ais du Moyen A Paris 1958, vv. 2345–2350); vgl. Prosalancelot, hg. Steinhoff, II, Komm. zu 60,2. 17 Die erste Ankündigung erfolgt durch den Erzähler: Prosalancelot, hg. Steinhoff, I, S. 86,11–14.
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
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Gefährlichen Sitz legt dann seinen Sonderstatus objektiv fest. Für Lancelot gibt es keine solche objektive Bestimmung, sie ist vielmehr ganz in seine Person verlegt. Er ist physisch idealtypisch proportioniert, doch hat er ein zu großes Herz.18 Ad 2: Die Begegnung mit dem absoluten Ziel Die besondere Prädisposition durch den außerarthurischen Status zielt dann auch wieder insofern über die Artuswelt hinaus, als die Ziele beider Helden quer zu ihr stehen, ja die Artuswelt zurücklassen und letztlich in Frage stellen. In der ›Queste‹ ist man sich dessen auffälligerweise von Anfang an bewußt: Artus und die Königin trauern über den Auszug der Ritter, da sie hellsichtig wissen, daß nur wenige die Suche überleben werden. Die Tafelrunde ist im Prinzip zerstört, auch wenn Artus sie nach dem Verlust der meisten Mitglieder durch Neuernennungen wieder auffüllt. Daß das Ziel ein absolutes ist, heißt: Es geht nicht mehr wie im Chre´tienschen Artusroman um die Bewältigung einer Aufgabe, die dem Hof gestellt worden wäre, etwa die Abwehr einer Provokation, die der Held stellvertretend für die Gesellschaft zu bewältigen hätte, sondern es handelt sich nun um Unternehmungen, die in erster Linie auf die Person des Helden bezogen sind, die nur für ihn Sinn haben und bei denen er keinerlei Rücksicht auf die Gesellschaft nimmt. Wenn Lancelot durch die Schönheit der Königin überwältigt wird, so bedeutet dies bedingungslose Liebe, und es verlangt dies bedingungslose Liebe. Der Gral bedeutet für den Gralshelden die absolute religiöse Erfahrung; die Begegnung mit ihm zielt auf eine personale Schau des göttlichen Geheimnisses selbst. Die Demonstration der Sonderrollen durch die spektakulären Gesten beim Auftritt am Hof ist letztlich auf diese absoluten Ziele bezogen. Sie signalisieren, daß der Rahmen der arthurischen Welt überstiegen wird. Ad 3: Der Aufbruch zur Aventürenfahrt Er folgt, wie gesagt, dem traditionellen Strukturmuster: Man begibt sich auf den Weg in der unbestimmten Erwartung von Aventüren, und man nimmt sie so an, wie sie sich anbieten. Es gibt somit weder bei Lancelot noch bei Galaad ein planvolles Ansteuern des absoluten Ziels, im Gegenteil, es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen der Lösung von Aventüren und dem letztlich anvisierten Ziel. Es sind nicht die Aventüren, die Lancelot zur Königin führen, vielmehr sind die Begegnungen mit ihr ungeplant, sie werden für den Helden arrangiert. Kennzeichnend ist schon der erste Kuß, der durch den Freund ermöglicht, ja forciert wird. Auch für Galaad gilt, wenngleich in anderer Weise, daß die Aventüren, die er besteht, ihn nicht zum Ziel führen, vielmehr löst er die noch offenen Aventüren, um die Welt ein für allemal von Aventüren zu befreien. Es wird, wenn er am Ziel ist, keine Aventüren mehr geben. Die Aventüren sind also nicht als Weg zum Ziel zu verstehen; sie heben sich als Weg vielmehr auf. Galaad wird ohne zielstrebige Taten, ja das letzte Wegstück schlafend, zum Ziel geführt. 18
Grundlegend zur physiognomischen Bedeutung dieser Normabweichung Michael Waltenberger, Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im ,Prosa-Lancelot‘ (Mikrokosmos 51), Frankfurt a. M. u. a. 1999.
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II. Zum höfischen Roman
Ad 4: Die Zeichenfunktion der Aventüren Wenn die Aventüren nicht mehr ein Weg zum Ziel sind, können sie, wenn sie Sinn haben sollen, nur noch Zeichen sein. Bei Lancelot Zeichen seiner Liebe, Zeichen, die zu entschlüsseln der Königin aufgegeben ist: das Unerhörte seiner Unternehmungen soll das Inkognito durchbrechen helfen, in das er sich begeben hat. Es ist ein Spiel von Verheimlichung und Offenbarung gegenüber der Geliebten, Demonstration der Unmöglichkeit, einen Weg zu ihr zu finden, doch letztlich in der untergründigen, unausgesprochenen Absicht, den Weg von ihr her zu ihm zu forcieren:19 die absolute Liebe als ein Mysterium, das nur durch einen Umschlag aus der radikalen Distanz zu erreichen ist.20 Bei Galaad sind die Aventüren, die er lösen kann, hingegen nicht Zeichen, die er setzt, sondern Zeichen, die für ihn gesetzt sind, Zeichen dafür, daß das absolute Ziel für ihn bestimmt ist. Zeichenhaft sind auch die Aventüren der beiden andern Gralsritter: auch Bohort und Parceval geraten in Aventüren, die sie in richtiger Weise bewältigen, was soviel bedeutet, wie daß sie auf dem richtigen Weg sind. Aber anders als bei Galaad können sie problematisch werden, sie können Täuschungen sein, jedenfalls bedürfen sie der Interpretation, für die Einsiedler und Geistliche stets zu gegebener Zeit zur Verfügung stehen. Galaad bedarf solcher Hilfen nicht. Die Figur des Galaad ist ein übermenschliches Konstrukt. Daß Bohort und Parceval eine solche Vollkommenheit fehlt, daß sie in Anfechtungen geraten, macht sie demgegenüber menschlich. Sie repräsentieren gewissermaßen das, was diesseits der begnadeten Heiligkeit für ,normale‘ Menschen möglich ist. Es gibt einen Läuterungsweg über Beichte und Buße – das wird unermüdlich eingeschärft –, und doch sind auch Bohort und Parceval letztlich auf die Fügung von oben angewiesen. Sie sind nicht begnadet, weil sie richtig handeln, sondern sie handeln richtig, weil sie begnadet sind. Die Steuerung des Geschehens durch eine Regie von einer übergeordneten Sinnebene her läßt die Helden geradezu zu Marionetten werden. Ad 5: Die Problematik des absoluten Ziels Die Königin ist für Lancelot nur augenblickhaft erreichbar. Er ist darauf angewiesen, daß sie ihm entgegenkommt, daß sie sich ihm hingibt. Es ist nicht eine Ehebruchsliebe, bei der wie im ›Tristan‹ beide Partner in gleicher Weise und auf gleicher Ebene ihre Person aufs Spiel setzen.21 Zwischen Lancelot und der Königin bleibt immer eine Distanz, an der auch Lancelot dezidiert festhält. Wenn er sie für immer für sich haben könnte, gibt er sie dem König zurück. Sie muß Königin bleiben, um dem Prinzip der Unerreichbarkeit, die die Bedingung seiner absoluten Liebe ist, zu genügen. 19
Dieses Spiel hat seinerzeit schon Uwe Ruberg eindringlich nachgezeichnet: Raum und Zeit im Prosa-Lancelot, München 1965; Ders., „Die Suche im Prosa-Lancelot“, ZfdA 92 (1963), S. 122– 157. Zur Zeichenhaftigkeit der Aventüren Haug, „Das Endspiel“ [Anm. 3], S. 295f. 20 Treffend zu dieser Dialektik von Distanz und Hingabe Judith Klinger, „Möglichkeiten und Strategien der Subjekt-Reflexion im höfischen Roman. Tristan und Lancelot“, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 139–141; Dies., Der mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im ProsaLancelot (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 26), München 2001, S. 215–227. 21 Zum Liebeskonzept des ›Tristan‹ Haug, „Das Endspiel“ [Anm. 3], S. 291 und 295.
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Lancelots Weg ist deshalb immer wieder gekennzeichnet durch Verzweiflungen, durch Hoffnungslosigkeit, ja durch Wahnsinn. Im Bann der Königin wird er immer wieder zu einer grotesken Figur: In ihren Anblick versunken, reitet er in einen Fluß, und er wäre ertrunken, wenn die Königin nicht jemanden ausgeschickt hätte, um ihn an Land zu bringen. Oder er fällt ihr gegenüber in eine solche Erstarrung, daß man ihm einen Dreckklumpen ins Visier werfen muß, damit er wieder zur Besinnung kommt.22 Seine Liebe ist von unerbittlicher Unbedingtheit. Er verweigert sich dem ihm verfallenen Fräulein von Challot, obschon er weiß, daß sie an seiner Härte zugrunde gehen wird.23 Was Guenievre betrifft, so manifestiert sich bei ihr das Unfaßbar-Absolute als Willkür, es äußert sich in irrationalen spontanen Aktionen, auch Brüskierungen, zugleich korrespondiert dies aber mit subjektiver Unsicherheit, mit Selbsttäuschungen, mit Schuldbewußtsein. Auf Galaads Weg zum Gral geschieht nichts dergleichen. Galaad ruht völlig in sich selbst, es gibt für ihn keinerlei Anfechtungen. Desto deutlicher aber spiegelt sich die Problematik des Irdischen gegenüber dem Göttlichen in den Wegen Parcevals und Bohorts. Sie werden massiv in Versuchung geführt, geraten in zwiespältige Situationen, sie sind hilflos und letztlich auf die Rettung von oben angewiesen. Bohort nimmt es in Kauf, daß sich, damit er seine Keuschheit bewahren kann, 200 Frauen von einem Turm in den Tod stürzen. Das entspricht Lancelots Verhalten gegenüber dem Fräulein von Challot, aber anders als dort handelt es sich hier nur um einen teuflischen Trug – doch das konnte er nicht wissen. Vieles wendet sich nur zufällig zum Guten, wobei der Zufall natürlich auch arrangiert ist. Die negative Willkür der Regie zeigt sich bei den versagenden Figuren. Gawan wird aufgefordert, zu beichten und Buße zu tun. Er weigert sich in Verstocktheit, ohne daß dafür eine Erklärung gegeben würde. Das Verhalten Lionels dem Bruder gegenüber, der ihm in einer Notsituation nicht geholfen hat, zeugt von einem starren Haß, der einem kaum verständlich ist. Er erfüllt die Funktion, Bohort in seiner vollen Tugendhaftigkeit zu zeigen: er würde sich eher töten lassen, als seinem Bruder ein Leid anzutun. Aber die Situation entbehrt nicht grotesker Züge. Bohort sieht tatenlos zu, wie ein Eremit und sein Freund Bandemagus, die ihn schützen wollen, von seinem Bruder erschlagen werden. Gott muß mit einem Blitzschlag eingreifen, um Bohort zu retten. Man denkt, er hätte sich eigentlich etwas früher dazu herablassen können! Die Unfaßbarkeit des Absoluten manifestiert sich in der totalen Willkür, mit der es einbricht. Und das evoziert auf Seiten der Helden ein Verhalten, das immer wieder in rücksichtslose Absurdität mündet. Wenn das einen Sinn haben soll, dann den, daß einem damit eingeprägt wird, in welchem Maße die übermenschlichen Anforderungen an die Helden sie unmenschlich machen. Man kann eine solche Bedingungslosigkeit zwar vielleicht bewundern, doch zugleich weckt sie Irritationen, die man
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Prosalancelot, hg. Steinhoff, I, S. 616,31–618,27 bzw. S. 650,20–31. – Damit werden die bizarren Züge, die sich, wie gesagt, schon in der ›Charrete‹ finden, nicht nur aufgenommen, sondern noch gesteigert. – Zur Umgestaltung des traditionellen penser-Motivs im ›Prosa-Lancelot‹ siehe Reil [Anm. 13], S. 29–33. 23 Siehe dazu und zu weiteren von Lancelot abgewiesenen Frauen und Mädchen Klinger, Der mißratene Ritter [Anm. 20], S. 217–219. – Artus wird übrigens Lancelots Verhalten gegenüber dem Fräulein von Challot ausdrücklich tadeln: Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 472,13–17.
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schwer los wird. An welchem Punkt schlägt die bedingungslose Suche nach dem eigenen Glück und Heil in Menschenverachtung um? Das betrifft, wie gesagt, Lancelot auf der einen und Bohort und Parceval auf der andern Seite, nicht aber Galaad. Für ihn gibt es, wie gesagt, keine Probleme auf dem Weg zum Göttlichen. Deshalb kann man Bohort und Parceval als die eigentlichen Parallelfiguren zu Lancelot ansehen, und das ist wohl auch der Grund dafür, daß der Gralsheld in drei Figuren aufgespalten ist. Während Galaad eine unwirkliche Figur ist und man seinen Weg nicht nachvollziehen kann, repräsentieren die beiden andern sozusagen den normal-menschlichen Gralssucher und seine Problematik: die Problematik, daß der eigene Wille am Absoluten scheitern muß. Das wird auch erzählerisch-intern reflektiert, und zwar in einem Gespräch zwischen Bohort und einem Priester, der ihm ins Gewissen redet, ihn mahnt, zu beichten und Buße zu tun, da er anders sein Ziel nicht erreiche. Dann fragt er ihn, wer er sei, und als Bohort seinen Namen und sein Geschlecht nennt, meint der fromme Mann: ,Ihr müßt ein guter Ritter sein, denn Ihr seid die Frucht eines guten Baumes.‘ Bohort entgegnet, man könne auch von schlechten Eltern abstammen und doch durch die heilige Taufe ein guter Mensch werden, denn nicht die Abkunft zähle, sondern das gute Herz. Das Herz sei wie das Steuerruder24 eines Schiffes, es könne zum Hafen oder in den Untergang steuern. Doch der Priester widerspricht: das sei nicht eine Frage des Steuerruders, sondern des Steuermanns, der das Ruder führe, und das sei entweder der Heilige Geist oder der Böse Feind.25 Das heißt also, daß der menschliche Wille nur ein Instrument ist in der Hand Gottes – oder auch des Teufels. Und das führt in einen Zwiespalt hinein. Denn die Ermahnung des Priesters zu Beichte und Buße wird insofern fragwürdig, als Beichte und Buße zwar Bedingung für den Weg zum Heil sind, ihn aber nicht garantieren. Das Problem bleibt ungelöst; es scheint zwar immer wieder Spielräume zu geben, sie erweisen sich aber als beschränkt; dies einerseits durch die Unfähigkeit des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden – nur ein zufälliger Blick auf das Kreuz auf seinem Schwert rettet Parceval vor dem Teufel –, anderseits durch Vorgaben, die nicht aufzuheben sind: Lancelot zeigt tiefste Reue und kommt doch nicht wirklich zum Ziel. Die Planung von oben, die undurchschaubare göttliche Regie, ist letztlich mächtiger als der gute Wille des Einzelnen. Die Schiffsmetaphorik, mit der im Gespräch zwischen Bohort und seinem geistlichen Ratgeber operiert wird, wird übrigens demonstrativ erzählerisch real: Immer wieder tauchen aus dem Nichts steuerlose Schiffe auf; sie führen die Gralshelden zu vorbestimmten Zeitpunkten an vorbestimmte Orte, führen sie zusammen und sorgen so dafür, daß das Ziel ohne eigene Kraft erreicht wird.26 Zwischenbilanz: Es hat sich gezeigt, daß die erotische und die religiöse Erfahrung im ›Prosa-Lancelot‹ sich im Prinzip unter denselben Kategorien vollzieht. Läßt sich ein Denkmodell namhaft machen, das diese eigentümliche Analogie tragen könnte? Man 24
Im deutschen Text fälschlich: ein segel (Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 326,18); in der ›Queˆ ge 33], ste del Saint Graal‹ (hg. v. Albert Pauphilet [Les Classiques Franc¸ais du Moyen A Paris 1965, S. 165, 1,11f.) steht: l’aviron de la nef. Vgl. Steinhoffs Komm. zu 326,18f. 25 Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 324,30–33; S. 326,1–24. 26 Siehe ebd., Komm. zu 194,33 und zu 396,7f.
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
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kann antworten: Sie basiert auf dem Absolutheitscharakter der hier verhandelten Erfahrungen. Wo immer ein Ziel in radikaler Weise absolut gesetzt wird, sei es die Liebe, sei es das Göttliche, evoziert dies unausweichlich Differenzerfahrung. Was im strengen Sinn des Begriffs absolut ist, ist im Prinzip unerreichbar, es muß also auch narrativ, wenn es seinen absoluten Charakter nicht einbüßen soll, dem Zugriff entzogen bleiben. Es kann bestenfalls momentan einbrechen, und dieser querstehende Einbruch wirft einen Schatten auf alles, was außerhalb dieser Erfahrung liegt. Es gibt keinen Weg, d. h., er hebt sich immer an der Grenze zum Radikal-Andern auf. Wenn es überhaupt eine Vermittlung gibt, dann über einen Umschlag auf die andere Ebene. Die Welt wird zeichenhaft, sie wird in der ›Queste‹ geradezu zur Allegorie. Und Allegorien sind aus sich selbst nicht auflösbar. Es müssen Deuter mit überirdischer Kompetenz auftreten, Sprachrohre des Absoluten, die den Sinn enthüllen. Es wird also unter dem Absolutheitsanspruch der Erfahrungen weltlich wie geistlich, erotisch wie religiös unter denselben Bedingungen agiert: Galaad ist ein zweiter Lancelot, nicht zufällig ist Lancelots Taufname auch Galaad.27 Es sind Varianten einer Figur. Unter diesem Aspekt geht es weniger um eine Ablösung des erotischen durch ein religiöses Konzept als um das Durchspielen ein und desselben Denkmodells auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Man kann dieser These entgegenhalten, daß meine Parallelisierung allzu forciert sei, die Unterschiede zwischen dem ehebrecherischen Lancelot, der durch seine Leidenschaft für die Königin mitschuldig wird am Untergang des Artusreiches, und dem Gralshelden Galaad, der in schuldloser Reinheit der unmittelbaren Gottesschau teilhaftig wird – dieser Kontrast sei so fundamental, daß alle Analogien ihm gegenüber zweitrangig erscheinen müßten. Erfordert es nicht unstatthafte Abstraktionen, wenn man versucht, den sündenverstrickten Lancelot und Galaad als quasi-heilsgeschichtliche Figur in einer übergreifenden Perspektive zu parallelisieren? Wie gesagt, sind es ja eher Bohort und Parceval, die sich mit Lancelot vergleichen lassen, als Galaad. Aber an Galaad hängt in erster Linie das neue Konzept. Und so entscheidet sich alles am richtigen Verständnis dieser Figur, doch gerade sie hat der Forschung die meisten Rätsel aufgegeben. Das Hauptproblem der Interpretation liegt darin, den heilsgeschichtlichen Aspekt der Galaad-Gestalt und ihres Weges zutreffend zu beurteilen, konkret: zu durchschauen, in welchem Verhältnis Galaad zu Christus steht. Daß Galaad Christus in gewisser Weise angenähert wird, ist nicht zu verkennen. Doch wie geschieht dies und mit welcher Absicht? Darf man so weit gehen wie Christoph Huber und Galaad ,christusförmig‘ nennen?28 Und das ist noch vorsichtig formuliert gegenüber andern, sehr bedenkenlosen heilsgeschichtlichen Anbindungen.29 Es ist ja in der Tat so, daß einzelne seiner Aven27
Zur Bedeutung dieses Spiels mit dem Namen Galaad Klinger, Der mißratene Ritter [Anm. 20], S. 310 und 315–320. 28 Christoph Huber, „Von der ›Gral-Queste‹ zum ›Tod des Königs Artus‹. Zum Einheitsproblem des ›Prosa-Lancelot‹“, in: Positionen des Romans im späten Mittelalter, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 1), Tübingen 1991, S. 21–38, hier S. 28. 29 Insbes. Frederick W. Locke, The Quest for the Holy Grail. A Literary Study of a ThirteenthCentury French Romance, Stanford Univ. Press 1960; Pauline Matarasso, The Redemption of Chivalry. A Study of the Queste del Saint Graal, Gene`ve 1979.
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türen explizit auf die Erlösungstat Christi bezogen werden. Als Paradebeispiel kann die Mädchenburg-Episode dienen.30 Galaad befreit hier eine Schar Mädchen aus der Gefangenschaft von sieben Brüdern. Später wird dann von einem Einsiedler erklärt, darin stecke ein tieferer Sinn, es verweise diese Befreiung nämlich auf die Erlösung der Altväter aus der Hölle durch Christus.31 Die sieben Brüder aber bedeuten die sieben Todsünden, die in die Hölle führen. Um was für eine Form der Auslegung handelt es sich hier und was ist ihr Sinn im Romanzusammenhang? Huber spricht von Postfiguration, und dies, allen Bedenken gegen den umstrittenen Begriff zum Trotz, doch wohl zu Recht.32 Doch wenn man das akzeptiert, muß zugleich eines ganz klar festgehalten werden: ein typologischer Bezug sagt von der Bedeutung her nichts über das Gedeutete aus; die Typologese beruht auf einer Ähnlichkeit von Einzelzügen, aber sie stiftet keine rückwirkende Ähnlichkeit vom figuralen Sinn her. So wenig die figurale Deutung des Odysseus am Mastbaum auf Christus am Kreuz den homerischen Helden in irgendeiner Weise christusähnlich macht,33 so wenig macht die Mädchenburg-Episode Galaad christusähnlich. Im Gegenteil: wenn man den Sprung auf die Bedeutungsebene nicht bewußt hält, dann erscheint die Entsprechung geradezu abwegig: die Befreiung einer Schar von Mädchen aus der Gefangenschaft übler Ritter ist eine schlichte Banalität gegenüber der Erlösung der Vorväter aus der Hölle, d. h. gegenüber der heilsgeschichtlichen Zeitenwende durch die Inkarnation des Gottessohnes. Im Erzählzusammenhang handelt es sich um eine Befreiungs-Aventüre der üblichen Art, nicht um eine Erlösungstat im religiösen Sinn des Wortes. Sie hat auch keinen der Deutung entsprechenden Stellenwert in Galaads Lebenslauf. Postfigurale Deutungen von Taten Galaads auf Christus – die Auslegung der Mädchenburg-Episode ist ja nicht die einzige34 – machen den Gralshelden also nicht christusähnlich. Christusähnlichkeit könnte nur über eine Imitatio auf der Erzählebene selbst zustande kommen. Geschieht dies? Kann man die Gralssuche Galaads als Imitatio des Heilswegs Christi verstehen? Man mag versucht sein, eine Analogie herauszulesen. Sie wird schon insinuiert durch Galaads Genealogie, die in offenkundiger Parallelität zu jener Christi konstruiert ist.35 Und dies zudem in Verbindung mit einer kuriosen Abwandlung der Kreuzholzlegende, jener Legende, nach der der Sündenfallbaum schließlich das Holz für Christi Kreuz liefert.36 Doch im ›Prosa-Lancelot‹ wird aus dem Paradiesbaum kein Analogon zum Kreuz hergestellt, sondern man holt sich von ihm und seinen Ablegern Holz in drei Farben für drei Stäbe:37 weißes Holz vom ursprünglichen Baum des Lebens, grünes Holz von einem Ableger nach dem Fall und 30
Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, S. 94,27–102,24. Ebd., S. 108,27–110,7. 32 Huber [Anm. 28], S. 28. Kritisch dazu Steinhoffs Komm. zu V, 80,9. 33 Siehe zu dieser Figur Hugo Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 239–271. 34 Huber [Anm. 28], S. 25–28. 35 Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, Komm. zu 22,9f. 36 Ebd., Komm. zu 414,14–442,2. 37 Afrz. fuissel kann einfach ein Holzstück meinen; die mhd. Version übersetzt mit ,Spindel‘, was im Blick auf deren spitz zulaufende Enden für die beabsichtigte Konstruktion nicht sonderlich sinnvoll ist. 31
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
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rotes Holz von einem entsprechend verwandelten Baum nach der Ermordung Abels. Mit diesen drei Stäben wird auf Geheiß Salomos ein Gestell über einem Bett auf einem Schiff angebracht und mit einem Überwurf bedeckt. Auf dem Bett liegen eine Krone und das Schwert Davids. Beides ist für den künftigen Gralshelden bestimmt. Und Galaad wird sich schließlich bei der Fahrt nach Sarras auf dieses Bett legen. Über die Bedeutung dieses Symbolzusammenhangs wird kein Wort gesagt. Man kann nur darüber rätseln. Das Gestell aus den drei Hölzern über dem Bett soll jedenfalls die Verstoßung aus dem Paradies und den Mord an Abel präsent halten – eine Tat, die den Verrat durch Judas und Christi Tod – so wird explizit gesagt – präfiguriere: also gewissermaßen eine Heilsgeschichte in nuce als Überdachung für Galaad, der in dieser Behütung schlafend Sarras und letztlich das Paradies erreichen kann. Von einer Imitatio Christi wird man dabei schwerlich sprechen dürfen, vielmehr muß man wohl sagen, daß Galaads Geschichte von der Heilsgeschichte getragen wird. Die Heilsgeschichte greift aus über die genealogische Konstruktion und über die Translatio der Abendmahlsschüssel, die als ,Gral‘ zum Kelch und zur Patene der Eucharistie wird. Die Heilsgeschichte wird also bis in die arthurische Zeit hinein verlängert. Diese Konstruktionen vermögen also die These von Galaads Gralssuche als Imitatio Christi kaum zu stützen. Was aber jedenfalls ganz entschieden dagegen spricht, ist, daß das zentrale Moment einer Christusnachfolge fehlt: ein Analogon zur Passion. An der Stelle der Passion steht die Ekstasis, an der Stelle des Abstiegs in Leiden und Tod der Durchbruch zur Schau des Göttlichen und dann ein Aufstieg ins Paradies. Und wenn sich Galaad nach dieser Schau selbst den Tod wünscht, dann fließt dieser Wunsch aus der Freude, die ihn beim Anblick des Grals überwältigt. Nicht einmal die einjährige Kerkerhaft in Sarras kann als Leidensphase verstanden werden, denn der Gral versorgt die Eingekerkerten auf das köstlichste. Gerade in diesem kritischen Stadium wird die Tischlein-deck-dich-Funktion des Grals – unmittelbar vor seiner Manifestation als höchstem Gottesgeheimnis fast irritierend – noch einmal ins Spiel gebracht. Im übrigen ist diese Gefangenschaft wohl in Korrespondenz zu jener Josephs bei Robert de Boron zu verstehen.38 Die Geschichte Galaads ist keine Heilsgeschichte; vielmehr geht mit dem Gral das Heil verloren: das Heil, das Christus in die Welt gebracht hat und das präsent ist in der Eucharistie, wird in den Himmel zurückgeholt. Und die Welt ist dadurch heillos dem Untergang preisgegeben. Galaad löst zwar viele unbewältigte Aventüren, aber er ist kein Erlöser in einem heilsgeschichtlichen Sinne. Er bestätigt damit seine Ausnahmerolle. Galaad erlöst nicht die Welt, sein Weg bleibt singulär; er erlöst letztlich nur sich selbst. Es gibt demgegenüber eine einzige Figur, die sich als Opfer darbringt: Parcevals Schwester. Sie gibt ihr Blut, um eine Aussätzige zu heilen. Doch dieses Opfer wird hinterher radikal diskreditiert. Gott vernichtet die Burg und ihre Bewohner, die es gefordert haben. Man kann den Verdacht schwer abweisen, daß Parcevals Schwester sich weniger für die Kranke als um ihres eigenen Seelenheils willen opfert. Sie drängt sich geradezu zum Opfer. Und wenn ihr schließlich das Privileg zuteil wird, als einzige neben den drei Gralsrittern auf einem eigenen Wunderschiff Sarras zu erreichen, dann eben nur als Leiche. Und so sollte man denn das Groteske dieses Opferweges und die 38
Wolfzettel [Anm. 9], S. 53.
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Ironie, die darin steckt, nicht übersehen. Das Problem dürfte, nebenbei bemerkt, eine gewisse Aktualität besessen haben: Hartmann hat es bekanntlich im ›Armen Heinrich‹ bizarr-heiter vor Augen geführt. Jedenfalls erscheint Parcevals Schwester in ihrer Verkörperung selbstbezogener Selbstlosigkeit als Leitfigur für die Gralsritter.39 Man könnte übrigens im Fräulein von Challot eine Parallelgestalt zu ihr auf der Lancelot-Ebene sehen. Nachdem sie aus unerwiderter Liebe gestorben ist, erreicht ihre Leiche den Artushof auf einem prachtvoll ausgestatteten, offenbar menschenleeren Schiff. Das ist die erotische Groteske in Analogie zur religiösen Groteske der Geschichte von Parcevals Schwester. Man stirbt am absoluten Anspruch, ja man bringt sich selbst um, so wie ja auch Galaad am Ende nichts mehr will als sterben. Überall bleiben nur Gräber zurück – Nikola von Merveldt hat jüngst nachdrücklich auf dieses makabre Panorama aufmerksam gemacht40 –, es sind memoriale Opferstätten entlang der Wege zum Absoluten. So tritt das persönliche Heil in Gegensatz zur Heilsgeschichte. Der Held, der auf sein persönliches absolutes Ziel ausgerichtet ist, kann keine Funktion mehr haben im Rahmen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Galaad fehlt jeder Gemeinschaftsbezug, er ist ein religiöser Held ohne ein Verhältnis zur Kirche. Der Bereich des InstitutionellReligiösen ist aufgelöst in eine universale Vereinzelung, die Welt ist erfüllt von lauter Eremiten und Klausnerinnen.41 Sie sind im Besitz des Heilswissens; sie tauchen punktuell auf dem Weg der Gralsritter auf und offenbaren es, aber für die Welt sind sie ohne Bedeutung.42 Für die Helden, die nicht gleich sterben, ist denn auch die Einsiedelei die letzte Station. Man hat es fast ausschließlich mit isolierten Einzelnen zu tun. Es gibt deshalb – entgegen der allgemeinen Ansicht – kein neues, geistliches Rittertum, das ein weltlich-arthurisches Rittertum ablösen sollte, es gibt keine Gralsgemeinschaft wie etwa bei Wolfram, sondern es werden, positiv, nur drei singuläre Viten vorgeführt. An ihrer Spitze Galaad, und gerade er ist keine Leitfigur, die ein solches religiöses Ritterbild zu prägen vermöchte, er ist ein unnachahmlicher, irrealer Sonderfall. Und auch Bohorts und Parcevals Wege sind so determiniert, daß sie nicht paradigmatisch sein können. Es ist deshalb auch müßig, eine solche egozentrische Religiosität an irgendeine zeitgenössische monastische Bewegung, etwa an die zisterziensische Religiosität anschließen zu wollen, wie man dies immer wieder versucht hat.43 Es geht um ein narratives Experiment, ohne daß man es direkt in einen kulturgeschichtlichen Kontext einzubinden vermöchte. Man könnte nur ganz allgemein an mystische Tendenzen denken, die auf eine individuelle Gottessuche unter Umgehung der kirchlichen Vermittlung zielten. Dabei kam es entsprechend zur Verabsolutierung der Differenz, d. h. zur Erfahrung der eigenen Ohnmacht gegenüber einem unfaßbaren Gott, einem Gott der gnadenhaften Willkür. 39
Eine Leitfigur nicht nur ihren Funktionen in der Handlung nach – siehe dazu Monika Unzeitig-Herzog, Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im ,Prosalancelot‘, Heidelberg 1990, S. 125–132 –, sondern auch dem Geiste nach. 40 Translatio und Memoria. Zur Poetik der Memoria des Prosa-Lancelot (Mikrokosmos 72), Frankfurt a. M. u. a. 2004. 41 Zu diesen Figuren Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, Komm. zu 32,15. 42 Hans Fromm, „Lancelot und die Einsiedler“, in: Ders., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 219–234, spricht von „Prädestinationswissen“ (hier S. 225). 43 Prosalancelot, hg. Steinhoff, V, Einleitung zum Komm., S. 1045f. Dezidiert und mit guten Gründen ablehnend Wolfzettel [Anm. 9], S. 56–58.
8. Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹
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Die Selbstbezogenheit der Gralshelden, die nicht nur quer zur Gesellschaft steht, sondern sich letztlich gegen sie wendet, gilt auch für Lancelot. Lancelots Weg der absoluten Liebe wie die auf das Jenseits gerichtete Gralssuche Galaads zerstören – jeder auf seine Weise – die arthurische Welt, sie wirken ursächlich in den Prozeß hinein, der zum Untergang führt. Es heißt zwar – so der Erzähler –, daß Gott dem Königreich Logres den Gral entzieht, weil es in Sünde gefallen sei, aber das ganze Geschehen ist dermaßen stark von oben her programmiert, daß letztlich jeder freie Spielraum aufgezehrt wird. Die Welt wird schließlich der Fortuna, d. h. der unerbittlichen Mechanik ihres Rades, ausgeliefert. Das Fazit: Der ›Prosa-Lancelot‹ greift die Fragen auf, ja forciert sie, die die Chre´tienschen Romanentwürfe überdeckt, aber untergründig offen gelassen haben. Er nimmt sich dessen an, was jenseits der Grenzen des Verstehbaren und Integrierbaren liegt. Er ist ein narratives Experiment mit dem Absoluten, mit der Liebe als Absolutum, mit dem Göttlichen als Absolutum. Es gibt keine Vermittlung, sondern nur den Sprung über die Willkür der Zeichen. Wenn dieses Absolute erscheint, dann als Einbruch in bedingungsloser Präsenz. Wer davon betroffen ist, wird zum Narren, zum Wahnsinnigen oder zum Heiligen. Die Figuren finden zwar möglicherweise ihr persönliches Glück und Heil, aber die Welt geht dabei zugrunde.
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken
Die Frage nach dem ,Wunderbaren‘ im Mittelalter wirft ein historisch-semantisches Problem auf. Das Adjektiv wunderbaere ist im Mittelhochdeutschen nur sporadisch belegt. An seiner Stelle steht wunderlıˆch. Erst im 16. Jahrhundert beginnt sich ,wunderbar‘ dagegen durchzusetzen.1 Der Grund für diese Ablösung dürfte darin zu suchen sein, daß wunderlıˆch eine stark subjektive Komponente besitzt: in der Bedeutung ,staunenswert‘ kann sowohl Alexander der Große wie auch Gott wunderlıˆch genannt werden. Im neuhochdeutschen Adjektiv ,wunderbar‘ fällt diese subjektive Komponente weitgehend weg. Dasselbe gilt für das mittelhochdeutsche Substantiv wunder: es bedeutet nicht nur wie das nhd. ,Wunder‘ das objektiv wunderbare Ereignis, sondern auch ,Verwunderung‘. Offensichtlich ist im Rahmen der semantischen Differenzierung und Rationalisierung der Sprache beim Übergang zum Neuhochdeutschen ,Wunder‘ weitgehend auf die objektive Bedeutung eingeschränkt worden,2 wobei sich ,wunderbar‘ als Adjektiv dazustellte, während wunderlıˆch nur noch in der Bedeutung ,seltsam‘ überlebt hat. Dieser historisch-semantische Befund führt zu der Frage weiter, ob unsere Sicht auf das Wunderbare im Mittelalter vom neuhochdeutschen Begriff her nicht anachronistisch ist. Unser Interesse gilt ja dem Objektiv-Wunderbaren, d. h. dem, was objektiv vom „Gewöhnlichen abweicht, der Erwartung widerspricht, speziell einerseits etwas, was über das gewöhnliche Maß hinausgeht (. . . ), andererseits etwas, was wider die Naturgesetze ist“.3 Dieses Objektiv-Wunderbare ist aber, wie gesagt, in den entsprechenden mittelhochdeutschen Begriffen nicht von der subjektiven Komponente zu lösen, ja, wunder und wunderlıˆch decken alles ab, was die mittelhochdeutschen Autoren als ,staunenswert‘ bezeichnen wollen oder worüber sich jemand wundert. Will man trotzdem versuchen, in mittelalterlichen Texten mit Hilfe der oben gegebenen Definition vom Kontext aus zwischen dem Objektiv-Wunderbaren und dem bloß Subjektiv-Staunenswerten zu differenzieren, so sieht man sich einer weiteren Schwierigkeit gegenüber. Denn das, was als ungewöhnlich gilt, was der Erwartung widerspricht, oder die Auffassung von dem, was die Naturgesetze durchbricht, ist kulturhistorisch variabel, ja, die Möglichkeit zu einer klaren Unterscheidung zwischen ,natürlich‘ und ,nicht-natürlich‘ setzt wohl unsere neuzeitliche, rational geprägte Weltsicht voraus. Es ist eben doch für das mittelalterliche Sprachweltbild signifikant, daß wunder und wunderlıˆch den ganzen Spielraum zwischen der Verwunderung über etwas bloß Überraschendes und einem Durchbruch durch die Naturordnung offen lassen. Darf man also 1
Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, Tübingen 91992, S. 1061. Es gibt noch Reste des subjektiven Aspekts, etwa in Formulierungen wie ,es nimmt mich wunder‘ u. ä. 3 Paul [Anm. 1], S. 1061. 2
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken
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bei der Frage nach dem Wunderbaren im Mittelalter mit einer semantischen Differenzierung arbeiten, die damals nicht nur nicht gegeben war, sondern im Blick auf das mittelalterliche Sprachdenken gar nicht greifen kann? Die Antwort kann nur lauten: Es ist dies im Prinzip nicht statthaft. Wenn man jedoch im Rahmen unserer Tagungsthematik die Frage nach dem Wunderbaren in mittelalterlichen Texten nicht preiszugeben bereit ist, sondern trotzdem den anachronistischen Versuch unternehmen will, die verschiedenen Formen des Wunderbaren aus rationaler Perspektive voneinander abzuheben, dann rechtfertigt sich dies nur unter der Bedingung, daß man zugleich aufzeigt, inwiefern unsere Begrifflichkeit den kulturhistorisch-semantischen Befund verfälscht oder wo sie an ihre Grenzen stößt. Somit denn ein Versuch unter Vorbehalten. Einigermaßen plausibel läßt sich das Wunder im neuhochdeutschen Sinn aus dem generell wunderlıˆchen als ein Ereignis ausgrenzen, in dem Gott die Naturordnung durchbricht. Im ›Rolandslied‹ z. B. hält Gott den Lauf der Sonne an, damit Karl sein Rachewerk an den Heiden vollenden kann. Und es stellen sich die zahllosen von Gott über die Heiligen gewirkten Wunder in den Legenden dazu. Ist eine übernatürliche nichtgöttliche Kraft am Werk, so spricht man von Zauberei. Christlich gesehen, steht der Teufel dahinter. Man denke etwa an die Künste eines Simon Magus. Beiden Fällen gemeinsam ist, daß Mächte für den Durchbruch durch die Naturordnung verantwortlich sind, die über ihr stehen, also legitim oder illegitim über sie zu gebieten vermögen. Demgegenüber gibt es aber auch Wunderbares im objektiven Sinn, für das kein Verursacher namhaft gemacht werden kann. Es lassen sich drei Formen unterscheiden: 1. Gegebenheiten, die der Naturordnung widersprechen: z. B. Quellen, aus denen Wein oder Milch fließt; Brunnen, die die darin Badenden verjüngen; der Magnetberg, der Schiffe anzieht. Wenn derartiges in einem mittelalterlichen Reisebericht vorkommt, so gibt es sich aber als Faktum. Es fällt also, obgleich es den uns gewohnten Naturgesetzen widerspricht, nicht grundsätzlich aus der Naturordnung heraus, vielmehr wird unterstellt, daß sich Wunderbares dieser Art einer uns nicht gewohnten, oft auch einer uns nicht ohne weiteres zugänglichen Ordnung verdankt. Aber ist es dann noch objektiv wunderbar, also widernatürlich, oder staunt man nur darüber, weil man diese andere Ordnung nicht kennt? 2. Gegenstände mit wunderbaren Eigenschaften, also jede Art von Zauberrequisiten: Amulette, die Schutz versprechen; magische Tränke, die Schlaf, Verwandlung, Liebe bewirken; Tarnkappen, die unsichtbar machen usw. Und wieder wird man sehr oft nicht unterscheiden können, ob unterstellt wird, daß solche Gegenstände aus der Naturordnung herausfallen, oder ob sie nicht doch in geheimer Weise ihr zugehören. 3. Figuren, die durch ihre Formen oder ihr Verhalten der Naturordnung widersprechen. Hierher gehören die Monstra am östlichen Weltrand, die freilich ihre natürliche Geschichte haben können; eine ganze Reihe von ihnen soll dadurch entstanden sein, daß die Töchter Adams verbotene Kräuter gegessen und dann abnorme Wesen zur Welt gebracht haben: Hundsköpfige, Monstren ohne Kopf mit einem Gesicht auf dem Leib, Riesenohrige usw.4 Aber es gibt auch Mirabilia im Westen, auf die insbesondere irische 4
Siehe Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis, hg. v. Kathryn Smits, Berlin 1972, vv. 646ff. Zur Tradition des Motivs und zu weiteren ,Erklärungen‘ der Entstehung abnormer Wesen vgl. Claude Lecouteux, Les monstres dans la pense´e me´die´vale europe´enne, Paris 31999, S. 137ff.
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II. Zum höfischen Roman
Seefahrer wie Maelduin oder Brandan gestoßen sein sollen: Ameisen so groß wie Pferde; Tiere, die sich in ihrer Haut drehen können; bewaldete Fische, usw.5 Und was Figuren mit wunderbaren Eigenschaften oder Fähigkeiten betrifft, so denke man an die Blumenmädchen im ›Alexanderroman‹ oder an den feuerspeienden Dietrich von Bern. Auch hier gilt: Wenn wir dies ,wunderbar‘ nennen, so muß das nicht unbedingt widernatürlich heißen, vielmehr hat man damit gerechnet, daß die Natur auch Sonderformen hervorbringen kann. Monstra sind zwar meist in einem Grenzbereich im äußersten Osten oder Westen angesiedelt, aber sie gehören dabei eben doch noch zu dieser Welt. So haben sie denn ihren unbestrittenen Platz in den großen mittelalterlichen Enzyklopädien, und sie haben ein langes Nachleben, noch in der ›Schedelschen Weltchronik‹ tauchen sie auf. Wieder ist zu fragen: Staunt man dabei nur über Ungewohntes, oder sind sich die Berichterstatter und die Leser darüber im klaren, daß derartiges mit einer streng rationalen Welterklärung nicht vereinbar ist? Eine entschiedene Antwort auf diese Frage gibt die ›Brandanreise‹ aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts:6 Der irische Abt Brandan liest in einem Buch von den ,Wundern Gottes‘, und was er liest, erscheint ihm so unglaubwürdig, daß er das Buch ins Feuer wirft. Da erscheint ein Engel und befiehlt ihm auszufahren, damit er diese bezweifelten wunder mit eigenen Augen sehe. Und tatsächlich führt ihn die Seefahrt von einer Unglaublichkeit zur andern und bringt ihn zu der staunenden Erkenntnis, daß es all das, was er gelesen hat, tatsächlich gibt. Die sogenannten Wunder Gottes erweisen sich somit als ethnographisch und geographisch faßbare Fakten. Es ist offensichtlich, daß wir auch hier, wenn von ,Wundern‘ die Rede ist, nicht an den neuhochdeutschen Begriff zu denken haben, sondern daß es unter dem Aspekt der subjektiven Komponente der mittelhochdeutschen Begriffe wunder und wunderlıˆch um erstaunliche Tatsachen geht. Blickt man auf diese Beispiele, kann man den Verdacht schwer loswerden, daß dem Mittelalter Wunderbares im neuzeitlichen Sinn des Naturwidrigen, rational nicht Erklärbaren – abgesehen von direkten Eingriffen Gottes oder des Teufels – fremd war. Die Kategorien, mit denen man es zu tun hat, sind nicht ,rational-erklärbar‘ oder ,nichterklärbar‘, sondern ,gewohnt-wirklich‘ und ,nichtgewohnt-wirklich‘, und unter der Kategorie des Nichtgewohnten konnte deshalb vieles erscheinen, was wir heute irrational, fabulös, ja unsinnig nennen, von den Wein- und Milchquellen bis zu den Hundsköpfigen.7 Und doch wird in unseren Texten die Differenz einigermaßen deutlich festgehalten, und zwar in folgender Weise: Es darf das Ungewohnt-Staunenswerte, damit es dies bleibt, entweder nur punktuell auftreten – wie Gottes Eingriff in den Lauf der Sonne –, 5
Siehe die Listen von ,Wundern‘ in irischen Seefahrtsgeschichten in meiner Studie „Vom Imram zur Aventiure-Fahrt“, in: Haug, Strukturen, S. 379–408, hier S. 381f., S. 382–384, S. 386–390. 6 Vgl. ebd., S. 380, S. 382ff.; Clara Strijbosch, De bronnen van De reis van Sint Brandaan, Hilversum 1995; englisch: The Seafaring Saint. Sources and Analogues of the Twelfth-Century Voyage of Saint Brendan, Dublin, Portland/OR 2000. 7 Das heißt selbstverständlich nicht, daß nicht schon im Mittelalter Zweifel an allzu phantastischen Mirakeln und Mirabilien aufgekommen wären; vgl. Fritz Peter Knapp, „Historiographisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Ein Nachwort in eigener Sache“, in: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. v. F. P. Knapp u. Manuela Niesner, Berlin 2002, S. 147–159, hier S. 153.
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken
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oder es muß abseits angesiedelt sein, in einem nur für Einzelne zugänglichen Sonderbereich, im äußersten Osten oder Westen. Diese räumliche Isolierung des UngewohntFaktischen ist aber, um dies nochmals zu betonen, etwas grundsätzlich anderes als das prinzipiell-kontrastive Gegenüber von Phantastik und Rationalität. Dies mißachtet zu haben, ist denn auch der Grundfehler mancher moderner theoretischer Zugriffe auf „le ˆ ge fantastique“.8 Moyen-A Wie wird nun mit diesem wunderlıˆchen umgegangen, wenn im 12. Jahrhundert eine Literatur entsteht, die sich nicht mehr auf Faktisches bezieht, sondern fiktive Entwürfe bietet wie der Artusroman? Indem sich dieser neue Roman eine Welt von eigener, fiktiver Realität schafft, steht ihm das Gewohnte wie das Ungewohnte gleichermaßen zur Verfügung, und man kann es nach Belieben einsetzen, ja, man kann neues Ungewohntes in Analogie zu den drei Formen des Wunderbaren: Gegebenheiten, Gegenstände und Figuren, frei erfinden. Dabei fällt mit der räumlichen Absonderung auch die durch sie gegebene Differenz aus, freilich nicht wie im Märchen, in dem Reales und Wunderbares bruchlos und fraglos ineinander übergehen, vielmehr ist das Ungewöhnliche im Rahmen der fiktiven Realität zwar selbstverständlich, es bleibt aber ungewöhnlich. Im ›Yvain‹ Chre´tiens de Troyes9 begegnet Calogrenant einem monströsen Hirten mit einer Herde wilder Tiere (vv. 278ff.). Aber er wundert sich nicht, daß es so etwas gibt, sondern seine einzige Sorge ist die, ob der Kerl gefährlich ist oder nicht. Er kommt dann zu einer Quelle, bei der man durch einen Wasserguß auf einen Stein ein mörderisches Unwetter heraufbeschwören kann (vv. 408ff.). Wiederum erregt dieser Mechanismus bei ihm nicht die geringste Verwunderung. Und das gilt für alles Ungewöhnliche in Chre´tiens Romanen: für Erecs Verhalten gegenüber dem Wundergarten Mabonagrains,10 für das Verhalten des Artushofes gegenüber dem häßlich-monströsen Fräulein im ›Perceval‹11 usw. Das Ungewohnte setzt in der Regel nicht in Erstaunen, sondern es interessiert nur, was es bringt, Gutes oder Böses. Daß das Erstaunliche roman-intern nicht erstaunt, aber heißt, daß es objektiv wunderbar geworden ist, und zwar für den Rezipienten, der das Wunderbare als solches registriert, sich aber im Bewußtsein des fiktiven Charakters des Typus auch nicht wundert. Die Fiktionalität unterläuft die Frage nach der objektiven Möglichkeit des Ungewöhnlichen.12 8
So z. B. Francis Dubost, Aspects fantastiques de la litte´rature narrative me´die´vale (XIIe`me– XIIIe`me sie`cles): l’autre, l’ailleurs, l’autrefois, Gene`ve 1991. 9 Chrestien de Troyes, Yvain, übers. u. eingel. v. Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), München 1962 [Text nach Wendelin Foerster]. 10 Chre´tien de Troyes, Erec und Enide, übers. u. eingel. v. Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979 [Text nach Wendelin Foerster], vv. 5739ff. 11 Chre´tien de Troyes, ,Le Roman de Perceval‘ ou ,Le Conte du Graal‘, hg. v. William Roach (Textes Litte´raires Franc¸ais 71), Gene`ve, Paris 21959, vv. 4608ff. 12 Wenn es zeitgenössisch zu kritischen Äußerungen gegenüber diesem romanhaft ,Wunderbaren‘ kommt, mißachtet diese Kritik die bewußte Fiktionalität des Typus. Ich erinnere an Waces berühmte Bemerkung in seinem ›Roman de Rou‹, wo er sagt, er sei, als er nach Feen und Wundern im Fabelwald Brecheliant (Broceliande) suchte, als Dummkopf hingegangen und als Dummkopf wieder herausgekommen: Wace, Le Roman de Rou, hg. v. Anthony J. Holden, Paris 1970, 1971, 1973, Bd. 3, vv. 6387ff.
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II. Zum höfischen Roman
Was ist der Sinn dieses Fiktiv-Wunderbaren? Indem es aller Problematik des Möglichen oder Unmöglichen enthoben ist, wird es frei für eine literarische Funktion: es wird frei, um Bedeutung zu konstituieren, d. h., es tritt ein in das Zeichensystem des fiktiven Romans. Das ist schwerlich zu verkennen, wenn man beachtet, wo das Wunderbare von Chre´tien eingesetzt wird: vorzüglich – wenn auch nicht ausschließlich – an den kritischen Stellen der Handlung, an den Übergängen oder Wendepunkten: beim Eintritt in die avanture – so der wilde Hirte und die Gewitterquelle im ›Yvain‹; an der Bruchstelle zwischen dem ersten und dem zweiten Kursus im ›Perceval‹; am Ende des zweiten Handlungskreises im ›Erec‹. Das Wunderbare enthüllt seinen zeichenhaften Sinn in bezug auf den Prozeß, der über das strukturelle Konzept abläuft. Der ungeheuerliche Hirte, der wilde Tiere in Bann hält und damit gegen das sinnlose Draufgängertum Calogrenants und Yvains gestellt wird, präludiert den animalischen Aspekt, der sich durch den Roman durchzieht – über den tierischen Status des in die Krise geratenen Helden zum wunderbaren hilfreichen Löwen. Das häßliche Fräulein steht gegen die Schönheit Percevals, die den Hof über sein Versagen hinweggetäuscht hat: das kritische Verhältnis von Innen und Außen wird ins Bild und in Bewegung gebracht. Mabonagrains Wundergarten signalisiert am Ende des ›Erec‹ das im Grunde ungelöste und unlösbare Problem des Romans: die absolute, paradiesische Liebe, die zugleich verderblich, ja mörderisch ist.13 Daß das zeichenhaft Wunderbare vorzüglich in den Übergängen oder Bruchstellen des Handlungsschemas auftritt, bedeutet, daß es auf die Dialektik zwischen der arthurischen Idealität des Hofes und einer Gegenwelt bezogen ist, der gegenüber die Idealität immer neu realisiert werden muß. Im Monströs-Wunderbaren insbesondere artikuliert sich diese Gegenwelt, fordert sie Gehör, fordert sie ihr Recht, d. h., es ist ambivalent und steht damit in Beziehung zu dem, was über die Struktur letztlich nicht zu bewältigen und aufzulösen ist. Was geschieht nun, wenn, vor allem im späteren arthurischen Roman, diese Dialektik preisgegeben wird? Strukturell gesehen, kommt es zwangsläufig zu einer Polarisierung von Gut und Böse. Der Artushof und die Gegenwelt erscheinen nun als absolut oppositionelle Bereiche: der krisenlos gute Held tritt gegen eine böse Welt an. Dem entspricht eine neue Funktion des Wunderbaren. Es verliert seinen Zeichencharakter. Im Monströs-Wunderbaren erscheint unmittelbar die Gegenwelt, das Positiv-Wunderbare kann in den Dienst des Guten treten: schon Wigalois z. B. wird mit Heilsmitteln gegen das Teuflische auf seinem Aventürenweg ausgestattet.14 Die Tendenz geht dahin, die anti-arthurische Welt immer böser, monströser, diabolischer und den arthurischen Helden immer übermenschlich-heroischer zu machen. Das Wunderbare wuchert auf der einen wie auf der andern Seite. Wird das Monströse durchgängig zum Ausdruck der 13
Siehe zum aporetischen Charakter dieses Romantypus meine Studie „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 172–184. 14 Wirnt von Gravenberc, Wigalois der Ritter mit dem Rade, hg. v. Johannes M. N. Kapteyn, Bonn 1926: Wigalois erhält eine wunderbare Blüte zum Schutz gegen bösen Gestank, was ihm bei seinem Drachenkampf hilfreich sein wird, und eine Lanze, die jedes Material zu durchdringen vermag. An seinem Schwert hängt ein gesegneter briev, so daß sich ihm der Teufel, der seinem Gegner Roaz beisteht, nicht nähern kann.
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken
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Gegenwelt, tritt es also nicht mehr punktuell auf, sondern schließt es sich zu einer Sphäre zusammen, dann kann die Gegenwelt insgesamt phantastische Züge annehmen: so die dämonische Mechanik der Burg des Roaz im ›Wigalois‹ (vv. 7246ff.) oder jene der Dolorosen Garde im ›Prosa-Lancelot‹ (I, S. 574ff.)15. Und demgegenüber darf sich der Held nun sehr wohl entsetzen oder in Schrecken geraten, oder er kann erst recht cool bleiben: das eine wie das andere erhöht den dramatischen Effekt. In dem Maße aber, in dem das Wunderbare zur emotionalen Steigerung im Kampf zwischen Gut und Böse eingesetzt wird, im selben Maße verliert es seinen Zeichencharakter. Wenn das Phantastische sich im späteren Artusroman breit macht, ist das also eine Folge der Preisgabe der Dialektik, und es gewinnt seine neue Funktion in der damit verbundenen Polarisierung. Wenn es nur noch Gut und Böse gibt und das Interesse am inneren Zusammenhang zwischen beidem wegfällt, ist man, um das Publikum zu fesseln, gezwungen, das Negative und das Positive immer weiter ins Phantastisch-Wunderbare hochzutreiben – und das gilt übrigens bis heute: die Science fiction-Literatur beruht auf dieser Polarisierung und arbeitet mit einer entsprechenden Steigerungstechnik. Doch das ist nur die eine Seite. Das Übernatürliche steht nahe beim Komischen.16 Der Heilige und der Narr sind oft nicht zu unterscheiden. Es bedarf nur einer kleinen Einstellungsänderung, und schon erscheint das Wunder lachhaft. Zur komischen Wende kommt es insbesondere dann, wenn man das Wunder überzieht. Wenn der hl. Laurentius auf dem Rost gemartert wird und er die Qual mit Gottes Hilfe durchsteht, so ist das ein Wunder, aber es kippt die Situation ins Komische um, wenn der Gemarterte zu seinen Peinigern sagt, sie sollten ihn jetzt wenden, denn er sei auf der einen Seite durchgebraten. Auch wenn man Wunder in Serie bietet, reizt das zum Lachen: der hl. Georg wird mit dem Schwert hingerichtet, er aufersteht wieder; er wird auf dem Rad in Stücke gebrochen, er aufersteht wieder; er wird zu Asche verbrannt und in einen Brunnen geworfen, er aufersteht wieder! Je wütender die heidnischen Verfolger in ihrer Ohnmacht werden, desto komischer müssen sie erscheinen. Ob man das nun glaubt oder nicht, man kann in jedem Fall lachen. Der Gläubige lacht über die frustrierten Peiniger, denen es nicht gelingen will, den Heiligen fertig zu machen. Es ist dies letztlich das Lachen über den Teufel, über das Böse, dem Gott durch die Erlösung im Grunde die Macht entzogen hat. Der Ungläubige aber lacht – wenn er sich nicht kopfschüttelnd abwendet – über die Absurdität der Legende oder den Erzähler, weil der entweder leichtgläubig ist oder denkt, er könne einem etwas derartiges aufbinden. Doch das Lachen kann bekanntlich doppelschichtig sein: man verlacht etwas und erledigt damit das Verlachte, aber zugleich steckt in dem Verlachten und scheinbar Erledigten etwas, mit dem man nicht restlos fertig wird. Man kooperiert mit ihm im ausgegrenzten Bereich des Textes, man läßt es zu Wort kommen und respektiert damit das geheime Recht desjenigen, das dem Gelächter ausgeliefert wird. Ich erinnere an die Formel Odo Marquards: „Komisch ist und zum Lachen reizt, was im offiziell Gelten15 16
Ich zitiere nach: Prosalancelot, hg. Steinhoff, I/II (Lancelot und Ginover). Vgl. zum Folgenden meine Studie „Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters“, in: Haug, Strukturen, S. 257–274.
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II. Zum höfischen Roman
den das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt“.17 Es gibt das Böse und es gibt das Heilige, auch wenn es verlacht wird, eben doch. Gilt das im Prinzip auch für das Wunderbare im arthurischen Roman? Die monströsen Figuren bei Chre´tien sind nicht komisch. Der wilde Hirte im ›Yvain‹ oder das häßliche Fräulein im ›Perceval‹ fordern nicht dadurch heraus, daß sie unglaubhaft sind, denn die Bedeutung, die sie im fiktionalen Rahmen signalisieren, unterläuft, wie gesagt, die Frage nach der Glaubhaftigkeit. Das gilt auch für das Mädchen am Artushof, das niemals lachte, aber zu lachen beginnt, als es den jungen Perceval sieht (vv. 1034ff.). Das ist ein Wunderlachen, das explizit in seiner Zeichenhaftigkeit aufgeht. Aber auch die Riesen und Zwerge sind nicht komisch, denn sie sind unzweideutig böse, und sie bedeuten zugleich das Böse, und dieses kann in ihnen, jedenfalls vordergründig, erledigt werden. Anders verhält es sich mit dem Löwen im ›Yvain‹, der komisch erscheint, wenn er im Glauben, der Held sei tot, Selbstmord begehen will (vv. 3506ff.). Das ist einer jener seltenen Momente bei Chre´tien, wo das Wunderbare so weit überzogen wird, daß es nicht mehr ganz in der Bedeutung aufgeht. Man kann auch an bestimmte GauvainAventüren denken, an das gefährliche Bett etwa, auf das ein Pfeilgewitter niedergeht, als der Held sich darauf setzt (vv. 7818ff.): er muß sich also gegen eine groteske Maschinerie behaupten, was halb schrecklich und halb komisch wirkt, je nachdem, ob man mehr mit dem Helden mitgeht oder mehr mit dem Erzähler auf die selbstverständliche Unversehrbarkeit Gauvains und die Blamage der Maschinerie setzt. Aber das ist ein Sonderfall, auf den noch zurückzukommen sein wird. Es ist leicht einzusehen, daß sich die Situation entscheidend verändern muß, wenn im nachklassischen Roman mit der dialektischen Struktur die Zeichenhaftigkeit des Wunderbaren dahinfällt, wenn also der Held als der schlechthin Gute und Makellose dem Wunderbar-Monströsen als dem schlechthin Bösen entgegentritt, wobei der Held nun seinerseits auf Wundermittel angewiesen ist. Wird das Negativ-Wunderbare überzogen, so wird es grotesk, d. h., das Überzogene erscheint zwar komisch, aber zugleich kann es so bedrohlich sein, daß einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Man hat es mit einer rein diabolischen Gegenwelt zu tun. Man denke an Figuren wie das Ungeheuer in des Strickers ›Daniel von dem Blühenden Tal‹18, das nur aus einem Kopf besteht, aus dem Arme und Beine herauswachsen, und das die Leute mit einer Art Gorgonenhaupt tötet, worauf dann des Kopffüßlers Genossen en masse herankommen, den Toten das Blut aussaugen, um es eine Stunde in ihren großen Mäulern zu behalten und dann auszuspucken. Und davon leben sie. Daniel tötet das Monstrum, indem er, in einen Spiegel schauend, rückwärts auf es zugeht und es mit einem Schwertstreich erledigt und dann die übrigen dadurch tötet, daß er ihnen das Gorgonenhaupt entgegenhält (vv. 1876ff.). Die Erzählung bewegt sich in solchen Episoden immer wieder am Rande des Lachhaften, aber die Nöte und Klagen der von den Monstren Geplagten werden vom Stricker so intensiv geschildert, daß das Grausige sich vordrängt, während die listigen Manöver, mit denen Daniel die teuflischen Gegner besiegt, allein menschlich witzig sind; er hat 17
Odo Marquard, „Exile der Heiterkeit“, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik VII), München 1976, S. 133–151, hier S. 142. 18 Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, hg. v. Michael Resler (ATB 92), Tübingen 1983.
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken
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dem Höllischen also nichts Himmlisches entgegenzusetzen. Anders als das Böse vor dem Guten hat das Dumm-Böse vor dem Klugen kein Recht, so daß es auch nicht komisch werden kann. Blutrünstigkeit bis hin zu sadistischen Exzessen verbunden mit Dummheit auf der einen und intellektuelle Überlegenheit auf der andern Seite – das ist die neue Konstellation, die das Verhältnis zwischen Artushof und Gegenwelt im ›Daniel‹ kennzeichnet. Und wiederum wundert sich roman-intern niemand darüber, daß es solche grotesken Figuren wie die bauchlosen Monstren gibt; das Wunderbare bleibt objektives fiktionales Faktum. Es sind Ausgeburten einer Phantasie, die das Negative nicht mehr akzeptiert, es nicht mehr in eine übergreifende Erfahrung einzubinden vermag, einer Phantasie, die vielmehr frei geworden ist, ihre eigenen Abgründe auszuloten. Das Negative, das man ausschalten will, kommt in um so teuflischerer Form zurück. Die grausig-surrealen Bilderserien in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, die auch handlungstechnisch weitgehend isoliert sind, gehören in diesen Zusammenhang.19 Und doch gibt es auch im ›Daniel‹ komische Momente. Nachdem die Artusritter den Herausforderer Matur und seine Heere bezwungen haben, erscheint mitten im Siegesfest ein alter Mann; er trägt seidene Kleider, hat wohlgepflegtes Haar, ist aber von ganz normaler Gestalt. Und doch geht etwas von ihm aus, das den Dichter veranlaßt, ihn als wunderlıˆch zu bezeichnen (vv. 6905, 6933). Es wird sich zeigen, daß er über Zauberkräfte verfügt. Er ist der Vater von zwei Riesen, die im Dienste Maturs standen und die Daniel mit einem Wunderschwert zerstückelt hat. Nun will der Alte für ihren Tod Rache nehmen. Mit seinem Stab bahnt er sich einen Weg durch die Menge. Dann packt er den König Artus und läuft mit ihm davon wie der Wind; man jagt ihm nach, aber der Alte klettert mit seinem Raub auf einen Berg, wohin man ihm nicht zu folgen vermag, und setzt den König auf eine Felsspitze. Als nächsten packt er Parzival und tut mit ihm dasselbe. Da oben, so sagt er, könnten sie nun verhungern. Daniel aber weiß aus einer früheren Aventüre von einem unsichtbaren Zaubernetz; er läßt es herbeibringen, und der Alte wird darin gefangen. Nun kann Daniel dem Riesenvater in aller Ruhe erklären, daß er die Söhne nur aus Notwehr getötet habe (vv. 7643ff.; das Stichwort: v. 7715), was dieser einsieht, und so gibt er sich schließlich mit dem wunderbaren Netz zufrieden, das sein Zaubererherz entzückt, und holt Artus und Parzival wieder von den Felsspitzen herunter. Kann man, wie gesagt, schwerlich über die grotesk-diabolischen Figuren im ›Daniel‹ lachen, so lacht man nun doch über den alten Zauberer, der mit dem König und seinem besten Ritter die Felswände hochklettert und sie auf Felsspitzen setzt. Das Wunderbare wird überzogen, und dies bei jemandem, der sich zunächst ganz normal gibt. Zudem geraten Artus und Parzival in eine lächerliche Situation und am Ende dann auch der Alte selbst, wenn er sich in dem Zaubernetz vergeblich abstrampelt. Die Komik dieser 19
Dazu meine Studie „Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer ,nachklassischen‘ Ästhetik“, in: Haug, Strukturen, S. 651–671, hier S. 657f. Einen Versuch zu einer symbolischen Interpretation, der freilich zu weit geht, hat Johannes Keller geboten: Diu Croˆne Heinrichs von dem Türlin: Wunderketten, Gral und Tod, Bern, Berlin u. a. 1997. Siehe dazu seine Selbstkritik „Fantastische Wunderketten“, in: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2003, S. 225– 248.
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Szenen ist vielschichtig. Sie beruht letztlich auf der Überlegenheit Daniels sowohl der arthurischen Welt wie der Zauberei des Alten gegenüber. Es steckt im ›Daniel‹ bekanntlich auch eine Parodie des klassischen Artusromans.20 Dabei nützt der Stricker die Gelegenheit, in einem theoretischen Exkurs die geistigen Fähigkeiten gegen Körperkraft und Dummheit auszuspielen: Auch die besten magischen Künste oder Requisiten nützen nichts, wenn ein Dummkopf Regie führt (vv. 7490ff.). Das läuft auf eine Polarisierung hinaus, bei der der Gegensatz zwischen arthurischer Idealität und Gegenwelt als Gegensatz von Intellektualität und dummer Bosheit erscheint. Wenn sich hier Komik einschleicht, indem die arthurischen Ritter lächerlich werden, dann müßte das heißen, daß in ihrer Ohnmacht der ritterlich-heroische Anspruch nicht völlig untergeht, und wenn der Alte lächerlich wird, daß sein Recht nicht völlig ausgelöscht ist. Aber die Polarisierung wird hier nur für einen Moment komisch unterlaufen, der Stricker dementiert die Möglichkeit dann sogleich durch seine moraltheoretischen Explikationen. Das Negative durch Komik einzufangen – darin zeigt sich aber im Prinzip eine Möglichkeit, gegen die Polarisierung wiederum ein dialektisches Verhältnis zwischen Idealität und Gegenwelt herzustellen. Der Chre´tiensche Roman bedurfte, wie gesagt, keiner Komik, weil er über die Krise des Helden das Negative grundsätzlich mit einbezog. Bezeichnend ist, daß die Gauvain-Partien im ›Gralsroman‹ eine Ausnahme machen, denn Gauvain ist ein krisenloser, undialektischer Held. Man könnte mir die komische Tölpelhaftigkeit des jungen Perceval entgegenhalten, aber er ist nur solange komisch, als er sich außerhalb der Spannung zwischen Artuswelt und Gegenwelt bewegt. Es zeigt sich also: Während der dialektische Artusroman nicht auf Komik angewiesen ist, öffnet sich dann, wenn seine Dialektik mit der symbolischen Struktur preisgegeben wird und es zur Polarisierung von Gut und Böse kommt, die Möglichkeit, das Negative über die Komik in neuer Weise dialektisch einzuholen. Die Chance dazu bietet sich insbesondere über das Wunderbare an, wenn es dermaßen hochgetrieben wird, daß es lächerlich erscheint. Das Wunderbare als das Positiv-Übernatürliche und das Wunderbare als das Negativ-Übernatürliche – das eine wie das andere oder beides zugleich kann der Komik verfallen. Lacht man über das Böse, gesteht man ihm insgeheim zu, daß es doch zu unserer Welt gehört; lacht man über das scheinbar Gute, dann gesteht man insgeheim zu, daß auch das Scheinbare eine Möglichkeit ist, ja daß das Versagen sogar menschlich weiter führen kann als die starre Vollkommenheit. Der Dichter von ›Sir Gawain and the Green Knight‹ wird dies in genialer Weise zum Thema machen und damit gegen Ende des 14. Jahrhunderts noch einmal einen Artusroman von höchstem Niveau schaffen.21 Im deutschen Sprachbereich sind die Eingangsepisoden der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin22 beispielhaft für diese Wende. Die Handlung beginnt mit einem überschwenglichen Lob des Königs Artus; Anklänge an Hartmanns ›Iwein‹-Eingang sind 20
Siehe Haug [Anm. 19], S. 661f. Vgl. meine Studie „Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen zum späten Mittelalter“, in: Haug, Brechungen, S. 251–264, hier S. 261ff. 22 Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), hg. v. Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner (ATB 112), Tübingen 2000. 21
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nicht zu überhören.23 Und nach der Schilderung von Artus’ Jugend unter den Fittichen der Saelde wird noch einmal arthurische Idealität zelebriert. Ein Fest wird anberaumt, merkwürdigerweise zu Weihnachten (v. 919). Es wird breit geschildert, wie die Einladungen hinausgehen und wie man sich Pferde, Maultiere, kostbare Stoffe, Kleinodien usw. aus aller Herren Länder beschafft, dann, wie die Gäste ankommen und wie die Festlichkeiten ablaufen mit Tanzen, Spielen, Erzählen, Turnieren. Am Weihnachtstag soll das große Festmahl stattfinden. Aber als man sich versammelt hat, will niemand essen; man wartet – nach gängigem arthurischem Klischee – auf eine aˆventiure, und sie kommt auch prompt (vv. 933ff.): Ein Fremder reitet singend zum Palas, steigt ab und tritt vor die Festversammlung. Er ist schmächtig und nur so groß wie ein sechsjähriges Kind. Seine Kleider – ein Überwurf aus feiner Wolle und darunter ein Seidengewand – sind nach französischer Mode geschnitten. Aber sein Gesicht ist mit Schuppen bedeckt; er hat einen großen, dicken Mund, über den Schnauzhaare herabhängen. Seine Augen sind eisgrau und groß wie Straußeneier, die Augenbrauen liegen zwei Spannen weit auseinander; die Nase ist kurz und dick, vorne breit, in der Mitte flach. Das Haar auf dem Kopf erinnert an Fischflossen, die Ohren treten breit und hoch heraus, die Haut ist schwarz, grau und eisenfarbig. Sein weißes Reittier – ein Pferd mit dem Hinterteil eines Delphins – ist mit schwarzen pfenniggroßen Punkten übersät. Schwanz und Mähne bestehen aus Fischflossen. An den Beinen hat es Federn wie von einem Adler, die auf die Hufe herabhängen und die in der Beuge nach außen abstehen. Also eine Figur, die in dasselbe groteske Repertoire gehört wie der wilde Hirte im ›Yvain‹ oder das häßliche Fräulein im ›Perceval‹ – sozusagen deren aquatische Variante. Wie üblich zeigen die Ritter keinerlei Erstaunen über das Meerwunder, man behandelt den fischigen Ritterzwerg wie irgendeinen normalen Gast. Man tauscht beiderseits höfliche Adressen aus, bis sich der Fremde nach längerem Hin und Her schließlich bereit findet, sein Anliegen vorzutragen. Er zieht einen Zauberbecher aus seiner Kapuze und erklärt, daß nur der daraus trinken könne, ohne etwas zu verschütten, dessen Herz völlig rein und treu sei. Er bittet, mit allen anwesenden Damen und Rittern die Probe machen zu dürfen. Man willigt ein. Das Ergebnis ist fatal: Keine der Damen besteht den Test und dann auch keiner von den Männern – außer der König allein. Key überschüttet die Blamierten jeweils noch mit Spott, aber er selbst versagt am Ende genauso, und wenn er dann wütend den kleinen Ritter zur Tjost fordert, liegt er sehr schnell im Graben. Der Ritterzwerg aus dem Meer hat also zwar ein groteskes Äußeres, aber seinem Wesen nach ist er formvollendet höfisch. Sein Auftritt macht den Hof jedoch in peinlicher Weise lächerlich. Die bizarre Erscheinung, die ein edles Wesen verbirgt, wird kontrastiert mit dem äußeren Glanz des Hofes, der aber innerlich faul ist. Das Motiv der Treueprobe, sei es mit einem Trinkgefäß, einem Mantel oder einem andern Wunderrequisit, findet sich des öfteren in der arthurischen Literatur.24 Doch nur 23 24
Siehe Haug, Literaturtheorie, S. 280ff. Siehe Kenneth G. T. Webster, Guinevere. A Study of her Abductions, Milton/MA 1951, S. 59; Roger Sherman Loomis’ Anm. 187 in der revidierten Ausgabe von Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, übers. v. Kenneth G. T. Webster, New York 1951, S. 211f.; Frieder Schanze, Art. ,Luneten Mantel‘, 2VL 5, Sp. 1068f.; Christine Kasper, Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren: Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums, Göppingen 1995, S. 100ff., S. 170ff.
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hier bildet es als Test für die ganze Gesellschaft den Auftakt zur Handlung, wobei der Zwerg auf dem Seepferd die Rolle des Provokateurs beim Eröffnungsfest spielt. Im Gegensatz aber zu dem üblichen Anstoß zu einer aˆventiure von außen, der der Hof sich stellen muß, wird die arthurische Idealität durch die wunderbare Becherprobe von innen her in Frage gestellt, und bezeichnenderweise verschwindet der Provokateur daraufhin, ohne je wieder eine Rolle zu spielen. Das Meer, aus dem er kommt, kann nicht als Gegenwelt fungieren. Das schafft eine gegenüber dem traditionellen Schema völlig veränderte Ausgangssituation. Schon daß das Fest mitten im Winter stattfindet, ist ein Signal. Und der blamable Test stößt denn auch keinerlei Aktion an. Alles was daraus resultiert, ist ein beschädigtes Bild der arthurischen Gesellschaft. Die Komik wird im beißenden Spott Keys in Schadenfreude umgesetzt, um aber am Ende wie üblich auf ihn selbst zurückzufallen. Es ist also nicht so, daß ein Ritter der Tafelrunde aufbrechen, auf das Negative zugehen muß, sondern das Negative wird am Hof selbst aufgedeckt, und zwar generell als Fragwürdigkeit seiner Idealität. Allein der König ragt strahlend aus der Misere heraus. Aber auch dies, wie sich im weiteren zeigen wird, nicht uneingeschränkt. Doch wenngleich aus der Konfrontation des Meerwunders mit der lächerlich gewordenen Artusgesellschaft handlungstechnisch nicht unmittelbar etwas resultiert, ist damit doch ein beunruhigendes Moment in die Welt gesetzt. Der Boden, auf dem man sich bewegt, wird schwankend bleiben. Es wundert einen nicht, daß die Probleme in der Folge von innen aufbrechen: Das Fest nimmt ein seltsames Ende (vv. 3205ff.). Nach drei Tagen verschwinden nämlich die Artusritter und die Gäste heimlich in aller Frühe, da Kunde gekommen ist von einem Turnier. Man möchte daran teilnehmen, fürchtet aber, daß der König das verhindern könnte. So macht man sich unbeurlaubt davon. Es bleiben nur drei Ritter zurück: Gales, Aumagwin und Key. Mit ihnen geht Artus dann auf eine Winterjagd (vv. 3273ff.), von der er ganz durchfroren heimkommt, um sich schlotternd am Kamin zu wärmen. Die Königin sieht das und verspottet ihn: Wie könne er sich nur so verzärteln wie ein Weib. Und dann berichtet sie von einem Ritter, der nur im Hemd in Sommerhitze wie Winterkälte an der Furt zum Schwarzen Dorn seiner Liebsten Lieder singe. Artus ist tief getroffen, doch er nimmt die Herausforderung tapfer an: er zieht mit den drei Rittern, die ihm geblieben sind, hinaus zur Furt, um die Wahrheit von Gynovers Behauptung zu überprüfen. Getrennt legen sie sich in der Kälte auf die Lauer. Und der Sänger im bloßen Hemd erscheint tatsächlich; die drei Artusritter rennen einzeln gegen ihn an und werden von den Pferden gestochen. Der König indessen friert einmal mehr vor sich hin. Er überlegt sich, ob er nicht besser heimkehren sollte, die Geschichte mit dem Sänger im Hemd sei wohl nur eine Fabel, die seine Frau irgendwo aufgeschnappt habe. Und immer wieder schieben sich Reflexionen über die willkürliche und schwer verständliche Wesensart der Frau ein. Sie spiegeln die Irritation des Königs. Aber schließlich erscheint der Ritter doch – mit den Pferden der drei Besiegten, was Artus mit großer Sorge erfüllt. Es kommt zu einem harten Kampf, bei dem der König den Fremden hätte töten können; aber er hält es für eine Schande, einen Gegner, der nur im Hemd kämpft, umzubringen. Er drängt ihn, seinen Namen zu sagen, aber der Fremde will sich nur Artus gegenüber nennen. Als der König sich daraufhin zu erkennen gibt, sagt er, er heiße Gasoein de Dragoz, und er fordere von Artus sein Recht. Als Artus verwundert nachfragt, erklärt er, daß Gynover seine rechtmäßige Gattin sei und
9. Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken
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er komme, sie zurückzuholen. Der König weiß nicht, was er denken soll. Einerseits erscheint ihm das unglaublich, andrerseits aber meint er darin, daß die Königin ihn gegen den nächtlichen Sänger aufgestachelt hat, ein Indiz dafür zu sehen, daß Gasoein recht haben könnte. Man beschließt, sich in sechs Wochen in Karidol zu treffen und die Frage durch einen Zweikampf zu entscheiden. Dann reitet der König zurück, greift unterwegs die drei besiegten Ritter auf, und dann schläft man sich erst einmal tüchtig aus. – In Karidol kommt es dann zu dem verabredeten Termin wieder zu einem erbitterten Kampf zwischen Gasoein und dem König, wobei keiner den andern zu überwinden vermag. Schließlich einigt man sich darauf, Gynover die Entscheidung zu überlassen. Vor versammeltem Hof soll sie erklären, wem sie zugehören will: Artus oder dem Fremden. Sie schweigt lange. Sie scheint nicht zu wissen, wie sie sich verhalten soll. Und Gasoein spricht von Nötigung. Schließlich wendet sie sich an den König und sagt, sie habe es nicht um ihn verdient, daß er ihr zumute, sie könnte sich für einen Mann entscheiden, den sie überhaupt nicht kenne. Gasoein reitet voller Zorn weg. Die Verwirrung scheint gelöst. Doch einer ist nicht überzeugt, daß die Königin die Wahrheit gesagt hat: ihr eigner Bruder. Er interpretiert ihr langes Zögern so, daß sie es unter dem Druck des versammelten Hofes nicht gewagt habe, sich zu Gasoein zu bekennen. Er bemächtigt sich ihrer in der Absicht, sie zu töten. Im kritischen Moment aber erscheint Gasoein und rettet ihr das Leben, doch nur, um sogleich den Versuch zu machen, sie zu vergewaltigen. Und wieder kommt im letzten Augenblick Rettung. Gawein taucht auf, kämpft mit Gasoein und führt Gynover schließlich unversehrt an den Hof zurück. Viel später erst klärt sich die Sachlage: Gasoein wird seine Ansprüche auf die Königin widerrufen. Wo liegt die Wahrheit? Hat Gasoein vielleicht mit seiner Fiktion eines älteren Rechts auf Gynover ihr nur die Chance geben wollen, seine leidenschaftliche Liebe zu akzeptieren? Die Königin könnte die Taktik durchschaut haben, scheint es ihr doch nicht leicht zu fallen, der Versuchung, darauf einzugehen, zu widerstehen. Ist ihre Empörung, daß der König ihr in dieser Weise die Möglichkeit der Untreue unterstellt, also echt oder gespielt? Die Interpretation des Bruders ist vielleicht doch nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die Wahrheit bleibt absichtsvoll in der Schwebe. Bei all dem geht es um das, was der Meerzwerg in die Debatte gebracht hat: die fragwürdige Treue der Artusritter und ihrer Damen, exemplifiziert an der Königin selbst. Und der König macht hier nun auch nicht mehr eine völlig tadellose Figur; er steht zwar immer wieder seinen Mann, aber er ist innerlich hilflos, er weiß nicht, wem und was er glauben soll. Und seiner Frau in einer peinlichen Situation die Entscheidung zu überlassen – ist das Edelmut oder Schwäche? Zeugt das von Vertrauen oder von radikaler Verunsicherung? Es wird auch dies merkwürdig offen gehalten. Blickt man auf das Handlungsschema, so scheint man es nun nach dem ersten Ansatz mit dem Meerwunder, der zu nichts führte, doch noch mit einer klassischen Provokationsszene zu tun zu haben. Wenn Gasoein als Herausforderer auftritt und Anspruch auf Gynover erhebt, sieht man sich an Meleagant erinnert, der, aus einem jenseitigen Land stammend, am Artushof auftaucht und die Königin entführt. Auch Gasoein ist mit Zügen ausgestattet, die zumindest Ungewöhnliches signalisieren: Er singt, nur mit einem Hemd bekleidet, in eisiger Winterkälte Liebeslieder. Ist das ,wunderbar‘ und, wenn ja, in welchem Sinne? Es wird unterstellt, daß es die Glut der Liebe sei, die ihn für
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II. Zum höfischen Roman
die Kälte unempfindlich mache. Und darauf spielt auch die Königin an, wenn sie den fröstelnden Artus am Kaminfeuer verhöhnt, indem sie sagt, die heißeste Frau sollte kälter sein als der kühlste Mann (vv. 3379f.). Das Wunderbare wird erotisch-physiologisch ins Groteske hinübergespielt. Und hier liegt die Pointe im Blick auf den Auftakt: Der einzige treue Mann, Artus, ist offenbar nur als ein unbefriedigender Liebhaber ein idealer König, während die Fehlbarkeit aller übrigen darauf hindeutet, daß die ganze Artusidealität zumindest in einer Hinsicht nur Tünche ist: sie überdeckt eine unkontrollierbare Sexualität, die sich heimlich ihr Recht verschafft. Der Provokationsakt ist hier also nicht etwas, dem man als der Negation der Idealität entgegentreten könnte und der schließlich dialektisch zu integrieren wäre, vielmehr deckt er etwas auf, was als Negatives immer schon unter der Idealität liegt: das Chaotische, insbesondere das Willkürliche des Erotischen. Deshalb die komischen Lichter, die auf die Artusgesellschaft und schließlich auch auf den König fallen. Und wenn sich am Ende alles doch nur als eine Lügengeschichte entpuppt, so hat man Mühe, dies zu glauben. Man fragt sich, ob hiermit nicht das wieder brav zugedeckt werden soll, was im Untergrund schlummert und nur für die Augenblicke zweier Provokationsepisoden erschreckend komisch hochkommen durfte. Der Gesamteindruck bleibt zwiespältig. Die für den späteren Roman typische Polarisierung ist durch komische Brechungen in eine neue Dialektik übergeführt. Und dies wird sich im weiteren Verlauf des Romans in Form von Ironisierungen mit andern Mitteln fortsetzen. Ich fasse meine Beobachtungen und Überlegungen in drei Thesen zusammen: 1. Im klassischen Artusroman steht das Wunderbare – jenseits der Frage nach seiner Glaubwürdigkeit – dem fiktionalen Konzept funktional zur Verfügung. Es markiert vor allem zeichenhaft die kritischen Stellen des Schemas; es signalisiert dessen Dialektik und kann bildhaft thematische Aspekte aufrufen. 2. Wenn durch den krisenlosen Helden im nachklassischen Roman die Dialektik preisgegeben wird, kommt es zu einer Polarisierung von Gut und Böse. Das Wunderbare verliert seinen Zeichencharakter und wird zum unmittelbaren Ausdruck der oppositionellen Sphären. Es steigert sie effektgerichtet sowohl auf der positiven wie auch und insbesondere auf der negativen Seite. Die Wucherungen des grausig Wunderbaren können bis zu bizarren Phantasmagorien gehen. 3. Es besteht demgegenüber die Möglichkeit, das Wunderbare einzusetzen, um Komik zu erzeugen und damit die Polarisierung zu unterlaufen. Vom Erhabenen wie vom Makabren ist es zum Komischen nur ein Schritt. Im Lachen über das Komische aber gewinnt das, was verlacht wird, ein gewisses Recht zurück. So kann es zu einer neuen Form von Dialektik kommen, die nicht mehr strukturgetragen ist, sondern punktuell in komischer Doppelbödigkeit aufscheint.
III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
1. Gotteserfahrung im abendländischen Mittelalter
I Wenn man über religiöse Erfahrung sprechen will, tut man gut daran, sich zunächst über den Begriff der Erfahrung im allgemeinen zu verständigen, um dann zu überlegen, ob religiöse Erfahrung sich diesem allgemeinen Begriff fügt oder ob sie quer zu ihm steht, ja, ihn möglicherweise sprengt. Was also heißt ,Erfahrung‘? ,Erfahren‘ bedeutet seinem ursprünglichen, konkreten Sinn nach: ,etwas im Fahren erreichen‘, wobei ahd. faran, mhd. varn noch jede Art von Fortbewegung meinen kann. Griechisch und lateinisch entspricht περαÄ ν bzw. experiri, abgeleitet von derselben indogermanischen Wurzel per/por wie das germanische faran. Im übertragenen Sinn meint ,erfahren‘ ein Über-sich-Hinausgehen und Einholen von etwas Unbekanntem. Dieses metaphorische Erfahren schließt in sich, daß das Unbekannte, auf das man stößt, bewältigt, verarbeitet werden muß. Diese Verarbeitung wird in dem Maße problematisch, in dem es sich nicht bloß um eine zwar vielleicht mühsame, aber doch technische Aneignung über einen Lernprozeß handelt, sondern um eine Bewältigung von etwas, das dem Gewohnten zuwiderläuft. Denn das Unbekannte, das Neue hat potentiell den Charakter einer Provokation, zu experiri gehört periculum. Das Neue gefährdet das Gewohnte, stellt das Alte in Frage. Wie wird man damit fertig? Man kann, auf der einen Seite, versuchen, das Neue mit den Kategorien des Bekannten zu fassen und dadurch zu entschärfen. Oder – die Gegenmöglichkeit – man revidiert aufgrund der neuen Erfahrung das, was für einen bislang gültig war. In diesem Fall denkt man nach der neuen Erfahrung nicht mehr in derselben Weise wie zuvor, ja, es gibt Erfahrungen, die einen aus der Bahn werfen, die das Leben mehr oder weniger radikal verändern. Paradebeispiele sind: Josaphat (im ›Barlaamroman‹), der zum ersten Mal einen Krüppel, einen Blinden und einen Greis sieht, oder Paulus vor Damaskus oder Dantes Begegnung mit Beatrice. Erfahrungen können also nicht nur auf einem Weg, auf dem man sich dem Neuen öffnet, begegnen, sondern sie können völlig unerwartet und vehement in das Gewohnte einbrechen. Das führt den Erfahrungsbegriff an seine Grenze, man erfährt nicht mehr etwas, sondern es widerfährt einem etwas. Eine ,Widerfahrnis‘ – um mit Heidegger zu reden1 – stürzt alles Erfahren um. Der Übergang von der einen zur andern Akzentuierung ist fließend.2 1
Martin Heidegger, „Das Wesen der Sprache“, in: Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 12: Unterwegs zur Sprache, Frankfurt a. M. 1985, S. 147–204, hier S. 149: „Mit etwas (. . . ) eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt.“ 2 Zum Erfahrungsbegriff siehe Friedrich Kambartel, Art. ,Erfahrung‘, in: Hist. Wb. der Philosophie 2, Sp. 609–617; Dietmar Mieth, „Annäherung an Erfahrung – Modelle religiöser Erfahrung im Christentum“, in: Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition,
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Ob man aber das Neue vereinnahmt, indem man es im Sinne des Bekannten umdeutet, es auf Bekanntes reduziert, oder ob man sich durch die Erfahrung verändert, ja verwandelt, das Erfahrene ist am Ende in jedem Fall sozusagen einverleibt, es erscheint nun als Besitz, man verfügt darüber. Und damit hat man einen zweiten Erfahrungsbegriff vor sich, denn Erfahrung nennen wir nicht nur den Akt der Begegnung mit etwas Neuem und seine Bewältigung, sondern auch das Ergebnis dieses Aktes. Wer Erfahrungen im Sinne einer Bewältigung des Neuen gemacht hat, ist erfahren, er hat Erfahrung; aus dem Akt des experiri resultiert der Experte. Doch die Verfügbarkeit über das Erfahrene ist entsprechend dem Gegenüber von Erfahrung und Widerfahrnis nur die eine Seite, auf der andern kann das Erfahrene das Eigene nachhaltig umprägen, es dermaßen überformen, daß man nicht mehr von einem Besitz sprechen kann, über den man verfügt, sondern daß man sagen muß, das Neue verfüge über einen, man sei von ihm besetzt, ja im extremsten Fall: von ihm besessen. Die Frage ist, wie sich der Erfahrungsakt zur Erfahrung als Besitz oder als Besetztsein verhält. Es ist ein prekäres Verhältnis. Denn indem man etwas Ungewohntes bewältigt, es zu etwas Eigenem, etwas Vertrautem macht, verliert es seine Virulenz. Die Bewegung erstarrt; das, was einen überwältigt hat, wird zum Gewohnten. Darin zeigt sich ein Grundproblem jeder Erfahrung: Kann die assimilierte Erfahrung noch etwas von jenem erregenden Moment des Aktes bewahren, aus dem sie geflossen ist? Der zum Gewohnten gewordenen Erfahrung des Neuen droht die problemlose Selbstverständlichkeit, die Routine. Jeder kennt das aus der Liebeserfahrung: aus der überwältigenden, erschütternden, riskanten Du-Begegnung wird die vertraute Gemeinsamkeit. Das Umwälzende tendiert zur Selbstverständlichkeit, Revolutionen enden in Orthodoxie. Das heißt, die Erfahrung als Besitz ist, wenn sie lebendig bleiben soll, auf die Erfahrung als Akt angewiesen, sie verlangt nach einer Erneuerung im Akt. So treibt das Unbehagen gegenüber dem Besitz immer wieder zum Ursprung der Erfahrung zurück. Mit welchen Mitteln man aber auch immer die Erneuerung in Szene setzt – kurzschlüssig etwa durch eine neue Liebe, durch eine kontinuierliche Kulturrevolution –, es droht auch hier eine Gefahr, nämlich die Gefahr, daß man sich in der Bodenlosigkeit des Aktes verliert. Man kann nicht völlig im stets Neuen leben. Und daraus folgt, daß nicht nur die Erfahrung als Besitz auf den Akt angewiesen ist, sondern auch der Akt auf den Besitz. Genauer: Der Akt bedarf des Erfahrungsbesitzes als eines Mediums, um zu sich selbst zu kommen, andernfalls würde er in der Überwältigung stecken bleiben, und die Erfahrung vermöchte nicht fruchtbar zu werden. Der Akt ist immer schon auf dem Weg zum Besitz, während der Besitz nur lebendig bleibt in der Rückbindung an den Akt.
hg. v. Walter Haug u. Dietmar Mieth, München 1992, S. 1–16; meine Studie „Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell“, in: Haug, Brechungen, S. 501–530, hier S. 501–504; Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, „Klassische Anfangsgründe der Gotteserkenntnis und ursprüngliche Erfahrung“, in: Zwischen Verzückung und Verzweiflung. Dimensionen religiöser Erfahrung, hg. v. Florian Uhl u. Artur R. Boelderl (Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie 2), Düsseldorf 2001, S. 13–26, hier S. 20ff.
1. Gotteserfahrung im abendländischen Mittelalter
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Dieser dialektische Prozeß ist ein Prozeß der Vermittlung, und dies in beiden Richtungen: die Bewegung ist, vom Erfahrungsakt weg und zu ihm hin, auf das Wort oder das Bild angewiesen. Nur über ein solches Medium vermag der Akt zu sich selbst zu kommen und sich darzustellen. Denn als Akt an sich ist er unfaßbar. Es ist also diese mediale Umsetzung, die die Bewältigung des Neuen im Sinne einer Aneignung trägt und dabei die Aktualität unterläuft, wobei dieses Unterlaufen der Aktualität und seine Problematik mit zum Bewußtsein der Vermittlung gehören. Und so geht die Unfaßbarkeit des Aktes in die Vermittlung mit ein, am markantesten dort, wo die Begrifflichkeit, wo die Sprache an ihrer Vermittlungsaufgabe scheitert und sie dies zum Ausdruck bringt.3 Es sei an Schillers berühmte Klage erinnert: „Spricht die Seele, so spricht (ach!) schon die Seele nicht mehr.“ Die Erfahrung als psychischer Akt ist im Wort nicht mehr sie selbst. Und doch muß ,die Seele‘ sprechen, da sonst die Erfahrung in der Sprachlosigkeit sich selbst verliert. Der Akt stört, zerstört den Besitz, und indem er dies tut, vermittelt er sich und zerstört er sich selbst. Und dieses Dilemma kennzeichnet im Prinzip unsere gesamte Welterfahrung, unsere Begegnung mit dem Nicht-Ich, mit dem Andern. Wie verhält sich die religiöse Erfahrung zu dem beschriebenen allgemeinen dialektischen Erfahrungsmodell? Läßt sie sich damit fassen oder hat man es mit einer wesentlich abweichenden Form von Erfahrung zu tun? Es wird zu zeigen sein, daß es sich bei religiöser Erfahrung um die denkbar radikalste Form von Erfahrung handelt, denn sie meint die Erfahrung des schlechthin Andern, die Erfahrung von etwas, das jenseits von allem liegt, was den Bedingungen gehorcht, unter denen wir normalerweise Erfahrungen machen. Kurz: religiöse Erfahrung ist Transzendenzerfahrung, also Erfahrung dessen, was mit den Mitteln menschlicher Erkenntnis prinzipiell nicht zu fassen ist. Als radikale Erfahrung ist religiöse Erfahrung also immer Widerfahrnis im Sinne eines Einbruchs oder Durchbruchs und damit totale Infragestellung all dessen, was man besitzen kann. Entsprechend ist die Spannung zwischen Transzendenzerfahrung als Akt und Transzendenzerfahrung als Besitz radikalisiert: es scheint keine Vermittlung zu geben. Dem trägt eine spezifische Begrifflichkeit Rechnung: der Erfahrungsakt versteht sich als Akt der Gnade, der Besitz als Glaube. Dazwischen gibt es im Prinzip keine Brücke. Und doch ist auch hier beides aufeinander angewiesen: der Glaube als ,gesicherte‘ Erfahrung bedarf der Erneuerung durch die Gotteserfahrung als lebendigen Akt, und dieser wird wiederum vom Glauben getragen. Und wieder gibt es die extremen Möglichkeiten: zum einen die Erstarrung in der Gewißheit des Glaubensbesitzes und zum andern die Infragestellung all dessen, was als sicherer Besitz gelten könnte: die aktuelle Gotteserfahrung, die alle vorgängige Erfahrung immer wieder durchkreuzt, die den Menschen radikal verändert – es ist an die Conversio-Erlebnisse zu denken, die typisch sind für religiöse Viten: Paulus vor Damaskus, Augustinus in Mailand, Rousseau auf dem Weg nach Vincennes usw. Und wenn doch immer wieder versucht wird, eine Vermittlung zwischen Akt und Besitz herzustellen, dann könnte sie hier gar nicht fragwürdiger sein: die Sprachnot religiöser Erfahrung endet immer wieder in der Verweigerung jeder Kommunikation, im Schweigen. Aber diese Verweigerung gehört
3
Siehe Haug [Anm. 2], S. 502f.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
bewußtseinsmäßig mit zur Vermittlung des Unvermittelbaren. Man redet eben doch auch über dieses Schweigen.4 Es zeigt sich also, daß man bei der religiösen Erfahrung im Prinzip vor derselben Situation steht wie bei der Erfahrung im allgemeinen, nur mit dem Unterschied, daß die Problematik auf das äußerste verschärft erscheint, verschärft bis zum absoluten inneren Widerspruch, bis zur Paradoxie. Auf der einen Seite steht die Frage, ob Gotteserfahrung jemals zu etwas werden kann, was zu ,haben‘ ist. Ist jede Gewißheit nicht schon Verrat an der lebendigen Aktualität der Erfahrung? Diese Frage ist die Triebkraft für die unablässig über die Jahrhunderte hin sich folgenden religiösen Erneuerungsbewegungen. Auf der andern Seite mag man daran zweifeln, daß eine aktualisierende Erneuerung überhaupt realisierbar ist, wenn es sich um eine Erfahrung handelt, die unsere kognitiven Möglichkeiten grundsätzlich übersteigt. Können wir die ursprüngliche, umwälzende Erfahrung wirklich wieder lebendig werden lassen? Gibt es einen Weg zurück über eine Medialität, die doch von vornherein den Stempel des Versagens, der Vergeblichkeit trägt?
II Es ist dieser Zwiespalt, bei dem die religionshistorischen Fragen anzusetzen haben, denen ich mich nun zuwende. Dabei ist von der Überlegung auszugehen, ob es unterschiedliche Verhaltensweisen diesem Zwiespalt gegenüber gibt, ob sich also typische Formen der Arbeit am Paradox religiöser Erfahrung unterscheiden lassen. Und wenn ja, ob sie kulturhistorisch zu verorten sind. Zunächst wird man feststellen, daß es zwei Möglichkeiten gibt, sich dem Verhältnis des Irdischen zum Göttlichen, des Immanenten zum Transzendenten, denkend zu nähern. Sie lassen sich aus der Widersprüchlichkeit des Erfahrungsbegriffs selbst herleiten. Denn, wie gesagt, die Erfahrung ist einerseits auf einen vermittelnden Weg angewiesen, anderseits steht der Akt der Erfahrung quer zu allem, was vermittelbar ist. Geht man von der Möglichkeit einer Vermittlung aus, so kann man sagen, ein Weg vom Immanenten zum Transzendenten eröffne sich dann, wenn man unterstellt, daß diese Welt ein Abglanz des Ewigen ist oder zumindest eine Spur des Göttlichen in sich trägt. Glaubt man an einen Schöpfergott, so muß die Schöpfung ja von ihm geprägt sein. Und wenn dem so ist, stellt sich die Frage, ob diese Prägung, diese Spur, nicht einen Weg vom Irdischen zum Göttlichen weisen könnte. Die 4
Aus der Fülle der Literatur zur Sprachproblematik religiöser, insbesondere mystischer Rede eine knappe Auswahl von in unterschiedlichen Richtungen weiterführenden Studien: Alois M. Haas, „Mystische Erfahrung und Sprache“, in: Ders., Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (dokimion 4), Freiburg/Schweiz 1979, S. 19–36; Eugen Biser, Religiöse Sprachbarrieren. Aufbau einer Logaporetik, München 1980; Kurt Ruh, „Überlegungen und Beobachtungen zur Sprache der Mystik“, in: Brüder-Grimm-Symposion zur historischen Wortforschung, hg. v. Reiner Hildebrandt u. Ulrich Knoop, Berlin, New York 1986, S. 24– 39; meine Studie „Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens“, in: Haug, Brechungen, S. 531–544, und „Überlegungen zur Revision meiner ›Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens‹“, ebd., S. 545–549; Jörg Seelhorst, Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse (Bibliotheca Germanica 46), Tübingen, Basel 2003, Teil 1.
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Gegenposition: Der Gotteserfahrung über einen Weg widerspricht der strenge Begriff der Transzendenz; dem radikal Andern gegenüber kann es nur eine absolute Grenze geben. Transzendenz ist nur denkbar als Negation all dessen, was das Immanente kennzeichnet. Unter dieser Voraussetzung gibt es keinen Weg vom Irdischen zum Göttlichen. So bleibt, wenn es doch zu einer Gotteserfahrung kommen soll, nur die Möglichkeit, daß das Göttliche von sich aus ins Irdische einbricht: Gotteserfahrung als göttliches Entgegenkommen, als Gnadenakt. Von diesem Widerspruch her ist es üblich geworden, in der abendländischen Religionsgeschichte zwischen zwei Modellen zu unterscheiden, über die man Gotteserfahrung zu denken versuchte: ein Modell, das eine Begegnung über einen Aufstiegsweg in Aussicht stellte, wobei man das Irdische als vorläufige Vermittlung begriff, die man schrittweise zurücklassen sollte, und ein Gegenmodell, das jedes Weg-Denken verwarf und sich allein auf die Herabkunft des Göttlichen ausrichtete. Und man meinte diesen Gegensatz auch kulturhistorisch verorten zu können, nämlich als Gegensatz zwischen griechischem und christlichem Denken. Die Idee des vermittelnden Aufstiegs, so hat man gesagt, sei der griechischen, insbesondere platonisch-neuplatonischen Philosophie verpflichtet, während die Idee von der Herabkunft des Göttlichen kennzeichnend sei für die genuin christliche religiöse Erfahrung. Der Paradefall für diese harte Kontrastierung ist das Buch des schwedischen Theologen A. Nygren von 1930/1937; es trägt den programmatischen Titel ›Eros und Agape‹.5 Nygren stellt die antike Idee des Eros dem neutestamentlichen Liebesbegriff, der agape, gegenüber. Die griechische Eros-Philosophie, grundgelegt in Platons ›Symposion‹, propagiert bekanntlich einen Aufstieg vom Sinnlichen über das Intelligible bis zu den Ideen an sich. Er zielt auf ein höchstes Glück des Einzelnen in der Schau des Wahren, Guten und Schönen. Die Neuplatoniker haben diesen Aufstieg dann weiterentwickelt, indem sie ein höchstes Prinzip noch darübergesetzt haben: das Hen, das Eine, in dem alle Differenzierungen aufgehoben sind, aus dem das Viele fließt und zu dem es wieder zurückstrebt. Das letzte gilt in besonderer Weise für den Menschen, denn er trägt in sich einen göttlichen Funken, was ihn veranlaßt und ihm ermöglicht, sich aus der irdisch-materiellen Gebundenheit durch Reinigung und Erleuchtung zu erheben, um die Seele schließlich in einem ekstatischen Akt wieder mit ihrem göttlichen Ursprung zu vereinigen.6 Mit dem Eros ist dem Menschen also eine Triebkraft gegeben, aufgrund deren er diesen Aufstieg unternehmen kann, und es ist somit seine natürliche Anlage, die es ihm ermöglicht, sich zum Göttlichen zu erheben. Zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen gibt es keine unüberwindliche Kluft, sondern einen gestuften Übergang, wobei die letzte Stufe jedoch durch einen Sprung gekennzeichnet ist, einen ekstatischen Sprung in das Absolute.
5 6
Anders Nygren, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Gütersloh 21954. Werner Beierwaltes, „Henosis. I Einung mit dem Einen oder die Aufhebung des Bildes: Plotins Mystik“, in: Ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 123–147; Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, S. 63ff.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Dem steht – nach Nygren – diametral die agape des ›Neuen Testaments‹ gegenüber. Sie habe die egozentrische Religiosität der Antike radikal umgestülpt, die Ethik sei damit vom Eudämonismus befreit worden, das Liebesgebot der ›Evangelien‹ schließe in gleicher Weise die Liebe zu Gott und zum Nächsten ein. Und Paulus habe diesen Gedanken aufgegriffen, nachdem ihm vor Damaskus – unmotiviert – die Liebe Gottes zuteil geworden sei; er habe mit aller Radikalität festgehalten, daß es keinen Weg vom Menschen aus zur Gerechtigkeit vor Gott geben könne, sondern allein den Weg Gottes zum Menschen; dies nach 1 Kor 15,10: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“. Und in seiner Kreuzestheologie habe Paulus den Gedanken weiter vertieft. In der Hingabe des Sohnes hat sich die Liebe Gottes zum Menschen manifestiert, das Kreuz und die Liebe sind für Paulus ein und dasselbe. In Nygrens eigenen Worten: „Mit dieser Beschreibung der Agape des Kreuzes hat Paulus den höchsten Ausdruck für die Agape Gottes, der je gegeben worden ist und überhaupt gegeben werden kann, erreicht.“7 Und Nygrens Fazit: „Agape [als unbedingte, gnadenhafte Zuwendung Gottes zum Menschen] tritt uns als eine vollständige Neuschöpfung des Christentums entgegen. Dies Motiv gibt dem ganzen Christentum sein Gepräge, und ohne dasselbe würde das Christentum seine charakteristische Eigenart verlieren. Agape ist die originale Grundkonzeption des Christentums“.8 Doch dann, so fährt Nygren fort, sei ein religionsgeschichtliches Verhängnis eingetreten. Denn die christliche agape traf auf eine Welt, die von der Idee des aufsteigenden Eros beherrscht war. So konnte es nicht ausbleiben, daß das Christentum sich der platonischen Eros-Philosophie zur Selbstdarstellung bediente und sich dabei dieser assimilieren mußte. Aber es habe immer einen Rest gegeben, der sich dieser Assimilierung widersetzte, so daß es zu einem ständigen Kampf zwischen der Idee des Eros und der Idee der agape gekommen sei, der die Geschichte des Christentums geprägt habe. Die Auseinandersetzung zielte schließlich auf Versuche, die beiden Konzepte zu verschmelzen. Nygren nennt dies die „Caritas-Synthese“. Sie beruht auf dem Gedanken, den Aufstieg zu Gott und das Sich-Herabneigen Gottes dadurch zu versöhnen, daß man die göttliche Gnade als Anstoß und Ermöglichung für den Aufstieg verstand. Für diese Synthese sei vor allem Augustinus verantwortlich. Und diese Caritas-Synthese als Lösung des Problems sei in Geltung geblieben, bis die Reformation der christlichen agape wieder zum Durchbruch verholfen und die christliche Liebe von der platonistischen Verfälschung befreit habe. Das ist offenkundig eine radikal-protestantische Position. Nygrens Buch hat durch seine polemische Note seinerzeit einiges Aufsehen erregt. Inzwischen ist es darum still geworden. Man hat durch differenziertere Analysen das allzu Schematische seines Ansatzes zurückgelassen und sine ira et studio das wechselnde Verhältnis zwischen griechischer Philosophie und christlichem Kerygma und die jeweiligen Folgen untersucht. So vor allem E. von Iva´nka in seinen Studien zum Plato christianus.9 7
Nygren [Anm. 5], S. 78. Ebd., S. 26. 9 Endre von Iva´nka, Plato christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964; vgl. auch Der Mittelplatonismus, hg. v. Clemens Zintzen (Wege der Forschung 70), Darmstadt 1981, Abschnitt III. 8
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Aber Nygrens prinzipielle Opposition von Eros und agape wirkt bis heute mehr oder weniger untergründig in den Typologien religiöser Erfahrung nach. So etwa bei H. U. von Balthasar oder D. Mieth und neuerdings wieder bei O. Langer. H. U. von Balthasar10 sieht auf der einen Seite den Menschen auf der Suche nach Gott; es kommt in dieser Perspektive zu einer Aufstiegsmystik als Annäherung an Gott über einen Stufenweg. Also unverkennbar der platonische Ansatz. Dem stellt er eine Abstiegsmystik entgegen, bei der Gott sich auf die Suche nach dem Menschen begibt; der unerhörte Beweis für diese Zuneigung Gottes zum Menschen ist die Inkarnation. Nicht die Unio zwischen dem Menschen und dem Göttlichen ist dabei im Blick, sondern das Kreuz, die Erfahrung von Not und Verlassenheit. Dabei ist von Balthasar alles andere als blind dafür, daß das Christentum immer wieder in die Gefahr geriet, den Abstieg, das Kreuz, gegenüber einer platonisierenden Kosmosfrömmigkeit hintanzustellen. Der strahlende Christus der Auferstehung ließ den Gekreuzigten zeitweise verblassen. Bei D. Mieth11 erscheinen die beiden Konzepte als Gegensatz zwischen einer kontemplativen Mystik der Gottesschau und einer praktischen Mystik der Gottesgeburt, der Geburt Gottes im menschlichen Herzen. Und wieder steht die alte Opposition zwischen Eros und agape dahinter. Die Gottesschau meine eine selbstbezogene Erfahrung; sie beruhe auf der griechischen theoria als höchster Lebensform, wohingegen die Gottesgeburt sich nicht absetze vom Wirken, sondern sich gerade im Wirken ereigne. Letzteres sei die genuin christliche Form der Gotteserfahrung. Und O. Langer stellt sich in seiner Mystikgeschichte12 – ohne Nygren überhaupt noch zu erwähnen – unverkennbar in diese Denktradition. Die griechische, vor allem die plotinische, theoria-orientierte Aufstiegsmystik mit dem Hen als höchstem Ziel steht seiner Meinung nach einer Christusmystik gegenüber, wie sie beispielhaft in den Paulusbriefen zum Ausdruck komme. Dann präsentiert auch er die Geschichte der abendländischen Mystik als einen Prozeß der Integration der beiden konträren Modelle. Es erscheint also bei H. U. von Balthasar, bei D. Mieth und O. Langer doch wieder, mehr oder weniger deutlich, die alte von Nygren herausgestellte Opposition zwischen dem griechischen Eros und der neutestamentlichen agape, wobei die Theologiegeschichte seit der Väterzeit als Auseinandersetzung zwischen beiden Ansätzen verstanden wird, die zu immer neuen Versöhnungsversuchen oder Kompromissen führte. Ich halte dieses Denken auf der Basis von zwei philosophiegeschichtlich kontrastiven Modellen religiöser Erfahrung für irreführend. Man wird selbstverständlich nicht leugnen wollen, daß die Kirchenväter es unternommen haben, den Gebildeten ihrer Zeit die evangelische Botschaft über die Kategorien der griechischen und d. h. insbesondere der platonisch-neuplatonischen Philosophie zu vermitteln. Und es ist ebensowenig in Abrede zu stellen, daß dabei das, was Nygren als das genuin Christliche bezeichnet hat, die agape und die Paulinische Theologie des Kreuzes, zumindest stark reduziert werden konnte. Selbst ein so wohlwollenHans Urs von Balthasar, „Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik“, in: Grundfragen der Mystik, hg. v. Werner Beierwaltes u. a., Einsiedeln 1974, S. 39ff. 11 Dietmar Mieth, „Gottesschau und Gottesgeburt. Zwei Typen christlicher Gotteserfahrung in der Tradition“, Freiburger Zs. f. Philosophie und Theologie 27 (1980), S. 204–223. 12 Langer [Anm. 6], S. 45. 10
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der Kritiker wie von Balthasar hat, wie gesagt, von einer platonischen Gefährdung der genuin christlichen Botschaft vom Kreuz gesprochen. Aber was heißt denn ,genuin christlich‘? Es gibt von Anfang an unterschiedliche Akzentuierungen: in den synoptischen ›Evangelien‹, im ›Johannesevangelium‹ und bei Paulus. Man sollte besser nicht kulturhistorisch oppositionelle Modelle religiöser Erfahrung ansetzen, um die abendländische Religionsgeschichte dann als Kampf dieser beiden Ansätze mit immer neuen Syntheseversuchen zu beschreiben, ich schlage stattdessen vor, von jenem anthropologisch fundierten Erfahrungskonzept auszugehen, das ich einleitend skizziert habe. Ortet man die evangelische Botschaft in diesem Konzept, so muß sich zeigen, welche Probleme sich von ihm her einstellten, und es versteht sich, daß diese Probleme sich in die Reflexion drängen mußten und Lösungen verlangten – ob mit oder ohne Anleihen bei andern religiösen Konzepten, ist dann eine sekundäre Frage.
III Ich möchte dies im folgenden anhand von Beispielen konkret vor Augen führen. Die religiöse Erfahrung des Paulus ist entscheidend geprägt vom Damaskus-Erlebnis (Apg 9,3ff.), also von der Erfahrung des göttlichen Einbruchs in diese Welt: Gott bemächtigt sich herabsteigend des menschlichen Herzens. Das berühmte Wort des ›Galaterbriefes‹ 2,20: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, bringt die radikale Wandlung, die dadurch geschieht, auf eine prägnante Formel. Der, dem dieser Einbruch widerfährt, wird zu einem andern, zu einem neuen Menschen. Dieses Wort hat die christliche Vorstellung von Gotteserfahrung entscheidend bestimmt. Denn diese Bibelstelle wurde zusammen mit Gal 4,19: „Christus gewinnt in Euch Gestalt“, und 2 Kor 5,17: „In Christo sein heißt eine neue Kreatur werden“, zur Grundlage für das Theologumenon von der Geburt Gottes im menschlichen Herzen, mit all den Folgen, die diese Vorstellung mit sich brachte.13 Zunächst ethisch verstanden, ist dieses Theologumenon dann bei den griechischen Kirchenvätern – vor allem von Gregor von Nyssa und Maximus Confessor – und schließlich im westlichen Hochmittelalter mystisch uminterpretiert worden, d. h. als ein Einswerden des Seelengrundes mit dem herabsteigenden göttlichen Logos. Von dem einleitend entworfenen Erfahrungskonzept her gesehen, liegt das ganze Gewicht dieses Paulinischen Ansatzes auf der Erfahrung als Akt. Es gibt kein Vorlaufen zu ihm hin, keinen Weg als Prozeß einer inneren Wandlung, vielmehr hängt alles am Entgegenkommen, an der Gnade Gottes. Die Frage, die sich auf Grund meiner theoretischen Vorüberlegung dabei zwangsläufig stellen mußte, ist diese: Wie kann der einmalige Akt der Gottesgeburt Dauer gewinnen und in dieser Dauer lebendig bleiben? Paulus hat das Problem nicht ausgefaltet. Origenes aber hat dann eine Antwort zu geben versucht: Die Gottesgeburt in der Seele geschieht zwar bei der Taufe, aber sie erneuert sich in jeder guten Tat.14 Die Wandlung, die der Mensch erfahren hat, wird 13
Zur Geschichte dieses Theologumenons siehe Hugo Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 13–87. Vgl. auch Ruh, Eckhart, S. 140ff.; Ruh, Geschichte III, S. 325ff. 14 Langer [Anm. 6], S. 87.
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gewissermaßen habituell in einem neuen Ethos, das sich aber doch immer wieder aktualisieren muß. Aber vermag der Habitus die Lücke zwischen den Aktualisierungen wirklich zu überbrücken? Origenes war sich des dialektischen Verhältnisses zwischen Besitz und Akt durchaus bewußt, und er hat versucht, es darzustellen, und dies über eine epochale Idee, nämlich anhand einer Auslegung der Begegnung und der Trennung von sponsus und sponsa im ›Hohenlied‹, indem er dieses Geschehen allegorisch als Einssein zwischen dem Bräutigam Christus und der Braut, der menschlichen Seele, im Wechsel mit dem Verlust dieses Einsseins interpretierte. Damit hat er den absoluten Akt der Gotteserfahrung in einen medialen Prozeß eingebettet. Es kommt eine Bewegung ins Spiel, die Suche der Seele nach Christus über einen Leidensweg: es wird mit dem Vokabular des ›Hohenliedes‹ ihre Verzweiflung beschrieben, wenn sie den Geliebten nicht findet, und ihre Beglükkung, wenn es zur Vereinigung kommt. Man darf wohl sagen, daß eine mediale Ausformulierung solcher Art sich von der Denk- und Lebensnot her, die die radikale Akzentuierung des Aktes in der religiösen Erfahrung bei Paulus mit sich brachte, geradezu aufdrängen mußte. Die Lösung des Origenes blieb jedoch zunächst ohne Nachfolge, sie sollte sich aber dann vom 12. Jahrhundert an in der ›Hohelied‹-Mystik als überaus fruchtbar erweisen.15 Insbesondere die Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry haben die prozeßhafte Ausfaltung des Gnadenaktes anhand des ›Hohenliedes‹ aufgegriffen, Bernhard in Form von Allegoresen jedes einzelnen Schrittes oder Motivs,16 Wilhelm hingegen im Sinne einer durchgängigen dramatischen Handlung.17 Und in unvergleichlicher Weise ist der Gedanke dann im 13. Jahrhundert von Mechthild von Magdeburg in ihrem ›Fließenden Licht der Gottheit‹ ausgestaltet worden, wobei sie sich kühn von der direkten ›Hohelied‹-Allegorese freimachte, um als Grundlage nur dessen erotisches Szenario zu bewahren.18 Mechthild von Magdeburg lebte als Begine, bevor sie spät in Helfta doch noch ins Kloster eintrat. Sie gehört also in jene große religiöse Frauenbewegung, die sich vom 13. Jahrhundert an mit Zentren am Hoch- und Niederrhein weit ausbreitete.19 Die Beginen organisierten sich in offenen religiösen Gemeinschaften, häufig ohne feste Regel, nur dem christlichen Gebot der Nächstenliebe verpflichtet. Die Kirche versuchte, die Bewegung zu unterdrücken oder einzubinden, es kam zu Verfolgungen und Hinrichtungen. Viele dieser Frauen lebten auch ihre je persönlichen Formen von Gotteserfahrung und haben davon theologisch teilweise brisante Niederschriften verfaßt. Herausragend insbesondere ›Der Spiegel der einfachen Seelen‹ der Marguerite Porete, die, weil 15
Siehe Friedrich Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 1958; Ruh, Geschichte I, S. 253. 16 Ebd., S. 253–275; Langer [Anm. 6], S. 203–207. 17 Ruh, Geschichte I, S. 294–310; zum gegenseitigen Verhältnis der Interpretationen Bernhards und Wilhelms von St. Thierry ebd., S. 295f. 18 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela Vollmann-Profe (Bibliothek des Mittelalters 19), Frankfurt a. M. 2003. 19 Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt 21961, S. 319–354; Christine Ruhrberg, Der literarische Körper der Heiligen. Leben und Viten der Christina von Stommeln (1242–1312) (Bibliotheca Germanica 35), Tübingen, Basel 1995, S. 24–84.
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sie ihre kühnen Thesen nicht widerrufen wollte, 1310 in Paris verbrannt worden ist.20 Auch Mechthild war eine dieser literarisch begabten und gefährdeten Beginen, von deren Leben wir aber, abgesehen von dem, was sie in ihrem Buch mitteilt oder andeutet, so gut wie nichts wissen. Sie stammte zweifellos aus einem sozial gehobenen Elternhaus, und sie muß mit literarischen und in erstaunlichem Maße auch mit theologischen Traditionen in Berührung gekommen sein. Sie dürfte, unterstützt von ihrem Beichtvater Heinrich von Halle, um 1250 zu schreiben begonnen haben. Ihre Gesichte und Reflexionen erstrecken sich über etwa drei Jahrzehnte hin. Ihr Werk, das sich nicht im niederdeutschen Original, sondern nur in einer oberdeutschen Umsetzung erhalten hat, ist eines der großartigsten Dokumente des Aufbruchs individuellen religiösen Lebens im Hochmittelalter.21 Mechthild macht also das Szenario des ›Hohenliedes‹ zum Medium ihrer religiösen Erfahrung, aber sie legt den Text nicht mehr aus wie Bernhard oder Wilhelm von St. Thierry, sondern sie setzt sich selbst an die Stelle der Braut, und so kann sich z. B. im 25. Kapitel des 2. Buches folgendes Gespräch entwickeln: Mechthild als Braut sagt: ,Wenn meine Augen in der Fremde trauern, wenn mein Mund schweigt, weil die Worte zu einfältig sind und meine Zunge in Leid gebunden ist, und ich mir überlege, Stunde für Stunde, was mit mir ist, dann ist es das, daß ich, Herr, nur zu dir hinwill. Und wenn mein Fleisch von mir fällt, mein Blut vertrocknet, meine Knochen schmerzen, meine Sehnen sich verkrampfen und mein Herz zerschmilzt vor Liebe und meine Seele wie ein hungriger Löwe schreit, was ist dann mit mir und wo bist du dann? – das, du Lieber, sage mir.‘22
Und Gott antwortet – und dabei identifiziert er sie explizit mit der Braut des ›Hohenliedes‹: ,Dir geht es wie jener neuverlobten Braut, von der, als sie schlief, der einzig Geliebte weggegangen ist, dem sie sich mit ganzer Liebe hingegeben hat, und die es nicht erträgt, daß er auch nur für eine kurze Zeit von ihr geht. Wenn sie dann erwacht, so hat sie nichts mehr von ihm, als was sie in der Erinnerung mit sich trägt, und deshalb beginnt sie zu klagen. Aber solange der Geliebte die Braut nicht heimgeholt hat, muß sie öfter allein sein. Ich komme zu dir, wenn mich danach gelüstet und wenn ich will. Wenn du dich beherrschst und still bist – verbirg eben deinen Schmerz, so gut du kannst –, dann wächst die Kraft der Liebe in dir. Und nun sage ich dir auch, wo ich zu der Zeit bin [d. h. wenn er nicht bei ihr ist]: Ich bin bei mir selbst überall und in allen 20
Ruh, Eckhart, S. 95f.; Ruh, Geschichte II, S. 338–371. Ihre Schrift ›Le miroir des simples aˆmes‹ ist erhalten geblieben, hg. v. Romana Guarnieri, in: Dies., Il movimento del libero spirito. Testi e documenti (Archivio Italiano per la Storia della Pieta` IV), S. 513–635; Margareta Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik, aus dem Altfranzösischen übertr. u. mit einem Nachw. u. Anm. v. Louise Gnädinger, Zürich, München 1987. 21 Siehe Alois M. Haas, „Mechthild von Magdeburg“, in: Haas [Anm. 4], S. 67–135; Ruh, Geschichte II, S. 247–295; Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache (Bibliotheca Germanica 30), Tübingen, Basel 1993, S. 71–96; Seelhorst [Anm. 4], S. 83–149. 22 Mechthild, Das fließende Licht [Anm. 18], S. 130,33–132,10: „wenne min ovgen trurent ellendekliche / und min munt swiget einvalteklich / und min zunge ist mit jamer gebunden / und min sinne mich vragent von stunden ze stunde, / was mir sie, so ist es mir, / herre, alles nach dir. / Wenne min o fleisch mir entvallet, / min blut vertrukent, min gebein kellet, / min adern krimpfent / und min herze e smilzet nach diner minne / und min sele brimmet / mit eines hungerigen lowen stimme, / wie mir denne si / und wa du denne bist, / vil lieber, das sage mir.“
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Dingen, wie ich es ohne Anfang immer war. Und ich warte auf dich im Baumgarten der Liebe und breche dir da die Blüten des süßen Einsseins und mache dir da ein Bett aus dem freudebringenden Gras der heiligen Erkenntnis. Und die helle Sonne meiner ewigen Gottheit strahlt dir das geheime Wunder meines Entzückens zu, wovon du vertraulich ein wenig offengelegt hast. Und da neige ich den allerhöchsten Baum der Heiligen Dreifaltigkeit zu dir herab, so daß du die grünen, weißen und roten Äpfel meiner todfreien Menschwerdung brechen kannst. Und dann beschirmt dich der Schatten meines Heiligen Geistes vor aller irdischen Traurigkeit. So wirst du nicht mehr an das Leid deines Herzens denken.‘23
Mechthild, in der Selbststilisierung als Gottesbraut, ruft also in der Not ihrer Verlassenheit Gott an, ja sie schreit ihm ihre Verzweiflung zu. Und er akzeptiert die Rolle des Bräutigams des ›Hohenliedes‹ und antwortet nicht nur situationsgemäß, indem er ihr seine Rückkehr verspricht, sondern er erklärt zudem seine Abwesenheit theologisch, wodurch es sekundär doch zu einer Allegorese kommt: Die Trennung bedeutet, daß eine Vereinigung in diesem Leben nur augenblickhaft möglich ist, denn Gott ist überall und überzeitlich in allem. Die Braut solle sich in Geduld üben, denn er werde sie schließlich im Baumgarten der Liebe erwarten, und damit leitet er eine Metaphernreihe ein, in der die konkreten Elemente des Gartens in einen geistlichen Sinn eingebunden erscheinen: die Blüten des Einsseins, das Bett aus dem Gras der Erkenntnis, die Sonne der Gottheit, der Baum der Dreifaltigkeit, die Äpfel der Menschwerdung, der Schatten des Heiligen Geistes. Aus der Not der Gottferne, dem Paulinischen Ansatz, entfaltet sich also mit Hilfe der Bildlichkeit des ›Hohenliedes‹ ein Erfahrungsraum, in dem nicht nur das Wechselspiel von Begegnung und Trennung durchgespielt, sondern in dem zugleich theologische Reflexionen metaphorisch in die Bildlichkeit hereingeholt werden können. Das Bild wird dabei einerseits gebrochen, anderseits aber in der Metapher doch bewahrt, wobei die Bruchstellen den heilsgeschichtlichen Hintergrund aufscheinen lassen. An die Stelle solcher punktueller Dialoge können bei Mechthild aber auch dramatisch ausgefaltete Szenenfolgen treten. Schon gleich das 2. Kapitel des 1. Buches bietet ein Beispiel:24 Mechthild schildert, wie der gruos Gottes, d. h. die Zuwendung Gottes zu ihr, sie erreicht, nämlich als ein himmlisches Fließen, das aus der Dreifaltigkeit in ihre Seele strömt und sie heiligt und ihr einen göttlichen Glanz gibt, während der Leib in 23
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Ebd., S. 132,11–134,3: „Dir ist als einer nu´wen brut, / der sclafende ist engangen ir einig trut, / zu dem si sich mit allen tru´wen hat geneiget, / und mag des nit erliden, das er ein stunde von ir scheide. / Alse si denne erwachet, so mag si sin nit me haben / denne alse vil als si in irem sinne mag getragen; / da von hebet sich alle ir clage. / Die wile das dem jungeling sin brut ist nit heim o o gegeben, / so mus si dike ein von im wesen. / Ich kum zu dir nach miner lust, wenne ich wil; / siestu gezogen und stille / – und verbirg dinen kumber, wa du maht! –, / so meret an dir der minne kraft. / Nu sage ich dir, wa ich denne si: / Ich bin in mir selben an allen stetten und in allen dingen / als ich v o ie was sunder beginnen / und ich warten din in dem bongarten der minne / und briche dir die blumen e der sussen einunge / und machen dir da ein bette von dem lustlichen grase der heligen bekantheit; / und du´ liehte sunne miner ewigen gotheit / beschinet dich mit dem verborgenen wunder miner e e v lustlicheit, / des du ein wenig heimlich hast erzoget, / und da neige ich dir den hohsten bon miner e e heligen drivaltekeit. / So brichestu denne die grunen, wissen, roten oppfel miner saftigen menscheit / und so beschirmet dich der schatte mines heligen geistes / vor aller irdenscher trurekeit; / so kanstu nit gedenken an din herzeleit.“ Vgl. zum Verständnis dieses Abschnitts ebd., S. 744, die Kommentare zu 132,37f. und 132,38. 24 Ebd., S. 20,24ff.
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Ohnmacht sinkt. Hinter diesem Bild steht, wie schon beim Titel des Werkes: ›Das fließende Licht der Gottheit‹, die neuplatonisch-kosmische Emanationslehre und Lichtmetaphysik, über deren Vermittlung noch zu sprechen sein wird. Aber Mechthild löst sich gleich aus diesen kosmostheologischen Vorstellungen zugunsten einer menschlichpersönlichen Begegnung. Sie sagt: Er [Gott] grüßt da die Seele in höfischer Sprache, wie sie in der Küche nicht zu hören ist, und kleidet sie in Kleider, wie man sie in Palästen trägt, und gibt ihr alle Macht über ihn (. . . ). Dann zieht er sie an einen geheimen Ort, wo sie für niemanden bitten oder fragen darf, um da mit ihr allein ein Spiel zu spielen, von dem der Leib nichts weiß, auch nicht die Bauern beim Pflug und nicht die Ritter beim Turnier, nicht einmal Maria, seine liebe Mutter – selbst ihr ist das nicht möglich. So schweben sie an einen wunderbaren Ort25
– von dem sie aber nicht sprechen wolle noch könne, denn es sei zu gefährlich für sie als sündenbeladenen Menschen. Und dann heißt es weiter: „Wenn der unendliche Gott die grundlose Seele so in die Höhe trägt, dann entschwindet ihr alles Irdische auf wunderbare Weise. Nichts mehr erinnert sie daran, daß sie einmal auf der Welt war.“ Doch darauf folgt eine überraschende Wende. Sie sagt: „Wenn das Spiel am schönsten ist, muß man es lassen.“26 Und Gott selbst gibt den Anstoß dazu; er sagt zur Seele: „,Edle junge Frau, Ihr müßt Abschied nehmen.‘ Und da erschrickt sie: ,Herr, du hast mich so weit entrückt, daß ich, wieder in meinem Leib, dich in keiner andern Weise mehr werde preisen können als dadurch, daß ich an dieser Verbannung leide und gegen meinen Leib kämpfe.‘“27 Die Antwort Gottes aber ist eine Liebeserklärung: „,O du liebe Taube, deine Stimme ist für meine Ohren ein Saitenspiel, deine Worte sind Gewürzkräuter für meinen Mund (. . . ).‘“28 Und da fügt sich die Seele in ihr Schicksal, sie seufzt auf, und dabei erwacht der Leib wieder aus seinem schlafähnlichen Zustand. Er wundert sich darüber, daß sie ihn verlassen, ihm alle Kraft genommen hat und nun in so strahlender Schönheit wiederkommt. Aber die Seele beschimpft den Leib, nennt ihn einen Mörder. Doch dann tritt die Erzählerin aus der narrativen Situation aus, um Stellung zu nehmen zu dem, was ihre Seele erfahren hat. Sie wendet sich an Gott und sagt: „Ach, du herzlieber Gott, feurig im Innern, blühend nach außen, da du mir dies als einer so Geringen gegeben hast, könnte ich doch das erfahren, was du deinen Größten gegeben hast! Dafür wollte Ebd., S. 22,2–13: So gruesset er si mit der hovesprache, die man in dirre kuchin nu´t vernimet, und kleidet su´ mit den kleidern, die man ze dem palaste tragen sol, und git sich in ir gewalt. (. . . ) So o zu´het er si fu´rbas an ein heimliche stat. Da mus si fu´r nieman bitten noch fragen, wan er wil alleine e o mit ir spilen ein spil, das der lichame nu´t weis noch die dorper bi dem phluge noch die ritter in dem o turnei noch sin minnenklichu´ muter Maria – des mag si nu´t gepflegen da. So swebent si fu´rbas an ein wunnenriche stat (. . . ). e 26 Ebd., S. 22,15–18: wenne der endelose got die grundelosen selen bringet in die hohin, so verlu´ret su´ das ertrich von dem wunder und bevindet nu´t, das si ie in ertrich kam. Wenne das spil allerbest ist, o so mus man es lassen. 27 Ebd., S. 22,19–23: „Juncfrov, ir muessent u´ch neigen.“ So erschrikket si: „Herre, nu hast du mich hie so sere verzogen, das ich dich in minem lichamen mit keinem orden mag geloben, sunder das ich ellende lide und gegen dem lichamen strite.“ 28 Ebd., S. 22,23–25: „Eya, du liebu´ tube, din stimme ist ein seitenspil minen oren, dinu´ wort sint wurtzen minem munde (. . . ).“ 25
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ich um so länger leiden“. Und dann noch einmal aus größerer Distanz ein Kommentar: „Diesen gruos Gottes kann und darf keiner empfangen, der nicht überwältigt und zu o Nichts geworden ist. In diesem grusse will ich lebend sterben.“29 Hier ist nun die ganze Komplexität der Gotteserfahrung vom Einbruch des Gottesgruosses bis zur Selbstpreisgabe auf engstem Raum zusammengedrängt: Die Begegnung und Trennung, ausgefaltet als erotische Szene zwischen Gott und der Seele – wieder in Anlehnung an das ›Hohelied‹ –, dann der Schmerz im Rückblick auf die bildhafte Erfahrung, die immer schon verloren ist, wenn man wieder in seinem Körper zurück ist und man aus dem Verlust heraus spricht. Darauf das Bekenntnis zu diesem Leid in der Hoffnung auf eine neue, noch intensivere Erfahrung. Und schließlich der Endkommentar, der den Charakter des Erfahrungsaktes diskursiv als Akt der Überwältigung festhält, als einen Akt, der alle irdische Bedingtheit auslöscht, bei dem man zu Nichts wird, in dem man lebend stirbt, was einmal mehr auch theologische Traditionen wachruft: das Zu-Nichts-Werden in der Begegnung mit dem absoluten Sein, das Leben im Sterben, die mors mystica.30 Also wiederum die Reflexion als äußerste Distanzierung zum Erfahrungsakt selbst, doch zugleich als Bekenntnis und damit wieder rückgebunden in die Situation. Beide Aspekte ihrer religiösen Erfahrung: die Erfüllung in erotischer Bildlichkeit und den Absturz aus der Begegnung, kann Mechthild noch sehr viel drastischer beschreiben. Auf der einen Seite etwa im 44. Kapitel des 1. Buches die Begegnung als Liebesszene auf einem Bett in einer geheimen Kammer, die als körperliche Vereinigung, anders als in I,2, ohne Scheu ins Bild gebracht wird.31 Demgegenüber etwa das 12. Kapitel des 4. Buches,32 wo geschildert wird, daß, nachdem der Geliebte sie im Schlaf verlassen hat, die Seele in den Abgrund der Gottferne sinkt, in eine große Finsternis, in der sie an Gottes Gnade zu zweifeln beginnt und doch leidenschaftlich darum bittet, in die völlige gotz vroemdunge, die völlige Fremdheit gegenüber Gott, gestoßen zu werden. Und schließlich gerät sie in eine so schreckliche Finsternis, daß der Leib in Schweiß gebadet ist und sie sich verkrampft in Schmerzen. Da schickt die Seele den Schmerz hinauf zu Gott. Aber Gott läßt ihn nicht vor, da der Schmerz zwar selig zu machen vermag, aber selbst nicht selig ist, sondern böse. Und das Kapitel schließt mit einer Lobeshymne auf die gotz vroemdunge: O du beseligende Gottesentfremdung, wie innig hast du mich gebunden! Du festigst meinen Willen im Schmerz und machst mir das schwere, lange Warten in diesem elenden Leib lieb. (. . . ) O Herr, ich kann dich in der Tiefe der reinen Demut nicht verlieren; aber ach, im Hochmut kann ich dir leicht entgleiten. Ich trinke um so süßer, je tiefer ich sinke.33 Ebd., S. 24,2–8: Eya sueslicher got, fu´rig inwendig, bluegende uswendig, nu du dis den minnesten e hast gegeben, mohte ich noch ervarn das leben, das du dinen meisten hast gegeben! Darumbe wolt o o ich dest langer qweln. Disen grus mag noch mus nieman enpfan, er si denne u´berkomen und ze nihte o worden. In disem grusse wil ich lebendig sterben. 30 Vgl. Alois M. Haas, „Mors mystica“, in: Haas [Anm. 4], S. 392–480; Ders., Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur, Darmstadt 1989, S. 169–173. 31 Mechthild, Das fließende Licht [Anm. 18], S. 58ff. 32 Ebd., S. 258ff. 33 Ebd., S. 264,24–31: Eya selige gotz vroemdunge, wie minnenklich bin ich mit dir gebunden! Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren langen beitunge in disem armen libe. e v (. . . ) O herre, ich kan dir in der tieffi der ungemischeten diemutekeit nit entsinken; owe ich dir in o e dem homute lihte entwenke! Mere ie ich tieffer sinke, ie ich sussor trinke. 29
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Gotteserfahrung als Gnadenakt und Kreuz – dieser Paulinische Ansatz ist hier in seinen beiden Aspekten narrativ ausgefaltet, und sie wird in dieser Ausfaltung einerseits imaginativ vollzogen, zugleich aber theoretisch durchdrungen und in ihrer Paradoxie gefaßt. Der Vollzug im bildhaften Wort ist selbstverständlich immer schon in dem Sinn medialer Nachvollzug, daß er vermittelt ist und, obschon diese Vermittlung ihre eigene Realität besitzt, eben doch nur Vermittlung sein kann und damit immer im Ungenügen endet, im Absturz, in der Negation ihrer selbst, in der Verweigerung jeder Kommunikation, wobei die Seele sich aber letztlich doch von Gott gehalten weiß. Geht man also bei der Gotteserfahrung vom Akt aus, von dem aller Bedingungen enthobenen, nicht faßbaren, nicht vermittelbaren göttlichen Einbruch, so kann diese Erfahrung nur bewältigt und damit zur Erfahrung von etwas gemacht werden, womit man umgehen kann, wenn man ihn in seiner Zwiespältigkeit inszeniert, ihn also als beglückende Überwältigung und als Verlust ins Bild bringt. Beides kann sich selbstverständlich nur vermittelnd jenseits des Aktes vollziehen, und doch ist er in der Umsetzung in gewisser Weise gegenwärtig, und dies gerade auch im Ungenügen dieser Vergegenwärtigung. Das Umkippen ins Negative hat dabei die stärkere Realität. Der in Schweiß gebadete Körper und die schmerzende Verkrampfung der Glieder können Fakten sein. Die Imagination erfaßt den Körper.
IV Soweit der Ansatz beim Erfahrungsakt, der zur Vermittlung führt. Nun zum zweiten Ansatz: zum Weg von der Vermittlung zum Akt. Es gibt dem zu Beginn skizzierten Erfahrungskonzept gemäß einen gegenläufigen Zugang zur Gotteserfahrung. Er setzt nicht beim Akt, sondern bei der Vermittlung an. Er ist ebenfalls schon im ›Neuen Testament‹ angelegt, nämlich im christlichen Schöpfungsgedanken, wie er insbesondere im ›Johannes‹-Prolog formuliert ist: „Alle Dinge sind durch das Wort gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, das gemacht ist“ (Joh 1,3). Schöpfung durch das göttliche Wort aber bedeutet insofern Vermittlung, als sie eine göttliche Prägung der Welt und des Menschen, seine Gottebenbildlichkeit, impliziert. Diese Prägung mag verdunkelt erscheinen – man pflegt den Sündenfall als Ursache zu nennen –, aber wenigstens eine Spur des Schöpfers müßte, jedenfalls für den Begnadeten, zu erkennen oder aufzudecken sein. Und man sollte nicht übersehen, daß sich auch dieser Ansatz bei Paulus findet, nämlich in dem berühmten Wort des 1. ›Korintherbriefes‹ 13,12: „Wir schauen jetzt in einen Spiegel, der verschleiert, aber dereinst [wird es ein Sehen sein] von Angesicht zu Angesicht“: Videmus nunc per speculum in aenigmate: tunc autem facie ad faciem. Aber gerade weil, was wir sehen, so verhüllt oder undurchsichtig ist, ist man aufgefordert, der dunklen Spur zu ihrem Ursprung zu folgen. Versteht man die Schöpfung durch das Wort, durch den Logos, als eine Herabkunft Gottes, bei der er sich verhüllend offenbart, so läßt sich ein Weg über die Schöpfung als Gegenbewegung, als enthüllende Bewegung zu ihrem Ursprung, als erleuchtender Aufstieg zu Gott, denken. Daß man hierbei leicht in das platonisch-neuplatonische kosmische Modell vom Ausfließen der Gottheit und vom Rückfließen in sie eintreten kann, ist offenkundig, und es ist nicht zu bestreiten, daß hier massiv Anleihen
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gemacht worden sind. Doch statt immer nur der Anlehnung nachzugehen, sollte man auf die viel gravierenderen Differenzen achten. Denn das griechische Modell war mit christlicher religiöser Erfahrung im Prinzip nicht vereinbar. Warum dies so ist, läßt sich besonders eindrücklich an einem Werk demonstrieren, das seit je als größte Annäherung der christlichen Theologie an die platonisch-neuplatonische Tradition gegolten hat: am Werk des Dionysius Areopagita. Dionysius Areopagita ist ein Pseudonym, d. h., dieser Dionysius – wenn er denn überhaupt so hieß – gab sich als jener Athener aus, den Paulus bei seiner Areopagrede zu bekehren vermochte (Apg 17,34). Das ist eine Fiktion. Es hat sich nachweisen lassen, daß er in seinem Werk Proklos benützt hat, der 485 gestorben ist, und dazu eine Reihe weiterer Autoren, die in nachpaulinischer Zeit geschrieben haben.34 Im Mittelalter jedoch galt Dionysius, nachdem einige frühe Zweifel ins Leere gegangen waren, unangefochten als Apostelschüler und genoß dadurch höchste Autorität, und der Streit darüber hat sich bis ins 20. Jahrhundert hineingezogen. Im übrigen ist es noch nicht gelungen, das Pseudonym überzeugend zu lüften.35 Von diesem Dionysius sind vier Abhandlungen und zehn Briefe überliefert. Die 1. Abhandlung: ›Von den göttlichen Namen‹, bespricht die Bezeichnungen, die Gott gegeben werden, also Gott als Güte, Leben, Weisheit, Macht usw. Die 2. Abhandlung: ›Über die Himmlische Hierarchie‹, bietet in 15 Kapiteln eine triadische Stufenordnung der Engel und ihrer Symbolik; die 3. Abhandlung: ›Über die Kirchliche Hierarchie‹, beschreibt in ebenfalls triadischer Gliederung die Ordnung der Kirche: drei Sakramente, drei lehrende Stände und drei untergebene Stände, und schließlich 4.: ›Die Mystische Theologie‹; sie eröffnet den Weg zur mystischen Vereinigung mit Gott. Die Briefe, an unterschiedliche Adressaten gerichtet, bieten Ergänzungen zu den Abhandlungen sowie seelsorgerliche Anweisungen. Ich gehe von der Abhandlung ›Über die Himmlische Hierarchie‹ aus: Hier wird das Verhältnis Gottes zur Welt als ein Kreislauf des Lichtes dargestellt. Aus dem Vater ergießt sich das Licht auf uns und, indem es uns erleuchtet, führt es uns aus der Vielfalt des Seienden zu seiner ursprünglichen Einheit zurück. Der göttliche Lichtstrahl verteilt sich im Irdischen, er erscheint verhüllt in der bunten Fülle der Dinge. Deshalb sind die Erscheinungen immer nur sinnbildlich zu verstehen. Wir sollen vom Bildhaften zum Bildlosen geführt werden. So spreche auch, sagt Dionysius, die Heilige Schrift in Bildern von Gott und den Engeln, doch diese Beschreibungen seien nicht wörtlich zu nehmen, sie würden nur mit Rücksicht auf unser beschränktes Erkenntnisvermögen verwendet, ihr Sinn bestehe vielmehr darin, uns zu veranlassen, sie in ihrer bloßen Bildlichkeit zu erkennen und sie zu übersteigen. Man dürfe also nicht etwa denken, die Engel seien, wie die Bibel sie schildert, Wesen mit vielen Füßen und Gesichtern und nach tierischen Figuren, nach Stieren oder Löwen, gebildet oder liefen als feurige Räder über den Himmel. Es seien diese Verbildlichungen mit Absicht häßlich und grotesk, damit wir nicht am Bildlichen haften bleiben sollen. Man könne zwar für das Göttliche auch schöne Bilder und angemessenere Ausdrücke finden: Gott als Licht oder als Leben, aber es sei besser, unschöne Bilder zu verwenden, damit man sich ihrer prinzipi34 35
Ruh, Geschichte I, S. 31–41. Siehe ebd., S. 34/36.
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ellen Unangemessenheit bewußt bleibe.36 Deshalb sind auch verneinende Aussagen über Gott besser als bejahende. Das Abstoßende, das Negative werde der Unähnlichkeit des Göttlichen gegenüber dem Irdischen besser gerecht als das Schöne und Ähnliche. Man könne Gott als ,Licht‘ bezeichnen; da seine Lichthaftigkeit aber nicht mit dem zu vergleichen ist, was für unser Auge Licht ist, so sei es vorzuziehen zu sagen, er sei das Dunkel, aber da auch dies nicht angemessen ist, sollte man noch besser von ,lichter Finsternis‘ oder von ,dunklem Licht‘ sprechen. Das Oxymoron von der lichten Finsternis oder dem dunklen Licht offenbart die ganze Problematik des Dionysischen Ansatzes. Das Sich-Ausgießen Gottes im Licht und der Rückweg zu ihm als dem Ursprung über die Erleuchtung, über eine Aufwärtsbewegung in Stufen, ist offenkundig neuplatonisch;37 auch die negative Theologie als Form der Distanzierung vom Irdischen ist beispielhaft bei Proklos vorgeprägt,38 aber die Art der Brechung des Abbildhaften über das Häßliche, über das Paradoxe, steht quer zur Vorstellung eines kontinuierlichen Aufstiegs, denn sie gilt an jedem Punkt und ist nicht in einen Prozeß umzusetzen. Das heißt, es steht die Möglichkeit bzw. die Unmöglichkeit der medialen Vermittlung zur Debatte. Auch wenn einem aufsteigenden Weg durchaus Raum gegeben wird, so erscheint der Aufstieg doch durch die Bildtheorie der Unähnlichkeit unterlaufen. Wie ist in dieser Perspektive das Verhältnis des Irdischen zum Göttlichen in seiner Widersprüchlichkeit zu fassen? Eine Lösung hat erst das Laterankonzil von 1215 versucht, indem es dafür eine markante Formel prägte. Sie lautet: „Es handelt sich beim Verhältnis zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung um eine Ähnlichkeit, bei der die Unähnlichkeit stets größer ist.“39 Das ist dezidiert antiplatonisch gesagt. Und das gilt allen platonisierenden Anklängen zum Trotz im Prinzip auch schon für Dionysius Areopagita, der also zu Unrecht immer wieder als eklatanter Fall einer Platonisierung der christlichen Botschaft perhorresziert worden ist. Unähnliche Ähnlichkeit: das heißt Vermittlung, die keine sein kann und die doch ihr Recht hat. Man steht damit erneut bei jenem Paradox, das kennzeichnend insbesondere für das Konzept religiöser Erfahrung ist und in das folglich auch der Ansatz beim Irdischen hineinführt. Und auch dieser Ansatz hat seine Geschichte, eine aufwühlende Geschichte, denn seine Paradoxie sollte das theologische Denken im Abendland genau so über die Jahrhunderte hin umtreiben, wie der Ansatz beim ›Galaterbrief‹ 2,20. Um zu zeigen, wie weit die Ausläufer reichen, ein kleiner Exkurs zu einem kuriosen Beleg aus dem 17. Jahrhundert: Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus landet am 36
Dazu Paul Michel, ,Formosa deformitas‘. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), Bonn 1976, §§ 168ff. 37 Beierwaltes [Anm. 6], S. 139f.; Langer [Anm. 6], S. 63ff. 38 Werner Beierwaltes, „,. . . in allem eine unendliche Sehnsucht nach dem Licht des Einen‘. Zum Problem der Erkenntnis bei Proklos“, in: Beierwaltes [Anm. 6], S. 254–280, hier S. 277f. 39 Inter Creatorem et creaturam non tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda; siehe Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, hg. v. Henricus Denzinger u. Adolfus Schönmetzer, Freiburg i. Br. 341967, S. 432. – Des Sachverhalts war man sich selbstverständlich längst vor der Prägung der Formel bewußt; siehe Werner Beierwaltes, „Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriugena“, Philosophisches Jb. 83 (1976), S. 237– 265, hier S. 253f.
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Ende seiner abenteuerlichen Fahrten auf einer Paradiesinsel im Indischen Ozean und führt da ein frommes Einsiedlerleben.40 In seiner Einsamkeit aber schreibt er – wie es heißt –, „um seinen christlichen Geist aufzumuntern“, Sprüche an die Bäume. Diese Sprüche sind z. T. recht dunkel, und die Schiffsmannschaft, die schließlich auf diese Insel stößt und diese merkwürdigen Sprüche entdeckt, ist sich nicht gleich im klaren, ob sie von einem Verrückten stammen oder von einem frommen Christen. Sie kommen dann aber doch zum Schluß, daß es sich um einen sinnreichen Poeten handeln müsse, der viel mit der Betrachtung himmlischer Dinge umgehe. Der vornehmste Spruch aber, den sie finden und sich notieren, lautet: Ach allerhöchstes Gut! du wohnest so im finstern Licht! Daß man vor Klarheit groß, den großen Glanz kann sehen nicht.
Und dazu wird bemerkt: „So weit kommt ein Mensch auf dieser Welt und nicht höher, es wolle ihm denn Gott das höchste Gut aus Gnaden mehr offenbaren.“ Gott als das ,finstere Licht‘ – das ist Dionysius Areopagita auf der Grimmelshausenschen Insel im Indischen Ozean, also über 1000 Jahre, nachdem unseres Wissens dieses Oxymoron geprägt worden ist. Man kennt übrigens den Vermittlungsweg ziemlich genau, er ging über den Platonismus der Spätrenaissance, in dessen Zusammenhang man sich einmal mehr intensiv mit Dionysius beschäftigt hat. Die unmittelbare Quelle war ein Sonett der Vittoria Colonna.41 Doch zurück zur Frühgeschichte:42 Das Corpus der Dionysischen Schriften ist schon im 9. Jahrhundert nach dem Westen gekommen; der byzantinische Kaiser Michael II. hat es Ludwig dem Frommen zum Geschenk gemacht, weil ihm offenbar zu Gehör gekommen ist, daß man den Dionysius auch im Frankenreich verehre. Das war freilich ein anderer Dionysius, nämlich der Missionar Galliens, Bischof von Paris, aus dem 3. Jahrhundert, dessen Gebeine in St. Denis, dem französischen Königskloster, ruhten. Hilduin, der Abt von St. Denis, hat denn auch nicht nur das Dionysische Corpus ins Lateinische übersetzt, sondern den gallischen Missionar mit dem Dionysius der griechischen Traktate, d. h. mit dem angeblichen Apostelschüler, bedenkenlos in eins gesetzt – eine wilde Klitterung aufgrund eines kaiserlichen Mißverständnisses, die die weitreichendsten geistesgeschichtlichen Folgen haben sollte. Da Hilduins Übersetzung des schwierigen griechischen Textes jedoch nicht sehr befriedigend war, hat Karl der Kahle dann den Iren Johannes Scotus Eriugena zu einer neuen Übersetzung veranlaßt – in Irland besaß man noch bessere Griechischkenntnisse. Eriugena hat übrigens unter Heranziehung weiterer Quellen östlicher Theologie auch eine eigene kühne Philosophie auf Dionysius aufgebaut. Doch ihre große Wirkung entfalteten die Dionysischen Schriften erst vom 12. Jahrhundert an. Nicht nur kam es zu einer Reihe neuer Übersetzungen, 40
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus, hg. v. Alfred Kelletat, Darmstadt 131985, S. 591. 41 Max Wehrli, „Das finstre Licht. Grimmelshausens Lichtspruch im Simplicissimus“, in: Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller, hg. v. Martin Bircher u. Alois M. Haas, Bern, München 1973, S. 167–173. 42 Siehe zum Folgenden Ruh, Geschichte I, S. 71–82. Ergänzendes zur frühesten Rezeption: Paul Lehmann, „Zur Kenntnis der Schriften des Dionysius Areopagita im Mittelalter“, Revue Be´ne´dictine 35 (1923), S. 81–97.
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sondern führende Theologen haben Kommentare dazu verfaßt: Hugo von St. Viktor, Albert Magnus, Thomas von Aquin, um nur die wichtigsten zu nennen. Wie sich daran ablesen läßt, war Dionysius eine der größten geistigen Herausforderungen für die mittelalterliche Theologie, und die Auseinandersetzung mit ihm ging über die Jahrhunderte, auch noch lange nachdem in der Renaissance erste Zweifel an der Identität des Verfassers aufgetaucht waren. Bei der Rezeption im Westen ist jedoch etwas geschehen, was Dionysius vermieden hatte: man hat nämlich seine Schriften als geschlossenes Konzept zusammengesehen, wobei man die ›Mystische Theologie‹ an die Spitze der Hierarchie-Traktate stellte, so daß sich ein durchgängiger, gestufter Aufstiegsweg ergab, der von der irdischen Ordnung über die himmlischen Sphären bis zur ekstatischen unio mystica führte.43 Und dieses Modell hat Schule gemacht; es entstanden in großer Vielfalt Aufstiegswege zur Gotteserfahrung, die sich mehr oder weniger deutlich an Dionysius anlehnten, wobei jedoch die Tendenz dahin ging, das kosmologische Konzept ins Psychologische umzuformulieren. Im folgenden nur andeutend einige Beispiele aus der reichen Zahl von Entwürfen: Bernhard von Clairvaux hat in den letzten vier Kapiteln seines Traktats ›De diligendo Deo‹ einen Stufenweg der Liebe beschrieben; er führt den Menschen von der Eigenliebe über die Nächstenliebe zur Gottesliebe und schließlich zur mystischen Unio, die in diesem Leben freilich nur augenblickhaft erfahren werden könne. Bedingung für diesen Aufstieg ist jedoch die vorgängige Liebe Gottes, die sich im Opfer des Sohnes bewiesen hat.44 Also jene Lösung des Problems, die Nygren die Caritas-Synthese nannte. Auch Richard von St. Viktor hat, in seinem ›Beniamin maior‹, einen Aufstiegsprozeß konzipiert. Er führt über sechs Erkenntnisstufen. Am Beginn steht die bloße Vorstellung der Dinge, auf der nächsten Stufe bringt die Ratio sie in eine Ordnung. Auf der folgenden Stufe gelangt man zu den intelligiblen Gegenständen, bis dann auf der vierten Stufe der Geist sich selbst erforscht. Auf der fünften und sechsten Stufe aber wird die Vernunft überstiegen. Man gelangt zur Schau der göttlichen Wahrheit, wofür jedoch die entgegenkommende Gnade Gottes die Voraussetzung ist. Am Ende steht die ekstatische Unio, die affektiv mit Bildern des ›Hohenliedes‹ beschrieben wird.45 Seine Vollendung erfährt dieses Aufstiegsmodell bei den Franziskanertheologen Bonaventura und David von Augsburg im 13. Jahrhundert. Bonaventura entfaltet in seinem ›Itinerarium mentis in Deum‹ in höchst differenzierter Weise einen erkenntnistheoretischen Aufstiegsprozeß. Er führt von der Betrachtung der Welt und den göttlichen Spuren in ihr zum Blick ins eigene Innere, wobei die Seele in ihrem Kräftespiel als Abbild der Trinität verstanden wird. Dann geht die Betrachtung weiter zu den Dingen, die über dem Menschen stehen, zur Betrachtung des Seins, zur Betrachtung Gottes als des absoluten Guten. Die letzte Stufe aber besteht dann im Sprung über die Bedingtheit des menschlichen Erkennens hinweg zur liebenden Vereinigung mit Gott.46 43
Ruh, Geschichte I, S. 63f. Ebd., S. 229–234. 45 Ebd., S. 397–406. 46 Siehe meine Studie „Bonaventuras ›Itinerarium mentis in Deum‹“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 493–504. 44
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Bei Richard wie bei Bonaventura führt der Weg also noch von der Welterkenntnis über die Selbsterkenntnis zum Überstieg über das der Vernunft verpflichtete Erkennen und damit zu dem, was jenseits der Kategorien des menschlichen Geistes liegt, zu Gott. Eine letzte Wende bietet David von Augsburg in seinem mystischen Traktat ›Die sieben Staffeln des Gebetes‹, der den Aufstieg in einen ausschließlich psychagogischen Prozeß verwandelt.47 David von Augsburg gehört zur ersten Generation franziskanischer Schriftsteller in der süddeutschen Ordenprovinz. 1240 ist er als Novizenmeister in Regensburg nachgewiesen, dann kehrt er nach Augsburg zurück, wo er wohl herstammte. Er ist 1272 gestorben. ›Die sieben Staffeln des Gebetes‹ sind in einer lateinischen Version und drei deutschen Fassungen überliefert;48 ich referiere jene deutsche Variante, die am reichhaltigsten und d. h. gegenüber der lateinischen am selbständigsten ist. David erklärt zunächst, daß Gotteserfahrung über das Gebet schneller zu erreichen sei als mit Fasten, Mühen und guten Werken, denn alles Handeln hänge noch immer an irdischer Geschäftigkeit. Und dann beschreibt er die sechs Stufen, über die man zur unio mystica emporsteigt; die siebte Stufe, die volle Anschauung Gottes, sei jedoch dem Leben nach dem Tod vorbehalten. Die erste Stufe besteht im Beten mit dem Munde; wobei man darauf achten müsse, daß es nicht zu leerem Gerede werde, sondern daß man mit dem Herzen dabei sei. Die zweite Stufe wird dann erreicht, wenn das, was mit Anstrengung geschah, die Konzentration auf das Gebetswort, sich von selbst ergibt, so daß es aus dem Herzen wie aus einem eigenen Ursprung fließt. Auf der dritten Stufe wird dann die Glut der Andacht so mächtig, daß Worte überflüssig werden. An die Stelle des Wortes treten Seufzen, Scherzen, Lachen oder auch Bewegung und Erschütterung aufgrund der ungestüemekeit des Geistes: so ungestüm werde der Geist wie der neue Most, der, wenn er gärt, vor Hitze aus dem Faß breche. Und das Herz, das dünn sei wie ein Glas, das krache dann oder zerspringe, wie wenn man einen feurigen Trank hineingieße. Auf der vierten Stufe aber kehren Sanftheit und Stille ins Herz ein. Man ruht in der reinen Erkenntnis Gottes, so wie der edle Wein nach der Gärung still wird. Die fünfte Stufe ist dadurch gekennzeichnet, daß man trunken ist in der Andacht. Nun ruht das Herz in Gott wie eine weiche Semmel, die in Honigseim eingetaucht ist. Alle äußeren Empfindungen sind ausgeschaltet, so wie in einem sanften Schlaf nach einem guten Trunk. Diese Ruhe aber ist die Voraussetzung dafür, daß auf der sechsten Stufe das göttliche Licht wie ein Blitz hereinbricht. Die Seele wird über sich selbst hinausgerissen in eine göttliche Himmelsstille, in der sie nichts mehr wahrnehmen kann als Gott allein, so wie das glühende Eisen in der Esse eins ist mit dem Feuer. Und dann wird weiter ausgeführt, wie alle Schatten leiblicher Ähnlichkeit sich auflösen usf., doch wird hinzugefügt, man könne nur für kurze Zeit in diesem Licht verweilen, denn der Mensch vermöge in seiner Schwäche nicht lange die Süße Gottes und das unfaßbare Licht zu ertragen, denn es sei ein Licht, das jenseits allen Begreifens und Erkennens liegt. Und doch ist dieses Licht der Gotteserkenntnis gegenüber der Anschauung Gottes, wie man sie später in 47
David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes, hg. v. Kurt Ruh (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1), München 1965. 48 Ebd., Einführung, S. 13–41.
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ganzer Herrlichkeit im Himmelsreich haben wird, nur wie ein Sonnenstrahl, der durch ein Nadelöhr fällt, oder wie ein kleiner Blitzschlag bei geschlossenen Augen. Die siebte, die jenseitige Stufe, ist in diesem Leben nicht zu erreichen. Immerhin aber wird zum Unio-Augenblick auf der sechsten Stufe gesagt, daß dabei die Seele in der Weise mit Gott vereinigt wird, daß sie ist, was Gott ist, wenngleich sie nicht Gott ist, aber doch eins mit Gott im Herzen, im Willen, in der Liebe und im Geist. Und dann folgt noch eine Umsetzung in trinitarische Spekulation. David sagt, die Unio mit Gott bestehe darin, daß der Heilige Geist, durch den der Vater und der Sohn in der Liebe ewig vereinigt sind, die Seele mit dem Vater und dem Sohn und mit sich selbst und in sich selbst, also in der Liebe Gottes vereinigt. Und dann der kühnste Satz: „So wird der Gott zugehörige Mensch in Gott verwandelt, so daß er durch Gnade das wird, was Gott von Natur aus ist.“49 Diese Formulierung der Unio hat David aus der ›Epistola ad Fratres de Monte Dei‹ des Wilhelm von St. Thierry übernommen.50 Entscheidend ist also der Gnadenakt. Durch ihn wird die Differenz festgehalten, oder nochmals in Davids Worten: So weit vermochte noch kein Mensch aus eigener Bemühung zu kommen, noch mit Flügeln seines Verstandes zu fliegen. Allein der Heilige Geist mit seinem Licht und seiner Liebe reißt den menschlichen Geist über sich hinaus, und da ruhen dann alle Kräfte der Seele in Gott, und es ist allein die göttliche Kraft, die in der reinen Seele die Ähnlichkeit mit Gott bewirkt. Denn wenn auch die Seele nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, so daß sie vor allen andern Geschöpfen auf dieser Welt zur Gotteserfahrung fähig ist, so kann sie doch nicht über sich selbst erhöht werden, außer durch die Kraft Gottes, von der sie das hat, was sie ist. Sie hat als Naturgabe die Befähigung, durch Gottes Licht zu seiner Erkenntnis erleuchtet zu werden, aber sie ist nicht selbst dieses Licht, so wie das Auge als einziger Teil des Leibes aufgrund seiner Reinheit das Licht zu sehen vermag und doch nicht das Licht selbst ist.51
Auffällig ist die Verschränkung von Bildlichkeit und Spekulation. Es sind übrigens die prallen Vergleiche fast durchwegs Zusätze des deutschen Textes gegenüber dem lateinischen, vor allem die Most- und Weinmetaphorik: der ungestüme Geist als gärender Most, der das Faß sprengt; das Herz als dünnes Glas, das kracht, wenn man einen feurigen Trank hineingießt; die Beruhigung der Seele nach dem Sturm wie die Ruhe des Weins nach der Gärung oder wie die in Honigseim eingetauchte weiche Semmel. Dazu kommen das glühende Eisen in der Esse – ein traditionelles Bild für die mystische Verschmelzung –, originell aber wieder der Sonnenstrahl, der durch ein Nadelöhr fällt, als Bild für den augenblickhaften Einbruch des Göttlichen. Diese Bilder emotionalisie49
Ebd., S. 65,449–451: so der gottis mensche also in got virwandelt wirt, das er das ist von genaden, daz got ist in siner wise von nature. 50 Siehe ebd., S. 65, Fn. 62. 51 Ebd., S. 65,452–66,468: Bis her konde nie kein mensche mit sime vlizze komen noch gevliegen mit keinen sinnen noch mit keinen federen; allein der heilige geist mit sinem liehte, mit siner minne o zucket dar des menschen geist v´ber sich, wan da rvwent alle der sele kreft in gotte vnd alleine dv´ gottis craft wurket da die gottis gelichniste in der reinen sele. Wan swie dv´ sele nach gottis bilde geschaffen si, das si vor aller der welte creaturen gottes erkantnvste begrifen mac, so mac si doch e niht vber sich selben erhohet werden niwan mit der gottis kraft, von der si hat, das si ist. Si hat die o maht von der natvrlichen gabe, das si mac von gottis liehte zv siner erkantnvste erlv´htit werden, aber das lieht das ist si selbe niht, alse das o˘ge das ist allein vnder anderen liden an deme libe, das ez von siner lvterkeit das lieht gesehen kan, vnde ist ez doch niht selbe das lieht.
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ren auf der einen Seite den geistigen Prozeß, während auf der andern die abstrakten Erläuterungen die Problematik einer vermeintlichen Identitätsstiftung, die im Bildlichen steckt, aufzufangen versuchen: die Seele wird nicht zu Gott, sondern sie wird mit ihm eins über den Heiligen Geist, d. h., sie wird einbezogen in das trinitarische Zusammenspiel von Vater und Sohn über den Geist. Diese spekulative Durchdringung der UnioMystik, die, wie gesagt, aus zisterziensischer Tradition stammt, wird offensichtlich von David bewußt eingeführt, um das Moment der Unähnlichkeit festzuhalten. David entwirft zweifellos ein Aufstiegsmodell, aber man kann nicht übersehen, wie groß der Abstand zu jeder Form kosmisch-platonisierenden Denkens geworden ist. Der Aufstieg erscheint völlig in einen inneren, in einen meditativen Prozeß verwandelt; die Stufen sind psychische Zustände. Weltliche Bildlichkeit wird in drastischer Metaphorik in innere Erfahrung umgesetzt. Und die Stufen, über die man dabei geht, bedeuten nicht ein intellektuelles Sich-Erheben aus der materiellen Wirklichkeit, sondern sie werden als Stadien der Annäherung an Gott gelebt, wobei Annäherung soviel heißt wie Sich-Vorbereiten auf den göttlichen Blitz, der in die ruhig gewordene Seele einschlägt. Wie bei Mechthild von Magdeburg wird die Imagination als Medium herangezogen, um über Bilder Vorgänge zu vermitteln, die nicht vermittelbar sind. Anders aber als bei Mechthild wird der Prozeß nicht narrativ-dramatisch ausgefaltet, sondern über Bilder bloß beschrieben. An der Stelle einer Bewegung zwischen Begegnung und Trennung von Christus und Seele steht ein inneres Hingeführtwerden zu einem Einssein, das dann in der Reflexion aufgebrochen wird. Die Differenz wird also einerseits im Bild des unvermittelten Blitzschlags erfahren, anderseits aber auch spekulativ erläutert. Es wird explizit gesagt, daß es sich um eine Unio nicht im Sein, sondern in der Liebe handelt. Es gibt also vom 12. Jahrhundert an eine Reihe von Entwürfen zu einer Gotteserfahrung über einen Aufstiegsprozeß. Ihr Ansatz ist nicht der plötzliche Einbruch des Göttlichen in die Welt, sondern die immer schon vorgegebene Offenbarung Gottes in der Welt, in der Schöpfung und insbesondere in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Man muß deshalb unserem Erfahrungskonzept gemäß nicht vom Akt aus die Vermittlung, sondern von dem göttlich Vermittelten aus den Akt suchen. Alle diese Entwürfe sind diesem Ansatz entsprechend welthaltig, sie sind für die Phasen des Prozesses auf Anschauung angewiesen, doch sie drängen, gerade auch wenn diese Seite sehr stark gemacht wird wie bei David, darüber hinaus zur Reflexion, denn sie müssen die Bildlichkeit in ihrer Nichtidentität bewußt halten. Darin manifestiert sich das Grundproblem dieser Form der Vermittlung des Unvermittelbaren. Es liegt in der prekären Frage nach dem Verhältnis des Aufstiegswegs, den der Mensch seinen natürlichen Fähigkeiten nach zu gehen imstande ist, zur akthaften Gottesbegegnung am Ende, über die er nicht verfügen kann. Die Unio ist als plötzliche Erfahrung des Göttlichen aus dem Weg nicht ableitbar, und wenn sie sich vollzieht, dann bricht in den Augenblick die Ewigkeit ein. Augenblick aber bedeutet, vom Irdischen aus gesehen, Limitierung, nicht nur zeitlich – wenn man bei dem absoluten Augenblick überhaupt von Zeit sprechen kann –, sondern er ist auch ontologisch ein Grenzphänomen, denn die Unio mit dem Göttlichen ist bedingungslose Gabe. Sie zehrt jeden Weg auf und macht damit eine ontologische Annäherung illusorisch. So stellt sich denn die kritische Frage, welche Funktion dem Weg als einer möglichen Vorbereitung für die aktuelle Erfahrung Gottes zukommt, sei sie nun mehr ethischer oder mehr
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emotionaler oder mehr erkenntnismäßiger Natur. Kann er sie überhaupt in irgendeiner Form vorbereiten, wenn der entscheidende letzte Schritt allein von der entgegenkommenden Gnade Gottes abhängt? Je hoffnungsvoller man die Möglichkeit eines Zugangs zu Gott über seine Spur in der Schöpfung, in der Welt und in der menschlichen Natur einschätzt, desto härter stößt man auf die absolute Grenze zur Transzendenz. Die vermittelnde Bewegung endet immer – und dies ist schon bei Dionysius vorgeprägt – in der radikalen Brechung, in der Erfahrung der absoluten Differenz. Und doch ist der Weg dahin nicht einfach ohne Sinn, denn er erhält sein Recht aufgrund der Heiligung der Schöpfung durch die immer schon vorlaufende göttliche Gnade. Aber man kann sich bei dieser Positivität gerade nicht beruhigen, und so gehört zur Erfahrung im Bild die Reflexion, zur Vermittlung das Bewußtsein ihrer Grenze. Man sieht sich also mit der Paradoxie eines Weges konfrontiert, der keiner sein darf und der sich doch aufgrund der Ähnlichkeit in der Unähnlichkeit rechtfertigt. Trotz der so gut wie durchwegs festgehaltenen, ja betonten Differenz bleibt aber der Gedanke der Machbarkeit der Gotteserfahrung verführerisch. Er stellt eine latente Gefahr dar. Und dies bei jedem Ansatz zu einer Vermittlung, sowohl beim psychagogischen Aufstieg wie auch und insbesondere bei der Vermittlung vom Akt und dann vom Abstieg her. Die mystische Praxis, die Exzesse der Selbstpeinigung vor allem in den Nonnenklöstern des späteren Mittelalters, haben diese Gefahr immer wieder erschrekkend an den Tag gebracht.52 Kann man Gott über den Abstieg in die Gottferne, über die imitatio der Passion, in der Selbstpreisgabe bis zur Selbstzerstörung gewissermaßen zwingen, einem rettend entgegenzukommen? Muß Gott nicht unausweichlich auf die radikale Selbstdemütigung antworten? Wird auf den Abstieg in die Hölle nicht notwendigerweise die Auferstehung folgen?
V Die Gefahr solcher Überlegungen, die letztlich auf eine Verfügbarkeit über die Gnade zielen, ist nicht übersehen worden, und man hat deutliche Antworten darauf gegeben. Einen Gegenentwurf, der an Radikalität nichts zu wünschen übrig läßt, hat zu Beginn des 14. Jahrhunderts Meister Eckhart geliefert, und er hat damit – das hat die Forschung plausibel gemacht – insbesondere auf die frauenmystischen Bewegungen seiner Zeit kritisch reagiert.53 Er hat in Straßburg und Köln zweifellos die Auseinandersetzungen um die neuen Frömmigkeitsformen zur Kenntnis genommen, ja wohl auch Beginenverfolgungen miterlebt. Den Dominikanern war die cura monialium, die geistliche Betreuung der Frauenklöster, anvertraut. Eckhart hat nachweislich immer wieder gerade in Frauenklöstern gepredigt. 52
Als extremes Beispiel seien die grausamen Selbstquälereien Elsbeths von Oye genannt; vgl. Monika Gsell, „Das fließende Blut der ›Offenbarungen‹ Elsbeths von Oye“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, hg. v. Walter Haug u. Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 455–482. 53 Ruh, Eckhart, S. 104ff.
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Eckhart hat in diesem Konflikt mit Entschiedenheit Stellung bezogen. Dies in der Weise, daß er alle Bemühung um die Vermittlung von Erfahrung über mehr oder weniger gangbare Wege ablehnte, um mit letzter Konsequenz auf die Gegenposition zurückzugehen. Er greift den Gedanken der Gottesgeburt, also den Paulinisch-Origenistischen Ansatz, wieder auf und unterstellt die Gottesbegegnung ganz der Aktualität der Erfahrung. Und dabei hat er alles Vermittelnde in beiden Richtungen ausgestrichen. Er sah sich ja auf der einen Seite in der Frauenmystik einer Ausfaltung des Wechsels von Einung und Verlust bis hin zum Abstieg als Nachvollzug des Martyriums am Kreuz gegenüber, und auf der andern lagen hochdifferenzierte psychagogische Aufstiegskonzepte vor. Und hier wie dort zeigten sich, wie gesagt, problematische Extremformen. Eckhart kommt den neuen Frömmigkeitsbewegungen insoweit entgegen, als er das Bestreben nach einer aktuellen, persönlichen Gottesbegegnung im Sinne eines totalen Umbruchs rechtfertigt, zugleich aber wendet er sich gegen alle äußere Praktik, gegen Askese und Kasteiungen. Das deckt sich auch mit seiner Einstellung gegenüber dem Armutsstreit:54 nicht auf äußere, sondern auf innere Armut komme es an, und diese innere Armut versteht er als ,Sich-Loslösen‘ von allem Haben, abegescheidenheit heißt der mittelhochdeutsche Ausdruck, den er dafür geprägt hat, oder er spricht von einem ,Loslassen‘ gegenüber allem, was sich als Besitz anbietet, gegenüber allem, worüber man verfügen kann: gelaˆzenheit. Und das heißt letztlich, daß jede besitzhafte Beziehung zum Göttlichen verfehlt ist. Weg und Besitz – das sind die Stichworte unseres zweiten Ansatzes zur religiösen Erfahrung. Eckhart verweigert sich ihm rückhaltlos. Bei seinem kritischen Neueinsatz beruft Eckhart sich auf die negative Theologie des Dionysius. Gott ist ein Sein über allem Sein, ein seinsloses Sein, er ist Nichts, d. h., es läßt sich nichts Positives über ihn aussagen. Wenn man sage, Gott sei Güte, Gott sei die Wahrheit, so faßt man ihn immer noch als Objekt, bei der Güte als Objekt menschlicher Liebe, bei der Wahrheit als Objekt menschlichen Erkennens. Das sind, wie Eckhart sagt, alles nur Einkleidungen, die man von ihm abstreifen muß; man muß Gott bloˆz fassen, als ein luˆter wesen, als reines Sein, als Sein an sich.55 Da wir aber bei unserem Erkennen immer auf Bilder und Begriffe angewiesen sind und wir von uns aus nicht über die Einkleidungen, sei es die Liebe oder sei es die Erkenntnis, hinauskommen können, bleibt uns nur die Hoffnung auf die entgegenkommende göttliche Gnade. Diese Gnade aber, wenn sie sich vollzieht, bedeutet den Einbruch Gottes in die menschliche Seele, der diese über sich selbst hinausführt oder besser: ihren Grund aufdeckt. Eckhart spricht auch von einer obersten Kraft der Seele, in der sie sich mit Gott berührt, oder von einem Fünklein, das mit dem Licht, das Gott ist, eins ist. Und diese Vorstellung vom göttlichen Kern der Seele, die ja auch auf einer langen Tradition beruht, verbindet er dann mit der Idee der Gottesgeburt.56 Dabei geht er jedoch einen entscheidenden Schritt über das hinaus, was dieses Theologumenon bislang meinte: die Gottesgeburt ist für ihn nicht mehr ein plötzlicher Einbruch, sondern ein Prozeß, der sich zeitlos voll54
Dokumentiert ist dies vor allem in seiner berühmten ›Armutspredigt‹: Beati pauperes spiritu; siehe die Interpretation von Ruh, Geschichte III, S. 342ff. 55 Vgl. meine Studie „Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 521–537, hier S. 530. 56 Ebd., S. 531, sowie „Das platonische Erbe bei Meister Eckhart“, in diesem Bd., S. 286–300, hier S. 293.
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zieht, ein ontologischer Prozeß, bei dem die Seele eingeschrieben wird in die trinitarische Bewegung zwischen Gott, Sohn und Heiligem Geist. Gott gebiert seinen Sohn in die Seele, und die Seele gebiert den Sohn in Gott zurück. Aus dem Einbruch ist ein Durchbruch geworden, in dem man erfährt, daß die Seele einbezogen ist in das überzeitlich-innergöttliche Geschehen. Was das vor dem Hintergrund unseres Konzepts der religiösen Erfahrung bedeutet, ist offenkundig: Wenn man der Gottesgeburt den Augenblickscharakter nimmt, ist man nicht mehr gezwungen, eine Vermittlung zu suchen, es ist nicht mehr notwendig, Abstiege und Aufstiege, Begegnungen und Verluste in Szene zu setzen. Die Welt der Erscheinungen ist ohne Zusammenhang mit diesem ontologischen Vorgang, ja, die Welt der Erscheinungen ist Nichts. Sie kann nicht vermitteln, Bilder können ebensowenig als Brücke dienen wie das Wort. Eckhart hat eine Bildtheorie entworfen, in der er fordert, daß alle Bilder zurückgelassen werden müssen; der Mensch muß entbildet werden, damit er in Gott überbildet werden kann.57 Und dieses Überbildetwerden jenseits alles Bildhaften meint nichts anderes als die Gottesgeburt in der Seele. Und Entsprechendes gilt für das Wort, für die Begrifflichkeit. Sie kann bei der Gotteserfahrung nur die Funktion haben, sich selbst auszustreichen. Und so stellt Eckhart denn radikal fest: ,Was ich sage, vermittelt nichts; wer in der Wahrheit steht, der begreift, was ich sage. Wer nicht in der Wahrheit steht, den soll das nicht weiter bekümmern, er hat von vornherein keine Chance, mich zu verstehen, denn meine Wahrheit kommt unverhüllt und unvermittelt aus dem Herzen Gottes.‘58 Das ist von rücksichtsloser Härte, aber sie ergibt sich konsequent aus der Verabsolutierung des Erfahrungsaktes. Doch zugleich ist dies eine Verabsolutierung des Erfahrungsbesitzes. Zusammenfallen kann beides freilich nur jenseits von Raum und Zeit in der ewigen trinitarischen Bewegung. Ist das noch ein Ansatz im Paulinischen Sinn? Es ist ein Paulinischer Ansatz ohne die Not des Kreuzes. Das Leiden an der Gottferne ist ja eine Form der Vermittlung. Für Eckhart gehört alles Leid in die Welt der Erscheinungen und ist folglich bedeutungslos.59 Es ist nun überaus aufschlußreich zu sehen, wie man auf diese radikale Lösung des Problems der Gotteserfahrung reagiert hat. Ich denke dabei nicht an die theologische Reaktion und die Häresievorwürfe von seiten der Kirche – das steht auf einem andern Blatt60 –, sondern an die Hörer, an die Schüler, an deren Möglichkeit, mit Eckharts Konzept zu leben. Denn so konsequent dieses Konzept war, so unerträglich mußte man es empfinden, da es einen ja völlig hilflos machte. Gewiß, jede Vermittlung des Göttli57
Vgl. meine Studie „Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino: Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 538–556, hier S. 545f. 58 Eckhart, hg. Largier, I, S. 562,23–27: Wer dise rede niht enverstaˆt, der enbekümber sıˆn herze niht daˆ mite. Wan als lange der mensche niht glıˆch enist dirre waˆrheit, als lange ensol er dise rede niht verstaˆn; wan diz ist ein unbedahtiu waˆrheit, diu daˆ komen ist uˆz dem herzen gotes aˆne mittel. Dazu S. 1055, Komm. zu 550,20–22. – Die aporetische Situation, in die Eckhart sich damit als Prediger begibt, liegt auf der Hand; siehe Haug [Anm. 55], S. 524f.; Klärungsversuche: Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992; Seelhorst [Anm. 4], S. 242–254. 59 Das ist die Argumentationslinie von Eckharts ›Buch der göttlichen Tröstung‹; siehe Ruh, Eckhart, S. 119–125. 60 Siehe dazu ebd., S. 168ff.
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chen ist ein Abfall vom Absoluten, aber man kann ohne Vermittlung in diesem Leben nicht existieren. Insbesondere: Fragen der praktischen Ethik bleiben ohne Antwort. So sind denn Eckharts Schüler Heinrich Seuse und Johannes Tauler zum Wegmodell zurückgekehrt, freilich in bezeichnender Abwandlung. Es sind nicht mehr kontinuierliche Wege mit dem Sprung, mit der Ekstasis, an der höchsten Stelle, sondern es sind nun Wege, in die eine Krise eingebaut ist und die damit das Bewußtsein der Differenz zu einer Erfahrung auf dem Weg machen. Als Beispiel Taulers Predigt 39:61 Er unterscheidet hier drei Stufen auf dem Weg zu Gott. Die erste Stufe nennt er jubilatio; sie beruht auf der jubelnden Erfahrung Gottes in der Natur. Der Kosmos, die Welt mit all ihren Geschöpfen, wird getragen von Gottes unbegreiflicher Zuneigung und Gebefreudigkeit. Wer all diese Wunder mit Liebe betrachtet, der wird so sehr von Freude überwältigt, daß er sich äußern muß, sonst würde ihm, wie es heißt, das Blut aus dem Mund brechen oder er fühlte sich zerdrückt. In der Erfahrung dieser Liebe und Güte zieht Gott den Menschen zu sich zur Vereinigung. Doch wenn der Mensch aus diesem Zustand kindlicher Unbefangenheit herausgewachsen ist, dann gibt Gott ihm statt Milch und weichem Brot hartes Roggenbrot zu essen. Er führt ihn auf einen wilden, finsteren, einsamen Weg, auf dem Gott ihm alles entzieht, was er ihm zuvor gegeben hat. Es überkommt ihn eine solche Not, daß er schließlich nicht mehr weiß, ob es Gott gibt oder ob es ihn nicht gibt. Er gerät in eine quälende Enge. Es ist ihm, als hinge er zwischen zwei Wänden, von hinten bedroht von einem Schwert und von vorne von einem scharfen Speer. Er kann weder vorwärts noch rückwärts, und so bleibt ihm nichts, als sich niederzusetzen und zu sagen: „Gottes Gruß dir, du bittere Bitternis voller Gnaden.“62 Aber auch wenn der Mensch in dieser Not nicht glauben kann, daß die Finsternis je wieder licht werden könnte, so braucht er doch nicht zu verzweifeln, denn nun kommt Gott und zieht ihm den Mantel weg von den Augen, hebt ihn auf die dritte Stufe, wo es ihm vergönnt ist, die Wahrheit zu schauen. Da geht dann die Sonne in ihrem ganzen Glanz auf, und die Qual hat ein Ende. Gott zieht ihn in seine Göttlichkeit hinein, so daß er hoch über seine Natur hinausgehoben ist und er das aus Gnade wird, was Gott von Natur ist – das ist einmal mehr die traditionelle Unio-Formel. Und am Schluß folgt noch eine Reflexion zur Selbstpreisgabe in diesem Akt: So in der Wahrheit zu stehen sei ein Einsinken in den tiefsten Grund der Demut. Wörtlich: „Je tiefer um so höher, denn Hoch und Tief ist da ein und dasselbe.“63 Und diese Demut im Abstieg ist es nun, was Tauler – ganz anders als Eckhart – als geistige Armut bezeichnet. Geistige Armut ist hier also nicht mehr als Abgelöstsein von allem Habenwollen zu verstehen, sondern als Bereitschaft für die Bitternis der Gottferne. Also zwar ein Ansatz über die Erfahrung der Ähnlichkeit, die Begegnung mit der Welt als beglückende jubilatio, aber ein Zugang, der sich unmittelbar darauf als gebrochener Aufstieg darstellt. Der Abstieg erscheint als Stufe des Aufstiegs. Das ist nichts anderes als der Versuch, das Paradox der unähnlichen Ähnlichkeit als diskonti61
Die Predigten Taulers, hg. v. Ferdinand Vetter (Deutsche Texte des Mittelalters XI), Berlin 1910, Nachdr. Dublin, Zürich 1968, S. 154ff. Vgl. zum Folgenden meine Studie „Johannes Taulers Via negationis“, in: Haug, Brechungen, S. 592–605, insbes. S. 601ff. 62 Die Predigten Taulers [Anm. 61], S. 161,23f.: ,Got gruosse dich, bitterre bitterkeit vol aller gnaden!‘ 63 Ebd., S. 162,18: wan ie tieffer, ie hoher; wan hoch und tief ist do ein.
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nuierlichen Erfahrungsprozeß auszufalten: Der Weg als Erfahrung der Differenz, der Weg als Erfahrung der Weglosigkeit zu Gott. Das ist eine kühne Weise, die Brechung in den Vermittlungsprozeß einzubauen. Doch es bleibt dabei die alte Zweideutigkeit, die sich nicht auflösen läßt. Denn obwohl das Wegmodell auf der zweiten Stufe in der Erfahrung, daß es keinen Weg geben kann, zusammenbricht, steckt in der Negation des Weges doch das Ziel. Der Widerspruch wird in dem Paradox formuliert, daß Hoch und Tief ein und dasselbe seien. Anders gesagt: Die völlige Selbstpreisgabe bis hin zur Gottesverlassenheit, ja bis zum Zweifel an der Existenz Gottes ist kein Weg zur Erlösung, und doch ist gerade diese Erfahrung der Weg zu ihr. Das Paradox der unähnlichen Ähnlichkeit als Weg und Nichtweg ist gegen Eckhart, der es ausschalten wollte, verschärft zurückgeholt. Der Gedanke, daß das Leben in die Erfahrung der Negativität hineinführt und daß nichts bleibt, als den Status der Gnadenlosigkeit durchzustehen: ,Gottes Gruß dir, du bittere Bitternis‘ – dieser Gedanke sollte zu einem Grundproblem neuzeitlicher Religiosität werden, und Tauler kommt zweifellos eine Schlüsselrolle in diesem Zusammenhang zu. Seine Wirkung kann kaum überschätzt werden; sie war durch die lateinische Übersetzung seiner Predigten gesamteuropäisch. Luther hat ihn intensiv und mit auffällig kritikloser Zustimmung gelesen.64 Was Luther vor allem aufgreift, ist die Vorstellung von der radikalen Verfallenheit des Menschen, also die zweite Stufe in Predigt 39, aus der nur Gott ihn herausholen kann. Die Welt ist nach Luther ein Fegefeuer, es bleibt einem nichts als die nuda fides in Deum, das bloße Gottvertrauen – dies eine Randglosse Luthers in dem von ihm benutzten Taulerdruck.65 Um zum Schluß noch einmal auf A. Nygren und zur Frage nach dem Verhältnis der christlichen Botschaft zur platonischen Philosophie zurückzukommen, so dürfte deutlich geworden sein, in welcher Weise ein Zugriff über den Gegensatz von Eros und agape – in was für einer Abwandlung auch immer – am Grundproblem vorbeigeht. Es läßt sich zeigen, daß alle platonisierenden Anmutungen in christlicher Sicht am Ende nicht durchzuhalten waren, sondern aufgebrochen werden mußten. Gefährdungen sind zwar nicht zu leugnen, doch was sich im Grunde als bestimmend erwies, war ein Erfahrungskonzept, das die Dialektik zwischen Akt und Besitz, zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung in der Weise durchspielte, daß die Bewegung in der unähnlichen Ähnlichkeit der Gottesbegegnung sich letztlich immer an der Brechung, am Einbruch oder Durchbruch, orientierte. Und dabei wurde – ganz ungriechisch – im Prinzip am Paradox festgehalten, daß die Vermittlung im Schatten der radikalen Differenz doch ihr Eigenrecht behalten durfte.
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Siehe Alois M. Haas, „Luther und die Mystik“, DVjs 60 (1986), S. 177–207, hier S. 187ff. Siehe Bernd Möller, „Tauler und Luther“, in: La mystique rhe´nane. Colloque de Strasbourg, 16–19 mai 1961, Paris 1963, S. 157–168, hier S. 160.
2. Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition?
I Der Titel meiner Studie schließt mit einem Fragezeichen. Das ist eine Untertreibung; man müßte das Fragezeichen verdreifachen, denn nicht nur ist das Verhältnis der beiden Titelbegriffe ,Ästhetik‘ und ,platonische Tradition‘ im Hinblick auf das Mittelalter fraglich, sondern die beiden Begriffe sind schon für sich problembeladen. 1. Ästhetik: Darf man überhaupt von einer mittelalterlichen Ästhetik sprechen? Eine Ästhetik als Disziplin von eignem Recht gibt es bekanntlich erst seit Baumgarten, und so verbietet es sich streng genommen, vor 1750 mit dem Begriff zu arbeiten. Im ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ findet sich unter dem Stichwort ,Ästhetik‘ kein Wort zum Mittelalter. Wenn man trotzdem von Ästhetik im Mittelalter sprechen will und auch immer wieder gesprochen hat, muß man einen erweiterten Begriff verwenden und unter Ästhetik allgemein die theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen des Schönen verstehen, unter Vernachlässigung wie unter Einbeziehung der schönen Künste, einschließlich der Dichtung, sowie mit deren explizitem und implizitem Selbstverständnis. So verfuhren Edgar de Bruyne, Rosario Assunto, Władisław Tatarkiewicz u. a. m.1 Da jedoch die Gefahr besteht, daß man dabei ins Uferlose gerät, empfiehlt es sich, gewisse Abgrenzungen oder Ausgrenzungen vorzunehmen, die eine schärfere Differenzierung der Phänomene ermöglichen. Ich denke dabei insbesondere an zwei Grenzbereiche: An der einen Grenze stünde das Schöne als integrales Moment einer philosophischen oder theologischen Ontologie, grundgelegt in Platons ›Symposion‹, auf den Höhepunkt geführt von Plotin. Der zentrale Gedanke: das Eine strömt sich in lichthafter Schönheit in das Viele aus. – Auf der andern Seite stünden theoretische Erörterungen vorwiegend handwerklicher Art: Anweisungen zur Herstellung von Artefakten oder zur Verfertigung von Texten; ihr Ort sind die Artes und die Poetiken; wenn Theorien sie begleiten, haben diese pragmatischen Charakter.2 Das Zentrum hingegen, dem unser Hauptinteresse zu gelten hätte, würden dann jene Konzepte einnehmen, bei denen dem Bereich der Künste und der Literatur ein eigenes Recht auf Sinnerfahrung zugesprochen wird und wo dann möglicherweise auch entsprechende Darstellungsformen entwickelt und reflektiert werden. Da ich diese Differenzierung heuristisch verstehe, Edgar de Bruyne, E´tudes d’esthe´tique me´die´vale, Brügge 1946; Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963; Władisław Tatarkiewicz, History of Aesthetics, II: Medieval Aesthetics, Den Haag, Paris 1970. 2 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 31961, insbes. Kap. 8; Edmond Faral, Les arts poe´tiques du XII e et du XIII e sie`cle, Paris 21958; Paul Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980; Medieval Literary Theory and Criticism c. 1100 – c. 1375. The Commentary Tradition, hg. v. Alastair J. Minnis u. Alexander B. Scott, Oxford 1988. 1
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darf in Kauf genommen werden, daß die Grenzen dieses Kernbereichs gegenüber den philosophisch-theologischen Schönheitskonzepten auf der einen und gegenüber handwerklichen Zugriffen auf der andern Seite nicht scharf zu ziehen sind. 2. Die platonische Tradition: Auch der Begriff ,platonisch‘ bietet, auf das Mittelalter bezogen, Schwierigkeiten. Es gibt – darüber besteht Konsens – keinen mittelalterlichen Platonismus im Sinne einer auch nur einigermaßen klar zu umreißenden Tradition; was vorliegt, ist eine vielfältige und z. T. höchst diffuse Nachwirkung platonischer und neuplatonischer Konzepte oder auch nur Motive.3 Und diese Konzepte stammen zudem weitgehend aus zweiter Hand, wobei die Akzentsetzungen der Vermittler höchst unterschiedlich sind. Die Kenntnis der authentischen Werke Platons beschränkte sich sehr lange auf die Chalcidius-Teilübersetzung des ›Timaios‹ aus dem 4. Jahrhundert, die freilich äußerst wirkungsmächtig war,4 nicht zuletzt in der grandiosen Abbreviatur durch Boethius im 9. Metrum des III. Buches der ›Consolatio Philosophiae‹, genauer: seiner Abbreviatur anhand des ›Timaios‹-Kommentars von Proklos. Der bedeutendste Neuplatoniker, Plotin, ist im Mittelalter unbekannt, während Augustinus ihn in der verloren gegangenen Übersetzung von Marius Victorinus noch lesen konnte. Proklos kennt man bis zu Wilhelm von Moerbeke nur auf Umwegen, insbesondere über die Exzerpte im ›Liber de causis‹, der freilich unter Aristoteles lief. Angesichts dieser eigentümlichen Situation erinnere ich an das bekannte Diktum: Platon gibt es im Mittelalter nicht, aber Platonismen sind überall. Daß über diese vielschichtige Übermittlung auch platonisch-neuplatonische Schönheitskonzepte nicht nur mitgetragen wurden, sondern in ihrer christlichen Umformulierung omnipräsent sind, ist durch die Forschung hinreichend dokumentiert worden. Doch ist es im einzelnen um so schwieriger, konkrete Traditionslinien zu fassen, als sich die verschiedenen Überlieferungsströme immer wieder neu mischen. Was sich dabei aber in erster Linie abzeichnet und durchhält, ist eine philosophisch-theologische Lichtmetaphysik, die sich mit neutestamentlicher Lichtmetaphorik verschränkt. Angesichts dieser Sachlage präzisiere ich meine Fragestellung: Da man zweifellos sagen kann, daß es im Mittelalter auf der einen Seite eine Theorie des Schönen als integrales Moment philosophisch-theologischer Konzepte aus platonisch-neuplatonischen Quellen gab und auf der andern Seite die Künste wie die Literatur in den Artes verankert waren, also handwerklich-pragmatisch gesehen wurden, ist zu fragen, ob man sich damit abzufinden hat. Fällt eine Ästhetik im Sinne eines künstlerisch-literarischen Bereichs von eigenem Recht völlig aus? Man hat dies behauptet. Will man diese Behauptung anzweifeln, so müßte man zeigen können, daß es von der Philosophie des Schönen und/oder von der handwerklich-poetologischen Auffassung der Künste aus Wege zu einer autonomen Ästhetik gab – wobei mit ,autonom‘ natürlich nicht eine aus der schöpferischen Subjektivität entworfene Kunst im neuzeitlichen Sinne gemeint sein 3
Siehe Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, hg. v. Werner Beierwaltes, Darmstadt 1969, insbes. die zu ihrer Zeit wegweisenden Studien von Clemens Baeumker, ebd., S. 1–55, und Johannes Hirschberger, ebd., S. 56–72; ferner Raymond Klibansky, The Continuity of Platonic Tradition during the Middle Ages, London 1939. 4 Vgl. Marie-Dominique Chenu, „Die Platonismen des zwölften Jahrhunderts“, in: Beierwaltes [Anm. 3], S. 268–316, hier S. 283–285. – Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts kennt man neben dem ›Timaios‹ auch Platons ›Menon‹ und den ›Phaidon‹.
2. Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition?
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kann. Es geht also im folgenden um eine Suche nach Einbruchstellen für eine Ästhetik in diesem speziellen Sinn.
II Somit denn erstens zur Möglichkeit einer Einbruchstelle auf der Basis des philosophisch-theologischen Schönheitskonzepts: Konnte sich von platonisch-neuplatonischen Positionen aus eine quasiautonome Ästhetik gewissermaßen abspalten? Geht man vor das Mittelalter zurück, so wird man überraschend fündig. Werner Beierwaltes hat dieser Möglichkeit ein Kapitel seiner Monographie ›Denken des Einen‹ gewidmet,5 in dem er die Forschungen von James A. Coulter und Anne D. R. Sheppard zu den ästhetischen Theorien der späteren Neuplatoniker kritisch würdigte.6 Ich kann hier nur referieren, und dies auch nur in äußerster Verknappung: Es gab bei Jamblich, Proklos, Olympiodor und Hermeias Entwürfe einer neuplatonischen Ästhetik, die in eine eigenständige philosophische Kunst- und Literaturtheorie mündeten. Sie erfolgten über eine Neudeutung der Mimesis. Platon hat bekanntlich im 10. Buch der ›Politeia‹ die Künste abschätzig behandelt: Wenn die Dinge Abschattungen der Ideen sind, dann sind die künstlerischen einschließlich der dichterischen Nachbildungen dieser Abschattungen drittrangig und von entsprechend geringem Wert. Doch daneben finden sich bei ihm Äußerungen, die dem widersprechen, indem er auch eine Auffassung von Mimesis ins Spiel bringt, nach der der Künstler nicht einen Abklatsch der konkreten Wirklichkeit bietet, sondern sich bei seinem Tun direkt auf die Ideen bezieht.7 Plotin hat diesen Gedanken aufgegriffen und eine Kunsttheorie entwikkelt (›Enneaden‹ V,8), nach der das Bild im Verhältnis zur Idee gleichberechtigt neben dem Begriff steht, mit dem Unterschied nur, daß im Bild die Idee nicht intellektuell, sondern intuitiv angeschaut wird, ja, die Aufwertung der künstlerischen Produktion geht so weit, daß sie letztlich als Nachahmung der göttlichen Schöpferkraft verstanden werden kann.8 Die späteren Neuplatoniker führen diese Umdeutung der Mimesis dahin weiter, daß es bei ihr letztlich darum gehe, die Struktur der Wirklichkeit – mit Hilfe göttlicher Inspiration – poetisch zu transponieren: eine symbolische Mimesis sozusagen, deren Verständnis parallel zum philosophischen Denkprozeß erfolgen sollte. In Entsprechung zum denkerischen Weg, auf dem schließlich der Geist sich in einem trans5
Werner Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 296–309. 6 James A. Coulter, The Literary Microcosm. Theories of Interpretation of the Later Neoplatonists (Columbia Studies in the Classical Tradition 2), Leiden 1976; Anne D. R. Sheppard, Studies on the 5 th and 6 th Essays of Proclus’ Commentary on the Republic, Göttingen 1980. Siehe auch die Rezensionen von Werner Beierwaltes, Gnomon 51 (1979), S. 428–432, bzw. Archiv für Geschichte der Philosophie 67 (1985), S. 185–211. 7 Kurt Flasch, „Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst“, in: Parusia. Festgabe Johannes Hirschberger, Frankfurt a. M. 1965, S. 265–306, hier S. 270; Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 72–86; Hermann Wiegmann, Von Platons Dichterkritik zur Postmoderne, Bielefeld 1989. 8 Jens Halfwassen, „Die Idee der Schönheit im Platonismus“, Me´thexis 16 (2003), S. 83–96, hier S. 94.
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rationalen Akt selbst übersteigt, ist diese entheatische Dichtung „Darstellung des an sich Undarstellbaren“9; sie kann als solche wie der neuplatonische Denkprozeß zur Ekstasis führen, d. h. als Medium eines mystischen Aufstiegs fungieren. Dieses ästhetische Konzept findet sich besonders ausgeprägt im ›Politeia‹-Kommentar des Proklos. Das Fazit von Beierwaltes lautet: es bestätige sich aufgrund dieser neueren Untersuchungen – also der Arbeiten von Coulter und Sheppard – die bekannte Einsicht, „daß die Frage nach der Kunst, insbesondere nach Wesen und Funktion von Dichtung, ebensosehr die Frage nach deren – die Interpretation vielfältig provozierenden – Sprachstruktur, ferner die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie (. . . ) und Dichtung überhaupt ein zentrales Thema neuplatonischen Philosophierens ausmacht.“10 Ein Durchbruch zu einer spezifischen Kunst- und Literaturtheorie war also auf der Basis der platonisch-neuplatonischen Schönheitsontologie sehr wohl möglich. Die Frage ist nur, in welchem Maße hiermit ein wirklich eigenständiger ästhetischer Bereich eröffnet wird. Jens Halfwassen, der in seiner Darstellung der platonisch-neuplatonischen Schönheitsontologie den Begriff Ästhetik in diesem Zusammenhang strikt ablehnt, spricht dann unter bildtheoretischem Aspekt doch von „metaphysischer Ästhetik“.11 Das dürfte wohl heißen, daß sich ein ästhetischer Bereich von eignem Recht entfalten kann, indem ein ästhetischer Weg parallel zum philosophischen Aufstiegsprozeß denkbar geworden ist, wobei ,parallel‘ aber impliziert, daß er wie dieser metaphysisch eingebettet bleibt.
III Es stellt sich nun die Frage, ob diese neuplatonische Ästhetik über irgendwelche Kanäle, durch die platonisches Gedankengut den abendländischen Westen erreichte, an das Mittelalter weitergegeben worden sein könnte. Man mag zunächst an Augustinus denken; man wird da aber, wenn ich nicht etwas übersehen habe, trotz reicher PlotinAnleihen nicht wirklich fündig. Seine Bildtheorie geht in einer Semiotik auf, die dezidiert auf die Differenz zielt und dabei alles Ästhetische zurückläßt, obschon das Schöne in seiner Analogielehre, also in seinem Konzept von der unähnlichen Ähnlichkeit zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen, durchaus eine Rolle spielt, freilich eine überraschende Rolle. In der Frühschrift ›De ordine‹ (I, VIII,25) beschreibt er, wie er einen Hahnenkampf beobachtet; die Häßlichkeit des Geschehens ist nicht zu übersehen: das wilde Gehacke, die fliegenden Federn, das Blut, aber dann denkt er nach und kommt zum Schluß, daß sich doch auch darin die göttliche Ordnung manifestiere und selbst diesem Geschehen ihre Schönheit vermittle. Diese Sichtwende gelingt ihm dann sogar angesichts der verwesenden Leiche eines Gehängten (›De civitate Dei‹, XIX,12). Nichts könnte deutlicher machen, wie radikal der semiotische Sprung alle Ähnlichkeit zurückläßt. Doch soll damit die Bedeutung Augustins, insbesondere die Nachwirkung seiner Lichtmetaphysik in ihrer Verbindung mit der biblischen Lichtmetaphorik, für die mittelalterliche Ästhetik im weiteren Sinne nicht unterschätzt werden. 9
Beierwaltes [Anm. 5], S. 303. Ebd., S. 308. 11 Halfwassen [Anm. 8], S. 93. 10
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Die nächste Erwartung richtet sich auf Proklos, der in erster Linie den Neuplatonismus jenem Dionysius vermittelte, der sich Areopagita nannte, d. h. sich als den von Paulus bei der Areopagrede bekehrten Athener ausgab, de facto aber um 500 schrieb und die wirkungsmächtigste christlich überformte neuplatonische Theologie entworfen hat.12 Es findet sich bei ihm jedoch keine Kunst- und Literarästhetik in dem skizzierten neuplatonischen Sinn. Und das ist nicht ohne Bedeutung für das Verhältnis zwischen Neuplatonismus und christlicher Botschaft in den Dionysischen Schriften. Dieses Verhältnis ist bekanntlich umstritten. Hat Dionysius die neuplatonische Philosophie, insbesondere die des Proklos, nur oberflächlich christianisiert, indem er lediglich das neuplatonische Hen an der Spitze des mystischen Aufstiegs mit dem Schöpfergott gleichgesetzt und die Emanation aus dem Einen zum Schöpfungsakt uminterpretiert hat? Oder distanziert er sich vom Neuplatonismus mehr oder weniger deutlich, insbesondere dadurch, daß der Aufstieg bei ihm doch sehr pointiert der entgegenkommenden Gnade Gottes bedarf? Die Bruchstelle gegenüber der Transzendenz, der Sprung in das Eine, wird zwar auch bei Plotin deutlich gemacht in dem eigentümlichen Nebeneinander eines kontinuierlichen Aufstiegs und des plötzlichen Einbruchs der Ekstasis.13 Aber das wird nicht problematisiert, während für eine christliche Umformulierung hier der kritische Punkt lag. Denn für sie war das Entgegenkommen Gottes unabdingbar.14 Die Erwähnung der Gnade wird zum Signal für eine mehr oder weniger bewußte Distanzierung gegenüber dem Neuplatonismus; sie markiert die Unverfügbarkeit des Übergangs. Dionysius hat die neuplatonische Kunst- und Literarästhetik jedoch nicht nur nicht übernommen, sondern er hat die Möglichkeit dazu unterminiert. Dies, indem er das neuplatonische Schönheitskonzept zwar nicht preisgegeben, aber es ebenfalls seiner negativen Theologie unterworfen hat. Während in der platonischen Tradition das Sinnlich-Schöne eine positive Qualität besitzt, auch wenn es überstiegen werden muß, damit man zum Schönen an sich gelangt, hat Dionysius das Schöne wie alles Affirmative massiv konterkariert. Die negative Theologie hat für ihn durchgängig das größere Gewicht, auch wenn diese letztlich ebenso wie die affirmative zurückgelassen werden muß. Sein Oxymoron vom hellen Dunkel kennzeichnet die Position jenseits von Affirmation und Negation (›De mystica theologia‹,15 I,1) – übrigens eine originelle Prägung des Dionysius16 mit einer Nachwirkung über die Jahrhunderte hin.17 Was das irdisch Schöne 12
Als vorzügliche Einführung nenne ich Ruh, Geschichte I, 1. Kap. Treffend zu dieser Verbindung von aktivem Überstieg und Überwältigtwerden Beierwaltes [Anm. 5], S. 141. 14 Das übersieht auch Beierwaltes nicht, wenngleich er gegenüber Endre von Iva´nka, Plato christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, S. 280–283, stärker die Nähe des Dionysius zur platonischen Tradition als die Differenz betont; siehe Beierwaltes [Anm. 5], S. 150–153. 15 Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie und Briefe, eingel., übers. u. mit Anm. vers. v. Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994. 16 Beierwaltes [Anm. 5], S. 149. 17 Das Wort erscheint noch bei Grimmelshausen unter den sinnigen Sprüchen, die Simplicius auf seiner Einsiedlerinsel an die Bäume heftet; siehe Max Wehrli, „Das finstre Licht. Grimmelshausens Lichtspruch im Simplicissimus“, in: Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller, hg. v. Martin Bircher u. Alois M. Haas, Bern, München 1973, S. 167–173. 13
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in seiner Analogie zum absoluten Schönen betrifft, kann Dionysius sagen: Häßliche, bizarre Bilder für das Göttliche, wie man sie auch in der Bibel findet – vielgesichtige Monstren wie der Tetramorph, feurige Räder, anthropomorphe Aussagen: Gott, der ausruht, zürnt usw. –, solche Vorstellungen seien dem Transzendenten insofern angemessener als schöne Bilder, als man dabei nicht auf den Gedanken komme, sie mit dem Göttlichen zu verwechseln. Sie stacheln vielmehr dazu an, sich die Differenz bewußt zu machen (›De coelesti hierarchia‹,18 II,3–5).19 Diese kontrastive Symbolik des Unangemessenen ist zwar bei Proklos vorgeprägt – sie stammt aus der Homer-Allegorese –, aber Dionysius benutzt sie, um in der Formel von der unähnlichen Ähnlichkeit zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung den Hauptakzent gerade auch unter dem Aspekt der Schönheit auf die Unähnlichkeit zu setzen. Wenn man den Abstand zwischen ihm und dem Neuplatonismus bestimmen will, sollte man nicht zuletzt auf die Verschärfung der Differenz durch seine Theorie des Häßlichen achten, die oft vernachlässigt wird. Was eine relativ eigenständige Ästhetik anbelangt, so ist von hier aus – und mit nochmals einem Blick auf Augustinus – grundsätzlich festzuhalten, daß die Betonung der ontologischen Differenz ihr den Boden entzieht, während die Betonung der Ähnlichkeit ihr einen Spielraum, freilich einen immer wieder diskussionsträchtigen Spielraum eröffnen kann. Kennzeichnend für platonisches Denken ist die gestufte Kontinuität zwischen den Erscheinungen und dem Einen, mit einer schwach akzentuierten Bruchstelle vor dem letzten Schritt: die catena aurea. Es sei an das viel diskutierte Buch von Arthur O. Lovejoy erinnert.20 Von der christlichen Position aus wird man bei allen Anlehnungen an das Stufenschema letztlich auf die absolute Differenz stoßen. Die Gnade als ihr Signum wird für eine platonisch-christliche Ästhetik immer ein Problem bleiben. Und es muß sich letztlich zu der Frage zuspitzen: Kann man Gnade künstlerisch, literarisch inszenieren?
IV Das Dionysische Schriftencorpus, das schon im 9. Jahrhundert nach dem Westen kommt, ist die brisanteste neuplatonische Einbruchstelle im frühen Mittelalter. Der byzantinische Kaiser Michael Bekkos hat es Ludwig dem Frommen zum Geschenk gemacht, weil er erfahren hatte, daß man auch im Frankenreich den hl. Dionysius 18
Pseudo-Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia. De ecclesiastica hierarchia. De mystica theologia. Epistulae, hg. v. Günter Heil u. Adolf Martin Ritter, Berlin, New York 1991; Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie, eingel., übers. u. mit Anm. vers. v. Günter Heil, Stuttgart 1986. 19 Vgl. Paul Michel, ,Formosa deformitas‘. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), Bonn 1976, §§ 168–173. Michels Monographie ist insgesamt grundlegend für das Verständnis der christlichen Ästhetik des Häßlichen. 20 Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge/MA, London 1936. Breiter ausgreifend Friedrich Ohly, Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 599– 678.
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verehrte. Dieser Dionysius war freilich ein gallischer Missionar, dessen Gebeine im Königskloster St. Denis ruhten. Der Abt von St. Denis, Hilduin, der sich als erster an einer Übersetzung des Dionysischen Corpus versuchte, hat sich nicht gescheut, den Gedanken aufzugreifen und den griechischen Autor mit dem gallischen Missionar in eins zu setzen und so den angeblichen Paulusschüler zum Nationalheiligen des Frankenreiches zu machen. Die Folgen dieser Klitterung waren unabsehbar, politisch wie theologiegeschichtlich. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat man trotz früher skeptischer Stimmen die Dionysischen Schriften für Werke des athenischen Paulusschülers gehalten. Die größten Theologen des hohen Mittelalters haben sich mit ihm auseinandergesetzt, und das hat entscheidend dazu beigetragen, daß platonisches Gedankengut in der mittelalterlichen Theologie, wie gesagt, allgegenwärtig war.21 Da Hilduins Übersetzung des schwierigen Textes nicht befriedigend war, hat Karl der Kahle Johannes Scotus Eriugena mit einer Neuübersetzung beauftragt – in Irland konnte man zu der Zeit offensichtlich noch Griechisch. Eriugena hat sich nicht mit der Übersetzung begnügt, sondern eine eigene neuplatonisch-christliche Philosophie unter Heranziehung weiterer östlicher Quellen darauf aufgebaut. Die Grundlage für Eriugenas Denken bildet ein ontologisches Konzept, das er in einer Schlüsselthese formuliert hat, die so lautet: Alles, was ist, ist Theophanie.22 Die Schöpfung ist Erscheinung des Göttlichen. Nun hat Eriugena zwar die Dionysische Theorie des Häßlichen nicht übergangen, aber sie spielt für seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit keine entscheidende Rolle, d. h., er begründet sein Unähnlichkeitskonzept in ganz anderer Weise. Doch zunächst zur Theophanie, die ja Ähnlichkeit meint, und damit zur Frage einer eigenständigen Ästhetik bei Eriugena. Ich gehe aus von dem berühmten einschlägigen Passus in seinem Kommentar zu des Dionysius ›Himmlischer Hierarchie‹, wo er erläutert, weshalb ein Stein oder ein Holzstück für ihn ein Licht sein könne: Wenn ich diesen oder jenen Stein betrachte, erfahre ich vieles, was meinen Geist erleuchtet. Ich bemerke nämlich, daß er gut ist und schön, daß er das ihm entsprechende Sein besitzt, daß er sich in seiner Gattung und Art von den übrigen Gattungen und Arten unterscheidet, daß er seiner Zahl nach ein Einzelnes ist, daß er innerhalb seiner Seinsordnung bleibt, daß er aufgrund seiner spezifischen Schwere dem ihm gemäßen Ort zustrebt. Indem ich nun in diesem Stein diese und ähnliche Eigentümlichkeiten erkenne, werden sie für mich zu Lichtern, d. h., sie erleuchten mich. Ich beginne nämlich nachzudenken, woher solches dem Stein zukommt, und ich sehe, daß er es nicht dadurch besitzt, daß er in natürlicher Weise an der sichtbaren und unsichtbaren geschöpflichen Welt teilhat, und alsbald werde ich unter der Führung der Vernunft über alles einzelne hinweg zur Ursache aller Dinge geführt, von der her allem sein Ort und sein Rang, seine Zahl, seine Gattung und seine Art, sein Gutsein und seine Schönheit und sein Wesen und alle übrigen Eigentümlichkeiten und Gaben zugeteilt werden. Und so geht von allem Geschöpflichen, vom höchsten bis zum geringsten, d. h. vom Geistigen bis zum Körperlichen, ein Licht aus, das jene führt, die sich dem Lob Gottes hingeben und ihren Gott eifrig suchen und sich bemühen, ihn in allem Strahlenden zu finden (. . . ). Und daher kommt es, daß dieses ganze 21 22
Vgl. Ruh, Geschichte I, S. 71–82. Dazu grundlegend Werner Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994, insbes. S. 115–151.
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Weltgebäude zu einem gewaltigen Licht wird, das aus vielen Einzelteilen wie aus vielen Leuchten zusammengesetzt ist, so daß die intelligiblen Dinge in der Reinheit ihrer Art offenbar werden und im Innersten des Geistes geschaut werden können, wobei die göttliche Gnade und das Vermögen der Vernunft im Herzen der Gläubigen und Wissenden zusammenwirken.23
Das ist unverkennbar neuplatonisch-dionysische Lichtmetaphysik.24 Was in den Dingen leuchtet und dann den Betrachter erleuchtet, ist die Ordnung des Universums. Die Erkenntnis der Gattung und Art aller Dinge, die Einsicht in die Schönheit und das Gute, durch die sie geprägt sind, führen zur Ursache dieser Ordnung, zu Gott. Deshalb ist alles, was ist, ein großes Licht, in dem das Intelligible in den Dingen zur Erscheinung kommt. Aber wohlgemerkt: Vernunft und Gnade müssen dabei zusammenwirken, d. h., im Erkenntnisprozeß wird die Differenz im christlichen Sinne festgehalten. Zu beachten ist dabei das eigentümliche Ineinander von Schauen und Denken: das Leuchten der Dinge führt zur Erleuchtung, man erfährt in den Erscheinungen das Göttliche als ein Anderes, sie sind Bilder, Metaphern, pointiert gesagt: das Göttliche ist präsent und als solches doch nicht faßbar. Ähnlichkeit und Differenz werden in der Form eines Paradoxons ineinandergezwungen; das Göttliche erscheint im Irdischen, ohne zu erscheinen.25 Aber ist daraus zu folgern, daß Eriugena damit eine ästhetische Theorie von zumindest relativer Eigenständigkeit entwickelt hat? In seinem Kommentar zur ›Himmlischen Hierarchie‹ greift er ein Dionysius-Wort zur Funktion menschlicher Vorstellungen auf und weist ihnen einen Ort in seinem Konzept zu: fictae imaginationes können, so sagt er, den Menschen zur schauenden Erkenntnis des Intelligiblen hinführen.26 Die Poesie stimmt in der bildlichen Darstellung des Undarstellbaren mit der ontologisch-theologischen Erfahrung der Erscheinung des Nicht-Erscheinenden überein. Die Bilder verlangen als solche, daß man sich ihrer Bildlichkeit bewußt wird und sie damit übersteigt. Doch der Gedanke führt in einen umfassenderen Zusammenhang weiter: Es handelt 23
Johannes Scotus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam Coelestem, hg. v. Jeanne Barbet (CCCM 31), Turnhout 1975, Cap. I,109–134: hunc uel hunc lapidem considerans multa mihi occurrunt que animum meum illuminant: eum quippe animaduerto subsistere bonum et pulchrum, secundum propriam analogiam esse, genere specieque per differentiam a ceteris rerum generibus et speciebus segregari, numero suo, quo unum aliquid fit, contineri, ordinem suum non excedere, locum suum iuxta sui ponderis qualitatem petere. Hec horumque similia, dum in hoc lapide cerno, lumina mihi fiunt, hoc est, me illuminant. Cogitare enim incipio unde ei talia sunt, et intueor quod nullius creature, siue uisibilis siue inuisibilis, participatione naturaliter hec ei insunt, ac mox ratione duce super omnia in causam omnium introducor, ex qua omnibus locus et ordo, numerus et species genusque, bonitas et pulchritudo et essentia, ceteraque data et dona distribuuntur. Similiter de omni creatura, a summo usque ad deorsum, hoc est ab intellectuali usque ad corpus, ad laudem creatoris referentibus eam et se ipsos, et Deum suum studiose querentibus, et in omnibus que sunt eum inuenire ardentibus (. . . ). Hinc est quod uniuersalis huius mundi fabrica maximum lumen sit, ex multis partibus ueluti ex multis lucernis compactum, ad intelligibilium rerum puras species reuelandas et contuendas mentis acie, diuina gratia et rationis ope in corde fidelium sapientium cooperantibus. 24 Siehe zu Eriugenas Lichtmetaphysik Beierwaltes [Anm. 22], S. 134–145. 25 Ebd., S. 129f. 26 Cap. II,128–151; vgl. Peter Dronke, „Theologia veluti quaedam poetria: Quelques observations sur la fonction des images poe´tiques chez Jean Scot“, in: The Medieval Poet and his World, hg. v. P. Dronke (Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi 164), Rom 1984, S. 39–53, hier S. 39f.
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sich nämlich um den Sprung von der figura, der umbra, vom Spiegelbild, zur Wahrheit facie ad faciem. Theologie und Poesie fallen in dieser Perspektive zusammen: theologia ueluti quedam poetria (Cap. II,146f.) – womit ich übrigens den Titel eines trefflichen Aufsatzes von Peter Dronke zu diesem Thema zitiere.27 Die Verabsolutierung der Differenz, auch im Paradox vom Erscheinen des Nicht-Erscheinenden, bindet das Symbolisch-Poetische an den allegorischen Sprung. Eriugenas Bildtheorie ist also durchgängig in sein theologisches Konzept eingebunden. Wenn ich hier die Begriffe ,symbolisch‘ und ,allegorisch‘ verwende, so wäre spätestens jetzt ein differenzierter Exkurs zur Terminologie vonnöten. Das ist aber in der gebotenen Kürze hier nicht zu leisten, denn die Wirrnis ist groß und eine Klärung schwierig. Dies nicht nur deshalb, weil die Begriffe ,Allegorie‘, ,Symbol‘, ,Metapher‘, ,Bild‘ usw. immer wieder austauschbar erscheinen, sondern weil man sich auch nicht damit helfen kann, daß man die historische Begrifflichkeit ignoriert, um mit der unseren, d. h. der Goetheschen Opposition von Allegorie und Symbol, Ordnung zu schaffen. Es hat zwar auch in der platonischen Tradition immer wieder Versuche gegeben, die Allegorie im Sinne einer Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen Bild und Begriff von einer Bildlichkeit abzugrenzen, für die dies nicht gilt; so schon Proklos mit seiner Unterscheidung zwischen eikon und symbolon. Aber der Allegorie im strikten Sinn steht nicht das gegenüber, was wir Symbol nennen, vielmehr ist auch die nicht strikt allegorische Bildlichkeit allegorisch gebrochen, ja, sie muß gebrochen werden, wenn man der Differenz in der Präsenz des Nicht-Erscheinenden gerecht werden will. Bei Eriugena wird dies besonders augenfällig.
V Eriugenas Dionysius-Übersetzung war eine Pioniertat mit Zeitzündung. Sie bleibt zunächst so gut wie ohne Wirkung, erst im 12. Jahrhundert ist die Zeit dafür reif, doch dann beginnt die große Auseinandersetzung über Kommentare und neue Übertragungen. Diejenige des Johannes Sarracenus, eines glänzenden Griechisch-Kenners, in der Mitte des Jahrhunderts wird maßgebend. Dabei wäre auch der weiteren Entwicklung der philosophisch-theologischen Bildtheorie bis hin zu Eckhart und Cusanus nachzugehen, was hier jedoch beiseite bleiben darf, da es meine Fragestellung nicht unmittelbar tangiert.28 Hingegen ist von Bedeutung, daß sich die Dionysius-Rezeption im 12. Jahrhundert mit einer weiteren neuplatonischen Tradition verschränkt, wovon gleich die Rede sein wird. Zur selben Zeit beginnt übrigens auch eine Reihe von Aufstiegsentwürfen, die z. T. jedenfalls dionysisch inspiriert sein mögen, insofern aber ein ganz neues Gesicht zeigen, als diese Aufstiege die kosmologische Einbettung abgestreift haben und nunmehr als psychische Prozesse aufgefaßt werden, so bei Bernhard von Clairvaux, Richard von St. 27 28
Dronke [Anm. 26]. Siehe dazu meine Studie „Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino: Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 538– 556, hier S. 545–551.
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Viktor u. a. m.29 Erst sehr viel später, etwa bei Bonaventura und Tauler, kommen wieder kosmische Aspekte in die Ascensus-Entwürfe hinein, als Einstiege sozusagen.30 Daß bei diesen Stufenwegen auch Erkenntnisschemata neuplatonischer Provenienz eine Rolle spielten, sei nur nebenbei angemerkt. Die Ablösung aus dem Kosmischen, aus der Anschauung, aber mußte in diesem Zusammenhang die Entwicklung einer quasiautonomen Ästhetik blockieren. Die Bildlichkeit, die dabei sehr lebendig, ja etwa bei David von Augsburg oder Tauler geradezu drastisch sein kann, steht völlig im Dienst der Psychagogie. Ein umstrittener dionysischer Ausläufer soll nicht unerwähnt bleiben, nämlich Sugers Konzept der gotischen Kathedrale von St. Denis. In der älteren Forschung – es sind vor allem Erwin Panofsky, Otto von Simson und Werner Beierwaltes zu nennen31 – wollte man in den Inschriften, die Suger an seinem Neubau anbringen ließ, eine Inspiration durch Dionysius erkennen und versuchte, die Entstehung der gotischen Kathedrale aus dem Geist der dionysischen Lichtmetaphysik zu begründen. Die These ist ansprechend. Besonders eindrucksvoll in dieser Hinsicht ist Sugers berühmte Portalinschrift; sie lautet: Wer du auch bist, der du die Pracht dieser Türen rühmen willst, bewundere nicht die Kosten, sondern das Gold und die Mühe, die dieses Werk gemacht hat. Edel erstrahlt das Werk, aber das Werk, das edel erstrahlt, soll den Geist erhellen, daß er durch die wahren Lichter zum Licht, das die Wahrheit ist, gelangt, wozu Christus das wahre Tor ist. Von welcher Art das Licht im Innern ist [also wenn man durch die Türen hindurchgegangen ist], darauf verweist das goldene Portal hiermit. Der schwerfällige Geist steigt mit Hilfe des Materiellen (per materialia) zur Wahrheit empor; er, der zuvor niedergedrückt war, erhebt sich neu, er aufersteht (resurgit) durch den Anblick dieses Lichts.32
Das Werk, das Gold, strahlt, es erleuchtet den Geist, und diese Erleuchtung ist die Einsicht, daß man über das Leuchten zum wahren Licht hingeführt werden kann, über das Materielle zur Wahrheit. Das ist neuplatonische Lichtmetaphysik in christlicher Abwandlung, d. h. Anschauung verbunden mit Allegorese, der Übergang wird vermittelt durch die Deutung. Das Bauwerk bedarf der Inschriften, damit sich die Erleuchtung vollziehen kann. Suger kann anderweitig geradezu sagen, das Werk erstrahle im Glanz „freudebringender Allegorien“.33 Das Strahlen meint das Erleuchten über die Interpretation. Also auch hier wiederum Allegorie nicht im strikten Sinn. 29
Vgl. meine Studie „Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 446–463, hier S. 453f. 30 Dazu meine Studien „Bonaventuras ›Itinerarium mentis in Deum‹ und die Tradition des platonischen Aufstiegsmodells“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 493–504; „Johannes Taulers Via negationis“, in: Haug, Brechungen, S. 592–605. 31 Erwin Panofsky, Abbot Suger. On the Abbey Church of St.-Denis and its Art Treasures, Princeton 1946; Otto von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt 21972; Beierwaltes [Anm. 22], S. 115–118; siehe auch meine Studie „Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell“, in: Haug, Brechungen, S. 509–512. 32 Abt Suger von Saint-Denis: Ausgewählte Schriften, hg. v. Andreas Speer u. Günther Binding, Darmstadt 2005, S. 324. 33 Ebd., S. 342: allegoriarum iocundarum iubar.
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Die Nähe zu dem vorhin zitierten Text aus Eriugenas Dionysius-Kommentar fällt in die Augen. Der Gedanke liegt nahe, daß das, was Eriugena von der lichthaften Erscheinung alles Geschaffenen sagt, hier auf das Artefakt der Kathedrale übertragen worden ist, und man ist versucht, eine entsprechende Ästhetik zu unterstellen. Schon seit den 1950er Jahren sind jedoch Zweifel an dieser These laut geworden;34 mit besonderer Schärfe hat Peter Kidson sie artikuliert,35 und 1995 hat Christoph Markschies die kritischen Bedenken noch einmal zusammengefaßt. Das entscheidende Argument lautet: Es fänden sich in Sugers Inschriften keine spezifischen Anklänge an dionysischeriugenische Texte.36 Es genüge als Hintergrund die allgemeine neuplatonisch-christliche Lichtmetaphysik oder auch nur Lichtmotivik. Und die Neuherausgeber der Sugerschen Schriften, Andreas Speer und Günther Binding, teilen diese Meinung.37 So überzeugend diese Argumentation aber auch scheinen mag, so viel Mühe hat man doch, sich vorzustellen, daß der hochgelehrte Suger keine Kenntnis vom Dionysischen Corpus gehabt haben soll, das ihm in seiner Abtei zugänglich gewesen sein dürfte und das in so hohem Maße ihren Ruhm begründete. Übrigens hatte kurz vor Sugers Neubau von 1140/44 mit Hugos von St. Viktor Kommentar zur ›Himmlischen Hierarchie‹ die DionysiusRenaissance begonnen. Werner Beierwaltes hat denn auch gleichzeitig mit Markschies’ Invektive die ältere Position mit guten Gründen verteidigt und den Bezug zu Dionysius/Eriugena noch einmal plausibel gemacht, wenngleich er zugestehen muß, daß ein schlüssiger Beweis nicht zu erbringen ist.38 Aber wie skeptisch man auch sein mag, eines wird man nicht leugnen können, nämlich, daß Sugers Konzept als ein Zeugnis zu gelten hat für die charakteristische von der Väterzeit her neuplatonisch durchdrungene, aber christlich umformulierte Erkenntnislehre, die Anschauung und Denken über die Vorstellung vom Schauen im erleuchtenden Licht in einem Akt der Erfahrung zusammenbindet. Die Frage aber ist wie immer diese: Welche Rolle spielt die Differenz? Wenn von Gnade gesprochen wird, haben wir das entsprechende Signal, wie am Schluß der zitierten Eriugena-Stelle. Es fehlt, wie zu erwarten, auch bei Suger nicht, so wenn er in folgender Weise von seiner persönlichen Lichterfahrung spricht: Als mich einmal aus Liebe zur Pracht des Gotteshauses die vielfarbige Schönheit der Edelsteine von den äußeren Sorgen wegrief und ein tiefes Nachdenken mich dazu trieb, nachdrücklich ihre heiligen Eigenschaften in ihrer Vielfalt vom Materiellen ins Immaterielle hinüberzuführen (transferendo), da glaubte ich mich gleichsam in einer Außenregion des Erdkreises zu sehen, die 34
Siehe Bruno Reudenbach, „Panofsky und Suger von St. Denis“, in: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, hg. v. B. Reudenbach (Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg 3), Berlin 1994. 35 Peter Kidson, „Panofsky, Suger and St Denis“, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50 (1987), S. 1–17. 36 Siehe aber unten Anm. 39. 37 Speer u. Binding [Anm. 32], S. 32. 38 Beierwaltes [Anm. 22], S. 152–158. Eine Vermittlung über Hugo von St. Viktor dürfte jedenfalls schwerlich von der Hand zu weisen sein; vgl. Yves Christe, „Influences et Retentissement de l’Œuvre de Jean Scot sur l’Art Me´die´val: Bilan et Perspectives“, in: Eriugena redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit, hg. v. Werner Beierwaltes (Abhandlungen der Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1987, 1. Abh.), Heidelberg 1987, S. 142–161, hier S. 151.
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weder ganz im irdischen Schmutz noch ganz in der Reinheit des Himmels lag, und ich glaubte, daß ich durch Gottes Gnade (Deo donante) in anagogischer Weise von dieser niedrigen zu jener höheren Welt hinübergebracht werden könne (posse transferri39).40
Der Ausgangspunkt ist also wieder die Schönheit der Kathedrale, insbesondere der Glanz der Edelsteine. Und das ist der Anstoß zu einem Nachdenken, bei dem das Materielle auf das dahinterliegende Immaterielle gedeutet wird. Bezeichnend ist wiederum die Verbindung von Anschauung und Interpretation. Und dieser verschränkte Prozeß ergreift den Denkenden: transferendo – posse transferri: ,im Denken des übertragenen Sinns hinübergetragen werden‘. Und dazwischen die Bruchstelle im Wissen darum, daß dies aus eigener Kraft nicht zu leisten, sondern allein durch die entgegenkommende Gnade Gottes möglich ist: Deo donante. Da aber eine explizite philosophische Klärung des Verhältnisses zwischen Immanenz und Transzendenz und damit die Selbstreflexion des deutenden Verfahrens fehlen, ist dieses Signal seinem Gewicht nach schwer einzuschätzen, und damit muß auch offen bleiben, wie weit Sugers Akzentsetzung in der Formel der unähnlichen Ähnlichkeit sich mit jener Eriugenas gedeckt haben könnte. Soviel läßt sich jedoch sagen: Wo immer Suger angeknüpft haben mag, sein architektonisches Werk und dessen Deutung setzen ein Konzept voraus, das der Ähnlichkeit einen nicht unerheblichen Spielraum gewährte.
VI Nun zum zweiten Grenzbereich: Kunst- und Literaturtheorie als handwerkliche Anleitung mit Typenordnungen und topischen Materialsammlungen. War von hier aus ein Durchbruch ins Ästhetische möglich? Die mittelalterliche Gattungspoetik beruhte auf einer Dreiteilung, die sie der ›Herennius-Rhetorik‹ und Cicero verdankte. Isidor von Sevilla war der entscheidende Vermittler.41 Es wurde unterschieden zwischen drei literarischen Gattungen: historia, argumentum und fabula. Die historia bezieht sich auf das, was tatsächlich geschehen ist; sie ist wahr im Sinne des Faktischen, und sie kann über dessen Beispielhaftigkeit Wahrheit als Sinn vermitteln. Das argumentum meint etwas, was zwar nicht historisch-wahr ist, was aber geschehen sein könnte, Erfindungen also, die aufgrund ihrer Wahrscheinlichkeit aber als Exempel dienen können. Mit fabula wird etwas Erfundenes bezeichnet, das weder wahr noch sinnvoll ist und sich bestenfalls als rekreative Unterhaltung rechtfertigen läßt.42 Die Invektiven gegen das Fabulöse als Lügenhaftes tauchen stereotyp das 39
Hier meint man nun doch Anklänge an den in Anm. 26 genannten Abschnitt in Eriugenas Dionysius-Kommentar zu vernehmen; auch dort findet sich die Formulierung transferri posse (Cap. II,135). 40 Speer u. Binding [Anm. 32], S. 344f. 41 Grundlegend zur Geschichte dieser Gattungspoetik Peter von Moos, „Poeta und Historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan“, PBB (Tübingen) 98 (1976), S. 93–130; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, hier S. 9–64. 42 Burghart Wachinger, Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter (Schriften der philos.-hist. Kl. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 23), Heidelberg 2001.
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ganze Mittelalter hindurch auf. Mit der Diffamierung dieses Typus treffen die Rigoristen die weltliche Erzählliteratur.43 Eine autonome Poesie und eine ihr entsprechende Ästhetik lassen sich im Rahmen dieser dreigliedrigen Gattungstheorie nicht begründen. Aber es gab eine – bezeichnenderweise platonische – Einbruchstelle, nämlich über Macrobius, der das ›Somnium Scipionis‹ aus dem 6. Buch von Ciceros ›De re publica‹ mit einem Kommentar dem Mittelalter zugänglich gemacht hat;44 es handelt sich um einen kosmologischen Aufstiegstraum. Wir stehen am Ende des 4. Jahrhunderts; auch er hat Plotin noch gekannt. Macrobius unterscheidet gegen die Tradition zwei Typen von fabulae (1, 2, 7–9), die übliche, unnütze fabula: Liebesgeschichten, Komödien und dergleichen, doch davon hebt er das ab, was er narratio fabulosa nennt.45 Auch sie beruht auf Erfindung; sie ist aber für den Philosophen unentbehrlich, wenn er von immateriellen Dingen, von der Seele, vom höchsten Wesen sprechen will. Die narratio fabulosa dient also der Darstellung des Undarstellbaren. Die neuplatonisch umgedeutete Mimesislehre steht im Hintergrund.46 Und dieser Gedanke philosophisch verwendbarer poetischer Erfindungen wird dann von den Platonikern des 12. Jahrhunderts aufgegriffen und hat sich in der sogenannten Integumentumtheorie niedergeschlagen, d. h. in einer Theorie, bei der es um die Möglichkeit einer Vermittlung von Wahrheit sub integumento oder sub involucro, also in bildhafter, poetischer Verschleierung, geht. Zu nennen sind insbesondere Wilhelm von Conches, Bernardus Silvestris, Alanus von Lille und Johannes von Salisbury. Aber es gibt schon entsprechende Reflexionen bei Abailard. Die Forschung, die sich damit befaßte, sah darin eine Rechtfertigung der Poesie im Sinne eines zumindest relativ eigenständigen Weges zur Wahrheit, also einen Ansatz zu einer mittelalterlichen Literaturtheorie, und damit wäre man über einen langen Weg wiederum an jenem Punkt angekommen, den Proklos schon einmal erreicht hatte. Gegen diese These, der zufolge sich über die Integumentumlehre im 12. Jahrhundert das Literarische schon in Richtung auf ein modernes Dichtungsverständnis hin emanzipiert haben soll,47 ist Frank Bezner mit seiner Dissertation ›Vela Veritatis‹ von 2005 43
Siehe Haug, Literaturtheorie, Register s. v. ,Dichtung als Lüge‘. Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis, hg. v. James Willis, Leipzig 1970. Zur Nach´ douard Jeauneau, „Macrobe, source de platonisme chartrain“, wirkung im 12. Jahrhundert E in: Lectio Philosophorum, hg. v. E´. Jeauneau, Amsterdam 1973, S. 279–300. 45 Vgl. Knapp [Anm. 41], S. 44f. 46 Dazu Vinzenz Rüfner, „Homo secundum Deum. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum“, Philosophisches Jb. 63 (1955), S. 248–291, hier S. 258. 47 Ich hebe nur beispielhaft einige von vielen prominenten Vertretern dieser These heraus: Richard P. McKeon, „Poetry and Philosophy in the Twelfth Century: The Renaissance of Rhetoric“, in: Critics and Criticism. Ancient and Modern, hg. v. Ronald S. Crane, Chicago, London 1952, S. 297–318; Peter Dronke, Fabula. Explorations into the Use of Myth in Medieval Platonism, Köln, Leiden 1974; Hans Robert Jauss, „Zur historischen Genese der Scheidung zwischen Fiktion und Realität“, in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser (Poetik und Hermeneutik X), München 1983, S. 423–431; Minnis u. Scott [Anm. 2]; Peter von Moos, „Was galt dem lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort des 12. Jahrhunderts“, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. v. Joachim Heinzle, Stuttgart, Weimar 1993, S. 431– 451. 44
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angetreten.48 Mit vehementer Entschiedenheit spricht er den Erörterungen zum Integumentum die unterstellten literaturtheoretischen Implikationen ab. Dabei stellt er zunächst fest, daß es so etwas wie eine Integumentumtheorie im Sinne eines konzisen hermeneutischen Konzepts gar nicht gegeben hat. Es handelt sich vielmehr um einen proteischen Begriff, mit dem unter immer wieder neuen Akzentuierungen operiert worden und dem allein über geduldige Einzelanalysen beizukommen sei, was Bezner dann auch in höchst differenzierter Weise tut. Wenn man in all diesem Changieren aber – Bezner pointiert fassend – doch so etwas wie einen Generalnenner ausmachen wollte, dürfte man wohl sagen: Integumentales Denken ist grundsätzlich nicht literaturtheoretisch orientiert, sondern es zielt letztlich auf eine Selbstkritik der theologischen Hermeneutik. Es ist hier nicht möglich, dieses im Prinzip überzeugende Ergebnis nachvollziehend im einzelnen plausibel zu machen, ich muß auf Bezners eindringliche Analysen selbst verweisen. Auf einen Fall jedoch, in dem integumentales Denken erzählerisch produktiv geworden ist, ist aus meiner Perspektive kritisch näher einzugehen: auf den ›Anticlaudianus‹ des Alanus von Lille, um 1182/84:49 Der Titel bezieht sich auf ein Gedicht Claudians über einen gewissen Rufinus, einen verbrecherischen Minister des Theodosius, der das absolut Böse verkörpert. Alanus will dem ein Gedicht über den Weg zu einem vollkommen guten Menschen entgegenstellen. Der Prolog kennzeichnet den Leser, den Alanus sich wünscht: einen Leser, der sich über die Sinnlichkeit zur Vernunft erhebt, nicht an poetischen Fabeleien Gefallen findet, sondern bereit ist, anhand der Dichtung zu den Ideen, den formae supercoelestes, aufzusteigen. Also ein quasiplatonischer Aufstieg als epische Handlung. Ich gebe eine knappe Inhaltsskizze, die selbstverständlich dem spezifischen Charakter des Werkes, insbesondere seiner wissensvermittelnden Seite, in keiner Weise gerecht wird. Natura will einen neuen, vollkommenen Menschen schaffen, sie hält eine Beratung ab. Geladen sind Eintracht, Fülle, Gunst, Jugend, Lachen, Schamhaftigkeit, Bescheidenheit, Vernunft usw. – über ein Dutzend Tugenden. Man braucht dazu aber eine vollkommene Seele, die die Natur nicht zu liefern vermag. Es muß ein Wagen hergestellt werden, mit dem man zum Himmel fahren kann, wo man sich von Gott eine vollkommene Seele erbitten will. Die Konstruktion des Wagens wird den sieben Artes übertragen: die Grammatik steuert die Deichsel bei, die Dialektik die Achse, die Rhetorik vergoldet beides; die Artes des Quadriviums stellen die vier Räder her. Die fünf Sinne dienen als Pferde. Mit diesem Wagen fahren nun Prudentia/Phronesis durch die Himmelssphären empor. Am höchsten Punkt kommt es zu einem kritischen Übergang. Die Ratio muß mit dem Wagen und den Pferden, also den Sinnen und den Artes, zurückbleiben. Und auch der Dichter muß nun eine andere Sprache sprechen. Die himmlische Muse löst Apollo ab, der Dichter will nur noch die Feder sein, nicht mehr Schreiber oder Autor (V,265–277). Phronesis, nunmehr unter der Führung der puella oder regina 48
Frank Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts, Leiden, Boston 2005, insbes. S. 69–93 und Kap. V. 49 Alanus von Lille, Anticlaudianus, hg. v. Robert Bossuat, Paris 1955. Zu Autor und Werk Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, München 1988, S. 1–4.
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poli, vermutlich der Theologie,50 erreicht die Engelchöre, den Sitz der Seligen und Marias. Aber am Eingang zum Himmel bricht auch die Phronesis ohnmächtig zusammen. Es heißt, sie sei lebendig tot und tot lebendig (VI,76: moritur uiuens et mortua uiuit). Die Fides muß ihr zu Hilfe kommen und sie wiederbeleben, und sie gibt ihr dann einen Spiegel, mit dessen Hilfe sie gebrochen den Glanz des Himmels zu ertragen vermag. Man gelangt zum Palast Gottes, in dem die ewigen Ideen, die Ursachen und Gründe aller Dinge abgebildet sind. Phronesis erhält auf ihre Bitte von Gott eine vollkommene Seele, mit der man zur Erde zurückkehrt, wo Natura dann den neuen, vollkommenen Menschen erschafft. Das freilich bringt die Laster auf den Plan, die zum Kampf antreten. Natura stellt sich mit den Tugenden ihnen entgegen, der Sieg gehört dem neuen Menschen, und die Laster müssen sich in die Unterwelt zurückziehen. Auf Erden beginnt eine paradiesische Zeit. Nach dem ersten Eindruck scheint man es hier mit poetisch umgesetzter platonischer Ascensus-Philosophie zu tun zu haben, genauer: mit ihrer christlichen Version, wie die charakteristische Bruchstelle in der Höhe zeigt, wo die Ratio mit ihren Wissenschaften und die Sinne versagen und schließlich auch die Phronesis zusammenbricht und nur noch der Glaube weiterhilft. Handelt es sich hier also um einen episch-philosophischen Weg von eigenem, literarischem Recht? Frank Bezner bezweifelt das. Auch wenn Alanus sage, daß man im Bild etwas ausdrücken könne, was sprachlich-diskursiv nicht zu fassen sei, so sei damit doch nicht einer Eigenständigkeit der Narratio das Wort geredet. Es handle sich um „Ideenerzählung oder erzählte Gedankenwelt“51, Einsichten würden ins Bildhafte transponiert, zum Bild komme immer der Kommentar, der dessen Sinn „unausweichlich fixiere“, und so schließt er: „,Kommentar‘ und Dichtung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.“52 Kann man aber wirklich sagen, daß sich die Narratio im ›Anticlaudianus‹ wie bei einer Allegorie ohne Rest in diskursive Rede umsetzen läßt und auch umgesetzt wird? Ich versuche, die Frage beispielhaft anhand einer Episode zu beantworten: der Darstellung des Zusammenbruchs der Phronesis im Bereich des Göttlichen (VI,1–137); ihre Orientierungslosigkeit, ihre Verwirrung, ihr Staunen, ihre Ohnmacht werden beklemmend geschildert. Man kann selbstverständlich mit Bezner dazu bemerken, das bringe nichts weiter als den „Verlust, das Versagen der Rationalität angesichts des Höchsten“ zur Anschauung.53 Und dem wird kontrastiv-diskursiv das Transzendente in seiner coincidentia oppositorum entgegengehalten: Gott ist gerecht ohne Gerechtigkeit, lebendig ohne Leben, Anfang ohne Anfang, Ende ohne Ende usw. und dazwischen dies vermittelnd: die Personifikation der Theologie, eine Frau von unvergleichlicher Schönheit, deren körperlicher Erscheinung alles Irdisch-Vergängliche abgesprochen wird und in deren prachtvolles Kleid die Geheimnisse Gottes eingewoben sind, so daß das Grenzenlose begrenzt, das Unsichtbare sichtbar erscheint (V,83–146). Bezner beobachtet treffend, daß sich in solchen Stellen theologische Erörterung und Narratio verschlingen, es komme zu einem „Oszillieren zwischen Idee und Erzählung.“54 Das widerspricht 50
Dies ist die übliche Deutung. Anders Peter Dronke, Dante and Medieval Latin Traditions, Cambridge 1986, S. 11ff. 51 Bezner [Anm. 48], S. 520. 52 Ebd., S. 523. 53 Ebd., S. 508. 54 Ebd., S. 521.
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jedoch der Vorstellung von den „zwei Seiten ein und derselben Medaille“. Denn die Verflechtung ist konstitutiv, die Narratio ist integraler Bestandteil des Erfahrungsprozesses, ja mehr als das: der Prozeß wird von der Narratio getragen, er wird als WegErzählung vor Augen geführt. Und dann das Entscheidende: die Differenz wird nicht nur narrativ als Ohnmacht der Phronesis inszeniert, sondern sie wird zugleich in die Reflexion über die Grenzen von Bild und Wort hineingenommen. Das Problem der Vermittlung, die Frage nach den Grenzen der Sprache wird dabei mit thematisiert, indem diese sich nicht nur in der bildlichen Verschleierung, sondern auch in hybriden Sprachspielen selbst zu übersteigen versucht. Die gesamte Darstellung ist durchdrungen vom Bewußtsein der hermeneutischen Problematik angesichts der Transzendenz. Es gibt im übrigen einen direkten Bezug zur Ästhetik Eriugenas, es fällt der Begriff der Theophanie, der hier nun explizit auf die Dichtung bezogen wird.55 Zugegeben: die Bedeutung, die damit der sprachlich-bildlichen Vermittlung zukommt, impliziert nicht eine Literaturtheorie, die dem literarischen Bereich ein Eigenrecht im Sinne einer zur Philosophie parallelen Erkenntnisleistung zubilligte, wie dies bei Proklos der Fall war, aber dies nobilitiert die Narratio doch in einem diskursivbildlichen Gesamtprozeß, den man sehend und denkend nachvollziehen muß; es geht um eine geistige Erfahrung, bei der poetische Faszination und philosophische Klärung unlösbar ineinanderspielen. Letztlich beruht jedoch auch dies, wenngleich in unvergleichlich kunstreicher Form, auf der in christlicher Perspektive unabdingbaren allegorischen Brechung der bildhaften Sphäre. Man darf jedenfalls Alans integumentale Poesie nicht als allegorische Philosophie mißverstehen. Sie ist nicht in begriffliche Bedeutung umzusetzen, sondern sie muß als philosophisch-poetischer Prozeß nachvollzogen werden.
VII Alanus hat lange und breit nachgewirkt, auch auf die volkssprachliche Literatur: auf Jean de Meun, Frauenlob, Dante, Chaucer u. a. m.56 Daß auch Gottfried von Straßburg von ihm beeinflußt worden ist, ist verschiedentlich überzeugend herausgestellt worden. Christoph Huber ist hier an erster Stelle zu nennen.57 Es gibt nicht nur nahe textliche Berührungen zwischen Gottfrieds ›Tristan‹ und Alans philosophischen Dichtungen, sondern auch signifikante Übereinstimmungen in bestimmten sprachlichen Verfahren, in kühnen Wortbildungen und Redefiguren.58 Wir wissen biographisch nichts von Gottfried von Straßburg, aber er muß eine klerikale Ausbildung durchlaufen haben. Er kannte sich in der zeitgenössischen deutschen und französischen Literatur aus. Seine Vorlage war der französische Tristan-Roman des Thomas von Britannien. Er dürfte nicht nur Französisch, sondern auch Latein gekonnt 55
Dronke [Anm. 50], S. 9, hat darauf hingewiesen. Siehe Huber [Anm. 49], S. 8–22. 57 Ebd., S. 79–135. 58 Werner Schwarz, „Studien zu Gottfrieds Tristan“, in: FS Ingeborg Schröbler, hg. v. Dietrich Schmidtke u. Helga Schüppert, Tübingen 1973, S. 217–237, hier S. 220. 56
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haben. Er kennt die rhetorische Tradition und übersetzt in einer Dichterkritik, die er in seine Erzählung einschiebt, eine Vielzahl lateinischer poetologischer Termini ins Deutsche. Er schöpft exzessiv aus dem traditionellen topischen Fundus, ja er spielt souverän mit den literarischen Topoi bis hin zur Ironisierung. Er beherrscht die handwerkliche Seite der mittelalterlichen Kunsttheorie in einem höchsten Maße. Gottfried hat für seinen Roman aber zudem im Prolog und in Exkursen, mit denen er die Handlung unterbricht, eine Literaturtheorie entworfen, die die Beziehung zwischen seinem Werk und dessen Thematik einerseits und dem Hörer oder Leser andrerseits reflektiert.59 Schon im Prolog spricht er davon, daß er eine Liebesgeschichte für Liebende erzählen wolle. Dabei macht er zur Bedingung für das richtige Verständnis, daß der Hörer/Leser bereit sein müsse, das Ineinander von Lust und Qual, das jede wahre Liebe präge, für sich selbst zu akzeptieren. Auf diese Weise werde das Leben und der Tod Tristans und Isolds für den, der die Geschichte mit der richtigen Disposition höre, zum Brot des Lebens: Ir leben, ir tot sint unser brot. sus lebet ir leben, sus lebet ir tot. sus lebent sie noch und sint doch tot und ist ir tot der lebenden brot60
– so lautet der berühmte Passus im Prolog. Die Anspielung auf die Eucharistie ist nicht zu überhören, und dies ist nicht etwa blasphemisch gemeint, sondern die Brotmetapher zielt auf die Möglichkeit einer inneren Wandlung durch literarische Erfahrung. Ein weiteres Mal wird das theoretisch in einem Exkurs durchgespielt, der in den Zusammenhang der Episode der Liebesgrotte eingebaut ist. Nachdem Tristan und Isold auf der Fahrt von Irland nach Cornwall versehentlich den ominösen Liebestrank getrunken haben, der für Isold und König Marke gedacht war, können sie nicht anders, als sich auch nach der Heirat Isolds heimlich so oft wie möglich einander hinzugeben. Es kommt am Hof zu einem längeren Intrigenspiel, bei dem die Liebenden immer neuen Verdächtigungen ausgesetzt werden und die sie immer neu zu parieren wissen, bis der König schließlich genug davon hat und sie verbannt. Sie begeben sich in eine wunderbare Grotte in einer amönen Umgebung, abgeschirmt in einer schwer zugänglichen Wildnis. Es ist ein paradiesischer Ort. Tristan und Isold können hier ganz ihrer Liebe leben, sie bedürfen keinerlei Nahrung, sie genügen ganz sich selbst. Die Grotte ist eine Kuppelrotunde, vor Urzeiten von Riesen in einen Felsen gehauen. Der Boden ist grün, die Wand weiß wie Schnee. Hoch oben hängt ein Geschmeide. In der Mitte steht ein kristallenes Bett, das der Göttin der Liebe geweiht ist (vv. 16702– 16723). Die Architektur und die Topographie der Grotte werden später allegorisch ausgelegt (vv. 16923–17099): Daß die Grotte rund ist, bedeutet eine Liebe ohne jeden Winkel des Argwohns, die Weite meint ihre grenzenlose Kraft, die Höhe bedeutet den hohen muot, d. h. die Hochstimmung des Herzens, die bis zu den Wolken emporsteigt, das Geschmeide in der Kuppel meint die ethische Vollkommenheit, der grüne 59
Detaillierter dazu meine Studie „Erzählung und Reflexion in Gottfrieds ›Tristan‹“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 160–171. 60 Tristan, hg. Ranke, vv. 237–240.
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Boden die Treue, das kristallene Bett die Lauterkeit und Reinheit der Liebe usw. – Das knüpft an traditionelle Architekturallegoresen an.61 Aber dann wird der Zuhörer oder Leser unvermittelt in diesen Auslegungsprozeß hereingezogen. Nachdem Gottfried erläutert hat, wie das Geschmeide mit seinen Edelsteinen im Scheitelpunkt des Gewölbes zu verstehen ist, nämlich als absolute Vollkommenheit, geschmückt mit den Edelsteinen aller Tugenden, sagt er, das sei ein so wunderbarer Anblick, daß wir, die wir davon hören, gar nicht anders könnten, als staunend hinaufzuschauen, daz wir, die nidere sin gemuot, 16950 der muot sich allez nider tuot und an dem esteriche swebet, der weder swebet noch enclebet: wir kapfen allez wider berc und schouwen oben an daz werc, 16955 daz an ir tugenden da stat, daz von ir lobe her nider gat, die ob uns in den wolken swebent und uns ir schin her nider gebent: die kapfe wir ze wunder an. 16960 hie wahsent uns die vedern van, von den der muot in vlücke wirt, vliegende lob nach tugenden birt.
so daß wir, die wir nicht hochgestimmt sind, deren Geist vielmehr ganz niedergedrückt ist und nahe am Boden dahinschwebt und weder abheben kann noch hängen bleibt – wir schauen unentwegt gebannt nach oben und blicken hinauf zu dem Geschmeide, das durch die Tugenden jener gebildet ist und das den Ruhm jener herunterwirkt, die über uns in den Wolken schweben und auf uns herableuchten [nämlich die Liebenden des Romans]: die schauen wir voller Staunen an; davon wachsen uns dieselben Flügel, durch die ihr Geist [also der Geist der Liebenden] aufzufliegen vermag und im Flug die Tugenden lobt.
Die Hörer oder Leser treten also gewissermaßen in die Grotte hinein und blicken hinauf in die Kuppel, und mit der Deutung des Geschmeides im Scheitelpunkt auf die Vollkommenheit erscheinen ihre Träger unvermittelt selbst in der Höhe und strahlen diese Vollkommenheit herab, auf uns herab, so daß auch uns Flügel wachsen und wir zur selben Vollkommenheit emporfliegen können. Dieses Emporfliegen zur Vollkommenheit ist offensichtlich ein platonisches Bild, es erscheint schon im ›Phaidros‹ (246a–252c).62 Ein besonders schönes mittelalterliches Beispiel findet sich in Eriugenas ›Homilie zum Johannesprolog‹, die von Johannes als auffliegendem Adler ausgeht.63 In diesem Bild vom Hochfliegen für die erhebende, verwandelnde Erfahrung liegt denn auch das Sinnzentrum der Gottfriedschen Episode der Liebesgrotte, ja, man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, daß Gottfried diese Episode letztlich auf diesen literaturtheoretischen Exkurs hin inszeniert hat, denn sie ist – anders als in der älteren Stofftradition – handlungstechnisch funktionslos. Marke weist die Liebenden ohne konkreten Anlaß unvermittelt vom Hof, und es gibt dann auch keinen rechten Grund für das Paar, aus dem Grottenparadies wieder dahin zurückzukehren. Gottfried macht denn auch deutlich, daß es sich um keinen episch-realen 61
Zur Diskussion um diesen Zusammenhang C. Stephen Jaeger, „The Crown of Virtues in the Cave of Lovers Allegory of Gottfried’s Tristan“, Euphorion 67 (1973), S. 95–116, hier S. 110. 62 Jaeger, ebd., S. 97–105, hat als erster auf die platonistischen Traditionen aufmerksam gemacht, die hinter Gottfrieds Vorstellung vom Hochfliegen zur Krone der Tugenden stehen. 63 Dronke [Anm. 26], S. 41–43. Weitere Beispiele bei Jaeger [Anm. 61], S. 104f.
2. Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition?
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Ort handelt. Er sagt, er sei selbst auch in dieser Grotte gewesen (v. 17100), freilich habe er nicht das Glück gehabt, auf dem kristallenen Bett zu liegen. Aber er kenne die Grotte seit seinem elften Lebensjahr, obschon er nie nach Cornwall gekommen sei (v. 17136). Die Grotte erweist sich damit als eine theoretische Utopie des literarischen Vermittlungsprozesses. Das heißt: In der Grottenschilderung und ihrer Deutung steckt Gottfrieds Literarästhetik. Es geht um einen Aufstieg des Hörers oder Lesers zur Vollkommenheit anhand eines poetischen Werks, dessen Geschehen durch alle seine Höhen und Tiefen hindurch nachvollzogen werden muß. Nachvollzug meint, daß das Werk keineswegs eine Liebeslehre bieten will, denn die Ehebruchsgeschichte von Tristan und Isold ist alles andere als vorbildlich und nachahmenswert, ja gerade dies, der Widerspruch zwischen der konkreten, prekären Handlung und dem, was sie als grundsätzliche Erfahrung in sich trägt, die Erfahrung eines Absoluten, die Erfahrung der Liebe als Absolutum, quer zu aller Realität, das ist es, was die Rezipienten provozieren, was ihren Aufflug anstoßen soll. In diesem Widerspruch steckt das, was in der philosophischen Tradition als radikale Differenz erscheint. Die absolute Vollkommenheit der Liebe leuchtet durch das Tun der Liebenden durch, auch wenn sie in deren konkretem Tun nicht zu fassen ist. Gottfried von Straßburg steht mit seiner Literaturtheorie nicht allein. Entsprechende Thesen, die sich gegen episches Erzählen als bloße Vermittlung von Lehren wenden und statt dessen einen Nachvollzug als genuine Erfahrung, als Erfahrung von Wahrheit über Fiktionen, fordern, finden sich auch bei Gottfrieds Zeitgenossen, schon bei Hartmann von Aue und dann besonders prononciert bei Wolfram von Eschenbach.64 Wolfram sagt im Prolog zum ›Parzival‹ explizit, daß er sich weigere zu sagen, was sein Roman lehren solle, es komme allein darauf an, dem Auf und Ab des Geschehens mit all seinen Überraschungen zu folgen: nur wer dies tue, verhalte sich richtig gegenüber seiner Geschichte, nur der erfahre ihren Sinn (vv. 2,5–1665).66 Wahrheitsfindung von eignem Recht über fiktionales Erzählen: in literaturtheoretischen Überlegungen dieser Art in den volkssprachlichen Romanen des 12./13. Jahrhunderts fassen wir das auf eine hohe Reflexionsstufe gehobene Erbe einer im Ansatz neuplatonisch begründeten, aber christlich gebrochenen mittelalterlichen Ästhetik. Die Vermittlung dürfte über die Platoniker des 12. Jahrhunderts, insbesondere, wie sich bei Gottfried von Straßburg zeigen läßt, über Alanus gelaufen sein. Es ist dann aber zu einer eigenständigen Entwicklung gekommen. Ihre überraschende Pointe besteht darin, daß in dieser neuen volkssprachlichen Literatur Differenzerfahrung über die Opposition zwischen absoluter Idee und bedingter Wirklichkeit rein anthropologisch, also außerhalb des traditionellen theologischen Rahmens durchgespielt wird.
64
Siehe dazu meine Studie „Autorität und fiktionale Freiheit“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 115–127, hier S. 119–127. 65 Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994. 66 Vgl. meine Studie „Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des ›Parzival‹-Prologs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 145–159, insbes. S. 154– 156.
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In der These von der Wahrheit der Fiktion erfüllt sich die höchste Möglichkeit der mittelalterlichen Literarästhetik. Damit ist Platons berühmtes Diktum, daß die Dichter lügen, ins Gegenteil verkehrt. Man kann mit Johannes von Salisbury – aber in einem sehr viel weiter gehenden Sinn – sagen: mendacia poetarum inserviunt veritati (I,186).67
67
Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Clement C. J. Webb, 2 Bde., Oxford 1909.
3. Das dunkle Licht Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik bei Dionysius Areopagita, Johannes Scotus Eriugena und Nicolaus Cusanus
Gegen Ende seines turbulenten Lebens landet Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus auf einer paradiesischen Insel im Indischen Ozean und fristet da ein frommes Einsiedlerdasein. Um, wie es heißt, „seinen christlichen Geist aufzumuntern“, schreibt er Sprüche an die Bäume. Diese Sprüche sind sehr merkwürdig, und die holländische Schiffsmannschaft, die schließlich auf diese Insel stößt und die Sprüche entdeckt, ist sich nicht gleich im klaren, ob sie von einem Verrückten stammen oder von einem frommen Christen. Der Schiffsgeistliche kommt dann aber doch zum Schluß, daß es sich um einen „sinnreichen Poeten“ handeln müsse, der „viel mit der Betrachtung himmlischer Dinge umgehe“. Der vornehmste Spruch aber, den sie finden, lautet: Ach allerhöchstes Gut! du wohnest so im finstern Licht! Daß man vor Klarheit groß, den großen Glanz kann sehen nicht.
Und dazu wird bemerkt: „So weit kommt ein Mensch auf dieser Welt und nicht höher, es wolle ihm denn Gott das höchste Gut aus Gnaden mehr offenbaren.“1 Der Gedanke, den Simplicissimus in seinem Spruch zum Ausdruck bringt, daß das Höchste, was der Mensch erreichen kann, eingetaucht ist in ein dunkles Licht, das zugleich so hell strahlt, daß man nichts mehr zu sehen vermag, dieses Oxymoron ,dunkles Licht‘ oder ,lichte Finsternis‘ ist zur Zeit Grimmelshausens über tausend Jahre alt. Und wir wissen, wer es geprägt hat, nämlich ein griechisch schreibender Theologe, der sich Dionysius Areopagita nannte und sich damit als jener Athener ausgab, der, wie die ›Apostelgeschichte‹ (17,34) berichtet, von Paulus bei seiner Areopagrede über den unbekannten Gott bekehrt worden ist. In Wirklichkeit lebte dieser Dionysius, oder wie immer er geheißen haben mag, um 500, denn er hat in seinen Schriften u. a. Proklos benützt, der 485 gestorben ist. Das hat man freilich, obschon schon früh Zweifel aufkamen, erst im 19. Jahrhundert unwiderruflich aufgedeckt. Bis dahin galt der angebliche Apostelschüler als hohe Autorität, gewissermaßen als Sprachrohr des Paulus, und die bedeutendsten Theologen des Mittelalters, u. a. Hugo von St. Viktor, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, haben sich mit ihm auseinandergesetzt. Es ist spannend zu sehen, wie diese Auseinandersetzung vor sich ging und was das für das abendländische Denken bedeutet hat. Doch zur Erinnerung vorweg ein Blick auf das, was von diesem Dionysius auf uns gekommen ist. Es sind vier Abhandlungen 1
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus, hg. v. Alfred Kelletat, Darmstadt 131985, S. 591.
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und 10 Briefe. Die 1. Abhandlung: ›Von göttlichen Namen‹ (›De divinis nominibus‹),2 bespricht die Bezeichnungen, die Gott gegeben werden, also Gott als Güte, Leben, Weisheit, Macht usw. Die 2. Abhandlung: ›Über die Himmlische Hierarchie‹ (›De caelesti hierarchia‹), bietet in 15 Kapiteln eine triadische Stufenordnung der Engel und ihrer Symbolik; die 3. Abhandlung: ›Über die Kirchliche Hierarchie‹ (›De ecclesiastica hierarchia‹), beschreibt in ebenfalls triadischer Gliederung die Ordnung der Kirche: drei Sakramente, drei lehrende Stände und drei untergebene Stände, und schließlich 4.: ›Die Mystische Theologie‹ (›De mystica theologia‹): sie handelt von der mystischen Vereinigung mit Gott. Die Briefe, an unterschiedliche Adressaten gerichtet, bieten Ergänzungen zu den Abhandlungen sowie seelsorgerliche Anweisungen.3 Worin bestand, abgesehen von der von Dionysius in Anspruch genommenen Autorität als Apostelschüler, das Faszinosum dieser Schriften? Weshalb konnten sie das abendländische Denken über die Jahrhunderte hin immer wieder neu beschäftigen? Das Kühne, ja Provozierende bestand darin, daß Dionysius es unternommen hat, die neuplatonische Philosophie programmatisch in christliche Theologie umzusetzen, oder sollte man besser sagen: die christliche Theologie in ein neuplatonisches Gewand zu kleiden? Es kommt ganz darauf an, wie man diese Verchristlichung der neuplatonischen Philosophie beurteilt: als philosophische Vermittlung der evangelischen Botschaft oder ihre hellenistische Verfälschung. Konkret zielt die Frage auf die Bedingungen, unter denen eine Verschmelzung von neuplatonischer Philosophie und Evangelium denkbar wurde. Um diese Bedingungen klarlegen zu können, muß ich Ihnen einen Aufriß des neuplatonischen Konzepts zumuten. Ich halte mich an Plotin4 und Proklos5. Proklos, der als Vermittler zu Dionysius fungierte, folgte Plotin in den Grundzügen seines Systems, auch wenn er neu auf Platon, insbesondere auf den ›Parmenides‹, zurückgriff und dabei die Akzente etwas anders setzte, worauf ich aufmerksam machen werde. Ich kann hier selbstverständlich nicht das hochkomplexe Gedankengebäude der plotinisch-proklischen Philosophie darstellen, ich muß mich auf die Kernpunkte beschränken, die für die Weiterwirkung des neuplatonischen Gedankenguts von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Es sind vier Punkte: nämlich l. Die Metaphysik des Einen, 2. Der Aufstieg zum Einen über die negative Theologie, 3. Die Lichtmetaphysik, und 4. Der Überstieg ins Eine in der Ekstasis.
2
Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, hg. v. Beate R. Suchla (Patristische Texte und Studien 33), Berlin, New York 1990. 3 Pseudo-Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia. De ecclesiastica hierarchia. De mystica theologia. Epistulae, hg. v. Günter Heil u. Adolf M. Ritter (Patristische Texte und Studien 36), Berlin, New York 1991. 4 Plotins Schriften, übers. v. Richard Harder, Neubearb. mit griech. Lesetext u. Anmerkungen, fortgef. v. Rudolf Beutler u. Willy Theiler, 6 Bde., Hamburg 1956–1971. 5 Proklos, The´ologie Platonicienne, hg. u. übers. v. Henri D. Saffrey u. Leendert G. Westerink, 6 Bde., Paris 1968–1997; The Elements of Theology, hg., übers. u. komm. v. Eric R. Dodds, Oxford 1933 (21963, Neudr. 1992); Commentary on Plato’s ,Parmenides‘, übers. v. Glenn R. Morrow u. John M. Dillon, Einl. u. Anmerkungen v. J. M. Dillon, Princeton 1987.
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3. Das dunkle Licht
1. Die Metaphysik des Einen Die Grundlage war das platonische Aufstiegsmodell, der Ascensus von den sinnlichen Dingen zu den intelligiblen, dann zu Ideen und schließlich zu einem letzten Prinzip, dem Einen, dem εÏ ν. Und es ist diese Hen-Spekulation, die von den Neuplatonikern, insbesondere von Plotin und Proklos extensiv ausgearbeitet worden ist. Das Eine als letztes Prinzip ist absolute Transzendenz, es ist als solche jenseits von allem, also auch jenseits des Seins, es ist Nicht-Sein, es ist Nichts; es ist auch jenseits des Denkens, indem es jenseits der Entzweiung von Denken und Gedachtem ist, es ist nicht-denkendes Denken. Als Eines ist es aber auch der Grund der Vielheit, indem es in die Vielheit ausfließt, als stufenweise Emanation über νουÄ ς, ψυχη bis hinunter zur υÏ λη, zur Materie. Dieses Ausfließen (προ οδος) ist jedoch gleichzeitig, besser gesagt: in der Zeitlosigkeit der Transzendenz, ein In-sich-Zurückkehren (εÆ πιστροϕη ). Damit entfaltet sich das Eine, ohne entfaltet zu sein. Es geht aus sich heraus und bleibt doch in sich. Es ist alles und doch jenseits von allem. In diesem Konzept des Einen gründet dann:
2. Die negative Theologie Das Eine als das schlechthin Transzendente ist begrifflich nicht zu fassen. Alles, was positiv über es zu sagen ist, muß überstiegen werden. Proklos hat dies dann zu einem voll ausgebauten dialektischen Doppelweg weiterentwickelt, also einem Weg des Denkens zunächst über das Affirmative, über die positiven Zuschreibungen: Gott als Güte, Wahrheit, Ewigkeit usw. Doch da diese affirmativen Aussagen Gott nicht zu fassen vermögen, müssen sie je und je verneint werden. Ja, da das Eine jenseits von allem Benennbaren ist, ist selbst die Bezeichnung ,das Eine‘ letztlich nicht statthaft. Es ist das Über-Eine. Das εÏ ν ist ein Nichts in der Bedeutung von υë πε ρ, als Über-Sein über allem. Die Negation hat zwar erkenntnistheoretisch den Vorrang vor der Affirmation, aber wie diese muß auch die Negation letztlich verneint werden. In der Negation der Negation übersteigt das „Denken sich selbst auf das hin, was jenseits alles Denkens und darum auch jenseits aller Verneinung ist.“6
3. Die Lichtmetaphysik Und doch nennt Plotin das Eine ,Licht‘: ein Licht, das ausstrahlt und doch in sich bleibt. In seinem Ausstrahlen durchleuchtet es alles, was sich aus dem Einen ausfaltet. Auffälligerweise wird nun aber diese Bezeichnung nicht negiert. Wie ist das zu verstehen? Konkret gefragt: Was heißt hier ,Licht‘? Handelt es sich um eine Metapher, eine absolute Metapher im Sinne Blumenbergs, die für etwas steht, was unbegriffen bleiben muß? Das metaphorische Verfahren überträgt bekanntlich die kulturell geprägte Quintessenz eines Bildbereichs auf einen ihm fremden Gegenstand, z. B. die Wahrheit als 6
Jens Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, S. 161.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Licht. Dabei ist die Wahrheit so wenig wirklich ein Licht, wie Achill ein Löwe ist, wenn man sagt, er sei ,ein Löwe in der Schlacht‘. Wenn man jedoch das transzendente Eine ,Licht‘ nennt, so handelt es sich nur scheinbar um eine Metapher, denn in Wirklichkeit wird dem Einen damit nicht eine neue Qualität vermittelt, vielmehr bringt das Licht allein das zum Ausdruck, was das Eine von sich aus wesentlich ist: ein Aus-sich-Heraustreten, das doch ein Darin-Bleiben ist, so wie das Licht ausstrahlt und doch es selbst bleibt. Das Eine als Licht strömt aus über die Stufen des Seins, wobei jede Stufe ihr Licht von der höheren empfängt und sie an die nächste niedrigere weitergibt, um dabei in sich selbst zurückzukehren. Man hat es also mit einem metaphysischen Licht zu tun, mit einer lux intelligibilis. ,Licht‘ ist hier somit weder Name noch Metapher, sondern die Sache selbst. Und doch darf das irdische Licht als Bild für das metaphysische Licht verwendet werden, da man nur uneigentlich von dem unbegreifbar Einen und seinem in sich bleibenden Sich-Entfalten sprechen kann. Es ist wichtig, an dieser Unterscheidung zwischen dem Licht als metaphysischer Realität und der Lichtmetapher festzuhalten, denn es gibt Interpreten, die das Verhältnis verunklären.
4. Der Überstieg in der Ekstasis Ist es für den Menschen möglich, sich in das Eine, das Licht ist, zu begeben? Denkend kann er es als absolut Transzendentes nicht erreichen. Er muß sich vom diskursiven Denken abkehren, alles Begriffliche, jede Intentionalität zurücklassen und sich ganz nach innen wenden, und bei dieser Wende kann es zu einer intuitiven, schlagartigen Erleuchtung kommen, zu einer Ekstasis, in der das Denken sich selbst aufhebt und eins wird mit dem Einen. Es ist dies ein plötzlicher, ein nicht verfügbarer Überstieg. Plotin spricht bezüglich dieser ekstatischen Einung, der εÏ νωσις, auch von einem Berühren, um sie als einen Vorgang jenseits der Subjekt-Objekt-Relation des diskursiven Erkennens zu charakterisieren. Proklos hat diesen Überstieg dann als Dreischritt gekennzeichnet, als Abfolge von Reinigung, Erleuchtung und Einswerdung: Reinigung als Abkehr vom Äußeren, Erleuchtung als Eintreten ins innere Licht und Einswerdung als Übersprung in das Eine: κα θαρσις, ϕωτισµο ς, εÏ νωσις. Aber man darf darunter nicht eigentlich eine zeitliche Abfolge verstehen, vielmehr meint der Dreischritt nur drei Momente des einen Akts der Wende. Die Hen-Metaphysik, die negative Theologie, die zum Einen hinführt, ohne es zu erreichen, die Lichtmetaphysik, die über den Akt der Erleuchtung den Dreischritt begründet, und schließlich die ekstatische Einigung: das ist ein grandioses, und wenn man seine Prämissen akzeptiert, in sich stringent geschlossenes System. Damit zurück zu unserer Ausgangsfrage: Unter welchen Bedingungen konnte Dionysius dieses System in christliche Theologie umsetzen? Oder anders gefragt: mit welchen Schwierigkeiten mußte eine solche Umsetzung fertig werden? Die Bedingungen bzw. die Schwierigkeiten liegen auf der Hand, auch wenn sie von manchen Interpreten heruntergespielt werden. Dionysius mußte das neuplatonische εÏ ν mit dem biblischen Schöpfergott gleichsetzen und die Emanation zum Schöpfungsakt umdeuten. Beides bringt Probleme mit sich. Ein willentlicher Schöpfungsakt in sechs Tagen ist ja etwas ganz
3. Das dunkle Licht
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anderes als eine aus einem letzten Prinzip fließende Emanation. Und wie ist die Christologie einzubringen? Läßt sich im neuplatonischen Konzept eine Systemstelle für die Inkarnation finden? Nun, Dionysius hat sich zunächst einmal die Umgestaltung dadurch erleichtert, daß er das neuplatonische System gewissermaßen in seine Elemente auseinandergebrochen hat, um sie in seinen vier Abhandlungen teils je für sich und teils in Kombination aufzugreifen und sie dabei in seiner Perspektive umzuformulieren. Die vorhin herausgestellten vier Grundelemente des neuplatonischen Konzepts werden von Dionysius in folgender Weise aufgegriffen: Die Grundelemente 1 und 2, die Metaphysik des Einen und die negative Theologie, hat er in den ›Göttlichen Namen‹ abgehandelt, also unter dem Aspekt der Bezeichnungen, die man für Gott verwendet: Die Doppelstrategie der affirmativen und negativen Theologie bleibt in enger Anlehnung an Proklos bestimmend. Also: die Bezeichnungen für Gott – Gott als das Sein, die Wahrheit, die Schönheit usw. –, kurz: alles Positive, das man über Gott sagen kann, ist unzureichend, letztlich unzulässig, es muß durch die negative Theologie überschritten werden: Gott ist das Übersein, die Überwahrheit, das Übergute etc. Am Schluß wird dann aber überraschenderweise auch das Eine als göttlicher Name angeführt, aber ohne den für den Neuplatonismus zentralen Gedanken des Sich-Ausgießens und Zurückfließens, nur als Name unter andern, und als solcher muß er dann ebenfalls überstiegen werden. Damit wird das Eine als Gottesname in einer Reihe von Namen auf ein Bezeichnungsproblem reduziert und die Metaphysik des Einen ausgeblendet. Es scheint, daß damit die Basis des neuplatonischen Systems preisgegeben wird, doch das gilt nicht grundsätzlich, sondern nur in diesem Zusammenhang. Es zeigt sich damit besonders deutlich die Zerrissenheit in der Rezeption des neuplatonischen Gedankenguts bei Dionysius. Punkt 3: Die Lichtmetaphysik. Dieses Thema wird in der ›Himmlischen Hierarchie‹ abgehandelt. Dabei ist an die Stelle der kosmischen Stufung aufgrund der Emanation eine neue Hierarchie getreten, die Hierarchie von neun Engelchören, deren Namen Dionysius aus Bibelstellen zusammengelesen hat, und ihr korrespondiert die ›Kirchliche Hierarchie‹. Dabei hat er den neuplatonischen Gedanken des ausströmenden Lichts in diese Hierarchien eingebunden, d. h. aus dem neuplatonischen System das Lichtgeben und Lichtempfangen von einer Stufe zur andern übernommen, und dies nach Proklos auch als Basis für den Dreischritt dargestellt, wobei man im Gegensatz zu ihm nun doch an eine zeitliche Stufung zu denken hat. Dies wird auch dadurch deutlich, daß er den dritten Schritt nicht als εÏ νωσις, sondern als τελει ωσις: ,Vollendung‘, bezeichnet. Entsprechend erscheint dann in der lateinischen Tradition die via triplex als Abfolge von purgatio, illuminatio und perfectio. Dabei ist zu beachten, daß der Begriff der εÏ νωσις das Einswerden mit dem εÏ ν zum Ausdruck bringt. τελει ωσις ist unbestimmter und für verschiedene Interpretationen offen. Es scheint, daß Dionysius es vermeiden wollte, die Unio zu eng an den Dreischritt zu binden. Er hat ihr denn auch einen eigenen Traktat gewidmet, der, wie gleich zu zeigen sein wird, ganz anders ansetzt. Doch zunächst: Kann man bei Dionysius noch von Lichtmetaphysik sprechen? Er sagt, den 1. ›Jakobusbrief‹ 17 zitierend, gleich einleitend, daß Gott der Vater der Lichter ist und Jesus als das Licht des Vaters anzusprechen sei. Aus dem Vater ergießt sich das Licht auf uns und, indem es uns erleuchtet, führt es uns aus der Vielfalt des Seienden
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zur ursprünglichen Einheit, zu sich selbst, zurück. Es liegt nahe, dieses Licht, das uns erleuchtet, metaphorisch zu verstehen: Christus als Licht. Doch wenn man die Trinität als undifferenziert-differenzierte Einheit faßt, in der Christus als zweite Person mit dem Vater eins ist und als verbum die Schöpfung trägt, dann kann man schwerlich umhin, dies doch wieder vor dem Hintergrund der neuplatonischen Lichtmetaphysik zu sehen. Dionysius sagt denn auch explizit, Jesus sei die transzendente Ursache alles Seienden, in Christus habe sich Gott im Wort selbst geoffenbart, er bleibe dabei aber transzendent und verborgen. Damit ist die Christologie über die trinitarisch verstandene Identität der göttlichen Personen in die Hen-Metaphysik hereingenommen. Man kann also sagen: Die neuplatonische Formel vom Einen, das ausströmt und doch in sich selbst bleibt, heißt in christlicher Umformulierung: Gott ist als zweite Person in allem und als erste Person doch jenseits von allem, wobei das von der Identität der Personen her auch wechselseitig gilt. Nun kann Dionysius das irdische Licht aber auch ειÆ κω ν, ,Bild‘, des metaphysischen Lichtes nennen. Schon die Neuplatoniker haben dies, wie erwähnt, getan. Aber – und das hatte für die weitere Entwicklung des Konzepts gravierende Folgen – die Bildvorstellung mußte vom christlichen Schöpfungsgedanken her in eine neue Perspektive treten, eine Perspektive, die nur bedingt mit der neuplatonischen Metaphysik vereinbar war. Betrachtet man das Irdische nicht als Ausfluß des Einen, sondern als Werk eines Schöpfers, dann folgt daraus, daß es von ihm geprägt ist, daß es dessen Spur in sich trägt. Für das Verhältnis des Absoluten, des Ewigen, zum Bedingten, zum Zeitlichen, bedeutet dies, daß das Göttliche im Irdischen in gewisser Weise präsent und doch abwesend ist: das Endliche ist Bild des Ewigen, oder mit dem 1. ›Korintherbrief‹ 13,12 gesagt: wir sehen die Wahrheit hier nur per speculum in aenigmate: indirekt wie in einem Spiegel; erst in der Ewigkeit werden wir sie facie ad faciem, von Angesicht zu Angesicht, also unmittelbar erkennen. Die Formel des Dionysius für dieses Verhältnis des Endlichen zum Ewigen lautet: unähnliche Ähnlichkeit, αÆ νο µοιος οë µοιο της. Gott ist hierbei nicht mehr alles in allem und doch jenseits von allem, sondern er ist in der Schöpfung gewissermaßen abgeschwächt präsent und somit bedingt faßbar. Das 4. Laterankonzil von 1215 wird dies dann zuspitzend präzisieren: Ähnlichkeit bei je größerer Unähnlichkeit. Das heißt: Alles, was erscheint, ist nur bildhaft, sinnbildlich, analog zu verstehen. Und diese Bildhaftigkeit muß bewußt gemacht werden, damit wir von ihr zum Bildlosen weitergeführt werden. Der Weg dahin geht notwendigerweise von der Ähnlichkeit zur Differenz, zu der je größeren Differenz. So spreche auch, sagt Dionysius, die Heilige Schrift in Bildern von Gott und den Engeln, doch diese Beschreibungen seien nicht wörtlich zu nehmen, sie würden nur mit Rücksicht auf unser beschränktes Erkenntnisvermögen verwendet, ihr Sinn bestehe vielmehr darin, uns zu veranlassen, sie in ihrer bloßen Bildlichkeit zu erkennen und sie zu übersteigen. Man dürfe also nicht etwa denken, die Engel seien, wie die Bibel sie schildert, Wesen mit vielen Füßen und Gesichtern und nach tierischen Figuren, nach Stieren oder Löwen, gebildet oder liefen als feurige Räder über den Himmel. Es seien diese Verbildlichungen mit Absicht häßlich und grotesk, damit wir nicht am Bildlichen haften bleiben sollen. Man könne zwar für das Göttliche auch schöne Bilder und angemessenere Ausdrücke finden: Gott als Licht oder als Leben, aber es sei besser, unschöne Bilder zu verwenden, damit man sich ihrer prinzipiellen Unangemessenheit bewußt bleibe. Deshalb sind auch verneinende Aussa-
3. Das dunkle Licht
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gen über Gott besser als bejahende. Man könne Gott zwar als ,Licht‘ bezeichnen; da seine Lichthaftigkeit aber nicht mit dem zu vergleichen ist, was für unser Auge Licht ist, so sei es vorzuziehen zu sagen, er sei das Dunkel, aber da auch dies nicht angemessen ist, sollte man noch besser von ,lichter Finsternis‘ oder von ,dunklem Licht‘ sprechen. So kommt Dionysius zu dem berühmten, über die Jahrhunderte nachwirkenden Oxymoron. Dabei ist festzuhalten, daß diese Prägung nur dadurch möglich geworden ist, daß das irdische Licht von Dionysius an dieser Stelle wie alles Geschaffene als bloßes Bild einer metaphysischen Realität und nicht eingebunden in einen metaphysischen Prozeß verstanden worden ist. Doch angesichts des Paradoxons von der unähnlichen Ähnlichkeit geraten wir dabei mit unserer Begrifflichkeit in gewisse Schwierigkeiten. Das Moment der Ähnlichkeit öffnet sich zunächst einer metaphysischen Perspektive. Durch die radikale Differenz wird dies dann aber gleich negiert. Damit steht man vor einer Problematik, die der Neuplatonismus nicht kannte und die die Dionysius-Rezeption immer neu beschäftigen wird. Zwei Vorstellungen stehen nebeneinander, auf der einen Seite das εÏ ν als metaphysisches Licht, das den Kosmos durchwirkt und die Wende ins Innere, zur inneren Lichterfahrung, anstößt, was identisch ist mit dem Eintritt ins Licht des Einen. Auf der andern Seite der Blick nach außen auf die Schöpfung, die bildlich auf das Göttliche verweist, dabei aber die Erkenntnis der Differenz fordert, bis hin zur totalen Negation alles Affirmativen. Es gibt vielfache Berührungen und Verschränkungen zwischen den beiden Sichtweisen; sie können nebeneinander zur Geltung kommen, ohne daß man die Widersprüchlichkeit thematisiert oder gar problematisiert hätte, aber sie können auch deutlich auseinandertreten und sich ausschließen. Dann Punkt 4: Die Ekstasis. Dionysius hat sie in der ›Mystischen Theologie‹ aufgegriffen, und dies überraschend, d. h. völlig unvorbereitet in Form eines einleitenden Gebets. Dieses Gebet ist ein stilistisches Akrobatenstück und kaum zu übersetzen. Ich versuche es trotzdem, um Ihnen wenigstens einen entfernten Eindruck von der Schreibund Denkweise dieses seltsamen christlichen Neuplatonikers zu geben. Dionysius ruft die Trinität an: Überseiende Dreieinigkeit, übergöttliche, übergute – Führerin zum christlichen Gotteswissen, führe uns auf den höchsten Gipfel mystischen Wissens jenseits von Erkennbarkeit und Licht, wo die einfachen, unverhüllten und unwandelbaren Geheimnisse des Gotteswissens im überlichten Dunkel des geheimnisumhüllten Schweigens enthüllt werden; in ihrer höchsten Finsternis überstrahlen sie das Überleuchtendste, und im gänzlich Unfaßbaren und Unsichtbaren erfüllen sie völlig unseren blinden Geist mit überschönen Herrlichkeiten.7
Und dann wird ein Freund, Timotheus, angesprochen, und es wird ihm geraten, alles Erkennbare und Verstehbare zurückzulassen und aufwärts zu streben zur Vereinigung mit dem, der jenseits von Wissen und Sein ist. Wenn er, Timotheus, sich selbst und alle Dinge völlig zurücklasse, alles abstreife und sich von allem befreie, werde er hinaufgehoben in den Lichtstrahl des göttlichen Dunkels, das über allem ist, was ist. Damit ist etwas höchst Verblüffendes geschehen. Aus der Bezeichnung ,dunkles Licht‘, die nur einmal mehr besagen sollte, daß Gott in keiner Weise benannt, mit 7
Ps.-Dionysius Areopagita [Anm. 3], S. 141,1–142,4.
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Bildern oder Begriffen erfaßt werden kann, so daß also auch die Bezeichnung ,Licht‘ überstiegen werden muß, wird nun unvermittelt doch eine metaphysische Realität, in die man durch einen besonderen Akt des Überstiegs, einer Ekstasis hinaufgehoben werden kann, einer Ekstasis jedoch, die erbeten wird als gnadenhaftes Entgegenkommen der Trinität. Dabei wird Bezug genommen auf den Aufstieg des Moses auf den Sinai – Ex 19 und 20 –, wo Gott in der Dunkelheit, in caligine nubis, unter Donner, Blitzen und mit Posaunenschall zu ihm kommt. Dionysius verdankt diese Vorstellung der Begegnung mit Gott im Dunklen Gregor von Nyssa, der eine entsprechende Exegese Philos von Alexandrien aufgegriffen hatte. Dionysius interpretiert den SinaiAufstieg des Moses folgendermaßen: Er macht sich los von allem, was gesehen werden und was man sehen kann, und sinkt hinein in das wahre mystische Dunkel des Nichterkennens (. . . ), und er tritt ein in das gänzlich Unfaßbare, niemandem mehr, weder sich noch einem andern angehörend, geeint mit dem gänzlich Unerkennbaren.8
Also fast wörtlich das, was dem Freund Timotheus zugemutet worden ist. Eine Einung, eine εÏ νωσις, in der Dunkelheit. Und das läßt letztlich das Oxymoron zurück, die radikal apophatische Sicht hat den Vorrang, und es wird auch in der langen Tradition, die sich daran anschließt, so bleiben, bis hin zu Juan de la Cruz. Erst hinterher, nach dem zitierten einleitenden Gebet und dem Wort an Timotheus, wird mit explizitem Hinweis auf den Traktat von den göttlichen Namen die Wegleitung über die negative Theologie nachgetragen, also doch eine Vorbereitung zur Ekstasis angeboten. Als Nachtrag dürfte dies doch deutlich machen, daß der Übergang ein unverfügbarer Akt ist. Immerhin sollte der Rückgriff unter systematischem Aspekt hilfreich werden, denn gerade ihn hat man in der Rezeption aufgegriffen und ausgebaut, d. h. den Weg zur unio mystica als Prozeß entworfen mit der Ekstasis als Zielpunkt, freilich stets im Bewußtsein, daß der letzte Schritt christlich nur als Gnadenakt denkbar ist. Auf der andern Seite tritt die ›Mystische Theologie‹ in einen gewissen Kontrast zur Vorstellung der lichtdurchdrungenen ›Himmlischen Hierarchie‹. Diese setzt ja Gott im neuplatonischen Sinne als Quelle des ausströmenden Lichts voraus, und das verträgt sich nur bedingt mit dem göttlichen Dunkel in der ›Mystica theologia‹, auch wenn dieses Dunkel ,überhelles Licht‘ genannt werden kann. Solche Widersprüche in dem von Dionysius verchristlichten Neuplatonismus erscheinen aber, wie gesagt, dadurch abgemildert, daß die Grundthemen auf mehrere, nur bedingt integrierte Traktate verteilt worden sind. Die Rezeption wird dann versuchen, doch ein geschlossenes System darauf aufzubauen. Somit zur weiteren Geschichte des Dionysius und seines Werks. Und diese Geschichte zeigt sich, wie schon angedeutet, als eine der großen Provokationen des abendländischen Denkens, aber sie ist auch rein äußerlich wahrhaft abenteuerlich. Das Corpus der Dionysischen Schriften ist im 9. Jahrhundert in einer spektakulären Transmission nach dem Westen gekommen: der byzantinische Kaiser Michael II. hat es Ludwig dem Frommen zum Geschenk gemacht, da er gehört habe, daß man den Dio8
Ebd., S. 144,9–14.
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nysius auch im Frankenreich verehre. Das war freilich ein anderer Dionysius, nämlich der Missionar Galliens, Bischof von Paris, aus dem 3. Jahrhundert, dessen Gebeine in St. Denis, dem französischen Königskloster, ruhten. Der Abt von St. Denis, Hilduin, der sich auch gleich an einer ersten Übersetzung des Dionysischen Corpus versuchte, hat sich nicht gescheut, das kaiserliche Mißverständnis aufzugreifen und den Autor des Corpus mit dem gallischen Missionar in eins zu setzen und so den angeblichen Paulusschüler zum Nationalheiligen des Frankenreiches zu machen. Die Folgen dieser Klitterung waren unabsehbar, politisch wie theologiegeschichtlich. Da Hilduins Übersetzung des schwierigen griechischen Textes offenbar nicht sehr befriedigend war, hat Karl der Kahle dann Johannes Scotus Eriugena – wie der Name sagt, einen Iren – zu einer neuen Übersetzung veranlaßt (860–62). In Irland, das von der Völkerwanderung verschont geblieben war, konnte man noch Griechisch. Eriugena hat sich nicht mit einer Übersetzung und Kommentierung begnügt, sondern er hat unter Heranziehung weiterer Quellen östlicher Theologie – insbesondere Gregor von Nyssa und Maximus Confessor – auch eine eigene kühne Philosophie daraus entwickelt und in seinem Hauptwerk ›De divisione naturae‹ / ›Periphyseon‹9 – dargestellt. Das Überraschende dabei ist, daß er sich als erster zugleich bemüht hat, hinter die neuplatonischen disjecta membra bei Dionysius zurückzugreifen und ein geschlossenes philosophisches System zurückzugewinnen. Die Grundlage für Eriugenas Denken bildet ein ontologisches Konzept, das er in einer berühmten Schlüsselthese formuliert hat; sie lautet: ,Alles, was ist, ist Theophanie‘, Erscheinung des Göttlichen in der Welt. Das ist dezidiert lichtmetaphysisch zu verstehen, selbstverständlich in christlich-trinitarischer Umformulierung. Die schon zitierte Stelle aus dem 1. ›Jakobusbrief‹ aufgreifend, sagt er, daß Gott der Vater der Lichter ist, d. h., er ist per se ipsum lux, und dieses Licht ergießt sich als schöpferisches Wort, das mit dem Licht des Vaters identisch ist, in alles, was ist. Deshalb kann er sagen, daß alles Geschaffene lichthaft sei. Und als solches ist es dem menschlichen Intellekt, indem es ihn erleuchtet, zugänglich. In einem berühmten Passus in seinem Kommentar zu des Dionysius ›Himmlischer Hierarchie‹ erklärt er, weshalb auch ein Stein oder ein Holzstück für den Betrachter ein Licht sein könne, inwiefern also die von göttlichem Licht getragene und durchdrungene Schöpfung zur Erleuchtung zu führen vermag. Er sagt: Wenn ich diesen oder jenen Stein betrachte, erfahre ich vieles, was meinen Geist erleuchtet. Ich bemerke nämlich, daß er gut ist und schön, daß er das ihm entsprechende Sein besitzt, daß er sich in seiner Gattung und Art von den übrigen Gattungen und Arten unterscheidet, daß er seiner Zahl nach ein Einzelnes ist, daß er innerhalb seiner Seinsordnung bleibt, daß er aufgrund seiner spezifischen Schwere dem ihm gemäßen Ort zustrebt. Indem ich nun in diesem Stein diese und ähnliche Eigentümlichkeiten erkenne, werden sie für mich zu Lichtern, d. h., sie erleuchten mich. Ich beginne nämlich nachzudenken, woher solches dem Stein zukommt, und ich sehe, daß er es nicht dadurch besitzt, daß er in natürlicher Weise an der sichtbaren und unsichtbaren ge9
Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon / De divisione naturae, hg. v. Inglis P. Sheldon-Wil´ douard Jeauneau (Bd. 4), Dublin 1968–1996; Übersetzung: Johannes liams (Bde. 1–3) u. E Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, übers. v. Ludwig Noack, 2 Bde., Hamburg 1870/1874 (Neudr. 1984).
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schöpflichen Welt teilhat, und alsbald werde ich unter der Führung der Vernunft über alles einzelne hinweg zur Ursache aller Dinge geführt, von der her allem sein Ort und sein Rang, seine Zahl, seine Gattung und seine Art, sein Gutsein und seine Schönheit und sein Wesen und alle übrigen Eigentümlichkeiten und Gaben zugeteilt werden. Und so geht von allem Geschöpflichen, vom höchsten bis zum geringsten, d. h. vom Geistigen bis zum Körperlichen, ein Licht aus, das jene führt, die sich dem Lob Gottes hingeben und ihren Gott eifrig suchen und sich bemühen, ihn in allem Strahlenden zu finden (. . . ). Und daher kommt es, daß dieses ganze Weltgebäude zu einem gewaltigen Licht wird, das aus vielen Einzelteilen wie aus vielen Leuchten zusammengesetzt ist, so daß die intelligiblen Dinge in der Reinheit ihrer Art offenbar werden und im Innersten des Geistes geschaut werden können, wobei die göttliche Gnade und das Vermögen der Vernunft im Herzen der Gläubigen und Wissenden zusammenwirken.10
Was in den Dingen aufleuchtet und dann den Betrachter erleuchtet, ist die vom Wort geprägte intelligible Ordnung der Schöpfung. Die Erkenntnis der Gattung und Art aller Dinge, die Einsicht in ihre Schönheit und ihr Gutsein, führen zur Ursache dieser Ordnung, zu Gott zurück. Deshalb ist alles, was ist, ein großes Licht, in dem das Intelligible in den Dingen zur Erscheinung kommt. Aber wohlgemerkt: Vernunft und Gnade müssen dabei zusammenwirken, d. h., im Erkenntnisprozeß wird die Differenz im christlichen Sinne festgehalten. Zu beachten ist dabei das eigentümliche Ineinander von Schauen und Denken: das Leuchten der Dinge führt zur Erleuchtung. Doch in konsequenter Fortführung neuplatonischen Denkens muß der dialektische Umschlag erfolgen. Die entscheidende, oft zitierte Stelle steht in ›Periphyseon‹, III: Theophanie heißt nicht nur Erscheinung des Göttlichen in der Welt, sondern zugleich sein Nicht-Erscheinen: das göttliche Licht strömt aus und bleibt doch in sich selbst. Eriugena kennzeichnet dies als nicht-erscheinendes Erscheinen, Offenbarung dessen, was verborgen bleibt, Affirmation der Negativität des göttlichen Grundes: non apparentis apparitio, occulti manifestatio, negati affirmatio, incomprehensibilis comprehensio.11 In diesem Paradox öffnet sich eine Kluft. Die Erleuchtung führt zu ihr hin, aber es ist nicht von einer Ekstasis die Rede, die über sie hinwegzuführen vermöchte. Die Erleuchtung zielt darauf, die unlösbare Widersprüchlichkeit bewußt zu machen. Auf der andern Seite bezeichnet Eriugena die Erscheinungen aber auch als ,göttliche Metaphern‘. Das sind selbstverständlich keine Metaphern im Sinne unserer Definition. Werner Beierwaltes interpretiert sie als ontologische Metaphern: Bildlichkeit, die doch ontologisch fundiert ist, d. h., das Göttliche ist im Irdischen bildlich anwesend, aber der Bildtheorie gemäß ist die Differenz größer als die Ähnlichkeit.12 Eriugena hat also auch die Dionysische Analogieformel übernommen. Hier wird nun besonders deutlich, daß das Verhältnis von Analogie und Differenz von anderer Art ist als das Paradox der Lichtmetaphysik. Wie gesagt, bietet das Bild, wenn es mehr ist als Veranschaulichung, das Abgebildete in einer gewissermaßen abgeschwächten Form, der gegenüber die je größere Differenz festgehalten werden muß, während im Erscheinen des Nicht-Erscheinenden Präsenz und Nichtpräsenz unvermittelt einander gegenüberstehen. Kein 10
Johannes Scotus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam Coelestem, hg. v. Jeanne Barbet (CCCM 31), Turnhout 1975, Cap. I,109–134. Vgl. „Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition?“, in diesem Bd., S. 251–270, hier S. 257–259. 11 Eriugena, Periphyseon [Anm. 9], Bd. 3, S. 58,12–14. 12 Werner Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994, S. 132.
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Wunder, daß die beiden letztlich inkompatiblen Ansätze in der weiteren Geschichte wieder auseinandertreten konnten. Denn dadurch, daß Eriugena in seiner Philosophie die neuplatonische Metaphysik zurückholte und zugleich von der Dionysischen unähnlichen Ähnlichkeit her dachte, wurde ein zwiespältiges Erbe an das hohe Mittelalter weitergegeben. Auf der einen Seite – um den Gegensatz noch einmal festzuhalten – steht ein Konzept, nach dem das Göttliche in seiner ganzen Fülle ins Irdische einwirkt, ohne daß es über das Erscheinende zugänglich wäre: Gott ist alles, ist in allem und doch über allem; auf der andern steht das der christlichen Schöpfungsidee verpflichtete Analogiemodell, das über die unähnliche Ähnlichkeit die Differenz festhält, das aber doch impliziert, daß man im Irdischen das Göttliche zumindest bedingt wahrzunehmen vermag. Beide Ansätze berühren sich in der Vorstellung, daß man über eine Erleuchtung an einen Punkt gelangen kann, an dem man das Absolute in der Differenz zumindest berührt. So wird denn – um nur ein paar extreme Beispiele zu nennen – Thomas von Aquin dezidiert vom Analogiemodell her denken und auch die Erleuchtungslehre fallen lassen, während Robert Grosseteste es in radikaler Weise unternimmt, die Lichtmetaphysik zu erneuern; auch Eckhart wird die neuplatonische Idee, daß alles Seiende sein Sein, das auch er ,Licht‘ nennt, dem einen, absoluten Sein verdankt, aufgreifen und die Erleuchtung so verstehen, daß dieses absolute Sein sich über die Geburt Gottes in der menschlichen Seele – dem Seinslicht entspricht die scintilla in der Seele – in unzugänglicher Präsenz manifestiert. Auf der andern Seite kommt es auch zu schwer zu analysierenden Zwischenformen, die bald mehr lichtmetaphysisch paradoxe und bald mehr analogische Züge kombinieren. Ein Musterfall ist Suger von St. Denis. Er hat den gotischen Neubau seiner Kathedrale 1140/44 durch Inschriften kommentiert. Seine berühmte Portalinschrift lautet: Wer du auch bist, der du die Pracht dieser Türen rühmen willst, bewundere nicht die Kosten, sondern das Gold und die Mühe, die dieses Werk gemacht hat. Edel erstrahlt das Werk, aber das Werk, das edel erstrahlt, soll den Geist erhellen, daß er durch die wahren Lichter zum wahren Licht (uerum lumen) gelangt, wozu Christus das wahre Tor ist. Von welcher Art das Licht im Innern ist, darauf verweist das goldene Portal hiermit. Der schwerfällige Geist steigt mit Hilfe des Materiellen (per materialia) zur Wahrheit empor; er, der zuvor niedergedrückt war, erhebt sich neu, er aufersteht (resurgit) durch den Anblick dieses Lichts.13
Das Werk, das Gold, strahlt, es erleuchtet den Geist, und diese Erleuchtung besteht in der Einsicht, daß man über das Leuchten zum wahren Licht hingeführt werden kann, über das Materielle zur Wahrheit. Der Ansatz ist hier nicht wie bei Eriugena ein beliebiges Stück Holz oder ein Stein, sondern etwas lichthaft Gegenständliches: Gold, als Bild des wahren Lichtes Christus. Es wird also analogisch gedacht, wobei die Differenz im Gegensatz zwischen dem materiellen Glanz und dem uerum lumen steckt. Und die Einsicht in diese Differenz führt zur Erleuchtung, zu einem Emporgehobenwerden, das geradezu als Auferstehung verstanden wird (resurgit). Es geht also um einen Überstieg über das Materiell-Lichthafte zum wahren Licht, vom Bild zum Sinn. Damit dies bewirkt wird, bedarf das Bauwerk der Inschriften, die zur erleuchtenden Einsicht führen, in der die Differenz übersprungen wird. Anderweitig formuliert Suger diese Anagoge noch deutlicher, persönlicher: 13
Abt Suger von Saint-Denis: Ausgewählte Schriften, hg. v. Andreas Speer u. Günther Binding, Darmstadt 2005, S. 324.
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Als mich einmal aus Liebe zur Pracht des Gotteshauses die vielfarbige Schönheit der Edelsteine von den äußeren Sorgen wegrief und ein tiefes Nachdenken mich dazu trieb, nachdrücklich ihre heiligen Eigenschaften in ihrer Vielfalt vom Materiellen ins Immaterielle hinüberzuführen (transferendo), da glaubte ich mich gleichsam in einer Außenregion des Erdkreises zu sehen, die weder ganz im irdischen Schmutz noch ganz in der Reinheit des Himmels lag, und ich glaubte, daß ich durch Gottes Gnade (Deo donante) in anagogischer Weise von dieser niedrigen zu jener höheren Welt hinübergebracht werden könne (posse transferri).14
Der Ausgangspunkt ist also wieder die leuchtende Schönheit der Kathedrale, insbesondere der Glanz der Edelsteine. Und das ist der Anstoß zu einem Nachdenken, bei dem das Materielle auf das dahinterliegende Immaterielle hin interpretiert wird. Bezeichnend ist wiederum die Verbindung von Anschauung und Hinübergeführtwerden in den Sinn. Es ist ein Denken, das den Denkenden ergreift: transferendo – posse transferri: ,im Denken des übertragenen Sinns hinübergetragen werden‘. Und dazwischen die Bruchstelle im Wissen darum, daß dies aus eigener Kraft nicht zu leisten, sondern allein durch die entgegenkommende Gnade Gottes möglich ist: Deo donante. Blickt man von Sugers Lichtmetaphorik auf Eriugena zurück, so muß sich der Gedanke aufdrängen, daß das, was Eriugena von der lichthaften Erscheinung alles Geschaffenen sagt, hier auf ein Artefakt, ein mit Gold und Edelsteinen geschmücktes Bauwerk, übertragen worden ist. Die ältere Forschung – Erwin Panofsky, Hans Sedlmayr und Otto von Simson vor allem – hat diese Meinung dezidiert vertreten und die Entstehung der gotischen Kathedrale geradezu auf die Dionysius-Renaissance im 12. Jahrhundert zurückgeführt. Kurz vor Sugers Neubau hatte Hugo von St. Viktor seinen Kommentar zur ›Himmlischen Hierarchie‹ geschrieben. Seit den 1950er Jahren sind jedoch Zweifel an dieser These laut geworden; mit besonderer Schärfe hat Peter Kidson sie artikuliert, und 1995 hat Christoph Markschies die kritischen Bedenken noch einmal zusammengefaßt. Das gravierende Argument lautet: Es fänden sich in Sugers Inschriften keine spezifischen Anklänge an dionysisch-eriugenische Texte. Es genüge als Hintergrund die allgemeine neuplatonisch-christliche Lichtmetaphysik oder auch nur Lichtmotivik. Und die Neuherausgeber der Sugerschen Schriften, Andreas Speer und Günther Binding, teilen diese Meinung. So überzeugend diese Argumentation aber auch scheinen mag, so schwer fällt es doch, sich vorzustellen, daß der hochgelehrte Suger keine Kenntnis vom Dionysischen Corpus gehabt haben soll, das ihm in seiner Abtei zugänglich gewesen sein dürfte und das in so hohem Maße ihren Ruhm begründete. Zumindest aber dürfte er Hugos von St. Viktor Kommentar gekannt haben. Werner Beierwaltes hat denn auch die ältere Position mit guten Gründen verteidigt und den Bezug zu Dionysius/Eriugena noch einmal plausibel gemacht, wenngleich er zugestehen muß, daß ein schlüssiger Beweis nicht zu erbringen ist.15 Wie immer dem aber sei, es sollte nicht übersehen werden, daß Suger nicht lichtmetaphysisch, sondern bildhaft-analogisch denkt. Es fehlt das metaphysische Paradox, es geht um einen Prozeß, der auf die Differenz und den Überstieg ausgerichtet ist. Wenn Dionysius und Eriugena im Hintergrund stehen sollten, dann sind sie ganz entschieden einseitig im Blick auf die unähnliche Ähnlichkeit hin rezipiert worden. 14 15
Ebd., S. 344f. Vgl. Haug [Anm. 10], S. 260–262.
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Ich mache abschließend einen Sprung ins 15. Jahrhundert, zu Nicolaus Cusanus und damit zum letzten großen Versuch, den Neuplatonismus in dionysisch-eriugenischer Abwandlung zu bewältigen, bevor Ficino dann den authentischen Plotin vermittelt. Cusanus überblickt die gesamten vorausgehenden Positionen in der Auseinandersetzung um den verchristlichten Neuplatonismus. Er geht geradezu experimentell auf sie ein, indem er bald die eine und bald die andere Position durchzudenken sich bemüht. Ich demonstriere dies, indem ich beispielhaft zwei seiner Werke einander gegenüberstelle, den frühen Traktat ›De docta ignorantia‹ (›Über die wissende Unwissenheit‹)16 von 1440 und den späten Dialog ›De non aliud‹ (›Über das Nicht-Andere‹)17 von 1462. In der ›Docta ignorantia‹ setzt Cusanus bei der proklischen Dialektik von affirmativer und negativer Theologie an. Die Gottesverehrung beginnt mit positiven Aussagen: Gott ist das denkbar Größte, er ist das Eine, ist Leben, Wahrheit, Ewigkeit. Und er ist Licht, insofern er in Christus die Welt durchleuchtet, aber an sich ist er unzugängliches Licht, unendliches Licht, das vom Geschöpf nicht erfaßt werden kann. Und damit erfolgt der Umschlag in die negative Theologie, und dies, wie bei Dionysius, auch was das Licht betrifft: Das unendliche Licht ist Dunkelheit. Die Wahrheit leuchtet aber im Dunkel unserer Unwissenheit als unerkennbare auf. Und ebendies ist mit docta ignorantia gemeint: Erkenntnis der Unerkennbarkeit Gottes. In Anspielung auf Moses auf dem Sinai und auf die Entrückung Pauli in den dritten Himmel wird dann aber gesagt, daß man im Glauben aus der Vernunft, über die Vernunft hinaus entrückt werden könne. All dies also völlig im Sinne der dionysischen negativen Theologie ausgerichtet auf den Sprung in die ekstatische Unio als Eintritt in die Dunkelheit des Göttlichen. Man fragt sich: Wie verhalten sich hier Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik zueinander? Das Eine verstanden als Licht ist neuplatonisch-metaphysisch gedacht, aber wenn das Licht dann Dunkel genannt wird, so ist dieses Dunkel Metapher für die Unzugänglichkeit des Lichtes. Die Frage stellt sich auch für die Christologie. Christus als Licht in der Finsternis kann, bezogen auf den historischen Christus, metaphorisch verstanden werden. Wenn Cusanus aber sagt, Christus als Gott sei unendliches Licht, er erleuchte alles, umfasse jenseits der Zeit alles, das Gegenwärtige wie das Vergangene, das Lebende wie das Tote, dann kann das nur lichtmetaphysisch gemeint sein. Es geht also zum einen um eine Gotteserfahrung über einen Erkenntnisprozeß, bei dem das Entscheidende darin besteht, daß man Gott in seiner Nichterkennbarkeit erkennt, und zum andern um einen mystischen Sprung ins metaphysische Dunkel des Göttlichen. Das Verhältnis dieser beiden Akte wird bei Cusanus nicht immer klar. Er kann auch die Erkenntnis der Nichterkennbarkeit als eine Art Sprung, als plötzliche Einsicht, beschreiben, Cusanus spricht dann im Gegensatz zum diskursiven Erkennen von visio. Diese frühe Position in Anlehnung an die dionysisch-eriugenische Tradition hält sich im Werk des Cusanus durch. Immer neu bemüht er sich, das zu fassen, was jenseits der rationalen Faßbarkeit liegt, er nennt es ein Ineinanderfallen des Gegensätzlichen, coincidentia oppositorum, oder Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit, possest, und 16
Nicolaus Cusanus, Opera omnia iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis, Bd. 1, hg. v. Ernst Hoffmann, Leipzig 1932. 17 Cusanus, Opera [Anm. 16], Bd. 13, hg. v. Ludwig Baur u. Paul Wilpert, Hamburg 1944.
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schließlich Non aliud, d. h. das, wozu es nichts Gegensätzliches gibt, das, wodurch nichts ausgegrenzt wird. Es ist also eine Erfahrung jenseits der Ratio, eine Erfahrung im Durchbruch durch die Ratio. In ›De visione Dei‹18 heißt es, daß man, um Gott zu erfahren, die Mauer des Paradieses durchbrechen müsse, und diese Mauer ist die coincidentia oppositorum; im Tor dieser Koinzidenzmauer steht die Ratio; nur wer sie beiseite räumt, d. h. den aristotelischen Satz vom Widerspruch preisgibt – was übrigens schon Eriugena breit diskutiert hat –, nur der erreicht das Paradies, also das, was jenseits der Aufhebung der Gegensätze liegt, das, was das Gegensätzliche begründet. Aber auch hier wird der Übergang dann wieder als raptus bezeichnet, als Sprung ins Dunkel des Nichtwissens verstanden. Doch die Perspektive verschiebt sich bei Cusanus im Laufe seines Denkens. Im späten Dialog ›De non aliud‹ kann er sagen, daß man das, zu dem es nichts anderes gibt, über das Begreifen und das Wort hinweg als den Grund von Sein und Erkennen schaue – schaue im Sinne einer nicht-diskursiven visio. Und dabei kommt in neuer Weise die Lichtmetaphysik ins Spiel: Gott strahlt in lucis aenigmate durch alles, was ist, hindurch. Und dieses Licht hat nichts Anderes außer sich, es ist also das Nicht-Andere selbst. Das ist nun ganz deutlich neuplatonische Lichtmetaphysik, vermittelt durch Eriugena. Und folgerichtig fehlt denn hier auch der Übersprung ins Dunkel. Der stringente Rückgriff auf die Lichtmetaphysik schließt den raptus in die caligo aus. So läßt sich Cusanus einerseits auf den negierenden Aufstieg und den Übersprung in die Dunkelheit des unfaßbaren Gottes nach Dionysius ein, andrerseits aber greift er die neuplatonisch-eriugenische Lichtmetaphysik auf. Es werden also gewissermaßen die durch die Tradition vorgegebenen Möglichkeiten der Transzendenzerfahrung noch einmal in ihrer Widersprüchlichkeit durchgespielt.19 Man hat immer wieder gesagt, Cusanus sei eine Schwellenfigur an der Wende zur Neuzeit. Der Befund meiner Überlegungen zu seinem Umgang mit der überkommenen Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik bestätigt dies einmal mehr. Prominent ist in beiderlei Hinsicht der Gedanke des unfaßbaren Gottes. Noch immer wird dabei aber auf der einen Seite mit der Möglichkeit gerechnet, die absolute Differenz durch einen Akt der Überhöhung, durch einen raptus, zu überspringen, und auf der andern Seite wird auf dem lichtmetaphysischen Paradox insistiert, d. h., es wird an der Präsenz Gottes in der Welt im Sinne eines nicht-erscheinenden Erscheinens festgehalten. Schon dieses Nebeneinander und Schwanken zeigt, daß hier die Traditionslinien an ein offenes Ende gekommen sind. Es bedarf nun nur zweier Reduktionen, um die neuzeitliche Position des absolut verborgenen Gottes zu erreichen. Man braucht zum einen nur die ekstatische Überhöhung beim Aufstieg über die negative Theologie fallen zu lassen, und man endet bei der Erkenntnis der Unerkennbarkeit eines Gottes, der sich bestenfalls noch durch willkürliche Gnadenakte bemerkbar macht: die Transzendenz wird absolut unzugänglich. Und man braucht zum andern nur den metaphysischen Hintergrund des nicht-erscheinend erscheinenden Gottes in der Welt auszuklammern, und es bleibt eine von Gott 18 19
Cusanus, Opera [Anm. 16], Bd. 6, hg. v. Adelaida Dorothea Riemann, Hamburg 2000. Vgl. „Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus“, in diesem Bd., S. 371–395.
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durchdrungene Welt übrig, das Göttliche geht in der Weltordnung auf: Deus sive natura – um Spinozas pantheistische Formel zu zitieren. Die Transzendenz ist kein Thema mehr. Beide Reduktionen kündigen sich bei Cusanus an. Im Dialog über das Kugelspiel (›De ludo globi‹)20, einer seiner letzten Schriften, wird die prinzipielle Unerreichbarkeit Gottes bildhaft demonstriert. Das Spiel besteht darin, daß man im Wettstreit den Mittelpunkt von konzentrischen Kreisen, der, wie die allegorische Auslegung dann sagt, für Christus steht, mit Kugelwürfen zu erreichen versucht, aber man kann sich ihm nur annähern, nie ganz zum Ziel kommen. Kein Sprung führt mehr über die Differenz hinweg. In ›De coniecturis‹21 wird die Welterkenntnis als Weltentwurf durch den menschlichen Geist als eigengesetzliche Leistung herausgestellt: der Mensch ist ein zweiter Gott, secundus Deus, wie Cusanus sagt; er ist nicht schöpferisch wie Gott, aber nachschaffend, d. h. ordnend und sinngebend im Medium seiner spezifischen Denkmöglichkeiten, in denen er befangen bleibt. Der Weg nicht nur zu Spinoza, sondern auch zu Kant erscheint vorgezeichnet.
20 21
Cusanus, Opera [Anm. 16], Bd. 9, hg. v. Hans Gerhard Senger, Hamburg 1998. Cusanus, Opera [Anm. 16], Bd. 3, hg. v. Josef Koch u. Karl Bormann, Hamburg 1972.
4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
Es kann selbstverständlich nicht um die Frage gehen, ob Eckhart als Platoniker zu gelten hat oder nicht. Solche Etikettierungen sind obsolet, besteht in der einschlägigen Forschung doch längst Konsens darüber, daß platonisches Gedankengut, auf unterschiedlichen Wegen bald mehr und bald weniger überformt und bald gewichtiger und bald beiläufiger, wenngleich so gut wie universell, in die mittelalterlichen Philosophien eingegangen ist, wobei es im übrigen oft Mühe macht, genuin Platonisches von Neuplatonischem abzuheben.1 Selbst das Werk eines so dezidierten Aristotelikers wie Thomas von Aquin ist platonisch durchsetzt.2 Die Frage nach dem ,Platonismus im Mittelalter‘ kann also heute nur noch lauten: Welchen Stellenwert nehmen platonischneuplatonische Philosopheme in den einzelnen mittelalterlichen Denksystemen ein? Es ist dies die Frage, die die nachstehende Studie an das Werk Eckharts richtet. Ich stütze mich zunächst auf Eckharts explizite Hinweise auf Platon. Es handelt sich im Vergleich zu Bezugnahmen auf Aristoteles oder gar Augustinus um eine eher bescheidene Zahl, wobei es kaum nötig sein dürfte zu sagen, daß ihm die Zitate indirekt vermittelt worden sind, insbesondere über Augustinus, Boethius oder Thomas von Aquin.3 Ich lasse die Belege im folgenden Revue passieren.
I Ich beginne mit dem lateinischen Werk, in dem die Platon-Zitierungen, wie sich zeigen wird, wenig Überraschendes bieten. Und ich gehe dann zum deutschen Œuvre über, in dem sich die Rezeption sehr viel eigenwilliger und folgenreicher darstellt.4 In seiner ›Expositio libri Genesis‹ erklärt Eckhart das Wort creavit deus in principio caelum et terram (Gen 1,1) in der Weise, daß er caelum auf das geistige Sein der Seele bezieht – nach dem Psalmwort: fecit caelos in intellectu (Ps 135,5) –, während er terram dem materiellen Sein zuordnet.5 principium aber heiße ratio idealis.6 Dies läßt Eckhart 1
Zur Diskussion siehe Raymond Klibansky, Ein Proklos-Fund und seine Bedeutung (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1928/29, 5. Abh.), Heidelberg 1929, S. 18; Johannes Hirschberger, „Platonismus und Mittelalter“, in: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, hg. v. Werner Beierwaltes, Darmstadt 1969, S. 56–72. 2 Clemens Baeumker, „Der Platonismus im Mittelalter“, ebd., S. 1–55, hier S. 44–47; Hirschberger [Anm. 1], S. 63–72. 3 Zur Platon-Kenntnis im Mittelalter Klibansky [Anm. 1], S. 19–21; Hirschberger [Anm. 1], S. 59–61; Ruedi Imbach, „Le (Ne´o-)Platonisme me´die´val, Proclus latin et l’e´cole dominicaine allemande“, Revue de the´ologie et de philosophie 110 (1978), S. 427–448, hier S. 430–434. 4 Ich zitiere nach DW und LW. Die deutschen Werke der Bde. I–III und V sowie eine Auswahl der lateinischen Werke sind, ohne Apparat, wieder abgedruckt in: Eckhart, hg. Largier. 5 LW I, S. 204,7–10. 6 Ebd., S. 186,13f.
4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
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sich insofern durch Platon bestätigen, als dieser in ideas sive rationes das Prinzip sowohl des Seienden wie des Verstehens gesehen habe.7 Auch die Erde, die nach Gen 1,2 zunächst wüst und leer ist, sowie die Finsternis über dem Abgrund bringt Eckhart mit einem Wort Platons in Verbindung: Er sage im ›Timaios‹, daß Gott Feuer und Erde zu den Fundamenten der Welt gemacht habe8 – eine Parallelisierung, die freilich nur möglich ist, wenn man tenebrae mit ignis gleichsetzt.9 Auf die platonischen Ideen als Prinzipien des Entstehens und Erkennens kommt Eckhart im Rückbezug auf die erwähnte ›Genesis‹-Auslegung noch einmal im ›Liber parabolarum Genesis‹ zu sprechen.10 Auch unterscheidet er dort wieder nach Platon – als Vermittler wird Augustinus genannt – zwischen einer intelligiblen und einer sinnlichen Welt.11 Diese Unterscheidung greift er dann – erneut unter Berufung auf Platon – auch in seinen lateinischen Predigten auf, so in den ›Sermones‹ VI,2 und XIX.12 Auf Platons Ideenlehre nimmt er ferner Bezug, wenn er in der ›Expositio libri Genesis‹ ein Zitat, wohl aus dem ›Timaios‹, nach Maimonides wiedergibt, nach dem der Schöpfer im Blick auf die geistige Welt (in saeculo intellectuali) das Seiende hervorbringe, was mit der vermittelnden Funktion der Engel gleichgesetzt wird.13 Weiterhin wird im ›Liber parabolarum Genesis‹ auf Platons Lehre hingewiesen, daß das Wissen dem Menschen angeboren sei und es nur darum gehe, es ins Bewußtsein zu heben14 – also eine Anspielung auf die Anamnesistheorie. Überdies wird hier erwähnt, daß Platon die Seele als numerus se ipsum movens definiert habe.15 In der ›Expositio libri Exodi‹ zitiert Eckhart, nach Macrobius, ein Wort Platons, nach dem er nicht zu sagen wagte, was Gott sei, sondern nur sagen könne, was er nicht sei16 – dies zur Stütze der dort ausgebreiteten negativen Theologie. In der ›Expositio libri Sapientiae‹ wird zweimal erwähnt, daß Platon die Unsterblichkeit der Seele bewiesen habe.17 Im ›Johannes-Kommentar‹ zitiert Eckhart eine ›Timaios‹-Stelle, wo es heißt, daß nichts entstehen könne ohne eine Ursache, was auf Joh 1,3 (sine ipso [sc. verbo] factum est nihil) bezogen wird,18 und dreimal findet sich aus demselben Werk Platons berühmte Bemerkung, daß das höchste Gute neidlos sei, d. h. gar nicht anders könne, als sich zu verschenken.19 7
Ebd., S. 204,10f. bzw. S. 187,3f. Ebd., S. 208,8f. 9 Das ist nicht ad hoc erfunden, sondern geht auf Augustinus und Maimonides zurück, die im biblischen Schöpfungsbericht alle vier Elemente repräsentiert sehen wollten und deshalb den Geist über dem Wasser mit der Luft und die Finsternis mit dem Feuer gleichsetzten, siehe ebd., S. 207,11–208,2. 10 Ebd., S. 520,12–14. 11 Ebd., S. 533,12–534,3. 12 LW IV, S. 58,1f. bzw. S. 181,8f. 13 LW I, S. 273,1–274,3. 14 Ebd., S. 694,9–11. 15 Ebd., S. 509,7f. 16 LW II, S. 158,11–13. 17 Ebd., S. 429,1f. und S. 593,5–7. 18 LW III, S. 45,3–6. 19 Ebd., S. 217,6f.; S. 219,1; S. 556,4f. Siehe zu diesem Gedanken, daß das summum bonum sich seinem Wesen nach verströmen muß, Eckhart, hg. Largier, I, S. 783–785, Komm. zu 50,1f., und S. 843, Komm. zu 108,17. 8
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Wie ersichtlich, konzentrieren sich die Platon-Zitate im lateinischen Werk besonders stark auf die These von zwei Welten, einer geistigen und einer sinnlichen, wobei im Zusammenhang der ersten die Lehre von den Ideen in ihrer generativen wie erkenntnistheoretischen Funktion und mit ihrer Aufgipfelung im summum bonum zur Sprache kommt. Insgesamt wird das platonische Gedankengut problemlos herangezogen, sei es, daß es schlicht bestätigend eingesetzt wird, oder sei es, daß es dazu dient, biblische Aussagen philosophisch zu überschreiben – letzteres geht bis zu reichlich kühnen, aber in der exegetischen Tradition stehenden Platonisierungen biblischer Aussagen. Zum deutschen Werk: Im ›Buoch der götlıˆchen trœstunge‹ wird ein Wort des Sokrates aus dem ›Timaios‹ zitiert, nach dem Tugenden Unmögliches möglich zu machen vermöchten.20 Die Aussage bleibt isoliert. In Predigt 17 spricht Eckhart von einem meister, der sage, daß die Seele ihre eigentliche, vollkommene Natur darin finde, daz si in ir werde ein vernünftigiu werlt, daˆ got in sie gebildet haˆt aller dinge bilde:21 ,daß sie in sich zu jener vernünftigen Welt werde, in die Gott die Bilder aller Dinge eingeprägt hat‘. Damit ist also nicht nur postuliert, daß es eine geistige Welt gebe, die die Vorprägungen aller Dinge enthalte, sondern zugleich, daß die Seele im Eingehen in diese Welt ihre Vollkommenheit finde. Im Blick auf die oben aus dem lateinischen Werk angeführten Stellen zur intelligiblen Welt läge die Vermutung nahe, daß mit dem genannten meister Platon gemeint sein könnte. So wenig aber auch der platonische Ansatz zu verkennen ist, die Vermittlung erfolgte – genaue Textentsprechungen beweisen es – über Avicenna.22 Ihm und damit auch Platon gegenüber ist aber festzustellen, daß die Bedeutung, die die intelligible Welt für Eckhart hier gewinnt, entschieden über das Konzept der Vorlagen hinausgeht. Wenn Avicenna die geistige Ordnung der Welt und ihren Reflex im Geist als dessen perfectio zusammendenkt, so überhöht Eckhart dies durch die These von einer höchsten Vernünftigkeit der Seele, in der die raumzeitliche Welt zurückgelassen ist und in der alle Dinge exemplarisch, wie in der göttlichen Überzeitlichkeit, ja eins mit ihr, oder, wie Eckhart weiter in Predigt 17 sagt: in der luˆtern einvalticheit23, präsent sind. In Predigt 28 wird darauf hingewiesen, daß Platon von einer luˆterkeit spreche, ,die nicht von dieser Welt‘ sei.24 Damit ist erneut die zweite, intelligible Welt gemeint, für die eben schon im Zusammenhang der Predigt 17 luˆterkeit als Charakteristikum genannt worden ist. Und wieder wird das platonische Konzept überschritten, wenn Eckhart hinzufügt, daß sich in dieser luˆterkeit die Gottesgeburt in der Seele vollziehe.25 20
DW V, S. 59,12f. DW I, S. 288,7–289,2. 22 Vom Eingehen der Seele ins saeculum intellectuale ist auch im lateinischen Werk die Rede, wobei jedoch unterschiedliche Gewährsleute, u. a. Avicenna, aber auch Augustinus mit Verweis auf Platon, genannt werden. Siehe Quints Anm. 4, DW I, S. 288f., und Eckhart, hg. Largier, I, S. 914f., Komm. zu 202,7–29. Den genauen Textvergleich mit Avicenna verdankt man Loris Sturlese, „Predigt 17: ,Qui odit animam suam‘“, in: Lectura Eckhardi I, hg. v. Georg Steer u. Loris Sturlese, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 75–96, hier S. 93f. 23 DW I, S. 289,8. Bezeichnenderweise fehlt gerade zu diesem Schlüsselbegriff – siehe dazu Ruh, Geschichte III, S. 271 – eine Entsprechung bei Avicenna. 24 DW II, S. 67,1f. 25 Ebd., S. 68,1–3. 21
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In Predigt 36a/b werden Augustinus und Platon als Zeugen dafür angerufen, daß alles Wissen im Menschen schlummere und nur geweckt werden müsse.26 Diese Lehre, die oben schon im ›Liber parabolarum Genesis‹ begegnete, gewinnt hier eine völlig neue Dimension, indem sie nämlich damit in Zusammenhang gebracht wird, daß es eine höchste menschliche Vernunft gebe, die in ihrem Wissen nicht auf sinnlich-verstandesmäßige Vermittlung angewiesen sei.27 In Predigt 57 wird, wie schon im ›Exodus-Kommentar‹, das Wort Platons über die Unerkennbarkeit Gottes zitiert.28 Aber wenn Eckhart dort im Sinne der negativen Theologie einfach zustimmt, so bemerkt er hier, daß das nur gelte, solange die Seele vom Leib umschlossen sei. Auch Dionysius wird mit der Meinung angeführt, daß man das göttliche Licht bestenfalls wie durch einen Spalt hereinbrechen sehen könne.29 Dann folgt ein entsprechend relativierendes Zitat aus Augustins ›Confessiones‹.30 Und doch fragt Eckhart dann: Gibt es nicht eine Möglichkeit, Gott vollkommen zu erkennen?31 Und er antwortet – merkwürdig verhüllt – mit einer Zitatenreihe aus dem ›Hohenlied‹, und der Schluß, der sich daraus ergibt, lautet, daß Gott in der Liebe vollkommen in die Seele zu kommen vermöge: dies als Auslegung des Südwinds im ›Hohenlied‹ 4,16: daˆ gebiutet got aller volkomenheit, ze komenne in die seˆle.32 Es ist nicht leicht, der Argumentation dieser Predigt zu folgen, doch muß man diese Vollkommenheit wohl auf die Deutung der Stadt Jerusalem – es geht in dieser Predigt um das neue Jerusalem in Apk 21,2 – zurückbeziehen, die diese mit Frieden, Heiligkeit, Lauterkeit und Zeitlosigkeit gleichsetzt, Bestimmungen, die für das Sein in Gott Geltung haben. Wie immer man aber diese für Eckhart eher ungewöhnliche Schlußargumentation verstehen mag, offenkundig ist, daß er mit den verschiedenen angeführten Meinungen auch Platons Diktum relativiert und eine vollkommene Erkenntnis Gottes im Einssein mit ihm nicht ausschließt. Die Platon-Rezeption in den deutschen Predigten greift also stark umdeutend in die Zitate ein, und dieses Verfahren ließe sich nun auch breit anhand von Materialien aus der Platon-Nachfolge demonstrieren. Ich begnüge mich mit einem besonders markanten Beispiel: In Predigt 13 erwähnt Eckhart heidnische meister, die von einer Goldenen Kette sprechen, über die das Seiende in einer ununterbrochenen hierarchischen Ordnung mit Gott verbunden sei.33 Das ist die zentrale These der neuplatonischen Kosmologie, wie sie Plotin auf der Basis von platonischen und aristotelischen Vorgaben entworfen hat.34 Eckharts Quelle war wohl der Macrobius-Kommentar zum ›Somnium Scipionis‹; anderweitig beruft er sich wie dieser auf Homer.35 Eckhart greift jedoch diese Vorstellung 26
Ebd., S. 192,6f. bzw. 202,6f. Ebd., S. 191,12–192,2 bzw. S. 202,3–6. 28 Ebd., S. 602,6–8. 29 Ebd., S. 603,1–604,7. 30 Ebd., S. 604,9–605,2. 31 Ebd., S. 605,3f. 32 Ebd., S. 606,5. 33 DW I, S. 211,7–212,6. 34 Siehe Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge/MA, London 1936, S. 63f. 35 Quellen und Parallelen in DW I, S. 212, Anm. 1, und Eckhart, hg. Largier, I, S. 881f., Komm. zu 152,9–23. 27
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
einer kontinuierlichen Verbindung zwischen dem Geschöpflichen und Gott nur auf, um sie sogleich zu unterlaufen, indem er in der Goldenen Kette gerade nicht die Verbindung zwischen dem Kreatürlichen und dem Schöpfer sieht, sondern sie als die luˆter bloˆze natuˆre der Dinge deutet,36 d. h. als Bild dafür nimmt, daß diese zeitlos in Gott existieren.
II Eine erste Zwischenbilanz: Die Art und Weise, wie Eckhart mit der platonisch-neuplatonischen Tradition verfährt, ist zwiespältig – und dies gilt generell für seinen Umgang mit überkommenem philosophischem wie theologischem Gedankengut. Solange es sein eigenes Konzept nicht berührt oder sich ihm mühelos fügt, kann er es disparat heranziehen; wenn es hingegen seinem Konzept widerstrebt, interpretiert er es ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Sinnzusammenhang um.37 Für meine Fragestellung ist letzteres von besonderem Interesse, denn es muß dies zu der zentralen Frage weiterführen, inwieweit Eckharts philosophisches Konzept Raum ließ für eine Aufnahme platonischer Philosopheme in deren genuinem Sinn. Sind die Grundpositionen seines Systems mit einem platonisch geprägten Denken überhaupt vereinbar? Um diese Frage zu beantworten, muß ich diese Positionen in einer wenigstens knappen Skizze nachzuzeichnen versuchen. Eckharts Theologie stützt sich auf zwei traditionelle philosophisch-theologische Konzepte, die er verbindet und dabei auf eine neue Ebene hebt. Es handelt sich auf der einen Seite um die Idee des apex mentis und auf der andern um das Theologumenon der Gottesgeburt in der Seele. Es ist unmöglich, die komplexe Geschichte dieser beiden Traditionen hier zureichend auszubreiten; ich muß mich auf die jeweils wichtigsten Stationen der Entwicklung beschränken. Die Lehre vom apex mentis hat ihre Wurzeln in der Stoa.38 Die stoische Psychologie hat als Basis für die konkreten Seelenvermögen: Wahrnehmen, Denken, Wollen usw., ein sogenanntes Hegemonikon angesetzt – es kann auch synteresis, logos oder eben apex mentis heißen. Es trägt und durchdringt die einzelnen Vermögen und richtet sie zugleich ganzheitlich aus. Zudem gilt im Zusammenhang des stoischen Makrokosmos-Mikrokosmos-Konzepts, daß es als Lebensfunke dem kosmischen Urfeuer entspricht; deshalb auch die Bezeichnung scintilla animae. Das war eine folgenreiche Neuerung gegenüber 36
DW I, S. 212,1. Selbst bei biblischen Texten kann dies bis zu Eingriffen in den Wortlaut gehen. Die beiden spektakulärsten Fälle: Predigt 2, DW I, S. 21–45, wo Eckhart Lk 10,38: Intravit Iesus in quoddam castellum et mulier quaedam, Martha nomine, excepit illum, kürzend und ergänzend übersetzt: unser herre Jeˆsus Kristus der gienc uˆf in ein bürgelıˆn und wart enpfangen von einer juncvrouwen, diu ein wıˆp was, oder Predigt 86, DW III, S. 472–503, wo er gegen Christi Wort, daß Maria den bessern Teil erwählt habe, Martha über ihre Schwester stellt. Siehe dazu die Kommentare in Eckhart, hg. Largier, I, S. 760, bzw. II, S. 739–743. Zu Predigt 86 inzwischen Dietmar Mieth, „,Intravit Iesus in quoddam castellum.‘“, in: Lectura Eckhardi II, hg. v. Georg Steer u. Loris Sturlese, Stuttgart 2003, S. 139–175. 38 Grundlegend Endre von Iva´nka, Plato christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, S. 315–351. 37
4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
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der platonischen Seelenlehre, der zufolge das Streben der Seele ins Geistige gewissermaßen aus sich selbst heraus erfolgt. Mit dem Hegemonikon wird nunmehr ein Persönlichkeitsgrund angesetzt, der die Möglichkeit eröffnet, über den Impetus und die Richtung der einzelnen Vermögen frei zu entscheiden.39 Noch fehlt hier aber der Gedanke, daß über diesen Grund ein Bezug zum Göttlichen hergestellt werden könnte. Er kommt erst durch die Rückbindung an den auf das summum bonum ausgerichteten platonischen Eros zustande. Sie wird erstmals von Origenes vollzogen. Dadurch wird dieser Grund, der in der Stoa nur die Seelenvermögen trug, zu einem Ort für eine spezifische Form von Erkenntnis, die sich wesentlich von der Ratio unterscheidet – eine Wende, die dieses Konzept zugleich wiederum vom platonischen Aufstiegsdenken abhebt, das ja kontinuierlich von der sinnlichen Wahrnehmung über die geistigen Formen des Erkennens bis zum Absoluten emporführt. Auch der Neuplatonismus, der die höchste Stufe stärker von den vorausgehenden trennt, setzt nicht ein eigenes, gewissermaßen irrationales Vermögen quer zur Ratio an. Und doch konnte man dieses besondere Vermögen der Gotteserkenntnis dann in der Weise wieder in ein Aufstiegsschema einbringen, daß man es nach der sinnlichen und der rationalen Erkenntnis als dritte Stufe verstand. Diese Dreistufigkeit, von Origenes über Augustinus ans 12. Jahrhundert vermittelt, erlaubte mehr oder weniger scharfe Unterscheidungen zwischen den Kognitionsformen. Bei Hugo von St. Viktor und auch bei Richard gehen die rationale und die überrationale Erkenntnis jedoch noch fließend ineinander über. Richard verwendet zur Veranschaulichung das Bild vom Übergang von der Morgenröte zum vollen Sonnenlicht des Tages. Und man kann dann das Dreierschema weiter differenzieren, so daß es zu unterschiedlich komplexen Aufstiegsschemata kommt. Immer aber ist es eine einzige Kraft, die über alle Stufen hinweg wirkt; und so steht man denn wieder bei einer kontinuierlichen Bewegung, in der, christlich überformt, der platonisch-neuplatonische Ascensus nachklingt, wobei jedoch nicht übersehen werden darf, in welchem Maße das kosmische Konzept nunmehr ins Psychologische gewendet wird. Das Festhalten an der Kontinuität der geistigen Bewegung heißt aber nicht, daß nicht die Eigenarten der einzelnen Stufen hätten herausgearbeitet werden können – auch Richard unterscheidet deutlich zwischen imaginatio, ratio und intellectus –, doch je mehr dies der Fall war, desto stärker mußte sich insbesondere die letzte Stufe von den vorausgehenden abheben, und dies insbesondere dann, wenn man ihr einen dezidiert affektiven Charakter zusprach. Die entscheidende Wende erfolgte, vorbereitet durch Isaac de Stella und Wilhelm von St. Thierry, bei Thomas Gallus.40 Das höchste Vermögen nennt er principalis affectio, um dann fortzufahren: et ipsa est scintilla synderisis, quae sola unibilis est spiritui divino. Damit ist das stoische Hegemonikon, das als Träger der Seelenvermögen fungierte, nicht nur als eine überrationale, affektive Erkenntnisform an die Spitze der Vermögen gerückt, sondern da wiederum, wenngleich in ganz neuer Weise, radikal von diesen abgetrennt. Es ist die Liebe und damit letztlich der Heilige Geist, der auf dieser Stufe wirkt.41 v. Iva´nka geht, ebd., S. 323, so weit, zu sagen: „Erst mit dem Begriff des ηë γεµονικο ν ist – auch im psychologischen Schema – der freie Geist entdeckt worden, zu dem sich zwar Platon und Aristoteles bekannten, den sie aber mit ihrem psychologischen Schema nicht zu erfassen vermochten.“ 40 Ebd., S. 352–355; Ruh, Geschichte III, S. 67–71. 41 Man hat sich gefragt, woher der spezifische Anstoß zu dieser Wende gekommen sein mochte, 39
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Man kann nun sagen, daß Eckhart diesen Entwicklungsprozeß konsequent zu Ende geführt hat. Er hat die These von einer radikal von den Seelenvermögen getrennten Form der Gotteserkenntnis aufgegriffen und dabei das Aufstiegsschema überhaupt fallen gelassen. Er spricht, in Anlehnung an den apex mentis, von einer obersten Vernunft oder einer obersten Kraft in der Seele,42 die nur zur Wirkung kommt, wenn alle andern Vermögen ausgeschaltet sind, und die dabei nicht nur auf die Erkenntnis Gottes ausgerichtet ist, sondern in der die Seele mit Gott eins ist. Das höchste Vermögen ist bei ihm zum Seelengrund geworden, und das heißt, er hat es ontologisiert. Sieht man in den traditionellen Aufstiegsschemata und in der mit ihnen verbundenen Vorstellung einer kontinuierlichen Bewegung zum göttlichen Ziel wie auch in der Sonderstellung der höchsten Stufe die Nachwirkung platonischen bzw. neuplatonischen Denkens, so kann man sagen, daß Eckharts Konzept des Seelengrundes prinzipiell mit dieser Tradition bricht. Das zweite Philosophem, auf dem Eckharts Konzept beruht, die Idee der Gottesgeburt in der Seele, geht auf die frühchristliche Tauftheologie zurück.43 Sie meint eine völlige Verwandlung des Menschen, indem er in der Taufe gleichsam in Christus neu geboren wird. Die biblische Basis ist Gal 4,19, wo Paulus erwartet, daß die von ihm Angesprochenen ,in Christus Gestalt gewinnen‘. Origenes hat diesen Gedanken, nach Vorgaben bei Hippolytos, dann zu der Forderung weiterentwickelt, daß der Gläubige immer wieder neu, insbesondere in seinen Werken, aus Gott geboren werden sollte: die Geburt des Logos aus dem Vater wiederholt sich, und er wächst in der Verwirklichung der Tugend. Die Gottesgeburt in der menschlichen Seele oder im Herzen wird also ethisch verstanden. Bei den griechischen Kirchenvätern, bei Gregor von Nyssa und Maximus Confessor vor allem, wird sie dann ins Mystische gewendet: sie meint nun die Verwandlung der menschlichen Seele zu gottförmiger Vollkommenheit in der immer neuen Herabkunft des Logos. In der lateinischen Theologie, bei Ambrosius, Augustinus u. a., bleiben hingegen zunächst Hippolytos und Origenes bestimmend, und damit wird der starke Akzent auf dem sittlich-moralischen Aspekt der Gottesgeburt bewahrt. Erst mit Johannes Scotus Eriugena, der die ›Ambigua‹ des Maximus dem Westen vermittelt, kommt es zu neuen Impulsen, die dann bei Bernhard und bei den Viktorinern fruchtbar werden, indem sie nun auch hier zu einer Vertiefung des Konzepts führen.
und man hat auf Proklos verwiesen, ohne daß genau faßbar wäre, wie er schon im 12. Jahrhundert auf die westliche Philosophie eingewirkt haben könnte; siehe v. Iva´nka [Anm. 38], S. 357–361. 42 Er hat noch andere Bezeichnungen dafür: z. B. in Predigt 2, DW I, S. 39,1–4: ein kraft in dem geiste, ein huote des geistes, ein lieht des geistes, ein vünkelıˆn – Bezeichnungen, die er dann alle zurücknimmt, denn dieses Innerste der Seele sei kein diz oder daz, sondern weit darüber erhaben, frei von allen Namen und Formen; ebd., S. 39,4–40,2. Vgl. Eckhart, hg. Largier, I, S. 763– 772, Komm. zu 32,26–36,5. 43 Grundlegend noch immer Hugo Rahner, „Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi aus dem Herzen der Kirche und der Gläubigen“, in: Ders., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 11–87; vgl. Hans Hof, Scintilla Animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in Meister Eckharts Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Eckhartschen Philosophie zur neuplatonischen und thomistischen Anschauung, Lund, Bonn 1952, S. 162–187; Ruh, Eckhart, S. 139–142.
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4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
Dies ist der Traditionshintergrund, vor dem Eckhart seine Theologie der Gottesgeburt entwirft. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von den Vorläufern dadurch, daß er sie mit seinem Konzept des Seelengrundes verbindet und sie dabei dementsprechend ontologisch umdeutet. Indem der Seelengrund sich in seinem Sein mit Gott berührt, nimmt er auch Teil an der überzeitlichen trinitarischen Bewegung, und es ist diese, die Eckhart mit Hilfe der Geburtsmetaphorik darstellt: Gott gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit im menschlichen Seelengrund, und dieser gebiert ihn zugleich in Gott zurück. Wenn die Metapher der Gottesgeburt bislang eine tatsächliche Verwandlung des Menschen aus dem Geist christlicher Ethik ins Bild brachte, so gibt es bei Eckhart einen solchen Bezug nicht mehr. Denn damit die Gottesgeburt im Grund der Seele sich vollziehen kann, muß die Verwandlung – sie heißt bei ihm abegescheidenheit: ,Loslösung aus aller raumzeitlichen Bindung‘44 – immer schon stattgehabt haben. Die Gottesgeburt meint dann nur noch eine Bewegung zwischen der Seele und Gott in einem überzeitlichen Sein, für die es eigentlich kein Bild geben kann, und wenn Eckhart doch mit Metaphern arbeitet, dann ist er gezwungen, sie als Bilder, die nur Vorgänge in der Zeit insinuieren können, immer sogleich wieder aufzuheben. So erscheint die Geburt Gottes in der Seele zugleich als ein Gebären in Gott hinein. Und das gilt für alle parallelen Metaphern, die Eckhart heranzieht: Gott fließt im trinitarischen Prozeß aus, aber dieses Ausfließen ist zugleich ein Drinbleiben. Gott spricht sich aus, aber er spricht ungesprochen, der Seelengrund ist geschaffen und doch ungeschaffen usw.
III Zweite Zwischenbilanz: Es ist offenkundig, daß sowohl die Eckhartsche Konzeption des Seelengrundes wie die der Gottesgeburt quer stehen zu allen Traditionen, die mit Seinsstufen und Wegmodellen im platonisch-platonistischen Sinne arbeiten. Was für eine Rolle diese auch immer in der Geschichte der beiden Konzepte, die Eckharts Philosophie zugrunde liegen, gespielt haben, er hat sie durch die Ontologisierung dieser Konzepte prinzipiell zurückgelassen. Sein Denken kommt nicht nur ohne die platonische Ascensusidee aus, sondern es widerspricht ihr fundamental. Und doch stellt man fest, daß er mit überraschender Persistenz Aufstiegsmetaphern verwendet. Die Frage ist: weshalb? Ich analysiere im folgenden beispielhaft eine Reihe von Textstellen aus den deutschen Predigten, in denen Eckhart auf traditionelle Weg- und Stufenvorstellungen zurückgreift, obschon er sie doch grundsätzlich verworfen hat. Predigt 19 bietet eine Gebetslehre.45 Eckhart fragt: Waz ist gebet?, und er antwortet mit Dionysius:46 ein vernünftic uˆfklimmen in got, daz ist gebet47 – vernünftic uˆfklimmen ist so zu verstehen, daß es die höchste Vernunft der Seele, der apex mentis, ist, der ,hinaufklimmt‘. Dabei, so heißt es weiter, muß alles Weltliche zurückgelassen werden, der Betende muß ,über alle Dinge hinweg hinaufgetragen werden in die Ewigkeit‘, und er 44
Siehe dazu Ruh, Geschichte III, S. 347–351. DW I, S. 316,6–319,11. 46 Recte: Johannes Damascenus; siehe Eckhart, hg. Largier, I, S. 924, Komm. zu 218,17. 47 DW I, S. 318,12–319,1. 45
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
muß auch allez, daz er vermöhte, ob er wolte, aufgeben, denn solange man etwas will, steht dieses Wollen zwischen der Seele und Gott, und dann enkumet si in den grunt niht.48 Die Vorstellung vom grunt bricht unvermittelt das Bild des Aufstiegs in got um; Gott in der Höhe und der Grund der Seele fallen in eins. Es gibt also gar kein uˆfklimmen zu Gott im Gebet, obschon Beten zunächst gerade dadurch definiert worden ist, und es gibt kein Zurücklassen des Weltlichen, obschon gerade dies gefordert wurde, vielmehr ist richtiges Beten in Eckharts Sinn nur dann möglich, wenn man alles Weltliche schon zurückgelassen hat und man im Seelengrund, in Gott, ist. Was sich als ein Prozeß gibt, kann also nicht als Abfolge verschiedener Positionen, sondern nur als eine Art Variation identischer Positionen begriffen werden. Auch in Predigt 44 ist von uˆfklimmen die Rede. Hier wird gesagt, daß in den demütigen Menschen die Gnade einfließe, und dabei ,klimme‘ sogleich daz lieht der vernünfticheit – ,die lichthafte Vernunft‘: also wieder das höchste Seelenvermögen – hinauf, dahin, wo Gott in einem Licht erstrahlt, das nicht verdunkelt werden kann. Dieses Licht ist so mächtig, daß es nicht nur in sich selbst Raum und Zeit und alle kreaturhafte Bildlichkeit austilgt, sondern es tilgt auch Raum und Zeit bei allem aus, worauf es fällt. Doch dann fährt Eckhart fort, er habe oft gesagt: enwære zıˆt noch stat noch anders niht, soˆ wære al〈lez〉 e´in wesen. Der alsus ein wære und sich verwürfe in den grunt der deˆmüeticheit, der würde daˆ begozzen mit gnaˆden:49 ,Gäbe es weder Raum noch Zeit noch sonst etwas [d. h. irgendetwas Bestimmtes], so wäre alles ein Sein. Wer in dieser Weise eins wäre und sich in den Grund der Demut werfen würde, in den müßte die Gnade einfließen‘. Hier wird also erneut zunächst eine Abfolge von Vorgängen im Sinne eines kausalen Prozesses geboten: Wer sich demütigt, der empfängt die Gnade. Durch diese Begnadung steigt die ,höchste Vernunft‘ ins göttliche Licht empor, in dem alles Raumzeitliche getilgt ist und das alles Raumzeitliche tilgt. Und das heißt soviel wie, daß alles ein Sein ist. Dann aber wird die Perspektive umgedreht: Wer in diesem einen Sein ist und im Grund der Demut, in den fließt die Gnade ein. Durch diese Wende wird die Vorstellung eines kausalen Ablaufs gebrochen; es handelt sich nicht um einen Abstieg in die Demut und in der Folge um einen gnadenhaften Aufstieg zu Gott, vielmehr ist das Einssein im Licht Gottes, jenseits der Raumzeitlichkeit, identisch damit, daß man sich im Grund der Demut befindet, und die Gnade, die dann einfließt, ist immer schon vorausgegangen. Es ergibt sich also: Wege, Stufen, Prozesse sind in Eckharts Konzept nur Darstellungsformen für ein Geschehen, das gerade nicht im Sinne kausaler Linearität verstanden werden darf.50 Das Einssein ist Gnadengabe, der Grund der Demut ist die Lichthaftigkeit jenseits von Raum und Zeit, der Abstieg ist der Aufstieg. Die Vertauschbarkeit hebt jede Abfolgelogik auf. Insofern dabei traditionelle Stufenmodelle der Gotteserfahrung einwirken, sind auch sie grundsätzlich zurückgewiesen. Eckhart zieht also Kausalitäten wie Wege nur heran, um sie aufzuheben. Das heißt: Es gibt keinen Weg zu Gott, denn es gibt grundsätzlich keine Vermittlung zwischen dem Endlichen und dem Ewigen. 48
Ebd., S. 319,7–10. – In Predigt 67, DW III, S. 131,3–7, sagt Eckhart explizit, daß man beim Beten nichts Konkretes wollen, um nichts Konkretes bitten dürfe. 49 DW II, S. 346,4–347,5. 50 Largier spricht von einem „komplementären Geschehen“ (Eckhart, hg. Largier, II, S. 908).
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4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
Eckhart sagt dies auch direkt. In Predigt 70 arbeitet er ebenfalls mit der Vorstellung eines Ascensus. Er sagt: Man muß hoch emporgehoben werden, wenn man Gott sehen will. Man muß aufsteigen, und dies in wachsender Gnade. Doch solange die Gnade noch wächst, ist sie klein, und man ist fern von Gott. Wenn sie aber ihr volles Maß erreicht hat, ist sie keine Gnade mehr, sondern ein göttliches Licht, in dem man Gott sieht.51 Das heißt, es gibt keinen gnadenhaften kontinuierlichen Aufstiegsprozeß, der zum Ziel führen würde. Wenn man Gnade als ein Entgegenkommen Gottes unter den Bedingungen der Kreatürlichkeit versteht, dann kann das nicht Gnade in der absoluten Bedeutung, in der Bedeutung des Eintretens ins göttliche Licht sein. Und dann wird im Bezug auf 1 Tim 6,16 gesagt: ,got wonet und innewonet in einem liehte, daˆ niht zuoganges enist.‘ Daˆ enist kein zuoganc, daˆ ist ein darkomen.52 darkomen gegenüber zuoganc – damit ist gemeint, daß es zu diesem Licht keinen Weg gibt, den man gehen könnte, sondern es kann sich nur ereignen, daß man hinkommt. Oder anders gesagt: Der Weg reduziert sich auf den Umbruch oder Durchbruch.53 In Predigt 71 heißt es: Swer noch uˆfgaˆnde und zuonemende ist an gnaˆden und an liehte, der enkam noch nie in got.54 Wer sich also einem Weg anvertraut, auf dem die Gnade noch zunehmen kann, erreicht sein Ziel nie. Man muß in Gottes Licht stehen, um ihn sehen zu können: Sol got gesehen werden, daz muoz geschehen in einem liehte, daz got selber ist.55 Alles Kreatürliche fällt als Vermittlung aus, da dieses, wo es nicht in seinem Sein in Gott gesehen wird, Nichts ist. Anderweitig drückt Eckhart dies so aus, daß Gotteserfahrung sich aˆne wıˆse – in ,Weiselosigkeit‘: in Unmittelbarkeit – vollziehen müsse.56
IV Dritte Zwischenbilanz: Es hat sich gezeigt, daß Eckhart zwar immer wieder mit Vorstellungen arbeitet, die das Kreatürliche in eine kontinuierliche Beziehung zu Gott setzen, daß er dies aber nicht tut, ohne sie nicht sogleich zu widerrufen und ihre Unzulässigkeit bewußt zu machen. Das geht sehr viel weiter als jene bloßen Umdeutungen, die er in den platonischen Zitaten vornimmt, die ich zu Beginn besprochen habe. Denn man hat es hier offensichtlich mit einem programmatischen Verfahren zu tun, bei dem Eckhart gegen jene traditionellen Modelle des Denkens und Darstellens angeht, die auf der Idee eines gestuften Kosmos beruhen, über den das Geschöpfliche mit dem Schöp51
DW III, S. 196,1–10. Ebd., S. 196,10–12. Vgl. auch die Parallelstellen in Predigt 69, ebd., S. 175,5–176,2, und in Predigt 71, ebd., S. 214,2–7. Siehe dazu Eckhart, hg. Largier, I, S. 779–782, Komm. zu 46,7–19, hier S. 781. 53 Vgl. dazu meine Studie „Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart“, in: Haug, Brechungen, S. 579–591, hier S. 583, und die dort angeführte Literatur. 54 DW III, S. 214,4f. – Man vergleiche die Gegenposition des Origenes, der davon spricht, daß der Logos im Menschen wachsen kann und soll: oben S. 292. 55 DW III, S. 214,6f. 56 Siehe dazu Eckhart, hg. Largier, I, S. 779–782, Komm. zu 46,7–19. – Daß das Kreatürliche als Vermittlung zum Göttlichen ausfällt, impliziert, daß Eckhart die traditionelle Analogielehre preisgeben und ein neues Analogiekonzept entwickeln mußte; vgl. Ruh, Eckhart, S. 82–86; Ruh, Geschichte III, S. 303–305. 52
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
fer verbunden ist und über den eine Vermittlung möglich erscheint. Er läßt sich dabei zwar scheinbar auf diese Vorstellungen ein, aber nur, um sie zu desavouieren. Möglicherweise zielt schon die Umdeutung der neuplatonischen Goldenen Kette in Predigt 13, die als Signum dieses Kosmoskonzepts gelten kann, dezidiert in diese Richtung. Aber es bleibt nicht bei punktuellem Eintreten ins Kontinuitätsdenken und dessen Widerruf. Eckhart hat auch Predigten als ganze so angelegt, daß sie zunächst ein Denken in Wegmodellen insinuieren, um diese dann zugunsten seines weglosen Weges fallen zu lassen. Es bieten sich dafür unterschiedliche Strategien an. Eine erste faßt man beispielhaft in Predigt 72: Videns Iesus turbas, ascendit in montem etc.57 Hier ist die Aufstiegsvorstellung unumgehbar im Bibeltext vorgegeben. Es handelt sich um Mt 5,1, wo berichtet wird, daß Jesus die Menge zurückließ und auf einen Berg stieg und daß seine Jünger dann zu ihm traten und er sie über das Reich Gottes belehrte. Eckhart verbindet diese göttliche Lehre in der Weise mit dem Aufstieg, daß er sagt, man müsse emporsteigen, um sie zu empfangen. Dieses Emporsteigen wird dabei als ein Übersteigen all dessen interpretiert, was an die Welt bindet: Sorgen, Beschwernisse und die Beschäftigung mit niedrigen Dingen, und zugleich soll man auch jene Kräfte der Seele übersteigen, die auf diese Welt gerichtet sind. Die Höhe, auf die man sich mit dem Gottessohn erhebt, bedeutet demgegenüber eine Herrlichkeit, in der alles Kreatürliche aus dem Erkennen ausgefallen ist, und damit meint die Höhe jene Kraft, in der die Erkenntnis Gottes möglich ist, und das ist eine Erkenntnis ohne vermittelnde Bilder und Gleichnisse. Damit steht man mitten in der Diskussion um das Aufstiegsmodell und das Verhältnis seiner Stufen zueinander, die ich oben in meinem geschichtlichen Rückblick skizziert habe. Eckhart zieht denn auch explizit das dreistufige Erkenntnismodell unter Berufung auf Augustinus heran:58 Die erste Stufe ist die sinnliche Wahrnehmung der Erscheinungen, die zweite die geistige Erkenntnis, die sich der Bilder der Dinge bedient, während die dritte eine Erkenntnis inwendic in dem geiste meint, die keiner Bilder oder Gleichnisse bedarf.59 Während dieser Aufstieg in der Tradition als positive Rangordnung verstanden werden konnte, etwa als Prozeß einer zunehmenden Abstraktion von der körperlichen über die intelligible Welt bis zur Spitze des Einen im Sinne der Goldenen Kette, verliert bei Eckhart, indem er die beiden ersten Stufen ausschaltet, die dritte ihren Charakter als Station auf einem Weg.60 Die Metapher der Höhe besagt nichts mehr, denn sie wird völlig von dem, was sie bedeutet: nämlich das Innerste der Seele, das in der Herrlichkeit Gottes steht, ausgelöscht. Die Allegorese fungiert hier als Mittel, 57
Ich gehe im folgenden von meiner Interpretation der Predigt 72, in diesem Bd., S. 313–337, aus und entwickle sie weiter. Ich zitiere nach meiner Neuausgabe des Textes, ebd., S. 314–324. 58 Quint weist DW III, S. 242f., Anm. 3, auf ›De Genesi ad litteram‹, XII,34. 59 Haug [Anm. 57], S. 318,1–4. Siehe zu den Varianten dieses Modells bei Eckhart und zu der sich darauf beziehenden, einigermaßen verwirrenden Terminologie Benno Schmoldt, Die deutsche Begriffssprache Meister Eckharts. Studien zur philosophischen Terminologie des Mittelhochdeutschen, Heidelberg 1954, S. 15–18; Lauri Seppänen, Studien zur Terminologie des Paradisus anime intelligentis. Beiträge zur Erforschung der Sprache der mittelhochdeutschen Mystik und Scholastik (Me´moires de la Socie´te´ Ne´ophilologique de Helsinki XXVII), Helsinki 1964, S. 96– 232. 60 Er beschäftigt sich mit den beiden ersten Stufen auch eher beiläufig; das ganze Gewicht liegt, wie schon Seppänen, ebd., S. 220, festgestellt hat, auf der dritten Stufe.
4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
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um die Wegvorstellung zu brechen. Und das zeigt sich erneut, wenn Eckhart zwei weitere biblische Berg-Stellen heranzieht: Mt 17,1f., die Verklärung Christi, und Ez 34,13f., wo es heißt, daß Gott seine Schafe auf eine grüne Bergweide führt. Die Verklärung Christi auf dem Berg verbindet Eckhart mit seiner Bildtheorie: man sage zwar, der Sohn und die Seele seien Bilder Gottes, aber Christi Transfiguration meine ein ,Überbilden‘, d. h. eine Bildlichkeit jenseits von allem Abbildhaften. Nur als Bild Gottes im Sinne eines solchen Überbildes, für das Identität und Differenz zugleich gelten, kann die Seele eins sein mit Gott. Die grüne Höhe der ›Ezechiel‹-Stelle wird als das Immer-Neue auf die Zeitenthobenheit in der höheren Erkenntnis bezogen. Dann schließen sich Reflexionen über das Lichthafte dieser Erkenntnis an: sie erfolgt im absoluten Licht, das aber alles Lichthafte übersteigt. Die Allegorese läßt also auch hier durchwegs die Bildlichkeit zurück, und zugleich thematisiert Eckhart dieses Übersteigen des Bildhaften in der Paradoxie des nicht bildhaften Bildes. Wie weit auch immer die dritte Stufe in der Tradition des Erkenntnismodells schon von den beiden ersten abgehoben worden sein mag, der Bruch ist bei Eckhart radikal. Auf der andern Seite: gerade weil die Allegorese die Möglichkeit bot, das Wegmodell in seiner Bildlichkeit zu brechen, konnte er es bedenkenlos, d. h. ohne daß sein Gegenkonzept dadurch tangiert worden wäre, verwenden. Wohl am spektakulärsten aber stellt sich die Strategie des Umbruchs in Predigt 63 dar. Der zugrundeliegende Bibeltext ist 1 Joh 4,16: Deus caritas est, et qui manet in caritate, in Deo manet, et Deus in eo.61 Eckhart fragt nach dem Verhältnis dieser Liebe, die Gott ist, zum Menschen, der in ihr bleiben soll: Wie gelangt man dazu, in der Liebe, also in Gott, zu sein, und wie geschieht es, daß Gott in der Liebe im Menschen sein kann? Denn Gott, so sagt Eckhart gleich zu Beginn, ist nicht irgendeine Liebe, sondern er ist die Liebe, und diese ist damit verankert in seinem Einssein. Bei der Frage nach der Liebe Gottes muß man dieses Einssein, so betont Eckhart, im Blick behalten. Hier liegt anscheinend, wenn auch die Implikationen zunächst dunkel bleiben, das entscheidende Problem.62 Er geht es dann unter wechselnden Perspektiven an. Als erstes denkt er von Gott her: Gott wendet seine Liebe den Geschöpfen zu, denn als summum bonum muß er sich ausströmen – das ist, wie erwähnt, platonisches Traditionsgut.63 Dabei hat sein Lieben aber das Ziel, die Geschöpfe anzutreiben, daß sie ihn wiederlieben. Eckhart verwendet dafür die Metapher des Jagens: Gott jagt die Geschöpfe, damit sie zu ihm zurückjagen, um in ihm die Erfüllung ihrer Gegenliebe zu finden. Also eine Bewegung von Gott her, die eine Gegenbewegung auslöst – im Hintergrund steht kaum verkennbar die neuplatonische Emanationsidee. Dann wird das Verhältnis vom Menschen her gefaßt, und dies anhand einer kühnen These: Alles was der Mensch tut, auch das Böse, geschieht aus Liebe, denn es zielt immer auf etwas, was ihm lieb erscheint. Doch da alles Liebenswerte im irdischen Bereich nur vorläufig befriedigt, muß das Streben von einer vorläufigen Wunscherfüllung zur nächsten immer weiter gehen, bis es sein absolutes 61
Siehe zum Folgenden meine ausführlichere Analyse „Predigt 63: ,got ist mynne‘“, in: Steer u. Sturlese [Anm. 22], S. 201–217, = in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 505–520. Ich zitiere nach meiner Neuausgabe des Textes, ebd., S. 202–208 bzw. S. 506–512, und ich füge weiterhin jeweils die Stellenangaben nach beiden Publikationen hinzu. 62 Vgl. ebd., S. 210 bzw. S. 514. 63 Vgl. Anm. 19.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Ziel, Gott, erreicht. Und Eckhart beendet diese Überlegungen mit der Aufforderung: Nun mynnent alles, das mynneclich ist, vnd nit, an dem es mynneclich schinet, so mynnest du lauter got:64 ,Nun liebt alles, was liebenswert ist, und nicht das, an dem es als etwas Liebenswertes erscheint: dann liebst du Gott in Lauterkeit‘. Das scheint eine problemlose Mahnung zu sein, nicht an Irdisch-Liebenswertem hängen zu bleiben, sondern zum absolut Liebenswerten fortzuschreiten. Doch das täuscht, denn lauter ist, wie oben im Zusammenhang der Platon-Zitate in den Predigten 17 und 28 deutlich wurde, ein Signalbegriff. Er weist auf die absolute Differenz des Ziels. Und so ist denn der, der genau hinzuhören versteht, darauf vorbereitet, daß Eckhart im folgenden in diese umschwenkt, wenngleich die abrupte Wende, mit der es geschieht, einmal mehr überraschen mag. Die neue Perspektive wird mit einem Dionysius-Zitat eingeleitet, das besagt, daß Gott für die Seele unerkennbar sei, und was die Möglichkeit einer Vermittlung über die Welt betrifft, so weist Eckhart sie mit einer der für ihn typischen Hyperbeln ab: Wenn man nun die Herrlichkeit aller Engel nähme, die ihnen ihrer Natur nach zukommt, und die Herrlichkeit aller Geschöpfe, die ihnen ihrer Natur nach zukommt, und wenn man mit dieser ganzen Welt-Herrlichkeit auf Gott zugehen würde, so fände man Gott damit doch nicht, denn all das ist Gott gegenüber so gut wie wertlos, ja, es ist überhaupt ohne Wert, denn es ist die reine Wertlosigkeit, ja es ist weniger als wertlos: Es ist ein reines Nichts. Also vindet man gotes nit won in ein.65
Mit der Herrlichkeit der Engel und der Geschöpfe wird der hierarchische Kosmos aufgerufen und als reines Nichts Gott entgegengestellt, der über dieses Nichts natürlich nicht zugänglich sein kann. Man vindet ihn nur im Einen, und dieses Eine wurde ja gleich zu Beginn mit der absoluten Liebe gleichgesetzt. Sie wirkt als solche zwar in die Welt hinein – soweit folgt Eckhart dem traditionellen platonisch-christlichen Konzept –, aber das Liebenswerte, das dadurch in ihr manifest wird, ist kein Weg, sondern es verlangt die Preisgabe dessen, an dem es als Gabe der absoluten Liebe erscheint, d. h., es verlangt die Preisgabe des Nichtigen der Kreatur in seiner Vielheit, damit man ins Eine des Seins eintreten kann. Aber wieder darf das nicht als kausale Sequenz mißverstanden werden. Die Wende vom Liebenswerten an den Erscheinungen zur Liebe, der es sich verdankt, ist ein Durchbruch, über den man nicht verfügen kann; es ist ein Gnadenakt.
V Das Fazit: Eckharts philosophisches Konzept ist so angelegt, daß es alles Denken, das zwischen dem Geschöpflichen und dem Göttlichen zu vermitteln versucht, ausschließt, und damit sind auch alle Modelle, die wie das platonische mit Seinshierarchien und Stufenwegen arbeiten, hinfällig. Trotzdem zieht Eckhart immer wieder platonisches Gedankengut heran. Zugleich entwickelt er aber Strategien, um das, was es an Vermittelndem impliziert, auszuhebeln. Es lassen sich, aufgrund der oben analysierten Beispiele, vier solche Strategien unterscheiden: 1. Eckhart kann platonische Dikta umdeu64 65
Haug [Anm. 61], S. 206,1f. bzw. S. 508,31f. Ebd., S. 206,12–16 bzw. S. 510,11–15.
4. Das platonische Erbe bei Meister Eckhart
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ten, d. h. sie um ihren ursprünglichen Sinn bringen und sie so für sein Konzept usurpieren. 2. Eckhart unternimmt es immer wieder, die Grundpositionen seines Konzepts, sein ontologisches Verständnis des Seelengrundes und der Gottesgeburt in ihrer Überzeitlichkeit, mit Hilfe von Bewegungen in Raum und Zeit – als Abfolgen, als Stufenwege – darzustellen. Um aber zugleich bewußt zu machen, daß es sich nur um Formen der Darstellung handelt, dreht er jeweils die Abfolgen um und läßt er die Bewegungen gegeneinander laufen. Spezifisch platonisch-neuplatonische Philosopheme wie das Ausfließen und Zurückfließen, das Absteigen und Aufsteigen werden aus ihrer Zyklik gelöst und paradox verschränkt und damit aufgehoben. 3. Die einzelnen Stufen der herangezogenen Wegmodelle können allegorisch gedeutet werden, wodurch sich auf der Sinnebene jede Kontinuität auflösen läßt. Die Bewegung an sich besagt also nichts mehr, denn sie wird auf die allegorische Bedeutung der einzelnen Positionen hin aufgebrochen. Und 4. erlaubt es sich Eckhart auch, raumzeitliche Bewegungen größeren Stils zu entwickeln, ihnen gleichsam einen Spielraum zu eröffnen, um sie dann am kritischen Punkt zu desavouieren, so daß das Denken in Wegmodellen sozusagen vor unsern Augen zusammenbricht. Weshalb, so wird man fragen, benützt Eckhart diese indirekten Verfahren, um seine Philosophie gewissermaßen über die Negation dessen, was sie nicht sein will, verständlich zu machen? Meine Analysen erlauben vier Antworten: 1. Wenn durch meine Interpretationen der Eindruck entstanden sein sollte, daß Eckhart sich als Neuerer gibt, so trifft dies keineswegs zu. Bei der Verteidigung gegen die Häresievorwürfe, die man gegen ihn vorbrachte, beruft er sich auf die Orthodoxie seines Konzepts. Wenn er sein Werk mit Autoritätszitaten durchsetzt, so stellt er sich damit in die Tradition, und die heidnischen meister gehören problemlos in die Reihe der Autoritäten, sind doch schon die Kirchenväter davon ausgegangen, daß die Wahrheit auch in ihren Schriften gewirkt hat, ja, daß sie sogar in verschleierter Form auf das Erlösungsgeschehen verweisen konnten. Das aufzudecken gehörte zum christlichen Philosophieren, und wenn Eckhart Platon usurpiert, dann darf man dies zunächst durchaus in dieser Perspektive sehen. Umdeutung ist Aufdeckung verborgener Wahrheit. Und doch sollte man entgegen dieser betonten Traditionalität nicht blind dafür sein, daß Eckharts Werk untergründig eine radikale Abrechnung mit dem gesamten vorausgehenden philosophisch-theologischen Denken darstellt. 2. Ungewöhnlich bleibt, auch wenn Eckhart im Prinzip die Methodik der christlichen Hermeneutik übernimmt, doch die Gewaltsamkeit, mit der er traditionelles Gedankengut auf sein spezifisches Konzept hininterpretiert. Von daher betrachtet, erscheint die Anknüpfung an die gängigen philosophisch-theologischen Traditionen als eine Vorgabe an seine Hörer oder Leser, über die er sie vom Vertrauten kontrastiv ins Unvertraute hinüberführen kann. Da dies immer wieder höchst abrupt geschieht, ja geschehen muß, da er ja deutlich machen will, daß er keinen Weg anbieten kann und darf, gehört ein aufrüttelnder Überraschungseffekt mit zur Strategie. 3. Es ist zu bedenken, daß unsere Darstellungsformen in ihrer Metaphorik raumzeitlich eingebunden sind, wobei die platonisch-neuplatonische Tradition mit ihrer Vorstellung einer Seinshierarchie und mit ihren Aufstiegsmodellen diese Einbindung besonders markant zum Ausdruck bringt. Will man darauf nicht zugunsten einer rein abstrakten Formulierungskunst verzichten, ist man gezwungen, sich auf die Raum-Zeit-Metaphorik einzulassen. Da dies bei Eckhart aber im Bewußtsein geschieht, daß dies dem Konzept, das
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
er vertritt, fundamental widerspricht, blieb ihm nichts, als Strategien zu entwickeln, durch die diese Darstellungsformen diskreditiert werden konnten oder sich selbst diskreditieren mußten. 4. Die Grundthese, daß es keinen Zugang zu Gott aus eigner Kraft gibt, da alles Vermittelnde ausgestrichen werden muß, wirkt ernüchternd, ja frustrierend. Und Eckhart scheint dies in Kauf zu nehmen, wenn er sagt, daß der, der ihn nicht versteht, sich nicht weiter bekümmern solle, denn es verhalte sich eben so, daß nur derjenige die Wahrheit verstehe, der eins mit ihr sei.66 Aber macht Eckharts Predigt dann überhaupt einen Sinn? Man müßte dies verneinen, denn wer in der Wahrheit steht, bedarf ihrer nicht, und wer nicht in ihr steht, für den ist sie fruchtlos. Das kann jedoch nicht das letzte Wort sein. Vielmehr ist zu bedenken, daß Eckhart, indem er auf die traditionellen Vermittlungsangebote eingeht, um sie scheitern zu lassen, gewissermaßen die negative Theologie als geistige Erfahrung in Szene setzt. Wer sie durchsteht, endet bei einer existentiellen Tabula rasa, die zwar nicht schon die abegescheidenheit ist, die aber doch wohl in einem höchsten Maße als Bereitschaft für den Durchbruch in sie gelten darf. Wenigstens so weit läßt sich, meine ich, die negative Strategie der Abrechnung mit der Tradition positivieren.
66
Predigt 52, DW II, S. 506,1–3. Vgl. dazu meine Studie „Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 521–537.
5. Reden und Schweigen bei Meister Eckhart
Wollte man das bis zum Überdruß zitierte letzte Wort des ›Tractatus logico-philosophicus‹ ernst nehmen, dürfte ich mit meinem Thema, Reden und Schweigen in der Mystik Meister Eckharts, hier nicht antreten: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“1 – das hat nicht nur für den Mystiker keine Geltung, der über etwas spricht, wovon er selbst sagt, daß man darüber nicht sprechen könne, sondern es ist überhaupt ebenso banal wie falsch. Ja, man darf getrost das Gegenteil behaupten und sagen: Es verlockt und lohnt sich insbesondere über das zu sprechen, worüber man eigentlich nicht sprechen kann. Oder anders gesagt: Nimmt man Sprache nicht nur als Mittel, Dinge und Sachverhalte wiederzugeben, sondern als ein Instrument, das seine eigenen Möglichkeiten zu reflektieren vermag, so gewinnt ihre Grenze ein besonderes Interesse, die Frage also, ob und, wenn ja, wie man in die Erfahrung und die Vermittlung dessen eintreten kann, was Worte nicht zu fassen vermögen. Der Wittgensteinsche Satz unterschlägt diese selbstreflexive Dimension der Sprache. Man sollte keine Bedenken haben, ihn ein für alle Mal über Bord zu werfen, ja, man kann sich die Legitimation dafür bei Wittgenstein selbst holen, denn man würde sein letztes Wort nicht so billig zitieren, wenn man sein vorletztes mitzulesen pflegte. Es lautet: „Meine Sätze erläutern sich dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (. . . ) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ Überwinden wir also den Unsinn des Wittgensteinschen Schlußsatzes! Schweigen versteht sich nicht einfach als Nicht-Reden, sondern es bleibt dieses NichtReden stets auf das Reden bezogen. Bei diesem Bezug sind drei Aspekte zu beachten, die in Hinblick auf die Position und Funktion des Schweigens zu Differenzierungen führen: 1. Reden und Schweigen schließen sich nicht einfach aus, vielmehr ist Schweigen ein integrales Moment des Kommunikationsaktes. 2. Schweigen braucht nicht darauf zu beruhen, daß sich über etwas nichts sagen läßt, sondern Schweigen kann ein Verhaltensmodus sein. Man kann schweigen, weil man grundsätzlich nicht reden will oder weil es sich in einer bestimmten Situation nicht empfiehlt zu reden. 3. Man kann schweigen, weil die Sprache versagt. Also 1. Schweigen als Element der Kommunikation, 2. Schweigen als Verhaltensmodus und 3. Schweigen aus einem Versagen der Sprache heraus.
1
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 51968, S. 115.
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Ad 1: Jede Rede kommt aus dem Schweigen und mündet ins Schweigen. Innerhalb des Sprechens erscheint das Schweigen in Form von Redepausen. Sie gliedern die Aussage und machen ihren Sinn erst verständlich. Sie sind also unentbehrliche Elemente des Kommunikationsaktes; sie sind Aussageelemente eigner Art und müssen wie Aussagen in Worten interpretiert werden. Und sie sind natürlich wie diese, ja vielleicht in noch höherem Maße, weil es Leerstellen sind, der Fehlinterpretation ausgesetzt. Auf einer zweiten Ebene spielt das Schweigen im Kommunikationsakt insofern eine fundamentale Rolle, als alles Sprechen zugleich ein Verschweigen ist. Alles, was gesagt wird, ist nur verständlich im Horizont des Ungesagten, im Horizont dessen, was ausgespart wird und doch mitklingt, mitwirkt. Wolfgang Iser hat diesen Sachverhalt in aller Radikalität formuliert; er sagt in seiner Studie ›Der Akt des Lesens‹: „Das Gesagte scheint erst dann wirklich zu sprechen, wenn es auf das verweist, was es verschweigt. (. . . ) Der Kommunikationsprozeß wird also nicht durch einen Code, sondern durch die Dialektik von Zeigen und Verschweigen in Gang gesetzt“.2 Anders gesagt: Ohne daß man den verschwiegenen Hintergrund einer Rede miteinbezieht, ist sie unverständlich. Schweigen ist somit in doppelter Hinsicht am Kommunikationsakt beteiligt, einmal als rhetorisches Mittel der Gliederung und Sinnsetzung und zum andern im Spiel zwischen dem Gesagten und dem Ungesagten, wobei letzteres zumindest genau so wichtig für das Verständnis ist wie das, was in Worte gefaßt wird. Ad 2: Schweigen kann eine Verhaltensform sein. Es ist dann Verweigerung der Kommunikation. Es kann sich dabei um einen grundsätzlichen Rückzug in die Wortlosigkeit handeln wie bei strengen Mönchsorden oder wenigstens um eine temporäre Beschränkung bei weniger radikalen Observanzen, oder es kann um ein Schweigen unter bestimmten Bedingungen gehen; man denke an den Königssohn in den ›Sieben weisen Meistern‹ oder an Märchen wie ›Die Sieben Raben‹. Innerhalb der Kommunikation aber ist dieses Schweigen als Verhaltensform im kleinen auch unabdingbar, wenn es um dialogisches Sprechen geht. Man kann nur hören, wenn man schweigt. Schweigen als Verhaltensform ist also sozusagen zweipolig. Es kann sich als Verzicht auf Rede gegen Kommunikation richten, und es kann anderseits Offenheit sein für die Rede anderer. Es läßt sich beides aber auch verbinden: Denn wird der Verzicht auf Rede in der Weise radikalisiert, daß er auf eine Verweigerung des kommunikativen Austauschs überhaupt zielt, auf einen Ausschluß letztlich der Welt, dann kann Schweigen Bereitschaft meinen für ein Hören auf das innere Wort, für ein Hören auf das, was jenseits äußerer verbaler Kommunikation liegt. Das schweigende Gebet etwa als ein Sich-Öffnen für das Wort Gottes. Ad 3: Schweigen aus einem Versagen der Sprache heraus. Zu einem Versagen der Sprache kann es schon im Rahmen eines normalen Kommunikationsaktes kommen, dann nämlich, wenn eine Erfahrung so übermächtig ist, daß man für sie keine Worte findet: Liebe, Schmerz, Glück oder Verzweiflung, wenn sie ein gewisses Maß überschreiten. Die Rede stockt, die Pausen werden zu Brüchen, ja, die Sprache bricht unter der Last 2
Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens (UTB 636), München 31976, S. 265.
5. Reden und Schweigen bei Meister Eckhart
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des Unbegreiflichen zusammen, oder sie wird unartikuliert. Man denke an Alkmenes berühmtes, unausdeutbares „Ach“, mit dem das Unfaßbare, das ihr widerfahren ist, halb erschreckt und halb beglückt angenommen und entlassen wird.3 Aber auch für das Schweigen als Verhaltensform kann das Versagen der Sprache eine Rolle spielen, dies dann, wenn das Schweigen aus dem Bewußtsein fließt, daß es Sachverhalte gibt, denen gegenüber Worte unangemessen sind. Ich erinnere an Cordelias Wort im ›König Lear‹: „Ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen heben.“4 Oder grundsätzliche Kommunikationsverweigerung im Wissen darum, daß Schweigen programmatisch als Voraussetzung dafür zu gelten hat, daß etwas einbricht, was das übersteigt, was der Sprachwelt angehört und über die Sprache zu vermitteln ist, Überweltliches, Numinoses, Göttliches. Aber nicht nur die Erfahrung oder die Erwartung des Unfaßbaren kann zum Schweigen führen, sondern die Sprache kann gewissermaßen aus sich selbst heraus zu ihrer Grenze vorstoßen, sie kann ihre Möglichkeiten ausreizen und letztlich den Sprung über sich selbst zu inszenieren suchen, d. h. einzutreten suchen in ein Schweigen, das jenseits der Sprache zu denken ist, und darum insbesondere wird es im folgenden gehen. Aber wohlgemerkt: Damit wechselt unser Reden vom Schweigen die Ebene: Schweigen ist dann nicht mehr Element der Kommunikation oder eine Form des Verhaltens oder ein Versagen der Sprache im Sprechen, sondern Schweigen steht für den Bereich, in dem die Sprache versagt. Es wird zum Äquivalent dessen, was nicht in Worte zu bringen ist, was sich der begrifflichen Bestimmung entzieht, und das heißt: Es tritt für das ein, was grundsätzlich jenseits von Raum und Zeit gedacht werden muß, das also nicht durch Differenzen gekennzeichnet werden kann, wie sie für die Bestimmung der Dinge dieser Welt und für die ihnen entsprechende menschliche Sprache Geltung haben. Kurz: Schweigen wird zur Metapher für das Unsagbare. Schweigen als Metapher für das Unsagbare ist also grundsätzlich zu unterscheiden vom Versagen der Sprache in der Kommunikation, vom Schweigen als Verhaltensform und vom Schweigen als Pause in der Rede oder als verschwiegenem Horizont hinter der Rede. Was jenseits von Raum und Zeit, jenseits von Differenz ist, kann man das Eine nennen, wie die Platoniker dies getan haben: das Hen, in dem in Ewigkeit alles, die ganze Fülle des Seienden, enthalten ist, ohne daß es raumzeitlich unterschieden wäre. Ununterschieden unterschieden. Die christlichen Denker haben dieses Eine der Platoniker dann mit Gott gleichgesetzt. Dabei wird die Gotteserkenntnis zum Problem. Denn über Gott als das Eine im Sinne absoluter Ununterschiedenheit kann nichts Positives ausgesagt werden, da jede Aussage ja auf Differenzierung beruht. Man kann nicht sagen, was Gott ist, man kann nur sagen, was er nicht ist. Das ist das Prinzip der negativen Theologie. Sie kennzeichnet Gott dadurch, daß sie ihm alles abspricht, was sich als etwas Bestimmtes in Worte fassen läßt. Dieses Absprechen, diese Apophase, kann etwa bei Meister Eckhart, und 3
Heinrich von Kleist, Amphitryon, hg. v. Roland Reuss u. Peter Staengle (H. v. Kleist, Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe I/4), Basel, Frankfurt a. M. 1991, v. 2362. 4 William Shakespeare, Sämtliche Werke, übers. v. August Wilhelm von Schlegel u. Ludwig Tieck, hg. v. Erich Loewenthal, 4 Bde., Heidelberg 51987, Bd. 3, S. 589.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
damit nähere ich mich meinem Autor, so weit gehen, daß er sagt, Gott sei nicht gut, Gott sei nicht weise. Denn wenn man Gott gut oder weise nenne, dann nehme man ihn in seinem vel, also seinem Äußeren, seinem kleit,5 man verfehle sein Wesen. Ja, man müsse Gott selbst das Sein absprechen, was zu der kühnen Aussage führt, Gott sei Nichts. So schon Dionysius Areopagita um 500, der diese negative Theologie maßgeblich geprägt hat. Seine Schriften sind im 9. Jahrhundert in den Westen gekommen und haben dann in der neuen Mystik des 12./13. Jahrhunderts ihre große Wirkung getan. In letzter Konsequenz freilich, so sagt Dionysius, müsse man selbst die Aussage ,Gott ist Nichts‘ noch übersteigen, da auch dieses Nichts formal wiederum eine positive Aussage ist, man müsse vielmehr sagen, Gott sei jenseits von Sein und Nichts. Oder noch besser ist es, auf jede Rede von Gott zu verzichten. Eckhart zitiert Dionysius, wenn er sagt: Am schönsten spricht man von Gott, wenn man von ihm schweigt – so in den ›Reden der Unterweisung‹, oder in Predigt 83: ,Schweig von Gott, denn wenn du von ihm redest, lügst du‘.6 Trotzdem finden sich bei Eckhart positive Aussagen über Gott. Aus dem Gedanken heraus, daß Gott sprachlich nicht faßbar ist, daß er jenseits der Sprache ist, kann Eckhart sagen, Gott sei Schweigen. Und deshalb könne man ihn auch nur im Schweigen erfahren. Gott ist Schweigen: Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine Prädikation im Sinne jener positiven Aussagen wie ,Gott ist gut‘, ,Gott ist weise‘ usw., die prinzipiell zu verwerfen sind. Denn Schweigen ist in diesem Fall, wie gesagt, Metapher. Und als solche ist sie mit andern Metaphern austauschbar, die auf ihre Weise die Undifferenziertheit Gottes ins Bild bringen; am nächsten stehen: Gott als Stille, Gott als Ruhe, aber es gehören hierher auch: Gott als Einöde, Gott als Wüste oder Abgrund oder als grundloser Grund. Gott ist Schweigen, Gott ist Wüste: Weshalb verfallen solche metaphorischen Aussagen nicht dem Verdikt der Apophase? Eine Metapher bringt etwas ins Bild, ohne daß es mit diesem Bild zur Deckung käme. Achill, der Löwe in der Schlacht, ist kein Löwe, sondern das Bild des Löwen stellt einen komplexen Zusammenhang in Achills Verhalten heraus, der nicht angemessen in Begrifflichkeit umzusetzen ist. Gott als Wüste ist keine Wüste, und Gott als Schweigen ist kein Schweigen, sondern die Metaphern bringen auch hier Zusammenhänge ins Bild, die in solcher Verdichtung mehr sind, als was sich aus einer diskursiven Auflösung ergäbe. Wüste evoziert Formlosigkeit, Konturlosigkeit, einen Bereich, in dem das Distinkte weitgehend verschwindet, wo man sich verliert usw. Und Schweigen als Metapher meint etwas, das jenseits des Wortes, jenseits des Aussprechbaren, jenseits der Kommunikation ist, etwas Unzugängliches, Resonanzloses usw. Metaphern sind also in der negativen Theologie deshalb erlaubt, weil es sich bei ihnen verbietet, sie mit dem Bezugsobjekt zur Deckung zu bringen; stattdessen führen sie in komplex-offene Zusammenhänge hinein, und im übrigen spielt beunruhigend eine emotionale Qualität mit, dies als implizit-unbestimmter Appell, das Provokative des Bildes zum Anlaß zu nehmen, nicht bei ihm zu verharren, sondern über es hinauszukommen. Und daß solche Metaphern nicht im Sinne von Identifikationen Gel5 6
Predigt 9, DW I, S. 152f. DW III, S. 442,4f.
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tung haben, zeigt sich auch daran, daß sie, wie gesagt, austauschbar sind, daß sie einander in Reihen ablösen können und sich dadurch gewissermaßen gegenseitig aufheben, d. h. die Unangemessenheit des jeweiligen Bildzusammenhangs bewußt machen. Wie kann etwas zugleich Wüste und Abgrund genannt werden? Das Nebeneinander sprengt unsere Vorstellungsmöglichkeiten und soll sie sprengen. Gott als Schweigen heißt also nicht, daß Gott schweigt – das wäre ja eine Verhaltensform –, sondern das bringt metaphorisch zum Ausdruck, daß er unter dem Aspekt der Sprache jenseits von allem ist, was Sprache in sich schließt: Bestimmbarkeit, Prädizierbarkeit, Kommunizierbarkeit. Das scheint nun freilich auf seiten des Menschen ein bestimmtes Verhalten zu verlangen: konkretes Schweigen. Denn menschliches Schweigen ist, wie zu Beginn erläutert, einbezogen in den Zusammenhang der Rede. Es ist Element der Kommunikation, insbesondere ist es auf Hören ausgerichtet. Gegenüber Gott, so kann man sagen, ist das ein Hören, das auf etwas jenseits der Sprache ausgerichtet ist, auf etwas, was aus Gott, der – metaphorisch – Schweigen ist, kommt. Erfährt der schweigend Hörende jedoch Gott tatsächlich als das, was mit Gott als Schweigen zum Ausdruck gebracht wird, so übersteigt der Hörende sein konkretes Schweigen, das Schweigen als Verhaltensform im Redezusammenhang, denn Gott als Schweigen meint, wie gesagt, ein Jenseits von sprachlicher Kommunizierbarkeit im Spiel von Schweigen und Sprechen. Hier gibt es keine Korrespondenz, sondern nur den Sprung. Gott als Schweigen ist in seiner Metaphorizität zwar als Grenzerfahrung der Sprache verstehbar, aber als Antwort darauf machbar ist nur die Offenheit des schweigenden Hörens als Verhaltensform. Für den Sprung ins Jenseits der Sprache selbst versagen per definitionem die sprachlichen Kategorien. Man kann nur sagen: Ist man in das, was das göttliche Schweigen meint, eingetreten, so hat sich das konkrete menschliche Schweigen verwandelt, es ist eins geworden mit dem Schweigen, das Gott meint. Man kann auch hier die Metaphorik zurücklassen und wie bei Gott als Hen den Sachverhalt ontologisch formulieren. Der Mensch fällt in der Begegnung mit dem Göttlichen auf etwas zurück, was diesem Göttlichen in seiner Unbestimmbarkeit entspricht, auf den Grund der Seele, auf ihr Sein, von dem Eckhart sagt, daß es frei sei von aller Vermittlung über raumzeitliche Bezüge. Hier trifft sich das Sein des Menschen mit dem Sein Gottes. Eckhart wird nicht müde, dieses Freisein von allem, was die Seele über ihre Kräfte, über die Sinne in die Bedingtheit des Irdischen einbindet, dieses ledic-Sein sozusagen, anzumahnen. Und wieder treten Metaphern für das ein, was jenseits dieser Raum-Zeit-Bindung liegt: huote, vünkelıˆn, tolde oder einfach das Höchste oder das Tiefste und wieder auch Grund und Abgrund. Und wieder wird das Vorläufige, das Bloß-Metaphorische dieser Benennungen deutlich gemacht, ja, es wird dies in der berühmten bürgelıˆn-Predigt explizit ausgesprochen; Eckhart formuliert es so: Bisweilen habe ich gesagt, dies [also dieser Seinsgrund der Seele] sei eine huote des Geistes [also eine Aufsicht über den Geist], bisweilen habe ich gesagt, es sei ein Licht des Geistes, bisweilen habe ich gesagt, es sei ein vünkelıˆn [hier taucht die deutsche Übersetzung eines traditionellen Bildes für das Innerste der Seele auf: scintilla animae], jetzt aber sage ich, es ist weder dies noch das, und doch ist es ein Etwas, das höher über dem Dies und Das liegt als der Himmel über der Erde.7 7
DW I, S. 39,2–6.
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Das Dies und Das, hoc et hoc, ist Eckharts Formel für das raumzeitlich Bestimmte. ,Darum‘, so fährt er fort, bezeichne ich es nun auf eine edlere Weise, als ich dies je getan habe, und doch spottet es sowohl dieser Edelkeit wie jedes Irgendwie-Seins, es ist darüber erhaben. Es ist von allen Bezeichnungen frei und aller Formen bloß, ganz ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Es ist so völlig eins und einfaltig, wie Gott eins und einfaltig ist.8
Und Eckhart kann dann auch sagen, all das, was vielfältig ist, was als Dies und Das erscheint, was in Raum und Zeit gebunden ist, all das müsse schweigen. Schweigen fungiert hier als Austauschmetapher für das Freisein von allem Bestimmten. Irritierend dabei ist nur, daß Eckhart die Befindlichkeit dieses Freiseins oder dieses Schweigens so darstellt, als ob es sich um eine Verhaltensform handeln würde: Man solle sich aus der Bindung an die Raumzeitlichkeit lösen, man solle schweigen, um für das Wort Gottes offen zu sein usw. Aber man darf sich nicht irritieren lassen. Solche Aufforderungen sind nur Redeweisen, sie umschreiben als kausales Verhältnis, was gar nicht über ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis machbar ist. Das Wenn-Dann ist in der Überzeitlichkeit aufgehoben: Wenn die Seele schweigt, dann tritt Gott in sie ein – das ist nur eine unserer Denkweise angepaßte Formulierung dafür, daß gerade nicht das eine auf das andere folgt, sondern daß das eine das andere ist. Dieses Verhältnis zwischen dem Schweigen als Verhaltensform und Schweigen als Metapher wird nirgends so elaboriert dargestellt wie in Eckharts Interpretation von ›Weisheit‹ 18,14–15. Eckhart hat diese Bibelstelle zweimal behandelt, einmal deutsch in der Predigt 1019 und einmal lateinisch in seinem ›Sapientia-Kommentar‹10. Sap 18,14–15 lautet – ich spare das aus, was Eckhart bei seiner Auslegung nicht berücksichtigt –: Cum enim quietum silentium contineret omnia, et nox in suo cursu medium iter haberet (...) omnipotens sermo tuus de coelo a regalibus sedibus (...) prosilivit: ,Als nämlich tiefes Schweigen alles umfangen hielt und die Nacht sich in der Mitte ihres Laufes befand (...), da kam dein allmächtiges Wort vom Himmel, von deinem Königsthron, herab.‘ In der exegetischen Tradition hat man diese ›Sapientia‹-Stelle, das allmächtige Wort, das vom Himmel herabkommt, prophetisch auf die Geburt Christi gedeutet. Und so ist denn Eckharts deutsche Parallelinterpretation eine Weihnachtspredigt. Eckhart begnügt sich aber in seinem Verständnis nicht mit dieser einen Deutung, er sieht vielmehr in Sap 18,14–15 einen siebenfachen Sinn, womit er dem bei den Vätern und im Mittelalter üblichen Verfahren des mehrfachen Schriftsinns folgt. Die ersten drei Deutungen darf ich knapp überfliegen. Ich paraphrasiere nur: Erstens: Am Anfang steht die wörtliche Bedeutung, also quietum silentium als konkrete Zeitangabe: in der Mitte der Nacht, als alles ruhte und im Schweigen war. Dann folgt zweitens die traditionelle Deutung auf die Geburt Christi, die Herabkunft des Wortes mitten in der Nacht, als die Hirten Nachtwache hielten und ihnen verkündet wurde: ,Euch ist heute der Heiland geboren‘, womit Lk 2 zitiert wird. Also, wie gesagt, die prophetische Auslegung des ›Alten Testaments‹ auf das ›Neue Testament‹ hin. 8
Ebd., S. 39,6–40,3. DW IV, S. 334–367. 10 LW II, S. 611–622. 9
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Die dritte Auslegung bezieht das Schweigen darauf, daß kein Opfer für die Sünde der Menschen genügen konnte; die Menschen waren sozusagen in ihrer Sünde gelähmt: Sie schwiegen, sie schliefen, und in diesem Schweigen ertönte das Wort Gottes an seinen Sohn, das Wort, das zur Erlösung führte. Mit der vierten Auslegung nähere ich mich dem Thema, dem mein Interesse gilt. Ich folge mit geringen Abweichungen der neuen Übersetzung von Georg Steer: „die Weisheit kommt in den Geist, wenn die Seele von der Unruhe der Leidenschaften und von der Beschäftigung mit den Dingen der Welt ruht“,11 quando ipsi silent omnia et ipsa silet omnibus – etwas genauer übersetzt heißt das: ,wenn alles für sie selbst schweigt und sie selbst für alles schweigt‘, also wenn die Dinge der Welt insgesamt von der Seele abgerückt, ins Schweigen gerückt sind und sie selbst im Schweigen abgerückt ist von ihnen. Hier haben wir wieder eine dieser Wenn-Dann-Formulierungen, die aber nicht eigentlich ein Folgeverhältnis meinen, sondern das Abgelöstsein ist gleichbedeutend mit der Anwesenheit der Sapientia, d. h. des Gotteswortes. Nach dem Appropriationenschema steht die Sapientia für die zweite Person. Wir können die sich anschließenden Zitate, die zur Bestätigung herangezogen werden, übergehen. Ich stelle die fünfte Auslegung zunächst zurück, weil hier ein Aspekt auftaucht, für den wir noch nicht vorbereitet sind. Die 6. Auslegung hingegen bringt eine uns schon bekannte Argumentation: Silent omnia divisim: „jedes einzelne getrennt für sich schweigt, wenn der Seele dieses und jenes Geschaffene und Unterschiedene schweigt“.12 Ich würde in etwas verständlicherem Deutsch übersetzen: ,Alles im Hinblick auf sein Sein als Einzelnes schweigt, wenn Dies und Das als Geschaffenes und Unterschiedenes für die Seele schweigt‘, wobei zu bemerken ist, daß dies notwendig ist für die Seele, die Gott selbst aufnehmen soll. Wieder scheint hier ein Verhaltensmodus als Bedingung für die Aufnahme Gottes in die Seele gefordert zu sein. Aber wieder handelt es sich im Grunde um eine Beschreibung des metaphorischen Schweigens, in dem die Seele sich befindet, wenn Gott in ihr gegenwärtig ist. Schweigen heißt, es ist alles, insofern es sich als Einzelnes darstellt, ausgeblendet, also das Dies und Das, das Bestimmte und Unterschiedene. Das Schweigen der Dinge für die Seele und das Schweigen der Seele für die Dinge steht also metaphorisch für ein Abgelöstsein aus dem Distinkten der Raumzeitlichkeit. In den deutschen Werken heißt dies abegescheidenheit, gelaˆzenheit, aˆne eigenschaft-Sein. Und dieses Abgelöstsein aus der Raumzeitlichkeit wird dann – weiter in Abschnitt 282 – vierfach begründet durch das Verhältnis Gottes zum hoc et hoc, zum Dies und Das. Ich kann mich mit einer Zusammenfassung dieser vierfachen Begründung begnügen: Gott steht über dem Dies und Das. Das Dies und Das stammt – Avicenna wird als Gewährsmann angeführt – von Gott, aber er ist über ihm. Das Dies und Das ist das Geschaffene gegenüber Gott, dem Ungeschaffenen. Gott ist das Ununterschiedene. Die Seele aber strebt danach, ebenfalls ununterschieden zu sein, d. h. sich mit Gott zu vereinen. An die Stelle des Ununterschiedenen kann auch das absolut Gute treten, nach dem die Seele strebt. Und so gesehen, lautet die Argumentation dann: Das Dies und Das kann nicht absolut gut sein, deshalb muß man es zurücklassen, um Gott, das absolut Gute, zu erreichen. 11 12
Ebd., S. 612. Ebd., S. 614.
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Ich überspringe auch die 6. Auslegung, um zu der sich anschließenden ergänzenden Deutung überzugehen, die Eckhart aufgrund einer abweichenden Lesart unserer ›Sapientia‹-Stelle vornimmt und die an das eben Gesagte anschließt – Abschnitt 284: Entgegen der Formulierung der ›Vulgata‹: dum quietum silentium continerent omnia steht nämlich in der Liturgie der Weihnachtsmesse: dum medium silentium tenerent omnia. Dabei versteht Eckhart medium merkwürdigerweise als Substantiv; unsere Übersetzung sagt: „Als alles das Mittel in Schweigen hielt.“13 Was soll das heißen? Ich ziehe zur Erläuterung Eckharts deutsche Weihnachtspredigt zu ›Weisheit‹ 18,14– 15 heran, die verständlicherweise von vornherein der Lesart der Liturgie folgt. Hier übersetzt Eckhart medium dentium mit mittel swıˆgen:14 ,Mittel-Schweigen‘. Damit ist gemeint: Es schweigen die Mittel, d. h., es schweigt jede Vermittlung. Das Schweigen meint hier die Preisgabe jeder Vermittlung im Sinne der raumzeitlichen Welt, der über die Sprache gegebenen Welt: Da schweigt alles Vermittelnde, denn dahinein [ins Innerste der Seele] kam nie ein Geschaffenes und auch kein Bild; weder betätigt sich hier die Seele noch versteht sie etwas; auch weiß sie um kein Bild, weder von ihr selbst noch von irgendeinem Geschaffenen.15
Und nun wird unterschieden zwischen dem verborgenen Grund der Seele und der Manifestation der Seele in ihren Kräften und deren Wirken nach außen: Alles was die Seele ins Werk setzt, bewirkt sie mit ihren Kräften: Was sie versteht, das versteht sie mit dem Verstand. Wenn sie sich erinnert, so tut sie dies mit ihrem Gedächtnis; wenn sie liebt, dann tut sie dies mit ihrem Wollen. Auf diese Weise wirkt sie mit ihren Kräften, nicht aber mit ihrem Sein. Alles Wirken nach außen hängt an etwas, das vermittelt. Die Kraft des Sehens wirkt allein über die Augen, auf andere Weise kann sie Sehen nicht in Gang bringen und ermöglichen. Und so verhält es sich auch mit allen andern Sinnen. Insofern sie nach außen wirken, wirken sie durch etwas, was vermittelt (...). Im Grund [der Seele], da ist das Schweigen der Mittel [was eben bedeutet, daß jede Vermittlung ausfällt], hier gibt es nur die Ruhe und ein vıˆren 16
– ,eine Feiertagsmuße‘, könnte man übersetzen. Und dieser Gedankenzusammenhang ist die Grundlage, von der aus dann auch der zweite Satz in Abschnitt 284 der lateinischen Interpretation verständlich wird: „Und dementsprechend muß man wissen, daß bei der Ankunft des Sohnes in den Geist jedes Mittel schweigen muß. Denn Vermittlung widerspricht von Natur aus der Einigung, welche die Seele mit Gott und in Gott erstrebt“.17 Schweigen = Ausfallen aller Vermittlung über das, was in der Sprache der Raumzeitlichkeit faßbar und kommunizierbar wäre, das ist die Vorbedingung für die Herabkunft des Wortes, des Sohnes in die Seele – was wiederum kausal formuliert, aber nicht so gemeint ist. Und das zielt genauer auf ein Geschehen, das in den beiden Auslegungen des ›Sapientia-Kommentars‹ besprochen wird, die ich übersprungen habe und die ich nun nachtrage. 13
Ebd., S. 616. DW IV, S. 343,40. 15 Ebd., S. 343,40–344,42. 16 Ebd., S. 344,43–345,51. 17 LW II, S. 616. 14
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Somit die 5. Auslegung: „Ruhe und Schweigen muß alles umfangen [silentium contineat omnia], damit Gott, das Wort, in den Geist kommt durch Gnade und der Sohn in der Seele geboren werde“.18 Die Herabkunft Gottes, des Wortes, ins Schweigen des Dies und Das, ins Schweigen der Mittel, wird also neu formuliert als die Geburt des Gottessohnes in der Seele. Sprechen und Gebären sind austauschbare Metaphern: Gott spricht in die Seele, Gott gebiert seinen Sohn in der Seele oder in die Seele. Ich will nur kurz anmerken, daß das Theologumenon von der Gottesgeburt in der Seele eine lange Vorgeschichte hat.19 Es geht auf die altchristliche Taufliturgie zurück. Die Taufe wurde verstanden als eine Wiedergeburt des Menschen in Christus. Den Ansatz gab Gal 4,19, wo Paulus den Galatern wünscht, daß Christus in ihnen Gestalt gewinnen möge (Christus formetur in vobis), und das wird dann in der Weise auf die Taufe bezogen, daß der Mensch durch sie, in diesem Sinn verwandelt, zum Kind, zum Logos-Kind, zum Sohn Gottes werden sollte. Bei Origenes entwickelt sich dies zum Gedanken einer Neugeburt der Seele aus dem Geist Gottes. Beim griechischen Kirchenvater Maximus Confessor wird dies erstmals mystisch interpretiert: Der Logos steigt in immerwährender Inkarnation in die Tiefe des menschlichen Herzens herab. Aber der Akzent bleibt zunächst auf der ethischen Erneuerung. Erst Eckhart versteht die Gottesgeburt dezidiert als ontologischen Vorgang, als ein Einswerden des Seelengrundes mit Gott, und er hat daran festgehalten, als ihm dies im Prozeß, den man gegen ihn angestrengt hat, als häretisch vorgeworfen wurde. Zurück zu unserem Thema: Das Schweigen der Seele gewinnt bei Eckhart seinen höchsten Sinn im Bezug auf die für ihn zentrale philosophisch-theologische Idee der Gottesgeburt im Menschen. Und das wird in folgender Weise weiterentwickelt: „Alles muß also schweigen, alles zusammen und jedes einzelne getrennt für sich. Alles zusammen genommen [deshalb], weil ,alles‘ Ausdruck für Zahl oder Vielheit ist“ – ich würde sagen: ,weil der Begriff omnia Zahl oder Vielheit in sich schließt‘. „Und das ist ja Abfall vom Einen. ,Gott aber ist Einer‘ [ein Zitat aus ›Galater‹]. Es schweigt und ruht aber jede Zahl und Vielheit in der Einheit und im [E]inen“.20 Ich fasse paraphrasierend zusammen: ,Alles muß schweigen‘ heißt im Bezug auf die Geburt des Sohnes in der Seele, daß die Vielheit, alles Unterschiedliche, was in dem Begriff omnia eingeschlossen ist, zurückgelassen werden muß, weil dieses Viele Abfall vom Einen, von Gott, ist, denn im Einen gibt es keine Vielheit; die Vielheit schweigt in ihm. Und hier schließe ich nun die 6. Auslegung an, die die Gottesgeburt weiter expliziert: „Ganz besonders aber muß tiefes Schweigen alles umfangen, damit Gott, der Sohn, in uns geboren wird und in unseren Geist kommt“ – besser: ,indem er in unseren Geist kommt‘. „Der Sohn ist ja das Bild des Vaters, und die Seele ist nach dem Bild Gottes“21 – ,geschaffen‘, muß man ergänzen. 18
Ebd., S. 613. Hugo Rahner, „Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi im Herzen der Gläubigen“, Zs. f. katholische Theologie 59 (1935), S. 333–418. 20 LW II, S. 613. 21 Ebd., S. 615. 19
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Wie verhält sich aber dieses Geborenwerden zum Abbild-Verhältnis zwischen Gott und Christus und Gott und der Seele? Stehen wir hier einmal mehr vor inkompatiblen Vorstellungen? Auf diese Frage antwortet die folgende etwas schwierige, aber entscheidende Stelle: Imago est formalis quaedam productio. Gemeint ist: Ein Bild geht formal aus dem hervor, dessen Bild es ist, ex sui ratione et proprietate, seinem Begriff und seiner Eigenart nach, und zwar – und nun wird wieder mit der Metapher des Schweigens operiert – indem jene Ursachen schweigen, die ihrem eigentlichen Sinn nach das Geschaffene draußen betreffen und die ein Herausfließen meinen, nämlich die causa efficiens und die causa finalis, die Wirkursache und die Zielursache. Das Bild aber als eine Emanatio der Form nach meint im eigentlichen Sinne ein Ausfließen. Was hat es mit dieser Unterscheidung zwischen ebullitio und bullitio – was eigentlich dasselbe heißt, nur daß in ebullitio das ,Heraus‘ stärker betont ist –, was hat es damit auf sich? Zugrunde liegt die Ursachenlehre des Aristoteles, wie dieser sie in seiner ›Metaphysik‹ entwickelt hat.22 Aristoteles unterscheidet vier Ursachen, die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis. Die causa materialis bezieht sich auf den Stoff, aus dem etwas gebildet ist, die causa formalis aber auf die Gestalt, in die der Stoff gebracht ist. Die causa efficiens ist die Ursache, die eine Wirkung ausübt, Feuer, das Wasser erhitzt z. B.; die causa finalis ist das Ziel, das etwas veranlaßt: etwas tun, um etwas Bestimmtes zu erreichen, Training für eine bestimmte Leistung z. B.; causa efficiens und causa finalis sind kennzeichnend für die Bewegungen im Bereich des Geschaffenen, es ist der Kausalität im Sinn der beiden causae unterworfen, während die causa formalis nicht ein dynamisches Verhältnis meint, sondern ein Geprägtsein durch eine vorgegebene Form, ein Porträt z. B. von irgendjemandem: Die dargestellte Person ist nicht die Wirkursache des Bildes. So ist auch der Gottessohn Bild des Vaters, ohne daß der Vater seine Wirkursache wäre, d. h., es handelt sich beim Hervorgehen des Sohnes aus dem Vater nicht um einen Vorgang in der Zeit, sondern es handelt sich um eine formalis emanatio, ein Herausfließen nur der Form nach, nicht der Kausalität im raumzeitlichen Sinne nach, die für das Geschaffene kennzeichnend ist. Emanatio jenseits der Zeit, das besagt, daß die Metapher des Herausfließens dazu angetan ist, falsche Vorstellungen zu wecken, genauso wie die übrigen Bewegungs-Metaphern für die Beziehung zwischen Vater und Sohn: also das Herabkommen des Wortes oder das Gebären. Um die Vorstellung einer als Bewegung in der Zeit verstandenen Kausalität zu vermeiden, operiert Eckhart mit paradoxen Formulierungen. Er sagt: Gott spricht das Wort, den Sohn, aber er spricht es ungesprochen.23 An anderer Stelle: Gott spricht schweigend. Der Sohn fließt aus dem Vater, aber dieses Ausfließen ist doch ein Drinbleiben. Gott gebiert seinen Sohn in die Seele, aber zugleich gilt: Die Seele gebiert den Sohn in den Vater zurück. Es geht um überzeitliche Vorgänge, die das Verhältnis zwischen den Personen der Trinität markieren. Aber Vorgänge sind für uns nur in der Zeit vorstellbar, und so bleibt nichts, als sie in ihrer scheinbaren Zeitlichkeit durch Umkehrung aufzuheben. 22 23
Josef De Vries, Grundbegriffe der Scholastik, 2., durchges. Aufl., Darmstadt 1983, S. 98. Eckhart, hg. Largier, I, S. 806f.
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Die menschliche Seele ist über die Gottesgeburt in ihrem Grund in den überzeitlichen göttlichen Prozeß, in dem der Sohn ewig aus dem Vater hervorgeht, einbezogen. Auch dies läßt sich nur widersprüchlich ausdrücken. Der Seelengrund ist ungeschaffen eins mit Gott, und doch kommt Gott in der Geburt des Sohnes in die Seele. Das Sein der Seele ist Gottes Sein, und doch ist es eine Identität mit Differenz, so wie der Sohn und der Vater eins und doch unterschieden sind. All dies liegt jenseits von allem Raumzeitlichen und Kausalen, es kann nicht in unsere Sprache umgesetzt werden. Im Bezug auf sie liegt es im Schweigen. Einen Zugang zu diesem Bereich kann es nicht geben, denn dazu wäre ein Mittel, ein Vermittelndes, eben Sprache nötig, und dieses Mediale ist im Prinzip ja gerade ausgeschaltet. Und so stellt sich denn die Frage, ob der Mensch überhaupt etwas tun kann, damit die Gottesgeburt sich in ihm ereignet. Das heißt, man steht vor dem prekären Problem, wie sich mystische Gotteserfahrung und Ethik zueinander verhalten. Eckhart handelt davon in seiner deutschen ›Sapientia‹-Predigt: Ich übersetze, leicht verkürzt, die entscheidende Passage: Er sagt: Die Frage ist, ,ob es für den Menschen richtig ist, Werke zu tun, die dazu beitragen könnten [, daß die Gottesgeburt in ihm geschehe] (. . . ), oder ob es besser sei, daß der Mensch sich ins Schweigen begebe, in die Stille und die Ruhe und Gott in ihm sprechen und wirken lasse‘.24 ,Ich wiederhole etwas‘, so fährt er fort, was ich schon sagte: Diese Worte und diese Wahrheit betreffen nur gute und vollkommene Menschen, die alle Tugenden an sich herangezogen und in sich hereingeholt haben, dies in der Weise, daß die Tugenden von selbst aus ihnen herausströmen ohne ihr Zutun (. . . ). Diese [also die ethisch vollkommenen Menschen] sollen es wissen, daß das Allerbeste und das Alleredelste, was man in diesem Leben erreichen kann, lautet: Du sollst schweigen und Gott in dir wirken und sprechen lassen25
– dies ist natürlich wieder ein falscher Imperativ! Die Position Eckharts in der Ethikfrage ist also völlig klar. Es kann gar nicht darum gehen, durch ethisches Verhalten etwas zur Gotteserfahrung beizutragen, sondern ein solches Verhalten ist immer schon vorausgesetzt. Ethik kann nicht vermitteln. Es gibt nur den Sprung, oder wie Eckhart sagt: den Durchbruch in den Grund des Seins. Ich betone nochmals: Alle Aussagen, die wie Aufforderungen klingen, die Aufforderung, sich vom Äußeren abzuwenden, sich aus der Bindung in die Raumzeitlichkeit zu lösen und alle Mittel und alle Vermittlung zum Schweigen zu bringen, all dies zielt nicht auf Verhaltensformen, sondern das sind nur Umschreibungen für das, was diese Ablösung, was dieses Schweigen ist: das Einssein mit dem Schweigen, das Gott ist. Ein letztes Problem, und damit komme ich am Schluß zu meinem Ausgangspunkt zurück: Das, was von Eckhart metaphorisch mit Schweigen bezeichnet wird: Gott, das Eine jenseits alles Differenzierten, des Vielen und damit auch dessen, was ins Wort zu bringen ist, und der menschliche Seinsgrund, in den man mit menschlichen Erkenntnismitteln nicht gelangen kann, dies wird doch sprachlich zu fassen versucht. Es wird also versucht, etwas zu kommunizieren, was nicht kommunizierbar ist. Damit steht man vor der fundamentalen Paradoxie mystischen Sprechens. Alle Mystiker insistieren 24 25
DW IV, S. 354,108–111. Ebd., S. 354,112–355,117.
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darauf, daß das, was sie erfahren haben, jenseits der Sprache geschehen ist, daß sie folglich darüber nicht sprechen können, daß sie vielmehr darüber schweigen müssen, und doch reden sie unentwegt, versuchen sie unentwegt, diese Erfahrung doch irgendwie zu vermitteln, selbst wenn sie wissen, daß dies gar nicht gelingen kann. Eckhart sagt es unumwunden, er sehe keine Möglichkeit, verständlich zu machen, was er meine. Wörtlich, Predigt 52: ,Solange jemand nicht eins ist mit der Wahrheit‘ – der Wahrheit, aus der heraus er predigt –, ,solange wird er das, was ich sage, nicht verstehen können, denn es handelt sich um eine hüllenlose Wahrheit, die unvermittelt aus dem Herzen Gottes kommt‘.26 Hier haben wir wieder die Signal-Begriffe: eine Wahrheit ohne Hülle, ohne Vermittlung. Und doch spricht Eckhart, er schreibt, er predigt, ja, er sagt in der berühmten Opferstock-Predigt (Predigt 61), er würde, wenn niemand zuhörte, dem Opferstock in der Kirche predigen. Warum? Sinn macht das nur, wenn man davon ausgeht, daß doch etwas in diesem Sprechen geschieht. Wenn man die Grenze der Sprache nicht überschreiten kann, so kann man immerhin diese Grenze zur Erfahrung bringen, dies, indem man die Sprache scheitern läßt, indem man kontinuierlich auf jenen Punkt zusteuert, an dem nur ein Sprung weiterhelfen würde, auch wenn dieser Sprung nicht machbar ist. Die Sprache scheitert an den Metaphern, die sie für das einsetzt, was jenseits von ihr ist, sie scheitert an der Kluft zwischen dem Bild und dem, was es nicht abdeckt. Sie scheitert daran, daß sie, wenn sie etwas jenseits von ihr zu fassen sucht, nur Paradoxien hervorbringt. Aber in diesem Scheitern wird doch eine Ahnung virulent, eine Ahnung davon, daß das Schweigen als Versagen der Sprache in jenes Schweigen umkippen könnte, das jenseits von Reden und Schweigen ist. Alles was man tun kann, ist auf diesen Punkt zugehen, ist reden, um das Schweigen zu finden, das man aus eigener Kraft nicht finden kann. Aber auch wer in der Wahrheit steht, muß sich ihrer immer wieder über den Umschlag an der Grenze versichern. Deshalb predigt Eckhart notfalls auch für den Opferstock, d. h. für sich selbst.
26
DW II, S. 506,1–3.
6. Eckhart, Predigt 72
Vorbemerkungen zur Textkonstitution Predigt 72 ist in drei Handschriften: Bra3 (heute Bodmeriana), Str2, Ga, und im Basler Taulerdruck von 1521 (BT) vollständig überliefert.1 Dazu kommen 9 Fragmente, von denen Quint jedoch nur OH2 im Apparat berücksichtigt.2 Die Texte repräsentieren drei Überlieferungszweige: 1. BTGa, wozu sich die von Quint nicht berücksichtigten Fragmente stellen,3 2. Str2, Bra3, wobei die letztere Handschrift relativ unzuverlässig ist, und 3. OH2.4 OH2 käme, nach dem Urteil Quints, trotz ihrer Kürzungen als Leithandschrift in Frage, wenn nicht das letzte Drittel fehlen würde. BT bietet einen recht gut lesbaren Text, wenngleich er nicht frei ist von Umformulierungen und Entstellungen.5 Quint geht von ihm aus, jedoch nicht nach strengem Leithandschriftenprinzip, vielmehr greift er stark nach den übrigen Handschriften ein, vor allem, wenn gemeinsame Lesarten der beiden andern Überlieferungszweige gegen BT stehen, letzteres freilich auch nicht konsequent. Dabei ist er sich selbst im klaren darüber, daß seine Textkonstitution „an manchen Stellen problematisch bleiben“ muß.6 Leider hat er zu seinen recht souveränen Eingriffen meist keine Erklärungen geboten; er scheint erwartet zu haben, daß die Übersetzungen, die er beigibt, seine Entscheidungen plausibel machen. Es wird sich zeigen, daß dies keineswegs immer der Fall ist. Ich hatte zunächst versucht, bei meiner Textherstellung so weit wie möglich BTGa zu folgen, sah mich aber dann doch immer wieder veranlaßt, auch dann Lesarten aus den andern Handschriften aufzunehmen, wenn BTGa einen durchaus sinnvollen Text boten. Dies im Blick auf die Interpretation, denn es konnte ja nicht darum gehen, eine Redaktion des frühen 16. Jahrhunderts zu interpretieren, sondern Eckharts ursprünglichen Denkweg nachzuvollziehen. So habe ich mich zögernd entschlossen, doch Quints Rekonstruktion zugrunde zu legen und nur dort von ihr abzuweichen, wo es dazu gute Gründe gab. Ich notiere auffällige Sonderlesarten, diskutiere die Problemstellen und verzeichne meine Abweichungen von Quint in den Anmerkungen.
1
Siehe Quints Darstellung der Überlieferung: DW III, S. 232ff. Die meisten sind ebd., S. 232–234, abgedruckt. 3 Siehe ebd., S. 235f. 4 Filiation: ebd., S. 234; vgl. auch Josef Quint, Die Überlieferung der deutschen Predigten Meister Eckeharts. Textkritisch untersucht, Bonn 1932, S. 862ff. 5 Die niederrheinische Bearbeitung Ga geht zwangsläufig eigene Wege, bietet aber immer wieder zu beachtende Lesarten. 6 DW III, S. 236. 2
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
[1] Videns Iesus turbas, ascendit in montem etc.7 Hiute8 liset man in dem eˆwangelioˆ,9 daz unser herre liez die schar10 und gienc11 uˆf den berc und doˆ giengen zuo im sıˆne jünger.12 Und er tete uˆf sıˆnen munt und leˆrte sie13 von dem rıˆche gotes.14 [2] ,Got leˆrte‘.15 Sant Augustıˆnus sprichet: „Swer daˆ leˆret, der haˆt gesetzet sıˆnen stuol in den himel.“16 Swer gotes leˆre enpfaˆhen wil, der muoz uˆfgaˆn und übergaˆn über allez, daz uˆzgespreitet17 ist: des muoz er sich verzıˆhen. Swer gotes leˆre enphaˆhen wil, der muoz sich samenen und ˆınsliezen in sich selber18 und sich keˆren von allen sorgen und kumbernissen und von dem gewerbe niderr dinge. Die krefte der seˆle, der alsoˆ vil ist und die sich alsoˆ wıˆte teilent,19 die sol er übergaˆn dannoch, daˆ sie sint in den20 gedenken, swie
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Mt 5,1f. – BTGa bringen im Anschluß an das lat. Schriftwort, wie auch anderweitig, einen Inhaltsüberblick über die Predigt. Siehe DW III, S. 239, Fn. zu 1. 8 Hiute ist nur in BTGa überliefert; Quint übernimmt es nicht. Die von Eckhart häufig verwendete Formel man liset erscheint bald mit und bald ohne hiute. Wenn man sich an BT orientiert, besteht kein Grund, hiute nicht zu übernehmen. Freilich fehlt in BT die mit der Formel üblicherweise verbundene Stellenangabe, hier: in dem eˆwangelioˆ; aber Ga hat sie bewahrt oder ergänzt. 9 Die Perikope, der der Bibeltext entnommen ist, wurde an verschiedenen Heiligenfesten und auch an Allerheiligen gelesen; vgl. Joachim Theisen, Predigt und Gottesdienst. Liturgische Strukturen in den Predigten Meister Eckharts, Frankfurt a. M., Bern u. a. 1990, S. 263 zu Pr. 52. Die Zuweisung der Pr. 72 zu einem bestimmten Fest ist nicht möglich; sie ist über das Leitzitat hinaus nicht liturgisch verankert, ebd., S. 266. Vgl. auch die Zuordnungsmöglichkeiten, die BT in der zusammenfassenden Einleitung erwägt (siehe DW III, S. 239, Fn. zu 1). 10 Eckharts Übersetzung beruht auf einer Sonderlesart der ›Vulgata‹; sie ist faßbar in OH2: dimissa turba ascendit in montem, und in Str2: relicta turba etc. 11 OH2 schreiben steic. Daß es sich dabei um eine sekundäre Anlehnung an den lat. Text handelt, zeigt die Wiederaufnahme des Satzes zu Beginn der Abschnitte 3 und 4, wo durchgängig gienc überliefert ist. 12 Ich übernehme – gegen Quint – und doˆ giengen zuo im sıˆne jünger aus BTGa. Der Satz entspricht der biblischen Vorlage. Ohne ihn würden im folgenden Satz die Adressaten fehlen. 13 Quint weicht mit Doˆ tete er uˆf sıˆnen munt und leˆrte von BT ab. Ich sehe um so weniger einen Grund, dies nachzuvollziehen, als BT dem biblischen Wortlaut folgt. 14 Es handelt sich um die Einleitung zur Bergpredigt; das Wort vom rıˆche gotes ist also auf die Seligpreisungen zu beziehen, von denen freilich – nach der für Eckhart typischen punktuellen Exegese – im folgenden nicht die Rede sein wird. 15 Ich folge – gegen BTGa – OH2 und Bra3. Quint schreibt: und leˆrte nach Str2, was sich als genaues Zitat aus dem Bibeltext rechtfertigen läßt. Ich halte es jedoch für wahrscheinlicher, daß Eckhart sich beim Zitieren die Freiheit nahm, das Subjekt zu ergänzen. 16 Die Stelle ist nachgewiesen bei Quint, DW III, S. 240, Anm. 2. 17 Normalerweise wäre mit ,ausgebreitet‘ zu übersetzen. Gemeint ist hier aber das, was durch die Schöpfung als Vielheit in Erscheinung getreten ist. Ich übersetze im Blick auf Abschnitt 7, wo als Gegenbegriff einvaltic erscheint, mit ,ausgefaltet‘. Vgl. Anm. 36. 18 BT: sich in sich sliezen. Quint bessert, da eine gemeinsame La. in den beiden andern Überlieferungszweigen (OH2 und Str2) dagegensteht. 19 Das ist die subjektive Seite dessen, was in Abschnitt 2 mit uˆzgespreitet bezeichnet worden ist. Der Vielheit und Differenziertheit des Geschöpflichen entsprechen spezifische Formen des Erkennens. Vgl. Abschnitt 7. 20 BT, Str2, Bra3: dem. Quint bessert nach OH2: den – und wohl auch im Blick auf Parallelstellen, z. B. DW III, S. 216,4.
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[1] Videns Iesus turbas, ascendit in montem etc. Man liest heute im Evangelium, daß unser Herr die Menge zurückließ und auf den Berg ging; und da traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf und belehrte sie über das Reich Gottes. 5
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[2] ,Gott lehrte‘: Sankt Augustinus sagt: „Wer lehrt, hat seinen Stuhl in den Himmel gesetzt.“ Wer Gottes Lehre empfangen will, der muß emporsteigen und alles übersteigen, was ausgefaltet ist: daraus muß er sich zurückziehen. Wer Gottes Lehre empfangen will, der muß sich sammeln, sich in sich selbst einschließen und sich abwenden von allen Sorgen und Beschwernissen und von der Beschäftigung mit niederen Dingen. Ebenso soll er die Kräfte der Seele überschreiten, so viele es sind und so differenziert sie sind, auch den Bereich der Gedanken, insofern sie ihm zugehören, wenngleich das Denken
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
doch der gedank wunder würket, daˆ er in im selber ist. Disen gedank sol man übergaˆn, sol got sprechen in die krefte, die niht geteilet ensint. [3] Daz ander: ,er gienc uˆf den berc‘, daz meinet, daz got daˆ wıˆset die hœhe und die süezicheit sıˆner natuˆre. In dem bekantnisse, in dem von noˆt abevellet allez,21 daz creˆatuˆre ist, daˆ enweiz er22 niht wan got und sich, als er ist ein bilde gotes.
[4] Daz dritte: ,er gienc uˆf den berc‘, daz erzeiget sıˆne hœhe – daz hoˆch ist, daz ist gote naˆhe – und meinet die krefte, die gote soˆ naˆhe sint. Unser herre nam ze einem maˆle drıˆe sıˆner jünger und vuorte sie uˆf einen berc und erschein vor in in glıˆcher klaˆrheit23 an dem lıˆchamen, als wir suln haben in dem eˆwigen lebene.24 Unser herre sprach: ,gedenket des, daz ich von dem himel ze iu sprach,25 doˆ ensaˆhet ir noch bilde noch glıˆchnisse‘. Soˆ der mensche læzet ,die schar‘,26 soˆ gibet sich got in die seˆle sunder bilde und glıˆchnisse. Alliu dinc werdent bekant in bilde und in glıˆchnisse.
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Quint folgt nicht BTGa, sondern der übrigen Überlieferung, in der bekantnisse fehlt. Bei ihm lautet die fragliche Stelle: natuˆre, in den von noˆt abevellet, und er übersetzt: „Das will besagen, daß Gott (damit) die Höhe und die Süße seiner Natur anzeigt, worin notwendig alles, was Kreatur ist, abfällt“. Er muß also in den auf hœhe und süezicheit beziehen, was nicht sonderlich sinnvoll ist. Ich halte es für wahrscheinlicher, daß BTGa die ursprüngliche La. bewahrt haben, als daß sie bekantnisse frei erfunden hätten. In Bra2, OH2, Str2 ist in dem erhalten geblieben, was sich nicht anschließen läßt – ein Indiz mehr, daß bekantnisse ausgefallen ist. Der Anschluß bleibt zugegebenermaßen etwas hart. Aber meine Auffassung bestätigt sich durch den Rückbezug auf diese Stelle in Abschnitt 4, wo deutlich gesagt wird, daß es bei Christi Worten auf dem Berg um die besondere Weise des Erkennens ,in der Höhe‘ ging. 22 Quint schreibt mit BT daˆ enweiz er niht, und dann: als er ist, und er übersetzt: „Dort (d. h. auf dem ,Berg‘ als der Höhe und Süße seiner Natur) weiß er (= der Mensch) nichts als Gott und sich selbst, insofern er ein Bild Gottes ist.“ Bra3 hat die Stelle entsprechend aufgefaßt und der mensch gesetzt. OH2 schreiben: di sele, wohl mit Rücksicht darauf, daß in Abschnitt 6 dann von der Seele als dem Bild des Sohnes die Rede ist, und so wird denn anschließend auch konsequent gesagt: alse sie godis bildes bilde ist (H2). Das ist eine klare Lösung. Als Alternative bietet sich an, er nach BT stehen zu lassen und es – ebenfalls im Blick auf Abschnitt 6 – auf Gott = Christus als Bild Gottes zu beziehen. 23 Hier wird mit Unser herre bis klaˆrheit Mt 17,1f. mehr referiert als zitiert. und erschein vor in in (. . . ) klaˆrheit gibt Et transfiguratus est ante eos wieder. 24 Quint entscheidet sich hier gegen BT: als wir in sehen werden. Die Änderung ist überzeugend; siehe DW III, S. 241f., Anm. 2. 25 Quint: doˆ ich ze iu sprach. Ich ergänze von dem himel nach BTGa, denn es wird doch wohl Bezug genommen auf Christi Wort vom Reich Gottes in Abschnitt 1 – ein Rückbezug, der sich durch die Wiederaufnahme von schar im nächsten Satz bestätigt. Und wenn dann gesagt wird, daß es dort um eine Erkenntnis ohne Bilder und Gleichnisse ging, so dürfte sich dies auf das Erkennen auf der Höhe des Berges, bei dem alles Kreatürliche abfällt, in Abschnitt 3 beziehen. 26 Das Verlassen der schar wird nun in übertragener Bedeutung verstanden. schar gehört mit zıˆt, stat, zal, menige zu jenen Begriffen, die die Bindung des Menschen ins Kreatürliche kennzeichnen; vgl. DW III, S. 242, Anm. 2. Man müßte also eigentlich übersetzen: ,Wenn der Mensch die Menge, d. h. Vielheit, hinter sich läßt‘. Ich helfe mir, indem ich si gibet mit ,das bedeutet‘ anschließe. Siehe auch Anm. 62.
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mit den ihm eigenen Möglichkeiten Erstaunliches vollbringt. Dieses Denken soll man überschreiten, wenn Gott in die Kräfte hineinsprechen soll, die nicht differenziert sind.
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[3] Zweitens: ,Er ging auf den Berg.‘ Das bedeutet, daß Gott [= Christus], indem er sich dort aufhält, hinweist auf die Höhe und die Herrlichkeit seiner Natur. Beim Erkennen [auf dieser Höhe], bei dem notwendigerweise alles ausfällt, was kreatürlich ist, da weiß er nichts außer Gott und sich, denn er ist ein Bild Gottes. [4] Drittens: ,Er ging auf den Berg.‘ Das weist auf seine Höhe – was hoch ist, das ist Gott nahe –, und es sind damit die Kräfte gemeint, die Gott ganz nahe sind. Unser Herr nahm einmal drei seiner Jünger und führte sie auf einen Berg und erschien vor ihnen in solcher leiblicher Verklärung, wie wir sie im ewigen Leben haben werden. Unser Herr sagte: ,Erinnert euch dessen, was ich euch vom Himmel gesagt habe; da habt ihr weder Bilder noch Gleichnisse gesehen‘. Wenn ein Mensch die Menge hinter sich läßt, so bedeutet dies, daß Gott sich in seine Seele begibt ohne Bilder und Gleichnisse. Die Dinge [hingegen] werden durchwegs in Bildern und Gleichnissen erkannt.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
[5] Sant Augustıˆnus leˆret von drıˆerleie bekantnisse.27 Daz eˆrste ist lıˆplich, daz nimet bilde als daz ouge: daz sihet und nimet bilde. Daz ander ist geistlich und nimet doch bilde von lıˆplichen dingen. Daz dritte ist inwendic in dem geiste, daz bekennet sunder bilde und glıˆchnisse, und diz bekantnisse glıˆchet sich den engeln. Diu oberste heˆrschaft der engel diu teilet sich in driu.28 Ein meister sprichet: diu seˆle bekennet sich niht sunder glıˆchnisse, aber der engel bekennet sich sunder glıˆchnisse und got. Er wil sprechen: got gibet sich in der hœhe in die seˆle sunder bilde und glıˆchnisse. [6] ,Er gienc uˆf den berc und wart widerbildet29 vor in‘. Diu seˆle sol widerbildet sıˆn und ˆıngedrücket in daz bilde und widerslagen in daz bilde, daz gotes sun ist.30 Diu seˆle ist gebildet naˆch gote, sprichet diu geschrift der waˆrheit;31 aber die meister sprechent, daz der sun ist ein bilde gotes, und diu seˆle ist gebildet naˆch dem bilde. Soˆ spriche ich meˆ: der sun ist ein bilde gotes obe bilde; er ist ein bilde sıˆner verborgenen gotheit. Daˆ der sun ein bilde gotes ist und daˆ der sun ˆıngebildet ist, da´r naˆch ist diu seˆle gebildet. In dem selben, daˆ der sun nimet, daˆ nimet ouch diu seˆle. Dannoch, daˆ der sun uˆzvliezende ist von dem vater, daˆ enbehanget diu seˆle niht: si ist obe bilde.32 Viur und hitze daz ist ein und ist doch verre von einem. Smak und varwe an einem apfel ist ein und ist doch verre von einem. Der munt nimet den smak, dar zuo enkan daz ouge niht getuon; daz ouge nimet die varwe, daˆ enweiz der munt niht umbe. Daz ouge wil lieht haben; dannoch ist der smak wol in der naht.33 Diu seˆle enweiz niht wan umbe e´in,34 si ist obe bilde.
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Nachweis bei Quint, DW III, S. 242f., Anm. 3; siehe unten Anm. 63. Es sind nach Dionysius Areopagita neun Engelchöre zu unterscheiden, die in Dreiergruppen zusammengefaßt werden; die oberste Gruppe bilden die Throni, Cherubim und Seraphim; vgl. DW III, S. 243, Anm. 1, mit Parallelen und Verweisen. 29 widerbildet übersetzt hier transfiguratus. Die übliche Bedeutung von widerbildet wäre: ,abgebildet‘. Es muß hier aber mit ,überbildet‘ wiedergegeben werden, gemeint ist: ,überbildet in Gott‘. Quint übersetzt sinngemäß mit „verklärt“, er verliert damit aber den unmittelbaren Bezug zum Bild-Vokabular der folgenden Sätze. 30 Dieser Satz wird in BTGa variierend wiederholt. Quint hält dies wohl zu Recht für nicht ursprünglich, DW III, S. 244, Anm. 1. 31 Diu seˆle bis waˆrheit fehlt BTGa; Quint ergänzt nach Bra3, läßt jedoch sprichet diu geschrift der waˆrheit weg, da er das für eine Zufügung hält. Mir scheint dies nicht gerechtfertigt, da es Eckhart im folgenden darum geht, diese biblische Ansicht derjenigen der Meister gegenüberzustellen, um schließlich seine eigene Meinung zu formulieren. Er dürfte die Positionen in dieser Diskussion klar kenntlich gemacht haben. 32 Der uˆzvliezende sun ist die in der Schöpfung sich manifestierende zweite Person. Wenn gesagt wird, daß ,die Seele da nicht drin hängt‘, so ist damit gemeint, daß der Grund der Seele unabhängig ist vom konkreten Schöpfungsprozeß; vgl. Abschnitte 10 und 11; dazu unten die Interpretation, S. 329f. 33 Daz ouge bis naht hat Quint nach Str2, Bra3 und OH2 gegen BTGa zweifellos zu Recht beibehalten; siehe DW III, S. 246, Fn. zu 1 und Anm. 1. 34 Es ist nicht möglich, die Implikationen dieses ein mitzuübersetzen. Gemeint ist das Eine jenseits der geschöpflichen Ausfaltung. Siehe dazu unten die Interpretation, S. 327; vgl. auch den auf dieses ein bezogenen Begriff einvaltic in Abschnitt 7 mit Anm. 36. 28
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[5] Sankt Augustinus lehrt, daß es drei Erkenntnisweisen gibt. Die erste ist körperlich. Sie nimmt Bilder auf wie etwa das Auge, das sieht und d. h. Bilder aufnimmt. Die zweite ist geistig; aber sie bedient sich doch der körperlichen Dinge als Bilder. Die dritte vollzieht sich im Innern des Geistes; sie erkennt ohne Bilder und Gleichnisse; und diese Erkenntnis entspricht derjenigen der Engel. Der oberste Machtbereich der Engel ist dreigeteilt. Ein Meister sagt: Die Seele erkennt sich nicht bildlos, aber der Engel erkennt sich und Gott bildlos. Er will sagen: In der Höhe gibt sich Gott der Seele ohne Bilder und Gleichnisse. [6] ,Er ging auf den Berg und wurde vor ihnen überbildet [in Gott]‘. Die Seele soll überbildet und hineingedrückt und hineingeschlagen sein in das Bild, das Gottes Sohn ist. Die Seele ist geschaffen nach dem Bild Gottes, sagt die Heilige Schrift. Aber die Meister sagen, daß der Sohn das Bild Gottes sei und die Seele nach dessen Bild gebildet sei. Ich hingegen sage darüber hinaus: Der Sohn ist ein Bild Gottes über der Bildlichkeit; er ist ein Bild seiner verborgenen Gottheit. So wie der Sohn ein Bild Gottes ist und in ihn hineingebildet ist, so ist die Seele nach ihm gebildet. Von dort, wo der Sohn [sein Bild-Sein] herholt, von dort holt [es] auch die Seele her. Wo hingegen der Sohn aus dem Vater ausströmt, daran hat die Seele [in ihrem Grunde] nicht teil; sie ist über dem Bildhaften. Feuer und Hitze sind eins, und sie sind doch keineswegs dasselbe. Der Geschmack und die Farbe eines Apfels sind eins und sind doch keineswegs dasselbe. Der Mund empfindet den Geschmack; dazu kann das Auge nichts beitragen; das Auge nimmt die Farbe auf, davon weiß der Mund gar nichts. Das Auge braucht Licht; dagegen schmeckt man auch in der Nacht. Die Seele weiß nichts außer dem Einen; sie ist über dem Bildhaften.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
[7] Der wıˆssage sprichet: ,got wil vüeren sıˆniu schaˆf an eine grüene weide‘.35 Daz schaˆf ist einvaltic36: alsoˆ sint die liute einvaltic, die in ein gevalten sint.37 Ein meister sprichet,38 daz man des himels louf an nihte enmüge als wol erkennen als an einvaltigen tieren, diu enpfaˆhent einvalticlıˆche des himels ˆınvluz, und diu kint, diu enhaˆnt niht eigens sinnes. Aber die liute, die daˆ wıˆse sint und vil sinne haˆnt, die werdent allez uˆzgetragen in manicvaltigen dingen.39 Daz gelobete unser herre, daz ,er sıˆniu schaˆf laben wölte uˆf dem berge an einem grüenen grase‘. Alle creˆatuˆren grüenent in gote. Alle creˆatuˆren vallent ze dem eˆrsten uˆz gote, dar naˆch durch die engel. Waz ke´iner creˆatuˆre natuˆre enhaˆt, daz haˆt ˆındruk a´ller creˆatuˆren in im selben. Der engel haˆt in sıˆner natuˆre ˆındruk aller creˆatuˆren. Waz des engels natuˆre enpfaˆhen mac, daz haˆt er allez alzemaˆle in im. Waz got geschepfen mac, daz treget der engel in im, dar umbe daz sie niht beroubet ensint der volkomenheit, die ander creˆatuˆren haˆnt.40 Waˆ von haˆt daz der engel? Daˆ ist er gote naˆhe.
[8] Sant Augustıˆnus sprichet: waz got schepfet, daz haˆt einen durchvluz durch die engel.41 In der hœhe daˆ sint grüene alliu dinc. In der hœhe des berges daˆ sint alliu dinc grüene und niuwe;42 daˆ sie vallent in zıˆtlicheit, daˆ bleichent sie und valwent. In der niuwen grüene aller creˆatuˆren daˆ wil unser herre spıˆsen sıˆniu schaˆf. Alle creˆatuˆren, die daˆ sint in der grüene und in der hœhe, als sie in den engeln sint, die werdent der seˆle lustlıˆcher dan allez, daz in dirre werlt ist. Als unglıˆch diu sunne ist wider die naht, als unglıˆch ist diu minste creˆatuˆre, als si daˆ ist, wider aller der werlt.
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Ez 34,1ff. Es gibt keine nhd. Entsprechung zu mhd. einvaltic. Quint erfindet ein nhd. ,einfaltig‘. Ich ziehe es vor, das mhd. Wort unübersetzt zu lassen. einvaltic bildet lat. simplex nach. Der Gegenbegriff ist manicvaltic. Die Opposition bezieht sich auf das Gegenüber des transzendenten Einen und der in die Vielfalt ausgeflossenen Schöpfung. 37 Dieser Satz steht gedanklich isoliert und ist aus dem unmittelbaren Zusammenhang kaum verständlich. Er ist denn auch nicht durchgängig überliefert; er fehlt OH2 ebenso wie der vorausgehende Satz vom einvaltigen Schaf, der in einem größeren Teil der Überlieferung ausgefallen ist. Dieser Satz ist jedoch, wie Quint, DW III, S. 246, Anm. 2, bemerkt, unentbehrlich. 38 Quint, ebd., S. 246f., Anm. 3, verweist dazu auf Thomas von Aquin und Albertus Magnus. 39 Vgl. Anm. 17. 40 Die sehr komprimierte Formulierung macht Schwierigkeiten für das Verständnis. Erst im Gespräch mit Georg Steer ist mir ganz klar geworden, wie die Stelle aufzufassen ist. Ich zitiere seine briefliche Interpretation und danke ihm für seine kritische Hilfe – nicht nur im Bezug auf diesen Passus: „Eckhart will sagen: Jedes Geschöpf hat seine Vollkommenheit, es hat aber nicht die Vollkommenheit der anderen Geschöpfe. Der Engel jedoch verfügt über die Vollkommenheiten aller Geschöpfe wegen seiner besonderen Nähe zu Gott.“ Ich sehe mich außerstande, dies in der Übersetzung klar zu machen. 41 Nachweis: DW III, S. 249, Anm. 1. 42 Dieser Satz wirkt wie eine verbessernde Variante des vorausgehenden Satzes. Er darf jedoch nicht gestrichen werden, nicht nur, weil er durch alle drei Überlieferungszweige gestützt wird, sondern weil es Eckharts Verfahren entspricht, eine Aussage zu wiederholen und sie nur durch einen zusätzlichen Begriff weiterzuentwickeln; hier: niuwe. 36
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[7] Der Prophet spricht: ,Gott will seine Schafe auf eine grüne Weide führen‘. Das Schaf ist einvaltic; und so sind die Leute einvaltic, die in eins gefaltet sind. Ein Meister sagt, daß man des Himmels Lauf an nichts so gut erkennen könne wie an einvaltigen Tieren, die auf einvaltige Weise die Wirkung des Himmels aufnehmen; so auch die Kinder, denen kein Verstand eignet. Die Leute hingegen, die weise sind und kenntnisreich, die werden ganz hinausgezogen in die Vielfalt der Dinge. Dies verhieß unser Herr, daß ,er seine Schafe erquicken wolle auf dem Berg mit grünem Gras‘. Alle Geschöpfe grünen in Gott. Alle Geschöpfe fallen zunächst aus Gott heraus, dann durch die Engel hindurch. Was nicht von geschöpflicher Natur ist, in dem sind alle Geschöpfe [geistig] vorgeprägt. Der Engel trägt seiner Natur gemäß die Vorprägung aller Geschöpfe in sich. Was der Engel seiner Natur nach erkennen kann, das trägt er alles schon in sich. Alles, was Gott erschaffen kann, das trägt der Engel in sich; dies, damit ihm nicht die Vollkommenheit fehlt, die die Geschöpfe je für sich selbst haben. Wem verdankt das der Engel? Der Nähe Gottes. [8] Sankt Augustinus sagt: Was Gott erschafft, das geht durch die Engel hindurch. In der Höhe sind alle Dinge grün. Auf der Höhe des Berges sind alle Dinge grün und neu. Wenn sie in die Zeitlichkeit fallen, da verlieren sie die Farbe und werden fahl. Im neuen Grün aller Geschöpfe, da will unser Herr seine Schafe weiden. Alle Geschöpfe, die in der Grüne und in der Höhe sind, so wie in den Engeln, die sind für die Seele lustvoller als alles, was in dieser Welt ist. So wenig wie die Nacht mit der Sonne zu vergleichen ist, so wenig kann die ganze Welt den Vergleich mit dem geringsten Geschöpf dort aushalten.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
[9] Dar umbe: swer gotes leˆre enpfaˆhen wil, der muoz komen uˆf disen berc. Daˆ wil in43 got volbringen in dem tage der eˆwicheit, daˆ ein ganz lieht ist. Waz ich in gote bekenne, daz ist ein lieht; waz creˆatuˆre rüeret, daz ist naht. Daˆ ist ein waˆr lieht, daˆ ez44 creˆatuˆre niht enrüeret. Swaz man bekennet, daz muoz lieht sıˆn. Sant Johannes sprichet:45 ,got ist ein waˆr lieht, daz daˆ liuhtet in der vinsternisse‘. Waz ist diu vinsternisse? Ze dem eˆrsten: daz der mensche niendert enhafte noch enhange und blint sıˆ und niht enwizze von creˆatuˆren. Ich haˆn ez ouch meˆ gesprochen:46 swer got sehen wil, der muoz blint sıˆn.47 Daz ander: ,got ist ein lieht, daz daˆ liuhtet in der vinsternisse‘. Er ist ein lieht, daz verblendet. Diz meinet ein soˆgetaˆn lieht, daz unbegriffen ist: ez ist unendelich, daz ist, daz ez kein ende enhaˆt; ez enweiz umbe kein ende niht. Daz meinet, daz ez die seˆle blendet, daz si niht enweiz und daz si niht enbekennet. Diu dritte vinsternisse ist allerbeste und meinet, daz kein lieht enist. Ein meister sprichet:48 der himel enhaˆt kein lieht, er ist ze hoˆch dar zuo; er enliuhtet niht, er enist noch kalt noch warm in im selber. Alsoˆ verliuset diu seˆle in der vinsternisse allez lieht; si entwahset49 allem dem, daz hitze geheizen mac oder varwe.
[10] Ein meister sprichet:50 das hœhste daz ist lieht, daˆ got sıˆn antheiz geben wil. Ein meister sprichet:51 gesmak alles des, daz begirlich ist, daz muoz braˆht werden in die seˆle mit dem liehte. Ein meister sprichet:52 ez enwart nie niht soˆ luˆter, daz in der seˆle grunt möhte komen wan got aleine. Er wil sprechen: got liuhtet in einer vinsternisse, daˆ entwahset diu seˆle allem liehte; si enpfæhet in irn kreften wol lieht und süezicheit und gnaˆde; aber in der seˆle grunt enmac niht ˆın wan bloˆz got. Daˆ uˆz gote brichet sun und
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Quint hält hier an sie nach BT gegenüber in bei Str2, Bra2 und OH2 fest; er übersetzt: „da will Gott sie (= Gottes Lehre) zur Vollendung bringen“; DW III, S. 250, Anm. 2. Ich zweifle, daß diese Entscheidung richtig ist. Gott wird nicht die Lehre zur Vollendung bringen, sondern diejenigen in die Vollendung führen, die auf dem Berg die Lehre empfangen. Wahrscheinlich ist in BT sie auch nicht auf leˆre, sondern auf swer zu beziehen, das zwar formal ein Singular ist, von der Bedeutung her aber auch als Plural aufgefaßt werden kann. 44 Quint übernimmt aus Stra2, Bra3 ez, das in BT fehlt, und übersetzt: „(Nur) da ist wahres Licht, wo es (= das Licht) keine Kreatur berührt.“ Um eindeutig zu sein: ez ist doch wohl Akk., also: ,wo das Licht nicht von der Kreatur berührt wird‘. Vgl. den vorausgehenden Satz. 45 Joh 1,5. 46 Quint, DW III, S. 250, Anm. 3, sieht darin einen Rückverweis auf Pr. 71, wo Eckhart sagt, daß man blind sein müsse, um Gott, das wahre Licht, zu sehen: DW III, S. 224,1. Vgl. dazu unten S. 333. 47 Bis hierhin reicht der Text von Pr. 72 in OH2. 48 Quint verweist im Zusammenhang einer analogen Stelle in Pr. 71 auf Albertus Magnus, DW III, S. 212, Anm. 4. 49 entwahsen als Terminus für das Überschreiten des Kreatürlichen ist bei Eckhart auch anderweitig nachzuweisen; siehe die Belegstellen bei Quint, DW I, S. 213, Anm. 1. 50 Eckhart, hg. Largier, II, S. 691, Komm. zu 86,15f., bemerkt, daß es unklar sei, auf welchen Meister Bezug genommen werde; er denkt an Augustinus. 51 Kein Hinweis bei Quint. DW III, S. 252, Anm. 1 bringt Parallelstellen, die aber schwerlich einschlägig sind. 52 Quint verweist auf Alcher von Clairvaux, ebd., S. 252, Anm. 2.
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[9] Deshalb müssen die, die Gottes Lehre empfangen wollen, auf diesen Berg kommen; da wird Gott sie in die Vollendung führen, wenn der Tag der Ewigkeit da ist, in der Fülle des Lichts. Was ich in Gott erkenne, das ist Licht; was das Geschöpfliche berührt, das ist Nacht. Da ist wahres Licht, wo es vom Geschöpflichen nicht berührt wird. Was immer man erkennt, das kann nur Licht sein. Sankt Johannes sagt: ,Gott ist ein wahres Licht, das da leuchtet in der Finsternis‘. Was bedeutet Finsternis? Zum ersten: daß der Mensch nirgendwo hafte noch hänge und blind sei und nichts wisse von der Geschöpflichkeit. Ich habe es auch wiederholt gesagt: Wer Gott sehen will, der muß blind sein. Zweitens zu ,Gott ist ein Licht, das da leuchtet in der Finsternis‘: Er ist ein Licht, das blind macht. Damit ist ein Licht gemeint, das nicht begriffen werden kann. Es ist unendlich, das heißt, daß es nirgendwo Halt macht. Es weiß von keiner Schranke. Das bedeutet, daß es die Seele so blind macht, daß sie nichts weiß und daß sie nichts erkennt. Die dritte Finsternis ist die allerbeste, sie besteht darin, daß es überhaupt kein Licht gibt. Ein Meister sagt: Der Himmel hat kein Licht, er ist zu hoch dazu; er leuchtet nicht, er ist in sich selbst weder kalt noch warm. So verliert die Seele in der Finsternis alles Licht; sie wächst über alles hinaus, was Hitze heißen mag oder Farbe. [10] Ein Meister sagt: Das Licht ist die höchste Verheißung, die Gott geben will. Ein Meister sagt: Es bedarf des Lichts, damit die Empfindung dessen, was man begehrt, die Seele erreicht. Ein Meister sagt: Es gab nie etwas so Reines, daß es in den Grund der Seele hätte kommen können, außer Gott allein. Er will sagen: Gott leuchtet in einer Finsternis, in der die Seele allem Licht entwächst. Sie erfährt in ihren [äußeren] Kräften zwar Licht und Freude und Beglückung, aber in den Grund der Seele kommt nichts außer Gott allein. Daß der Sohn und der Heilige Geist aus Gott ausbrechen, das erfährt
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
heiliger geist, daz enpfæhet diu seˆle wol in gote;53 waz aber anders uˆz im vliuzet liehtes und süezicheit, daz enpfæhet si niht wan in irn kreften.
[11] Die hœhsten meister sprechent,54 krefte der seˆle und si sıˆn al ein. Viur und schıˆn ist ein, aber, swaˆ ez in vernunft vellet, daˆ vellet ez in ein ander natuˆre. Waˆ vernünfticheit uˆzbrichet uˆz der seˆle, daˆ vellet si als in ein ander natuˆre. Ze dem dritten maˆle: daz ist ein lieht über liehte; daˆ entwahset diu seˆle allem liehte uˆf dem berge der hœhe, daˆ kein lieht enist. Daˆ got uˆzbrichet in sıˆnen sun, daˆ enbehanget diu seˆle niht. Waˆ got uˆzvliuzet, nimet man got iendert, daˆ enbehanget diu seˆle niht:55 si56 ist al dar obe; si entwahset allem liehte und bekantnisse. Dar umbe sprichet er: ,ich wil sie lœsen und samenen und vüeren in ir lant, und daˆ wil ich sie vüeren in eine grüene weide‘.
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ˆ f dem berge daˆ tete er uˆf sıˆnen eigenen munt‘. Ein leˆrære sprichet: unser herre [12] ,U tuot wol hie sıˆnen munt uˆf; er leˆret uns durch die geschrift und durch die creˆatuˆren.57 Sant Paulus sprichet aber:58 ,nuˆ haˆt uns got zuogesprochen in sıˆnem eingebornen sune‘; in dem sol ich bekennen von dem minsten ze dem meisten alzemaˆle in gote. ˆ men. Daz wir entwahsen allem dem, daz got niht enist, des helfe uns got. A
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Hier ist mit dem uˆzbrechen des Sohnes und des Hl. Geistes anders als in den Abschnitten 7 und 11 nicht das Ausfließen in die Schöpfung, sondern die innertrinitarische Bewegung gemeint, die die Seele in ihrem Grund im Einssein mit Gott ,erfahren‘ kann. Davon wird im folgenden Satz das Ausfließen in lieht und süezicheit, also Gottes Manifestation in der Schöpfung, abgehoben. 54 Quint verweist auf Thomas von Aquin und Albertus Magnus, ebd., S. 253, Anm. 1. Siehe auch Eckhart, hg. Largier, II, S. 692, Komm. zu 86,26. 55 Vgl. dazu Anm. 32. 56 Es ist doch wohl mit Bra3 si zu lesen gegen ez in BT, dann ist der harte Wechsel zu si im folgenden Satz vermieden. Quint, der ez beibehält, übersetzt: „es (= das Licht über allem Lichte) ist (vielmehr) ganz darüber erhaben.“ 57 Quint, DW III, S. 254, Anm. 1, bringt Parallelstellen und einen Hinweis auf Augustinus, aber kein auch nur annähernd treffendes Zitat. 58 Eckhart kombiniert hier Hebr 1,2 und 8,11.
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6. Eckhart, Predigt 72
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die Seele sehr wohl in Gott; was aber sonst aus ihm fließt an Licht und Freude, das erfährt sie nur in ihren [äußeren] Kräften.
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[11] Die höchsten Meister sagen: Die Kräfte der Seele sind mit ihr identisch. Feuer und Lichtschein sind eins, aber wenn es in die Vernunft kommt, da unterscheidet es sich nach seiner Natur vom Licht. Wo die Vernunft aus der Seele ausbricht, da erscheint sie gleichsam in einer andern Natur. Nochmals zur dritten Finsternis: Es gibt ein Licht über dem Licht. Da entwächst die Seele allem Licht auf der Höhe des Berges, wo es kein Licht gibt. Wo Gott in seinen Sohn ausbricht, davon ist die Seele [in ihrem Grunde] nicht betroffen. Man kann Gott irgendwo, wo er ausfließt, fassen, aber die Seele [in ihrem Grunde] ist daran nicht beteiligt. Sie ist ganz darüber, sie entwächst allem Licht und aller Erkenntnis. Deshalb sagt er: ,Ich werde sie frei machen und vereinen und in ihr Land führen, und da werde ich sie auf eine grüne Weide führen‘. [12] ,Auf dem Berg, da tat er seinen Mund auf‘. Ein Lehrer sagt: Unser Herr tut sehr wohl [auch] hier seinen Mund auf, denn er belehrt uns durch die Schrift und durch die Schöpfung. Sankt Paulus wiederum sagt: ,Nun hat Gott zu uns gesprochen durch seinen eingeborenen Sohn‘; in ihm soll ich das Kleinste wie das Größte allzumal in Gott erkennen. Daß wir allem entwachsen, was nicht Gott ist, dazu helfe uns Gott. Amen.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Analyse Aus dem Leitzitat wird als erstes leˆrte herausgegriffen, und dies im Blick auf ein Wort Augustins, der sagte: Christus est qui docet; cathedram in caelo habet.59 Damit ist das Lehren mit dem Motiv des Aufstiegs in Beziehung gesetzt, denn wenn der lehrende Christus – der in dieser Predigt übrigens immer „unser Herr“ oder „Gottessohn“ heißt – seinen Sitz im Himmel hat, so bedeutet dies, daß der, der die Lehre empfangen will, in die Höhe steigen muß. Und das schließt wiederum in sich, daß er all das, was in die Vielfalt des Kreatürlichen uˆzgespreitet ist,60 zurückzulassen hat. Doch Eckhart setzt dies dann mit sich verzıˆhen gleich, so daß die Vorstellung des Aufstiegs in einen innerlichen Vorgang umschlägt: Wer die Lehre empfangen will, muß sich von allem Äußeren lösen und „sich in sich sammeln und in sich selbst einschließen“. Doch der folgende Satz holt die Auf- und Überstiegsvorstellung sogleich wieder zurück, indem uˆzgespreitet nun subjektiv bezogen wird: nicht nur die Vielfalt der äußeren Welt, sondern auch die auf sie ausgerichteten seelischen Kräfte müssen überstiegen werden, das Denken eingeschlossen, insofern es das Viele zum Gegenstand hat. Das gilt nicht für „die ungeteilten Kräfte“; es sind dies jene Kräfte, in die Gott hineinsprechen kann. Hinter all dem steht eine Seelen- und Erkenntnislehre, die zwischen zwei Formen von Vernunft unterscheidet, einer solchen, deren Objekt die in die Vielfalt ausgebreitete Schöpfung ist, und einer andern, die nicht nach außen gerichtet, sondern in sich selbst verschlossen, als Ort der Gotteserkenntnis begriffen wird. Es ist dem 5. Abschnitt vorbehalten, dies genauer auszuführen. Dann greift Eckhart – Abschnitt 3 – das Wort er gienc uˆf den berc explizit nochmals auf, um es allegorisch auszulegen: Wenn gesagt wird, daß Christus auf den Berg steigt, so soll die Höhe des Berges auf die Höhe und die Herrlichkeit seiner Natur verweisen. Und im Hinblick auf das Erkennen gesagt, heißt das, daß es auf nichts Kreatürliches bezogen ist. Christus weiß auf dieser Höhe nur von Gott und von sich selbst; dies dadurch, daß er ein Bild Gottes ist.61 Damit klingt das zweite Element der Eckhartschen Erkenntnislehre, seine Bildtheorie, an, die er in Abschnitt 5 dann mit der Unterscheidung der zwei Formen der Vernunft verbinden wird. Vorläufig bleibt der Zusammenhang zwischen Christus als Bild Gottes und der Erkenntnis Gottes im Aufstieg über das Kreatürliche unerklärt. Der 4. Abschnitt zitiert dasselbe Schriftwort ein zweites Mal, um nun die Höhe des Berges auf jene Kräfte zu beziehen, die Gott nahe sind. Es wird damit wieder auf die nicht nach außen gerichtete Vernunft Bezug genommen, von der in Abschnitt 2 die Rede war. Die Aufstiegsvorstellung und die innere Verfaßtheit der Gotteserkenntnis verbinden sich über die allegorische Auslegung. Im Anschluß daran geht Eckhart von seinem Leittext ab, um eine weitere biblische Berg-Szene ins Spiel zu bringen: Mt 17, die Verklärung Christi. Er bindet sie jedoch sogleich an das Wort von der Lehre zurück, von dem er ausgegangen ist. Und es ist Christus selbst, der daran erinnert, daß er vom himel, vom rıˆche gotes, gesprochen hat. 59
Siehe Anm. 16. Siehe zu uˆzgespreitet gegenüber einvaltic Anm. 17 und 36. 61 Zur Frage nach dem Subjekt von daˆ enweiz er siehe Anm. 22. 60
6. Eckhart, Predigt 72
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Die Erkenntnis, um die es dabei ging und geht, bedarf, so heißt es nun, nicht der Vermittlung über Bilder oder Gleichnisse. Dabei wird nun auch der Satz unser herre liez die schar in die Interpretation hereingeholt: die Gotteserfahrung ohne Bilder und Gleichnisse setzt voraus, daß die schar, nunmehr verstanden als Metapher für die Vielfalt des Kreatürlichen, zurückgelassen wird.62 Das ist das Stichwort für die Erweiterung der Erkenntnistheorie zur Bildtheorie, der der 5. Abschnitt gewidmet ist und der das Vorausgehende erst verständlich macht. Eckhart referiert zunächst die drei Erkenntnisweisen, die Augustinus unterschieden hat:63 1. Die sinnliche Erkenntnis, die sich über die Bilder, die man sich von den Dingen macht, vollzieht, 2. die geistige Erkenntnis, die sich sinnlicher Bilder bedient, und 3. die innere geistige Erkenntnis, die keiner Bilder oder Gleichnisse bedarf und die auch die Erkenntnisweise der Engel ist. Es ist dies insgesamt ein eher knappes Referat; und man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, daß Eckhart damit seine Hörer an Geläufiges erinnert. Das könnte übrigens auch die vorausgehenden und aus sich selbst schwer verständlichen Andeutungen auf diese Theorie hin in den Abschnitten 2 bis 4 erklären. Dann wird – Abschnitt 6 – das Zitat aus Mt 17 wieder aufgenommen, wobei Eckhart die Transfiguration in die Bildtheorie einbezieht. transfigurare heißt nun widerbilden.64 Die Seele soll „überbildet“ und „hineingebildet“ werden in Christus, der ein Bild Gottes ist, was sich in der Verklärung zeigte. Darauf werden zwei Aussagen gegeneinandergestellt. Die Schrift sagt: Die Seele ist gebildet nach Gott; die Meister sagen, der Sohn sei ein Bild Gottes, und die Seele sei gebildet nach dem Sohn als Bild Gottes. Eckhart hält dem entgegen, man könne im Grunde weder bei Christus noch bei der Seele von Bildhaftigkeit sprechen; wenn Christus und auch die Seele als Abbilder bezeichnet würden, dann handle es sich um Bilder, die über allem Bildhaften stünden. Nur in diesem Sinne könnten sie Bilder der verborgenen, d. h. der nicht (bildhaft) faßbaren Gottheit sein. Was aber das Ausfließen des Sohnes aus dem Vater, d. h. die konkrete Schöpfung angehe, so sei die Seele, verstanden als Ort der Gotteserkenntnis, davon nicht berührt. Denn sie ist im Einssein mit Gott, wie gesagt, jenseits von allem Bildhaften; sie hat nichts damit zu tun, daß die Sinne die Wirklichkeit differenziert erfahren. Der 7. Abschnitt zieht noch eine dritte biblische Berg-Stelle heran: Ez 34,1ff. Zunächst wird zwar nur das Wort herausgegriffen, daß Gott seine Schafe auf eine grüne Weide führen werde: in pascuis uberrimis pascam eas = oves meas; erst der dritte Satz 62
schar in dieser übertragenen Bedeutung kommt, soweit ich sehe, nur noch einmal in Eckharts Predigtwerk vor, nämlich in Pr. 10, DW I, S. 169,10f., in einer Reihe mit zıˆt, stat, zal und menige. Es sind dies alles Bestimmungen für die Raumzeitlichkeit, in die der Mensch in der Gottferne gebunden ist. schar nimmt sich in dieser Reihe merkwürdig aus, nicht nur, weil damit dasselbe ausgedrückt ist wie mit menige, die ,Vielfältigkeit‘ also doppelt besetzt erscheint, sondern weil nur hier mit einer übertragenen Bedeutung operiert wird, wobei diese ohne einen Hintergrund, wie die Pr. 72 ihn bietet, kaum verstanden werden kann. Was hat Eckhart zu dieser ,unnötigen‘ Zufügung veranlaßt? Konnte er, ja, mußte er bei den Hörern oder Lesern von Pr. 10 die Kenntnis von Pr. 72 voraussetzen? 63 Nachweis der betreffenden Stelle aus ›De Genesi ad litteram‹, XII,34, bei Quint, DW III, S. 242, Anm. 3. Eckhart zieht diese Augustinische Unterscheidung von drei Erkenntnisweisen mehrfach heran; siehe die Parallelstellen ebd. 64 Siehe dazu Anm. 29.
328
III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
trägt dann in montibus = uˆf dem berge nach. Und der Berg darf auch zunächst beiseite bleiben, denn Eckhart spricht als erstes von den Schafen. Er sagt, daß Schafe einvaltic seien, um hinzuzufügen, es seien auch jene Leute einvaltic, „die in eins gefaltet sind“. Der Zusammenhang mit dem bisherigen Gedankengang bleibt zunächst dunkel; er tritt erst im folgenden schrittweise heraus. Eckhart bemerkt, daß die Bewegungen des Himmels auf Tiere einvalticlıˆche wirken, und das scheint irgendwie auch für Kinder zu gelten; jedenfalls befinden sie sich in einem vor-vernünftigen Stadium: diu enhaˆnt niht eigens sinnes. Es geht wiederum um eine Abgrenzung gegenüber einem Denken, das diskursiv auf die Mannigfaltigkeit ausgerichtet ist, dem Denken der wıˆsen, die vil sinne haben, aber es handelt sich hier um einen Status gewissermaßen unterhalb der prädikativen Vernunft und nicht jenseits von ihr. Ja, der Spannungsbogen führt bis zum Engel, in dem das Geschaffene überzeitlich vorgeprägt ist. Man könnte versucht sein, an Kleists Aufsatz über das Marionettentheater zu denken, wo mit dem Gedanken experimentiert wird, daß sich das Vorbewußte mit einem absoluten Bewußtsein, dem Bewußtsein Gottes, berühren müßte. Aber damit würde man übersehen, daß der Brükkenschlag bei Eckhart wiederum allegorisch zu verstehen ist: das einvaltige Schaf bedeutet den von Gott auf die grüne Weide der Ewigkeit geführten Gläubigen, der engelgleich alle Dinge nicht ausgefaltet, sondern in raum- und zeitloser Präsenz erkennt. Dabei wird das nun auch noch herangezogene ›Ezechiel‹-Motiv vom grünen Gras – ibi requiescent in herbis virentibus – so gedeutet, daß alle Kreaturen in Gott ,grünen‘, d. h. daß sie ihren lebendigen Ursprung in ihm haben. Dann fallen sie aus Gott heraus und durch den Status der Engel hindurch ins Geschaffensein hinein. Der Engel ist bekanntlich nicht Teil des sechstägigen Schöpfungswerks; er gehört in diesem Sinn nicht zum Bereich des Kreatürlichen, doch ist in ihm – in sıˆner natuˆre – alles Geschaffene vorgeprägt. So erkennt er die ganze Schöpfung in sich selbst, und es ist dabei nicht nur jedes einzelne Geschöpf in seiner Vollkommenheit in ihm gegenwärtig, sondern er trägt die Geschöpfe insgesamt in ihrer Vollkommenheit in sich. Dies liegt begründet in der Nähe des Engels zu Gott.65 Es folgt – Abschnitt 8 – ein nochmaliger Rückgriff auf die ›Ezechiel‹-Motive der Höhe und des Grünseins: Alles in der Höhe ist grün und d. h. neu im Sinne des immer Neuen, immer Ursprünglichen in der Zeitenthobenheit, während die Dinge, wenn sie in die Zeit eintreten, blaß, d. h. vergänglich werden. Es ist dieses immerneue Grünsein, in dem Gott seine Schafe weiden will, und damit ist der Gedankengang in das Ausgangszitat hereingebunden. Und auch die Engellehre wird noch einbezogen: das Geschaffene ist in der Höhe engelgleich, und es ist da lustlıˆcher als in seiner irdisch-kreatürlichen Form, ja, die Differenz ist so radikal wie der Gegensatz von Sonne und Nacht. Mit Abschnitt 9 greift Eckhart wieder auf den Beginn der Predigt zurück, auf die Lehre: Der in obiger Weise beschriebene Berg ist der Ort, wohin derjenige kommen muß, der Gottes Lehre empfangen will. Da wird er in den Tag der Ewigkeit geführt, ins vollkommene Licht. Es ist dies im Blick auf die Lehre das Licht der Erkenntnis. Es wird als absolutes Licht vom Kreatürlichen nicht berührt. Dazu ein Zitat aus dem Beginn des ›Johannesevangeliums‹: „Gott ist das wahre Licht, das in der Finsternis leuchtet.“
65
Vgl. Anm. 40.
6. Eckhart, Predigt 72
329
Und das gibt Anlaß, dreierlei Weisen zu unterscheiden, in denen von Finsternis gesprochen werden kann: Man kann erstens da von Finsternis sprechen, wo der Mensch nicht am Geschöpflichen hängt, sondern blind ist ihm gegenüber; und Eckhart weist darauf hin, daß er anderweitig gesagt habe: „Wer Gott sehen will, der muß blind sein.“ Diese Finsternis beruht also auf einem Sich-Blindmachen gegenüber der kreatürlichen Welt. Das zweite Verständnis von Finsternis bezieht sich auf jene Finsternis, in die Gott als Licht so leuchtet und so blendet, daß es nicht begriffen werden kann. Und dieses Unbegreifliche, Unfaßbare beruhe auf der ende-losigkeit dieses Lichts, d. h., dieses Licht dient nicht, indem es die Dinge sich voneinander abheben läßt, der Differenzierung und damit der diskursiven Erkenntnis – ende meint Differenz. In diesem Licht kann man nicht objektivierend erkennen. Es handelt sich also um eine Finsternis aufgrund der Blendung durch das göttliche Licht selbst. Aber es gibt noch eine dritte Weise, von Finsternis zu sprechen, und diese sei die allerbeste. Es ist dies jene Finsternis, in der es überhaupt kein Licht gibt: die Finsternis des Himmels, der über allem Licht ist. Und wer den Himmel erreicht, dessen Seele tritt in diese Finsternis ein; es ist ein Dunkel, in dem man aller Hitze und Farbe entwachsen, d. h. in dem die sinnliche Erfahrung mit ihrer Differenzierung zurückgelassen ist. Hier meint Finsternis soviel wie die Undifferenziertheit des transzendenten Einen. Warum nennt Eckhart sie „die allerbeste“? Denn man könnte ja sagen, daß die drei Weisen von Finsternis nur Aspekte ein und derselben Unbedingtheit seien. Wohl deshalb, weil die dritte Weise diese Unbedingtheit nicht nur erkenntnistheoretisch als ein Zurücklassen kreatürlichen Erkennens, sondern auch ontologisch faßt. Der 10. Abschnitt bringt Zitate dreier Meister. Der erste sagt, daß sich das höchste Licht in Gottes Verheißung manifestiere. Da dieses Zitat bislang nicht zu identifizieren war, ist nicht sicher zu sagen, worauf Eckhart sich bezieht. Denkbar ist, daß die Verheißung schlechthin gemeint ist, also Christus. Der zweite Meister sagt, daß das, was man sinnlich zu erfahren begehrt, des Lichts bedarf, um die Seele zu erreichen. Quint bietet keinen Hinweis auf diesen Meister. Ich möchte die Stelle so auffassen, daß hier mit lieht die Vernunft gemeint ist, die die geschöpflichen Dinge, vermittelt durch die Sinne, erkennt. Der dritte Meister, möglicherweise Alcher von Clairvaux, sagt, daß aber nur Gott den Grund der Seele erreichen könne.66 Und es ist diese Position, die Eckhart nun, sich absetzend von den ersten beiden Meistern, näher erläutert, indem er sie an die Argumentation des 9. Abschnitts zurückbindet: Gott leuchtet in der Finsternis, und dadurch entwächst die Seele dem Licht – das könnte sich auf das Licht als antheiz beziehen –, und die Vernunft besitzt ihre Weise der Erkenntnis: sie kann Licht, Freude, Beglückung erfahren – das dürfte der Position des zweiten Meisters entsprechen –, aber den Grund der Seele erreicht, wie der dritte Meister sagt, nur Gott allein. Und der letzte Satz des Abschnitts formuliert dann nochmals die entscheidende Differenz: den Prozeß der trinitarischen Bewegung kann die Seele in Gott erfahren; das, was ausfließt, hingegen, die Schöpfung, wird ihr über die nach außen gerichteten geistigen Kräfte vermittelt. Der Hinweis auf die Erfahrung des trinitarischen Prozesses in Gott ist in dieser verknappten Form schwer verständlich. Einmal mehr werden vom Hörer entsprechende Vorkenntnisse erwartet. 66
Siehe Anm. 52.
330
III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Der 11. Abschnitt geht noch einmal auf die Differenzierungsarbeit der Vernunft ein: Wenn die höchsten Meister die Seele mit ihren Kräften gleichsetzen, so ist dem entgegenzuhalten, daß die Dinge, indem sie der Vernunft unterworfen werden, sich differenzieren, wobei die Vernunft zu sich selbst kommt, d. h., daß sie nicht mehr eins ist mit der Seele. Und von hier aus greift Eckhart auf das dritte Verständnis von Finsternis in Abschnitt 9 zurück. Er nennt nun jene Finsternis ein Licht über dem Licht. Und auf der Höhe des Berges, wo es kein Licht mehr gibt, da entwächst denn auch die Seele allem Lichthaften. Die Lichtlosigkeit dieser Höhe kann also entweder als Finsternis oder als Licht über dem Licht bezeichnet werden. Und – noch einmal – die Seele in dieser Lichtlosigkeit ist nicht eingebunden in das Ausfließen des Sohnes, d. h. in die Schöpfung, „sie ist darüber“, sie ist allem Licht und aller rationalen Erkenntnis entwachsen. Genau dies meine das Ezechielwort von der Erlösung und dem Weg zur grünen Weide. Und schließlich – Abschnitt 12 – wird auf das Ausgangszitat der Predigt zurückgegriffen, und zwar auf das Wort, daß der Herr seinen Mund auftat und uns belehrte, und dieses Lehren könne, noch einmal nach einer Autorität – wohl Augustinus –, durchaus meinen, daß er hier durch die Schrift und die Schöpfung lehrte. Doch dem wird ein Pauluswort entgegengesetzt: indessen habe nämlich Gott in seinem Sohn zu uns gesprochen, in ihm erfolgt die Erkenntnis aller Dinge alzemaˆle in Gott, das heißt: in einem alles umfassenden überzeitlichen Akt. Dies kann erreicht werden, indem man allem „entwächst“, was nicht Gott ist – und zwar wird das nun abschließend als Bittgebet formuliert.
Verfahrensweise und Ergebnis Das argumentative Verfahren, mit dem Eckhart in Predigt 72 operiert, wirkt eigentümlich disparat. Die Zugriffe auf die Texte erscheinen beliebig, die Gedankenlinien werden nicht durchgehalten, es kommt vielmehr zu immer neuen Ansätzen, deren Bezug auf das Vorausgehende zunächst offen bleibt. Auf der andern Seite wird häufig andeutend vorausgegriffen, so daß vieles im Moment kaum durchsichtig sein kann, sondern erst nachträglich verständlich wird. Doch durch eine kunstvolle Technik des Rückgreifens werden die disparaten Ansätze Punkt für Punkt in den Denkprozeß hereingeholt und wird das nur Angedeutete Schritt für Schritt aufgearbeitet, so daß allmählich ein Bildund Gedankengeflecht von großer Dichte entsteht und man am Ende ein Konzept von überzeugender Geschlossenheit vor sich hat.67 Rückblickend zeigt sich, daß es Eckhart um ein einziges Thema geht, das er über mehrere Argumentationsstufen unter drei Aspekten entwickelt. Er entwirft zunächst eine Erkenntnislehre, bei der zwischen Welterkenntnis und Gotteserkenntnis unterschieden wird. Es entsprechen dem unterschiedliche Erkenntniskräfte in der menschlichen Seele. Es gibt Kräfte, teils sinnlicher und teils geistiger Natur, die auf die Schöp67
Dieses Verfahren der punktuellen Exegese ist für Eckhart – und nicht nur für ihn – generell kennzeichnend – vgl. Ruh, Eckhart, S. 70 –, aber während es sehr häufig zu einer unverbundenen oder nur schwach verbundenen Folge von Auslegungsansätzen kommt, gibt es Predigten, bei denen, wie in diesem Fall, die disparate Exegese in ein integriertes Konzept mündet.
6. Eckhart, Predigt 72
331
fung ausgerichtet und im Blick auf deren Vielfalt selbst vielfältig sind. Dem steht ein Erkenntnisvermögen gegenüber, das, losgelöst von jedem Bezug auf das Kreatürliche, in sich verschlossen und damit einvaltic ist und das in der Weise auf das Eine, auf Gott, bezogen erscheint, als Gott sich in dieses Vermögen ,gibt‘. Diese Gotteserfahrung im Innersten der Seele – und das ist der zweite Aspekt – ist bildlos im Gegensatz zur Welterfahrung, die über Bilder erfolgt. Und von hier aus wird nun eine Bildtheorie entworfen, bei der das überkreatürliche Abbildverhältnis zwischen Gott, Sohn und Seele der kreatürlichen Erfahrung als einer Vermittlung des Geschaffenen über Bilder entgegengestellt wird. Jenes Abbildverhältnis steht über allem Bildhaften, es impliziert also Identität in der Differenz. Es hat nichts mit dem Bildhaften der Schöpfung zu tun, die sich als Ausfluß aus Gott in Raum und Zeit differenziert, während der Erkenntnis jenseits von ihr die Totalität alles Seienden in der Überzeitlichkeit offen steht, und es ist dies die Erkenntnisweise der Engel.68 In einem dritten Schritt wird dies schließlich noch einmal unter lichtmetaphysischem Aspekt dargestellt: So wie der Sohn und die Seele Bilder Gottes jenseits der Bildhaftigkeit sind, so erfährt die Seele Gott in einem Licht, das über allem Irdisch-Lichthaften ist. Es ist ein Licht, das blind macht, das also Finsternis hervorruft, d. h. alles Begreifen im diskursiven Sinn unterbindet, ja, Eckhart kann dann in letzter Konsequenz sagen, daß Gott als Licht lichtlos ist und die Seele entsprechend dem Licht „entwachsen“ muß, wenn Gott in ihren Grund kommen soll. Die Darstellung dieser Erkenntnistheorie erfolgt, wie gesagt, in der für Eckharts Predigten üblichen Form der Schriftexegese. Doch das betrifft nicht nur die formale Technik der Auslegung, sondern auch das Verhältnis von Bild und Sinn. Eckhart arbeitet in der 72. Predigt auf der Basis seines Leitzitats mit der Vorstellung eines Aufstiegs, des Aufstiegs Christi auf einen Berg nach Mt 5,1, und er zieht dann noch weitere biblische Berg-Stellen heran: Mt 17,1 und Ez 34,1ff. Das irritiert insofern, als die Vorstellung eines Aufsteigens und Übersteigens, bei dem das Vielfältige und das Erkennen des Vielfältigen gewissermaßen räumlich zurückgelassen werden, mit der Vorstellung einer Wende nach innen, bei der der Bezug auf alles Äußere abfällt, schwer verträglich scheint: Dort ist das Ziel die Gottesbegegnung in der kosmischen Höhe, in der die Welt überstiegen und überwunden ist, während hier die Seele in ihrem Innersten sich für den Einbruch des Göttlichen öffnet. Doch der Widerspruch hat Tradition. Die Aufstiegstheologie neuplatonischer Provenienz lebt seit ihren Anfängen unangefochten mit diesem Konflikt der Vorstellungen. Der kosmische Aufstieg ist schon bei Plotin ein Weg ins Innere.69 Der Widerspruch entschärft sich jedoch in dem Maße, in dem, wie dies bei Eckhart der Fall ist, der Aufstieg metaphorisiert, ja mit Formeln wie: daz meinet, daz erzeiget, explizit allegorisch gedeutet wird. Der Aufstieg verliert seine ursprünglichen kosmologischen Konnotationen, er bedeutet hier nur noch eine Erkenntnisweise, die 68
Voll ausgearbeitet bietet Eckhart seine Bildtheorie in Pr. 16b. Grundlegend dazu Susanne Köbele, „Predigt 16b. ,Quasi vas auri solidum‘“, in: Lectura Eckhardi I, hg. v. Georg Steer u. Loris Sturlese, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 43–74. Zu den paradoxen Formulierungen bilde sunder bilde, bilde über bilde siehe insbes. S. 61, S. 66 und zum Sohn und zur Seele als bilde S. 64f. 69 Siehe dazu meine Studie „Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 446–463, hier S. 450.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
als Weg gar nicht mehr darstellbar ist: Die Höhe bedeutet die nichtkreatürliche Natur Christi und meint zugleich den ,Ort‘ des Menschen, der zum Bild Christi geworden ist, und sie kann auch als Metapher für jenes Innerste der Seele erscheinen, in dem alles Kreatürliche überstiegen, zurückgelassen, ausgeschaltet ist. Ungeachtet dieser Auflösung des Widerspruchs hängt die Verwendung des Aufstiegsschemas jedoch an der neuplatonischen Tradition, aus der Eckhart schöpft und mit der er sich, sie abwandelnd, auseinandersetzt. Was damit aber zur Debatte steht, ist:
Die philosophisch-biographische Position der Predigt 72 Um diese Position bestimmen zu können, müßte man eine Chronologie des Eckhartschen Œuvres zur Verfügung haben. Bislang gibt es dazu nur bruchstückhafte Ansätze. Denn da der Eckhart-Überlieferung bekanntlich keinerlei positive Daten mitgegeben sind, sieht man sich gezwungen, sich auf das schwierige Geschäft einer zeitlichen Zuordnung über Indizien einzulassen. Man hat solche mehr oder weniger stringenten Indizien für das lateinische Werk, für die deutschen Traktate wie auch für einzelne deutsche Predigten oder Predigtgruppen beibringen können, aber allzu vieles ist noch offen.70 Eine bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang spielt die Sammlung des ›Paradisus anime intelligentis‹ (OH2), die eine Reihe von Eckhart namentlich zugeschriebenen Predigten enthält und in der auch Predigt 72, unvollständig, überliefert ist. Kurt Ruh hat dezidiert die These vertreten, daß ein Kernbestand dieser Sammlung aus Erfurt stammt und also zu der Zeit entstanden sein müßte, in der Eckhart zwischen dem ersten und dem zweiten Pariser Magisterium als Prior und Provinzial der Saxonia dort tätig war, d. h. zwischen 1303 und 1311.71 Da die uns überlieferte ›Paradisus‹-Sammlung aber eine Bearbeitung von ca. 1340 darstellt und folglich nicht damit gerechnet werden kann, daß alle Eckhart-Predigten, die sie enthält, schon zum Erfurter Bestand gehört haben, stellt sich die Frage, welche Predigten der Frühzeit zuzuweisen sind. Kurt Ruh hat zwei Kriterien in die Diskussion gebracht. Zum einen die thematische Nähe zu Eckharts ›Pariser Quaestionen‹, die dem ersten Pariser Magisterium zuzuordnen sind,72 und zum zweiten die Einwirkung des Dionysius-Œuvres, dessen uns überlieferte westliche Haupthandschrift Eckhart sehr wahrscheinlich in Paris zu Gesicht gekommen ist, da sie zum Besitz des Klosters Saint-Jacques gehörte, in dem Eckhart während seines Pariser Aufenthalts untergebracht war.73 Thematisch zentral für die ›Pariser Quaestionen‹ ist die Intellekttheorie, d. h. die Auffassung vom Vorrang des Denkens vor dem Willen oder der Liebe in der Gottes70
Ruh, Eckhart, S. 29f., S. 60ff., S. 137; Eckhart, hg. Largier, I, S. 736ff. Dazu Kurt Ruhs Selbstkorrektur „Zu Meister Eckharts Kölner Predigten“, ZfdA 128 (1999), S. 42–46. 71 Ruh, Eckhart, S. 61ff.; Ruh, Geschichte III, S. 273ff. 72 LW V, S. 27ff. Vgl. Kurt Ruh, „Meister Eckharts Pariser Quaestionen 1–3 und eine deutsche Predigtsammlung“, Perspektiven der Philosophie. Neues Jb. 10 (1984), S. 307–324; Ruh, Geschichte III, S. 268ff. 73 Kurt Ruh, „Dionysius Areopagita im deutschen Predigtwerk Meister Eckharts“, Perspektiven der Philosophie. Neues Jb. 13 (1987), S. 207–223; Ruh, Geschichte III, S. 280ff.
6. Eckhart, Predigt 72
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bestimmung und Gotteserfahrung. Es ist dies die dominikanische Position im Gegensatz zu der von den Franziskanern vertretenen Meinung – ein Konflikt, der um 1300 in Paris virulent war. Es gibt ›Paradisus‹-Predigten, in denen sich die dominikanische Position deutlich spiegelt, und so liegt es nahe, die betreffenden Predigten der Erfurter Zeit zuzuweisen. Geradezu als „Schlüsselpredigt“ für die Position der ›Paradisus‹Sammlung kann nach Kurt Ruh die 9. Predigt gelten, deren Hauptthema ebendiese Diskussion um die Bestimmung Gottes als Intellekt bzw. als Sein oder Willen ist.74 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch Predigt 70, die explizit auf den Pariser Konflikt Bezug nimmt: Ein groˆzer pfaffe sei niuwelıˆche nach Paris gekommen und habe mit viel Geschrei den Vorrang des Willens vor dem Erkennen behauptet.75 Schon Quint hat, gestützt auf die 3. ›Quaestio‹, angenommen, daß mit diesem pfaffen der Franziskanergeneral Gonsalvus Hispanus gemeint sei und daß damit auf eine franziskanisch-dominikanische Auseinandersetzung Bezug genommen werde, die sich 1302/03 abgespielt haben müßte.76 Die Predigt dürfte also kurz nach Eckharts Rückkehr nach Erfurt entstanden sein. Nun sagt Eckhart aber in Predigt 70: Ich haˆn etwenne gesprochen, daz sant Augustıˆnus sprichet: „doˆ sant Paulus niht ensach, doˆ sach er got“.77 Damit wird ein zentrales Diktum aus Predigt 71 zitiert: Sant Augustıˆnus sprichet: doˆ er [Paulus] niht ensach, doˆ sach er got.78 Wenn dieser Bezug trägt, dann ist auch Predigt 71 bald nach 1303 zu datieren. Anderseits verweist möglicherweise auch Predigt 72 in Abschnitt 9 mit Ich haˆn ez ouch meˆ gesprochen: swer got sehen wil, der muoz blint sıˆn auf Predigt 71 zurück, wo im Bezug auf Pauli Bekehrung gesagt wird, daß swer daz [Gott als das wahre Licht] sehen sol, der muoz blint sıˆn. Falls sich das erhärten ließe, dürfte man mit einer zeitlich nahe zusammengehörenden Gruppe: Predigt 70, 71, 72, rechnen. Es ist aber bekanntlich nicht unproblematisch, Predigtbezüge über solche Rückverweise sichern zu wollen.79 Es bieten sich, wenn denn ihre Authentizität überhaupt nachzuweisen ist und sie sich nicht späteren Schreibern verdanken, meist mehrere Möglichkeiten an, ganz abgesehen davon, daß es sich ja auch um Verweise auf nicht überlieferte Predigten handeln könnte. In unserem Fall hingegen besitzt der Bezug zwischen Predigt 72 und 71 eine hohe Wahrscheinlichkeit, denn wir haben ein frühes Zeugnis dafür, daß man sich hier des Zusammenhangs bewußt war. Er ist nämlich vom ›Paradisus‹-Redaktor gesehen und festgehalten worden, denn er hat, bevor er abbricht, zu der muoz blint sıˆn nicht nur hinzugefügt als sente Paulus, sondern er hat zudem die einschlägige Stelle aus Predigt 71 zitiert: da he nit in sach, da sach he got.80 Merkwürdig ist freilich, 74
Vgl. seine Analyse in: Ruh, Eckhart, S. 63ff., und in: Ruh, Geschichte III, S. 276ff. DW III, S. 188,2f. 76 Ebd., S. 188f., Anm. 2, vgl. DW I, S. 152f., Anm. 3. Die Basis für die Identifikation bildet die 3. ›Pariser Quaestio‹; vgl auch Ruh, Eckhart, S. 23f., S. 63, und Ruh, Geschichte III, S. 272f., ihm folgend: Burkhard Hasebrink, „Predigt Nr. 71. ,Surrexit autem Saulus‘“, in: Steer u. Sturlese [Anm. 68], S. 219–245, hier S. 232f. 77 DW III, S. 189,3f. 78 Ebd., S. 288,9f., und schon S. 277,6 ohne Hinweis auf Augustinus. 79 Siehe Freimut Löser, „Als ich meˆ gesprochen haˆn. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes“, ZfdA 115 (1986), S. 206–227. 80 Dies der Wortlaut von H2. In O ist die Stelle verderbt: du he nicht in sich sach, du sach he Got (Paradisus anime intelligentis, hg. v. Philipp Strauch [Deutsche Texte des Mittelalters 30], Berlin 1919, S. 115,12f.). 75
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
daß Predigt 71 nicht in der ›Paradisus‹-Sammlung überliefert ist. Der betreffende OH2Redaktor muß sie aber in seinem Corpus vorgefunden haben, sonst wäre ja sein Hinweis für die Leser ins Leere gegangen.81 Ja, man könnte hierin vielleicht auch den Grund dafür sehen, daß er den Text an dieser Stelle abgebrochen hat, denn möglicherweise ist ihm die Behandlung der Licht-Thematik in Predigt 71 als ausreichend erschienen, so daß er wohl meinte, auf den Schluß von Predigt 72 verzichten zu können. Wenn diese Hypothese zuträfe, würde dies heißen, daß Predigt 71 einmal zur ›Paradisus‹Sammlung gehörte und daß sie erst auf einer relativ späten Stufe, nachdem die Schlußnotiz geschrieben und der Schluß gestrichen worden war, ausgeschieden worden ist. Doch das bleibt selbstverständlich Spekulation.82 Die drei Predigten 70, 71 und 72 sind aber nicht nur über die angeführten Verweise, sondern über ihre spezifische Ausformung des Erkenntniskonzepts auch thematisch miteinander verbunden, wobei es teils variiert erscheint, teils aber auch in den einzelnen Punkten einmal deutlicher und einmal knapper dargestellt wird, so daß sie sich hilfreich ergänzen. Und das heißt wiederum, daß Eckhart sich, wie die Verweise es nahelegen, auf diesen Zusammenhang gestützt hat, konkret: daß er, als er Predigt 72 vortrug, die Kenntnis der Predigten 71 und 70 bei seinen Hörern voraussetzte. Das läßt sich folgendermaßen auch sachlich plausibel machen: Bei der Darstellung der Lichtmetaphysik, die in Predigt 72 sehr unvermittelt einsetzt, konnte Eckhart an Predigt 71 anknüpfen, wo sie den Ausgangspunkt bildet und breit entfaltet wird. Er hatte dort gesagt: Wenn Paulus vom göttlichen Licht niedergeworfen wird und geblendet von der Erde wieder aufschaut, dann sieht er nichts. Dieses Nicht-Sehen erscheint in Predigt 72 erst gegen Schluß als das Nicht-Erkennen in der Finsternis, in der Gott leuchtet. Dabei erscheint auch in Predigt 71 die Vorstellung von zwei Formen des Erkennens: zum einen die Vernunft, die die Dinge in der Außenwelt sucht, und zum anderen eine innerliche, die nicht sucht.83 Und schon hier ist auch vom einvaltigen wesen dieser zweiten Vernunft die Rede,84 ja, es heißt: weil Gott eins ist, kann man ihn nicht sehen.85 Im übrigen findet sich auch hier schon das Wort von dem Staunenswerten, das die einfache Vernunft vollbringt.86 Und schließlich ist die Vorstellung vom Himmel als einem Licht, das nicht leuchtet, vorweggenommen.87 Die Bezüge sind also sehr dicht. Auf der andern Seite stößt man in Predigt 70 auf einen knappen Entwurf der Bildtheorie: Die Seele muß sich 81
Mit einer größeren Textsammlung im Hintergrund von OH2 rechnet auch Löser [Anm. 79], S. 214, jedoch ohne an ein einst umfangreicheres ›Paradisus‹-Ms. zu denken. 82 Burkhard Hasebrink weist mich kritisch darauf hin, daß man ohne diese Hypothese auskommen könnte, wenn man annähme, daß das Zitat in (O)H2 da he nit in sach, da sach he got nicht auf Pr. 71 (DW III, S. 227,6; S. 228,10), sondern auf Pr. 70 (DW III, S. 189,4) zurückgeht. Das wäre, da Pr. 70 in der ›Paradisus‹-Sammlung erscheint, zweifellos die elegantere Lösung. Anderseits steht Pr. 71 unserer Predigt insofern näher, als sich nur dort in diesem Zusammenhang auch die Aussage der muoz blint sıˆn findet, worauf in Abschnitt 9 mutmaßlich Bezug genommen wird, und zudem entfiele dann die Möglichkeit einer Erklärung dafür, daß der Schreiber von OH2 den Text an dieser Stelle abgebrochen hat. 83 DW III, S. 215,7ff. Vgl. zu diesen zwei Formen von Vernunft Eckhart, hg. Largier, II, S. 684, Komm. zu 66,11–25. 84 DW III, S. 215,10. 85 Ebd., S. 222f.,11f. 86 Ebd., S. 215,7. 87 Ebd., S. 212,6.
6. Eckhart, Predigt 72
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vom Äußeren abkehren, muß sich von den Erkenntnisbildern lösen, um Gott unmittelbar-bildlos zu erfahren; dabei wird sie mit dem Sohn, der ein Bild Gottes ist, eins. Zieht man also die Predigten 71 und 70 als Rezeptionshintergrund für die Predigt 72 in Betracht, so drängt sich der Eindruck auf, daß Eckhart in Predigt 72 die Ansätze von Predigt 70 und 71 zusammengefaßt und neu durchgestaltet hat. Trotzdem mag manches noch erklärungsbedürftig erscheinen, so daß man sich veranlaßt sieht zu fragen, ob der mögliche Verständnishintergrund nicht noch weiter zu fassen wäre. Man mag z. B. an den Begriff der einvaltecheit denken, dessen Verständnis offenbar sowohl in Predigt 71 wie in 72 vorausgesetzt wird. In der ›Paradisus‹-Sammlung ist es die Predigt 80, die diesen Begriff erläutert, ja geradezu eine Definition bietet. Eckhart nennt Gottes Sein einvaltic, um dann zu fragen: Waz ist einvaltic? Daz sprichet bischof Albreht: daz dinc ist einvaltic, daz an im selber ein ist aˆne ander, daz ist got, und alliu vereintiu dinc haltent sich in daz, daz er ist. Daˆ sint die creˆatuˆren ein in dem einen und sint got in gote; an in selben sint sie niht.88 Und der Diskussionszusammenhang entspricht dem von Predigt 72: Es geht um das Gegenüber des Einen-einvaltigen und des Ausfließend-Vielfältigen. Daß diese Predigt in die Nähe der ersten ›Pariser Quaestio‹ gehört und damit in den Umkreis der Gruppe 70, 71, 72, zeigt sich unzweifelhaft darin, daß Eckhart hier das Wesen Gottes als verstantnisse kennzeichnet: die trinitarische Bewegung Gottes in sich selbst wird ebenso als Erkenntnisakt bezeichnet wie sein Ausfließen in die Dinge. Diese Erläuterung von verstantnisse als doppelter göttlicher Erkenntnisbewegung, einmal als überzeitlichem Geschehen zwischen Gott, Sohn und Heiligem Geist und einmal als Schöpfungsvorgang, hätte den Hörern von Predigt 72 sehr wohl auch als Hilfe dienen können, um ihnen den Sinn dessen verständlich zu machen, was am Ende von Abschnitt 10 nur ganz andeutungsweise in dieser Richtung gesagt wird.89 Nicht so nahe steht die „Schlüsselpredigt“ 9. Mit ihrer These von der vernünfticheit als dem tempel gotes schließt sie zwar, wie gesagt, an die ›Pariser Quaestionen‹ an, aber es fehlen völlig jene thematischen Komplexe: einvalticheit, Bildtheorie, Lichtmetaphysik, über die sich die genannte Gruppe zusammenschließt. Sie könnte wohl etwas später einzustufen sein.90 88
Ebd. S. 384,3ff. Siehe auch S. 383,1. Dieses Verfahren, über Rückverweise einerseits und thematische Bezüge anderseits zeitlich und örtlich zusammengehörende Gruppen von Eckhart-Predigten zu fassen, hat schon Freimut Löser, „Predigt 19. ,Sta in porta domus domini‘“, in: Steer u. Sturlese [Anm. 68], S. 117–149, hier S. 146ff., für die Pr. 19, 37, 51, 26 und 18 erfolgreich durchgespielt. Vgl. auch die besonders eng verbundene Gruppe der Pr. 101, 102, l03 und 104, die Georg Steer, „Predigt 101. ,Dum medium silentium tenerent omnia‘“, ebd., S. 247–288, hier insbes. S. 262ff., analysiert hat. 90 Dafür spricht auch der nun sehr dezidiert verwendete Begriff der vernünfticheit. Er meint hier ausschließlich die höchste Form des Erkennens, die mit Gott als vernünfticheit korrespondiert. In Pr. 70, DW III, S. 196,2f., kann Eckhart sagen, daß die gnaˆde über der vernünfticheit stehe, und in Pr. 71, DW III, S. 215,9, 216,4 und 217,1f., wird vernünfticheit sowohl auf das kreatürliche Erkennen wie auf die Gotteserfahrung im Innersten der Seele bezogen. In Pr. 9 ist es also wohl zu einer terminologischen Klärung gekommen. – Georg Steer macht mich darauf aufmerksam, daß auch die von ihm herausgegebene Pr. 90, DW IV, S. 54ff., sich in einer Reihe von Motiven mit der Gruppe Pr. 70, 71, 72, 80 berührt. Es geht hier aufgrund des Leitzitats Sedebat Iesus docens in templo wie in Pr. 72 darum, daß Kristus leˆrte. Nachdem erörtert ist, welche Formen des Wissens Christus besitzt, stellt sich die Frage, was er lehrte. Die Antwort lautet: er 89
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Das dionysische Kriterium: Alle vier Predigten zeigen dionysische Einflüsse, insbesondere für die Lichtmetaphysik dürfte Dionysius die wichtigste Quelle gewesen sein. Predigt 71 zitiert ihn explizit. Er wird als Zeuge dafür herangezogen, daß Gott jenseits von allem ist, was sich positiv aussagen läßt: Er ist über wesen, er ist über leben, er ist über lieht. Und doch ist er das waˆr lieht, aber dies in dem Sinne, in dem es dann in Predigt 72 formuliert wird: als ein Licht über allem Lichthaften. Die Basis dieser negativen Theologie bildet vor allem das 5. Kapitel der ›Mystica theologia‹.91 Auch die Einsicht, daß die Erkenntnis Gottes nur jenseits alles Bildhaften, alles Begrifflichen denkbar ist, nimmt dionysische Überlegungen auf, etwa ›De divinis nominibus‹, Kap. 7ff.: Gott kann nicht benannt werden, er ist als Licht unsichtbar, als Weisheit jenseits der Vernunft usw. Neuplatonisch-dionysisch ist auch, wie schon erwähnt, das Aufstiegskonzept. Aber in der Art und Weise, wie Eckhart es einsetzt, zeigt sich der entscheidende Unterschied gegenüber dem traditionellen Ascensusmodell. Die negative Theologie ist kein Weg mehr, über den man, das Irdische und die kreatürlichen Erkenntnisformen übersteigend, Gott zu erreichen vermöchte. Die Vielheit, das, was uˆzgespreitet ist, die schar und die auf sie bezogene Vernunft, das Bildhafte, das Lichthafte wird nicht stufenweise zurückgelassen, vielmehr wird die Möglichkeit eines Prozesses durch die Auslegung unterlaufen.92 Auffällig ist zugleich, daß der gesamten Predigtgruppe jene Terminologie, die für das spätere, ausgearbeitete mystisch-theologische Konzept typisch sein wird, noch weitgehend fehlt. Es ist nicht von abegescheidenheit, gelaˆzenheit, aˆne eigenschaft, sunder warumbe usw. die Rede, es fehlen die Metaphern für den ,Punkt‘ der Berührung mit Gott: vünkelıˆn, huote, houbet der seˆle usw.,93 auch die Vorstellung eines Durchbruchs – in Abhebung gegenüber einem Aufstieg – ist nicht artikuliert; und vor allem ist die Idee der Gottesgeburt noch nicht entwickelt. Es scheint zwar eine Andeutung darauf in Predigt 71 zu geben, aber sie ist so kurios und so beiläufig, daß es kaum möglich sein
lehrte das, was er selber ist: verstantnisse. Damit steht man auch hier in der Nähe der ›Pariser Quaestionen‹. Und dann findet sich ein weiteres einschlägiges Motiv, wenn davon die Rede ist, daß die Engel die Bilder aller Dinge in sich tragen, wobei übrigens auf Dionysius verwiesen wird: DW IV, S. 60,64ff. und S. 63,107ff., mit Steers Anm. 18, S. 63. Und schließlich heißt es, Christus lehre uns, aus der Mannigfaltigkeit des Irdischen in den Ursprung zurückzukehren, dies jedoch ohne daß der Gegenterminus einvaltic auftauchen würde. Ferner fehlen sowohl eine ausgearbeitete Bildtheorie wie eine prononcierte Lichtmetaphysik. Zwar erscheint am Ende dann doch noch der Begriff einvaltic, aber nicht in Opposition zu Mannigfaltigkeit, sondern in einem Zusammenhang, der seltsam anmutet. Es wird gesagt, daß Christus sich mit seiner Lehre an die einvaltigen gewandt habe; einvaltic aber seien jene, die weder betrügen noch sich betrügen lassen. Das kann unmöglich im Bewußtsein jener dezidierten Theorie von Einfaltung und Ausfaltung formuliert worden sein, wie sie in der Predigtgruppe 70, 71, 72, 80 entwickelt worden ist. Ist Pr. 90 also älter? Oder stammt der merkwürdige Schluß von einem Bearbeiter? 91 DW III, S. 233, Anm. 3 mit Parallelstellen. Siehe auch Eckhart, hg. Largier, I, S. 804, Komm. zu 72,16–21; Hasebrink [Anm. 76], S. 235ff. 92 Siehe ebd., S. 237f. 93 Zu dieser Begrifflichkeit Kurt Ruh, „Predigt 4. ,Omne datum optimum‘“, in: Steer u. Sturlese [Anm. 68], S. 1–23, hier S. 20f.
6. Eckhart, Predigt 72
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dürfte zu sagen, inwiefern damit auf ein möglicherweise anderweitig expliziertes Konzept verwiesen wird.94 So ist als Ergebnis denn festzuhalten: Die Predigtgruppe 70, 71, 72, 80 repräsentiert eine Frühform Eckhartschen Denkens von spezifischem Gepräge. In der Predigt 72 erscheint es vor dem Hintergrund der andern drei Predigten, die man mitsehen muß, am konsistentesten ausformuliert. Ihm eigentümlich ist die Kombination eines Erkenntniskonzepts auf der Basis einer doppelten Vernunft mit einer neuplatonisch-dionysischen Bildtheorie und Lichtmetaphysik, wobei die Brechung im Sinne einer absoluten Differenz durch alle Aspekte hindurchgeht. Die beiden Formen der Vernunft berühren sich nicht; das Abbildverhältnis zwischen Gott, Sohn und Seele steht jenseits alles Bildhaften; und das wahre Licht ist lichtlos über allem Licht. Und aus dieser Differenz heraus versteht sich dann auch das exegetische Verfahren, durch das die biblischen Aufstiegsbilder als quasi-neuplatonische Ascensusangebote metaphorisch-allegorisch ausgehebelt werden.
94
Eckhart berichtet – DW III, S. 224,5ff. – vom Wachtraum eines Menschen, in dem es ihm vorkam, als ob er swanger würde von nihte als ein vrouwe mit einem kinde, und in dem nihte wart got geborn; de´r was diu vruht des nihtes. Got wart geborn in dem nihte. Das ist so seltsam formuliert, daß Quint sich sogar veranlaßt sah, nach einem entsprechenden Exempel zu suchen: ebd., S. 225, Anm. 1. Hasebrink [Anm. 76], S. 244f., nimmt die Stelle zwar zum Anlaß, über das Theologumenon der Gottesgeburt zu referieren, aber es fragt sich, ob diese merkwürdige Erwähnung eines Wachtraums von einer Geburt Gottes aus dem Nichts das ontologisch voll ausgebildete Konzept der ewigen Geburt des Sohnes im Seelengrund zur Voraussetzung hat.
7. Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹
Der heutige Stand der Forschung zum ›Granum sinapis‹ ist durch die Arbeiten vor allem dreier Gelehrter maßgeblich geprägt worden: Kurt Ruh hat den Text nach den neun Handschriften, in denen es überliefert ist, kritisch ediert.1 Diese Edition ist, abgesehen von zwei nachträglichen Besserungen, die gültige Textbasis.2 Schon in der ältesten Handschrift aus dem 14. Jahrhundert ist der Text mit einem lateinischen Kommentar verbunden, d. h., er ist in diesen eingefügt. Maria Bindschedler hat ihn mit Erläuterungen herausgegeben.3 Ruh und Alois Haas haben grundlegende Interpretationen geboten.4 Als gesichert kann gelten, daß dieses in jeder Hinsicht singuläre deutsche Lied zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Thüringen entstanden ist: die ältesten Handschriften weisen ebenso dahin wie bestimmte Dialekteigentümlichkeiten.5 Seiner Denkweise wie seiner Bildlichkeit nach berührt es sich mit der mystischen Theologie Meister Eckharts. Nachdem Ruh zunächst keinen Anlaß sah, es Eckhart selbst zuzuweisen,6 hat er später seine Meinung geändert; er hält nunmehr eine Autorschaft Eckharts für durchaus möglich.7 Einigkeit besteht sowohl im Hinblick auf die hohe formal-poetische Kunst des Liedes – es folgt einem Sequenzschema, das bei Adam von St. Viktor belegt ist8 – als auch hinsichtlich seines herausragenden theologischen Niveaus. Schon der lateinische Kommentator hat die weitreichenden ideengeschichtlichen Zusammenhänge erkannt, insbesondere die Nähe zu Dionysius Areopagita, den er ausgiebig zur Erklärung heranzieht.9 Die Frage, ob der Autor und der Kommentator identisch sein könnten, ist mit 1
Kurt Ruh, „Textkritik zum Mystikerlied ,Granum sinapis‘“, in: FS Josef Quint, hg. v. Hugo Moser, Rudolf Schützeichel, Karl Stackmann, Bonn 1964, S. 169–185. 2 Korrigierter Text bei Ruh, Eckhart, S. 47–49. 3 Maria Bindschedler, Der lateinische Kommentar zum Granum sinapis, Basel 1949 [zit. Komm.]. Dazu Dies., „Griechische Gedanken in einem mittelalterlichen mystischen Gedicht“, Theologische Zs. 4 (1948), S. 192–212. – Es gibt auch einen späteren deutschen Kommentar (15. Jh.), der jedoch im Zusammenhang meiner Fragestellung vernachlässigt werden kann; siehe dazu Kurt Ruh, Art. ,Granum sinapis‘, 2VL 3, Sp. 220–224, hier Sp. 223f. 4 Ruh, Eckhart, S. 49–59; Alois M. Haas, Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (dokimion 4), Freiburg/Schweiz 1979, S. 301–329. 5 Ruh [Anm. 1], S. 182f. Von Thüringen aus erreicht das Gedicht im 15. Jh. Nürnberg und das alemannische Gebiet. Es hat im übrigen auch produktive Nachwirkungen gehabt; vgl. Eleonore Benary, Liedformen der deutschen Mystik, Diss. Greifswald 1936, S. 17ff. (diesen Hinweis verdanke ich der Enkelin der Autorin, Henrike Lähnemann). 6 Ruh [Anm. 3], Sp. 221. 7 Ruh, Eckhart, S. 49f. So schon in seiner Rez. von Haas [Anm. 4], PBB 104 (1982), S. 484–493, hier S. 490. Zur Verfasserfrage siehe auch Haas [Anm. 4], S. 305f. 8 Ruh [Anm. 1], S. 180f. 9 Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund siehe, abgesehen von den Arbeiten von Bindschedler [Anm. 3], Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt a. M. 22001,
7. Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹
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Nein zu beantworten – es sprechen gewisse Unstimmigkeiten dagegen;10 daß sie aber in denselben Umkreis gehören, wird man schwerlich bezweifeln können.11 Der Titel – im vollen Wortlaut: ›Granum sinapis de divinitate pulcherrima in vulgari‹ – stammt übrigens vom Kommentator: er meint damit, daß das kleine Gedicht wie das winzige Senfkorn eine große Entfaltungskraft in sich trage.12 Was mich veranlaßt, den Text auf der Basis des bislang interpretatorisch Geleisteten nochmals durchzudenken, ist die Frage, ob das Konzept des ›Granum sinapis‹ tatsächlich mit Eckharts Theologie zur Deckung zu bringen ist oder ob es eine eigenständige Position beanspruchen darf. Ich nähere mich dem Gedicht in zwei Durchgängen. In einem ersten Durchgang biete ich eine textnahe Lektüre mit punktuellen Querbezügen, insbesondere im Blick auf Parallelen bei Eckhart. Der zweite Durchgang zielt dann auf seine poetische Gestalt und die Frage, inwiefern seine spezifische Form den Sinn trägt.
1. Durchgang I 3
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In dem begin hoˆ uber sin ist ie daz wort. oˆ rıˆcher hort, daˆ ie begin begin gebaˆr! oˆ vader brust, uˆz der mit lust daz wort ie vloˆz! doch hat der schoˆz daz wort behalden, daz ist waˆr.
vv. 1–3 zitieren den Beginn des ›Johannesevangeliums‹, wobei alle Handschriften bis auf eine in v. 3 waz statt ist schreiben: „Am Anfang war das Wort“. Da der Kommentar jedoch nicht nur von der Lesart ist ausgeht, sondern diese Lesung explizit rechtfertigt, muß ist in den kritischen Text gesetzt werden. Der Kommentar erklärt, daß die Abwandlung des Evangelientextes sinnvoll sei, denn das Verbum in der Gegenwart bedeute die Ewigkeit des Beginnens, also dasselbe, was das ›Evangelium‹ mit der unvollendeten Vergangenheit meine.13 In der Überlieferung ist der Text dann sekundär an den Wortlaut des ›Evangeliums‹ angeglichen worden. Ruh hat darauf aufmerksam gemacht, daß
S. 124–129. Zur Vermittlung über Johannes Scotus Eriugena Ders., „Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriugena“, Philosophisches Jb. 83 (1976), S. 237–265, hier S. 251. 10 Der Kommentator erkennt z. B. vader, v. 6, nicht als Genitiv. Das zeuge, bemerkt Bindschedler, Kommentar [Anm. 3], S. 186, „für einen weiten sprachlichen Abstand des Kommentators vom Dichter“. Siehe auch unten S. 342 zu seiner ins Abseits führenden Deutung von Gott als Kreis. 11 Ruh, Eckhart, S. 50f. 12 Komm., S. 34: parvum in substantia, magnum in virtute. Zur Geschichte des Senfkornvergleichs siehe Bindschedler, Kommentar [Anm. 3], S. 19ff.; ferner Haas [Anm. 4], S. 307f., Anm. 29. 13 Komm., S. 47. Vgl. auch Ruh, Eckhart, S. 50.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Eckhart in seinem ›Johannes-Kommentar‹ in die gleiche Richtung gehende Überlegungen zur Bedeutung von erat in Joh 1,1 anstellt.14 Somit: „Am Anfang ist seit je und immer [d. h. in Ewigkeit] das Wort.“ – Von entscheidender Bedeutung ist auch die Zufügung des ie zum Bibeltext. Dadurch wird das Wort zum zeitlos-überzeitlichen Anfang gegenüber einer Welt, die durch Zeitlichkeit bestimmt ist. Und es wiederholt sich dieses signifikante ie noch zweimal in der I. Strophe: Das Zeitliche gründet je und je im Überzeitlichen. Das Wort aber ist, wie der Kommentar erläutert, der Sohn und zugleich der Vater, mit dem er eins ist. Insofern ist das Wort der Ursprung von allem.15 Unter diesen Voraussetzungen muß v. 2 verstanden werden: das Wort steht „hoch über sin“, d. h. jenseits von dem, was sich als Bedeutung aussagen läßt. Das menschliche Wort ist dadurch Wort, daß es bedeutet. Das göttliche Wort hingegen ist insofern jenseits von Bedeutung, als es das Wort als Bedeutung erst möglich macht. v. 4: „O du reicher Schatz“. – Reichtum steht für die Fülle, von der die Schöpfung ihren Ausgang nimmt. Die Metapher des Schatzes, des Reichtums, der plenitudo für den göttlichen Ursprung – wie auch für das Ziel – ist gängig. Eckhart z. B. spielt mit den Begriffen ,reicher Gott‘ und ,Gottesreich‘: Das Gottesreich meint den Reichtum dieses Reiches im Sinne jenes überzeitlichen Grundes, aus dem und in dem die Seele immer neu geboren werden soll.16 v. 5 greift auf den Beginn zurück: „wo seit je und immer der Anfang den Anfang gebar“. Es handelt sich also um ein Anfangen, das sich immer neu selbst gebiert; es ist ein ewiges Werden aus dem Sein. vv. 6–8: „O Vaterbrust, aus der seit je und immer das Wort floß, und dies mit lust“, d. h. mit Freude im Genießen seiner selbst. Wenn der Sohn als Wort verstanden wird, dann ist der Ort, aus dem es ausfließt, die Brust des Vaters. Und dieses Ausfließen ist ein Akt göttlicher Selbsterfahrung und als solche höchste Glückseligkeit. Die Metapher des Ausfließens stammt aus neuplatonischer Tradition. Sie meint dort den kosmischen Prozeß der Entfaltung des Vielen aus dem Einen. Bei der Verchristlichung des Konzepts wird das Eine mit dem Schöpfer gleichgesetzt und die Emanation zum Schöpfungsakt umgedeutet. Die neuplatonische Metaphorik bleibt dabei weitgehend erhalten, sie wird aber auf die trinitarische Bewegung und den von ihr getragenen Schöpfungsprozeß bezogen. Der Vorstellung des Ausfließens aber stehen die Verse 9 und 10 entgegen: „Doch hat der Schoß das Wort in sich behalten. Das ist die Wahrheit“ – wobei diese Wahrheitsversicherung offensichtlich das Paradox bekräftigen soll, daß das Wort aus dem Vater ausfließt und doch in ihm bleibt. brust und schoˆz spielen mit den unterschiedlichen Vorstellungen des ausströmenden Wortes im Atem und seines In-Erscheinung-Tretens im Akt des Gebärens. Die Metaphern sind über ihren Bezug zum selben Vorgang austauschbar: das Wort kommt aus der Brust, der Sohn aus dem Schoß. Beides aber ist ewiger Anfang, d. h. Bewegung, die doch im Ursprung bleibt. Zu diesem Paradox bietet 14
Ebd. Komm., S. 43. 16 Pr. 38, DW II, S. 232,3f. Der Komm., S. 50–52, weist zur Metapher des Reichtums auf Bibelstellen und insbesondere auf den ›Liber de causis‹, wo das ,Erste‘ als ,in sich selber reich‘ bezeichnet wird. 15
7. Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹
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Eckhart sehr nahe stehende parallele Formulierungen: Daz daz wort uˆzvliuzet und doch inneblıˆbet, daz ist gar wunderlich, oder: us dem [Vater] gat das ewig wort inne belibend,17 und wenn es dann weiter heißt: vnd der hailig gaist flu´sset von in beiden inne belibend, so fährt die II. Strophe des ›Granum sinapis‹ entsprechend fort: II 3
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Von zweˆn ein vluˆt, der minnen gluˆt, der zweier bant, den zwein bekant, vluˆzet der vil suˆze geist vil ebinglıˆch, unscheidelıˆch. dıˆ drıˆ sıˆn ein. weiz du waz? nein. iz weiz sich selber aller meist.
War bislang von Vater und Sohn die Rede gewesen, so bringt die zweite Strophe also die dritte Person der Trinität mit ins Spiel. vv. 1–7: „Aus den zweien fließt eine Flut, der Liebe Glut, ihr beider Band, in gemeinsamem Erkennen: Das ist der Geist in seiner großen Süßigkeit, in völliger Gleichheit, ununterschieden.“ Der Heilige Geist ist die Liebe, die aus Vater und Sohn fließt und beide verbindet, und dies ist zugleich der Akt der trinitarischen Selbsterkenntnis. Der Gedanke und die Metaphorik sind wiederum neuplatonisch-dionysisch: Es ist die Liebe, die sich im Ausfließen der Gottheit manifestiert und in der das Ausgeflossene auch wieder in sie zurückgebunden ist. Die mittelhochdeutschen Metaphern für den Heiligen Geist: vluˆt, gluˆt, bant sind bei Eckhart vorgeprägt,18 und es findet sich bei ihm auch die menschliches Verstehen übersteigende Selbsterkenntnis im trinitarischen Prozeß.19 vv. 8–10: „Die drei sind eins. Begreifst du etwas davon? Nein. Es begreift sich selbst am allerbesten“; gemeint ist: Es begreift sich letztlich nur selbst. – Die Darstellung der Trinität als Bewegung, die doch in sich bleibt, führt damit zu dem neuen Paradox weiter, daß die drei – Vater, Sohn und Geist – eins sind, differenziert und doch ununterscheidbar. Und darauf wendet sich das Lied unvermittelt an den Zuhörer mit der Frage, ob das begreiflich, mit menschlicher Vernunft erfaßbar sei. Und man muß dies verneinen. Denn eine durch diesen Widerspruch konstituierte Gottheit kann sich nur selbst verstehen. Eckhart bringt dieses Unbegreifliche in der oben zitierten Stelle aus Predigt 30 mit dem Adjektiv wunderlich zum Ausdruck. III 3
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Der drıˆer strik hat tıˆfen schrik, den selben reif nıˆ sin begreif: hıˆr ist ein tuˆfe sunder grunt.
Pr. 30, DW II, S. 94,1f. bzw. Pr. 15, DW I, S. 252,3. Hinweise auf zahlreiche weitere Stellen bei Haas [Anm. 4], S. 313, Anm. 44. 18 Siehe ebd., S. 313f., Anm. 45. 19 Ebd., S. 314, Anm. 46.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum 6
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schach unde mat zıˆt, formen, stat! der wunder rink ist ein gesprink, gaˆr unbewegit steˆt sıˆn punt.
vv. 1–4: „Der Strick der drei [d. h. der Strick, in dem die drei, Gottvater, Sohn und Geist, verflochten sind] hat etwas tief Erschreckendes. Dieser Kreis [also das Sich-Ineinanderdrehen dieser Verstrickung] war für die Vernunft immer unbegreiflich.“ – Hier wird nun nicht nur versucht, das trinitarische Ineinander mit einem Bild zu fassen: als verflochtenes Ineinander-Kreisen, sondern hier verbindet sich das Nicht-Begreifen zugleich mit einer emotionalen Reaktion: es löst Schrecken aus. Weshalb? Das Folgende ist wohl als Antwort zu interpretieren: v. 5: „Hier ist eine grundlose Tiefe.“ Das ist zwar eine gängige Metapher für Gottes Unergründbarkeit, aber das Bild des Abgrunds wird durch das Erschrecken mitemotionalisiert, und das wirkt auch in den nächsten Versen weiter: vv. 6–7: „Schachmatt die Zeit, die Formen, der Ort!“ – Wieder wird eine Formel für die Transzendenz Gottes oder des ewigen Seins: die Ungültigkeit aller Bedingtheiten durch Raum, Zeit und konkrete Bestimmungen, im Blick auf den Hörer gewissermaßen dramatisiert. Die Raumzeitlichkeit ist nicht einfach aufgehoben, sondern sie ist durch einen endgültigen, vernichtenden Schachzug erledigt. Das Verbum ist ausgespart: Das Spiel ist aus. vv. 8–10: „Der staunenerregende Kreis [oder besser: das staunenerregende Kreisen] versteht sich als Ursprung, wobei sein Mittelpunkt sich aber nicht bewegt.“ – Die Kreisvorstellung von v. 3 wird hier wieder aufgegriffen: die sich in sich selbst drehende Bewegung zwischen Vater, Sohn und Geist wird nun als Ursprung verstanden, genauer: als Urbewegung, aus der alles entspringt. Aber die Mitte, um die die Bewegung kreist, steht still. Das heißt: der göttliche Grund ist ohne Bewegung. Der Kommentar verweist zum ,Punkt‘ auf die traditionelle Vorstellung von Gott als dem unbeweglichen Beweger20 und zum Kreis auf die berühmte Gottesdefinition: ,Gott ist ein Kreis oder eine Kugel, dessen bzw. deren Mittelpunkt überall und dessen/deren Umfang unendlich ist.‘21 Doch der letzte Hinweis verfehlt das entscheidende dynamische Moment und damit den Widerspruch zwischen dem Ursprung als Bewegung und dem Ursprung als ruhender Mitte. IV 3
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Des puntez berk stıˆg aˆne werk, vorstentlichkeit! der wek dich treit in eine wuˆste wunderlıˆch, dıˆ breit, dıˆ wıˆt, unmeˆzik lıˆt. dıˆ wuˆste hat
Komm., S. 78. Komm., S. 82/84. Siehe dazu auch Haas [Anm. 4], S. 315f.
7. Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹ 9
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noch zıˆt noch stat, ir wıˆse dıˆ ist sunderlıˆch.
vv. 1–3: „Auf den Berg des Punktes steig empor, Vernunft, aber ohne dein Werk“, d. h. ,ohne dich ins Werk zu setzen‘. Die Vernunft soll also zu jenem Punkt emporsteigen, der als Mittelpunkt der Bewegung gekennzeichnet worden ist. Der Punkt wird dabei als Berg, als Höhe gefaßt, als Gegenbild somit zum Abgrund – mit dem er jedoch letztlich identisch sein muß, denn Höhe wie Abgrund sind austauschbare Gottesmetaphern. Angesprochen ist die Vernunft, die aber nicht tätig werden darf, da die Paradoxien dieses ,Punktes‘ rational nicht zu durchdringen sind. Anders gesagt: die Vernunft muß sich im Aufstieg selbst zurücklassen. Doch darauf wird erneut der Bildbereich gewechselt (vv. 4–10): „Der Weg führt dich in eine Wüste, die Staunen erregt, denn sie liegt breit, weit, unmeßbar da. Diese Wüste hat weder Zeit noch Ort. Sie hat eine Seinsweise von besonderer Art.“ – Die Leere der Wüste ist eine traditionelle Metapher für die Entbundenheit der Gottheit von allem Konkreten; sie kennzeichnet ihren Sonderstatus gegenüber allem Seienden: die Leere steht für ein Sein jenseits von Raum und Zeit.22 Und dies ist es, was Staunen erregen muß. Eckhart sagt z. B. in Predigt 10: Ich haˆn gesprochen von einer kraft in der seˆle; an irm eˆrsten uˆzbruche soˆ ennimet sie got niht, als er guot ist, sie ennimet niht got, als er diu waˆrheit ist: sie gründet und suochet vort und nimet got in sıˆner einunge und in sıˆner einœde; sie nimet got in sıˆner wüestunge und in sıˆnem eigenen grunde.23 Hier wird explizit deutlich gemacht, daß die Metaphern der Einöde und Wüste für das Einssein und den Seinsgrund Gottes stehen und daß es darum geht, über das, was an Göttlichem im irdisch Guten und Wahren erscheint, hinweg zu diesem Grund vorzustoßen. Das deckt sich insoweit mit dem ›Granum sinapis‹, als auch hier die ,Wüste‘ als Metapher für ein Sein steht, das jenseits dessen liegt, was sich in Raum und Zeit manifestiert und damit Objekt der Vernunft sein könnte. Was hingegen fehlt, ist der Bezug auf den mit dem göttlichen Grund korrespondierenden Seelengrund. V 3
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Daz wuˆste guˆt nıˆ vuˆz durch wuˆt, geschaffen sin quam nıˆ daˆ hin: us ist und weis doch nimant was. us hıˆ, us daˆ, us verre, us naˆ, us tıˆf, us hoˆ, us ist alsoˆ, daz us ist weder diz noch daz.
vv. 1–4: „Diese Wüste ist ein Gutsein, das nie ein Fuß durchwatet hat. Kreatürliches Denken ist nie dahin gelangt“. – Nun war zwar von einem Aufstieg auf einen Berg die Rede, wo sich dann eine Wüste dem Blick öffnete, aber das ist offensichtlich nicht als 22
Zur Gottesmetapher ,Wüste‘ Grete Lüers, Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, München 1926, Nachdr. Darmstadt 1966, S. 293ff.; Haas [Anm. 4], S. 317 und S. 321. 23 DW I, S. 171,12–172,2.
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kontinuierlicher Prozeß zu denken, denn dasselbe, was vom Berg gesagt wird, wird nun auch von der Wüste behauptet: der Aufstieg ist mit den Mitteln der Vernunft nicht möglich; der Weg durch die Wüste ist kreatürlichem Denken verschlossen. Berg und Wüste sind Bildvarianten der Gottheit, und sie implizieren als Metaphern zugleich deren Unzugänglichkeit für die Ratio. Das wird im folgenden nochmals diskursiv-bildlos formuliert: vv. 5–10: „Es IST [d. h., es hat und ist Sein], und doch weiß es niemand zu bestimmen. Es ist hier, es ist dort, es ist fern, es ist nah, es ist tief, es ist hoch, und doch ist es von solcher Art, daß es weder dies noch das ist.“ – Das ,Gutsein‘ ist also überall, es durchdringt alles, aber es ist nicht zu bestimmen als ein Dies oder Das. In allem sein und doch außerhalb bleiben – dieses Verhältnis zwischen Gott und der Schöpfung kann Eckhart folgendermaßen formulieren: Got ist in allen dingen. Ie meˆ er ist in den dingen, ie meˆ er ist uˆz den dingen: ie meˆ inne, ie meˆ uˆze, und ie meˆ uˆze, ie meˆ inne.24 Und auch das Weder-dies-noch-das-Sein des absoluten Seins ist eine charakteristische Eckhartsche Formel: Got enist weder diz noch daz.25 Oder: Ich haˆn underwıˆlen gesprochen, ez sıˆ ein kraft in dem geiste, diu sıˆ aleine vrıˆ. Underwıˆlen haˆn ich gesprochen, ez sıˆ ein huote des geistes; underwıˆlen haˆn ich gesprochen, ez sıˆ ein lieht des geistes; underwıˆlen haˆn ich gesprochen, ez sıˆ ein vünkelıˆn. Ich spriche aber nuˆ: ez enist weder diz noch daz.26 Eckhart spricht hier vom Innersten des menschlichen Geistes, jenem ,Ort‘, an dem dieser sich mit dem Göttlichen berührt, ja mit ihm in Ewigkeit eins ist, und so gelten denn dieselben Bestimmungen für dieses Innerste wie für den göttlichen Seinsgrund: beides ist ,weder dies noch das‘. Man kann zwar Metaphern dafür einsetzen wie huote, lieht, vünkelıˆn, aber man faßt es damit nicht; die Metaphern zielen vielmehr dezidiert darauf, die Differenz bewußt zu machen. Entsprechend setzt das ›Granum sinapis‹ das Bild der Wüste ein: das, wofür es steht, das guˆt, ist unfaßbar, unbestimmbar: ,weder dies noch das‘. Es sei jedoch nochmals darauf hingewiesen, daß unser Lied bislang durchgängig objektiv orientiert ist, daß der subjektive Seinsgrund auch hier nicht in den Blick tritt. VI 3
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Us licht, us claˆr, us vinster gaˆr, us unbenant, us unbekant, beginnes und ouch endes vrıˆ, us stille staˆt, bloˆs aˆne waˆt. wer weiz sıˆn huˆs? der geˆ her uˆz und sage uns, welich sıˆn forme sıˆ.
Nach dem räumlich-paradoxen Überall-Sein des guˆt hat man es hier nun mit einer qualitativ-paradoxen Reihe zu tun. vv. 1–5: „Es ist licht, es ist hell, es ist vollkommen dunkel, es ist ohne Name, unbekannt, ohne Anfang und Ende.“ – Das Paradox der 24
Pr. 30, DW II, S. 94,6f. Pr. 9, DW I, S. 146,2f. 26 Pr. 2, ebd., S. 39,1–5. 25
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lichten Dunkelheit und des dunklen Lichts ist ebenso der neuplatonischen Tradition entnommen27 wie die Namenlosigkeit und die Nichterkennbarkeit.28 Mit v. 5 wird dann die Vorstellung vom Anfang, der in seiner Ewigkeit keiner ist, durch das Wort vom Ende ergänzt, das es ebenfalls nicht geben kann. vv. 6–7: „Es bewegt sich nicht; es ist bloß, ohne Kleid.“ Mit der Vorstellung der Bewegungslosigkeit wird auf III,10 zurückgegriffen. Wenn gesagt wird, das ,göttliche Gut‘ sei ohne Kleid, so meint dies, daß Gott über irgendwelche Erscheinungsformen nicht zu fassen ist. Es sei an die oben zitierte Stelle aus Eckharts Predigt 10 erinnert, wo er sagt, daß man Gott nicht über das Gute oder das Wahre fassen könne; und in Predigt 9 heißt es, daß das Gutsein Gottes nur ein Kleid sei; wolle man ihn fassen, müsse man ihn ,bloß‘ nehmen.29 vv. 8–10: „Wer kennt sein Haus? Der trete vor und sage uns, welche Form es hat.“ – Erneut erfolgt hier eine Wende zum Hörer/Leser. Die rhetorische Frage nach Gottes Haus meint selbstverständlich ironisch, daß es ein solches Haus, d. h. einen bestimmten Ort für ihn, gar nicht geben kann. Diejenigen, die es zu wissen vorgeben, sollen vortreten und es beschreiben! VII 3
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Wirt als ein kint, wirt toup, wirt blint! dıˆn selbes icht muˆz werden nicht, al icht, al nicht trıˆb uber hoˆr! laˆ stat, laˆ zıˆt, ouch bilde mıˆt! genk aˆne wek den smalen stek, soˆ kums du an der wuˆste spoˆr.
Nunmehr wendet sich die gesamte Strophe an den Hörer/Leser, und dies in Form einer Reihung von Appellen. vv. 1–5: „Werd wie ein Kind, werd taub, werd blind! Dein eigenstes Etwas muß zu Nichts werden. Treib alles Etwas und alles Nichts über sich selbst hinaus!“ Zunächst wird das, was in Strophe IV zur Vernunft gesagt worden ist, als konkrete Aufforderung neu pointiert: der Verzicht auf die Ratio heißt nun Kindwerden, die Ohren und die Augen schließen. Blind werden, um Gott zu sehen, ist wiederum eine Eckhartsche paradoxe Formulierung: swer got sehen wil, der muoz blint sıˆn.30 Und das gilt auch für das Zu-Nichts-Werden.31 Und wenn schließlich gefordert wird, daß das Etwas-Sein wie das Nichts zurückzulassen seien, so klingt die dionysische Forderung an, daß sowohl alles Affirmative wie alles Negierende in der Gotteserkenntnis überstiegen werden muß. vv. 6–10: „Laß Ort, Zeit und auch die Bilder! Geh ohne Weg den schmalen Steg. So gelangst du auf jene Spur, die zur Wüste führt“ oder eher: „die die Wüste ist.“ Also 27
Lüers [Anm. 22], S. 170f.; Eckhart, hg. Largier, I, S. 750. Ruh, Eckhart, S. 56f. 29 DW I, S. 152,6ff. Parallelstellen sind von Quint, DW I, S. 123, in Anm. 1 aufgeführt. Vgl. auch Lüers [Anm. 22], S. 143ff. 30 Pr. 72, DW III, S. 250,7f. 31 Ruh, Eckhart, S. 54, nennt dies geradezu „die religiöse Zentralaussage Eckharts“. 28
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noch einmal: Ort und Zeit sind auszuschalten, da ja, wie oben gesagt worden ist, Gott selbst ohne Ort und Zeit ist, alles Bildhafte ist auszuschließen, da Gott im Bild nicht faßbar ist. Alles Metaphorische weist letztlich, wie gesagt, auf seine eigene Unzulänglichkeit. Und das gipfelt in der Vorstellung vom weglosen Gehen bis zu jenem schmalen Übergang, der zur Wüste führt, wobei die Wüste aber nur spoˆr, Zeichen, für die Erfahrung des Unerfahrbaren ist. VIII 3
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ˆ seˆle mıˆn, O genk uˆz, got ˆın! sink al mıˆn icht in gotis nicht, sink in dıˆ grundeloˆze vluˆt! vlıˆ ich von dir, du kumst zu mir. vorlıˆs ich mich, soˆ vind ich dich, oˆ uberweselıˆches guˆt!
vv. 1–5: „O meine Seele, geh aus dir heraus, Gott gehe hinein! Mein ganzes Etwas sinke in Gottes Nichts, sinke in die grundlose Flut!“ – Hier wechselt überraschend der Adressat. Der Sprecher spricht zu sich selbst, zu seiner eigenen Seele. Sie muß von sich selbst frei werden, damit Gott in sie eingehen kann – wieder stehen Eckhartsche Formulierungen nahe.32 Alles, was an mir als Etwas zu gelten hat, muß in Gottes Nichts33 aufgehen, muß in seiner grundlosen Flut versinken, womit die Metaphern der Verse II,1 und III,5 kombiniert nochmals auftauchen. vv. 6–10: „Fliehe ich vor dir, so kommst du zu mir. Verliere ich mich, so finde ich dich, o Überseiend-Gutes.“ – Das ist ein merkwürdiger Schluß insofern, als die Paradoxien sich aufzulösen scheinen, und zwar in einem Gottvertrauen, das kaum verkennbar in Anlehnung an Bibelworte formuliert ist. Der Gedanke, daß man vor Gott flieht und er einen doch einholt, erinnert an Psalm 138;34 daß man gerettet wird, indem man sich verliert, an Stellen wie Mk 8,35.35 Die Schlußzeile greift dann aber das guˆt noch einmal auf, holt damit das Grundkonzept zurück und akzentuiert es durch eine typische mystische Über-Bildung. Man kann das ›Granum sinapis‹ in seinen Vorstellungen und Formulierungen so gut wie vollständig in der Tradition mystischen Denkens und Darstellens verorten. Der Kommentar schon hat dies auf der Basis der griechisch-lateinischen Überlieferung getan, und die modernen Interpreten sind auf diesem Weg weitergegangen. So ist es denn gelungen, das Gedicht in seinen Einzelzügen weitgehend theologiegeschichtlich aufzuschlüsseln. Dabei gerät man jedoch in die Gefahr, daß man es mit Parallelenmaterial zuschüttet, so daß seine Individualität im Allgemeinen mystischer Vorstellungen untergeht. So unentbehrlich diese Rekonstruktion der Traditionszusammenhänge also ist, 32
Pr. 5b, DW I, S. 92,7f. Zu Gott als ,Nichts‘ und zum dionysischen Hintergrund dieses zentralen Diktums der negativen Theologie siehe Eckhart, hg. Largier, I, S. 804; vgl. auch Lüers [Anm. 22], S. 232f. 34 Ps 138,7f.: quo a facie tua fugiam? Si ascendero in caelum, tu illic es. 35 Qui autem perdiderit animam suam propter me (. . . ) salvam faciet eam; vgl. Mt 16,25; Lk 17,33; Joh 12,25. 33
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damit wir überhaupt einen Zugang gewinnen, so fatal ist dieses Verfahren für die Interpretation seiner besonderen Gestalt. Das ist selbstverständlich einmal mehr der Grundwiderspruch, mit dem wir als Literarhistoriker leben müssen: Wir können Texte nur zugänglich machen, indem wir ihre kulturhistorisch-literarischen Kontexte aufschließen; doch ist ein Text nur dann wirklich interpretiert, wenn es gelingt, seine spezifische Akzentuierung im Rahmen der Tradition zu erfassen. Den Vorwurf, unseren Text weniger zu erklären als ihn theologiegeschichtlich zuzudecken, könnte man schon an den lateinischen Kommentator richten. Doch ist zu fragen, ob es wirklich sein Anliegen war, das Gedicht für diejenigen, für die es gedacht war, verständlich zu machen. Wenn die Hörer, Leser und Sänger wie der Dichter in den Umkreis Eckharts gehörten, dann bedurften sie eines solchen gelehrten Kommentars nicht. Denn sie müssen mit Eckharts mystischem Denken vertraut gewesen sein; es konnte also nicht darum gehen, ihnen das Gedicht zu erklären. Welchen Zweck aber hatte dann dieser ausufernde Kommentar? Man könnte eine Antwort auf diese Frage geben, indem man an die Diskussion um das waz bzw. das ist im Zitat der 1. Zeile des ›Johannesevangeliums‹ erinnert. Der Eingriff in den heiligen Text war zweifellos eine Kühnheit. Der Kommentator bemüht sich, ihn grammatikalisch-semantisch zu rechtfertigen. Möglicherweise aber war das Gedicht nicht nur punktuell, sondern sehr viel grundsätzlicher anstößig. Die Übernahme theologisch-gelehrter Mystik in die Volkssprache war an sich schon ein Wagnis, vor allem, wenn es nicht einmal um eine Predigt ging – und das war bekanntlich schon risikobeladen –, sondern um Poesie. Es ist also zu vermuten, daß der Kommentar insgesamt eine apologetische Funktion hatte. Er hätte dann das Ziel gehabt, das Gedicht und die volkssprachliche mystische Theologie, für die es stand, dadurch in Schutz zu nehmen, daß man jeden Gedanken und jedes Bild durch Autoritäten absicherte. Und dafür spricht übrigens auch, daß es zunächst in Verbindung mit dem Kommentar weitergegeben worden ist. Jedenfalls wird man davon ausgehen dürfen, daß das Gedicht ursprünglich auf einen Kommentar nicht angewiesen war, da es, wie ich mit meinen Querverweisen anschaulich machen wollte, vor dem Hintergrund der Theologie Eckharts geschaffen worden ist und auch verstanden werden konnte. Damit kehre ich zu meiner Ausgangsfrage zurück, inwieweit sich das Gedicht mit der spezifisch Eckhartschen Mystikkonzeption zur Dekkung bringen läßt. Denn auch wenn nicht zu verkennen ist, daß es in hohem Maße an der Bildlichkeit und Begrifflichkeit der Eckhartschen Mystik partizipiert, sollte man nicht der Versuchung erliegen, das Eigentümliche des Gedichts statt mit griechischlateinischer Mystik nun mit Eckhartscher Theologie zuzuschütten. Der Lösung dieses Problems dient eine nochmalige, nunmehr auf die poetische Gestalt des ›Granum sinapis‹ zielende Lektüre.
2. Durchgang Ich baue auf den Analysen des ersten Durchgangs mit der Absicht auf, nunmehr die spezifischen thematischen Pointierungen in den Vordergrund zu rücken, die dem ›Granum sinapis‹ möglicherweise eine individuelle Prägung geben. Inwieweit wird also etwas
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diesem Gedicht Eigentümliches faßbar, was nicht in mystisch-theologischem Allgemeingut aufgeht oder mit spezifisch Eckhartscher Theologie zu verrechnen ist? Oder kurz gefragt: Darf man das Gedicht als Gedicht ernst nehmen? Entscheidendes hängt dabei schon an der metrischen Form, die dem Gedicht zugrundeliegt. Sie ist bestimmt durch zweiteilige Strophen von zehn Versen, deren Teile jeweils mit vier Zweihebern beginnen, um dann in einen Vierheber zu münden. Das Schema ist folgendes: 2a2a2b2b4c2d2d2e2e4c Die lyrische Rede ist dadurch in beiden Strophenteilen zunächst auf eine Folge von vier sehr kurzen Aussagen angelegt. Darauf folgt eine breitere Zeile, die, wie sich zeigen läßt, dazu genützt wird, zusammenzufassen, zu überhöhen, eine Gegenposition zu setzen oder eine überraschende Wende herbeizuführen. Der geistige Prozeß wird damit schon durch die Form in charakteristischer Weise strukturiert. Strophe I: In dem begin / hoˆ über sin / ist ie das wort: das ist, um nochmals daran zu erinnern, Joh 1,1, gebrochen durch den zweiten Vers – hoˆ über sin – und uminterpretiert durch ist – anstelle von waz. Und dann ein Ausruf oˆ rıˆcher hort, der diesen Beginn als Fülle bestimmt. Und darauf v. 5: daˆ ie begin begin gebaˆr – der schließende Vierheber, der, vorbereitet durch das kühne ist, quersteht, indem nun das Beginnen jenseits des Beginnens paradox formuliert wird: es ist dies ein Anfang, der seit je einen Anfang gebar und gebiert. Und das ist auch poetisch-musikalisch reizvoll gemacht: nach den bewegten vier Zweihebern nun ein ruhigerer Fluß, einsetzend mit einem dunklen daˆ, dann die eindringlich retardierende Doppelung von begin als Nominativ und Akkusativ und darauf die Rückkehr zum langen a: gebaˆr. In der zweiten Strophenhälfte folgt mit v. 6 ein neuer Ansatz: oˆ vader brust – ein Ausruf, parallel zu oˆ rıˆcher hort. Und dann wird gesagt, daß das Wort von da ausfließt, d. h. daß es immer schon ausfloß: daz wort ie vloˆz. Mit schoˆz im nächsten Vers wird die Geburtsvorstellung wieder aufgenommen, die Bewegung dann aber im schließenden Vierheber konterkariert: das Wort fließt aus und wird doch bewahrt. Dies ist der die Vernunft provozierende Schlußakzent der Strophe. Die verwendeten Bilder sind stark in ihrer sinnlichen Konkretheit: rıˆcher hort, brust, lust, vloˆz, schoˆz; aber daß das Wort Ursprung und Entfaltung zugleich ist, daß es ausfließt und doch drinbleibt, sprengt jede Anschauung. Die Paradoxa sind zwar, wie gezeigt, traditionell, ja spezifisch Eckhartisch, doch die Gedankenführung nützt die formale Möglichkeit der Zuspitzung, indem sie das Widersprüchliche in den Vierhebern 5 und 10 heraustreten läßt. Strophe II: Die erste Hälfte der Strophe ist bestimmt durch das Spiel von zweˆn, zweier, zwein in Verbindung mit vluˆt, vluˆzet: von zweˆn ein vluˆt, / der minnen gluˆt, / der zweier bant, / den zwein bekant. Und aus den zweien fließt das Dritte: der Geist, und dieses Dritte steht hervorgehoben in v. 5.36 Nach dem Drängenden der ersten Strophenhälfte beruhigt sich die Bewegung in den langen i- und ei-Lauten des zweiten Teils: vil ebinglıˆch, / unscheidelıˆch. / dıˆ drıˆ sıˆn ein. v. 9 bringt einen Übergang als Frage und Antwort: weiz du waz? nein. Zum Abschluß wiederum eine Pointenzeile: iz weiz sich 36
Und dies zudem dadurch, daß es sich, wie schon Ruh [Anm. 1], S. 180, bemerkte, um den einzigen Vers ohne Auftakt handelt.
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selber aller meist. – Was ist iz? Das ,Eine‘? Wohl das Einssein der drei, denn es ist die Dreiheit, in die der Akt der Selbsterkenntnis eingeschrieben ist. Und dies in Ausschließlichkeit. Auch die II. Strophe endet also in einem Paradox: im Paradox des Einen, das doch ununterscheidbar aus dreien besteht. In der III. Strophe wird der Ton zunächst greller, er wird bestimmt durch überwiegend stimmlos-harte Konsonanten: sch, k, st, t und r; vokalisch herrschen die scharfen i’s vor: der drıˆer strik / hat tıˆfen schrik. Das Schrille klingt aber schnell ab: Medien und die Vokale e und ei bringen etwas Getragenes mit sich: den selben reif / nıˆ sin begreif. Dann folgt mit 5 wieder der abrupte Perspektivenwechsel: hıˆr ist ein tuˆfe sunder grunt, auf i, ü, u gestimmt: vor dem Schrecken öffnet sich der Abgrund. Die Sprechbewegung ist gegenüber dem distanzierteren Gestus in den Strophen I und II, die zunächst eher intellektuelle Rätsel aufgeben, stark emotional geworden. Man steht am Abgrund entsetzten Unverständnisses. Radikal ist dann die Konsequenz, die die zweite Hälfte der Strophe zieht: die Zeit, die Form, der Raum sind schachmatt gesetzt. Doch am Ende kommt die ganze Bewegung überraschend zum Stehen: der Wunderkreis und die Quelle hängen an einem unbeweglichen Punkt: der wunder rink / ist ein gesprink, / gaˆr unbewegit steˆt sıˆn punt. Damit kehrt man zur Rätselhaftigkeit des Widerspruchs zwischen der Bewegung und dem in sich ruhend-tragenden Prinzip zurück. Und dies, nachdem eben noch ein erregender Ton angeschlagen worden war. Mit dem Ende der III. Strophe ist ein gewisser Abschluß des mit dem Thema begin eröffneten Gedankenbogens erreicht. Die Paradoxa der ersten beiden Strophen sind in der dritten in eine dramatische Erfahrung übergeführt und diese schließlich in den Ruhepunkt des Ursprungs zurückgebunden worden. Die Strophe IV setzt neu an, indem nun der Hörer/Leser nicht nur als Fragender und Erschreckter, sondern als aktiv Tätiger ins Spiel gebracht wird: Des puntez berk / stıˆg aˆne werk, / vorstentlichkeit! / Der wek dich treit / in eine wuˆste wunderlıˆch. Hier scheint sich eine anschaulich-sinnliche Topographie darzubieten: Der Punkt der III. Strophe wird zu einem Berg, den man emporsteigen soll; ein Weg öffnet sich, der in eine Wüste führt. Doch Berg und Wüste sind Metaphern, denen alles Konkrete gleich ausgetrieben wird: Angesprochen ist die Vernunft, die sich beim Aufstieg auf den Berg selbst übersteigen soll. Und das wunderlıˆch, auf das die Pointenzeile zielt, entlarvt dadurch, daß diese ,Wüste‘ Erstaunen auslöst, deren metaphorischen Sinn: sie meint die Unzugänglichkeit Gottes. Die zweite Hälfte der Strophe faltet dann dieses wunderlıˆch paradox aus: dıˆ breit, dıˆ wıˆt, / unmeˆzik lıˆt. / dıˆ wuˆste hat / noch zıˆt noch stat. Hier zerbricht die Metapher wuˆste in sich selbst, sie verliert ihre Anschaulichkeit im Widerspruch der Vorstellungen: Was ist ort- und zeitlose Breite und Weite? Und der letzte Vers bringt dann als entscheidendes Fazit: die Seinsweise dieser Wüste ist sunderlıˆch, d. h., sie ist als besonderes Sein herausgehoben aus dem Seienden. Während Strophe IV den Hörer/Leser wenigstens im Ansatz in die ,Wüste‘ hinaufgeführt hat, nimmt Strophe V diese Vorstellung dann radikal zurück: kein Fuß hat daz wuˆste guˆt je durchschritten. Man kommt da gar nicht hin; jedenfalls nicht mit kreatürlicher Vernunft: geschaffen sin / quam nıˆ daˆ hin. Man kann nur sagen, daß es ist, aber nicht, was es ist: das ist die Pointe wiederum des 5. Verses: us ist und weis doch nimant was. Das heißt: es ist das Sein schlechthin in seiner Unfaßbarkeit.
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Mit diesem Fazit ist die Bewegung erneut an einen Ruhepunkt gekommen. Es scheint alles gesagt. Doch dann öffnet sich ein neuer Aspekt: es geht in der zweiten Hälfte der Strophe um die Allpräsenz dieser ,Wüste‘, die in der ersten Zeile als guˆt bezeichnet worden ist, also überraschenderweise doch mit einer positiven Aussage verbunden werden kann. Das Göttliche in seiner Positivität ist überall: us hıˆ, us daˆ, / us verre, us naˆ, / us tıˆf, us hoˆ. Doch dann folgt wieder der charakteristische Umbruch: us ist alsoˆ, / daz us ist weder diz noch daz. Damit steht man vor einem ontotheologischen Grundproblem: Gott ist in der Schöpfung und doch über ihr. Aber das wird hier nicht weiter reflektiert; es wird nichts gesagt über Ähnlichkeit und Differenz, sondern es wird dies in seiner Widersprüchlichkeit einfach stehen gelassen. Die Eckhartsche Formel ,weder dies noch das‘ meint im ›Granum sinapis‹ die Allgegenwart des Göttlichen, die nicht konkret faßbar ist. Doch in der VI. Strophe wird diese ontologische Wende gleich wieder in die erkenntnistheoretische Paradoxie und ihre Metaphorik zurückgeholt: Us licht, us claˆr, / us vinster gaˆr, / us unbenant, / us unbekant, mit der Pointe: beginnes und ouch endes vrıˆ. Lichte Finsternis, Unnennbarkeit, Unerkennbarkeit – das sind, wie gesagt, typische dionysische Bestimmungen des göttlichen Grundes, aber die Pointe nimmt dann jenen Gedanken wieder auf, der in den ersten drei Strophen die zentrale Rolle spielte: der ewige Beginn. Und der zweite Teil der Strophe führt, indem er wiederum an Gesagtes anknüpft, die in der ersten Strophenhälfte begonnene Reihe fort: us stille staˆt, / bloˆs aˆne waˆt: Unbeweglichkeit, nichts Konkretes, keine Form, die sich bestimmen ließe – mit all dem ist das, was dem Hörer/Leser begegnet, wenn er die Wüste erreichen will oder erreicht, zurückgeführt in das Unverständliche der Gottheit, ihre Unfaßbarkeit, ihre lichte Dunkelheit. Und der Schluß mit seiner ironischen Aufforderung: wer weiz sıˆn huˆs? / der geˆ her uˆz / und sage uns, welich sıˆn forme sıˆ hat dann fast etwas Mutwilliges: ,Soll doch einer kommen und sagen, wie sich das orten und konkretisieren läßt!‘ Strophe VII bringt nochmals einen Neuansatz, und sie geht dabei stärker als Strophe IV auf den Hörer/Leser zu. Und zwar nun mit klaren Forderungen, die staccatoartig rhythmisiert sind. Man kann sagen, es werde nun geradezu eingehämmert, was es heißt, auf die Vernunft zu verzichten: Wirt als ein kint, / wirt toup, wirt blint, / dıˆn selbes icht / muˆz werden nicht, / al icht, al nicht trıˆb uber hoˆr! Die Forderungen scheinen zunächst sehr konkret zu sein: es wird verlangt, die sinnliche Erfahrung auszuschalten; desto abstrakter aber gibt sich dann die Forderung, das icht zu Nichts zu machen, ja, – und das ist die Zuspitzung, wiederum im 5. Vers – iht und niht zu überwinden. Das Miteinander von Konkretem und Abstraktem ist zum äußersten getrieben, aber dann wird das im Rückbezug eingebaut in die Zeit- und Ortlosigkeit der Wüste: laˆ stat, laˆ zıˆt, / ouch bilde mıˆt! / genk aˆne wek / den smalen stek, / soˆ kums du an der wuˆste spoˆr. Es wird also der ganze Komplex der Strophen IV und V zurückgeholt, das Zunichtewerden wird expliziert als Preisgabe der Raumzeitlichkeit, der Aufstieg zur Wüste Gottes wird zu einem weglosen Weg, wobei erst in der letzten Zeile – als Pointe – die Anknüpfung an die Vorstellung der Wüste erfolgt. Was heißt der wuˆste spoˆr? Vielleicht die Wüste als vestigium, die Wüste explizit markiert als Bild-Spur der Unbekanntheit Gottes? In der abschließenden VIII. Strophe spricht der Dichter überraschend seine Seele an – von ihr war bisher nicht die Rede gewesen, und die Seele des Dichters steht wohl ˆ seˆle mıˆn, / genk uˆz, got ˆın! / stellvertretend auch für die Seelen der Hörer und Leser: O
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sink al mıˆn icht / in gotis nicht, / sink in dıˆ grundeloˆze vluˆt! Die Sprache gewinnt hier etwas Klärendes; es wird nun schlicht gesagt, daß die Seele aus sich herausgehen soll, damit Gott in sie eintreten kann, sogar das Spiel mit mıˆn icht und gotis nicht wird metaphorisch konkretisiert dadurch, daß dieses Nicht mit der grundeloˆzen vluˆt gleichgesetzt wird, was wiederum an Bilder der II. und III. Strophe anknüpft – dies als Pointensatz in Zeile 5. Taucht hier nun plötzlich doch noch Eckhartsche Seelengrundmetaphysik auf? Kaum, denn es ist undenkbar, daß Eckhart seine Seele, die sich in ihrem Grund mit Gott berührt, in dieser Weise hätte ansprechen können, denn dieses Innerste ist absolut unzugänglich.37 Der Schluß aber läßt dann überhaupt alle ambige Komplexität fallen; er klingt, wie gesagt, an Bibelstellen an: vlıˆ ich von dir, / du kumst zu mir. / vorlıˆs ich mich, / soˆ vind ich dich. Erst der letzte Vers lenkt zurück in mystische Terminologie: oˆ uberweselıˆches guˆt! Es hat sich gezeigt: Wenn man das Gedicht genau liest, es im Blick auf seine literarische Leistung liest, statt nur theologisches Vergleichsmaterial daraufzuhäufen, so erweist es sich als kleines lyrisches Kunstwerk. Es wird getragen von einem Grundgedanken, der sich als ein Versuch darstellt zu verstehen, was der Anfang im Wort bedeutet, das sich selbst gebiert, was es heißt, daß das Wort vom Vater ausgeht und doch in ihm bleibt, inwiefern der Heilige Geist sich damit zur Dreieinigkeit verbindet, und all dies, um dabei immer wieder auf das Unverständnis zu zielen, das diese Paradoxa hervorrufen müssen – ein Unverständnis bis zum Erschrecken. Und zugleich bemüht sich der Dichter, diese Erfahrung aufzuarbeiten, indem er den Hörer/Leser schrittweise einbezieht in die Begegnung mit dem Unfaßbaren, wobei er immer neu und auf neue Weise das Endliche mit dem Ewigen konfrontiert, bis zum Extrempunkt in Strophe VI, wo es nicht weiter zu gehen scheint, weil man in den Paradoxien des göttlichen Seins stecken bleibt: wer weiz sıˆn huˆs? / der geˆ her uˆz / und sage uns, welich sıˆn forme sıˆ! Aber gerade von da aus wird nochmals massiv die widersprüchliche mystische Metaphorik aufgerufen, so daß man nicht in einem abstrakten Problem hängen bleibt, sondern sich ein Weg in die ,Wüste‘ zu eröffnen scheint. Doch das täuscht: es gibt keinen Weg, vielmehr wird alles Vermittelnde unterlaufen in der Forderung nach der Preisgabe der irdischen Bedingtheit, der Preisgabe von Raum und Zeit, ja nach der Vernichtung alles EtwasSeins. Auf diese abstrakte Ausweglosigkeit aber antwortet der relativ schlichte Schluß, der sich, wie gesagt, fast psalmenartig gibt: das Gedicht endet mit einem überraschenden Vertrauen auf eine erfüllbare Gottesbegegnung: vlıˆ ich von dir, / du kumst zu mir. / vorlıˆs ich mich, / soˆ vind ich dich. Man könnte geradezu sagen, die mystische Metaphorik gebe in Strophe VIII in den pointierten Versen 5 und 10 nur noch den Rahmen ab, während sich innerhalb von ihm ein Gespräch mit Gott anbahnt, das seinem ganzen Charakter nach quer dazu steht. Es liest sich wie der Versuch einer Rettung aus der Abstraktion und aus der metaphorischen Paradoxie in eine konkrete personale Beziehung. So zaghaft dieser Versuch sein mag, er ist doch nicht zu verkennen, und er ist zukunftsweisend, denn die Mystik wird sich nach Eckhart wieder der Möglichkeit solcher personaler Gottesbeziehung öffnen.
37
Siehe Eckhart, hg. Largier, I, S. 763–772, Komm. zu 32,26–36,6, hier insbes. S. 765.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Ich fasse zusammen: Es gab, wohl im 1. Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts, in Thüringen einen begabten Lyriker und hochgebildeten Theologen, der es unternommen hat, ein mystisch-philosophisches sangbares Gedicht zu schreiben, bewegt von einer Problematik, die ihm anhand von Predigten oder Unterweisungen Eckharts aufgegangen sein muß, und möglicherweise nicht nur ihm, sondern auch jenen, für die er das ›Granum sinapis‹ geschrieben hat. Er nützt die formalen Möglichkeiten des Sequenztyps, um jene Spannung heraufzubeschwören, die das betreffende mystische Konzept prägt, und sie immer weiter zu treiben, immer stärker auch auf den Rezipienten auszurichten, so daß dieser sich dringlich und bis zur Ausweglosigkeit in sie hineingezogen sieht. Das letzte Stichwort, das radikalste, ist das Zunichtewerden und seine Überbietung durch ein Jenseits von icht und nicht. Aber schließlich kippt die Paradoxie um; der Schluß gerät fast zu einem Gebet: es deutet sich ein personales Verhältnis zu Gott an – nur hier fällt das Wort Gott –, einem Gott, der nicht mehr ,Nichts‘ ist, sondern als Du erscheint. Hier fassen wir unvermittelt etwas sehr Persönliches, Menschlich-Anrührendes in dieser radikal abstrakten, Eckhart verpflichteten Bemühung um die Erfahrbarkeit des unerfahrbar Göttlichen. In diesem Bruch spürt man gewissermaßen die Not, in die der Autor sich und seine Hörer mit ihm hineinmanövriert hat. Daß dieses Gedicht nicht Eckhart selbst zugemutet werden kann, müßte im Laufe meiner Darstellung und Interpretation deutlich geworden sein. Was das Konzept anbelangt, so wiegt am schwersten, daß der für Eckharts Mystik sowohl fundamentale wie theologisch problematische Gedanke der Berührung des Seelengrundes mit dem Grund Gottes fehlt und folglich auch die Vorstellung von der Gottesgeburt in der Seele. Anders gesagt: Der auch das Subjekt einbeziehende ontologische Aspekt der Eckhartschen Mystik ist im ›Granum sinapis‹ wohl bewußt ausgespart; stattdessen ist die erkenntnistheoretische Seite, letztlich nach dionysischen Vorgaben, pointiert herausgearbeitet: da ist die Unbegreiflichkeit Gottes oder der Trinität und ihr gegenüber der Mensch, der das, was nur in ausgestrichener Metaphorik und in paradoxen Formulierungen anzuzeigen ist, mit seiner Vorstellungskraft und seiner Vernunft nicht zu fassen vermag. Als Erkenntnisakt wird deshalb verlangt, daß man die irdische Bedingtheit hinter sich läßt: die Vernunft, das Denken in räumlichen und zeitlichen Kategorien. Das menschliche Sosein muß überstiegen werden, damit man auf weglosem Weg ins Unfaßbare der Wüste Gottes gelangt. Das ist – so unmöglich es scheint, diese Bedingungen zu erfüllen – doch in gewisser Weise ein Angebot; ja, es wird mit Imperativen gearbeitet: Man soll die Vernunft ausschalten, man soll wie ein Kind werden, man soll zu Nichts werden, man soll den weglosen Weg gehen: das Unbegreifliche ist in der Konfrontation erfahrbar. Solche Imperative gibt es zwar bei Eckhart ebenfalls, aber bei ihm umschreiben sie einen Durchbruch, der grundsätzlich nicht verfügbar ist: wer ihn nicht schon vollzogen hat, der kann ihn nicht erreichen. So muß man denn sagen, in dieser Ausklammerung der Metaphysik des Seelengrundes zugunsten der Erkenntnisproblematik zeige sich eine gewisse Vereinseitigung oder Reduktion des Eckhartschen Konzepts. Es geht allein um das Begreifen des Unbegreiflichen, und es ist das Ziel des Textes, den Hörer/Leser eindringlich bis zum Erschrecken in diesen widersprüchlichen Prozeß hineinzuführen. Es geschieht dies unter Ausnützung eines spezifischen metrischen Schemas in einem Wechsel zwischen scheinbaren Angeboten oder Zugängen auf der einen und Blockaden gegenüber allem Verstehen auf der andern Seite. So kommt es immer neu zu Umbrü-
7. Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹
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chen im kleinen. Inhaltlich bleibt man auf einer Generallinie, auf der Linie des Kontrasts zwischen dem Ewigen und dem Endlichen mit zunehmend lebhafterem Drängen auf eine nicht denkbare Überwindung des Widerspruchs hin. Es gibt nicht wie bei Eckhart eine fundamentale Umorientierung als Voraussetzung für ein Einssein mit dem Göttlichen und für das Sprechen davon, sondern das Gedicht schreitet die Aspekte seiner Thematik ab, und dies anhand von Negationen oder Überhöhungen nach den typischen Mustern mystischen Sprechens. Von einer entgegenkommenden Gnade etwa ist zumindest explizit nicht die Rede – es sei denn, man sehe sie – unter ganz anderem Aspekt – angedeutet in der herausfallenden Schlußpartie. Abgesehen davon aber bricht die Differenz immer wieder neu auf und wird sie immer wieder neu aufgearbeitet. Das führt in einen bisweilen stark emotionalen Sprachgestus hinein, wobei aber insgesamt doch ein positiver, am Ende hoffnungsvoller Zug zu spüren ist, ja, hier tritt das personale Du Gottes – völlig anti-eckhartisch – für einen Augenblick in Erscheinung. Und schließlich: die klare Form gibt Halt. Ja, der Gedankengang ist sangbar, d. h., er ist nicht nur Reflexion, sondern auch Hymnus, Gotteslob.
8. Transzendenzerfahrung in Bildern des Abschieds
Es dürfte kaum ein Bibelwort geben, das das Verhältnis zwischen Gott und Welt einprägsamer und zugleich problematischer zum Ausdruck bringt als das Diktum des Paulus im 1. ›Korintherbrief‹ 13,12: videmus nunc per speculum in aenigmate: tunc facie ad faciem. Man meint zwar ungefähr zu verstehen, was damit gemeint ist, der wörtlich genaue Sinn aber ist umstritten.1 Abgesehen davon, daß zu videmus ein Objekt fehlt und man sich gehalten sieht, es nach eigenem Ermessen zu ergänzen – etwa ,Gott‘ oder ,die Wahrheit‘ –, besteht die Hauptschwierigkeit darin, daß nicht ohne weiteres klar wird, was per speculum in aenigmate besagen soll. Luther übersetzt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort: dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Er hat aenigma – so pflegt man anzunehmen – als ,verhülltes Offenbarungswort‘ verstanden. Doch es fragt sich, ob dieses Rätselhafte des Spiegelbilds nicht allgemeiner zu fassen ist. Die ›King James-Bibel‹ übersetzt: „Now we see in a mirror dimly.“ Es ist aber auch damit der Sinn nicht zureichend getroffen, denn es geht ja nicht darum, daß wir in einen trüben Spiegel blicken,2 daß wir also – im Gegensatz zum klaren Sehen „von Angesicht zu Angesicht“ – Gott oder die Wahrheit ,verschwommen‘ wahrnehmen, es ist vielmehr gemeint, daß wir sie nur auf eine indirekte Weise zu erkennen vermögen. Der Unterschied zwischen ,undeutlich‘ und ,gebrochen‘ ist gravierend. Die mittelalterliche Rezeption des Pauluswortes hat das Problem dadurch beseitigt, daß sie speculum und aenigma meist parallel geschaltet hat: videmus nunc in speculo et in aenigmate, und man konnte daran eine Reihe weiterer Ausdrücke für indirekte Sinnvermittlung anschließen: umbra (,Schatten‘), similitudo (,Ähnlichkeit‘), vestigium (,Spur‘), signum (,Zeichen‘) usw. So konnte das Pauluswort zur Grundlage der mittelalterlichen Hermeneutik werden, die sowohl die Bibel, da wo ein wörtlicher Sinn nicht zu finden war oder nicht zu genügen schien, wie auch die Schöpfung insgesamt als Bild oder als Zeichen der letztlich im Diesseits nicht unmittelbar zu fassenden Wahrheit interpretierte. Des Alanus von Lille berühmter Rhythmus hat dies prägnant festgehalten: Omnis mundi creatura / Quasi liber et pictura / Nobis est et speculum3 („Die gesamte geschöpfliche Welt ist für uns gleichsam ein Buch, ein Bild und ein Spiegel“). Mit dieser ,Korrektur‘ ergab sich jedoch ein neues Problem, und zwar im Hinblick auf das Verhältnis von Bild und Zeichen. Die Beziehung zwischen einem Bild und dem Abgebildeten besteht in einer Ähnlichkeit, die unmittelbar die Identifizierung des Abgebildeten erlaubt. Das Zeichen hingegen ist eine willkürliche Setzung für das mit ihm Gemeinte; es kann auf jede Ähnlichkeit verzichten, so daß sich eine unmittelbare Er1
Vgl. zum Folgenden Edward Peter Nolan, Now through a Glass darkly: Specular Images of Being and Knowing from Vergil to Chaucer, The University of Michigan Press 1990. 2 Man hat an antike Metallspiegel gedacht, ohne dabei zu beachten, daß diese höchst klar sein konnten. Gerade Korinth war berühmt für seine perfekten Spiegel. 3 PL 210, Sp. 579.
8. Transzendenzerfahrung in Bildern des Abschieds
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kenntnis des Zeichensinns ausschließt; die Bedeutung von Zeichen muß bekanntlich gelernt werden. Die mittelalterliche Ontologie und Hermeneutik machten sich diesen Sachverhalt zunutze. Dem Pauluswort entsprechend kann die Schöpfung ein Bild des Schöpfers sein, und als Bild impliziert sie eine Ähnlichkeit: das irdische Licht versteht sich in Analogie zum Licht, das Gott ist, das irdisch Wahre versteht sich in Analogie zur Wahrheit Gottes etc. Doch es handelt sich zugleich – wie dies in der Einschränkung durch in aenigmate zum Ausdruck kommt – um eine Analogie, die ,verrätselt‘ ist, d. h. keinen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit erlaubt. Das irdische Bild ist also in höherem Maße dem Göttlichen unähnlich als ähnlich; es ist damit nur ein Zeichen für eine Wahrheit, die durch das Bild gar nicht wiedergegeben werden kann. ,Ähnlichkeit bei je größerer Unähnlichkeit‘, das ist die Formel, die das 4. Laterankonzil von 1215 für das Verhältnis zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung geprägt hat.4 Doch: Bild zu sein und zugleich Zeichen zu sein, das ist ein Widerspruch, der sich nicht auflösen läßt, ja nicht aufgelöst werden darf; er prägt programmatisch die mittelalterliche Ontologie wie die Hermeneutik, und beides wird deshalb nur verständlich, wenn man bereit ist, ihn zu akzeptieren. Unter dieser Bedingung vollzieht sich nun auch jene Form der Erkenntnis Gottes, die sich als Prozeß, d. h. als existentielle Transzendenzerfahrung darstellt. Was in der Hermeneutik nur Bild sein darf, wenn es zugleich allegoretisch, d. h. im Blick auf seine überbildliche Bedeutung überstiegen wird, das erscheint bei der prozeßhaften Erfahrung Gottes als gebrochener Vorgang: die Gotteserfahrung stellt sich als ein Einssein dar, das als zeitlos-überzeitlicher Augenblick quersteht zur diesseitigen Realität und somit in der Zeit nicht zu halten ist. Fragt man nach dem Verhältnis des einen zum andern, sieht man sich erneut vor das Problem der Vermittlung des Unvermittelbaren gestellt. Wie läßt sich das Unbeschreibbare beschreiben? Man kann dem Widerspruch auszuweichen versuchen, indem man Transzendenzerfahrung als schrittweise Überwindung alles Vermittelnden versteht, also den Prozeß als Selbstpreisgabe der Hermeneutik darstellt. Das Modell dafür lieferte Platons ›Symposion‹, das einen Erkenntnisweg über das Sinnliche zum Intelligiblen und von da aus zu den Ideen an sich vorzeichnete. Dieser Aufstiegsprozeß wurde dann neuplatonisch überhöht, indem man an die Spitze des Ascensus das Hen setzte, das Eine, mit dem man sich im Überstieg über die Bedingtheiten des eigenen Geistes in einer Ekstastis vereinigen sollte – maßgebend dafür waren die ›Enneaden‹ Plotins.5 Bei der Verchristlichung dieses neuplatonischen Konzepts, vor allem durch Dionysius Areopagita um 500, wurde an die Stelle der Ekstasis die unverfügbare göttliche Gnade gesetzt, was den Weg 4
Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, hg. v. Henricus Denzinger u. Adolfus Schönmetzer, Freiburg i. Br. 341967, Nr. 806, S. 262: Inter Creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda („Zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen kann keine so große Ähnlichkeit festgestellt werden, daß nicht eine größere Unähnlichkeit zwischen ihnen festgestellt werden müßte“). 5 Vgl. Werner Beierwaltes, „Henosis. I Einung mit dem Einen oder die Aufhebung des Bildes: Plotins Mystik“, in: Ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 123–147; Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, S. 65ff.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
nach oben zwar zu einem kritischen Punkt führte, wobei man aber im Prinzip trotz des mehr oder weniger deutlichen Vorbehalts am vergeistigenden Aufstieg aus eigener Kraft festhielt. So kommt es zu einer gewissermaßen negativen Vermittlung, die zwar von der Analogie ausgeht, sie aber Stufe um Stufe zurückläßt in der Erwartung, daß man schließlich einen Punkt erreicht, an dem die Bedingtheit des menschlichen Geistes – durch göttliches Entgegenkommen – übersprungen werden kann.6 Gegenüber diesem neuplatonisch-christlichen Aufstiegskonzept, das den Widerspruch zwischen Analogie und Differenz mit der Forderung zu unterlaufen suchte, alles Analogische schrittweise abzustreifen, hat man im 12./13. Jahrhundert ein Modell entworfen, das die Paradoxie wiederum in ihr Recht setzte, indem es dezidiert an der analogischen Vermittlung und zugleich an deren Unmöglichkeit festhielt. Dies gelang dadurch, daß man die Gottesbegegnung auf die Grenzüberschreitung hin und von der Grenzüberschreitung her bildlich durchspielte, konkret gesagt: sie im Bild von Vereinigung und Trennung, von Begegnung und Abschied als dramatische Handlung in Szene setzte. Dabei kann man zwar die Gotteserfahrung unmittelbar zur Anschauung bringen, aber zugleich kann diese Erfahrung, dem hermeneutischen Paradoxon entsprechend, gerade nicht vermittelt, sondern nur in aenigmate ,bezeichnet‘ werden. Dabei ist von zentraler Bedeutung, daß die Preisgabe der Vermittlung sich nicht mehr über einen Aufstieg vollzieht, sondern als Zusammenbruch im Abstieg erfahren wird. Das Ascensusmodell wird – wie ich im folgenden zeigen möchte – schließlich durch ein Descensusmodell abgelöst.7 Die Möglichkeit zu dieser epochalen Wende im Konzept der abendländischen Gotteserfahrung ergab sich aus einer Neuorientierung der ›Hohelied‹-Exegese.8 Das ›Hohelied‹ beschreibt bekanntlich ein bewegtes Wechselspiel zwischen Bräutigam und Braut, zwischen Vereinigung und Trennung, Suchen und Wiederfinden, Beglückung und Verzweiflung. Man pflegte es in der exegetischen Tradition in erster Linie auf das Verhältnis zwischen Christus und der Kirche zu deuten. Doch es gab schon früh einen Versuch, darin die wechselvolle Beziehung zwischen Christus und der Einzelseele zu sehen, so Origenes in seiner ›Canticum‹-Interpretation.9 Diese Deutung ist dann erstmals wieder im 12. Jahrhundert durch Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry aufgegriffen worden. Bernhard10 beruft sich bei seiner Exegese explizit auf das Pauluswort im 1. ›Korintherbrief‹ 13,1211 und sagt dann: Quomodo namque apud veteres quidem umbram figu6
Genauer muß man sagen, daß es sich bei Dionysius um einen Aufstieg handelt, bei dem letztlich die negativen wie die affirmativen Aussagen über Gott in gleicher Weise überstiegen werden müssen; vgl. Ruh, Geschichte I, S. 46–53, insbes. S. 52. 7 Damit ist nicht gemeint, daß das Ascensusmodell sich historisch erledigt hätte; es entwickelt sich neben dem neuen Modell weiter, und es kommt schließlich zu signifikanten Verschränkungen, wenn z. B. Aufstiege durch Abstiege gebrochen werden, etwa bei Tauler; vgl. meine Studie „Johannes Taulers Via negationis“, in: Haug, Brechungen, S. 592–605. 8 Immer noch grundlegend Friedrich Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 1958; Ruh, Geschichte I, S. 253f. 9 Langer [Anm. 5], S. 87–89. 10 Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke, lat./dt., hg. v. Gerhard B.Winkler, Bde. V und VI: Sermones super Cantica Canticorum, Innsbruck 1994/1995 [ich folge den hier beigegebenen
8. Transzendenzerfahrung in Bildern des Abschieds
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ramque dicimus exstitisse, nobis autem per gratiam Christi in carne praesentis ipsam per se illucescere veritatem, ita nos quoque respectu futuri saeculi in quadam interim veritatis umbra vivere non negabit12 („Wie wir nämlich sagen, daß bei den Alten Schatten und Abbild bestimmend waren, uns aber durch die Gnade des im Fleisch gegenwärtigen Christus die Wahrheit selbst aufleuchtet, so leben doch auch wir im Hinblick auf die künftige Welt vorläufig gewissermaßen im Schatten der Wahrheit“). Und da Christus die Wahrheit ist, kann Bernhard fortfahren: ideo sanctus homo interim vivit in umbra Christi13 („Deshalb lebt der heilige Mensch vorläufig im Schatten Christi“). Und unter diesem Aspekt interpretiert Bernhard die Bilder des ›Hohenliedes‹. Im Bräutigam erscheint das Wort Gottes in verhüllter Form. Aber wenn einer dringend begehrt, bei Christus zu sein, darauf brennt, danach dürstet: is profecto non secus quam in forma sponsi suscipiet Verbum in tempore visitationis, hora videlicet qua se adstringi intus quibusdam brachiis sapientiae atque inde sibi infundi senserit sancti suavitatem amoris. (. . . ) ex parte tamen, idque ad tempus et tempus modicum. Nam cum vigiliis et obsecrationibus et multo imbre lacrimarum quaesitus affuerit, subito, dum teneri putatur, elabitur; et rursum lacrimanti et insectanti occurrens, comprehendi patitur, sed minime retineri, dum subito iterum quasi e manibus avolat. Et si institerit precibus et fletibus devota anima, denuo revertetur, et voluntate labiorum eius non fraudabit eam; sed rursum disparebit et non videbitur, nisi iterum toto desiderio requiratur.14 (dann wird er gewiß das göttliche Wort nicht anders als in der Gestalt des Bräutigams aufnehmen, wenn die Zeit gekommen ist, das heißt in der Stunde, in der er spürt, daß er im Inneren gleichsam von den Armen der Weisheit berührt wird, und durch diese Berührung sich die Süße heiliger Liebe in ihn ergießt. [. . . ] doch nur zum Teil und auch nur für kurze Zeit, für einen Augenblick. Denn wenn der in Nachtwachen, mit flehentlichen Gebeten und einem Strom von Tränen Gesuchte sich eingefunden hat und wenn man glaubt, ihn festzuhalten, entschwindet er plötzlich wieder; und aufs neue begegnet er dem, der ihn unter Tränen mit aller Inbrunst sucht; er läßt sich ergreifen, aber keineswegs festhalten, indem er plötzlich wiederum gleichsam den Händen entgleitet. Und wenn die fromme Seele mit ihren tränenreichen Gebeten nicht nachläßt, wird er von neuem zurückkehren und ihr nicht versagen, was ihre Lippen verlangen [Ps 20,3]; doch er wird wieder entschwinden und nicht mehr gesehen werden, wenn er nicht aufs neue mit innigem Verlangen gesucht wird.)
Der Anlaß zu diesen Ausführungen ist der ›Hohelied‹-Vers 1,7: „Sage mir, du, den meine Seele liebt, wo du weidest, wo du ruhst zu Mittag.“ Bernhard widmet ihm drei Predigten (31–33), und man darf in ihnen wohl den Kern seines ›Canticum‹-Verständnisses sehen, denn die Perspektive öffnet sich weit über diese Stelle hinaus, indem es hier besonders nachdrücklich einerseits um die Bildlichkeit geht, in der die göttliche Wahrheit schattenhaft erscheint, und andrerseits aber ebenso entschieden auf den augenblickhaften Einbruch der Wahrheit über diese Bildlichkeit abgehoben wird: das göttliche Wort als der Bräutigam Christus begegnet der menschlichen Seele, aber die liebende Vereinigung im Geist ist nicht festzuhalten, und dieser Wechsel ist es, den das ›Hohelied‹ Übersetzungen]. Interpretationen: Ruh, Geschichte I, S. 253–275; Langer [Anm. 5], S. 203–207. Sermo 31: Bernhard, Werke [Anm. 10] V, S. 224,8. 12 Ebd., S. 225,3–6. 13 Ebd., S. 225,10. 14 Ebd., Sermo 32, S. 227,9–19. 11
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zum Ausdruck bringt. Das exegetische Verfahren setzt also punktuell bei einem Bibelwort an, öffnet sich aber dann doch sehr weit auf eine Gesamtdeutung hin. Und dies gilt grundsätzlich. Immer wieder werden auch knappste Textpassagen herausgegriffen und zum Anlaß genommen für assoziativ in die verschiedensten Richtungen getriebene und häufig den betreffenden Bibelvers weit überwuchernde Reflexionen. Dadurch wird der Zusammenhang auf der Bildebene radikal aufgebrochen, doch können auf der exegetischen Metaebene neue Zusammenhänge entstehen, die wie in dem oben zitierten Textstück das ›Hohelied‹ in seinen Grundzügen aufzuschließen sich bemühen. Die Exegese des Wechselspiels zwischen sponsa und sponsus wird selbst zu einer Suche nach dem Bräutigam, nach der Vereinigung mit dem lebendigen Wort Gottes, einer Vereinigung, die im Bild zum Durchbruch kommt, aber in ihrer Augenblicklichkeit nicht zu halten ist. Anders zur gleichen Zeit und in engem Kontakt mit Bernhard verfährt Wilhelm von St. Thierry15: Er hat in seiner ›Expositio super Cantica Canticorum‹ versucht, die disparaten Stücke des Liedes in einem Gesamtzusammenhang, d. h. als durchgängige dramatische Liebesgeschichte zwischen Gott und der Seele zu sehen und zu interpretieren: als Spiel zwischen Personen in modum dramatis et stylo comico (. . . ) ad peragendum susceptum negotium amoris, et mysticum contractum divinae et humanae conjunctionis16 („nach der Art eines Dramas in szenischer Aufführung [. . . ] in der Absicht, eine Liebeshandlung durchzuspielen als geheimnisvolle Verschränkung in der Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem“). So unterteilt er das Geschehen des ›Hohenliedes‹ in vier Gesänge: I,1–II,7; II,8–III,5; III,6–VIII,4 und VIII,5–14, die alle nach demselben Muster, aber in jeweils gesteigerter Form, ablaufen sollten: die Handlung beginnt mit dem Einbruch der Liebe (irrilamen amoris), dann folgt eine Phase der reinigenden Vorbereitung (actus purgatorius), und am Ende steht die liebende Vereinigung (accubitus). Auch wenn Wilhelm nur das erste ›Canticum‹ ganz zu Ende führen konnte, so liegt der Sinn dieses mehrfachen Ansatzes doch auf der Hand: die Vereinigung mündet immer in den Verlust; die Triebkraft des Geschehens ist die unstillbare Sehnsucht nach dem Bräutigam, das Leiden an der Liebe, der amor deficiens.17 Hier kündigt sich sehr deutlich der zukunftsträchtige Gedanke eines Descensus in die Gnadenlosigkeit als negativer Weg zur Gottesbegegnung an. Und diese Perspektive wird denn auch gleich in der Einleitung zum ersten Gesang festgeschrieben: Egresso enim et abeunte Sponso, vulnerata caritate, desiderio absentis aestuans, sanctae novitatis suavitate affecta, gustu bono innovata, et repente destituta ac derelicta sibi18(„Nachdem der Bräutigam hinaus- und weggegangen ist, bleibt sie [die Braut] zurück, verwundet von der Liebe, brennend in ihrer Sehnsucht nach dem Abwesenden, durchdrungen von der süßen Erwartung einer neuen heiligen Wiederbegegnung in erneutem köstlichen Genuß, und unvermittelt sieht sie sich weggestoßen und sich selbst überlassen“). Kurt Ruh hat in dieser Vorstellung eines unerGuillaume de Saint-Thierry, Expose´ sur le Cantique des Cantiques, hg. v. Jean-Marie De´chanet, übers. v. Maurice Dumontier, Paris 1962. – Zum gegenseitigen Verhältnis der Interpretationen Bernhards und Wilhelms siehe Ruh, Geschichte I, S. 295f. 16 Guillaume, Expose´ [Anm. 15], § 8. 17 Siehe zu diesem Begriff Kurt Ruh, „Amor deficiens und amor desiderii in der Hoheliedauslegung Wilhelms von St. Thierry“, Ons Geestelijk Erf 64 (1990), S. 70–88. 18 Guillaume, Expose´ [Anm. 15], § 29. 15
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bittlich-schmerzlichen Wechsels zwischen Begegnung und Abschied, zwischen Erfüllung und Verlust den eigentlichen Kern der Gotteserfahrung in Wilhelms Theologie gesehen, und es läßt sich dies kaum besser formulieren, als er es getan hat: Vor allem ist es der Entzug und die Gewährung, das Verlangen und die Erfüllung der Liebe, die diesen Wechsel bestimmen, der sich aber nicht nur im großen Rhythmus des abwesenden und gegenwärtigen Bräutigams im Ablauf einer cantio vollzieht, sondern fast unablässig in kleineren Schwingungen, ja selbst in den eher seltenen Stunden der conjunctio manifestiert. Ich zögere nicht, diesen Wechsel von Zerknirschung und Seligkeit, Verlassenheit und Geborgenheit, Finsternis und Licht als den eigentlichen spirituellen und mystischen Erfahrungsgrund Wilhelms anzusprechen, ist er doch in all seinen spirituellen Schriften gegenwärtig.19
Mechthild von Magdeburg20 stellt sich ein Jahrhundert später in diese neue Tradition der Darstellung der Gotteserfahrung nach dem Muster des ›Hohenliedes‹, aber sie geht dabei einen entscheidenden Schritt über Bernhard und Wilhelm hinaus, indem sie sich völlig vom biblischen Text löst und frei über dessen Szenario und seine Motive verfügt.21 Dabei wird aus dem Wechselspiel eine einmalige Liebesvereinigung mit einer signifikanten Peripetie. Mechthild beschreibt in ihrem ›Fließenden Licht der Gottheit‹ mehrere solche UnioSzenen in Form visionärer Erfahrungen. Die erste steht gleich im 2. Kapitel des I. Buches. Mechthild schildert hier, wie der gruos Gottes sie erreicht. gruos ist kaum zureichend in einem Wort zu übersetzen. Mechthild versteht dieses ,Grüßen‘ einerseits als eine personale göttliche Zuwendung, andrerseits und zugleich aber als „ein himmlisches Fließen, das aus der Quelle der sich verströmenden Dreifaltigkeit kommt“22, in ihre Seele strömt und sie heiligt und ihr einen göttlichen Glanz gibt, während der Leib in Ohnmacht sinkt. Hinter diesem Bild steht, wie schon beim Titel des Werkes, die Tradition der neuplatonisch-christlichen Lichtmetaphysik: die Vorstellung vom lichthaften Ausströmen des Göttlichen in die Schöpfung. Doch Mechthild löst sich sogleich aus diesen kosmostheologischen Vorstellungen zugunsten einer menschlich-persönlichen Begegnung, auch wenn diese dann doch wieder in eine Bewegung im Raum, in einen quasi-platonischen Ascensus einmündet. Sie sagt: e
So grusset er si mit der hovesprache, die man in dirre kuchin nu´t vernimet, und kleidet su´ mit den kleidern, die man ze dem palaste tragen sol, und git sich in ir gewalt. (. . . ) So zu´het er si fu´rbas an ein heimliche stat. (. . . ) [Da will er] alleine mit ir spilen ein spil, das der lichame nu´t weis noch die e o o dorper bi dem phluge noch die ritter in dem turnei noch sin minnenklichu´ muter Maria – des mag si 23 nu´t gepflegen da. So swebent si fu´rbas an ein wunnenriche stat
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Ruh, Geschichte I, S. 302. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela Vollmann-Profe (Bibliothek des Mittelalters 19), Frankfurt a. M. 2003. 21 Zu Mechthilds Umgang mit Motiven aus dem ›Hohenlied‹ siehe Jörg Seelhorst, Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse (Bibliotheca Germanica 46), Tübingen, Basel 2003, S. 86ff. 22 Mechthild, Das fließende Licht [Anm. 20], S. 20,25f.; vgl. ebd., S. 706, die Kommentare zu 20,25 und zu 20,25f. 23 Ebd., S. 22,2–13. 20
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
(Er [Gott] grüßt sie [die Seele] in höfischer Sprache, wie sie in der Küche nicht zu hören ist, und kleidet sie in Kleider, wie man sie in Palästen trägt, und überantwortet sich ihr ganz. [. . . ] Dann zieht er sie an einen geheimen Ort [. . . ], um da mit ihr allein ein Spiel zu spielen, von dem der Leib nichts weiß, auch nicht die Bauern beim Pflug und nicht die Ritter beim Turnier, nicht einmal Maria, seine liebe Mutter – auch sie kann da nicht mitspielen. So schweben sie fort an einen freudenreichen Ort).
Davon wolle und könne sie aber nicht sprechen, denn es sei zu gefährlich für sie als sündenbeladenen Menschen.24 Und dann heißt es weiter: wenne der endelose got die grundelosen selen bringet in die hoehin, so verlu´ret su´ das ertrich von dem wunder und bevindet nu´t, das si ie in ertrich kam25 („Wenn der unendliche Gott die grundlose Seele so in die Höhe trägt, dann entschwindet ihr alles Irdische auf wunderbare Weise. Nichts mehr erinnert sie daran, daß sie einmal auf der Welt war“). Doch darauf folgt eine überraschende Wende. Sie sagt: Wenne das spil allerbest ist, so muos man es lassen26 („Wenn das Spiel am allerschönsten ist, muß man damit aufhören“). Und Gott selbst gibt den Anstoß dazu; er sagt zur Seele: „Juncfrov, ir muessent u´ch neigen.“ So erschrikket si: „Herre, nu hast du mich hie so sere verzogen, das ich dich in minem lichamen mit keinem orden mag geloben, sunder das ich ellende lide und gegen dem lichamen strite“27 („,Edle junge Frau, Ihr müßt Abschied nehmen.‘ Und da erschrickt sie und sagt: ,Herr, du hast mich so weit entrückt, daß ich, wieder in meinem Leib, dich in keiner andern Weise mehr werde preisen können als dadurch, daß ich an dieser Verbannung leide und gegen meinen Leib kämpfe‘“). Die Antwort Gottes aber ist eine Liebeserklärung: „Eya, du liebu´ tube, din stimme ist ein seitenspil minen oren, dinu´ wort sint wurtzen minem munde, dine gerunge sint die miltekeit miner gabe“28 („,O du liebe Taube, deine Stimme ist für meine Ohren ein Saitenspiel, deine Worte sind Gewürzkräuter für meinen Mund, deine Sehnsucht kommt aus der Freigebigkeit meiner Gnade‘“). Und da fügt sich die Seele in ihr Schicksal, sie seufzt auf, und dabei erwacht sie aus ihrem schlafähnlichen Zustand. Und damit tritt die Erzählerin aus der narrativen Situation aus, um Stellung zu nehmen zu dem, was ihre Seele erfahren hat. Sie wendet sich – nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Körper, der sich über ihr Verschwinden beklagt – an Gott und sagt: „Eya sueslicher got, fu´rig inwendig, bluegende uswendig, nu du dis den minnesten hast e gegeben, mohte ich noch ervarn das leben, das du dinen meisten hast gegeben! Darumbe wolt ich dest langer qweln“29 („,Ach, du herzlieber Gott, feurig im Innern, blühend nach außen, da du mir dies als einer so Geringen gegeben hast, könnte ich doch das erfahren, was du deinen Größten gegeben hast! Dafür wollte ich um so länger leiden‘“). Und dann noch einmal aus größerer Distanz ein Kommentar: Disen gruos mag noch muos nieman enpfan, er si denne u´berkomen und ze nihte worden. In disem gruosse wil ich 24
Anderweitig ist sie nicht so zurückhaltend, sondern wagt es, die Unio im Bild des Liebesaktes zur Anschauung zu bringen, so vor allem im 44. Kapitel des I. Buches; vgl. meine Studie „Innerlichkeit, Körperlichkeit und Sprache in der spätmittelalterlichen Frauenmystik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 480–492, hier S. 483–485. 25 Mechthild, Das fließende Licht [Anm. 20], S. 22,15–18. 26 Ebd., S. 22,18. 27 Ebd., S. 22,19–23. 28 Ebd., S. 22,23–25. 29 Ebd., S. 24,2–5.
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lebendig sterben30 („Diesen gruos Gottes kann und darf keiner empfangen, der nicht überwältigt und zu Nichts geworden ist. In diesem gruosse will ich lebend sterben“). Was Mechthild hier am Anfang ihres ›Fließenden Lichts‹ darstellt, ist eine Gotteserfahrung im Medium erotischer Bildlichkeit, wobei schon gleich die ganze Komplexität und die ganze Problematik einer solchen Umsetzung, auf engstem Raum zusammengedrängt, sichtbar wird: die Begegnung und der Abschied als Liebesdrama zwischen Braut und Bräutigam, zwischen Gott und der Seele, dann der Schmerz im Rückblick auf das Einssein, das immer schon verloren ist, wenn man darüber spricht. Darauf das Bekenntnis zu diesem Leid in der Hoffnung auf eine neue, noch intensivere Unio-Erfahrung, und am Ende noch ein Kommentar, der den Charakter des Erfahrungsaktes diskursiv als Akt der Überwältigung festhält, als einen Akt, der alle irdische Bedingtheit auslöscht, bei dem man zu Nichts wird, in dem man lebend stirbt – auch dies übrigens ein Motiv aus einem weit zurückreichenden theologiegeschichtlichen Fundus.31 – Die Gotteserfahrung im Bild einer erotischen Begegnung zwischen der Seele und ihrem himmlischen Geliebten mündet also in eine Reflexion, die zu einer äußersten Distanzierung führt, die aber doch zugleich Bekenntnis zur radikalen Wende ist und damit wieder in die Situation zurückgebunden wird. Liebende Vereinigung und Trennung, oder als willentliche Interaktion formuliert: Begrüßung: gruos, Hingabe: spil, und Verabschiedung: sich neigen – das ist das Modell, anhand dessen nicht nur Mechthild, sondern die Frauenmystik des 13./14. Jahrhunderts insgesamt vorzugsweise ihre Gotteserfahrungen darstellt. Ich betone noch einmal, daß es sich dabei um einen grundlegenden Umbruch in der Geschichte der abendländischen Gotteserfahrung handelt. Das frauenmystische Modell wendet sich programmatisch vom vergeistigenden Aufstiegskonzept der neuplatonisch-christlichen Tradition ab und stellt ihm trotz mancher motivlicher Anleihen bei ihr nicht nur eine Begegnung auf gleicher Ebene gegenüber, sondern es arbeitet mit einer geradezu provozierenden Versinnlichung der Gotteserfahrung. Zugleich aber wird die erotische Bildlichkeit immer wieder auf ihre geistige Bedeutung hin durchsichtig, d. h., sie wird immer wieder allegoretisch gebrochen. Das hindert aber nicht daran, daß die Metaphorik ihre eigene Realität zur Geltung bringt.32 Die Unio-Visionen, wie sie schriftlich vorliegen, sind zwar Erinnerungen – man kann ja nicht im visionären Erleben selbst schreiben, sondern immer erst, wenn man aus ihm herausgetreten ist –, aber aus der Verlusterfahrung heraus wird ein Prozeß angestoßen, der die Begegnung und den Abschied reaktualisiert und ihn dabei zu verstehen und mit ihm zu leben versucht. Im 25. Kapitel des II. Buches stellt sich dieser Versuch in verschärfter Zuspitzung folgendermaßen dar: Es wird geschildert, wie der Bräutigam die Geliebte verläßt, wäh30
Ebd., S. 24,6–8. Alois M. Haas, „Mors mystica“, in: Ders., Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (dokimion 4), Freiburg/Schweiz 1979, S. 392–480. 32 Zur Frage nach dem Realitätscharakter der Metaphorik in der Mystik vgl. Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache (Bibliotheca Germanica 30), Tübingen, Basel 1993, insbes. S. 64–68; meine „Überlegungen zur Revision meiner ›Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens‹“, in: Haug, Brechungen, S. 545–549, und Haug [Anm. 24], S. 486–488; Seelhorst [Anm. 21], S. 92ff. 31
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
rend sie schläft – ein prominentes Motiv aus dem ›Hohenlied‹. Wenn sie dann erwacht, beginnt sie zu klagen. Mechthild sagt – in der Rolle der Braut: v
„wenne min ogen trurent ellendekliche und min munt swiget einvalteklich und min zunge ist mit jamer gebunden und min sinne mich vragent von stunden ze stunde, was mir sie, so ist es mir, herre, alles nach dir. Wenne min fleisch mir entvallet, o min blut vertrukent, min gebein kellet, min adern krimpfent und min herze smilzet nach diner minne und min sele brimmet e mit eines hungerigen lowen stimme, wie mir denne si und wa du denne bist, vil lieber, das sage mir.“33 (,Wenn meine Augen in der Fremde trauern, / wenn mein Mund schweigt, weil die Worte zu einfältig sind / und meine Zunge in Leid gebunden ist, / und ich mir überlege, Stunde für Stunde, / was mit mir ist, dann ist es das, / Herr, daß ich nur zu dir hinwill. / Und wenn mein Fleisch von mir fällt, / mein Blut vertrocknet, meine Knochen schmerzen, / meine Sehnen sich verkrampfen / und mein Herz zerschmilzt vor Liebe / und meine Seele die Stimme erhebt, / wie wenn ein hungriger Löwe brüllt, / was ist dann mit mir / und wo bist du dann? – / Das, du Lieber, sage mir!‘)
Und Gott antwortet ihr – und dabei identifiziert er sie vergleichend mit der Braut des ›Hohenliedes‹: „Dir ist als einer nu´wen brut, der sclafende ist engangen ir einig trut, o zu dem si sich mit allen tru´wen hat geneiget, und mag des nit erliden, das er ein stunde von ir scheide. Alse si denne erwachet, so mag si sin nit me haben denne alse vil als si in irem sinne mag getragen; da von hebet sich alle ir clage. Die wile das dem jungeling sin brut ist nit heim gegeben, o so mus si dike ein von im wesen. o Ich kum zu dir nach miner lust, wenne ich wil; siestu gezogen und stille – und verbirg dinen kumber, wa du maht! –, so meret an dir der minne kraft. Nu sage ich dir, wa ich denne si: Ich bin in mir selben an allen stetten und in allen dingen als ich ie was sunder beginnen v und ich warten din in dem bongarten der minne o und briche dir die blumen der suessen einunge 33
Mechthild, Das fließende Licht [Anm. 20], S. 130,33–132,10.
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und machen dir da ein bette von dem lustlichen grase der heligen bekantheit; und du´ liehte sunne miner ewigen gotheit beschinet dich mit dem verborgenen wunder miner lustlicheit, e des du ein wenig heimlich hast erzoget, e v und da neige ich dir den hohsten bon miner heligen drivaltekeit. e e So brichestu denne die grunen, wissen, roten oppfel miner saftigen menscheit und so beschirmet dich der schatte mines heligen geistes vor aller irdenscher trurekeit; so kanstu nit gedenken an din herzeleit.“34 (,Dir geht es wie jener neuverlobten Braut, von der, als sie schlief, der einzig Geliebte weggegangen ist, dem sie sich mit ganzer Liebe hingegeben hat, und die es nicht erträgt, daß er auch nur für eine kurze Zeit von ihr geht. Wenn sie dann erwacht, so hat sie nichts mehr von ihm, als was sie in der Erinnerung mit sich trägt, und deshalb beginnt sie zu klagen. Aber solange der Geliebte die Braut nicht heimgeholt hat, muß sie öfter allein sein. Ich komme zu dir, wenn mich danach gelüstet und wenn ich will. Wenn du dich beherrschst und still bist – und verbirg dein Leid, wenn du es vermagst! –, dann wächst die Kraft der Liebe in dir. Und nun sage ich dir auch, wo ich zu der Zeit bin [d. h., wenn er nicht bei ihr ist]: Ich bin bei mir selbst überall und in allen Dingen, wie ich es ohne Anfang immer war. Und ich warte auf dich im Baumgarten der Liebe und breche dir da die Blüten des süßen Einsseins und mache dir da ein Bett aus dem freudebringenden Gras der heiligen Erkenntnis. Und die leuchtende Sonne meiner ewigen Gottheit strahlt dir das geheime Wunder meines Entzückens zu, wovon du ein wenig vertraulich offenbart hast. Und da neige ich den allerhöchsten Baum der Heiligen Dreifaltigkeit zu dir herab, so daß du die grünen, weißen und roten Äpfel meiner todfreien Menschwerdung brechen kannst. Und dann beschirmt dich der Schatten meines Heiligen Geistes vor aller irdischen Traurigkeit. So wirst du nicht mehr an das Leid deines Herzens denken.‘)
Mechthild, in der Selbststilisierung als Gottesbraut, ruft also in der Not ihrer Verlassenheit Gott an, ja, sie schreit ihm ihre Verzweiflung zu. Und er akzeptiert nicht nur die Rolle des Bräutigams des ›Hohenliedes‹, sondern er erklärt nun seine Abwesenheit theologisch, wobei der Umbruch in die allegorische Deutung erfolgt: der Abschied ist notwendig, weil eine Vereinigung mit Gott in diesem Leben nur augenblickhaft möglich ist, wobei er erklärt, daß er zugleich überall und überzeitlich in allem sei. Die Braut solle sich in Geduld üben, denn er werde sie schließlich im Baumgarten der Liebe erwarten, und damit leitet er eine Metaphernreihe ein, in der die konkreten Elemente des Gartens auf ihren geistigen Sinn hin durchsichtig werden: die Blüten des Einsseins, das Bett aus dem Gras der Erkenntnis, die Sonne der Gottheit, der Baum der Dreifaltigkeit, die Äpfel der Menschwerdung, der Schatten des Heiligen Geistes. Die allegoretische Brechung mündet in eine Verschmelzung von Bild und Bedeutung, die darauf zielt, den Sprung zu unterlaufen.35 Es entfaltet sich also mit Hilfe der Bildlichkeit einer erotischen Beziehung ein Erfahrungsraum, in dem nicht nur die Wende von der Vereinigung zum Abschied durchgespielt wird, sondern in dem zugleich theologische Reflexionen metaphorisch in die Bildlichkeit hereingeholt werden. Das Bild wird damit einerseits, wie gesagt, punktuell in 34
Ebd., S. 132,11–134,3; vgl. zum Verständnis dieses Abschnitts ebd., S. 744, die Kommentare zu 132,37f. und 132,38. 35 Langer [Anm. 5], S. 91, hat treffend von „geistlicher Sinnlichkeit“ gesprochen. Die ,Augen der Seele‘ sehen gewissermaßen im Bild die Bedeutung mit.
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Deutungen überstiegen, andrerseits aber als solches doch bewahrt, wobei die Bruchstellen den heilsgeschichtlichen Hintergrund aufscheinen lassen: das erotische spil bedeutet das Einssein der Seele mit Gott, der Abschied bedeutet das Herausfallen aus der Unio. Aber man erfährt dieses Drama doch rückblickend im Bild, und das Bild wirkt auch in der Verschränkung, ja Verschmelzung mit dem geistigen Sinn emotional: es vermittelt Beseligung und Verzweiflung. Oder man kann es auch so sagen: Die Sprache setzt über die Metaphorik – auch da, wo der Umschlag in die allegorische Bedeutung stark markiert ist – ihre eigene, wirkungsmächtige Realität durch. Und diese Aktualisierung der Gotteserfahrung aus dem Verlust heraus kann bei Mechthild noch sehr viel weiter gehen, ja drastische Formen annehmen. Im 12. Kapitel des IV. Buches wird der Abschied zum Absturz. Mechthild schildert hier, wie ihre Seele, nachdem der Geliebte sie im Schlaf verlassen hat, in den Abgrund der Gottferne sinkt, in eine große Finsternis, in der sie an Gottes Gnade zu zweifeln beginnt und doch leidenschaftlich darum bittet, in die völlige gotz vroemdunge, die völlige Fremdheit gegenüber Gott, gestoßen zu werden. Und schließlich gerät sie in eine so schreckliche Finsternis, daß der Leib in Schweiß gebadet ist und sich verkrampft in Schmerzen. Da schickt die Seele den Schmerz hinauf zu Gott. Aber Gott läßt ihn nicht vor, da der Schmerz zwar selig zu machen vermöge, aber selbst nicht selig sei, sondern böse. Und das Kapitel schließt mit einer Lobeshymne auf die gotz vroemdunge: Eya selige gotz vroemdunge, wie minnenklich bin ich mit dir gebunden! Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren langen beitunge in disem armen libe. (. . . ) O herre, ich kan dir e v o in der tieffi der ungemischeten diemutekeit nit entsinken; owe ich dir in dem homute lihte entwenke! e 36 Mere ie ich tieffer sinke, ie ich sussor trinke. (O du beseligende Entfremdung von Gott, wie innig hast du mich gebunden! Du festigst meinen Willen im Schmerz und machst mir das schwere, lange Warten in diesem elenden Leib lieb. [. . . ] O Herr, ich kann dich in der Tiefe der reinen Demut nicht verlieren; aber ach, im Hochmut kann ich dir leicht entgleiten. Je tiefer ich sinke, desto süßer trinke ich.)
Hier wird die Gottesbraut also nicht mehr einfach verabschiedet und dann in ihrer Trauer allein gelassen und möglicherweise getröstet, vertröstet, sondern die Braut nimmt die Trennung an und radikalisiert sie. Sie will die Gottesferne, die größtmögliche Gottferne und damit ein Äußerstes an Qual und Leid, und dies in der Gewißheit, daß sie in der tiefsten Tiefe Gott nicht verlieren kann. Der Abschied wird Programm, er wird zu einem programmatisch negativen Weg zu Gott: „Je tiefer ich sinke, desto süßer trinke ich“, d. h., die tiefste Tiefe ist die Selbstauslöschung, und in ihr ist man bei Gott. Der Schluß der Vision im 1. Kapitel hat dies übrigens schon vorbereitet, wenn dort gesagt wird, daß nur der den gruos Gottes empfangen kann, der zu Nichts geworden ist. Es ergibt sich also: Mechthild spielt ihre Gottesbegegnung einerseits metaphorisch als Begegnung und Abschied durch, wobei die Bildebene punktuell immer wieder auf die Bedeutung hin gebrochen wird, ohne daß jene dadurch ihre imaginative Kraft verlöre, ja, indem sie die Bedeutung ins Bild hereinzieht, wird sie sinnlich aufgeladen. Andrerseits ist die Brechung nicht nur konstitutiv für die mediale Umsetzung und Vermittlung, sondern sie ist zugleich dramatisches Thema: das Einssein bricht in den Ab36
Mechthild, Das fließende Licht [Anm. 20], S. 264,24–31.
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schied und die Trennung um. Und diese Trennung kennzeichnet dann den realen Zustand nach dem Ende des visionären Geschehens. Der Abschied wird in einen gewollten Absturz hinein verlängert, und dies als konkrete geistig-körperliche Qual, d. h., die Brechung wird sinnlich als Selbstvernichtung absolut gesetzt, jedoch in der Gewißheit, daß sie in der letzten Tiefe von Gott aufgehoben werden wird. Dabei gewinnt die bildhafte Erfahrung eine bestürzende Realität. Der in Schweiß gebadete Körper und die schmerzende Verkrampfung der Glieder sind Fakten. Die Imagination erfaßt die körperliche Wirklichkeit. – Hier konnte dann die eigentliche Passionsmystik, die Nachahmung Christi im Leiden und Sterben, mit ihren z. T. exzessiven Selbstquälereien anschließen.37 Es ist jedoch auch möglich, die Selbstpreisgabe nicht als Qual, sondern als Befreiungsakt zu verstehen. In diesem Fall nimmt der Abschied positive, ja aggressive Züge an. Die Brechung ist dabei insofern radikal, als sie sich dezidiert gegen alle Wege der Vermittlung dieses Aktes richtet. Die Umorientierung des Abschiednehmens in diesem Sinne ist von einer anderen Mystikerin schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit letzter Konsequenz zu Ende gedacht und zu Ende gelebt worden: von Marguerite Porete.38 Ihr Werk, der ›Miroir des simples ames‹,39 besteht aus 139 locker aneinandergereihten Dialogen, die die Seele mit verschiedenen Figuren führt. Dabei stellt sich Marguerite nicht in die Bildtradition des ›Hohenliedes‹, aber sie arbeitet auch nicht mit dem Aufstiegsmodell – es gibt zwar Ansätze dazu, aber sie entfallen ihr immer wieder –,40 vielmehr kreisen die Gespräche um einen einzigen zentralen Gedanken: es ist der Gedanke der ame anientie, der zu Nichts gewordenen, der ,vernichtigten‘ Seele. Daß die Seele zu Nichts werden soll, heißt, daß sie alles ablegen muß, was sie an Eigenem besitzt oder will, um Gott zu erfahren und in ihm aufzugehen. Das ist zwar mystisches Traditionsgut – auch bei Mechthild war ja von diesem Vernichtetwerden die Rede –, und konsequenterweise steht dieser Selbstpreisgabe wiederum ein unerreichbarer, unfaßbarer Gott gegenüber, der nur dadurch erfahren werden kann, daß er in die zu Nichts gewordene Seele einbricht.41 Unerhört jedoch ist dabei dies, daß Marguerite den Rückzug aus aller Vermittlung zugleich als radikalen Akt personaler Freiheit versteht.42 Wie prekär dieser Akt ist, zeigt sich insbesondere im ethischen Zusammenhang. Die Seele erklärt in Marguerites 6. Kapitel: Vertuz, je prens conge´ de vous a tousjours, Je en auray le cueur plus franc et plus gay; Voustre service est troup coustant, bien le sc¸ay. 37
Ins Extreme getrieben z. B. von Elsbeth von Oye, siehe Haug [Anm. 24], S. 488–491. Vgl. zum Folgenden Ruh, Geschichte II, S. 338–371. 39 Marguerite 〈Porete〉, Le mirouer des simples ames, hg. v. Romana Guarnieri (CCCM 69), Turnhout 1986; Margareta Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik, aus dem Altfranzösischen übertr. u. mit einem Nachw. u. Anm. v. Louise Gnädinger, Zürich, München 1987. 40 Siehe Ruh, Geschichte II, S. 346ff. 41 Einschlägige Textstellen bei Ruh, Geschichte II, S. 351–354. 42 Dazu Ruhs perspektivenreiche Interpretation, ebd. S. 338–366. 38
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum Je mis ung temps mon cueur en vous, sans nulle dessevree; Vous savez que je estoie a vous trestoute habandonnee; Je estoie adonc serve de vous, or en suis delivree. J’avoie en vous tout mon cueur mis, bien le sc¸ay, Dont je vescu ung tandis en grant esmay. Souffert en ay maint gref tourment, mainte paine enduree; Merveilles est quant nullement en suis vive eschappee; Mais puis que ainsi est, ne me chault: je suis de vous sevree, Dont je mercie le Dieu d’en hault; bonne m’est la journee. De voz dangers partie sui, ou je este´ en maint ennuy. Oncques mais franche ne fui, fors de vous dessevree; Partie suis de voz dangers, en paix suis demouree.43
(Tugend, ich nehme Abschied von Euch auf immer, / Ich habe nun ein ganz freies und heiteres Herz; / Der Dienst bei Euch ist allzu fordernd, das weiß ich wohl. / Eine Zeitlang habe ich mein Herz an Euch gehängt, in enger Bindung; / Ihr wißt, daß ich Euch ganz ausgeliefert war; / Ich war da Eure Leibeigene, nun bin ich befreit. / Ich hatte mein ganzes Herz an Euch gehängt, ich weiß es wohl. / Deshalb lebte ich eine Zeit in großer Not. / Ich habe viele schwere Qualen durchlitten, große Pein erduldet. / Ich wundere mich, daß ich überhaupt lebend davongekommen bin. / Aber da das nun vorbei ist, tut es mir nichts mehr: Ich habe mich von Euch getrennt. / Ich danke Gott im Himmel dafür; dieser Tag bekommt mir wohl. / Eurer Gewalt bin ich entkommen, in der ich mit großer Angst lebte. / Niemals war ich frei, außer im Abschied von Euch; / Nun habe ich mich Eurer Gewalt entzogen und kann in Frieden leben.)
Worauf zielt diese Verabschiedung der Ethik? ,Die Liebe‘ gibt im 7. Kapitel eine sehr deutliche Antwort auf diese Frage: Ceste Ame, dit Amour, ne fait compte ne de honte ne de honneur, de pouvrete´ ne de richesse, d’aise ne de mesaise, d’amour ne hayne, d’enfer ne de paradis. (. . . ) Et telle Ame, qui est devenue rien, a adonc tout et si n’a nyent, elle vieult tout et ne vieult nient, elle sc¸ait tout et ne sc¸ait nient.44 (Diese Seele, sagt die Liebe, beachtet weder Schmach noch Ehre, weder Armut noch Reichtum, weder Wohlsein noch Ärger, weder Hölle noch Himmel. [. . . ] Eine Seele, die so zu Nichts geworden ist, hat somit alles und hat doch nichts, sie will alles und will doch nichts, sie weiß alles und weiß doch nichts.)
Oder noch drastischer in Kapitel 9: Qui demanderoit a telles franches Ames (. . . ), se elles vouldroient estre en purgatoire, elles diroient que non; se elles vouldroient estre en ceste vie certifiees de leur salut, elles diroient que non; ou s’elles vouldroient estre en paradis, elles diroient que non. Mais aussy de quoy le voudroient elles? Elles n’ont point de voulente´. Et se elles vouloient aucune chose, elles se despartiroient d’Amour; (. . . ) laquelle Ame ne desire ne ne desprise pouvrete´ ne tribulation, ne messe ne sermon, ne jeune ne oraison, et donne a Nature tout ce qu’il luy fault, sans remors de conscience; mais telle nature est si bien ordonnee par transformacion de unite´ d’Amour, a laquelle la voulente´ de ceste Ame est conjoincte, que la nature ne demande chose qui soit deffendue.45 43
Marguerite, Le mirouer [Anm. 39], [6] 10–24. Im 21. Kapitel gibt es weitere Erläuterungen zu dieser Verabschiedung der Tugenden. Sie bedeutet nicht, daß die Tugenden fehlen; es ist vielmehr so, daß, wer sie verabschiedet hat, sie in höherem Maße besitzt als der, der sie übt. 44 Ebd., [7] 3–5; 14–16. 45 Ebd., [9] 3–9; 19–25.
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(Wenn man die derart freien Seelen fragt, ob sie im Fegefeuer sein wollten, so sagen sie nein; wenn man sie fragt, ob sie in diesem Leben in der Gewißheit ihres Heils sein wollten, so sagen sie nein; oder ob sie im Paradies sein wollten, so sagen sie nein. Was aber wollen sie dann? Sie haben keinen Willen mehr, denn wenn sie etwas wollten, würden sie sich von der Liebe entfernen. [. . . ] Weder wünscht noch verachtet eine solche Seele die Armut und die Anfechtung, weder wünscht noch verachtet sie die Messe oder die Predigt, das Fasten und das Gebet. Und sie gibt der Natur alles, wessen sie bedarf, ohne Gewissensbisse. Aber eine solche Natur ist so sehr im Einssein mit der Liebe gebändigt, so in sie verwandelt und in ihrem Willen mit ihr verschränkt, daß sie nichts verlangt, was verboten ist.)
Zu dieser These zitiert sie übrigens im 13. Kapitel das berühmte Diktum Augustins: Dilige, et quod vis fac46 („Liebe und tue, was du willst!“). Aber es versteht sich, daß diese Auffassung, nach der die ,vernichtigte‘, freie Seele nicht mehr sündigen kann, für die Amtskirche alarmierend war. Durch Marguerites Freiheitsbegriff sahen sich die kirchliche Ordnung und ihr Anspruch in unerhörtem Maße provoziert, denn er machte im Prinzip die Kirche als Institution und ihre Heilsmittel überflüssig. Ja, über diese ganz in der Liebe verbrannte Seele wird in Kapitel 85 explizit gesagt: Ceste, qui telle est, ne quiert plus Dieu par penitance ne par sacrement nul de Saincte Eglise, ne par pensees ne par paroles ne par oeuvres47 („Sie, die so ist, sucht Gott nicht mehr über Bußübungen und das Sakrament der Heiligen Kirche, nicht über Gedanken und nicht über Worte oder Werke“). Vielmehr besteht die eigentliche Kirche, wie es anderweitig heißt, aus diesen zu Nichts gewordenen Seelen.48 Die Amtskirche hat hart reagiert. Marguerite Porete wurde, da sie ihre These von der in der ,Vernichtigung‘ freien Seele nicht zu widerrufen bereit war, 1204 öffentlich in Paris verbrannt. Aber ihr Buch wurde anonym weitergegeben, und ihre Ideen blieben nicht ohne Wirkung.49 Meister Eckhart ist an erster Stelle zu nennen. Eckhart war kurz nach Marguerites Hinrichtung in Paris und wohnte im selben Kloster wie der Inquisitor, der den Prozeß gegen Marguerite geführt hatte. Er muß von diesen Vorgängen und von Marguerites häretischen Anschauungen Kenntnis bekommen haben. Kurt Ruh konnte überzeugend zeigen, daß Eckhart sich in seinem Werk nicht nur mit ihnen auseinandergesetzt, sondern Überlegungen von ihr umgeformt übernommen hat.50 So hat Eckhart die Loslösung von allen ethischen Vorbedingungen für die Gotteserfahrung mit derselben Radikalität vertreten wie Marguerite, und das hat bekanntlich auch ihm einen Prozeß eingetragen. Dabei gewinnt die Metapher der Verabschiedung wiederum zentrale Bedeutung. Er bildet aus abescheiden (,scheiden‘, ,trennen‘) das Abstraktum abegescheidenheit, was man nicht wie üblich in seiner romantischen Umprägung als ,Abgeschiedenheit‘ ins Neuhochdeutsche übernehmen darf, gemeint ist vielmehr eine Befindlichkeit, in der man sich von allen Mitteln und jeder Vermittlungsmöglichkeit in der Beziehung zu Gott verabschiedet hat. abegescheidenheit heißt also so 46
Tractatus in epistolam Joannis ad Parthos, VI,8 (PL 35, Sp. 2033). Marguerite, Le mirouer [Anm. 39], [13] 52: amez et faites ce que vous vouldrez. 47 Ebd., [85] 20–22. 48 Ebd., [43] 6ff. 49 Zur Wirkungsgeschichte Ruh, Geschichte II, S. 345f. 50 Ruh, Eckhart, S. 97, S. 102–108.
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viel wie ,Zustand der vollkommenen Verabschiedung‘. Und das ist auch bei Eckhart gleichbedeutend mit Zu-Nichts-Gewordensein. In Verbindung damit wird der Begriff der abegescheidenheit für seine Theologie zu einem Programmwort. Er sagt: Swenne ich predige, soˆ pflige ich ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sıˆn selbes und aller dinge51 („Wenn ich predige, so pflege ich von abegescheidenheit zu sprechen und davon, daß der Mensch frei werden soll von sich selbst und allen Dingen“). Es geht also bei diesem abescheiden darum, jede Bindung an Haben und Wollen, ja an das Kreatürliche überhaupt zu brechen, und dieses Abschiednehmen von sich selbst und von der Welt macht die Seele leer und frei – ledic – für das Einswerden ihres Innersten mit Gott52 oder, wie Eckhart auch sagt: für die Gottesgeburt in der Seele.53 Und dieses Abschiednehmen hat, so wie bei Marguerite Porete, auch prekäre ethische Implikationen: der Weg zu Gott führt nicht über Tugenden, nicht über Werke, nicht über irgend etwas, was machbar wäre, sondern allein über die Preisgabe all dessen, was als Vermittlung mißverstanden werden könnte. Man muß unter Verabschiedung der Welt zu seinem Ursprung zurückkehren; Eckhart formuliert dies so: der Mensch muß alsoˆ ledic werden [von allem Bildhaften, Vermittelnden], als er was, doˆ er niht enwas54 („so frei, wie er war, als er noch nicht war“), d. h. wie er war, als er noch in Gott war. Indem Eckharts Verabschiedung des Ichs und der Welt somit die Preisgabe jeder Vermittlung, jedes Weges impliziert, bringt das für seine Mystik schwerwiegende Konsequenzen mit sich. Wenn es keinen Weg gibt, ist das, was Eckhart mit abegescheidenheit meint, nicht zu vermitteln. Er kann sich also, wenn er predigt, im Grunde nur an diejenigen wenden, die schon verstanden haben, worum es geht, also an jene, die sich schon im Zustand der abegescheidenheit befinden. Und er hat sich nicht gescheut, dies ausdrücklich zu sagen: In Predigt 52 tröstet er die, die ihn nicht verstehen, mit folgenden Worten: Wer dise rede niht enverstaˆt, der enbekümber sıˆn herze niht daˆ mite. Wan als lange der mensche niht glıˆch enist dirre waˆrheit, als lange ensol er dise rede niht verstaˆn; wan diz ist ein unbedahtiu waˆrheit, diu daˆ komen ist uˆz dem herzen gotes aˆne mittel.55 (Wer, was ich sage, nicht versteht, der soll sich sein Herz davon nicht bedrücken lassen. Denn solange jemand nicht eins ist mit dieser Wahrheit [der Wahrheit, aus der heraus Eckhart predigt], solange wird er, was ich sage, nicht verstehen können, denn dies ist eine unverschleierte Wahrheit, die unvermittelt aus dem Herzen Gottes gekommen ist.)
Das ist natürlich ein sehr zweifelhafter Trost! Man muß sich klar machen, was das theologiegeschichtlich bedeutet:56 es bedeutet, daß es anders als in der platonisch fun51
Eckhart, hg. Largier, I, S. 564,6–8. Eckhart hat der abegescheidenheit einen eigenen Traktat gewidmet: Eckhart, hg. Largier, II, S. 435–459; vgl. dazu den Komm., S. 802–810. 53 Zur Lehre von der Gottesgeburt in der Seele siehe Eckhart, hg. Largier, I, S. 814–819, Komm. zu 82,21–86,7, mit der wichtigsten Lit. 54 Ebd., S. 24,12f. 55 Ebd., S. 562,23–27. 56 Vgl. meine Studie „Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 520–537, insbes. S. 524f. Zur Problematik der sprachlichen Vermittlung der ,Wahrheit‘ siehe auch die Diskussion bei Seelhorst [Anm. 21], S. 244ff., zu Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992. 52
8. Transzendenzerfahrung in Bildern des Abschieds
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dierten Aufstiegsmystik keinen Weg zur Transzendenz mehr gibt, daß das, was die Frauenmystik als Gegenweg, als Abschied und Abstieg entworfen hat, radikal zu Ende gedacht ist, so daß man sich von nun an einem Gott gegenübersieht, der absolut unzugänglich ist, den man allein über seine entgegenkommende Gnade erfahren kann. Dies jedoch im Sinne der ,unverschleierten Wahrheit‘, also nicht in aenigmate, sondern jenseits aller Vermittlung facie ad faciem. Über diesen Gnadenakt aber kann man nicht verfügen, man kann ihn nicht erzwingen, man darf nicht einmal darum bitten, da ja auch dies ein Weg wäre. Man steht in der Gnade, oder sie ist einem versagt. Nicolaus Cusanus, der Eckhart intensiv gelesen hat, wird sich anderthalb Jahrhunderte später mit dieser Situation konfrontiert sehen und die Unzugänglichkeit, die Verborgenheit Gottes, den Deus absconditus, zu seinem zentralen Thema machen.57 Er experimentiert zwar immer wieder mit einem Weg über die Negation all dessen, was sich positiv über Gott aussagen läßt, über einen Ascensus also im Sinne der negativen Theologie, aber der Bruch gegenüber der Transzendenz wird doch unerbittlich festgehalten: Gott ist auch im Überstieg des Denkens über sich selbst letztlich nicht erreichbar. Man bleibt auch in der Unio immer in einer Art Vorhof. In einem seiner letzten Werke, dem Dialog ›De ludo globi‹,58 vergleicht er das Leben mit einem Kugelspiel. Man bemüht sich dabei, mit seinem Kugelwurf ein bestimmtes Ziel – das für Christus steht – zu erreichen, aber keinem gelingt es ganz; man kann sich ihm nur annähern. Die Differenz ist unüberbrückbar geworden. Aber überraschenderweise schlägt diese Verabsolutierung der Kluft zwischen Immanenz und Transzendenz nun ins Gegenteil dessen um, was sich bei Eckhart daraus ergab: da die Verabschiedung der Welt zu keinem andern Ziel führt als dem, gerade dies in einer docta ignorantia59 (einer ,wissenden Unwissenheit‘) einzusehen, kann sich Cusanus in neuer Weise der Welt zuwenden und sie als Spiegel des Göttlichen sehen, eines Göttlichen, das an sich unfaßbar bleibt, das sich aber indirekt in der Welt, in der Schöpfung, manifestiert: Gott erscheint in der Welt als der Nicht-Erscheinende. Das Licht, in dem die Welt erstrahlt, ist Gottes Licht, wobei er selbst jedoch als Licht jenseits des konkreten Lichts unsichtbar bleibt. Damit ist das Paradox, das sich aus dem Pauluswort im 1. ›Korintherbrief‹ 13,12 ergeben hat, in äußerster Radikalität festgehalten, d. h. so radikal, daß es in letzter Konsequenz keine Bewegung mehr gibt, keine Begegnung mehr und keinen Abschied, nicht einmal einen Sprung, sondern nur noch die emphatische Konfrontation mit der auseinandergebrochenen unähnlichen Ähnlichkeit. Ich fasse zusammen: Die Begegnung von Immanenz und Transzendenz, des Endlichen und des Ewigen, des Menschlichen und des Göttlichen vollzieht sich in einem Span57
Siehe zum Folgenden meine Studie „Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus. Dargestellt aus der Perspektive der Analogieformel von der unähnlichen Ähnlichkeit“, in diesem Bd., S. 371–395. 58 Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Werke, lat./dt., eingel. v. Karl Bormann, 4 Bde., Hamburg 2002, hier Bd. 3, S. 137–143. Siehe dazu detaillierter meine Studie „Das Kugelspiel des Nicolaus Cusanus und die Poetik der Renaissance“, in: Haug, Brechungen, S. 362– 372. 59 Dies der Titel des bedeutendsten Frühwerkes, in dem Cusanus seine Position begründet hat: Werke [Anm. 58], Bd. 1.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
nungsfeld, in dem die Bewegungen letztlich auf die Differenz stoßen oder, personal ausgedrückt, auf Abschiede zulaufen müssen. Das Transzendent-Göttliche, wenn es sich dem Menschen zuwendet, wie in der Frauenmystik, muß sich ihm immer wieder entziehen, der himmlische Bräutigam verabschiedet die Braut nach der liebenden Vereinigung. Auf der andern Seite: Wenn der Mensch das Transzendente erfahren will, muß er sich von der Welt, von allen Mitteln und Vermittlungen, ja von sich selbst verabschieden, er muß sich – mit Eckhart gesagt – in die abegescheidenheit begeben. Wird dabei über das Bewußtsein von der Unmöglichkeit eines Weges dahin die Differenz verabsolutiert, kommt es gleichsam zu einem Abschied von Gott; es gibt dann nur mehr eine indirekte Begegnung mit dem Göttlichen über dessen Erscheinen als Nicht-Erscheinendes. Damit stehen wir bei des Cusanus neuer Zuwendung zur Welt im Licht des verabschiedeten Gottes. Alle Versuche, über die Bedingtheiten des menschlichen Seins hinauszukommen, enden in Abschieden. Es wäre aufschlußreich, eine Geschichte des abendländischen Denkens als eine Geschichte von Abschieden zu schreiben.
9. Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus Dargestellt aus der Perspektive der Analogieformel von der unähnlichen Ähnlichkeit
I Gotteserfahrung, cognitio Dei experimentalis, wie Bonaventura sagt,1 setzt zwei Größen in Beziehung, die inkommensurabel sind: Gott als das Transzendente schlechthin und einen menschlichen Akt, der beansprucht, mehr zu sein als nur ein Denken über Gott – einen Akt, der voraussetzt, daß die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz in irgendeiner Weise durchbrochen werden kann. Von grundlegender Bedeutung ist dabei, wie man sich das Verhältnis zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen denkt – womit eine der in der christlichen Theologiegeschichte umstrittensten Fragen aufgerufen ist, und dies ungeachtet dessen, daß das Laterankonzil von 1215 als Lösung eine Formel gefunden hatte, die als Richtschnur gelten konnte: Es hat das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung als unähnliche Ähnlichkeit bestimmt, d. h. als eine Ähnlichkeit bei je größerer Differenz: Inter Creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.2 Mit dieser klassisch gewordenen Analogieformel konnte man die beiden einseitigen Akzentuierungen, die radikal-dualistische Unähnlichkeit wie die pantheistische Identität, als häretische Positionen abweisen. Doch so schlagkräftig diese Lösung nach außen war, so prekär war sie in sich selbst. Genau besehen, erscheint sie als ein Paradox. Denn inwiefern kann man noch von Ähnlichkeit sprechen, wenn die Unähnlichkeit ihr gegenüber prinzipiell größer ist? Jedenfalls trägt die Formel eine unausgetragene Spannung in sich, die nicht zuletzt dafür verantwortlich gewesen sein dürfte, daß die christliche Theologiegeschichte durch immer neue Versuche vorangetrieben worden ist, Gotteserfahrung unter der Bedingung der unähnlichen Ähnlichkeit im Verhältnis zwischen dem Endlichen und dem Ewigen verständlich und nachvollziehbar zu machen. Dabei haben sich divergierende Ansätze und Ausfaltungsmöglichkeiten angeboten. Den beiden Komponenten der Analogieformel entsprechend, konnte man das Verhältnis entweder von der Ähnlichkeit oder von der Differenz, von der Immanenz oder von der Transzendenz her denken. Denken von der Transzendenz her heißt, daß sich die Überwindung der Differenz als Einbruch des Göttlichen ins Irdische darstellt. Als solcher läßt er sich nur als ein Akt auffassen, der quersteht zu den Bedingungen von Raum und Zeit. Als Paradefall diente Paulus vor Damaskus.3 Für den Betroffenen ist dieser 1
III Sent., dist. 35, art. 1, quaest. 1, c. Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, hg. v. Henricus Denzinger u. Adolfus Schönmetzer, Freiburg i. Br. 341967, Nr. 806, S. 262. 3 Apg 9,3–8. Dieses Ereignis wurde in der exegetischen Tradition zusammengesehen mit des 2
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Einbruch der Transzendenz eine umstürzende Erfahrung. Paulus liegt drei Tage lang blind darnieder. Dann ist er ein anderer Mensch. Er wird dies später so formulieren: Nicht mehr er lebe, sondern Christus lebe in ihm, Gal 2,20. Oder er sagt allgemein, Christus könne Gestalt gewinnen im Menschen, Gal 4,19. Oder: in Christo4 sein heiße, eine neue Kreatur werden, 2 Kor 5,17. Diese Paulinischen Dikta bildeten dann die Basis für das Theologumenon von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele.5 Dieses Theologumenon von der inneren Verwandlung des Menschen durch die Geburt Gottes in seiner Seele schließt in sich, daß der Einbruch aus der Transzendenz, der eine im Prinzip unfaßbare Erfahrung darstellt, in eine bleibende Erfahrung übergeht. Es wird also ein Vorgang, der nur als augenblickhafter, überzeitlicher Akt verstanden werden kann, in einen Zustand übergeführt, dem Dauer in Raum und Zeit zukommen soll. Das Problem, das sich dabei stellt, ist offenkundig: Inwieweit ist bei dieser Umsetzung der Einbruch der Transzendenz in seiner lebendigen Aktualität zu bewahren? Denn Umsetzung in Raum und Zeit impliziert ja, daß man sich von der Aktualität absetzt, daß man die Erfahrung faßbar macht, indem man sie darstellt, so daß sie auch vermittelt werden kann.6 Origenes hat – nach Vorgaben bei Hippolyt – folgende Lösung angeboten: Er versteht die Gottesgeburt in der Seele als ethische Verwandlung des Menschen in der Taufe, und er versucht, ihre Aktualität dadurch zu bewahren, daß er unterstellt, sie erneuere sich in jeder guten Tat.7 Doch Akt und Habitus sind unverträglich; man kann Aktualität nicht in Besitz nehmen, vielmehr kommt es, wenn man es versucht, zu einer vermittelnden Umsetzung, bei dem die Unmittelbarkeit des Aktes verloren geht. Und das wird noch augenfälliger bei der späteren, von griechischen Kirchenvätern – insbesondere von Gregor von Nyssa und Maximus Confessor – ausgehenden ontologischen Interpretation der Gottesgeburt.8 Eine dauernde seinsmäßige Paulus Entrückungsbericht, 2 Kor 12,2–4 – was jedoch schwerlich zu rechtfertigen ist; siehe Wilhelm Michaelis, Art. ,οë ρα ω C. 2‘, in: Theologisches Wb. zum NT V, S. 357f. 4 Zur Formel in Christo siehe Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, S. 72ff. 5 Grundlegend Hugo Rahner, „Die Gottesgeburt. Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi aus dem Herzen der Kirche und der Gläubigen“, in: Ders., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 11–87. Siehe auch Hans Hof, Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in Meister Eckharts Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Eckhartschen Philosophie zur neuplatonischen und thomistischen Anschauung, Lund, Bonn 1952, S. 162–187; Ruh, Eckhart, S. 139–142. Zur Paulinischen Basis Langer [Anm. 4], S. 75. 6 Zum dialektischen Charakter von ,Erfahrung‘ siehe Dietmar Mieth, „Annäherung an Erfahrung – Modelle religiöser Erfahrung im Christentum“, in: Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, hg. v. Walter Haug u. Dietmar Mieth, München 1992, S. 1–16; meine Studie „Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell“, in: Haug, Brechungen, S. 501–530, hier S. 501–504; Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, „Klassische Anfangsgründe der Gotteserkenntnis und ursprüngliche Erfahrung“, in: Zwischen Verzückung und Verzweiflung. Dimensionen religiöser Erfahrung, hg. v. Florian Uhl u. Artur R. Boelderl (Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie 2), Düsseldorf 2001, S. 13– 26, hier S. 20ff. 7 Ruh, Eckhart, S. 140f.; Langer [Anm. 4], S. 87. 8 Ruh, Eckhart, S. 141. Zu beachten ist, daß im Westen zunächst die ethische Interpretation maßgebend bleibt. Erst nachdem Johannes Scotus Eriugena die ›Ambigua‹ des Maximus Con-
9. Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus
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Unio zwischen der Seele und Gott ist in Raum und Zeit nicht denkbar. Versteht man Gotteserfahrung also als Einbruch aus der Transzendenz, so steht sie quer zum Bereich der Ähnlichkeit und ist, was ihren unbedingten, überzeitlichen Charakter betrifft, nur unter Einbußen in diesen Bereich, d. h. in eine mediale Verfügbarkeit umzusetzen – eine Verfügbarkeit, die eben nicht mehr die Erfahrung selbst, sondern nur mehr ihr Bild, nur mehr die Rede von ihr ist. Und doch bietet sich eine Möglichkeit an, den Einbruch des Göttlichen als absoluten Akt angemessener in Raum und Zeit zu vermitteln, nämlich als Verlusterfahrung, als Gotteserfahrung im Leid.9 Besonders eindrucksvoll darstellen ließ sie sich über jenes Szenario, das das ›Hohelied‹ anbot, wenn man die dort geschilderte Begegnung und Trennung zweier Liebender auf das Verhältnis von Christus und menschlicher Seele hin auslegte. Auch hier hat Origenes den ersten Anstoß gegeben.10 Seine große Wirkung entfaltet dieses Muster dann im 12. Jahrhundert, bei Bernhard von Clairvaux11 und dramatischer bei Wilhelm von St. Thierry12, und es bildet schließlich die Basis für die freie, kühne Adaptation im ›Fließenden Licht der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg.13 Bei ihr wird die Verlusterfahrung zu einem Abstieg in die Gottferne. Die Aktualität der Gotteserfahrung als überwältigender Beseligung wird gewissermaßen umgesetzt in die negative Aktualität der Qual des Verlusts. Der Schmerz läßt sich in Raum und Zeit perpetuieren, ja, man kann ihn körperlich inszenieren. Und man hat dies vor allem in den spätmittelalterlichen Frauenklöstern teilweise exzessiv getan. So schrecklich dieser Weg der physischen Selbstvernichtung sich darstellen kann, etwa bei Elsbeth von Oye,14 man darf sich nicht einfach degoutiert abwenden, sondern man sollte ihn in seiner Logik von dem betreffenden Ansatz her zu begreifen suchen. Man kann sich aber doch einen Ausweg aus der inneren Widersprüchlichkeit dieses Ansatzes vom Einbruch des Göttlichen her denken. Eckhart ist ihn gegangen, und dies nicht zuletzt in offenkundiger Auseinandersetzung mit der Frauenmystik.15 Und so dürfte sich denn seine Theologie insbesondere vor dem Problemhintergrund erschließen, den ich zu skizzieren versuchte, d. h., sie wird klarer verständlich, wenn man sie als fessor vermittelt hat, gibt es auch hier Ansätze zu einer mystischen Deutung, insbesondere dann bei Bernhard von Clairvaux und bei den Viktorinern. 9 Grundgelegt ist die daraus entwickelte Leidensmystik schon bei Paulus; vgl. Langer [Anm. 4], S. 76ff. 10 Ebd., S. 88. 11 Ruh, Geschichte I, S. 249ff.; Langer [Anm. 4], S. 203ff. 12 Ruh, Geschichte I, S. 294ff. 13 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela Vollmann-Profe (Bibliothek des Mittelalters 19), Frankfurt a. M. 2003, hier insbes. das 12. Kap. des IV. Buches; dazu Haug [Anm. 6], S. 521ff. 14 Vgl. Peter Ochsenbein, „Die Offenbarungen Elsbeths von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik“, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. v. Kurt Ruh (Germanistische Symposien, Berichtsbände VII), Stuttgart 1986, S. 423–442; Monika Gsell, „Das fließende Blut der ›Offenbarungen‹ Elsbeths von Oye“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, hg. v. Walter Haug u. Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 455–482; meine Studie „Innerlichkeit, Körperlichkeit und Sprache in der spätmittelalterlichen Frauenmystik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 480–492, hier S. 488ff. 15 Ruh, Eckhart, S. 104ff.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Antwort von entschiedener Konsequenz begreift gegenüber der zu einem qualvollen Dilemma gewordenen Gotteserfahrung auf der Basis der Formel von der unähnlichen Ähnlichkeit. In knappster Formulierung: Eckharts Lösung des Problems besteht in der Radikalisierung des Einbruchs durch dessen Verewigung in der Transzendenz. Gott schenkt sich dem Menschen ganz, wobei die Herabkunft Gottes für den Menschen gleichbedeutend ist mit dem Durchbruch ins Sein selbst.16 Das ist stimmig und einleuchtend, denn Gotteserfahrung als reine Aktualität ist nur zu bewahren, wenn jede Vermittlung ausgeschaltet bleibt, wenn man also die Erfahrung nicht umsetzt in Raum und Zeit, sondern sie im Augenblick beläßt, der zeitlos, d. h. mit der Ewigkeit identisch ist. Wenn diese Erfahrung doch ein Prozeß sein soll, dann ein Prozeß außerhalb der Zeit, und dies als Selbstdarstellung im Rahmen des trinitarischen Vollzugs des Seins. Transzendenzerfahrung bei Eckhart ist Sich-Einbezogenwissen in diesen überzeitlichen Vollzug. Das Bild dafür ist die Geburt des Sohnes aus dem Vater im menschlichen Herzen und zugleich die Geburt des Sohnes aus dem Herzen in den Vater – dies in Weiterentwicklung des ostkirchlichen, ontologischen Verständnisses des Paulinischen Theologumenons.17 Als transzendentes Geschehen ist dieser chiastische Vorgang nicht vermittelbar. Denn, wie gesagt, jede Vermittlung impliziert die Zerstörung der reinen Aktualität. Oder von der Analogieformel des Laterankonzils her gesehen: Eckharts Intention zielte darauf, in der Formel der unähnlichen Ähnlichkeit die Ähnlichkeit auszustreichen: Es gibt nur ein Sein, das absolute, das göttliche Sein, in dem alles ruht. Die raumzeitlichen Erscheinungen sind ,Nichts‘, wenn man sie für sich betrachtet. Hermeneutisch reduzieren sie sich auf bloße Zeichen im Sinne von Hinweisen auf den Schöpfer. Die Formel der unähnlichen Ähnlichkeit wird also unterlaufen, ihr Problem ist aus der Welt geschafft. Eckhart hat dies explizit thematisiert in seiner Uminterpretation des klassischen Analogiekonzepts.18 Das endliche Sein ist in seiner Sicht nicht ein irgendwie abgeschwächtes göttliches Sein, es ist kein Sein der Teilhabe, vielmehr kommt das eine Sein auch dem Irdischen zu, sofern es in Gott gesehen wird. Die Analogie, d. h. der Vorbehalt gegenüber der vollen Identität, beschränkt sich darauf, daß der Schöpfung das absolute Sein nicht an sich zu eigen ist, sondern daß es ihr nur verliehen ist und ihr kontinuierlich zugeströmt werden muß. Das ist der Rest der Schranke gegenüber der Häresie der Identität. Seine Kritiker haben sie bekanntlich nicht akzeptiert.
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Beispielhaft Predigt 14: Eckhart, hg. Largier, I, S. 164ff. Vgl. auch meine Studie „Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino: Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 538–556, hier S. 545. 17 Zur Gottesgeburt bei Eckhart Shizuteru Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965, insbes. S. 81ff.; ferner Ruh, Eckhart, S. 140ff. 18 Siehe Josef Koch, „Zur Analogielehre Meister Eckharts“, in: Altdeutsche und altniederländische Mystik, hg. v. Kurt Ruh (Wege der Forschung XXIII), Darmstadt l964, S. 275–308; meine Studie „Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart“, in: Haug, Brechungen, S. 579–591; Ruh, Eckhart, S. 82ff.; Eckhart, hg. Largier, I, S. 789–793, Komm. zu 52,16–22; Langer [Anm. 4], S. 320ff.; Kurt Flasch, „Meister Eckhart“, in: Klassiker der Theologie, Bd. I, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, München 2005, S. 145–173, hier S. 162ff.
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9. Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus
Die Folgen dieser radikalen Lösung sind von rücksichtsloser Härte. Eckhart verweigert jede Möglichkeit einer Vermittlung dessen, was er erfahren hat. Er sagt in der berühmten, programmatischen ›Armutspredigt‹: „Solange jemand nicht eins ist mit der Wahrheit“ – der göttlichen Wahrheit, aus der heraus Eckhart spricht –, „solange wird er nicht verstehen können, was ich sage.“19 Und jene, die ihn nicht verstehen, entläßt er mit einem Achselzucken: sie sollten sich keine Sorgen machen!20 Die Frage ist nur: Weshalb predigt er dann überhaupt?21
II Eckharts Theologie bietet, jedenfalls in ihrer ausgereiften Form,22 die äußerste Konsequenz eines Konzepts, das darauf basiert, daß man Gotteserfahrung im Rahmen der unähnlichen Ähnlichkeit von der Transzendenz her zu denken versucht. Statt von der Differenz kann man aber die Formel, wie gesagt, auch von der Ähnlichkeit her angehen. Auch dafür hat ein Pauluswort die Grundlage geliefert – ein Wort, dessen religionsgeschichtliche Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann; es ist in der abendländischen Religionsgeschichte omnipräsent: 1 Kor 13,12: videmus nunc per speculum in aenigmate: tunc facie ad faciem. Dieses Pauluswort scheint offenkundig zu besagen, daß wir Gott oder die Wahrheit – das fehlende Objekt des Satzes muß man nach eigenem Ermessen ergänzen – in dieser Welt nur gewissermaßen gespiegelt wahrzunehmen vermögen, daß wir uns ihm bzw. ihr aber dereinst unvermittelt gegenübersehen werden. Aber der Wortlaut des Diktums ist, genau genommen, in seinem Sinn alles andere als klar. So kann man der Auffassung sein, daß in aenigmate das Spiegelbild als ,undeutlich‘, ,verhüllt‘, ,rätselhaft‘ qualifizieren sollte, und man mag dabei an trübe antike Kupferspiegel denken. Als Beispiel für diese Deutung sei die Übersetzung der ,Revised Standard Version‘ der ›King JamesBibel‹ zitiert: „Now we see in a mirror dimly.“23 Aber man zögert, dieser Interpretation zuzustimmen, nicht nur, weil man in der Antike vorzügliche Metallspiegel herzustellen vermochte – und gerade Korinth war dafür berühmt –, sondern vor allem, weil die 19
Wan als lange der mensche niht glıˆch enist dirre waˆrheit, als lange ensol er dise rede niht verstaˆn: Eckhart, hg. Largier, I, S. 562. 20 Wer dise rede niht enverstaˆt, der enbekümber sıˆn herze niht daˆ mite: ebd. Im ›Liber Benedictus‹ (Eckhart, hg. Largier, II, S. 310) rechtfertigt Eckhart seine Haltung mit einem Zitat aus den ›Confessiones‹ des Augustinus: „Was kann ich dafür, wenn jemand das nicht versteht?“ – Waz mac ich, ob ieman daz niht enverstaˆt? Vgl. Largiers Komm. zu 310,21–26. Zur Problematik siehe meine Studie „Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 521–537, hier S. 524ff. 21 Eine Antwort hat Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992, zu geben versucht. 22 In den frühen Werken wirken noch Wegvorstellungen nach. Wenn Eckhart auch später noch von Prozessen spricht und sich dabei raumzeitlicher Metaphern bedient, so macht er meist zugleich deutlich, daß es sich nur um Redeweisen handelt, die aufgehoben werden müssen. Siehe meine Studie „Das platonische Erbe bei Meister Eckhart“, in diesem Bd., S. 286–300. 23 Siehe Edward Peter Nolan, Now through a Glass darkly: Specular Images of Being and Knowing from Virgil to Chaucer, The University of Michigan Press 1990, S. 1f.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
zweite Satzhälfte: videre (. . . ) facie ad faciem als Gegensatz nicht einen irgendwie verschwommenen Anblick, sondern eine indirekte Sicht fordert, wie ein Spiegel sie ja grundsätzlich bietet.24 Aber es bleibt das Problem, wie in aenigmate auf per speculum zu beziehen ist. Handelt es sich, wie Luther übersetzt, um ein Sehen „in einem dunklen Wort“? Dann wäre an prophetisch verhüllte Offenbarung zu denken.25 Doch die Vorstellung verträgt sich nicht ohne weiteres mit videre, und so hat man denn versuchsweise ein ,hören‘ interpoliert: „Jetzt sehen wir mittels eines Spiegels und hören im Rätselwort“.26 Auch das kann schwerlich befriedigen. Die Schwierigkeiten sind jedenfalls kaum eindeutig zu bereinigen. Und so ist es denn nicht unverständlich, daß das Problem im Verlauf der Rezeption dadurch erledigt wurde, daß man speculum und aenigma parallel geschaltet hat: die in mittelalterlichen Texten gängige Form lautet: in speculo et in aenigmate, und man konnte dann eine Reihe weiterer ,Synonyma‘ anschließen: umbra, similitudo, vestigia usw. Damit schloß sich die Vorstellung eines unklaren Spiegelbildes aus, und das Pauluswort stand nunmehr eindeutig für ein Gegenüber von unmittelbarer göttlicher Wahrheit und gebrochenem, vermitteltem Abbild. Die Folge aber war, daß das Wort zu einer Leitchiffre für die unähnliche Ähnlichkeit wurde. Man könnte nun denken, daß sie damit eine geradezu ingeniöse Lösung für den inneren Widerspruch der Analogieformel angeboten hätte. Ein Spiegelbild besitzt ja in der Erscheinung die größte Ähnlichkeit mit dem gespiegelten Gegenstand, und zugleich kommt im Gegensatz von Schein und Wirklichkeit die unvergleichlich größere Differenz zu ihrem vollen Recht. Gibt es sie also doch, die Ähnlichkeit bei je größerer Unähnlichkeit, ohne daß man sich an ihrer inneren Widersprüchlichkeit abarbeiten oder gar aufreiben müßte? Aber so bestechend diese Veranschaulichung der unähnlichen Ähnlichkeit durch das Pauluswort vom Spiegelbild gegenüber der Begegnung mit dem Göttlichen von Angesicht zu Angesicht ist, es ergeben sich doch intrikate Probleme. Wenn man von der uns gewohnten Annahme ausgeht, daß zwischen Bild und Abgebildetem keine ontologische Beziehung besteht, daß man es also in dieser Hinsicht mit radikaler Unähnlichkeit zu tun hat, so müßte das, auf das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz übertragen, heißen, daß die Analogie in der bloßen Bedeutung stecken bleibt. Mittelalterlich gesagt: Die Schöpfung ist ein Buch, ein Bilderbuch, das allegorisch auf die Wahrheit auszulegen ist. Die Spiegelung geht auf in der Lesbarkeit, in der Interpretierbarkeit der Welt. Der berühmte Rhythmus des Alanus von Lille hält dies prägnant fest: Omnis mundi creatura / Quasi liber et pictura / Nobis est et speculum.27 Die Schöpfung ist Buch und Bild und damit ein Deutungsspiegel der Wahrheit.28 Dahinter steht ein doppeltes Zeichen24
So Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII,3), Zürich, Düsseldorf 1919, S. 311. Doch nimmt Schrage seine Deutung in Anm. 194 teilweise wieder zurück, wenn er sagt: „In der Tat muß bei Paulus so oder so eine bestimmte Unvollkommenheit oder Undeutlichkeit mitgemeint sein“. 25 Ebd., S. 313. 26 Siehe ebd., Anm. 204. 27 PL 210, Sp. 579. 28 Vgl. die klassische Studie von Friedrich Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes“, ZfdA 89 (1958/59), S. 1–23, = in: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1–31. Ferner Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981.
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system, das schon von Augustinus gültig formuliert worden ist:29 Nicht nur sind die Worte Zeichen für Dinge, sondern die Dinge können wiederum Zeichen für etwas Drittes sein, z. B. das Wort ,Ochse‘ als Zeichen für das betreffende Tier und das Tier dann wieder als Zeichen für den Evangelisten Lukas. Doch diese allegoretische Semiotik geht nicht in einem einseitigen Brückenschlag von den Erscheinungen zu ihrem Heilssinn auf, vielmehr wird zugleich die geistige Bedeutung des Wortes anschaubar, das Bild spielt zwischen Allegorese und Präsenz, zwischen den Polen der bloßen Bedeutung und der vollen Identität in der Ikone. Der Zwischenbegriff heißt repraesentatio, in der beide Seiten zur Geltung kommen, der Verweis sowohl wie eine durch dieses Verweisen gebrochene Identität.30 Es wirkt also der Zwiespalt der unähnlichen Ähnlichkeit auch in die mittelalterliche Hermeneutik hinein. Die Allegorese basiert auf der Differenz, aber der Sinn ist zugleich in den gedeuteten Dingen oder Ereignissen anwesend: Gott hat ihn ihnen eingeprägt. Die Möglichkeit der Präsenz der Wahrheit in den Erscheinungen verbietet es deshalb auch, die Überlegungen auf den Bereich des Semiotischen zu beschränken; vielmehr sieht man sich unweigerlich immer wieder auf die ontologische Problematik zurückverwiesen. Denn die Schöpfung geht nicht in einem bedeutungsträchtigen Bilderbuch auf, sondern sie erscheint in ihrem Wesen vom Schöpfer durchdrungen, so daß man sagen konnte, alles Seiende verstehe sich als Theophanie. Das ist – Werner Beierwaltes hat dies am eindrücklichsten herausgearbeitet31 – der zentrale Gedanke des theologischphilosophischen Konzepts des Johannes Scotus Eriugena, in dem er Vorgaben bei Dionysius Areopagita weiterentwickelt hat. Dabei formuliert Eriugena das Erscheinen Gottes in der Schöpfung noch provozierender als Paradox, als dies dem Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit zu entnehmen war: Gott erscheint in der Schöpfung und bleibt doch transzendent. Theophanie heißt „Erscheinen des an sich Nicht-Erscheinenden“; Gott ist in allem und doch über allem.32 Und zugleich wird dieses Paradox dialektisch ausgefaltet; im ›Periphyseon‹ hat Eriugena dies so formuliert: „Alles nämlich, was erkannt und wahrgenommen wird, ist nichts andres als die Erscheinung des Nicht-Erscheinenden, das Offenbarwerden des Verborgenen, die Bejahung des Verneinten, das Begreifen des Unbegreiflichen“ etc.33 Und doch scheint es, daß man unter dem Aspekt der absoluten Differenz wieder in den hermeneutischen Zwiespalt gestoßen wird: Das Seiende ist als ,göttliche Metapher‘ zu verstehen; aber es kann auch ,Zeichen‘, ,Spur‘, 29
Opera, sect. VI, pars VI: De doctrina christiana, hg. v. William Green (CSEL 80), Wien 1963, II,32f. (X,15). Vgl. Christoph Huber, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob (MTU 64), München 1977, S. 6ff. 30 Zum Begriff der repraesentatio und ihrer Stellung zwischen Zeichenhaftigkeit und Realpräsenz siehe Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 23f., und Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit (Bibliotheca Germanica 48), Tübingen, Basel 2005, S. 4f., mit weiterführender Literatur in Anm. 15. Besonders aufschlußreich zur Ambiguität der Repräsentation Carlo Ginzburg, Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999, S. 97–119. 31 Werner Beierwaltes, „Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriugena“, Philosophisches Jb. 83 (1976), S. 237– 265. 32 Ebd., S. 247f. Siehe ferner Ruh, Geschichte I, S. 200ff.; Langer [Anm. 4], S. 136ff. 33 Periphyseon, III, 58,12ff., nach Ruh, Geschichte I, S. 201.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
,Schatten‘ und insbesondere ,Symbol‘ heißen.34 Die austauschbaren Termini machen deutlich, daß man es nicht mit einer spezifischen Begrifflichkeit zu tun hat, sondern daß damit nur der sozusagen gebrochene, ,gespiegelte‘ Charakter des Erscheinenden markiert ist. Und damit stellt sich die Frage, inwieweit die damit angedeutete Erkenntnisbarriere in dem in der Schöpfung entfalteten Sein mit dessen ontologischem Verhältnis zum Über-Sein Gottes in Einklang zu bringen ist. Nach dem klassischen Analogieverständnis, das, wie gesagt, auf der Vorstellung einer abgeschwächten Form des Seins im Seienden beruht, kann die ontologische Ähnlichkeit im Blick auf die Unähnlichkeit zugleich Bild des Göttlichen sein. Diese Möglichkeit schließt sich für Eriugena insofern aus, als er am vollen Widerspruch bzw. an der radikalen Dialektik festhält: Gott entfaltet sich in der Schöpfung und verharrt doch transzendent in sich selbst. Das ist, wie oben dargelegt, auch Eckharts Position, und so könnte man in Anlehnung an ihn sagen, es sei nur unsere menschliche Sichtweise, die uns zwinge, das Seiende in speculo, als bloßen Hinweis auf das Göttliche, aufzufassen. Das setzt aber voraus, daß man allein auf die Differenz hin denkt, und so stößt man denn dort, wo Eriugena über die Unangemessenheit unseres Sprechens gegenüber dem Transzendenten handelt, also im Zusammenhang der negativen Theologie, sehr wohl auf eine entsprechende Semiotik.35 Ontologisch gesehen aber kann das Seiende für Eriugena nicht diskursiv zeichenhaft sein. Vielmehr macht er klar, daß die ,Spiegelung‘ von anderer Art ist: er nennt die Dinge ,lichthaft‘. Das Erscheinen des Nicht-Erscheinenden manifestiert sich als Leuchten. Selbst ein Stein, ein Holz können, wie er sagt, für ihn ,ein Licht‘ sein.36 Gemeint ist damit ein erhellendes Durchscheinen des unfaßbaren Grundes. ,Lichtsein‘ bedeutet ontologische Präsenz ungeachtet der radikalen Differenz. Damit stellt sich die Frage nach der Gotteserfahrung über diese Lichthaftigkeit der Dinge. Traditionell ist das im Bild erscheinende Göttliche der Unähnlichkeit verhaftet, und so geht es, hermeneutisch gesehen, darum, vom unähnlich-ähnlichen Bild zu der radikal andern Wirklichkeit Gottes selbst zu gelangen. Die übliche Lösung des Problems lautet: Es kann dies nur dadurch gelingen, daß man ihn gerade nicht im Bild sucht, obschon er oder gerade weil er in ihm gebrochen sichtbar wird, sondern dadurch, daß man das Bild übersteigt. Die Gefahr aber, die sich bei der Zuwendung zum Bild aufgrund seiner Zwiespältigkeit ergibt – man könnte kurzschlüssig affirmativ darauf zugehen –, hat schon Dionysius erkannt. So hat er darauf gedrungen, die Unähnlichkeit ins Bild selbst hineinzubringen. Häßliche Bilder für Göttliches seien angemessener als schöne Bilder, weil man jenen gegenüber nicht in Versuchung gerate, die Unähnlichkeit 34
Beierwaltes [Anm. 31], S. 243. Siehe auch ebd., S. 253f.: „Da ,Symbol‘ das verweisende BildSein des Seienden intendiert, trifft es sich mit der unähnlichen Ähnlichkeit, die in der Metapher primär als Ähnlichkeit sich ausspricht und gleichwohl die Negativität oder Inkommensurabilität des Intendierten zu verstehen gibt. Die Sätze ,Welt (als das insgesamt durch creatio gesetzte Seiende) ist Theophanie‘, ,Welt ist Symbol‘, ,Welt ist Metapher‘ erhellen in verschiedenen Aspekten denselben Sachverhalt.“ 35 Vgl. Werner Beierwaltes, „Sprache und Sache. Reflexionen zu Eriugenas Einschätzung von Leistung und Funktion der Sprache“, Zs. f. Philosophische Forschung 38 (1984), S. 523–543, hier S. 531f. Auch das allegoretische Verfahren ist ihm selbstverständlich vertraut; siehe ebd., S. 537f., zum Begriff ,Transitus‘. 36 Beierwaltes [Anm. 31], S. 252.
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gegenüber der Ähnlichkeit zu übersehen.37 Das heißt: die Erfahrung des Göttlichen in der von ihm gestuft durchdrungenen Schöpfung wird hier als ein Akt gedacht, der in der Ähnlichkeit die größere Unähnlichkeit erkennt und damit einen Prozeß anstößt, der alles Bildliche zurückläßt. Das ist sozusagen der ikonologische Aspekt der negativen Theologie. Der neuplatonische Gedanke, daß Begriffe und Bilder gleichermaßen auf dem Weg zur Transzendenzerfahrung zu übersteigen sind, erhält durch den christlichen Akzent auf dem Unähnlich-Häßlichen eine besondere Note. Sie fehlt bezeichnenderweise bei Eriugena; er vernachlässigt sie zugunsten der lichthaften Präsenz des Göttlichen. Es geht bei ihm auch nicht um ein Übersteigen des bildhaft Erscheinenden; es fehlt überhaupt die Vorstellung eines Aufstiegsprozesses. Die Einsicht in die Dialektik von Transzendenz und Immanenz – und darin erfüllt sich für ihn die Gotteserfahrung – erfolgt über das Leuchten der Dinge, dem im Menschen die Erleuchtung korrespondiert. Und indem der Mensch in dieser Weise im göttlichen Licht steht, ist er als Erleuchteter einbezogen in jenen Prozeß, in dem Gott sich selbst spiegelt.38 Erkenntnisakt und ontologischer Hervorgang fallen im Sehen und Leuchten zusammen. Das ist ein kühnes und zu seiner Zeit so gut wie wirkungslos gebliebenes Konzept. Der historische Erfolg gehörte der Gegenmöglichkeit. Versteht man das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz nicht als radikal-paradoxe und dialektische Ausformulierung der unähnlichen Ähnlichkeit, sondern im Sinne des klassischen Analogiebegriffs als Verleihung eines abgeschwächten Seins an das Seiende, so erscheint das Göttliche im Irdischen in ontologischer Stufung: Geistiges ist näher beim Ursprung als Materielles. Das legt einen Prozeß der Gotteserfahrung nahe, bei dem man über diese Stufen aufsteigt bis zum Geistigen an sich. Also das platonisch-neuplatonische Modell und seine christliche Adaptation, die in immer neuen Varianten über die Jahrhunderte hin abgewandelt worden ist, um schließlich in einem rein psychagogischen Ascensus zu enden: von Bernhard von Clairvaux und Richard von St. Viktor zu Bonaventura, David von Augsburg usw.39 Doch so ansprechend die Ausfaltung der unähnlichen Ähnlichkeit als Aufstieg, als gestufter Erfahrungsprozeß ist, der zu immer größerer Ähnlichkeit führen soll, so wenig löst dieses Modell das Grundproblem.40 Es wird nur verschleiert, denn es kommt immer der Punkt, an dem der Weg nach oben an eine absolute Grenze stößt, an die Grenze des immer noch bloß Ähnlichen gegenüber dem radikal Andern. Schon die Neuplatoniker haben hier mit der Vorstellung einer Ekstasis operiert, in der der menschliche Geist seine ihm eigene Bild- und Begriffsbedingtheit zur Unbedingtheit des Göttlichen hin zu 37
Grundlegend dazu Paul Michel, ,Formosa deformitas‘. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), Bonn 1976, S. 126ff. Vgl. meine Studie „Göttliches Geheimnis und dunkler Stil“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 413–425, hier S. 421f. 38 Siehe Werner Beierwaltes, „Das Problem des absoluten Selbstbewußtseins bei Johannes Scotus Eriugena (Divina ignorantia summa ac vera est sapientia)“, in: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, hg. v. W. Beierwaltes (Wege der Forschung CXCVII), Darmstadt 1969, S. 484–516, hier S. 511f. 39 Siehe die Beispielreihe in meiner Studie „Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 446–463, hier S. 453f. 40 Siehe zur Problematik meine Studie „Bonaventuras ›Itinerarium mentis in Deum‹ und die Tradition des platonischen Aufstiegsmodells“, ebd., S. 493–504.
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überschreiten vermag.41 Die christlichen Theologen haben an diesem kritischen Punkt die entgegenkommende Gnade Gottes eingesetzt, die den Menschen über sich hinausträgt. Sie sprechen von einem raptus nach dem Muster des Paulus, der, wie er im 2. ›Korintherbrief‹ 12,2–4 berichtet, ins Paradies oder den dritten Himmel entrückt worden ist. Damit begegnet der Weg von unten dem Einbruch des Göttlichen von oben. Das Prekäre liegt jedoch darin, daß die göttliche Gnade nicht verfügbar ist, was das Aufstiegsmodell letztlich in Frage stellen muß. Was taugen die Mühen des Aufstiegs, wenn sich der letzte, entscheidende Schritt menschlichem Wollen entzieht? Eckhart hat, wie gesagt, einen solchen Prozeß von unten, also jede ,Machbarkeit‘ einer cognitio Dei experimentalis, dezidiert ausgeschlossen, indem er das traditionelle Analogiekonzept verwarf, um sich ganz in den Einbruch von oben zu stellen. Doch diese Position blieb singulär. Seine Schüler vermochten sie in ihrer rigorosen Härte nicht durchzuhalten. Tauler und Seuse haben Kompromisse mit dem Wegmodell gemacht. Sie haben gebrochene Aufstiege entworfen, Abstiege oder Umbrüche eingebaut. Das Ergebnis war menschenfreundlicher, führte aber zurück in den unlösbaren Konflikt zwischen eigenmächtigem Bestreben und göttlicher Gnade.42 Damit waren im Grunde genommen die Möglichkeiten, das Konzept der unähnlichen Ähnlichkeit in Transzendenzerfahrung umzusetzen, durchgespielt. Es gab Nachzügler, die die Problematik abbauten, simplifizierende Umformungen in praktische Frömmigkeit vor allem. Der Niveauverlust, zu dem es dabei nach der Mitte des 14. Jahrhunderts kommt, ist nicht zu übersehen.43
III Das war die Situation, in der Cusanus sich fand, als er in den 40er Jahren des 15. Jahrhunderts die Diskussion um die cognitio Dei experimentalis44 nun wieder in ihrer vollen Tragweite aufnahm. Er hatte die ganze Vielfalt der über Jahrhunderte gehenden Versuche, die Analogieformel als Erfahrungsmodell durchzudenken, vor Augen: die Paulinischen Ansätze, die negative Theologie des Dionysius und ihre Rezeption, Eriu41
Grundlegend Plotin; vgl. Werner Beierwaltes, „Henosis. I Einung mit dem Einen oder die Aufhebung des Bildes: Plotins Mystik“, in: Ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 123–147; Langer [Anm. 4], S. 65ff. 42 Siehe Haug, „Grundformen“ [Anm. 6], S. 523ff.; Haug, „Wendepunkte“ [Anm. 39], S. 458ff. 43 Das heißt nicht, daß es nicht spät nochmals zu einzelnen großen Entwürfen hätte kommen können, man denke z. B. an Juan de la Cruz. Vgl. Bernhard Teuber, „Der verschwiegene Name – Hohelieddichtung, exegetischer Kommentar und Mystagogik bei San Juan de La Cruz im Kontext der spanischen Renaissance“, in: Haug u. Schneider-Lastin [Anm. 14], S. 773–798. 44 Der Begriff der Erfahrung – experimentum – wird übrigens von ihm explizit verwendet und dabei mit der geistigen Schau des ,nicht-wissenden Wissens‘ verbunden, z. B. in der ›Apologia doctae ignorantiae‹: h II, S. 3,5 (ich zitiere nach: Nicolaus Cusanus, Opera omnia iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis, Hamburg 1932–2005 [h]). Vgl. auch Werner Beierwaltes, Visio facialis – Sehen ins Angesicht. Zur Coinzidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusanus (Sitzungsberichte der Bayerischen Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1988, H. 1), München 1988, S. 12.
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genas paradox-dialektisches Konzept, die platonistischen Aufstiegsmodelle, die UnioSpekulationen und Eckharts rigorose Ausschaltung der Ähnlichkeit. Man stößt Schritt für Schritt auf den Umgang mit diesem widersprüchlichen Erbe. Und die CusanusForschung ist denn auch nicht müde geworden, das ganze Rezeptionsgeflecht aufzudecken; die kritische Edition durch die Heidelberger Akademie der Wissenschaften45 dokumentiert dies in bewundernswerter Gründlichkeit.46 Doch die hier interessierende Frage ist selbstverständlich die, in welcher Weise der Cusaner in jene Grundproblematik eingetreten ist, die ich in ihren Auffächerungen zu skizzieren versuchte, und ob er dabei, die traditionellen Elemente adaptierend, zu einer eigenen, möglicherweise neuen Lösung gekommen ist. Seine Grundentscheidung im Hinblick auf die beiden möglichen Ansätze bei der Analogieformel liegt offen zutage: Er denkt nicht von der Transzendenz, nicht von einem Einbruch des Göttlichen her, und so fehlt denn auch jede Verlusterfahrung; der Gedanke eines Abstiegs, einer Krise in der Gottferne, ist ihm fremd. Er hat vielmehr dezidiert unter dem Aspekt der Ähnlichkeit angesetzt, das videre in speculo et in aenigmate zieht sich als Leitvorstellung durch sein ganzes Werk. Damit aber hätte er unweigerlich in den Zwiespalt zwischen der unähnlichen Ähnlichkeit in ontologischer und in begrifflich-bildlicher Hinsicht und dessen Folgen in beiderlei Hinsicht geraten müssen. Aber er umgeht ihn methodisch, indem er nicht beim konkreten Bild oder Begriff ansetzt, die dann einen Überstieg in der Deutung oder einen Aufstieg über Seinsstufen 45 46
Siehe Anm. 44. Folgende namhafte Einzelstudien umreißen die maßgeblichsten Einflüsse: Werner Beierwaltes, „Einheit und Gleichheit. Eine Fragestellung im Platonismus von Chartres und ihre Rezeption durch Nicolaus Cusanus“, in: Beierwaltes, Denken des Einen [Anm. 41], S. 368–384; ebd., S. 33ff. (zu den neuplatonischen Voraussetzungen); Ders., Der verborgene Gott. Cusanus und Dionysius, Trier 1997; Ders., „Eriugena und Cusanus“, in: Eriugena redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit, hg. v. W. Beierwaltes (Abhandlungen der Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1987, 1. Abh.), Heidelberg 1987, S. 311–343; Ders., „,Centrum tocius vite‘. Zur Bedeutung von Proklos’ ,Theologia Platonis‘ im Denken des Cusanus“, in: Proclus et la the´ologie platonicienne. Actes du Colloque International de Louvain (13–16 mai 1998), hg. v. Alain Ph. Segonds u. Carlos Steel, Leuven, Paris 2000, S. 629–651; Francis N. Caminiti, „Nikolaus von Kues und Bonaventura“, MFCG 4 (1964), S. 129–144; Donald F. Duclow, „Nicolas of Cusa in the Margins of Meister Eckhart: Codex Cusanus 21“, in: Nicholas of Cusa in Search of God and Wisdom. Papers from the American Cusanus Society, hg. v. Gerald Christiansen u. Thomas M. Izbicki, Leiden, New York u. a. 1991, S. 57–69; Josef Koch, „Über den Einfluß Meister Eckharts auf Nicolaus Cusanus“, in: Cusanus-Texte I. Predigten. 2.15. Vier Predigten im Geiste Eckharts, hg. v. Josef Koch (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1936/37, 2. Abh.), Heidelberg 1937, S. 34–55; Ders., „Nikolaus von Kues und Meister Eckhart. Randbemerkungen zu zwei in der Schrift De coniecturis gegebenen Problemen“, MFCG 4 (1964), S. 164–173; Paolo Rotta, „La biblioteca del Cusano“, Rivista di filosofia neo-scolastica 19 (1927), S. 22–47; Hans Gerhard Senger, „,onde e` tanto celebre la teologia negativa di Dionisio sopra quella demostrativa de Aristotele et scolastici dottori‘. Die Präferenz für Ps.-Dionysius bei Nicolaus Cusanus und seinem italienischen Umfeld“, in: Die Dionysius-Rezeption im Mittelalter, hg. v. Tzotcho Boiadjiev, Georgi Kapriev, Andreas Speer, Turnhout 2000, S. 505–539; Edmond Vansteenberghe, Le cardinal Nicolas de Cues (1401–1464). L’action – La pense´e, Paris 1920, S. 409–440; Herbert Wackerzapp, Der Einfluß Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues (1440–1450), hg. v. Josef Koch (BGPTMA XXXIX, H. 3), Münster 1962.
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verlangen würden, vielmehr denkt er von der Bildlichkeit und Begrifflichkeit an sich aus, d. h., sie sind für ihn Organisationsformen des menschlichen Geistes. Die ontologische Frage bleibt damit vorerst eingeklammert. So geht er von der Organisation des Denkens in einem der negativen Theologie, insbesondere Dionysius verpflichteten Procedere auf die Differenz zu, und er faßt diese folgerichtig als das, was jenseits der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis liegt. In immer neuen Ansätzen bemüht er sich, verständlich zu machen, was dieses Jenseits ist, das sich dem Zugang über unsere Begrifflichkeit entzieht: als Zusammenfall des Gegensätzlichen, als coincidentia dessen, was für die Ratio widersprüchlich ist, als oppositio oppositorum, als Ineinander von Sein und Können, von Möglichkeit und Wirklichkeit, er nennt es possest oder posse fieri, schließlich posse ipsum, er bestimmt es als non aliud, d. h. als das, wozu es keinen Gegensatz gibt. Und wenn er dann das, was jenseits aller begrifflichen Bestimmungen liegt, Gott nennt, stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wie an dieser für den menschlichen Geist unüberschreitbaren Grenze Gotteserfahrung doch möglich ist. Die für des Cusanus theologisch-philosophisches Konzept grundlegende Antwort lautet: Gott ist nur zu fassen als der Nicht-Faßbare, doch gerade in der Erkenntnis, daß er nicht faßbar ist, wird er erfahrbar. Und diese Form der Erfahrung jenseits der Ratio bezeichnet er dann als visio. Die entscheidende Frage ist, was man darunter zu verstehen hat, und damit sieht man sich einem zentralen Problem der Cusanus-Forschung konfrontiert. Die Hauptpositionen: Kurt Flasch deutet die visio bei Cusanus als eine rein intellektuelle Einsicht, als die Einsicht in die Unmöglichkeit, das zu fassen, was jenseits der Faßbarkeit des menschlichen Geistes liegt,47 oder in fortgeschrittener Reflexion: visio bezeichne die Form, in der die Koinzidenz im Intellekt sich vollziehe.48 Doch damit ist das, was die Cusanische visio ausmacht, schwerlich zureichend bestimmt, jedenfalls dürfte dies nicht durchgängig gelten. In ›De docta ignorantia‹ spricht Cusanus unter Berufung auf Dionysius vielmehr von einem Sehen, das auch den Intellekt überschreitet: omnem intellectum creatum (. . . ) supergreditur;49 Gott könne nur super omnem mentem atque intelligentiam erkannt werden;50 der Geist vermöge das Widersprüchliche nicht zu übersteigen: intellectus (. . . ) nequit transilire contradictoria.51 Wenn doch über die Einsicht in die Unerreichbarkeit Gottes und über sie hinaus eine visio Dei möglich ist, dann nur durch eine elevatio,52 einen raptus,53 einen excessus,54 der den Menschen als 47
Kurt Flasch, Nicolaus Cusanus, München 2001, S. 25. Kurt Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt a. M. 1998, S. 430ff. Kennzeichnend für des Cusaners Position um 1453 (De visione Dei, h VI) sei „die Konzeption der Koinzidenz als der Eigentümlichkeit der Vernunft“ (S. 433). „Die Koinzidenz ist hier also nicht das Privileg des jenseitigen Gottes, sondern die Eigenart des Denkens, das sich selbst als den Grund der Sphäre rationaler Distinktheit sieht“ (S. 432). 49 h I, Liber I, cap. XVI, S. 31,3–4. 50 Ebd., S. 31,11–12. Ebd., cap. XVII, S. 35,2–3, heißt es, der intellectus könne ad maximum simpliciter super omnem intellectum in sacra ignorantia plurimum proficere. 51 Ebd., Liber II, cap. II, S. 66,14–15. – Flasch [Anm. 48], S. 112f., unterdrückt diese Stellen nicht; er nimmt ihnen aber ihr Gewicht, indem er erklärt, in ›De docta ignorantia‹ bleibe der intellectus „unterbestimmt“ (S. 112). 52 h I, Liber I, cap. X, S. 21,20 und 23. 53 z. B. ebd., Liber II, cap. I, S. 62,17. In der ›Apologia doctae ignorantiae‹ (h II, S. 12,4) nennt 48
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ganzen, d. h. auch emotional betrifft: es ist eine stupenda suavitas,55 eine magna dulcedo, ein gaudium aeternum56 damit verbunden. Die Einsicht in die Unerreichbarkeit Gottes scheint also aus sich selbst zu einem Umschlag zu führen, über den es doch möglich ist, Gott zu berühren, ohne daß man ihn verstandesmäßig fassen könnte: incomprehensibiliter attingere lautet die betreffende Formulierung.57 Cusanus verwendet hier offensichtlich traditionelles mystisches Vokabular, und so hat man denn gefragt, ob mit mystischen Zügen in seinem Denken zu rechnen sei. Insbesondere Hans Gerhard Senger, Alois Maria Haas und Werner Beierwaltes haben das Problem erörtert, und sie haben die Frage mit gutem Grund bejaht.58 Denn wenn unter Mystik die Erfahrung einer Unio mit dem Göttlichen zu verstehen ist, dann ist der Begriff bei Cusanus durch Aussagen wie te [sc. Deum] intelligere est tibi uniri59 offenkundig abgedeckt. Solchem Ansinnen hat sich jedoch Kurt Flasch dezidiert entgegengestellt. Des Cusanus angebliche mystische Theologie sei nichts anderes als Koinzidenztheorie.60 Das hatte schon Senger gesagt, aber doch von einem „initial erkenntnisgeleiteten Emporgerissenwerden“ gesprochen.61 Auch Beierwaltes hebt bei seiner Interpretation das Moment der Sehnsucht heraus als Hingerissenwerden zum Unendlichen: fertur in infinitum.62 Flasch sagt demgegenüber ganz unbedenklich: „Das Warten auf den raptus (. . . ) spielte in den Schriften des Cusanus nie eine Rolle.“63 Wenn man das so entschieden behauptet, dann muß man aber doch wohl erklären, was es bedeutet, wenn Cusanus den Begriff trotzdem verwendet. Es geht dabei nicht primär um die unnötig hochgespielte Frage, ob man Cusanus als Mystiker bezeichnen darf oder nicht, sondern um die Analyse eines Textbefundes. Nun ist sicherlich richtig, daß raptus und die mit ihm zusammenhängende mystische Terminologie in ›De docta ignorantia‹ eher beiläufig auftauchen. Doch was hier, 1440, ohne Gewicht ins Spiel gebracht wird, findet seine volle Explikation fünf Jahre später, in einem Traktat, der nun ganz auf die Bewegung, den Aufstieg und den Überstieg, ausgerichtet ist: in ›De filiatione Dei‹.64 Der Traktat handelt vom Ascensus des MenCusanus den Vorgang incomprehensibili[s] intuitu[s] quasi via momentanei raptus. Siehe im weiteren zu dieser Begrifflichkeit Beierwaltes [Anm. 44], S. 30 mit Anm. 58. 54 h XI,1, n. 6,7. 55 h I, Liber I, cap. X, S. 21,21. 56 Ebd., Liber II, cap. I, S. 62,18–19 und 23. 57 Ebd., Liber I, cap. IV, S. 10,6. Siehe zu dieser Formulierung, die im ›Parmenides‹ und bei Augustinus Vorläufer hat, Flasch [Anm. 48], S. 265. 58 Hans Gerhard Senger, „Mystik als Theorie bei Nikolaus von Kues“, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hg. v. Peter Koslowski, Zürich, München 1988, S. 111–134; Alois M. Haas, Deum mistice videre . . . in caligine coincidencie. Zum Verhältnis Nikolaus’ von Kues zur Mystik (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel XXIV), Basel, Frankfurt a. M. 1989; Beierwaltes [Anm. 44], S. 23ff.; Ders., „Mystische Elemente im Denken des Cusanus“, in: Haug u. Schneider-Lastin [Anm. 14], S. 425–446. 59 h VI, n. 85,8–9. 60 Flasch [Anm. 48], S. 412. 61 Senger [Anm. 58], S. 118. 62 Beierwaltes, „Mystische Elemente“ [Anm. 58], S. 441. 63 Flasch [Anm. 48], S. 443. 64 Man stellt verwundert fest, daß Flasch diesen wichtigen Text, abgesehen von ein paar beiläufigen Erwähnungen, kommentarlos übergeht.
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schen zur deificatio, griech. theosis. Die menschliche Ratio ist der ewigen Ratio zwar ähnlich, aber nur als Bild. Gotteserkenntnis ist der Ratio also nur möglich in figura, in speculo, in aenigmate, aber es gibt jenseits von ihr den Ascensus zur filiatio Dei und damit zur unverdunkelten apprehensio oder intuitio veritatis, zur deificatio als unverhüllter Schau Gottes. Und auch hier wird dieser Übergang als raptus bezeichnet.65 Die Voraussetzung dafür ist der Glaube, ja, es wird gesagt, der Aufstieg zur Gotteskindschaft sei keinem verwehrt, der den Glauben habe.66 Dieser Aufstieg bedeutet, und das klingt traditionell, Loslösung von der Welt und ihren Erkenntnisbedingungen, d. h. von der Verdunkelung, der die menschliche Ratio unterworfen ist. Doch es gibt eine Einschränkung; Cusanus sagt: man könne Gott zwar ohne Bild oder Gleichnis in einer visio facialis schauen, aber er selbst werde dabei nicht erreicht;67 was erreicht wird, ist nur seine Wahrheit, die die Weise ist, in der er sich mitteilt, so daß man sagen kann: Die Wahrheit Gottes ist seine Unerreichbarkeit. So liegt die höchste Freude der Gotteserkenntnis darin zu wissen, daß er jenseits des Erkennens ist. Es gibt in diesem Erkennen nichts, was den menschlichen Intellekt vom Geist Gottes trennt. Das Einsehen und das, was eingesehen wird, sind eins. In einer intellectualis intuitio erkennt man, daß in dem Einen alles ist und in allem das Eine. In dieser Einsicht besteht die theosis, die Vergöttlichung des Menschen.68 Cusanus stellt dann diesen Weg zur deificatio auch über seine Christologie dar – was übrigens schon durch das III. Buch der ›Docta ignorantia‹ vorbereitet ist. Die deificatio ist eine filiatio, d. h., die Gottwerdung erfolgt über eine Angleichung an die Position des Sohnes, dies jedoch ohne daß sie völlig gelingen könnte, denn nur Christus selbst ist in seiner Natur eins mit dem Vater. Und deshalb variiert auch die filiatio entsprechend der Verschiedenheit der Menschen, so daß es zu individuellen Unterschieden in der Gotteserfahrung kommt.69 Es wird hier also die traditionelle Vorstellung eines Aufstiegs als Ablösung von den Bedingungen rationalen Erkennens herangezogen. Sie geht bis zur deificatio im Sinne einer unio des Intellekts,70 doch, wie gesagt, gilt einschränkend, daß nur Gottes Wahrheit, er selbst jedoch nicht erreicht werden kann. Wenn dann aber in diese Bruchstelle die Christologie eingesetzt wird, so eröffnet die Angleichung des Gläubigen an Christus gerade dadurch, daß sie nur bedingt gelingt, die Möglichkeit, Einssein und Differenz zugleich in der Gottessohnschaft zu denken und nachzuvollziehen. Besonders brisant bricht dann die Problematik des Übergangs zwischen dem Faßbaren und dem Unfaßbaren in ›De visione Dei‹ von 1453 auf. Er wird geradezu drastisch ins Bild gebracht als Überwindung der ,Mauer des Paradieses‘, die die coinciden65
h IV, n. 64,5. Ebd., n. 53,14–15. Vgl. zu dieser Wegbereitung des ascensus ad Dei filiationem durch den Glauben Martin Thurner, Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, Berlin 2001, S. 260f., S. 268f. Auch Flasch [Anm. 48], S. 54, S. 102, S. 426f., S. 440, S. 559, hält fest, daß Cusanus den Glauben als Disposition für die Einsicht als notwendig erachtet, aber die philosophische Argumentation sei davon unabhängig; vgl. unten Anm. 84. 67 h IV, n. 62,5–8. 68 Ebd., n. 70,4–6. 69 Ebd., n. 54,16–22. 70 Ebd., n. 69,1–5. 66
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tia oppositorum bedeutet.71 Im Tor dieser Koinzidenzmauer steht die Ratio als Wächter. Er muß aus dem Weg geräumt werden, damit man begreifen kann, was jenseits des Begreiflichen liegt, wobei dieses ,Jenseits‘ eben nicht der Zusammenfall des Gegensätzlichen ist – das ist die ,Mauer‘ –, sondern als Gegensatz zu allem Gegensätzlichen dessen Grund.72 Und der Schritt dahin, der zur visio facialis führt, wird auch hier als raptus bezeichnet: Video te, domine deus meus, in raptu quodam mentali.73 Und dabei ist sogar vom Eintreten ins Dunkel die Rede, und das klingt dionysisch, aber caligo ist mit ignorantia austauschbar; Cusanus kann sagen: caligo, nebula, tenebra seu ignorantia.74 Und wenn er dann hinzufügt, daß es das Dunkel ist, das das göttliche Antlitz jenseits aller Verhüllung offenbart – Ipsa autem caligo revelat ibi esse faciem supra omnia velamenta75 –, so darf man hier für caligo folglich auch ignorantia einsetzen. Wird das Nichtbegreifen damit in einen mystischen Vorgang hinübergespielt oder reduziert sich das Dunkel auf eine Metapher für die ignorantia? Überraschenderweise entwirft Cusanus demgegenüber drei Jahre später in seinem ›Sermo‹ CCLVIII einen im Prinzip klassischen Stufenweg zur Gotteserfahrung, auf dem der intellektuelle Aufstieg mit der entgegenkommenden göttlichen Gnade zusammenspielt.76 Die unterste Stufe ist gekennzeichnet durch das natürliche Verlangen des menschlichen Geistes, seinen Grund begrifflich zu fassen. Auf der zweiten Stufe wird das Ungenügen dieses Verfahrens erkannt. An seine Stelle tritt die abnegatio der negativen Theologie. Doch sie enthält schon den Keim zu einer affirmativen Wende, bei der auf der dritten Stufe der sich offenbarende Gott dem Menschen entgegenkommt. Hier nun erhellt das Licht die Dunkelheit, in die die zweite Stufe hineingeführt hat. Es ist dann noch von einer vierten Stufe die Rede, die aber Gott vorbehalten bleibt, denn sie ist seine Selbsterkenntnis. Hier werden also der negative und der affirmative Ascensus nicht als zwei gleichermaßen unzureichende Verfahren parallel überstiegen, sondern als zwei Stufen angeordnet, wobei die Affirmation sich einer Gnadenerfahrung öffnet. Gott in seiner unzugänglichen Transzendenz bleibt abgesetzt. Man kann das gegenüber ›De visione Dei‹ als vereinfachende Schematisierung im Rahmen einer Predigt ansehen. Doch zeigt sich hier immerhin, daß Cusanus durchaus mit einem gnadenhaften Akt beim Aufstiegsprozeß zur Gotteserfahrung rechnen kann.
71
h VI, n. 40,1 und n. 42,16–18. Dazu Beierwaltes [Anm. 44], S. 30ff; Rudolf Haubst, „Die erkenntnistheoretische und mystische Bedeutung der ,Mauer der Koinzidenz‘“, in: Das Sehen Gottes nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 25. bis 27. September 1986 = MFCG 18, hg. v. R. Haubst, Trier 1989, S. 167–191, Diskussion: S. 191–195. Vgl. auch meine Studie „Die Mauer des Paradieses“, in: Haug, Brechungen, S. 606–616. 72 Siehe Werner Beierwaltes, Visio absoluta. Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. d. Wiss., philos.-hist. Kl., Jg. 1978, 1. Abh.), Heidelberg 1978, S. 19f. 73 h VI, n. 70,1. Weitere Belege: h VI, Index verborum, S. 127. 74 Ebd., n. 21,4–5. 75 Ebd., n. 21,7–8. 76 h XIX, S. 377–389. Vgl. dazu Marc-Aeilko Aris, „,Praegnans affirmatio‘. Gotteserkenntnis als Ästhetik des Nichtsichtbaren bei Nikolaus von Kues“, Theologische Quartalschrift 181,2 (2001), S. 97–111.
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IV Alle diese Bemühungen des Cusaners in den genannten Werken aus der ersten Schaffensperiode, den kritischen Übergang zur Gotteserfahrung zu fassen – es ist im Prinzip der alte prekäre Moment an der Spitze des Aufstiegs unter neuen Denkbedingungen –, wirken merkwürdig unschlüssig. Auf der einen Seite führt die intellektuelle Einsicht in die Unerreichbarkeit Gottes gewissermaßen aus sich selbst zur visio. Jede Vernunftbewegung ende in der visio, heißt es in der ›Apologia doctae ignorantiae‹.77 Das insinuiert einen kontinuierlichen Prozeß.78 Demgegenüber spielt mit dem Begriff des raptus ein Moment der Unverfügbarkeit herein, ja, es kann von einem gnadenhaften göttlichen Entgegenkommen die Rede sein. Und so heißt es denn in ›De visione Dei‹ auch unmißverständlich: ,Du – also Gott – reißt mich hin, so daß ich über mich selbst hinaus bin – rapis me, ut sim supra me ipsum – und vorschaue auf den Ort der Herrlichkeit – et praevideam locum gloriae.‘79 Und Duft, Freude, Schönheit sind dessen Konnotationen. Weshalb greift Cusanus, wenngleich nur sporadisch, doch immer wieder auf dieses traditionelle mystische Vokabular zurück und was bedeutet es? Er sieht sich anscheinend gedrängt, ein Moment im Umschlag des Intellekts zu kennzeichnen, das nicht völlig aus der inneren Logik des geistigen Aufstiegsprozesses herzuleiten ist.80 Doch das bleibt nicht nur, wie gesagt, auffällig disparat und beiläufig, sondern es kommt einschränkend hinzu, daß Cusanus sich scheut, den Übergang im raptus explizit als göttlichen Gnadenakt darzustellen – der vorhin zitierte Passus ist, abgesehen vom ›Sermo‹ CCLVIII, das Äußerste, was er in dieser Richtung formuliert hat. Beim raptus und den verwandten Begriffen tritt somit ein Aspekt zurück, der in der Tradition wesentlich damit verbunden war: die Gnade als Voraussetzung für die ekstatische Überwindung der absoluten Differenz. Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß die Gnade bei ihm einen andern systematischen Ort hat: sie wird nicht an der Spitze der Aufstiegsbewegung eingesetzt, sondern sie liegt ihr zugrunde, d. h., sie liegt in der Verfaßtheit der menschlichen Vernunft, die von vornherein für den Gläubigen die Möglichkeit des Ascensus bis zur visio in sich trägt.81 In ›De quaerendo Deum‹ von 1445 heißt es, wir 77
h II, S. 14,15–16. Dem entspricht auch das Bild vom Erwachsenwerden für die Bewegung, die zur filiatio Dei führt: h IV, n. 56,1–10. 79 h VI, n. 119,5–6. 80 Es geht letztlich um das grundsätzliche Problem, inwiefern Denken zu einer Erfahrung im eminenten Sinne werden kann. Beispielhaft läßt sich dies im Hinblick auf Anselms von Canterbury sog. ontologischen Gottesbeweis diskutieren: Bleibt die Einsicht, daß Gott als das zu bestimmen ist, im Vergleich zu dem nichts Größeres gedacht werden kann, ein Gedankenspiel oder impliziert sie eine religiöse Erfahrung? Siehe Joachim Ringleben, Erfahrung Gottes im Denken. Zu einer neuen Lesart des Anselmschen Argumentes (Proslogion 2–4) (Nachrichten der Akad. d. Wiss. in Göttingen, I. philol.-hist. Kl., Jg. 2000, Nr. 1), Göttingen 2000. – Das Argument wird übrigens auch von Cusanus immer wieder aufgegriffen. 81 Siehe Thurner [Anm. 66], S. 149f.; er sagt hier, das lumen mentis sei zu verstehen „als ein der menschlichen Natur mitgegebenes Licht“. Ferner Martin Thurner, „Die Philosophie der Gabe bei Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus“, in: Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Beiträge eines deutsch-italienischen Symposiums in der Villa Vigoni, hg. v. M. Thurner (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 48), Berlin 2002, S. 153–184, hier S. 171ff. 78
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würden durch das Licht der Gnade zum unbekannten Gott hingezogen,82 oder in ›De dato patris lumine‹ aus demselben Jahr, die Erkenntnisfähigkeit sei ein Gnadengeschenk des Schöpfers.83 Es ist also nicht so, daß die Gnade die Gotteserfahrung zur Vollendung führen würde, sondern die Gnade ist ihre Basis; sie ermöglicht als Geschenk an die menschliche Natur den Aufstiegsprozeß. Die Problematik, in die diese Positionierung der Gnade hineinführt, ist offenkundig: Entläßt sie die philosophische Argumentation in die Selbständigkeit? Erfüllt sich diese Argumentation also aus sich selbst und in sich selbst? – so Kurt Flasch84 –, oder trägt die Gnade den ganzen Prozeß und wird damit auch der kritische Punkt an seiner Spitze durch fragloses Gottvertrauen überspielt? – so die theologisch fundierte Interpretation etwa von Martin Thurner.85 In jedem Fall hätte ein weiterer, punktueller Gnadenakt, der erst die visio ermöglichte, quergelegen. Und doch spielt er über die mystische Terminologie herein. So sollte man sich denn nicht scheuen, kritisch zu fragen, ob es sich bei dieser traditionellen Begrifflichkeit um Hilfsvokabeln handelt, mit denen Cusanus einen gewissermaßen wunden Punkt in seinem Konzept zu bereinigen sucht. Oder ist er in seinem Denken zunächst noch stärker traditionsbefangen, vor allem Dionysius-abhängig, und ist diese Rückbindung verantwortlich für die erwähnten Unklarheiten? – wobei anzumerken ist, daß der Aufstieg über die negative Theologie mit dem Sprung ins Dunkel an seiner Spitze als durchgängiger Entwurf nicht originär Dionysisch ist, vielmehr erst durch die westliche Rezeption zustande kam.86 Im einen wie im andern Fall – und möglicherweise gilt beides – hätte sich ein stringentes Konzept, vorausgesetzt, daß es schließlich dazu kommt, schrittweise erst herauskristallisiert. Jedenfalls stellt man fest, daß sich die in Frage stehende Begrifflichkeit in den späteren Werken verliert, wenngleich nicht völlig. Dabei ist insbesondere bemerkenswert, daß Cusanus sich schließlich so weit von den mystischen Implikationen dieses Vokabulars absetzt, daß er den raptus-Begriff in ganz anderer Bedeutung verwenden kann. Den Beleg bietet die Brixener Predigt CCLXIX von 1457, deren Thema die Entrückung des Paulus ist.87 Hier wird der raptus in paradisum als innerliche Aufnahme des ,Wortes‘ gedeutet, wobei das ,Wort‘ zugleich als der liber creationis verstanden wird. Es handelt sich bei diesem raptus ad verbum88 damit um einen Vorgang, der den menschlichen Erkenntnisprozeß in spezifischer Weise kennzeichnet: So wie im Schulunterricht der Sprung vom Buchstaben zum Sinn erfolgen muß, so soll das im Sprung empfangene ,Wort‘ zum Verständnis der Schöpfung führen:
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h IV, n. 39,1–2. Ebd., n. 94,4–6. 84 Flasch [Anm. 48], S. 559: Auch wenn Cusanus „den Glauben als persönliche Disposition“ voraussetze, sehe er „aber die philosophische Argumentation als selbständiges Wissen“ an. 85 Thurner, „Die Philosophie“ [Anm. 81], S. 170f. 86 Das hat Ruh, Geschichte I, S. 63f., überzeugend klargelegt. Zu den forschungsgeschichtlichen Kontroversen Langer [Anm. 4], S. 109f. 87 h XIX, Sermo CCLXIX: Sufficit tibi gratia mea. – Für den Hinweis auf diese Predigt habe ich Martin Thurner zu danken. 88 Ebd., n. 9,3–4. 83
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Qui enim sic raptus recepit in se verbum, per quod creator hunc librum, scilicet librum creationis, descripsit, ille omnia, quae ,in libro‘ continentur, mediante verbo illo, quod est ratio rerum intelligit et intra se, ubi verbum concepit, omnia comprehendit.89
Also Welterkenntnis aufgrund der Einsicht in das ,Wort‘, in dem die Schöpfung enthalten ist, ja, das als dessen Ratio zu gelten hat, und diese Einsicht ins ,Wort‘ erfolgt als raptus. Das diskontinuierliche Moment jeder Erkenntnis wird damit auf die Gotteserfahrung im ,Wort‘ übertragen, und so fragt es sich denn, inwieweit dieses Moment nicht immer schon im Spiel sein könnte, wenn Cusanus von raptus spricht. Jedenfalls erscheint die Grenze zum mystischen Verständnis der Entrückung in dem Maße verunklärt, in dem die Gnade beim raptus ausgeblendet wird. Das läßt zumindest die Vermutung zu, daß Cusanus von Anfang an auf dem Weg zu einem innerintellektuellen Verständnis der Gotteserfahrung gewesen ist. Die, soweit ich sehe, einzige raptus-Stelle im theologisch-philosophischen Spätwerk, nämlich in ›De possest‹ von 1460, steht insofern in der Nähe der Verwendung des Begriffs in Predigt CCLXIX, als es hier darum geht, Christus im eignen Inneren in (. . . ) raptu (. . . ) sine aenigmate zu sehen.90 Es handelt sich also nicht mehr um eine elevatio, die die Erscheinungen zurückläßt, sondern – über Christus, über das ,Wort‘ – um die Schau des unsichtbaren Gottes in der Schöpfung, was durch die Einsicht ermöglicht wird, daß alles, was ist, Gott als ,Können-Sein‘ voraussetzt.91 Und doch kommt Cusanus selbst von dieser Position aus noch einmal auf die unwissende, unbegreifliche Schau Gottes im Dunkel jenseits aller Gegensätze zurück.92 Und schließlich konnte er auch in seinem Werk-Rückblick ›De venatione sapientiae‹ von 1463 am Ende nicht umhin, zur unendlichen Distanz zwischen der gleichnishaften Welt und Gott zu bemerken, daß Gott nur in excessu super omnia gesehen werden könne.93 Der Gedanke einer sprunghaften Bewältigung der Differenz aus der ersten Phase seines Denkens scheint sich doch nie ganz zu verlieren, sondern sich unvermittelt und irritierend immer wieder Geltung zu verschaffen. Wie ist das zu beurteilen? Hat man es mit wechselnden Akzentuierungen in einem durchgängigen Konzept zu tun oder kommt sein Konzept erst allmählich und keineswegs ungehemmt zu sich selbst?
V Es war lange Zeit eher unüblich, im Denken des Cusaners eine Entwicklung anzunehmen. Nicht nur scheint in ›De docta ignorantia‹ schon alles angelegt, was später in Einzelaspekten ausgefaltet wird, sondern Cusanus hat selbst der Interpretation seines Œuvres als einer durchgängig einem Grundkonzept verpflichteten Denkbewegung Vorschub geleistet, indem er seine Traktate und Dialoge in dem vorhin genannten Rückblick von 1463 zehn Feldern in einem umgreifenden theologisch-philosophischen Rah89
Ebd., n. 7,6–11. h XI, n. 39,10–11. 91 Ebd., n. 73,11–19. 92 Ebd., n. 74,12–20. 93 h XII, n. 112,14–15. 90
9. Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus
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men zugeordnet hat.94 Es war deshalb ein innovativer Vorstoß, als Kurt Flasch es unternahm, seine Vorlesungen über Cusanus, die er 1998 zum Druck brachte, der These von einer schrittweisen Entwicklung in dessen Denken zu unterstellen.95 Die eindringlichen Analysen, die aufgrund dieser Sichtwende zustande kamen, sind immer wieder bestechend. Niemand wird mehr an dieser Umorientierung vorbeigehen können. Ist sie also auch für meine Fragestellung als bindend zu betrachten? Konkret: Darf die Tatsache, daß Cusanus das traditionelle raptus-Vokabular in den Spätwerken um 1460 fast gänzlich fallen läßt bzw. umdeutet, als ein weiteres Indiz für eine Entwicklung oder wenigstens eine Klärung seines theologisch-philosophischen Konzepts in Anspruch genommen werden? Rechnet man mit dieser Möglichkeit, so wird es bedeutsam, daß er auf diesem Weg auch den damit verbundenen Begriff der visio in signifikanter Weise neu interpretiert hat. Ich demonstriere dies am dialogischen Traktat ›De non aliud‹ von 1462, also einem seiner letzten Werke – wohl wissend, daß der Prozeß des Umdenkens erheblich früher eingesetzt haben dürfte.96 Die Kennzeichnung Gottes als non aliud beruht, wie schon angedeutet, auf folgender Überlegung: Jede unserer Bestimmungen oder Benennungen impliziert, daß anderes ausgegrenzt wird. Gott als non aliud heißt im Gegensatz dazu, daß er der ist, demgegenüber es nichts anderes gibt, daß also von ihm nichts ausgegrenzt wird. Er kann deshalb auch nicht gefaßt und benannt werden, ja, er darf nicht einmal der Unfaßbare und Unnennbare heißen, denn dann hätte er als Gegensatz das Faßbare und das Nennbare. Gott als non aliud ist jenseits des Faßbaren und Unfaßbaren, jenseits des Benennbaren und Unbenennbaren.97 Und so sind auch die traditionellen Bezeichnungen für ihn wie das Eine, das Wahre, das Gute nicht zutreffend,98 d. h., sie können nur als Modi seines Sich-Darbietens Geltung haben. Doch wie kann man das, was jenseits des Faßbaren und Unfaßbaren ist, erfassen? Man erfaßt es, indem man erkennt, daß es jenseits von Faßbarkeit und Unfaßbarkeit ist. Man schaut das non aliud über das Begreifen und über das Wort hinweg: hae mentis Leo Gabriel und Dietlind und Wilhelm Dupre´ sahen sich denn auch berechtigt, in ihrer lateinisch-deutschen Ausgabe: Nikolaus von Kues, Philosophische Schriften I–III, Wien 1964, 1966, 1967, die Texte nicht chronologisch anzuordnen, sondern sich an dem in ›De venatione sapientiae‹ gebotenen thematischen Überblick zu orientieren; siehe Bd. I, S. XXVf. Die zugrundeliegende These lautet, daß es für Cusanus „nicht mehrere zeitlich begrenzte und in sich verschiedene Abschnitte seines Denkens gibt, sondern daß er seine Denkbemühungen als ein einziges und kontinuierliches Streben nach der Weisheit beziehungsweise Wahrheit ansieht. Zwar gibt es verschiedene Zugänge und sich in der methodischen Thematik unterscheidende Möglichkeiten, die Grundabsicht jedoch ist ein und dieselbe“ (S. XXV). 95 Flasch [Anm. 48], S. 41ff., unterscheidet insgesamt fünf Entwicklungsstufen. Es ergibt sich also ein sehr differenziertes Bild vom Wandel seines Denkens. 96 Nach Flasch [Anm. 48], S. 143, erfolgt die entscheidende Wende mit ›De coniecturis‹. 97 Cusanus vermerkt übrigens, daß Dionysius dies schon vorgedacht habe: h XIII, cap. I, S. 5,13– 15; auch cap. XV, S. 38,25–39,2. Doch eine genaue Entsprechung findet sich nicht; siehe Josef Stallmach, „Das ,Nichtandere‘ als Begriff des Absoluten. Zur Auswertung der mystischen Theologie des Pseudo-Dionysius durch Cusanus“, in: Universitas. Dienst an Wahrheit und Leben. FS Albert Stohr, hg. v. Ludwig Lenhart, Mainz 1960, Bd. I, S. 329–355, hier S. 329. 98 h XIII, cap. IV, S. 10,3–25. Diese Feststellung findet sich schon früher, z. B. De filiatione Dei: h IV, n. 78,1–6; n. 82,10–12. 94
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
visiones, sicut sunt supra comprehensionem, sic etiam supra expressionem.99 So liegt es allem Erkennen voraus und ist damit die Voraussetzung des Erkennens. Es ist in allem, was erscheint,100 und doch jenseits des Erscheinenden.101 Alles was erkannt wird, wird in ihm erkannt.102 Und es selbst wird dabei als Unerkennbares erkannt, es wird als Unsichtbares gesehen. Das Licht dient als Bild dafür:103 man sieht das Licht nicht, aber man sieht nur in ihm.104 Das Unerkennbare leuchtet im Erkennen durch. Oder, um bei diesem Bezug die Differenzlosigkeit in der unüberschreitbaren Differenz noch deutlicher zu artikulieren: meine Erleuchtung ,ist im‘ nicht sichtbaren Leuchten Gottes.105 – Man kann nicht übersehen, daß Cusanus sich hier weitgehend das Konzept Eriugenas zu eigen macht.106 In dem Maße, in dem dies geschieht, muß man ›De non aliud‹ in dessen Sinn als ein Bekenntnis zur radikal paradoxen Auffassung des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz verstehen. Und trifft dies zu, ist es dann auch nicht überraschend, daß in diesem späten Dialog jener Übergang, jenes Umkippen aus dem Nichtwissen in die visio Dei fehlt: Gott ist für jede visio unsichtbar.107 Und es fehlt folgerichtig auch die ganze Begrifflichkeit des Überstiegs oder Umbruchs: excessus, raptus, elevatio, theosis usw. Und dabei beruft sich Cusanus einmal mehr und hier besonders nachdrücklich auf Dionysius, ja, er bringt am Ende eine ganze Blütenlese von Dionysius-Stellen, die seine Übereinstimmung mit ihm belegen sollen.108 Doch wird dabei bezeichnenderweise der zentrale Gedanke der ›Mystischen Theologie‹, das mystische Eintreten ins Dunkel, übergangen. Vernachlässigt wird auch der Aspekt der Unangemessenheit der Bilder und der Gedanke, daß häßliche Bilder für das Göttliche den schönen vorzuziehen seien, weil man, wie gesagt, bei diesen versucht sein könnte, im irdisch Schönen die Schönheit Gottes direkt zu sehen.109 Für 99
h XIII, cap. IX, S. 19,28–30. Ebd., cap. IV, S. 10,26–27: ita ,non aliud‘ videtur ante omnia, quod ex hiis, quae post ipsum videntur, nullis abesse possit. 101 Siehe zur philosophiegeschichtlichen Tradition dieses Paradoxons Klaus Kremer, „Gott – in allem alles, in nichts nichts. Bedeutung und Herkunft dieser Lehre des Nikolaus von Kues“, MFCG 17 (1986), S. 188–219. 102 h XIII, cap. V, S. 11,6–8: ,Non aliud‘ seorsum ante omne aliud intuens ipsum sic video, quod in eo quidquid videri potest intueor; nam neque esse nec cognosci extra ipsum quidquam possibile. 103 Ebd., cap. III, S. 7,1–6: Dicunt theologi Deum nobis in lucis aenigmate clarius relucere, quia per sensibilia scandimus ad intelligibilia. Lux profecto ipsa, quae Deus, ante aliam est lucem qualitercumque nominabilem et ante aliud simpliciter. Id vero, quod ante aliud videtur, non est aliud. Lux igitur illa, cum sit ipsum ,non aliud‘ et non lux nominabilis, in sensibili lucet lumine. Der Hinweis auf ,die Theologen‘ dürfte sich in erster Linie auf Dionysius beziehen; siehe ebd., S. 7, Anm. 1. 104 Dazu Thurner [Anm. 66], S. 201. 105 Es soll nicht übergangen werden, daß dieses ontologisch-erkenntnistheoretische Paradoxon schon in ›De visione Dei‹ vorbereitet ist, wenn dort gesagt wird, daß unsere Gottesschau einbezogen sei in den Blick Gottes auf uns. Vgl. Beierwaltes [Anm. 44], S. 13ff. Aber das bleibt, wie Beierwaltes, ebd., S. 21, sagt, „noch im Vorfeld des eigentlichen Ziels von ,De visione dei‘: der ,visio facialis‘ im Sinne einer ,visio mystica‘ oder des ,mystice videre‘.“ In ›De non aliud‹ ist das Paradoxon das Denk- und Erfahrungsziel. 106 Siehe dazu Beierwaltes, „Eriugena“ [Anm. 46], S. 329ff.; Beierwaltes, Der verborgene Gott [Anm. 46], S. 17f. 107 h XIII, cap. XXII, S. 53,16–17. 108 Ebd., cap. XIV, S. 29–38. 109 Dieser Aspekt bleibt auch im ›Sermo‹ CCXLIII: Tota pulchra es, h XIX, S. 254–263, ausgespart, 100
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Cusanus ist es vielmehr gerade die konkrete Schönheit, die ,die Schönheit an sich‘ durchstrahlen läßt – worin sich wiederum ein signifikantes Umdenken zeigt, denn in der frühesten Phase hatte er das Sinnlich-Schöne noch als Verführung diffamiert.110 Es geht also nicht darum, über die Erscheinungen hinwegzukommen, um im Umbruch zum Radikal-Andern vorzustoßen, sondern man soll in den Erscheinungen ihren nicht faßbaren Grund unsichtbar sehen, so daß jene in diesem erkannt werden können. Und dabei fällt der Begriff der participatio, die verstanden wird als Teilhabe an dem, was sich der Teilhabe entzieht, in Entsprechung zum Sehen des Nicht-Sehbaren.111 Und mit dem Gedanken der Teilhabe ist auch die Möglichkeit einer Stufung gegeben, doch in einem ganz neuen Sinn, nämlich als schrittweise Annäherung an das unerreichbare non aliud, und zwar über das, was Gott gerade nicht erfaßt, über das Gute, über das Wahre. Die Güte und die Wahrheit ermöglichen eine Partizipation am Nicht-Partizipierbaren.112 So eröffnet sich, gerade aufgrund der Unerreichbarkeit des Göttlichen, eine Vielfalt individueller Wege zum ,Ziel‘, das keines sein kann – Cusanus nennt es terminus: das Ziel somit als Grenze. Kurt Flasch sieht darin geradezu eine Metaphysik der Individualität begründet.113 Das wertet den irdischen Bereich in dem Maße auf, in dem das, was jenseits der Ziel-Grenze liegt, also das non aliud, zwar als Bedingung jedes Erkenntnisweges erkannt wird, es selbst aber zugleich ins völlig Unzugängliche abrückt. Cusanus hat dies am Ende seines Lebens in seinem Dialog über das Kugelspiel anschaulich gemacht.114 Bei diesem ludus globi rollen die Spieler Kugeln in ein Spielfeld mit konzentrischen Kreisen und versuchen dabei, den Mittelpunkt zu erreichen. Die Kugeln sind auf einer Seite ausgehöhlt, so daß sie in Spiralen laufen, was nicht nur die Schwierigkeit für die Spieler erhöht, sondern auch dazu führt, daß jeder Wurf eine andere, je eigene Kurve beschreibt. Cusanus hat dieses Spiel, nachdem er sich mit seinem Freund Johannes von Bayern konkret damit vergnügt hatte, dann allegorisch interpretiert: Die Kugelwürfe bedeuten die unterschiedlichen menschlichen Lebenswege auf ein Zentrum hin, das für Christus steht. Es kann jedoch nie ganz, sondern immer nur annähernd erreicht werden. Was auf diesen Lebensspielwegen jedoch wiederum völlig ausfällt, ist ein Umbruch, d. h., der der das pulchritudo-Konzept des Dionysius in Übereinstimmung mit Albertus Magnus breit zitierend aufgreift. 110 Es handelt sich dabei freilich um eine seiner ersten Predigten, die noch ausgesprochen traditionsgebunden waren; vgl. Flasch [Anm. 48], S. 33. 111 h XIII, cap. X, S. 21,20–21; siehe dazu Rudolf Haubst, „,Am Nichtteilnehmbaren teilhaben‘. Zu einem Leitsatz der cusanischen ,Einheitsmetaphysik‘ und Geistphilosophie“, in: Alte Fragen und neue Wege des Denkens. FS Josef Stallmach, hg. v. Norbert Fischer, Johannes Nosbüsch u. a., Bonn 1977, S. 12–22. 112 h XIII, cap. XVI, S. 41,32–42,1. 113 Flasch [Anm. 48], S. 416. Vgl. auch meine Studie „Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert“, in: Haug, Brechungen, S. 332–361, hier S. 350ff. 114 h IX. Die Literatur dazu ist ebd., S. 204–207, verzeichnet. Zu ergänzen sind Flasch [Anm. 48], S. 576ff.; Martin Thurner, „Die Einheit von Selbst-, Welt- und Gottesbezug nach Nikolaus von Kues“, in: Die Einheit der Person. FS Richard Heinzmann, hg. v. M. Thurner, Stuttgart 1998, S. 373–397; Ders., „Theologische Unendlichkeitsspekulation als endlicher Weltentwurf. Der menschliche Selbstvollzug im Aenigma des Globusspiels bei Nikolaus von Kues“, MFCG 27 (2001), S. 81–128.
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
Umbruch reduziert sich auf die vorausgesetzte Einsicht in die Unerreichbarkeit des Ziels. – Damit ist man am weitesten von jenem Konzept entfernt, das Cusanus in ›De docta ignorantia‹ entworfen hat. Nichts macht die Entwicklungsthese so plausibel wie die gegensätzlichen Wegvorstellungen in diesen beiden Werken. Wenn man damit also einen Wandel im Denken des Cusanus meint fassen zu können, so darf man sich darin dadurch bestätigt sehen, daß er selbst in seinem letzten Werk, in ›De apice theoriae‹, ein solches Umdenken explizit zur Sprache gebracht hat. Er sagt hier, daß er früher die Wahrheit eher im Dunkel zu finden glaubte: Putabam ego aliquando ipsam [sc. veritatem] in obscuro melius reperiri.115 Das bezieht sich zweifellos auf das noch stark von Dionysius geprägte Frühwerk und d. h. auf die Vorstellung jenes raptus oder excessus, der über die Koinzidenzmauer hinweg ins unfaßbare Dunkel des Göttlichen führt. Dem stellt er nun jene Licht-Theorie entgegen, die er in ›De non aliud‹ in Anlehnung vor allem an Eriugena entwickelt hat: Gotteserfahrung heißt Eintreten ins Licht, das das Erscheinende sichtbar macht, sich aber im Sichtbaren nicht selbst zeigt, sondern nur als Unsichtbares erfaßt werden kann.116 Und dieses unsichtbare Licht versteht er als posse ipsum, als absolute Ermöglichung. Und dies zu erfassen ist die höchste ,Schau‘, höchste theoria, und nur in ihr ist Erkenntnis denkbar: Apex theoriae est posse ipsum, posse omnis posse, sine quo nihil quicquam potest contemplari.117 Dies ist der neue Begriff der visio. Kurt Flasch hat aufgrund dieses Befunds die These vertreten, daß der Denkweg des Cusanus von einem im Dunkeln verborgenen, unsichtbaren Gott in ›De docta ignorantia‹ zu einem in der Schöpfung leicht und offen sichtbaren Gott geführt habe.118 Es dürfte deutlich geworden sein, daß sich die Entwicklung seiner Philosophie so simpel nicht darstellen läßt. In der frühen Denkphase ist Gott für ihn in der Koinzidenz als Unfaßbarer faßbar, wobei immer wieder traditionelle mystische Elemente hereinspielen, die einen Übergang, einen Sprung zu einer Unio mit dem Göttlichen insinuieren. Die Überwindung der Koinzidenzmauer des Paradieses ist das prägnante Bild für diese Möglichkeit. Wenn diese Elemente im Laufe der Zeit weitgehend ausfallen, bedeutet dies, daß nicht mehr die Unio, wie immer man sie bei ihm verstehen möge, am Ende 115
h XII, n. 5,9–10. Ebd., n. 8,17–19: Nec lux se in visibilibus manifestat, ut se visibilem ostendat, immo ut potius se invisibilem manifestet, quando in visibilibus eius claritas capi nequit. – Siehe zum spezifischen Konzept von ›De apice theoriae‹ in luzider Knappheit Jens Halfwassen, „Nikolaus von Kues“, in: Denker des Christentums, hg. v. Christine Axt-Piscalar u. Joachim Ringleben, Tübingen 2004, S. 67–89, hier S. 71ff. 117 h XII, n. 17,2–3. 118 Flasch [Anm. 48], S. 37ff., S. 635, S. 644. Zu einer analogen Charakterisierung seines eigenen Denkweges, die Cusanus in ›De visione Dei‹, h VI, n. 47,3–7, bietet: Apparuisti mihi, domine, aliquando ut invisibilis ab omni creatura, quia es deus absconditus infinitus (. . . ). Apparuisti deinde mihi ut ab omnibus visibilis, quia in tantum res est, in quantum tu eam vides, et ipsa non esset actu, nisi te videret, bemerkt Flasch, ebd. S. 439: „Gott auf nicht-sehende Weise sehen, das ist eine andere Philosophie als diejenige, die einseitig auf der Unsichtbarkeit besteht.“ Das ist zweifellos richtig, aber Cusanus sagt an der betreffenden Stelle nicht nur, daß ihm Gott früher als unsichtbar, als verborgen erschienen und daß ihm dann Gott in seinem Sehen sichtbar geworden sei, sondern er fügt hinzu: Sic, deus meus, es invisibilis pariter et visibilis, ebd., n. 47,8–9. Es gilt also beides, und in ›De apice theoriae‹ entspricht der Unsichtbarkeit Gottes die Unfaßbarkeit des posse ipsum. 116
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eines Aufstiegsweges das Ziel ist, daß vielmehr die Erfahrung des unfaßbaren Gottes allein in der Einsicht in die Koinzidenz oder, jenseits von ihr, in das posse ipsum ihren terminus erreicht und dies als Bedingung der Möglichkeit der Welterkenntnis in Gott verstanden wird. Die Grenze ist keine Herausforderung mehr, sie in ein Dunkel hinein zu überschreiten. Das Denken wendet sich vielmehr aus der Reflexion auf sich selbst, d. h. im Bewußtsein seiner Grenze, den Erscheinungen zu, um sie von ihrem unfaßbaren Grund her zu verstehen. Ontologisch-metaphorisch gesagt: Im Leuchten der Schöpfung ist das unfaßbare Licht Gottes erleuchtend präsent. Will man das ontologisch-theoretisch fassen, muß man sagen: Das non aliud als Sein jenseits des Seins trägt das Seiende im Sinne eines dynamischen Bezugs, ohne den dieses nicht wäre, wobei dessen Partizipation am Nicht-Partizipierbaren Identität und Differenz zugleich in sich schließt. Was bedeutet das im Hinblick auf die Formel von der unähnlichen Ähnlichkeit? Es bedeutet, daß Cusanus sie nicht wie Eckhart dadurch zu bewältigen versuchte, daß er einen ihrer Aspekte unterdrückte, vielmehr hat er die Formel in ihrer Paradoxie ohne Einschränkung akzeptiert, ja, er hat sie, in Anlehnung an Eriugena, auf das äußerste in ihre gespannte Widersprüchlichkeit hineingetrieben. Und sie wird ohne jede Ausweichmöglichkeit festgehalten. Es kommt von dieser Radikalität aus also nicht in Betracht, die Erscheinungen allegoretisch auf ihre Bedeutung hin abzufragen, denn die Transzendenz ist begrifflich nicht zu fassen, und da die Differenz auch ontologisch absolut gilt, schließt sich auch eine stufenweise Annäherung mit einem Umbruch ins Göttliche aus. Alle Annäherung bleibt relativ diesseits der Differenz. Das Göttliche öffnet sich zwar in die Schöpfung, aber in unfaßbarer Weise. Außer daß man diese Unfaßbarkeit erfaßt, gibt es keinen Weg in ihre Richtung. Gott ist die absolute Differenz, wobei die Einsicht in sie doch zugleich die Bedingung der Welterkenntnis in Gott ist. Das ist der neue Sinn der Gotteserfahrung in speculo et in aenigmate. Sie ist nicht mehr paulinisch ausgerichtet auf den Überstieg zur Begegnung facie ad faciem, und das bedeutet auch einen Bruch mit der Tradition der analogischen Gotteserfahrung im Sinne eines Zugangs vom Ähnlichen zum Unähnlichen. Gotteserfahrung ist Erfahrung der absoluten Grenze zur Differenz, und sie ist als solche zugleich Erfahrung Gottes in seinem nicht-erscheinenden Erscheinen in der Schöpfung. Hat sich unter dem Aspekt dieser Radikalisierung der Analogieformel des Cusaners theologische Philosophie im Sinne eines konsistenten Konzepts geklärt? Es bleibt die Merkwürdigkeit, daß auch, wie gesagt, spät noch, in ›De possest‹, von einer Gotteserfahrung in umbra seu tenebra die Rede ist. So drängt sich die Frage auf, ob dieses disparat doch immer wieder durchbrechende mystische Vokabular nicht ein Indiz für eine Beunruhigung sein könnte, die sich nie ganz beschwichtigen ließ, eine Beunruhigung darüber, daß die Gotteserfahrung, die ja doch von der Ähnlichkeit, und sei sie noch so abstrakt wie die Organisation des menschlichen Geistes, auf die Differenz zugehen mußte, ohne ein unverfügbares Moment, und reduziere es sich auch auf die Plötzlichkeit der Einsicht, letztlich nicht auskommen kann. Die Gnade vorweg, die Gnade als prinzipielle Voraussetzung der Erfahrung, löst das Problem nicht, dies bringt vielmehr, indem damit ein kontinuierlicher Weg angestoßen wird, die Gefahr der Machbarkeit mit sich, so etwa, wenn Cusanus sagt, daß jedes Denken aus der Gnade des Glaubens heraus zur deificatio führe. Das Problem des Sprungs in der Analogieformel scheint trotzdem unterschwellig virulent zu bleiben. – So gilt einmal mehr der herme-
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III. Theologisch-Philosophisches Schrifttum
neutische Grundsatz: Will man ein Konzept in seiner ganzen Lebendigkeit begreifen, muß man nicht zuletzt auf das achten, was an Widerständigem in es eingegangen ist.
Das Fazit Sowohl wenn man das traditionelle Analogiemodell von der Transzendenz wie wenn man es von der Immanenz her in Erfahrung umzusetzen sucht, gerät man in dilemmatische Schwierigkeiten. Bei der cognitio Dei als Einbruch aus der Transzendenz stellt sich das Problem der Vermittlung, die nur um den Preis des Verlusts der unmittelbaren Erfahrung möglich ist, d. h., eine Vermittlung ist im Grunde unmöglich. Setzt man bei der Ähnlichkeit an, stößt man letztlich immer auf die absolute Grenze zur Differenz, die aus menschlichem Vermögen nicht überstiegen werden kann. Von der Vermittlung aus gibt es keinen Weg zur Unmittelbarkeit, es sei denn, man bringe die göttliche Gnade, den Einbruch aus der Transzendenz, ins Spiel, worüber man jedoch nicht verfügen kann. Die religionsgeschichtliche Folge waren immer neue Kompromisse von beiden Ansätzen aus. Doch ist es, wie ich zu zeigen versuchte, zu zwei ihrer Intention nach kompromißlosen Lösungen gekommen. Die eine, diejenige Eckharts, zielte darauf, die eine Seite der Formel, wenn nicht völlig zu unterdrücken – damit wäre er häretisch geworden –, sie aber doch so weit wie möglich auszuschalten: er streicht die Ähnlichkeit bis auf einen minimalen, aber bedeutsamen Rest, um ganz von der Transzendenz her zu denken. In dem Maße, in dem dies gelingt, erledigt sich die Problematik der Formel. Cusanus hat demgegenüber gerade an ihrer Paradoxie festgehalten, und dies so radikal, daß auch dadurch jede Vermittlung unterbunden wird. Auch dieses konsequente Bestehen auf dem Widerspruch – was ist ,Sehen des Nicht-Sehbaren‘, was ist ,Partizipation am Nicht-Partizipierbaren‘? – ist eine Zumutung von größter Unerbittlichkeit. Und es bleibt ein wunder Punkt: die Einsicht in die absolute Differenz als Erfahrungsakt, der ohne ein gnadenhaftes Moment nur mit Mühe plausibel zu machen ist. Bei beiden Denkern sind, vor allem in den Anfängen, Unsicherheiten, Schwankungen, Abwege, z. T. in Bindung an traditionelles Gedankengut, festzustellen, auch wenn es ihnen schließlich gelingt, ihre Positionen mit großer Prägnanz zu formulieren. Aber die Aporien lauern hier wie dort um die Ecke, und man sollte nicht wegschauen, um es sich einfacher zu machen. So konträr die Vorgehensweisen Eckharts und des Cusaners sind, so berühren sich die Ergebnisse doch in eigentümlicher Weise. So wird die Schöpfung bei Eckhart nicht einfach ausgestrichen, sondern sie wird in den trinitarischen Prozeß hineingenommen. Die Welt ist göttlich, insofern man sie in Gott gegründet sieht. Und das gilt unter andern Vorzeichen auch für Cusanus. Und so verwundert es nicht, daß sich bei dem Eckhartkenner, ja Eckhartverteidiger Cusanus Formulierungen finden, die von jenem stammen könnten, z. B.: ,Das Verursachte hängt ganz an der Ursache und ist für sich genommen nichts‘: causatum [est] penitus a causa et a se nihil.119 Oder: ,Betrachtest du die Dinge ohne Gott, dann sind sie nichts; betrachtest du [hingegen] ein Ding, wie es in Gott ist, dann ist es Gott und die Einheit‘: Si consideras res sine eo [sc. Deo],(. . . ) nihil 119
h I, Liber II, Prologus, S. 59,6.
9. Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus
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sunt (. . . ). Si consideras rem ut est in Deo, tunc est Deus et unitas.120 Aber die Voraussetzungen für diesen ontologischen Gleichklang stehen sich, wie ich zu zeigen versuchte, diametral gegenüber. Und das geistige Klima, wenn ich so sagen darf, ist grundverschieden. Eckharts Gotteserfahrung ist rücksichtslos in die transzendente Überzeitlichkeit eingebettet, Cusanus hält dezidiert an der Differenz fest, um im Umschlag den Blick frei zu bekommen für eine im unfaßbaren göttlichen Licht erstrahlende Welt. Eckharts Position hinterläßt Verzweiflung bei jenen, die ihm bei seiner Radikalität nicht zu folgen vermögen, Cusanus brüskiert durch sein radikal gefaßtes UnähnlichkeitsÄhnlichkeits-Konzept, aber es erlaubt doch jedem, seinen individuellen Weg zum Ziel zu gehen – zu einem Ziel, dem man sich im Bewußtsein seiner Unerreichbarkeit doch beglückt nähern darf; und da dies von Natur aus für alle gilt, führt seine Position zu spielerischer Heiterkeit: zum ludus globi an einem römischen Spätsommertag.
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Ebd., cap. III, S. 71,13–14 und 18–19.
IV. Diverses
1. Szenarien des heroischen Untergangs
Vorbemerkung Es ist nun über dreißig Jahre her, daß ich versucht habe, das Heldensagenmodell von Andreas Heusler von seinen literarästhetischen Prämissen her in Frage zu stellen.1 Dies nicht ganz ohne Erfolg. Joachim Heinzle2 und Jan-Dirk Müller3 sind auf meine Linie eingeschwenkt, wobei jeder auf seine Weise dieselbe Konsequenz gezogen hat, nämlich vom Denken in Entwicklungsmodellen überhaupt Abschied zu nehmen. Die Vorgeschichte des ›Nibelungenliedes‹ rückte ins Dunkel, aus dem nur einzelne erratische Versatzstücke noch in die überlieferten Texte hereinzuragen schienen, mit denen man sich bei der Interpretation abzuplagen hatte. Es gab jedoch auch konservative Reaktionen, so von Theodore M. Andersson4 und von Alfred Ebenbauer5. Beiden lag daran, Heusler im Prinzip zu rehabilitieren, wobei Ebenbauer überhaupt bezweifelte, daß ich ein alternatives Modell präsentiert hätte. Er meinte, was ich als Gegenentwurf vorgebracht habe, könne man bestenfalls als Ergänzung zu Heusler gelten lassen.6 1
„Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf“, in: Haug, Strukturen, S. 277–292 [Erstveröffentl. 1975]. Siehe auch meine sich daran anschließenden Studien „Normatives Modell oder hermeneutisches Experiment. Überlegungen zu einer grundsätzlichen Revision des Heuslerschen Nibelungenmodells“, in: Haug, Strukturen, S. 308–325 [Erstveröffentl. 1981]; „Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität“, in: Haug, Brechungen, S. 59–71 [Erstveröffentl. 1994]; „Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung“, in: Haug, Brechungen, S. 72–105 [Erstveröffentl. 1994]. 2 Joachim Heinzle, Das Nibelungenlied. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1994, S. 114; Ders., „Die Nibelungensage als europäische Heldensage“, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. v. Joachim Heinzle, Klaus Klein, Ute Obhof, Wiesbaden 2003, S. 3–27, hier S. 19. 3 Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 19f. 4 Theodore M. Andersson, „Walter Haug’s Heldensagenmodell“, in: Germania. Comparative Studies in the Old Germanic Languages and Literatures, hg. v. Daniel C. Calder u. Christy T. Craig, Wolfeboro/New Hampshire, Woodbridge/Suffolk 1988, S. 127–141. 5 Alfred Ebenbauer, „Hat das ,Nibelungenlied‘ eine Vorgeschichte? Eine Polemik“, in: 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick, Wien 2001, S. 51–74. 6 Ebenbauer argumentiert, ebd., S. 59, folgendermaßen: wenn ich gegen Heusler einwende, daß das Heldenlied sich nicht dadurch konstituiere, daß historische Ereignisse ins Private und Allgemein-Menschliche verwandelt würden (in Anlehnung an die Ästhetik des 19. Jahrhunderts!), daß es vielmehr darum gehe, historische Erfahrungen mit Hilfe von vorgegebenen Interpretationsschemata zu bewältigen, so sei dem entgegenzuhalten, daß eine solche Bewältigung noch kein Heldengedicht ergebe; es bedürfe dazu eines Dichters. Das ist zweifellos richtig, doch ist es eben nicht der Dichter im Heuslerschen Sinn, der antritt, um die historischen Daten zu poetisieren, sondern ein Dichter, der für eine Gemeinschaft historische Ereignisse mit Hilfe von Deutungsmustern verständlich und damit erträglich zu machen versucht. Die heroische Dich-
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IV. Diverses
Die eine wie die andere Replik geht am Nervus rerum vorbei. Ich möchte dies im folgenden vor Augen führen, indem ich mich über einen literaturanthropologischen Zugriff noch dezidierter als bisher von Heusler absetze, aber ohne deshalb die Frage nach der Vorgeschichte für null und nichtig zu erklären – im Gegenteil: es soll unter meinen Prämissen die scheinbar obsolet gewordene Beschäftigung mit der Vorgeschichte wieder zu ihrem Recht kommen.
*** Helden sterben nicht im Bett. Nicht allein deshalb, weil das kaum erzählenswert wäre, sondern vor allem, weil der heroische Tod zu jenen Grenzerfahrungen gehört, an denen die Heldenvita sich orientiert – die Erfahrung der Grenzen des Faßbaren, des zu Bewältigenden gegenüber dem Andern, Fremden, Ungeheuerlichen. Auch wenn der biographische Ablauf nicht in jedem Fall voll ausgestaltet ist, geht es dabei doch im Prinzip um die Einmaligkeit eines einzelnen, in sich geschlossenen Lebens mit einem signifikant markierten Anfang und Ende. Diese Einmaligkeit ist in den Heldensagen in der Regel auch konkret-historisch verankert – beim ›Nibelungenlied‹ ist es die Niederlage der Burgunden gegenüber den Hunnen, bei der Dietrichsage Theoderichs Einfall in Italien, beim ›Rolandslied‹ Karls Spanienfeldzug –, wenngleich es nicht auf die faktisch genaue historische Fixierung ankommt; vage Reminiszenzen genügen; ja, die Heldensagen pflegen sich bekanntlich in einem nur unbestimmt umrissenen Zeitraum zusammenzudrängen, im sogenannten heroic age, und sich darin ohne Rücksicht auf die tatsächliche Chronologie zu verflechten. Wenn es also nicht auf die konkrete Geschichte ankommt, so doch auf Geschichtlichkeit schlechthin. Die Anbindung an Konkret-Historisches ist nur Indiz dieser grundsätzlichen Geschichtlichkeit. Das aber ist wesentlich: Heroische Grenzerfahrung ist Erfahrung in der Geschichte, an der Geschichte. Denn nur im Raum des Geschichtlichen stellt sich das Andere als Negation des Eigenen im Sinne einer Grenze dar. Dies im Gegensatz zum Mythos, der die Negativität des Anderen in eine übergreifende Bewegung einbindet, so daß es nie als absolute Grenze erscheint, sondern immer Übergang ist in einem ewigen Wechsel von Leben und Tod, von Sieg und Untergang, von Opfer und Wiedergeburt – eine Bewegung, in die man sich einschreiben kann, in der man sich sichern, ja, bei der man rituell mitwirken kann. Man weiß sich darin überpersönlich, übergeschichtlich aufgehoben. Zum geschichtlichen Leben gehört demgegenüber das absolute Ende, der Tod. Was das Heroische ausmacht, zeigt sich ihm gegenüber in seiner prägnantesten Form. Daß der Tod heroisch ist, heißt, daß man ihn als Untergang eines Siegers stilisiert. Siegen und Sterben gehören hierbei in eigentümlicher Weise zusammen. Beowulf, der Bezwinger Grendels und seiner Mutter, gerät schließlich an ein letztes Ungeheuer, einen Drachen; der Held stirbt, indem er ihn überwindet. Roland geht im Kampf mit den ins Dämonisch-Tierhafte gesteigerten Heiden unter; sterbend bläst er ins Horn und ruft tung, mit der wir es hier zu tun haben, ist kein Rückzug aus der Geschichte, sie ist vielmehr eminent geschichtlich.
1. Szenarien des heroischen Untergangs
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Karl mit dem Gros des Heeres herbei. Das Gesicht den Feinden zugewandt, legt er sich hin: man solle sehen, daß er siegend gestorben sei: qu’il fut mort cunquerant (v. 23637). Modret, der verräterische Bastardsohn von König Artus, fällt im Kampf gegen ihn, aber auch Artus wird tödlich verwundet.8 Sigfrids Tod steht am Ende einer ganzen Reihe von Siegestaten – zuletzt: die Fesselung und dann die Tötung eines Bären unmittelbar vor dem in den Mord mündenden Wettlauf zur Quelle. Was im Mythos als Wechsel erscheint: Tod und Überwindung des Todes, das wird in der Heldensage also in eins gesehen, da das Heldenleben einmalige Geschichte in der Geschichte sein will. Wenn die Heldensage damit an Grenzen stößt, die es im Mythos nicht gibt, so heißt das, daß sie gerade auf jene Erfahrungen zielt, die der Mythos programmatisch ausklammert: die Erfahrung des Radikal-Andern, die Erfahrung des Unmenschlichen, letztlich, wie gesagt, die Erfahrung des Todes. Die Funktion des Mythos besteht ja darin, Erfahrungen dieser Art zwar aufzurufen, sie aber dann zu unterlaufen, indem man den Horizont des Unfaßbaren, Gefährdenden, Überwältigenden mit Geschichten besetzt, die dem Beängstigenden übergeordnete Abläufe aufprägen. Das ist die „Arbeit am Mythos“, wie Hans Blumenberg dies genannt hat,9 eine Arbeit, an der der Mythos sich selbst abarbeitet. Man kann sagen, auch die Heldensage sei ,Arbeit am Mythos‘ – bei Blumenberg vermißt man übrigens eine klare Differenzierung zwischen Mythos im strengen Sinn und früher Epik. Freilich würde sich dann die ,Arbeit am Mythos‘ hier in einer besonderen, zum mythischen Prozeß, wie ich ihn verstehe, querstehenden Form zeigen. Denn das Abarbeiten vollzieht sich in der Heldensage nicht in Form einer Einbindung des Unfaßbaren in ein überzeitliches Geschehen, vielmehr geht man in ganz anderer Weise gegen das Übermächtige an: Während der Mythos den Horizont der Angst mit Geschichten besetzt, um die Angst zu paralysieren, tritt die Heldensage mit der Absicht an, sich der Angst zu stellen, indem sie den angstlosen Helden schafft. Dies also, daß die Heldensage die Handlung einem Protagonisten überantwortet, der sich dem Überwältigenden angstlos stellt, das ist – so meine These – der eigentliche Kern dieses poetischen Typus. Die Angstlosigkeit ist die Voraussetzung dafür, daß man der Geschichte, der Einmaligkeit, dem Tod entgegentreten kann. Aber der Entwurf ist prekär, denn es zeigt sich, daß der Versuch in eine spezifische Problematik hineinführt, die mit ausagiert werden muß. Man hat für diese Konfrontation des Helden mit dem Radikal-Andern eine Reihe von Szenarien entworfen, die sich in der alteuropäisch-mittelalterlichen Erzähltradition breitgestreut durchgehalten haben. Was uns, d. h. die Schriftlichkeit, erreicht hat, sind jedoch nur Ausläufer dieser über die Jahrhunderte hin mündlich weitergegebenen Tradition, in der sich die Erzählmuster in zunehmender Prägnanz ausgebildet haben. Namen, Situationen, Motivationen waren dabei variabel, während das Handlungsgerüst und dessen Besetzung mit den Kernmotiven sich über den Publikumserfolg zunehmend festigen mußten.10 7
Zit. nach: La Chanson de Roland, übers. v. Hans-Wilhelm Klein (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben), München 1963. 8 La Mort le Roi Artu. Roman du XIIIe sie`cle, hg. v. Jean Frappier (Textes Litte´raires Franc¸ais 58), Gene`ve 31964, 190f. 9 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 62001. 10 Hier treffen sich meine Überlegungen mit den Befunden von Georg Danek, „Heldenepos als
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IV. Diverses
Nicht selten scheint man es übrigens mit Ablegern mythischer Schemata zu tun zu haben. Wo dies der Fall ist, bedingt dies, daß der mythische Kreislauf gebrochen wird, so daß der Held schließlich sein Ende finden kann. Hierbei treten die heroischen Szenarien geradezu als Gegenentwürfe zum Mythos auf den Plan. Jedenfalls hat man narrative Muster vor sich, über die man sich nicht-mythisch oder sogar anti-mythisch mit der Geschichte auseinandersetzt. Man muß deshalb nach diesen Mustern fragen, wenn man die heroische Epik in ihrer Form und Funktion verstehen will. Denn sie sind es, die den Gang des Geschehens in erster Linie bestimmen, während die Schlüssigkeit eines handlungslogisch-kausalen Ablaufs ihnen nachgeordnet erscheint. Konkret heißt das: Die Handlungslogik an der Oberfläche kann sich zwar dem Muster fügen, sie kann aber auch von diesem gebrochen werden. Das im Prinzip dominierende Muster setzt sich über Widersprüche an der Oberfläche hinweg, ja, es wird gerade in den Widersprüchen manifest. Es wäre an der Zeit, daß sich diese Einsicht bei der Interpretation der Heldensage als heuristischer Leitgedanke allgemein durchsetzt. Leider suchen immer noch viele Interpreten – gut heuslerisch – einen Zugang zu ihr über die Frage nach menschlichen Konflikten und nach dem Widerstreit von Werten, und sie sehen sich damit zu psychologischen Erklärungen gezwungen, die letztlich nicht stimmig zu machen sind. Ich bin seit meinem ›Modell‹-Aufsatz von 1975 immer wieder gegen den der Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichteten Gedanken angegangen, daß eine ins Subjektive übersetzte historische Situation den Kern des heroischen Typus ausmache. Ich sage heute prononcierter: Nicht um Menschliches in literarischer Ablösung von der Geschichte geht es in der Heldensage, sondern um eine Überwindung einer mythisch-überzeitlichen Weltsicht aus der Kraft des Übermenschlichen heraus – insofern kommt Klaus von See mit seiner These vom Exorbitanten als Charakteristikum des heroischen Erzählens der Sachlage entschieden näher.11 Ich möchte den erzählerischen Umgang mit heldenepischen Mustern im folgenden an der extremsten Form, dem heroischen Untergang, demonstrieren. Es gibt dafür zwei bevorzugte Szenarien, und es sind dies zugleich jene, die literarhistorisch am wirkungsmächtigsten waren. Sie sind in gewisser Weise komplementär, denn sie ergeben sich daraus, daß man entweder auf das Andere zugehen, es herausfordern und sich kämpferisch darauf einlassen kann oder daß das Andere hereinbricht, so daß man sich ihm stellen muß. Der Vorstoß in den Bereich des Andern trifft auf den unmenschlichen, den dämonischen Gegner. Der Einbruch aus dem Bereich des Andern erfolgt über zwiespältige Provokationen, die zwangsläufig in die Krise führen. Der Paradefall der aktiven Auseinandersetzung des Helden mit dem Radikal-Andern ist der Drachenkampf. Der Drache, d. h. das mehr oder weniger theriomorph-unmenschliche Ungeheuer ist das Urbild der Angst. Im Rahmen mythischen Denkens wird der Drache rituell getötet. Die Tötung sichert die geordnete Welt gegenüber dem Chaos. Sie ist häufig die Voraussetzung für eine Stadtgründung, also für ein gesichertes, Medium historischer Erinnerung: Homer und das Südslawische Heldenlied“, in: 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung, hg. v. Alfred Ebenbauer u. Johannes Keller (Philologica Germanica 26), Wien 2006, S. 39–56. 11 Klaus von See, Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1971.
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geordnetes menschliches Zusammenleben.12 In der Heldensage wird diese Begegnung mit dem Ungeheuer in eigentümlicher Weise ambivalent. Der Held ist dem das Menschliche überschreitenden Chaostier nur gewachsen, wenn er selbst auch das Menschliche überschreitet, sich also gewissermaßen seinem Gegner angleicht. Nietzsche hat zu Recht gesagt: ,Wer gegen Drachen kämpft, wird selber Drache‘.13 Der irische Held CuChulainn tritt zum Kampf gegen die drei Söhne der Dämonin Nechta an14 – sie stehen für den dreiköpfigen Drachen15 –, er besiegt sie in einem wilden Kampf, wobei er in eine ungeheuerliche Schlachtwut gerät. Er hängt danach die Köpfe der Besiegten an seinen Streitwagen und fährt schneller, als ein Stein fliegt, den er schleudert, von der ihn verfolgenden Nechta davon. Unterwegs fängt er zwei Hirsche und bindet sie hinten an den Wagen, dann betäubt er mit Schleuderwürfen 22 Schwäne, auch diese werden mit Stricken angebunden. In diesem phantastischen Ensemble: vorne die dahinstürmenden Pferde, hinten die Hirsche und darüber flatternd die Schwäne – so rast CuChulainn auf die königliche Residenz Emain zu. Dort bekommt man es mit der Angst zu tun. Da schickt man ihm die Frauen, an ihrer Spitze die Königin, entgegen, und als der Rasende sich naht, entblößen sie sich. Da wendet CuChulainn sein Gesicht ab, und diesen Augenblick nützen die Krieger des Königs; sie packen ihn und stecken ihn in ein Faß mit kaltem Wasser; das Faß birst vor Hitze. Er wird in ein zweites Faß gesteckt, dessen Wasser noch faustgroße Blasen wirft. Erst im dritten Faß kühlt er soweit ab, daß man ihn gefahrlos zum König führen kann. Der Held muß, wie gesagt, selbst ungeheuerlich werden, um seinen ungeheuerlichen Gegner bezwingen zu können. Das macht ihn als Sieger gefährlich, er wird zu einer Bedrohung für die Gesellschaft. Und so schlägt der Überschuß, der ihm im Kampf gegen das Über- und Unmenschliche zugewachsen ist, letztlich auf ihn selbst zurück. Er muß seinerseits überwunden werden, vorläufig in jedem Fall, aber schließlich auch endgültig. Der Tod des Helden hängt an seinem Siegen. Das ist handlungslogisch schwer zu realisieren. Durchsichtig und verständlich wird das nur von der Logik des Musters her, das insbesondere in den Bruchstellen des kausalen Ablaufs aufscheint. Sigfrid wird zu Beginn des ›Nibelungenliedes‹ als höfischer niederländischer Prinz vorgestellt, der dann auf Brautwerbung zu den Burgunden auszieht. Doch bei seinem Auftritt in Worms ist er plötzlich ein anderer, er provoziert die Gesellschaft, indem er einen Kampf um Land und Leute fordert; es brechen damit Züge durch, die aus einem andern Zusammenhang stammen, aus einer Jugendzeit in der Wildnis, zu der ein Drachenkampf gehört und bei dem er insofern drachenähnlich geworden ist, als ihm das Bad im Drachenblut eine undurchdringliche Haut gegeben hat; er ist ungeheuerlich 12
Siehe dazu Jürgen Trumpf, „Stadtgründung und Drachenkampf (Exkurse zu Pindar, Pythien I)“, Hermes 86 (1958), S. 129–157. 13 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (Kritische Gesamtausgabe VI.2), Berlin 1968, S. 98, Aph. 146: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“ 14 Siehe Die altirische Heldensage Ta´in Bo´ Cu´alnge, hg. u. übers. v. Ernst Windisch, Leipzig 1905, S. 130–171; Rudolf Thurneysen, Die irische Helden- und Königsage bis zum siebzehnten Jahrhundert, Halle 1921, S. 136–140. – Ich nehme im folgenden Überlegungen auf, die ich in „Die Grausamkeit der Heldensage“ [Anm. 1], S. 78–90, ausführlicher entwickelt habe. 15 Vgl. Georges Dume´zil, Mythes et dieux des Germains. Essai d’interpre´tation comparative, Paris 1939, S. 103; Ders., Horace et les Curiaces, Paris 1942, S. 51.
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IV. Diverses
unbesiegbar – abgesehen von einer kleinen verwundbaren Stelle zwischen den Schultern, wo beim Baden ein Lindenblatt die Imprägnierung verhindert hat. Und er gewinnt einen unermeßlichen Schatz als konkretes Machtpotential. Nicht zufällig berichtet Hagen, als der Held in Worms auftaucht, von diesem Kampf wie auch vom Gewinn des Nibelungenhortes. Es gelingt den Burgunden dann zwar, den Wildling gesellschaftlich einzubinden, indem die Provokation von Gernot politisch besonnen aufgefangen wird.16 Die Ratio siegt über das Irrationale, auch in den eigenen Reihen. Aus dem angedrohten Ringen um die Macht werden friedliche Ritterspiele. Aber der heroische Überschuß, den Sigfrid aus dem Untierkampf mitbringt, wirkt in eigentümlicher Weise weiter, er zeigt sich in Mutwilligkeiten, Unbesonnenheiten – übermuot heißt das mittelhochdeutsche Stichwort (schon v. 117,417) –, besonders prekär bei der Brautwerbung für Gunther, bei der er zudem die alte Rolle wieder aufnimmt und das Überweib Prünhilt mit übermenschlicher Gewalt besiegt, um sie dann ein zweites Mal in der Schlafkammer niederzuzwingen. Gewalt überwindet die Gewalt, aber es ist dann gerade diese Gewaltfähigkeit, die Sigfrid unerträglich macht. Der letzte übermuot in der Reihe ist dann – zeichenhaft den Untierkampf noch einmal aufnehmend – die erwähnte Bändigung des Bären bei der Mordjagd und im Anschluß daran die Zerstörung, die angerichtet wird, wenn er das Tier zum Spaß am Eßplatz wieder losläßt.18 Unmittelbar danach wird er von Hagen getötet. Es gibt keinen rational einsichtigen Grund und schon gar keine Notwendigkeit für diesen Mord. Zwar setzt eine kausallogische Linie an: Prünhilt ist öffentlich bloßgestellt worden, und Hagen ist bereit, die Beleidigung zu rächen, so daß man hier nun sehr wohl einen menschlichen Konflikt im Sinne Heuslers fassen kann: die Verletzung Prünhilts. Und auch die Demütigung Gunthers bleibt ein dunkler Stachel, aber die Mordtat läßt sich gerade nicht rational daraus ableiten. Die angesetzte Linie bricht ab. Gunther blockiert Hagens Racheplan. Denn er weiß als Augenzeuge, daß Sigfrid sich bei der Bezwingung Prünhilts nicht an ihr vergangen hat. Wenn Kriemhilt das Gegenteil behauptet, so ist das eine Lüge, und der Konflikt, der dadurch heraufgerufen wird, kann unter Männern beigelegt werden. Es geht nur noch um die Frage, ob Sigfrid sich der Tat gerühmt hat, d. h. ob auch er gelogen hat. Er verneint dies und ist bereit, es zu beeiden; dann verprügelt er die unbesonnene Schwätzerin, und die Sache scheint erledigt. Trotzdem gibt Gunther schließlich die Einwilligung zum Mord. Es wird keine Erklärung für dieses Umschwenken geboten. Es geht aber der provozierende Sieg der Niederländer im Turnier voraus, der am Hof Unmut auslöst. Das ist als Signal zu lesen. Das heroische Muster schlägt durch. Es manifestiert sich im übermuot des Drachenbesiegers und der Seinen, ohne daß dieser übermuot als Begründung fungieren könnte, er ist nur Indiz des Musters. Es sei noch einmal davor gewarnt, hier handlungslogisch zu argumentieren und in den Ungereimtheiten Relikte einer unbewältigten Vorstufe zu 16
Vgl. meine Analyse der Szene in „Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied“, in: Haug, Strukturen, S. 293–307, hier S. 298f. 17 Ich zitiere nach: Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hg. v. Helmut de Boor, Wiesbaden 201972. 18 Hier heißt der Terminus zwar hoˆher muot, und dies im Blick auf die kurzewıˆle (vv. 950,3f.), die Sigfrid im Sinn habe. Man denkt an höfische Unterhaltung, doch sie besteht dann darin, daß in der Küche ein Chaos angerichtet wird.
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sehen. Sie sind vielmehr gesetzt, um das Muster sichtbar werden zu lassen, d. h. um die Erfahrung zum Bewußtsein zu bringen, die das Muster vermittelt, eine Erfahrung, die auch in einer höfischen Welt, ja gegen sie Gültigkeit zu besitzen scheint. Und wenn der Autor mit der Reihung der nachdrücklich irrationalen übermuot-Szenen das Gesetz des Musters hochspielt, so macht dies deutlich, wie bewußt er mit den Brechungen zu spielen vermag. Dies impliziert zugleich eine neue Distanz zum Muster, das heißt, seine Gesetzlichkeit funktioniert nicht mehr objektiv-mechanisch für sich; es ist vielmehr zugleich auf das bezogen, was aus der rationalen Oberfläche ins Unfaßbare und Unergründbare abgedrängt worden ist: dem objektiv im Muster verankerten übermuot korrespondieren nicht mehr nur die gesellschaftlichen Ängste vor dem gefährlichen Helden, sondern zudem subjektive Verletzungen, doch ohne daß diese an die Oberfläche zu treten vermöchten. Der Mord hat einen doppelt unverständlichen Grund. Es stellt sich dann jedoch eine erzähltechnische Frage: Wie kann der unbesiegbare Sieger doch besiegt werden? Die typische Antwort lautet: durch List, Heimtücke, Verrat.19 Aber es handelt sich nicht nur um ein technisches Problem, wenngleich man dafür sorgen muß, daß es für den Verrat eine Stelle gibt, bei der er ansetzen kann, eine verwundbare Stelle in der Unbesiegbarkeit. Die Problematik liegt tiefer. Vor dem rasenden CuChulainn entblößen sich die Königin und ihre Frauen. Wenn der Held für einen Augenblick den Kopf abwendet, so daß er überwältigt werden kann, so geht es nur oberflächlich um eine Geste der Scham. Die Entblößung ist ein weit verbreiteter apotropäischer Akt.20 Man setzt dem Ungeheuren das entgegen, was man im eigenen Lager an Ungeheuerem zur Verfügung hat. Auch die Frau ist eine Form des Andern. Und selbst wenn ihre Andersheit im Kampf und im Bett überwunden worden ist, bewahrt sie sie doch potentiell. So stehen denn auch im ersten Teil des ›Nibelungenliedes‹ die heroische und die höfische Brautwerbung signifikant nebeneinander. Und nicht nur hier, sondern auch in andern Heldensagen, etwa in CuChulainns Brautwerbung um Emer,21 wo die Braut Bedingungen stellt, die dazu führen, daß der Held dämonische Weiber im Kampf überwinden und sexuell bezwingen muß. Generell, das heißt, auf das Muster hin gesehen, zeigt sich, daß der Drachenkampf und der Gewinn einer Frau häufig gekoppelt sind: der Held befreit eine Frau aus der Gewalt eines Ungeheuers – Perseus ist der klassische Fall22 –, oder aber das Dämonische wird direkt auf die Frau übertragen; die Brautwerbung wird zu einem Kampf mit einem Machtweib. Durch die Heirat holt man das Fremde des Weiblichen in die eigene Welt herein, gezähmt zwar, aber es bleibt doch virulent. Deshalb sind es immer wieder Frauen, die beim Untergang des Helden auffällig zweideutige Rollen spielen. Es ist Kriemhilt, und nicht, wie man es erwarten würde, Prünhilt, die den tödlichen Konflikt entfacht, und es ist Kriemhilt, die Hagen dann 19
Vgl. Alfred Ebenbauer, „Achillesferse – Drachenblut – Kryptonit. Die Unverwundbarkeit der Helden“, in: Ebenbauer u. Keller [Anm. 10], S. 73–101. 20 Siehe dazu meine Studie „Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter“, in diesem Bd., S. 446–464, hier S. 453. 21 Thurneysen [Anm. 14], S. 377–395. 22 Siehe dazu Aleksandar Loma, „Drachenkampf, Werbung, Initiation. Ein komparativer Ausblick auf die Vorgeschichte der Siegfriedsage“, in: Ebenbauer u. Keller [Anm. 10], S. 211–222.
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unbegreiflicherweise verrät, an welcher Stelle ihr Mann verwundbar ist. Es gibt für letzteres zwar auf der Oberfläche der Handlungslogik einen guten Grund, aber die Naivität der Vorsorge irritiert, man sieht sich einmal mehr vor einer Bruchstelle, die das Muster aufscheinen läßt. Die Siege selbst tragen ein Moment in sich, das sie zum Kippen bringt. Und es wird dies immer wieder besonders über die Unzuverlässigkeit der überwundenen Frau aktualisiert. Verprügeln hilft nichts. Die Frau wird in verdeckter, ja irrationaler Weise zum Hebel des Untergangs. Doch man braucht nicht unbedingt so komplex zu verfahren. Es kann auch schon der heroische übermuot genügen, in Form von Bedenkenlosigkeit, Kurzsichtigkeit, Unvernunft, damit man den Verrat erfolgreich in Szene zu setzen vermag. Karls Nachhut unter Roland wird in Roncesvalles überfallen. Ganelon hat die Christen verraten, nachdem Roland ihn provoziert hat. In Rolands Arroganz zeigt sich das typische Übermaß des heroischen Siegers. Und seine Rückseite, die heroische Unvernunft, offenbart sich dann in der Untergangsszene in charakteristischer Unbegreiflichkeit: Roland hätte mit einem Hornstoß das Heer Karls zu Hilfe rufen können. Er weigert sich auf Oliviers Aufforderung hin dreimal, das Horn zu blasen; er tut es erst, als es zu spät ist. Es gibt keinen einsichtigen Grund, weshalb Roland so handelt. Bei der ungeheueren Übermacht der Feinde hätte ihm niemand den Hilferuf als Feigheit angerechnet, und sein bester Freund, der alles andere als ein Feigling ist, rät es ihm dringend. Das ist sowenig logisch, wie daß der Verrat überhaupt funktioniert, denn Ganelon konnte ja nicht wissen, daß Roland das Heer nicht zu Hilfe rufen würde. Die Weigerung, das Horn zu blasen, ist der Ausdruck des heroischen Überschusses, an dem der Held letztlich zugrunde geht. Der Untergang ist also jenem Unmaß eingeschrieben, das der Held besitzen muß, um der Übermacht des Andern, des Nicht-Menschlichen begegnen zu können. Auf der Oberfläche der Handlung ist das rational nicht zu begründen. Aber auch hier genügt – auf der überlieferten Stufe – der bloße Rückgang auf das Muster nicht. Es spielt auch hier mit neuen subjektiven Ansätzen zusammen. Olivier geht am Ende mit blutverschmierten Augen auf Roland zu und erkennt ihn nicht; er schlägt ihm den Helm mittendurch. Ein Mißgeschick, das der Freund dem Freund sogleich verzeiht, gewiß, aber der unsinnige Schlag dürfte doch wohl eine tiefere, verdrängte Verletzung signalisieren.23 Jedenfalls: das Muster verlangt, daß der Sieger am heroischen Übermut stirbt, der ihn zum Sieger gemacht hat. Ich komme zum zweiten Szenario, zur Gegenmöglichkeit, zur Möglichkeit, daß man nicht aktiv zum Radikal-Anderen vorstößt, es im dämonischen Gegner angreift, um es zu besiegen und unterzugehen, sondern daß das Andere in die eigene Welt einbricht wie Grendel in die Halle Heorot. Das Muster kann wie im ›Beowulf‹ relativ einfach sein, man wehrt den Einbruch ab, muß aber eventuell doch dem Feind in seinen Bereich folgen, sich in seinen Abgrund wagen, wo es zur tödlichen Auseinandersetzung kommt.
23
Es sei im übrigen darauf hingewiesen, daß im späteren Artusroman, in der ›Mort Artu‹, der vergebliche Rat des Freundes, in der Not Hilfe zu holen, aufgegriffen und damit der Untergang des Königs an die Rolandsage angelehnt wird. Die einschlägigen Motive sind intertextuell austauschbar.
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Von besonderem Interesse aber ist eine komplexere Form, bei der wiederum die Ambivalenzen, die in der Konfrontation stecken, ins Spiel kommen. Dies ist dort der Fall, wo der Einbruch des Fremden sich als Brautwerbung unter umgekehrten Vorzeichen darstellt – in invertierter Analogie zur Verschränkung von Ungeheuerkampf und Brautgewinnung im ersten Muster. Die Brautwerbung eines fremden Königs, schillernd zwischen Bedrohung und Ausgleichsangebot, zwingt dazu, daß man sich auf das Fremde einläßt, sei es in Abwehr oder Selbstpreisgabe. Die Frage ist, ob das Fremde zu bewältigen ist, indem man ihm stattgibt. Wie weit darf man sich selbst entäußern, ohne sich zu verlieren? Der Zwiespalt der Situation ist auch hier das treibende Ferment. Als Musterfall das Mabinogi von Branwen:24 Dreizehn Schiffe aus Irland nähern sich der walisischen Küste. Bendigeidfran, der König des Landes, und sein Bruder Manawydan sitzen auf einem Felsen am Meer und sehen, wie ein schneller Wind sie hertreibt. Sie lassen ihre Mannen sich waffnen und schicken sie hinunter zum Strand. Man staunt über die prächtige Ausstattung der Schiffe, und dann sehen sie, daß auf dem vordersten ein Schild hochgehoben wird mit der Spitze nach oben: das Zeichen friedlicher Absicht. Man fragt nach dem Begehr der Fremden. Sie sagen, der irische König Matholwch komme mit dem Wunsch, Branwen, die Schwester von Bendigeidfran und Manawydan, zu heiraten und so die beiden Länder zu vereinigen. Die Waliser beraten sich und beschließen, dem Wunsch der Fremden stattzugeben. Ein großes Fest wird in Szene gesetzt, und als man müde ist vom Feiern, teilen Matholwch und Branwen das Lager. Bendigeidfran und Manawydan haben zwei Halbbrüder, einen guten und bösen, Nisien und Efnisien. Efnisien, der nicht mit im Rat war, ist mit der Heirat und der Vereinigung der beiden Reiche nicht einverstanden. Er verstümmelt die Pferde der Iren, indem er ihnen die Lefzen, Ohren und Augenlider abschneidet. Man kann die aufgebrachten Gäste nur mit Mühe dadurch versöhnen, daß man ihnen die Rosse ersetzt und zudem einen Wunderkessel gibt, der Tote, wenn man sie hineinwirft, wieder lebendig macht. Dann fahren die Iren heim, in Irland werden sie freudig empfangen, und Branwen macht sich als Königin beliebt, indem sie freigebig Geschenke verteilt. Sie wird schwanger und gebiert einen Sohn. Aber nach einem Jahr erinnern sich die Iren an die Beleidigung, die ihnen durch Efnisien zugefügt worden ist, man erniedrigt Branwen, sie muß Küchendienste tun, und der Koch schlägt sie jeden Tag, wenn er ihr das geschnittene Fleisch bringt. Alle Kontakte zu Wales werden unterbunden. In ihrer Not richtet Branwen einen Star ab und schickt ihn mit einem Brief im Gefieder nach Wales. Darauf brechen die Brüder mit ihren Kriegern nach Irland auf, wobei der riesige Bendigeidfran durch die See watet, da kein Schiff ihn tragen kann. Die Iren bekommen es mit der Angst zu tun, als sie die Masten der Schiffe sehen, die sich wie ein Wald ausnehmen, und Bendigeidfran, der ihnen wie ein wandernder Berg erscheint mit einer Nase wie einer Felsspitze und Augen wie zwei Seen daneben. Sie ziehen sich hinter einen Fluß zurück und brechen die Brücken ab. Aber Bendigeidfran legt sich darüber, und das Heer marschiert über ihn weg. Die Iren versuchen zu verhandeln. Die Waliser sind zur Versöhnung bereit unter der Bedingung, daß eine Halle errichtet wird, die so groß ist, daß Bendigeidfran darin Platz findet.
24
The Mabinogion, übers. v. Gwyn Jones u. Thomas Jones, London, New York 1949, S. 25–40.
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Dies geschieht; doch die Iren hängen an jede der hundert Säulen der Halle zwei Säcke, in denen Krieger stecken. Efnisien begibt sich als erster hinein und fragt, was in den Säcken sei, man antwortet, es sei Mehl, da geht er von Sack zu Sack, greift nach den Köpfen der darin versteckten Krieger und zerquetscht sie. Das große Versöhnungsfest kann beginnen. Die Iren bieten an, Branwens Sohn die Herrschaft zu übergeben. Eine friedliche Übernahme sozusagen. Aber Efnisien schleudert das Kind ins offene Feuer, und das gegenseitige Morden hebt an. Am Abend werfen die Iren ihre Toten in den Wunderkessel, so daß sie wieder lebendig werden und weiterkämpfen können. Da legt sich Efnisien zu den toten Iren und wird mit ihnen in den Kessel geworfen. Er streckt sich darin, zersprengt den Kessel, aber auch sein Herz zerspringt dabei. Nun vermögen die Waliser zwar zu siegen, aber nur wenige kommen davon. Bendigeidfran ist von einem vergifteten Speer am Fuß verwundet. Er befiehlt, daß man ihm den Kopf abschlage, ihn nach London bringe und ihn dort am Weißen Berg begrabe. So fahren sie heim, sieben Überlebende mit dem Kopf, dazu Branwen, die aber unterwegs stirbt aus Schmerz darüber, daß zwei Völker ihretwegen zugrunde gehen mußten. In Irland ist niemand am Leben geblieben außer fünf schwangeren Frauen, die sich in einer Höhle versteckt hatten. Das narrative Muster, dem das Mabinogi von Branwen folgt, wird auch hier in den Brüchen an der Erzähloberfläche sichtbar. Die Begründung dafür, daß Efnisien die Pferde der Iren verstümmelt, daß man ihn nämlich nicht zur Beratung über die Brautwerbung herangezogen hat, erscheint dürftig. So verständlich sein Ärger ist, er reicht als Grund für die Untat offensichtlich nicht aus, und so wird sie seinem üblen Charakter zugeschrieben. Das heißt: die Figur hat die Funktion, die vom Muster geforderte Konfliktträchtigkeit der Preisgabe Branwens heraufzubeschwören. Und diese Konfliktträchtigkeit wird noch dadurch verstärkt, daß die Waliser zur Kompensation für die Beleidigung ihren Wunderkessel, der unbesiegbar macht, abgeben müssen. So ziehen die Iren scheinbar versöhnt davon. Daß man sich dann plötzlich wieder an die alte Beleidigung erinnert und es gerade Branwen, die sich als Königin allgemein beliebt gemacht hat, entgelten läßt, bleibt ohne einsichtige Begründung. Es wird damit signalisiert, daß der Konflikt untergründig weiterschwelt. Handlungstechnisch hat ihre Erniedrigung die Funktion, die Brüder herbeizurufen. Sie kommen, und ihr Auftritt ist beängstigend. Man sucht erneut einen Ausgleich. Weshalb die Iren doch einen Hinterhalt legen, bleibt undurchsichtig, und als Efnisien die Krieger in den Säcken unschädlich macht, wird dies kommentarlos übergangen. Wieder handelt es sich nur darum, bewußt zu machen, daß die Bedrohung weiterbesteht, und der Vorschlag, die Macht über beide Länder dem Kind Branwens zu übergeben, erscheint zwar als salomonische Lösung, aber im Grunde bedeutet das doch die Herrschaftsübernahme durch die Iren. Efnisien erkennt das und tötet das Kind. Es bleibt nur noch das gegenseitige Sich-Abschlachten. Die Waliser siegen zwar durch das selbstmörderische Opfer Efnisiens, aber es ist ein bitterer Sieg. Die Oberflächenmotivationen versagen also auch hier immer wieder, so daß es zu Bruchstellen kommt, in denen das Muster aufscheint. Sich auf das Fremde einzulassen ist ein Wagnis, bei dem man seine Identität riskiert. Indem man sich dagegen sträubt, schwächt man sich weiter. Die Selbstpreisgabe ist jedenfalls Gewinn und Verlust zugleich, und jeder weitere Akt zeigt diesen Zwiespalt aufs neue. Versöhnungen wechseln mit Verrat. Und all dies gipfelt im Vorschlag, Branwens Kind die Herrschaft über beide
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Länder zu übertragen. Sieht man sie als eine irische Herrschaft, so ist Wales verloren. Verstünde man sie als eine positive Bewältigung des Konflikts, so könnte man über die Begegnung mit dem Fremden reicher werden. Für die Heldensage fällt diese zweite Möglichkeit aus, weil die radikale Andersartigkeit des Fremden das Szenario bestimmt. Der ,böse‘ Bruder verkörpert das Gesetz des Musters. Die auffällige Nähe des Mabinogi von Branwen zum Burgundenuntergang im ›Nibelungenlied‹ ist bekanntlich nicht unbeachtet geblieben.25 Bei allen Differenzen in der Motivation und in Einzelzügen ist die Übereinstimmung im narrativen Muster zu offenkundig, um zufällig zu sein: Vier königliche Brüder geben der Werbung eines fremden Königs um die Schwester statt, wobei einer der Brüder, der einen Sondercharakter besitzt, dies zu verhindern sucht – Hagen ist zwar im ›Nibelungenlied‹ kein Bruder mehr, im ›Alten Atlilied‹ hat er noch diese Position. Ein aufkeimender Konflikt wird beiseite geschoben. Die Schwester zieht in das fremde Land. Nach längerer Zeit, jedenfalls nach der Geburt eines Sohnes, wird der Konflikt wieder virulent. Die Brüder erscheinen im Land des Schwagers. Es droht eine bewaffnete Auseinandersetzung, Verrat ist im Spiel, und doch scheint eine Versöhnung nicht unmöglich. Das Kind könnte eine Vermittlungsfunktion übernehmen, aber der ,böse‘ Bruder tötet es. Es kommt zu einem mörderischen Kampf, bei dem mehr oder weniger alle umkommen. Auch die Schwester stirbt am Ende. Ein Machtinstrument spielt eine Rolle, ein Schatz, wobei das Motiv im Mabinogi offensichtlich dadurch verunklärt worden ist, daß man das Grundmuster mit der inselkeltischen Sage von der Fahrt nach einem Wunderkessel kontaminiert hat. Wenn man diesen Komplex ausklammert, ergibt sich, daß man zwar der Brautwerbung der Fremden stattgibt, ihnen aber den Schatz, der die Macht bedeutet, verweigert: der ,böse‘ Bruder schafft ihn beiseite, im Mabinogi zerstört der ,böse‘ Bruder den Kessel schließlich in Irland. In der Verweigerung bzw. der Zerstörung des Schatzes manifestiert sich die Selbstbewahrung gegenüber dem Einbruch und dem Anspruch des Fremden. Man geht am Ende siegend unter. Dabei spielt das Motiv der Selbstzerstörung eine merkwürdige Rolle: Die Versöhnungsaktionen an der Oberfläche werden immer wieder vereitelt, analog zum Muster mit dem aktiven Ungeheuerkampf. Wie sind die Übereinstimmungen zwischen ›Branwen‹ und dem zweiten Teil des ›Nibelungenliedes‹ verständlich zu machen? Die ältere Forschung hat versucht, über eine hypothetische Vorgeschichte einen historisch-geographischen Zusammenhang zu konstruieren.26 Da solche Bemühungen nur in fruchtlosen Spekulationen enden konnten, ist es um die Frage still geworden. Zudem erlahmte das Interesse an ihr, weil nicht plausibel zu machen war, daß der Vergleich mit dem Mabinogi von Branwen für das Verständnis des ›Nibelungenliedes‹ irgend etwas abwerfen könnte. Doch es geht eben nicht um konkrete genealogische Abhängigkeiten, sondern es geht auch hier um ein narratives Muster, das alteuropäisch-mittelalterlich zur Verfügung stand und das man unter Bewahrung der Grundzüge unterschiedlich auserzählen konnte. Es dürfte übrigens auch der Finnsburgsage zugrunde liegen,27 wenngleich es hier nur unklar-fragmentarisch zu fassen ist. 25
Vgl. Kurt Wais, Frühe Epik Westeuropas und die Vorgeschichte des Nibelungenliedes (Beiheft zur Zs. f. romanische Philologie 95), Tübingen 1953, S. 104–108. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 171–187.
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Wenn man also davon ausgeht, daß die Vorstufe des Burgundenuntergangs dem narrativen Muster, wie es in ›Branwen‹ auf uns gekommen ist, nahegestanden hat – sicherlich sehr viel näher als der dürftigen Reduktion des ›Alten Atliliedes‹, von dem man seit Heusler immer ausgegangen ist28 –, dann muß auffallen, wie konsequent bei der nibelungischen Umarbeitung all das ausgespart worden ist, was das Muster an Konfliktpotential enthielt. Etzel verkörpert nicht mehr das Fremde, das bedrohlich einbricht. Es geht um eine friedliche Brautwerbung in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Rahmen, und sie wird mit äußerster zeremonieller Sensibilität durchgespielt. Die Brüder sehen im Angebot des Hunnenkönigs eine Möglichkeit, Kriemhilt völlig zu versöhnen. Und es wird auch nicht über sie verfügt, vielmehr wird ihr Einverständnis eingeholt. Man rät ihr zu, schon aus schlechtem Gewissen. Es gibt also keinen Konflikt mehr im Ansatz, auch die kritische Schatzfrage wird beiseite geschoben. Man versichert Kriemhilt, daß sie ihn im Hunnenland nicht brauche, sie werde auch ohne ihn mächtig genug sein. Und wenn die Burgunden dann später der Einladung an den Etzelhof folgen, dann wieder unter der Voraussetzung, daß es sich um einen problemlosen Freundschaftsbesuch handelt. Das Muster wird also konsequent unterlaufen, sein heroisches Konzept, die Form zu sein für eine Auseinandersetzung mit dem RadikalAndern, ist ausgestrichen. An seine Stelle tritt die kausallogisch konsequente Planung Kriemhilts, die das entschärfte Muster als Deckmantel benützt, um ihre Rache durchzuführen. Kriemhilt bleibt mit der Ratio ihrer persönlichen Planung, wenngleich antagonistisch, auf derselben Ebene wie die Brüder mit ihrer rationalen Politik im Verkehr zwischen den Völkern. Kriemhilt hat mit der Einladung an die Brüder nichts anderes im Sinn, als Hagen in ihre Hand zu bekommen. Sie denkt ebensowenig wie die Brüder an die Möglichkeit einer allgemeinen Katastrophe. Wie und weshalb kommt es trotzdem dazu? Man sucht vergeblich nach einer zwingenden Logik. Handlungstechnisch jedoch ist nachvollziehbar, wie das Geschehen dem Untergang zutreibt. Denn es gibt einen, der Kriemhilts Absichten hellsichtig durchschaut: Hagen. Er hat schon gegen ihre Heirat mit Etzel Widerstand geleistet. Rational gesehen, hätte er sich dann bei der Einladung ins Hunnenland einfach verweigern und daheim bleiben können. Statt dessen übernimmt er die Muster-Rolle des ,bösen‘ Bruders. Wenn er also mit den Burgunden, die er erneut vergeblich warnt, ins Hunnenland zieht, dann von vornherein im Bewußtsein, daß es zur Katastrophe kommen wird. Dies jedoch nicht aus der Überzeugung, daß sich das alte heroische Muster gegen die zivilisatorische Ratio behaupten werde, vielmehr ist er es, der das alte Muster geradezu programmatisch in Szene, ja in sein Recht setzt. Er zerstört das Fährschiff an der Donau, so daß es keinen Rückweg mehr gibt. Er sorgt dann dafür, daß man bewaffnet am Etzelhof auftritt. Er vereitelt Kriemhilts Plan, den Konflikt auf ihre Rache an ihm zu beschränken. Sie kann 28
Wie sehr Heuslers Konstruktion der Vorgeschichte des ›Nibelungenliedes‹ in die Irre führt, wird besonders deutlich, wenn der Vergleich mit dem durch ›Branwen‹ faßbaren Muster offenkundig macht, daß es keine Vorstufe des Burgundenuntergangs gegeben haben kann, auf der die Heldin ihre Brüder an ihrem Mann gerächt hat. Das ist eine nordische Sonderform, die mit dem Motiv, daß die Heldin ihrem Mann die geschlachteten Kinder als Speise vorsetzt, auf antikes Sagengut zurückgreift. Wie das Muster zeigt, hing der Tod des Kindes immer schon an der Figur des ,bösen‘ Bruders. Kriemhilt ist erst zur Rächerin geworden, als der ›Nibelungenlied‹Dichter die Sigfridsage mit dem Burgundenuntergang verbunden hat.
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seiner nicht habhaft werden und wird gezwungen, den Völkerkampf in die Wege zu leiten. Er schreitet schließlich zu der für das Muster kritischen Tat: er tötet das Kind, und er bringt es am Ende so weit, daß Kriemhilt auf die Hortfrage verfällt. Und doch ist das, was Hagen hier inszeniert, nicht mehr das alte heroische Muster, wie es das Mabinogi von Branwen bestimmte. Denn die Figuren sind nicht mehr wie dort Funktionen des Schemas, sondern sie werden wider Willen in ihre Rollen hineingetrieben. Und gerade dies macht wiederum jene großartigen Gegenszenen möglich, in denen man sich dem Muster entziehen, d. h. sich weigern kann, im Fremden das Fremde zu sehen. Sogar Hagen vermag sich vom Muster, da er über ihm steht, freizumachen, so in der berühmten Schildgabeszene: Austausch über die Antagonismen hinweg als Darstellung und Überwindung des inneren Widerspruchs.29 Und so erscheint denn das Fremde, wenn es schließlich doch heraufbeschworen wird, in ganz neuer Form. Für Kriemhilt ist der Mord an Sigfrid schlicht ein Verbrechen, für das sie Strafe fordert. Wäre es ihr gelungen, Hagen bei ihrem ersten Vorstoß zu töten, hätte sich alles erledigt. Sie kann natürlich den Mord an ihrem Mann nicht im Zusammenhang des heroischen Musters sehen. Hagen hingegen pocht darauf, wenn er, Sigfrids Schwert auf den Knien, ihr trotzt. Kriemhilts rationales Kalkül versagt, und Hagen verhilft der in der Ratio steckenden Dialektik mit Hilfe des alten Musters zum Durchbruch. Er bewirkt, daß Kriemhilt zu einem Monstrum wird, aber zu einem Monstrum eigener Art, zu einer vaˆlandinne, einer Teufelin, d. h. zu einer völlig neuen Figur des Andern, denn sie ist nicht ungeheuerlich von Natur aus wie Prünhilt oder die dämonischen Weiber, die CuChulainn bezwingt. Es kommt vielmehr zu einer ethischen Wende: Das Andere wird zum Bösen – der Drache oder die Gewaltweiber sind ja nicht böse im moralischen Sinn. Und so endet denn alles statt in einem heroischen in einem häßlichen, einem entsetzlichen Untergang. Es führt also die Inszenierung des Andern über den dialektischen Umbruch der rationalen Planung zu einer Grenze, die sich als menschlicher Abgrund auftut. Wenn man bei dieser Planung das objektive Muster subjektiv zurückzulassen sucht, so muß dann, wenn dies mißlingt und das Muster zurückgeholt wird, auch die dortige Grenzfigur als Produkt eines subjektiven Prozesses erscheinen. Und hierin faßt man das, was der ›Nibelungenlied‹-Dichter mit dem Doppelspiel der Überwindung des objektiven heroischen Musters durch die Ratio und seiner Wiedereinsetzung unter subjektiven Bedingungen im Sinne hatte: eine Darstellung der Erfahrung des Andern nicht mehr als äußere, sondern als innere Grenze des Menschlichen, und dies in einem Zusammenhang, in dem man, positiv oder negativ, Probleme durch vernünftige Strategie innergesellschaftlich meinte bewältigen zu können. Indem der Dichter über die Figur Hagens das Muster der Erfahrung des Andern in der durch ›Branwen‹ belegten Form als zugleich erledigtes und verfügbares einsetzt, verwandelt er den einst heroischen Burgundenuntergang in ein Zeugnis für jene neue, subjektivierte Grenzerfahrung, die als eines der zentralen Themen der Literatur des 12./13. Jahrhunderts zu gelten hat. 29
Vgl. dazu die feinsinnig-kostbare Interpretation der Rüedeger-Hagen-Szene von Burkhard Hasebrink, „Aporie, Dialog, Destruktion. Eine textanalytische Studie zur 37. Aventiure des ›Nibelungenliedes‹“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, hg. v. Nikolaus Henkel, Martin H. Jones, Nigel F. Palmer, Tübingen 2003, S. 7–20.
2. ›Brandans Meerfahrt‹ und das Buch der Wunder Gottes Eine Reise besteht in der Regel aus Ausfahrt und Rückkehr, es sei denn, man bleibe unterwegs irgendwo auf der Strecke oder breche auf, um nie wiederzukehren. In Reiseerzählungen ist, auch wenn die Fahrt zum Ausgangspunkt zurückführt, meist die eine oder die andere Phase akzentuiert, so daß sich zwei Grundtypen abzeichnen: die Reise als Ausfahrt und die Reise als Heimkehr. Narrativ stellt sich dies konkret so dar, daß die Mühen und Schwierigkeiten, die von den Reisenden zu bewältigen sind, entweder auf dem Weg zum Ziel liegen oder aber als Hindernisse bei der Rückkehr erscheinen. Zum ersten Typus gehört z. B. der ›Alexanderroman‹, der sich ganz auf die Besiegung der Widerstände und die Bewältigung von Schwierigkeiten auf der Fahrt in den Osten konzentriert, während von der Heimkehr relativ kurz die Rede ist. Der Musterfall des zweiten Typus ist die ›Odyssee‹, bei der das Schwergewicht auf dem Rückweg ihres Helden nach Ithaka liegt.1 Kombinationen der beiden Typen sind eher ungewöhnlich. Es wäre immerhin an den ›Reinfried von Braunschweig‹ zu denken, bei dem sich eine Orientfahrt mit einer schwierigen Heimkehr verbindet.2 Einen eigentümlichen Sonderfall stellt Vergils ›Aeneis‹ dar, in der der Auszug der Trojaner und die Eroberung Latiums zugleich als Heimkehr in das Land der Väter hingestellt wird. Die Motive sind entsprechend bald dem einen und bald dem andern Typus entnommen. Die Karthagoepisode etwa ist ein typisches Heimkehrhindernis. Dido spielt die Rolle der Geliebten in der Fremde, die den Helden an sich binden will, aber schließlich doch zurückgelassen wird. Hingegen ist der Gewinn einer Frau im fernen Land, die Heirat mit Lavinia, ein typisches Auszugsziel. – Es gibt auch eine christliche Variante dieser Typen-Überlagerung: der Weg durch die Welt, verstanden als Rückkehr in die himmlische Heimat. Wenn das freilich mehr sein soll als eine bloße Metapher, d. h. wenn man diesen Heimweg erzählen will, muß man die Metapher allegorisch ausfalten. Der wohl berühmteste Fall: Die Schiffahrt des Odysseus, der, an den Mastbaum gebunden, an den Sirenen vorbeifährt, wird schon frühchristlich interpretiert als die Fahrt der Kirche mit Christus am Mastbaum des Kreuzes durch die Gefährdungen dieses Lebens hindurch zum Hafen der himmlischen Heimat.3 Auch die Heimkehr der Heiligen drei Könige, die auf die Aufforderung des Engels hin nach der Darbringung der Gaben in Bethlehem nicht zu Herodes zurückkehren, sondern den direkten Weg in ihre Heimat nehmen, konnte man in der Weise allegoretisch deuten, daß die Begegnung mit Christus direkt in die Heimat des Paradieses führt – so bei Otfrid von Weißenburg.4 1
Zum literarischen Typus der kritischen Heimkehr Uvo Hölscher, „Das letzte Abenteuer. Reflexionen zur Odyssee“, DVjs 60 (1986), S. 521–542. 2 Vgl. meine Studie „Von aˆventiure und minne zu Intrige und Treue. Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventürenromans im ›Reinfrid von Braunschweig‹“, in: Haug, Brechungen, S. 301–311, hier S. 306–308. 3 Dazu Hugo Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 31966, S. 281–328. 4 Vgl. meine Studie „Der Tag der Heimkehr. Zu einer historischen Logik der Phantasie“, in: Haug, Strukturen, S. 37–50, hier S. 43–45.
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Wenn man von solchen Überlagerungen absieht, kann man jedoch, wie gesagt, von zwei literarischen Grundtypen ausgehen, und das schließt in sich, daß durch die Akzentuierung der Ausfahrt oder der Heimkehr prinzipiell verschiedenartige Muster von Welterfahrung zur Anschauung gebracht werden. Die schwierige Heimkehr bietet eine Auseinandersetzung mit inneren wie mit äußeren Widerständen; der Held hat einerseits mit den Verlockungen der Ferne zu kämpfen – man denke an Odysseus bei Kirke oder Kalypso –, und er hat andrerseits Hindernisse zu bewältigen, die für die Distanz stehen, die er aufgrund der Erfahrungen zwischen sich und dem Status, von dem er ausgegangen ist, hergestellt hat. Die Rückkehr ist problematischer als die Ausfahrt, ja, sie kann tragisch enden. Es sei an die germanischen Heimkehrsagen von Dietrich und von Hildebrand erinnert, und möglicherweise führte auch die Sage von Walther und Hildegund ursprünglich in die Katastrophe.5 Der Heimkehrer ist zwar identisch mit dem, der einst ausgezogen ist, und er ist doch nicht mehr der Gleiche. Man verwandelt sich in der Begegnung mit dem Fremden. Nicht die Bewältigung der Erfahrungen in der Fremde ist hier das Problem, sondern ihre Integration in die Ausgangssituation, die sich aber unabhängig vom Helden inzwischen auch verändert haben kann. Am Ende der ›Odyssee‹ wie der ›Aeneis‹ steht ein Blutbad. Man will den Fremdgewordenen nicht wieder aufnehmen; Hadubrand weigert sich, seinen Vater anzuerkennen, und Dietrich wird um seine Heimkehrsiege betrogen. Es ist mühsam und vielleicht letztlich unmöglich, dahin zurückzukehren, von wo man gekommen ist. Und dies gilt desto mehr, je andersartiger die fremde Welt und je radikaler die Alteritätserfahrung ist, der man sich aussetzt. Die Fahrt gar in ein Jenseitsland erlaubt im Grunde keine Rückkehr. Wer von drüben zurückkommt und irdischen Boden berührt, zerfällt zu Staub.6 Der Auszug hingegen folgt einem simpleren Muster. Er ist in der Regel direkte Aktion, Bewältigung von Widerständen durch Mut, Kraft und Klugheit im Blick auf ein ganz bestimmtes Ziel in der Ferne. Die Brautwerbung ist ein typischer Fall. Sie verlangt Bravourtaten, die nicht nur den Anspruch des Tapfersten auf die Schönste legitimieren, sondern auch die äußeren Hindernisse, die um die Braut aufgerichtet sind, aus dem Weg zu räumen haben. Problematisch werden kann dieser Typus nur dadurch, daß man der Bewältigungstaktik des Helden Grenzen setzt, etwa dadurch, daß er sich in einer kritischen Szene der zu gewinnenden Frau ausliefern muß, wie König Rother in der Schuhepisode oder Tristan nach dem Drachenkampf. Auch Alexander macht eine entsprechende Erfahrung bei Candacis; und es ist dies nur eine unter mehreren Episoden, die seinem Eroberungsdrang kritisch Einhalt gebieten, am markantesten das ›Iter ad Paradisum‹: Als Alexander auf seinem Indienfeldzug bis zum irdischen Paradies vorstößt und auch dieses noch erobern will, muß er an dessen unüberwindlicher Mauer 5
Siehe meine Studie „Von der Schwierigkeit heimzukehren. Die Walthersage in ihrem motivgeschichtlichen und literaturanthropologischen Kontext“, in: Verstehen durch Vernunft. FS Werner Hoffmann, hg. v. Burkhardt Krause, Wien 1997, S. 129–144. Ein Paradefall der problematischen Rückkehr ist CuChulainns Heimfahrt nach der Besiegung der Söhne der Nechta; dazu meine Studie „Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungsgeschichtliche Überlegungen zur heroischen Dichtung“, in: Haug, Brechungen, S. 72–90, hier S. 79–81. 6 Zu diesem Motiv Wilhelm Hertz, Spielmannsbuch, Stuttgart, Berlin 31905; Anmerkung zu ›Guingamor‹: S. 387–389.
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umkehren und die Lehre mitnehmen, daß sein ganzer Ehrgeiz leere Eitelkeit ist, die sich beim Tod in nichts auflösen wird.7 Der literarische Typus der Reise findet also seine höchste und erzählerisch interessanteste Möglichkeit darin, daß der Held, sei es beim Auszug oder sei es bei der Heimkehr, erkennen muß, daß das Fremde nicht ohne weiteres integrierbar ist, daß die Begegnung mit dem Fremden, dem Andern, in eine Krisensituation führt, die ihn verändert, ja, die letztlich Selbstpreisgabe verlangt, eine Erfahrung also, bei der Gewinn zugleich Verlust bedeutet. Man kann die Problematik des scheinbar fraglosen Gewinnens und Siegens narrativ auch dadurch ins Bild bringen, daß man den erreichten Status als instabil hinstellt, so daß die Ausfahrt wiederholt werden muß, und dies unter veränderten Vorzeichen, die der beschriebenen Widersprüchlichkeit Rechnung tragen. So verliert König Rother seine Frau nach der Heimkehr wieder, und er muß erneut ausziehen, um sie ein zweites Mal zu gewinnen, wobei nun nicht mehr die heroisch kühne Tat, sondern das Ausgeliefertsein im Vertrauen auf Gottes Hilfe im Zentrum steht. Auch der arthurische Roman verfährt bekanntlich nach diesem Muster: der zweite Auszug des Helden führt die Aporie vor, der man letztlich bei der Erfahrung des Andern nicht entgehen kann.8 Diese Grundformen: Auszug und Heimkehr, einschließlich gewisser Überlagerungen, scheinen die Möglichkeiten von Reiseerzählungen abzudecken – Reiseerzählungen im strengen Sinn genommen, denn historisch-geographische Reiseberichte, wie der ›Periplus Maris Erythraei‹, Arrian, Ktesias, stehen auf einem andern Blatt, wenn die Grenze auch nicht immer sauber zu ziehen ist. Und doch sind die Möglichkeiten, von Reisen zu erzählen, damit noch nicht erschöpft. Denn quer dazu steht ein irischer literarischer Typus, der in der altirischen Gattungspoetik unter der Bezeichnung ,Imram‘ geführt wird.9 Ein Imram, zu deutsch: ,Herumruderei‘, ist eine Meerfahrt, erzählt in Form von aneinandergereihten Inselepisoden, bei denen das, was den Reisenden jeweils begegnet, hilfreich-erfreulich oder bedrohlich-verderblich sein kann. Die Anlässe für diese Imrama sind sehr verschieden, die Bedeutung des Ausgangsmotivs ist aber eher marginal, denn das Interesse liegt ganz bei den einzelnen Inselabenteuern, die unterwegs auf die Meerfahrer zukommen.10 So zieht der Held des ›Imram Maelduin‹ aus, um die Mörder seines Vaters zu finden und sich an ihnen rächen. Nach langer Fahrt – es sind insgesamt 34 Inselepisoden – erreicht er sie schließlich auch, aber nur, um ihnen auf den Rat eines heiligen Mannes hin zu verzeihen und darauf nach Hause zurückzukehren.11 Als Anlaß für den Imram der drei Ui Corra wird gesagt, daß sie sich über den Lauf der Sonne gewundert hätten 7
Vgl. meine Studie „Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten“, in: Haug, Strukturen, S. 236–256, hier S. 238–240. 8 Siehe meine Studie „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 172–184. 9 Siehe dazu Heinrich Zimmer, „Keltische Beiträge II. Brendans Meerfahrt“, ZfdA 33 (1889), S. 29–220, S. 257–338, hier S. 144f. 10 Das hat schon Zimmer, ebd., S. 146, als Charakteristikum festgehalten. 11 „The Voyage of Mael Duin“, hg. v. Whitley Stokes, Revue celtique 9 (1888), S. 447–495; 10 (1889), S. 50–95; Immrama, hg. v. Anton G. van Hamel, Dublin 1941, S. 20–77.
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und sehen wollten, wohin sie geht, wenn sie in den Ozean taucht, aber von diesem neugierigen Antrieb ist dann nicht mehr die Rede.12 Der Imram ist also ein Reisen nicht um eines Ziels, sondern um dessentwillen, was einem unterwegs begegnet, und die Vorkommnisse üben eine um so größere Faszination aus, je wunderbarer und phantastischer sie sind. Der Reiz liegt also ganz im Ungewöhnlichen und Überraschenden der einzelnen Episoden, so daß sie sich auf der Fahrt von Insel zu Insel ohne Zusammenhang und ohne strukturierte Abfolge aneinanderreihen können. Es genügt, einige wenige Szenen aus einem solchen Imram zu beschreiben, um den Charakter des Typus anschaulich zu machen. Ich wähle den ›Imram Maelduin‹.13 Vorweg jedoch die Ausgangssituation: Als Maelduin sich zu seiner Rachefahrt aufmachen will, besucht er einen Druiden, um von ihm den richtigen Zeitpunkt für den Bau seines Schiffes und den Beginn der Reise zu erfragen. Der Druide gibt Auskunft und fügt hinzu, daß er genau 17 Gefährten mitnehmen solle. Als Maelduin dann aufbricht, erscheinen seine drei Pflegebrüder, die auch mitfahren möchten. Maelduin weist sie ab, aber da sie dem Schiff nachschwimmen, sieht er sich gezwungen, sie an Bord zu holen, wenn er sie nicht ertrinken lassen will. Schon nach einem Tag erreicht man die Inseln der Mörder, aber wegen der drei Überzähligen treibt der Wind das Schiff wieder ab. Und damit beginnt die eigentliche Episodenreihe: Maelduin gelangt zu einer Insel mit Ameisen, die so groß sind wie Pferde: man flieht so schnell wie möglich. Die nächste Insel ist voll von hohen Bäumen mit Vögeln, die die Meerfahrer fangen und zum Essen zubereiten können. Dann trifft man auf eine Insel mit einem Pferd, das Hundepfoten und Krallen hat. Da es droht, das Schiff aufzufressen, fährt man eilig davon. Es folgt eine Insel, auf der Dämonen Pferderennen veranstalten, dann eine Insel mit einem menschenleeren Haus, in dem Tische gedeckt und Lager bereitet sind. Maelduin und die Seinen erfrischen sich, aber es erscheint niemand, bei dem sie sich bedanken könnten. Als Maelduin an der nächsten Insel vorbeifährt, reißt er einen Zweig ab, an dem in drei Tagen drei Äpfel wachsen, von denen jeder vierzig Tage lang sättigt. Dann kommt eine Insel, auf der ein Tier in Windeseile herumrast und sich dabei in seiner eigenen Haut dreht. Es wirft dem flüchtenden Schiff Steine nach. – Und in dieser Weise geht die Fahrt von Insel zu Insel weiter. Von besonderem Interesse ist die 11. Episode: Maelduin landet an einer Insel mit einer hohen weißen Mauer und weißen Häusern. Sie sind menschenleer, doch im größten Haus treffen sie auf eine Katze. Sie finden zu essen und zu trinken und ein gutes Lager. An der Wand des Raumes hängen kostbare Broschen, Halsketten und Schwerter. Entgegen der Mahnung Maelduins nimmt einer der Pflegebrüder eine Halskette. Da fährt die Katze wie ein feuriger Pfeil durch ihn hindurch und verbrennt ihn zu Asche. Auch die beiden andern Überzähligen gehen im Lauf der Fahrt verloren. Den zweiten Pflegebruder trifft das Los, eine Insel zu erkunden, auf der sich schwarze, wehklagende Menschen befinden. Als er das Land betritt, fängt er sogleich an mitzuklagen und kann nicht mehr zurückgeholt werden. Der dritte Pflegebruder geht verlo12
„The Voyage of the Hu´i Corra“, hg. v. Whitley Stokes, Revue celtique 14 (1893), S. 22–69; Immrama [Anm. 11], S. 93–111. Siehe auch meine Studie „Vom Imram zur Aventiure-Fahrt“, in: Haug, Strukturen, S. 379–408, hier S. 394. 13 Gesamtanalyse: ebd., S. 386–390. Danach die Episodenzählung.
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IV. Diverses
ren, als er eine Insel betritt, auf der die Leute nur spielen und lachen. Er bleibt lachend zurück. Erst nachdem die drei Überzähligen eliminiert sind, kann das Ziel erreicht und die Reise beendet werden. Das Motiv der Überzähligen hat also erzähltechnisch eine retardierende Rahmenfunktion. Es schafft Raum für eine beliebige Zahl von Episoden. Zugleich aber geht es wohl auch um eine Art Tribut der Reisenden gegenüber dem unbegreiflich Fremden. Man kann ihm nicht völlig unbeteiligt begegnen. Man ist doch involviert, man muß gewisse Risiken eingehen, es werden Opfer verlangt. Die Überzähligen sind dazu ausersehen. Ja, die Ereignisse, die auf die Imram-Fahrer von außen zukommen, wirken immer wieder wie Projektionen innerer Ängste und Sehnsüchte – eine ambivalente Phantastik, die wohl ihre Resonanz im Unbewußten findet und letztlich von daher ihre Faszinationskraft bezieht. Dem entspricht das Surreale vieler Episoden, ihre ordnungslose Abfolge und die geringe Bedeutung des Fahrtziels. Und dies ist es denn auch, was den Imram wesentlich von der Reise als Ausfahrt oder Heimkehr unterscheidet, auch wenn sich da gelegentlich vergleichbare Sequenzen finden mögen. Es gibt keine Integration des Fremden mit der entsprechenden Erfahrungskrise, das Fremde bleibt vielmehr befremdlich, sei es rätselhaft unverständlich oder beglückend wunderbar. Wenn es zu einem Schock kommt, bleibt er punktuell und folgenlos. Man ist bedroht oder verführt; man flieht oder man genießt. Die Erfahrungen verändern die Reisenden nicht. Die Imram-Literatur ist mit irischen Mönchen auf den Kontinent gelangt und hat ihren Niederschlag in der Brendan/Brandan-Legende gefunden. Sie ist in zwei Formen auf uns gekommen, einmal in der lateinischen ›Navigatio Sancti Brendani Abbatis‹ mit ihren Übersetzungen in die Vulgärsprachen und zum andern in einer wohl ursprünglich mittelfränkischen Neufassung,14 die man gegenüber der ›Navigatio‹ als ›Brandans Meerfahrt‹ oder als ›Reisefassung‹ bezeichnet und deren Verbreitung auf den niederländischen und den nieder- und hochdeutschen Bereich beschränkt geblieben ist. Die ›Navigatio Sancti Brendani‹ war ein mittelalterlicher Bestseller.15 Carl Selmer, der 1959 die kritische Ausgabe veröffentlicht hat,16 datierte sie ins 10. Jahrhundert.17 Die Handschriftentradition weist nach Lothringen; der Verfasser war höchstwahrscheinlich ein irischer Mönch.18 Die Legende knüpft an den historischen Brendan an, einen irischen Abt und Klostergründer aus dem 6. Jahrhundert, der auch Reisen unternommen hat: so nach Wales und Schottland.19 Die ›Navigatio‹ schickt ihn auf eine Meerfahrt zur Terra Repromis14
Siehe die vorsichtige Bestimmung der Provenienz durch Hartmut Beckers, „Die mittelfränkischen Rheinlande als literarische Landschaft von 1150 bis 1450“, ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 19–49, hier S. 24. 15 Glyn S. Burgess u. Clara Strijbosch, The Legend of St Brendan. A Critical Bibliography, Royal Irish Academy 2000, S. 13–20, notieren 125 Handschriften vom 10. bis zum 17. Jahrhundert. 16 Navigatio Sancti Brendani Abbatis from early Latin Manuscripts, hg. v. Carl Selmer (Publications in Mediaeval Studies 16), Notre Dame/IN 1959. 17 Ebd., S. XXVIII. Die Datierung ist nicht unumstritten; vgl. Burgess u. Strijbosch [Anm. 15], S. 13. 18 Ebd. 19 Navigatio [Anm. 16], S. XVII–XIX.
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sionis Sanctorum, dem ,Land der Verheißung‘, also zum Paradies. Der Anlaß ist der Bericht eines gewissen Barindus, der dort gewesen ist und dieses Land so verlockend schildert, daß Brendan es unbedingt selbst sehen möchte. Die Fahrt folgt dem ImramMuster; sie erscheint also als eine Folge von Inselabenteuern, wobei eine ganze Reihe von Episoden mehr oder weniger mit solchen aus dem ›Imram Maelduin‹ übereinstimmt.20 Signifikant ist gleich der Auftakt: Brendan macht sich mit 14 Klosterbrüdern auf die Fahrt, er nimmt aber dann noch drei weitere Mönche auf, die, wie zu erwarten, unterwegs verloren gehen. Aus den 23 Inselepisoden wiederum zur Illustration nur einige Beispiele:21 Brendan und seine Mönche kommen zu einer menschenleeren Stadt, wo Speisen für sie bereit stehen, dann zu einer Insel voller Schafe, dann zu einer bewachsenen Insel, die sich als ein Fisch erweist, der abtaucht, als die Mönche ein Feuer machen, dann zu einer Insel mit einem Baum voller Vögel, die erklären, sie seien die Engel, die bei der Rebellion Luzifers neutral geblieben seien, dann kommen sie zu einem Inselkloster und sehen darauf einen Kampf von Meerungeheuern. An einer bestimmten Stelle ist das Meer durchsichtig, in der Tiefe sieht man furchterregende Tiere, dann stößt man auf eine himmelhohe Säule, über die ein Silbernetz gespannt ist, dann auf eine Insel mit Schmieden, die feuriges Metall nach dem Schiff werfen usw., bis Brendan schließlich die Terra Repromissionis erreicht, eine lichtüberflutete, fruchtbare Insel, in die er aber nicht eindringen kann. Nachdem er dieses Ziel erreicht hat, kehrt er nach Irland zurück, wo er stirbt. Man hat es also mit der charakteristischen Episodenreihe des Imram-Typus zu tun, wobei, wie gesagt, eine Menge Motive auftauchen, denen man auch in der ImramTradition, insbesondere im ›Maelduin‹ begegnet. Ich habe den Zusammenhang zwischen der Brendan/Brandan-Legende und den irischen Imrama in einer Arbeit von 1970 untersucht,22 und meine Ergebnisse sind inzwischen durch die Brendan-Monographie von Clara Strijbosch im großen ganzen bestätigt worden.23 Ich brauche also meine Analyse hier nicht nochmals aufzunehmen, sondern darf mich darauf beschränken, die Ergebnisse kurz in Erinnerung zu rufen: Abgesehen vom signifikanten Rahmenmotiv der drei Überzähligen findet sich in der zweiten Hälfte des ›Imram Maelduin‹ ein ganzer Episodenblock, der unverkennbar in die ›Navigatio‹ übernommen worden ist. Dabei ist einiges in der ›Navigatio‹ klarer erzählt als in dem uns sehr viel später überlieferten ›Imram‹, was sich im übrigen z. T. durch den ›Imram Ui Corra‹ absichern läßt, zu dem es ebenfalls Entsprechungen gibt. Die ›Navigatio‹ muß also stoffgeschichtlich mit einer Vorstufe des ›Imram Maelduin‹, oder wie immer diese geheißen haben mag, zusammenhängen, einer Vorstufe, die vielleicht hauptsächlich aus der Episodenfolge bestand, wie der zweite Teil des ›Maelduin‹ sie bietet. Formal gesehen, folgt die ›Navigatio‹, wie gesagt, dem Imram-Prinzip der Reihung unverbundener Inselepisoden. Neu, auch ihrer Bedeutung nach, sind jedoch der Anlaß 20
Siehe die Gegenüberstellungen bei Haug [Anm. 12], S. 406 und S. 408. Siehe die Episodenliste ebd., S. 381f. 22 Haug [Anm. 12]. 23 Clara Strijbosch, De bronnen van De reis van Sint Brandaan, Hilversum 1995; englisch: The Seafaring Saint. Sources and Analogues of the Twelfth-Century Voyage of Saint Brendan, Dublin, Portland/OR 2000 [ich zitiere nach der englischen Ausgabe]. 21
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und das Ziel der Fahrt. Das Motiv, daß jemandem von einem wunderbaren Jenseitsland berichtet wird und dieser dann aufbricht, um es zu suchen, stammt aus einem andern irischen Literaturtyp, der in der Gattungspoetik als ,echtra‘ bezeichnet wird, was zwar schlicht ,Abenteuer‘ heißt, aber konkret vor allem Jenseitsfahrten meint.24 Auch die Schilderung der Terra Repromissionis erinnert an Beschreibungen des altirischen Jenseitslandes. Das Ziel der ›Navigatio‹ ist also nicht von der Beiläufigkeit der Imramziele, auch wenn die Terra Repromissionis nicht ein Ort des Bleibens ist, da man ja nicht lebend ins Paradies eingehen kann. Was das Motiv der drei Überzähligen betrifft, so ist es in der ›Navigatio‹ erzähltechnisch funktionslos geworden. Dies deshalb, weil die Fahrt von einer neuen Struktur überlagert erscheint. Es werden nämlich die großen kirchlichen Feste von Brendan und seinen Mönchen immer wieder an denselben Orten gefeiert – so das Abendmahl am Gründonnerstag auf der Schafsinsel, die Osternacht auf der Fischinsel, die Zeit von Ostern bis nach Pfingsten auf der Vogelbauminsel, Weihnachten im Inselkloster. Und dies über sieben Jahre hin, so daß man also, ohne daß dies auserzählt würde, siebenmal im Kreis fährt. Offensichtlich hat man es mit einer symbolischen Überformung des Imram-Typus zu tun. Man wird an eine Lebensfahrt über die sieben Altersstufen denken dürfen, eine Fahrt durch gute und böse Welterfahrungen, bei der man auch verloren gehen kann – dies die neue Bedeutung des Motivs von den Überzähligen –, eine Fahrt aber gehalten und gesichert durch die Feste des Kirchenjahres, die die Heilsgeschichte spiegeln. Und auch das Erreichen des Ziels, des Lands der Verheißung, kann nur symbolische Realität besitzen. Denn konkret kehrt Brendan, sobald er es erreicht hat, wie gesagt, in die Heimat zurück, um dort zu sterben. Hinzu kommt, daß Brendan nicht mehr der mit den Inselabenteuern überraschend konfrontierte Imramheld ist, vielmehr durchschaut er in überlegener Weisheit alle Situationen und kann vorbeugende Maßnahmen treffen. Es gibt für ihn nicht mehr das überwältigend Fremde. Es steht alles im Dienste einer letztlich vom christlichen Glauben getragenen Lebensfahrt. Damit ist das Imram-Konzept mit seiner Episodenreihe als Faszinosum und d. h. als Selbstzweck preisgegeben. Und es ist offenkundig, mit welcher Absicht dies geschehen ist: man hat den altirischen Imram in die Perspektive der christlichen Heimkehrallegorese gestellt, diese hat ihm ihren Sinn aufgeprägt und den Charakter der Meerfahrt entsprechend verwandelt. Während sich dieses Konzept in der ›Navigatio‹-Tradition im Prinzip gehalten hat, ist es in der ›Reisefassung‹ zu einer grundlegenden Umgestaltung der Legende gekommen. Diese Neukonzeption ist in drei Redaktionen überliefert, die mit erheblichen gegenseitigen Abweichungen nach gängiger Auffassung unabhängig voneinander auf einen gemeinsamen Archetypus zurückweisen,25 wobei das Original wohl im späteren 12. Jahrhundert anzusetzen ist.26 Es handelt sich um: l. eine mittelniederländische Verserzählung in zwei im einzelnen differierenden Handschriften des 14. bzw. 15. Jahrhunderts (C und 24
Zimmer [Anm. 9], S. 146. Strijbosch [Anm. 23], S. 4–11. 26 Siehe Barbara Haupt, „Welterkundung in der Schrift. Brandans ,Reise‘ und der ,Straßburger Alexander‘“, ZfdPh 114 (1995), S. 321–348, hier S. 343. 25
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H),27 2. eine deutsche, ebenfalls gereimte Fassung in einer mitteldeutschen (M)28 und einer niederdeutschen Form (N)29 aus dem 14. Jahrhundert, und 3. eine Prosaauflösung (P)30 des 14./.15. Jahrhunderts, die in fünf Handschriften und zahlreichen Drucken überliefert ist.31 Es ergibt sich folgendes Stemma:32
27
Van Sente Brandane naar het Comburgsche en het Hulthemsche Handschrift, hg. v. Ernst Bonebakker, Amsterdam 1894. C: De Reis van Sint Brandaan. Een reisverhaal uit de twaalfde eeuw, hg. v. Willem P. Gerritsen u. Soetje Oppenhuis de Jong, Amsterdam 1994. Zu weiteren Editionen siehe Burgess u. Strijbosch [Anm. 15], S. 61–66. 28 Sanct Brandan. Ein lateinischer und drei deutsche Texte, hg. v. Carl Schröder, Erlangen 1871, S. 49–123. 29 Torsten Dahlberg, Brandaniana. Kritische Bemerkungen zu den Untersuchungen über die deutschen und niederländischen Brandan-Versionen der sog. Reise-Klasse. Mit komplettierendem Material und einer Neuausgabe des ostfälischen Gedichts (Göteborger Germanistische Forschungen 4), Göteborg 1958, S. 106–140. 30 Sanct Brandan [Anm. 28], S. 161–196. 31 Zu den Drucken Wilhelm Meyer, Die Überlieferung der Deutschen Brandanlegende. I. Prosatext, Diss. Göttingen 1918, S. 55–98; zur hsl. Überlieferung S. 99–113; Karl F. Freudenthal, „Ein Beitrag zur Brandanforschung. Das Abhängigkeitsverhältnis der Prosatexte“, Niederdeutsche Mitteilungen 28 (1972), S. 78–92; Sankt Brandan. Zwei frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck von Anton Sorg (um 1476) und Die BrandanLegende aus Gabriel Rollenhagens ,Vier Büchern Indianischer Reisen‘, hg. v. Rolf D. Fay, Stuttgart 1985, S. X–XII. Nicht berücksichtigt in den Stemmata bei Freudenthal und Fay: Reinhard Hahn, „Ein neuer Zeuge der oberdeutschen Redaktion von Brandans Reise (P)“, Daphnis 27 (1998), S. 231–261. Zu den Editionen siehe Burgess u. Strijbosch [Anm. 15], S. 61–67. 32 Siehe die Begründung bei Strijbosch [Anm. 23], S. 8–10, S. 253–259. 33 P ist als Sammelsigle für die hsl. und gedruckten Zeugnisse der Prosafassung zu verstehen. Vgl. Anm. 31.
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IV. Diverses
*M/N haben, verglichen mit *C/H und *P, gekürzt, was nicht heißt, daß nicht gelegentlich originale Züge besser als anderweitig bewahrt worden wären. Die mittelniederländische Redaktion und P stehen sich immer wieder sehr nahe, d. h., daß *X, die verlorene Versvorlage der Prosa *P, den Archetypus recht getreu wiedergegeben haben dürfte, ohne daß er freilich durchwegs das Ursprüngliche geboten haben kann. Was den originalen Bestand an Episoden und ihre Reihenfolge betrifft, so hat Clara Strijbosch eine Rekonstruktion versucht, indem sie das obige dreigliedrige Stemma zugrunde legte und jene Episoden für das Gedicht des 12. Jahrhunderts in Anspruch nahm, die in mindestens zwei der Überlieferungszweige erscheinen.34 Das Ergebnis ist im großen ganzen überzeugend, doch bleiben, wie zu zeigen sein wird, Fragen offen. Wie verhält sich die ›Reisefassung‹ zur ›Navigatio‹? Zu etwa der Hälfte der Episoden in der ›Reise‹ lassen sich Entsprechungen in der ›Navigatio‹ finden, aber die Reihenfolge ist völlig verändert, und es ist eine ebenso große Zahl neuer Inselabenteuer aus unterschiedlichen Quellen hinzugekommen. Besonders auffällig ist ein starker Motivschub aus der Visionsliteratur: Da gibt es eine Insel mit dürstenden Seelen, eine andere mit brennenden Seelenvögeln, Brandan tut Blicke in die Hölle und in den Himmel; er sieht, wie Michael mit Teufeln um die Seelen Verstorbener kämpft. Diese in die Meerfahrt eingestreuten Visionsmotive – es ergibt sich aber wohlgemerkt kein visionskosmisches Gesamtbild – verschieben den Charakter der ›Reise‹ gegenüber dem Imram-Typus massiv ins Geistliche. Andrerseits tauchen aber auch neue Imram-Motive auf, d. h. Motive, die im ›Imram Maelduin‹ oder im ›Imram Ui Corra‹ begegnen, in der ›Navigatio‹ aber fehlen.35 Diese Sachlage macht es fraglich, daß die uns überlieferte ›Navigatio‹ dem Autor der ›Reisefassung‹ vorgelegen hat. Könnte er eine Vorstufe der ›Navigatio‹ benützt haben, die noch Imram-Motive enthielt, die später ausgeschieden worden sind? Aber von einer solchen Proto-›Navigatio‹ gibt es keine schriftliche Spur. Man möchte eher annehmen, daß dem Autor der ›Reise‹ die Brendan-Legende – auf was für einer Stufe auch immer – mündlich vermittelt worden ist und daß ihm ebenfalls aus mündlichen Quellen weitere Imram-Materialien zugänglich waren. Doch wie dem auch sei, wichtiger als solche Mutmaßungen zur Genese ist das neue Konzept, dem der ›Reise‹-Autor die Meerfahrt des irischen Abtes unterworfen hat. Die Anlehnung an die christliche Heimkehrallegorie fehlt und mit ihr die siebenmalige Rundreise im Blick auf den kirchlichen Festkalender. Stattdessen wird ein neuer Anlaß und Zweck der Fahrt erfunden – eine Motivation, die wohl einmalig ist. Man pflegt das neue Konzept folgendermaßen zu umreißen: Brandan liest ein Buch über die Wunder Gottes in der Welt und findet es so unglaubwürdig, daß er es voller Zorn ins Feuer wirft. Da erscheint ein Engel36 und befiehlt ihm, auszufahren, um das, was er unglaublich fand, mit eigenen Augen zu sehen, es aufzuschreiben und damit das verbrannte Buch zu ersetzen. So sticht er in Begleitung einer Schar von Mönchen in See und fährt von Insel zu Insel, sieht all das, was er nicht für wahr gehalten hat, und läßt es auf34
Strijbosch [Anm. 23], S. 12–26. Haug [Anm. 12], S. 394. 36 Übereinstimmend C, N und P (H fällt aus, da der Anfang der Hs. verloren ist). In M hingegen ist es die Stimme Gottes selbst, die den Befehl gibt. 35
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schreiben. Als er alles gesehen hat, kehrt er mit dem neuen Buch nach Hause zurück, worauf Gott ihn zu sich in die Ewigkeit ruft. Dieses Abstract, mit dem die Interpreten der ›Reisefassung‹ üblicherweise operieren, ist insofern irreführend, als es Differenzen zwischen den verschiedenen Fassungen überspielt, die bei genauerer Betrachtung Probleme aufwerfen.37 In C und M ist nämlich zunächst davon die Rede, daß Brandan eine Reihe von Büchern liest, in denen er unglaubwürdige Wunder findet, bis er schließlich das letzte dieser Bücher ins Feuer wirft. N und P hingegen sprechen von einem einzigen Buch, eben jenem, das dann auch verbrannt wird. Noch auffälliger ist, daß Brandan nur in N explizit die Anweisung erhält, das verbrannte Buch neu zu schreiben.38 In den andern Fassungen wird von ihm nur verlangt, daß er aufbreche, um, was ihm unglaublich erschien, mit eigenen Augen zu sehen, und wenn dabei in C (v. 75) und M (v. 69) vermerkt wird, daß er das Buch gelden mußte, dann heißt das selbstverständlich nur, daß er für seine Untat zu büßen hatte, nicht aber, daß er das Buch ersetzen sollte. Und doch wird dann berichtet, daß Brandan die Wunder, die er sieht, aufschreiben läßt, und am Ende wird gesagt, daß die Mönche das Buch vom Schiff ans Land tragen (C, H, M) oder daß man es auf dem Marienaltar der Klosterkirche niederlegt (P, C und H nehmen dies in Episode 3139 vorweg). Doch gerade in N ist davon nicht die Rede.40 37
Ich will mich selbstkritisch an erster Stelle nennen: 2VL 1, Sp. 989. Hannes Kästner, „Der zweifelnde Abt und die Mirabilia descripta: Buchwissen, Erfahrung und Inspiration in den Reiseversionen der Brandan-Legende“, in: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. v. Xenja von Ertzdorff u. Dieter Neukirch (Chloe 13), Amsterdam, Atlanta/GA 1992, S. 388–416, hier S. 395, überträgt den göttlichen Auftrag, das verbrannte Buch zu ersetzen, ohne weiteres auf M. – Haupt [Anm. 26], S. 323, schreibt: „Brandan [sucht] in selzeˆnen buˆchen (V. 22) Nachrichten über die wunder Gottes (V. 231). Was er da liest, erscheint ihm jedoch so unglaubwürdig, daß er vor Zorn das Buch (!) verbrennt“. Sie macht also mit dem Ausrufungszeichen auf ein Problem aufmerksam, verfolgt es aber nicht weiter. Darauf referiert sie zutreffend, daß Brandan ausfahren muß, um die bezweifelten Wunder selbst zu sehen, sagt dann aber bedenkenlos: „Das Buch, das Brandan ins Feuer geworfen hatte, schreibt er während der Reise neu“. – Ingrid Kasten, „Brandans Buch“, in: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. FS Helmut Birkhan, hg. v. Christa HabigerTuczay u. a., Bern, Berlin u. a. 1998, S. 49–60, hier S. 52f., hält fest, daß nur N den Schreibbefehl kennt, aber auch sie setzt dann die Niederschrift des „Reisetagebuches“ in den übrigen Fassungen unausgesprochen einem göttlichen Auftrag gleich. – Strijbosch [Anm. 23], S. 19f., notiert zwar, daß es sich in N und P um ein Buch, in C und M aber um mehrere Bücher handelt, aber sie übergeht, daß nur in N von einem Auftrag die Rede ist, das verbrannte Buch neu zu schreiben; siehe auch S. 245. 39 Episodenzählung nach Strijbosch [Anm. 23], S. 13. 40 Diese Differenzen werden, selbst wenn sie festgestellt werden, durchwegs sogleich wieder im Sinne des Abstracts eingeebnet. Ein Beispiel: Peter Strohschneider, „Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Erfahrungswissen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende“, Scientia Poetica 1 (1997), S. 1–34, notiert S. 13f., daß Brandan zunächst in mehreren Büchern von Wundern liest, dann aber nur ein Buch verbrennt, und er übersieht auch nicht, S. 15, Anm. 82, daß der Auftrag zur Wiederherstellung des Buches nur in N erscheint, aber im folgenden spricht er dann immer wieder nur von dem einen verbrannten Buch, und in der Niederschrift der erfahrenen Wunder sieht er doch durchwegs die Absicht, dieses Buch zu ersetzen; vgl. insbes. S. 15–17; oder S. 19 heißt es: „Die Erfahrungen des Bußweges beglaubigen den Inhalt des verbrannten Buches einerseits durch Autopsie. (. . . ) Die Autopsie der Wunder der Welt stiftet jene Einsicht in Gottes Schöpfungsunendlichkeit, welche die Lektüre der Schrift selbst versagt 38
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Wenn man diese Angaben nicht kontaminiert, sondern die Besonderheiten der einzelnen Versionen ernst nimmt, ergeben sich zwei differierende Konzepte. Geht man davon aus, daß Brandan in mehreren Büchern von Gotteswundern liest, macht es keinen Sinn, von ihm zu verlangen, das eine verbrannte Buch neu zu schreiben. Er muß also in diesem Fall nur ausziehen, um die bezweifelten Wunder zu sehen, und wenn er das, was er erfährt, niederschreiben läßt, dann hat dies mit dem verbrannten Buch nichts zu tun, sondern es dient allein der Dokumentation der Bußfahrt, und als solche wird es denn auch nach der Rückkehr folgerichtig nicht in die Bibliothek gestellt, sondern auf dem Altar der Kirche niedergelegt. Ob dabei mehr dokumentiert wurde als das, was man an Gotteswundern gesehen hat, läßt sich natürlich nicht sagen. Im äußersten Fall könnte es sich um eine aus der Wir-Perspektive erzählte ›Reisefassung‹ handeln. Der Zweck des Buches erfüllt sich jedenfalls allein darin, als Zeugnis dafür zu dienen, daß Brandan die ihm auferlegte Strafexpedition durchgeführt hat. Ganz anders verhält es sich, wenn Brandan alle Wunder in einem einzigen Buch liest, das er dann verbrennt. Unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, daß ihm der Auftrag erteilt wird, das Buch neu zu schreiben, und dieses neue Buch ist dann keine Dokumentation der Bußfahrt, sondern es ersetzt das zerstörte Wunderbuch. So ist es denn vielleicht kein Zufall, daß in N am Ende nicht gesagt wird, das Buch sei in der Kirche niedergelegt worden. Es ist nicht ohne weiteres zu entscheiden, welches das ursprüngliche Konzept war. Die Pointierung, die N bietet, ist in ihrer Stringenz überzeugender und erzählerisch reizvoller, aber da C und M dagegen stehen und P zwar von nur einem Buch redet, aber von einem Auftrag nichts weiß, muß man wohl damit rechnen, daß die Pointierung sekundär, also erst auf der Überarbeitungsstufe N zustande gekommen ist. Wie immer dem aber sei, es ist jedenfalls davon auszugehen, daß die ›Reisefassung‹ in zwei unterschiedlichen Konzeptionen vorliegt und daß die Interpretation dies zu berücksichtigen hat – was bislang versäumt worden ist. Wenn nach der ersten Konzeption von einer unbestimmten Zahl von Büchern die Rede ist, in denen Brandan Gotteswunder beschrieben findet, so zielt seine Meerfahrt, wie gesagt, auf eine Verifizierung dessen, was er an Unglaublichem gelesen hat. Ob mit Brandans Wunder-Lektüre auf konkrete Texte angespielt wird, ist schwer zu sagen. Man hat an mittelalterliche Enzyklopädien gedacht, die ja auch reichlich Mirabilia enthalten,41 doch dürfte es sich eher um eine für mögliche Bezüge offene Fiktion handeln. Befragt man nämlich die Quellenforschung, so zeigt sich, daß zu fast allen ›Brandan‹-Motiven Entsprechungen in den unterschiedlichsten literarischen Typen nachzuweisen sind, wobei jedoch der überwiegende Teil der Episoden aus der Imram-Tradition und aus der Visionsliteratur stammt.42 Im ersten Fall müßte man übrigens wohl häufig eher von ethnographischen Kuriosa als von Gotteswundern sprechen, wobei mhd. wunder freilich beides abdeckt.43 hatte. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß andererseits während der Fahrt durch sukzessive Aufzeichnungen das verbrannte Buch neu verfaßt werden kann“. 41 Kästner [Anm. 38], S. 400; Haupt [Anm. 26], S. 325–327. 42 Umfassende Quellenanalyse bei Strijbosch [Anm. 23], S. 61–244. 43 Vgl. „Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken“, in diesem Bd., S. 210– 222, hier 210–213.
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Worauf zielt eine solche Fahrt zum Zweck der Verifizierung von Unglaublichem? Man mag geneigt sein, Hannes Kästners These zuzustimmen, daß es sich um eine Rechtfertigung des christlichen Wunderglaubens im allgemeinen oder gar speziell um eine Apologie der ›Navigatio‹ gehandelt haben könnte, die bekanntlich nicht unangefeindet geblieben ist – bis hin zu dem polemischen Diktum: wenn die Iren betrunken seien, gehe die Phantasie mit ihnen durch!44 Dem ist entgegenzuhalten, daß die ›Reise‹ sich nicht damit begnügt, Brandan die unglaublichsten wunder vor Augen zu führen, die er sozusagen als neutraler Beobachter zu registrieren hätte, vielmehr schildert sie zudem, wie die Seefahrer auf das, was ihnen begegnet, reagieren. Das heißt: der Abt und seine Mönche machen Erfahrungen, bei denen sie nicht nur Freundliches dankbar annehmen oder Feindlichem ausweichen, wie dies bei den Imramhelden der Fall ist, sondern bei denen es zu prekären Gefährdungen und dramatischen Verwicklungen kommen kann. Die Bedeutung dieser Erfahrungs-Perspektive wird sofort klar, wenn man nach der Gewichtung vom Erzählinteresse her fragt. Nicht nur sind etwa die Hälfte der Episoden geistlich akzentuiert und bieten also Heilserfahrungen, durch die die Seefahrer letztlich persönlich betroffen sind: Höllen- und Purgatoriumsszenen, Begegnungen mit Büßerund Eremitenfiguren, Glück und Schrecken angesichts von Paradies- bzw. Teufelsinseln, sondern gerade in diesem Bereich werden die Schilderungen des öfteren besonders breit. So nimmt z. B. die Begegnung mit Judas, der jeweils in der Nacht von Samstag auf Sonntag auf einem heiß-kalten Felsen im Meer Urlaub von seinen Höllenqualen machen darf, in M 157 Verse ein und die Schilderung der Insel mit den neutralen Engeln und ihrem Schicksal 105 Verse, während sozusagen klassische Seefahrtepisoden wie der Magnetberg mit dem Lebermeer oder die Begegnung mit einer Sirene in nur 21 bzw. 11 Versen abgetan werden. Am breitesten wird übrigens die Weltrandsituation am Ende geschildert, mit der die Seefahrer ihr Ziel erreichen. Breite bedeutet erhöhte Anteilnahme. In einem besonders dramatischen Fall wird sogar die Episodenstruktur in ungewöhnlicher Weise übergriffen. Es handelt sich um die Szenen, in denen einer der Überzähligen – es sind in der ›Reise‹ nur zwei – verloren geht und dann doch gerettet wird (Episoden 13, 15, 18 und 1945): Nach einer Fahrt durch eine Finsternis auf einem reißenden Strom erreichen Brandan und seine Mönche ein goldenes Gemach mit Edelsteinsäulen, davor eine vierfache Quelle, aus der Milch, Wein, Öl und Honig fließen. Fünfhundert Lagerstätten sind bereitgestellt. Das Dach besteht aus Pfauenfedern. Da stiehlt einer der Mönche einen Zaum. Darauf macht Brandan sich mit den Seinen wieder auf den Weg. Nachdem man auf einer Paradiesinsel den ersten Überzähligen verloren hat und durch den finsteren Strom zurückgefahren ist, erscheint ein Teufel mit einer höllischen Schar und führt den Zaumdieb mit sich fort. Nun flehen die Seefahrer Gott so lange um Gnade an, bis der Teufel den Dieb zurückbringen muß. Doch das hat nochmals Folgen, als sie später zur Teufelsinsel gelangen: ein schwarzer Kerl erscheint und wirft Brandan vor, daß er die Hölle betrüge, insbesondere weil er ihr den Zaumdieb unberechtigterweise entrissen habe. Der hat sich übrigens schwitzend vor Angst unter einer Schiffsbank verkrochen. Der Schwarze wirft 44 45
Kästner [Anm. 38], S. 403f. Zählung nach Strijbosch [Anm. 23], S. 13.
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IV. Diverses
einen glühenden Klumpen nach dem Schiff, trifft aber nicht. Doch da kommen die Teufel in Scharen und werfen Brände, die wie Regenschauer auf die Mönche niedergehen. Aber Gott beschützt sie, und man fährt eilig davon. Dabei verliert Brandan seine Kapuze. Als er es bemerkt, befiehlt er umzukehren, die Mönche protestieren, und der Zaumdieb will Brandan, um ihn zurückzuhalten, eine seiner Kapuzen aufdrängen, aber der will es nicht dulden, daß ein Teufel vielleicht seine Kapuze aufsetzen könnte! Als die Teufel das Schiff zurückkommen sehen, erschrecken sie, ja, als Brandan einen Psalm spricht, fliehen sie davon. So gewinnt er seine Kapuze zurück. Hier hat man also einen Handlungszusammenhang vor sich, der mit Unterbrechungen durch Zwischenepisoden über mehrere Stationen läuft und in der köstlich-humorvollen Szene mit der verlorenen Kapuze gipfelt – die übrigens die einzige ist, zu der es in der Erzähltradition keine Parallele zu geben scheint.46 Die Art und Weise, wie hier das Motiv der Überzähligen verändert worden ist, demonstriert besonders deutlich, daß man das, was begegnet, nicht mehr einfach hinnimmt als Wohl oder Weh, sondern daß der ›Reise‹-Brandan immer wieder sehr viel aktiver reagiert als seine Vorgänger. So verschafft er denn auch Judas eine weitere Urlaubsnacht, indem er sich den Teufeln hartnäckig entgegenstellt, als sie den Verdammten am Sonntag wieder in die Hölle holen wollen. Das hat nichts mehr mit einer Verifizierung gelesener Wunder zu tun, vielmehr handelt es sich hierbei um die Entfaltung eigenständiger dramatischer Szenen, in denen Brandan sich behaupten muß, in denen er nicht nur die Wunder Gottes sieht, sondern auch die Macht Gottes erfährt, der ihm in persönlicher Not zu Hilfe kommt. Und in dem Maße, in dem Brandan sich mit dem, was ihm begegnet, auseinandersetzen muß, in dem Maße verändert er sich auch.47 Er erkennt in den Wundern die Allmacht Gottes, und er vertraut sich ihr in kritischen Situationen an. Im Gegensatz zum Imramhelden und auch zum Brendan der ›Navigatio‹ kehrt Brandan nicht als der Gleiche zurück, als der er ausgezogen ist, sondern er hat einen Erfahrungsprozeß durchgemacht. So wird der ursprüngliche oder angebliche Zweck der Meerfahrt überstiegen; die bloße Verifizierung von Wundern in episodischer Reihung verwandelt sich in eine romanhafte Handlung, in der die Festigkeit und der Mut des irischen Abtes, die Macht des Glaubens und das Vertrauen in Gott auf die Probe gestellt und schließlich auch die Grenzen dessen, was erreichbar ist, vorgeführt werden. Letzterem vor allem dient eine Episode, die sich im Kontext der Verifizierung von Wundern ausgesprochen merkwürdig ausnimmt. Gegen Ende der Fahrt treffen der Abt und seine Mönche auf einen kleinen Mann, der auf einem Blatt im Meer schwimmt und der einen Griffel ins Wasser taucht, um ihn dann in einen Napf abtropfen zu lassen. Auf Brandans Frage, was er hier treibe, erklärt er, daß er das Meer ausmesse. Der Abt hält ihm vor, daß das doch ein unmögliches Unterfangen sei, worauf der Kleine entgegnet, es sei dies genau so unmöglich wie sein Vorhaben, alle Wunder Gottes in Erfahrung bringen zu wollen. Brandan nimmt dies zur Kenntnis und fährt weiter. Diese Episode ist reizvoll, aber irritierend. Dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen würde man erwarten, daß Brandan auf die Belehrung des kleinen Mannes irgendwie 46
Jedenfalls schweigt sich Strijbosch [Anm. 23] dazu aus. Zur Frage, ob die Episode, die in C und H fehlt, zum ursprünglichen Bestand gehört hat: S. 271. 47 Treffend dazu Strohschneider [Anm. 40], S. 18.
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reagiert, etwa dadurch, daß ihm sein Unternehmen fragwürdig wird und er umdreht und nach Hause fährt. Aber er scheint in keiner Weise beeindruckt zu sein; er macht sich erst nach einigen weiteren Episoden auf die Heimfahrt. Zum zweiten sollte man nicht übersehen – auch wenn es bisher noch niemandem aufgefallen ist –, daß die Episode überhaupt nicht in den Sinnzusammenhang paßt. Brandan ist ja nicht ausgefahren, um anmaßend alle Wunder Gottes zu erkunden, sondern auf ausdrücklichen Befehl von oben und mit der klaren Aufgabe, die von ihm bezweifelten Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Und es geht dabei offensichtlich um eine endliche Zahl, und am Schluß heißt es denn auch ausdrücklich, daß man nun alles gesehen habe und heimfahren könne. Was soll also der Vorwurf, Brandan habe etwas unternommen, was in seiner Unendlichkeit gar nicht zu realisieren sei? Nun kann man es sich mit der Lösung des Problems einfach machen, indem man argumentiert, daß der ›Reise‹-Autor mit dem kleinen Mann auf dem Meer ein freischwebendes Exemplum aufgegriffen und es, ohne sonderlich streng nachzudenken, adaptiert habe.48 Am weitesten verbreitet ist dieses Exempel im Zusammenhang der Entstehung von Augustins ›De trinitate‹: Augustinus spaziert am Meeresufer und denkt über das Geheimnis der Trinität nach. Da sieht er einen kleinen Knaben, der mit einer Muschel Meerwasser in eine Sandkuhle gießt. Der Kirchenvater fragt das Kind, was es da tue, und es sagt, es wolle das Meer ausschöpfen. Als Augustinus ihm vorhält, daß das unmöglich sei, antwortet das Kind, es sei dies eher möglich, als daß er auch nur den kleinsten Teil des Trinitätsgeheimnisses in seinem Buch auszuschöpfen vermöge. Der erste, der diese Augustinus-Legende berichtet, ist Thomas von Cantimpre´ in seinem ›Bonum universale de apibus‹ zwischen 1256 und 1263, und von da an erscheint sie, mit Abweichungen in Details, sehr häufig und in langer Tradition von den ›Sermones‹ des Jacobus de Voragine und einer Reihe von Exemplasammlungen49 über Hans Sachs50, Lope de Vega und Angelus Silesius bis zu ›Des Knaben Wunderhorn‹. Es besteht freilich in der hagiographischen Forschung Einigkeit darüber, daß die Anbindung an Augustinus sekundär ist.51 Die Legende wird, und dies schon früher, auch von anderen Personen erzählt; so berichtet Caesarius von Heisterbach sie von einem namenlosen Pariser Magister, der am Ufer der Seine über die Dreifaltigkeit nachdachte.52 Ferner gehören Lanfranc, Raynaldo d’Arezzo und Alanus von Lille zu denjenigen, die sich von dem Knäblein belehren lassen müssen.53 Die Legende verdankt ihre Entstehung vermutlich monastischem Mißtrauen gegenüber scholastischen Spekulationen.54 48
Den besten Überblick über die Varianten und die Verbreitung des Exempels bietet Roland Kany, Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu ,De trinitate‘, Tübingen 2007, S. 306–310. 49 Vgl. Henri-Ire´ne´e Marrou, „Saint Augustin et l’ange. Une le´gende me´die´vale“, in: L’homme devant Dieu. Me´langes Henri de Lubac, Paris 1964, Bd. II, S. 137–149, hier S. 140, S. 143f. 50 Siehe das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner u. Burghart Wachinger, Bd. 15, Tübingen 2002, S. 34, s. v. ,Augustinus und das Kindlein‘, mit zwei weiteren, anonymen Zeugnissen. 51 Kany [Anm. 48], S. 307. 52 Marrou [Anm. 49], S. 139. 53 Siehe Albert Wesselsky, Klaret und sein Glossator. Böhmische Volks- und Mönchsmärlein im Mittelalter, Brünn, Prag, Leipzig, Wien 1936, S. 66–70, hier S. 67f.; Marrou [Anm. 49], S. 142f. 54 Ebd., S. 147; so auch Kany [Anm. 48], S. 310.
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IV. Diverses
Nach dem Beleg in der ›Brandanreise‹ wäre ihre Entstehung spätestens ins 12. Jahrhundert zu datieren.55 Man kann also einfach erklären, das reizvolle Exempel zur Unfaßbarkeit göttlicher Geheimnisse sei dem ›Reise‹-Autor zu Ohren gekommen und er habe es, ohne auf die dadurch entstehenden Ungereimtheiten zu achten, mit den vielen anderen Materialien aus den unterschiedlichsten Quellen eben auch noch eingebaut. Dabei ist jedoch auffällig, daß die Episode nicht nur zum Sinnzusammenhang quersteht, sondern daß ihre Position als einzige unfest ist.56 In M erscheint sie an 29. Stelle, in C und H taucht sie früher, schon nach Episode 25b, auf, und in N und P fehlt sie. Das läßt den Verdacht aufkommen, daß die Episode nicht zum ursprünglichen Bestand der ›Reisefassung‹ gehört haben, sondern später, d. h. auf der Stufe des Archetypus unserer Überlieferung, hinzugefügt worden sein könnte, möglicherweise auf einem losen Blatt, so daß man sie an unterschiedlichen Stellen einschieben konnte. Die Hypothese ließe sich im übrigen durch die Überlieferungsfakten des Exempels stützen. Es ist, wie gesagt, anderweitig erst vom 13. Jahrhundert an zu belegen. Der kleine Mann in der ›Reise‹ müßte dann nicht mehr für eine sonst nicht greifbare Frühgeschichte des Exempels im 12. Jahrhundert einstehen, vielmehr verdankte sich die Episode in der ›Meerfahrt‹ seiner erst im 13./14. Jahrhundert sich breiter durchsetzenden Tradition. Das wäre dann auch das Datum des Archetypus. Mit dem Hinweis auf die Beiläufigkeit, ja auf eine möglicherweise nicht wohlbedachte spätere Zufügung der unpassenden Episode vom kleinen Mann und dem Meer könnte man sich zufrieden geben, wenn sie nicht der oben genannten Tendenz entgegenkäme, es nicht bei der bloß neutralen Registrierung von Wundern bewenden zu lassen. Denn wenn es darüber hinaus um die Erfahrung der überwältigenden Macht und der unfaßbaren Größe Gottes geht, dann könnte das Exempel trotz der Widersprüchlichkeiten, die es heraufbeschwört, doch eine gewisse Berechtigung und einen passablen Sinn haben.57 55
Zur Frage nach dem ältesten Beleg siehe ebd., S. 307f. Ich sehe ab von der Verschiebung der Höllenfahrt des Zaumdiebes in *MN, die eindeutig als Fehler zu werten ist; siehe Strijbosch [Anm. 23], S. 258. 57 Ich habe seinerzeit im Blick auf die Episode mit dem kleinen Mann auf dem Meer vorgeschlagen – siehe Haug [Anm. 12], S. 402 –, die ›Brandanreise‹ in Analogie zum ›Alexanderroman‹ zu lesen: Beide Erzählungen stellen Versuche dar, sich die Welt im Aufbruch in die Fremde anzueignen, im einen Fall durch Eroberung, im andern durch Erkundung. Und wie Alexander im ›Iter ad Paradisum‹ an die Grenze seiner Möglichkeiten stoße, so werde dem seefahrenden Abt von dem kleinen Mann klar gemacht, daß sein Bemühen, alle Gotteswunder in Erfahrung zu bringen, unmöglich sei. Dahinter stehe derselbe Grundgedanke: Eine Weltbewältigung als Addition von Eroberungen oder Erkundungen könne nie an ein Ende kommen; die Episodenreihe als Erfahrungsstruktur müsse letztlich auf einen Umbruch zielen, der gerade dies zum Bewußtsein bringe. Strijbosch [Anm. 23], S. 230f., hat gegen diese Interpretation Stellung genommen, indem sie darauf hingewiesen hat, daß die kritische Episode nicht wie im ›Alexanderroman‹ am Schluß stehe, daß also keine Umkehr erfolge, ja daß Brandan überhaupt nicht auf die Belehrung reagiere. Die Kritik ist berechtigt. Die Pointe der Begegnung Brandans mit dem kleinen Mann im Meer ist – jedenfalls in den überlieferten Versionen – verschenkt. Nun sind freilich die letzten Episoden der ›Reise‹ verwirrend und in ihrer Bedeutung schwer zu durchschauen. Zudem sind die Abweichungen zwischen den einzelnen Versionen gerade hier sehr stark. Siehe zu diesen nur mit Mühe zu deutenden Schlußepisoden Strijbosch [Anm. 23], 56
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Ganz anders stellt sich die durch N vertretene Konzeption dar. Hier hat man es nun nicht mehr mit Wundern aus einer unbestimmten Zahl von Büchern zu tun, sondern mit den Wundern in einem einzigen, dem verbrannten Buch. Und über dessen Inhalt können wir uns eine recht gute Vorstellung machen, denn es muß im wesentlichen mit jenem Buch identisch gewesen sein, das Brandan auf seiner Meerfahrt neu schreiben läßt, da nur dann die geforderte Wiederherstellung des Buches erfüllt wird. Und dieses neue Buch ist selbstverständlich nicht der uns überlieferte Text von ›Brandans Meerfahrt‹, denn dieser ist ja ein Bericht über die Entstehung des neuen Buches. Das heißt: In der Konzeption der Fassung N werden jene Schichten klar unterschieden, die nach der ersten Konzeption einander durchdringen. Nach der ersten Konzeption steht auf der einen Seite das neu geschriebene Buch als Registrierung der Wunder Gottes: die Strafaufgabe, die dem Zweifler aufgegeben worden ist. Auf der andern Seite zeigt unser Text die Verwandlung der Wundersammlung in einen Erfahrungsprozeß, der auch offen zu denken ist. Demgegenüber ist das neue Buch in N eindeutig geschlossen, denn es geht ja darum, ein bestimmtes, eben das verbrannte, Buch wiederherzustellen. In diesem Fall aber macht das Exempel vom kleinen Mann auf dem Meer mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit von Brandans Vorhaben noch weniger Sinn als in den andern Versionen, ja, es würde eklatant dem göttlichen Auftrag widersprechen, ein ganz konkretes Buch mit einer endlichen Zahl von Wundern, die zwischen zwei Buchdeckel passen, unterwegs neu schreiben zu lassen. Es scheint mir deshalb nicht undenkbar, daß N, d. h. natürlich nicht der eher stümperhafte Schreiber der niederdeutschen Fassung, sondern der Bearbeiter seiner mitteldeutschen Vorstufe, bemerkt hat, daß diese Episode unmöglich in dem verbrannten Buch gestanden haben kann – sie kann ja nicht eines jener Wunder gewesen sein, die Brandan nicht glauben wollte –, und er hätte dann jenen Mißgriff des Archetypus bewußt rückgängig gemacht. Sollten diese Überlegungen richtig sein, so gewänne die Vorstufe von N ein überraschend eigenständiges Profil. Denn sie hätte die Erzählung nicht nur durch die Forderung nach der Wiederherstellung des verbrannten Buchs sehr geschickt neu pointiert, sondern diese Perspektive dann konsequent, also unter Preisgabe des querstehenden Exempels, durchgezogen. Die Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Konzeptionen – C/H, M gegenüber N58 – tangiert also vor allem die Funktion des auf der Reise neu geschriebenen Buches. Wird das verbrannte Buch auf göttliche Anweisung ersetzt, so hat man keinerlei Berechtigung, anzunehmen, daß das neue Buch einen andern Charakter hatte als das alte. Wenn hingegen Peter Strohschneider behauptet, das Wissen, das die Meerfahrt einbringe, sei ein anderes als das im verbrannten Kodex vorausgesetzte,59 so ist das in S. 230–244; dazu auch Haupt [Anm. 26], S. 345f. Man gewinnt den Eindruck, daß konkurrierende Schlußepisoden nebeneinanderstehen. Wenn die Begegnung mit dem kleinen Mann auf dem Meer, wie oben vermutet, eine spätere Zufügung sein sollte, so wäre mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie vielleicht doch als letzte Episode gedacht gewesen sein könnte. Dies war jedenfalls die Meinung von Maartje Draak: De reis van Sinte Brandaan, hg. v. M. Draak, Amsterdam 1949, S. 212. 58 Die Position von P ist unklar, da hier zwar nur von einem Buch die Rede ist, aber sowohl der Auftrag zur Wiederherstellung des verbrannten Buches wie auch das Exempel vom kleinen Mann fehlen. Letzteres könnte den Kürzungen bei der Prosaisierung zum Opfer gefallen sein. Oder wäre es denkbar, daß P auf eine Stufe zurückgeht, die vor dem Archetypus der Redaktionen C/H und M/N lag und also das Exempel noch gar nicht hatte? 59 Strohschneider [Anm. 40], S. 27.
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IV. Diverses
Hinblick darauf, daß es Erfahrungs- und nicht Buchwissen ist, zweifellos richtig; aber das schlägt sich nicht im neugeschriebenen Buch, sondern in unserem Text nieder. Doch dann versucht Strohschneider, die Differenz dadurch zu retten, daß er bei dem verbrannten Buch unterstellt, es habe sich um eine heilsgeschichtlich durchdrungene, also allegorische Darstellung der Schöpfung gehandelt, während das neue Buch nur „zersprengte Wissenselemente“ ohne heilsgeschichtliche Bezüge zu bieten vermochte.60 Diese Unterstellung führt in die Irre. Es gibt keinerlei Hinweise auf einen allegorischen Charakter des verbrannten Buches; die wenigen inhaltlichen Andeutungen, die im Zusammenhang mit Brandans Lektüre gemacht werden: es gebe zwei Paradiese und drei Himmel und eine Welt unter unserer Erde, wo die Sonne scheint, wenn bei uns Nacht ist, ferner einen Fisch, auf dessen Rücken ein Wald wächst, und daß Judas in der Samstagnacht Höllenurlaub habe, signalisieren keine „heilsgeschichtlich verweiskräftige Ordnung“,61 und im übrigen müßte es ja bei einer sachlichen Identität der beiden Bücher im Prinzip möglich sein, die wunder, die Brandan sieht, in ebendiesem Sinne zu deuten, was bis auf Ausnahmen kaum gelingen dürfte. Es ist also festzuhalten: Soll das neue Buch das verbrannte ersetzen, so muß es mit diesem identisch sein; wenn das neue Buch hingegen nur Dokumentation der Bußfahrt ist, bleibt sein Inhalt unbestimmt. Entscheidend aber ist – und das hat bislang nicht die gebührende Beachtung gefunden –, daß nicht nur zwei Bücher, das verbrannte und das neugeschriebene, im Spiel sind, sondern noch ein drittes: eben unser Text, und dieser Text ist es, in den das Neue: Wissen als eine Erfahrung, die verwandelt, leserbezogen eingeht. Abschließend sei noch einmal an die beiden Grundtypen erinnert, nach denen fiktive Reisen in der abendländischen Tradition gestaltet worden sind: Ausfahrt und Heimkehr, und daran, daß der altirische Imram sich hier nicht einordnen läßt. Ausfahrt und Heimkehr waren zielgerichtet und verstanden sich als Weltbewältigung über einen Weg mit Widerständen; der Imram hingegen bot Inselabenteuer, die weitgehend um ihrer selbst willen erzählt worden sind. Bei der klerikalen Adaptation des irischen Typus mußte sich die Frage stellen, wie man es rechtfertigen konnte, einen christlichen Helden – den Abt Brendan/Brandan – auf einen Imram zu schicken. Man hat das Problem dadurch gelöst, daß man die Seereise an den einen oder den andern Grundtypus anlehnte. So hat die ›Navigatio‹, wie gezeigt, den Imram von Insel zu Insel durch die Verbindung mit Kirchenjahrstationen symbolisch als Lebensfahrt und damit als Heimkehr ins Paradies neu interpretiert. Was an Welterfahrung quer dazu lag – im wesentlichen die Materialien aus pagan-irischer Tradition –, konnte für das Kontingente stehen. Die Umformung zur ›Reisefassung‹ hingegen zielte darauf, die Episodenreihe des ImramTypus nach dem Ausfahrtskonzept zu stilisieren. Dabei bestand die Schwierigkeit darin, daß die irische Tradition keine brauchbaren Zielvorgaben bot. So war man zunächst genötigt, den Selbstzweck der Episodenreihe zu legitimieren. In dieser Absicht erfand man die Figur des Zweiflers, der ausziehen muß, um das, was er gelesen hat und nicht glauben konnte, mit eigenen Augen zu sehen. Doch diese Motivation wird dann im Sinn 60 61
Ebd., S. 30. Ebd.
2. ›Brandans Meerfahrt‹ und das Buch der Wunder Gottes
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des Ausfahrtstypus in der Weise überstiegen, daß das Interesse sich von der mehr oder weniger passiven Registrierung von Gotteswundern auf einen Erfahrungsprozeß verlagert. Doch während die ›Reise‹-Fassungen C, H und M den konkreten Anlaß der Fahrt und den neuen Sinn der Erzählung bis hin zur Widersprüchlichkeit der Episode des kleinen Manns auf dem Meer verquicken, hat die Version N hier klar getrennt: die Wiederherstellung des verbrannten Buchs zielt auf die Sammlung der Wunder Gottes – formal nach der Episodenstruktur des Imram –, und davon hebt sich der Bericht über die Entstehung des neuen Buchs, der uns überlieferte Text, ab. Aber selbstverständlich geht es, wie immer die Ausfahrt begründet wird, letztlich durchwegs um unseren Text als eigentlichen Sinn des literarischen Unternehmens. Die Verschriftlichung ist die letzte Stufe im Akt der Welt- und Gotteserfahrung. Sie bringt Erfahrung nicht nur ins Bild, sondern auch in die Reflexion. Die Beschreibung der Entstehung des neuen Buchs ist die Form, über die die Erfahrung vermittelt wird, denn das neue Buch selbst oder die auf dem Altar niedergelegte Dokumentation der Bußfahrt sind uns ja nicht zugänglich. In der Spannung zwischen den Büchern oder dem Buch mit den Gotteswundern und dem Bericht über die Erfahrung dieser Wunder öffnet sich unserem Blick damit auch das Problem der Vermittlung in seiner Zwiespältigkeit. Es wird einerseits – das ist das Erbe der Imram-Tradition – mit dem Faszinosum des Unglaublichen gearbeitet; da man sich ihm aber zweifelnd entziehen könnte, wird andrerseits über die Dramatisierung der Begegnung mit dem Unglaublichen vom Leser verlangt, daß er im Nachvollzug selbst in den Erfahrungsprozeß, den Brandan durchmacht, eintritt, und dies um so dringlicher, als es vor allem bei den neuen heilsgeschichtlichen Episoden um Erfahrungen geht, die für jeden Gläubigen von Gewicht sind. Damit fügt sich die ›Brandanreise‹ in den literarhistorischen Kontext der thematisch verwandten frühen deutschen Literatur, die von der Mitte des 12. Jahrhunderts an mit dem ›Alexanderroman‹ und den Brautwerbungsepen Welt-, Gott- und Du-Erfahrung in Form von Ausfahrten durchspielt. Zugleich sollte man die Sonderposition, die das Werk in diesem Rahmen einnimmt, nicht verkennen. Der ›Reise‹-Autor verfährt nicht linear in der Absicht, die Akte der Bewältigung des Andern an ihre Grenze und damit in die Reflexion zu führen, sondern der Episodenweg wird durchschritten, bis er an sein Ziel kommt: Brandan hat schließlich alle Wunder gesehen! Die Problematisierung erfolgt auf einer zweiten Ebene durch einen Erfahrungsprozeß, bei dem es nicht um Wunder als bloße Fakten geht, sondern um die unfaßbare göttliche Macht, die man in der Konfrontation mit dem Wunderbaren, sei es nun himmlisch oder teuflisch, erfährt. Meine These ist also diese: Es handelt sich bei ›Brandans Meerfahrt‹ nicht um eine konservative Reaktion gegen einen aufkommenden Rationalismus, der einen allzu naiven christlichen Wunderglauben anzuzweifeln beginnt, vielmehr geht es um die Frage, wie der Glaube an die Macht und Größe Gottes als narrative Erfahrung vermittelt werden kann, und dies unter den neuen, zukunftsträchtigen literarischen Bedingungen, unter denen das Erzählen in der Volkssprache im 12. Jahrhundert angetreten ist.
3. Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten oder Wie steht es um die Erzählkunst in den sogenannten Mären des Strickers?
Der spitze Doppeltitel meines Beitrags zielt auf die Gleichgültigkeit, mit der die Forschung die Frage nach der literarischen Qualität der Verserzählungen des Strickers zu übergehen pflegt. Man hat es zwar immer wieder gewürdigt, daß er diesen Typus in der deutschen Literatur pergamentfähig gemacht hat. Und das ist unbestritten eine Tat, die ihm einen prominenten Platz in unserer Literaturgeschichte sichert.1 Was aber die konkrete erzählerische Leistung angeht, so mochte man sich nicht kritisch darauf einlassen. Möglicherweise gibt es einen uneingestandenen Grund, weshalb man vor Überlegungen in dieser Richtung zurückscheute. Denn wirft man einen Blick auf die späteren Glanzleistungen der mittelhochdeutschen Kleinepik, so gerät man gegenüber dem Stricker in eine gewisse Verlegenheit. Man wird zögernd sagen: Ungekonnt ist es ja nicht, was er bietet, aber doch eher grobschlächtig, ohne besondere erzählerische Raffinesse. Er erscheint dann in seiner Anspruchslosigkeit gerade noch gut als Proseminarlektüre. Damit ist aber auch meist schon der akademischen Pflicht ihm gegenüber Genüge getan. Muß man es dabei belassen? Um darauf antworten zu können, wird als erstes zu überlegen sein, ob Kriterien namhaft zu machen sind, mit deren Hilfe man sich ein Urteil über die dichterische Qualität mittelalterlicher Kurzerzählungen erlauben kann. Es gibt drei Möglichkeiten eines kritisch wertenden Zugriffs: 1. Man kann versuchen, einen allgemeinen theoretischen Rahmen für die Entfaltungsmöglichkeiten abzustecken, die der mittelalterlichen Kurzerzählung offenstanden. Ich will mich dabei auf die umstrittene Gattungs- oder Typenfrage und die daraus abzuleitenden Normen gar nicht erst einlassen, sondern quer dazu nur von Erzählperspektiven sprechen, die sich, auch wenn es gewisse Restriktionen gibt, in vielfältiger Weise überschneiden können. Ich unterscheide im Prinzip: 1. Erzählen unter exemplarischer Perspektive, 2. ein Erzählen, das sich in einer mehr oder weniger komischen Pointe erfüllt, und 3. komplexes Erzählen, das in offene Fragen mündet und im interessantesten Fall eine brisante Problematik heraufbeschwört. Ein Urteil über die Qualität wird sich im Einzelfall danach richten, wie überzeugend die durch die Erzählperspektiven angesteuerten Möglichkeiten gradlinig oder kombinatorisch genützt worden sind. 1
Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994, S. 334, nennt in seiner Stricker-Würdigung (S. 327ff.) dessen Kleindichtung „geradezu eine literarische ,Revolution‘“.
3. Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten
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2. Man kann eine Erzählung statt von den allgemeinen Erzählperspektiven auch vom narrativen Potential aus beurteilen, das der jeweilige Stoff in sich trägt. Dies, indem man den Blick auf die je spezifische Geschichte eines Erzähltyps im Sinne eines Stoffkomplexes2 oder – enger – des Folktale-Katalogs3 richtet und prüft, in welcher Version sie ihre optimale Form gefunden hat – vorausgesetzt natürlich, daß uns eine solche Geschichte zugänglich ist. Und dabei lassen sich im Vergleich – unter Berücksichtigung divergierender Zielrichtungen – erzählerisch bessere und schlechtere Versionen unterscheiden. 3. Man beurteilt die Kurzerzählungen im Rahmen des Gesamtœuvres eines Autors oder auch nur einer Sammlung und versucht, sie von einer möglicherweise übergreifenden Intention des Verfassers oder des Kompilators her zu verstehen. Die Qualität läge hier dann in der mehr oder weniger gelungenen Erfüllung eines erzählerischen Programms. Es kann dabei durchaus zu einem Widerstreit mit den Kriterien der Zugriffe 1 und 2 kommen; es wäre etwa damit zu rechnen, daß ein bestimmtes Erzählprogramm eine volle Ausnützung der erzählerischen Möglichkeiten eines Stoffs verhindert, und dies müßte bei einer Beurteilung in Rechnung gestellt werden. Ich gehe im folgenden die drei Möglichkeiten im Blick auf die Strickerschen Verserzählungen kritisch durch:
I Unternimmt man es, einen allgemeinen Rahmen für die narrativen Möglichkeiten der mittelalterlichen Kurzerzählung abzustecken, so empfiehlt es sich, sich zunächst an den optimalen Realisierungen unter den verschiedenen Perspektiven zu orientieren. Ich beginne mit dem exempelhaften Erzählen. Zwar gilt, daß es sich bei der Erzählperspektive auf eine Lehre hin um eine Möglichkeit handelt, in die jedes Erzählen eintreten kann, selbst ein Roman. Und doch ist festzuhalten, daß es für exempelhaftes Erzählen eine optimale Form gibt, diejenige, über die die beabsichtigte didaktische Wirkung am besten erreicht wird. Dies ist dann der Fall, wenn jeder Zug einer Geschichte funktional in die Demonstration der zu vermittelnden Lehre eingebunden ist. Jedes Erzählen um des Erzählens willen schwächt diesen unmittelbaren Effekt.4 In dem Maße hingegen, in dem man aus der exemplarischen Perspektive austritt, in dem Maße beginnt das Erzählen seine spezifischen poetischen Möglichkeiten zu entfalten. Es kann dabei mehrschichtig und vieldeutig werden, und es gewinnt gerade 2
So der Vorschlag von Joachim Heinzle, „Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit“, Wolfram-Studien V (1979), S. 41–62, hier S. 46ff. 3 Als Musterbeispiel sei verwiesen auf Hans-Joachim Ziegeler, „Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: The Tale of the Cradle“, in: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987, hg. v. Klaus Grubmüller, L. Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff, Paderborn, München, Wien, Zürich 1988, S. 9–31, hier S. 17ff. Vgl. dazu meine Studie „Die Lust am Widersinn: Chaos und Komik in der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 347–356, hier S. 350ff. 4 Dazu meine Studie „Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom Pan˜catantra zum ›Dekameron‹“, in: Haug, Brechungen, S. 455–473, hier S. 455–459.
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IV. Diverses
dann, wenn es in eine offene Problematik hineinführt, seine besondere Faszination.5 Das komplexe Erzählen, wie Hans-Jörg Neuschäfer es für Boccaccio herausgearbeitet hat,6 ist als eine generelle Möglichkeit der Kurzerzählung anzusetzen, und wenn man sie als Charakteristikum der modernen Novelle reklamieren will, so wird diese nicht erst mit Boccaccio erreicht, sondern ist in den Spitzenleistungen auch der mittelhochdeutschen Kleinepik realisiert worden, und d. h., daß es auf dem Weg dahin Stufungen und Übergangsformen gibt, wobei übrigens auch die Erzählungen des ›Dekameron‹ auf sehr unterschiedlichen Niveaus stehen.7 Die einfachste Form von Mehrschichtigkeit ist der Schwank in seiner sich aus der Komik ergebenden Doppelbödigkeit. Er beruht auf dem Prinzip der mehr oder weniger ingeniösen und entsprechend vergnüglichen Überbietung eines Fehltritts oder auch nur einer Schwäche. Die Replik muß angemessen sein, d. h., der komische Effekt darf nicht dadurch zerstört werden, daß der Schaden des Betroffenen zu groß ist. Sonst kann man nicht mehr lachen. Lachen aber ist wesentlich. Es bedeutet, daß das Verlachte doch ein relatives Recht besitzt. Natürlich gibt es Grenzformen von schwarzem Humor, die einen besonderen, irritierenden Reiz haben können, aber auch sie sind auf das Lachen ausgerichtet, wenngleich es einem dann im Hals stecken bleiben mag.8 Doch Mehrschichtigkeit kann auch auf andere Weise erzeugt werden: durch die Komplexität der Figuren, durch einen Wechsel der Aspekte, durch die Zweideutigkeit des Ergebnisses. Eine solche Differenzierung widerstrebt nicht nur der Zielrichtung exempelhaften, sondern auch der des schwankhaften Erzählens. Wo in diesem Spektrum der narrativen Perspektiven sind die Kurzerzählungen des Strickers angesiedelt? Bekanntlich schließt er eine Vielzahl von ihnen mit einem Epimythion oder wenigstens einem in die Erzählung eingebundenen Fazit. Dies läßt vermuten, daß er sich zumindest in der Nähe eines exempelhaften Erzählens im strengen Sinne bewegt.9 Doch wie weit wird jeweils die Narratio für die jeweilige Lehre funktionalisiert? Es kann, wie sich 5
Siehe die Beispielreihe in meiner Studie „Das Böse und die Moral. Erzählen unter dem Aspekt einer narrativen Ethik“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 370–393. Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969. 7 Dies ist die Position von Joachim Heinzle, „Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik“, ZfdA 107 (1978), S. 121–138; vgl. auch Heinzle [Anm. 2]. Zur Debatte um diesen Ansatz siehe Ziegeler [Anm. 3], S. 9ff. Mein Plädoyer für eine offene, nicht gattungsteleologisch bestimmte Möglichkeit der Entfaltung deckt sich mit dem Votum von Jan-Dirk Müller, „Noch einmal Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den ,Drei listigen Frauen‘“, in: Philologische Untersuchungen, gewidmet Elfriede Stutz, hg. v. Alfred Ebenbauer, Wien 1984, S. 289–311, hier S. 291. 8 Vgl. meine Studie „Schwarzes Lachen“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 357–369. 9 Klaus Grubmüller, „Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik“, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 8), Tübingen 1993, S. 37–54, hat versucht, diesen Aspekt beim Stricker sehr stark zu machen: Sein Thema sei „die Ordnung der Welt, ihre Störung und ihre immer verbürgte, immer gelingende Restitution“ (S. 40); und im Aufzeigen der „Schäden, die ein Verfehlen der gottgewollten Lebensordnung verursacht“, und in der Demonstration des Nutzens, den ihre Beachtung und Bewahrung mit sich bringt, bestehe die Exempelfunktion seiner Mären (S. 45). Auf die Kritik dieser Position durch Hedda Ragotzky komme ich im Postskript, unten S. 444f., zu sprechen. 6
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zeigt, durchaus zu Konflikten zwischen den Erzählperspektiven kommen. Ich demonstriere dies an einem Fall, den schon Hans-Joachim Ziegeler für seine gattungskritischen Überlegungen herangezogen hat,10 an der Strickerschen Version der ›Drei Wünsche‹11. Die Erzählung von den leichtsinnig verspielten drei Wünschen ist weit und in vielen Varianten verbreitet.12 Es geht darum, daß jemandem von einer wunderbaren Person drei Wünsche gewährt werden, die der Beschenkte dann im Zusammenspiel mit seiner Frau durch Unbesonnenheit vertut. Dummheit bestraft sich selbst. Man darf darüber lachen. Ein Kommentar erübrigt sich. Der Stricker übernimmt diese Geschichte im Kern, versieht sie aber mit einer Einleitung und schließt sie mit einem Epimythion ab. Die Einleitung stellt ein Ehepaar vor, das sich bitter über seine Armut beklagt; beide empfinden sie als ungerecht, denn sie haben sich nichts vorzuwerfen. Sie flehen so lange zu Gott, bis dieser schließlich dem Mann einen Engel schickt, der ihn mahnt, davon abzulassen, Gott um Reichtum zu bitten. Gott hätte sie reich gemacht, wenn er das für gut befunden hätte. Aber der Mann will das nicht akzeptieren, und da gewährt ihm der Engel drei Wünsche. Der Mann erzählt das seiner Frau, und diese beansprucht einen der Wünsche für sich. Und als er einwilligt, hat sie nichts Eiligeres zu tun, als sich das allerprächtigste Kleid zu wünschen. Das macht den Mann so wütend, daß er ihr das Kleid in den Bauch wünscht, und da ihr das fürchterliche Schmerzen verursacht und ihre Verwandten ihn bedrohen, bleibt ihm nichts, als sie mit dem dritten Wunsch wieder von dem Kleid zu befreien.
Einem Rat zu folgen oder nicht zu folgen, mit je nachdem positiven oder negativen Konsequenzen, das ist ein typisches Exempelmotiv. Wenn der Stricker damit die Erzählung von den drei Wünschen einleitet, so erwartet man, daß sich der Rat des Engels entsprechend auswirkt. Die Unbesonnenheit, mit der das Ehepaar die drei Wünsche vertut, demonstriert aber nicht, daß es der mißachtete Rat ist, der beispielhaft den Schaden verursacht. Das dumme Verhalten des Paars hat seine Ursache in sich selbst. Das heißt: die Erzählung von den drei Wünschen eignet sich, jedenfalls in dieser Weise angesetzt, nicht für ein exempelhaftes Erzählen im Sinne der einleitend gegebenen Bestimmung. Schon Ziegeler hat die eigentümliche Position der Strickerschen Variante im Übergang zwischen Exempel und Märe gesehen, und es ist ihm auch der Widerspruch nicht entgangen, zu dem es durch die Verschränkung der Erzählweisen kommt, aber er zieht sich mit einem Salto aus der Affäre: er erklärt, gerade darin bestehe die Faszination der Strickerschen Fassung.13 Aber sie ist nicht faszinierend, sondern nur unbefriedigend, ja, der Spaß wird einem am Ende endgültig dadurch verdorben, daß der Mann vor lauter Leid über das, was ihm geschehen ist, stirbt. Und das Epimythion geht dann vollends an der Geschichte vorbei, indem es verschiedene Typen von Toren vorführt, die alle in 10
Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München 1985, S. 175ff. 11 Der Stricker, Verserzählungen I, hg. v. Hanns Fischer, 4., rev. Aufl. besorgt v. Johannes Janota, Tübingen 1979, Nr. I. Diese Version ist auch übernommen in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller (Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt a. M. 1996, S. 56ff. 12 Siehe ebd., S. 1046ff. 13 Ziegeler [Anm. 10], S. 178.
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ihrem Bestreben, Freunde und Reichtum zu gewinnen, das eine und wahre Ziel verfehlen, nämlich das Heil der Seele.14 Die Analyse dieser Erzählung vermittelt den Eindruck, daß der Stricker sich über die spezifischen Bedingungen der verschiedenen Erzählperspektiven nicht im klaren war. Er wechselt zwischen ihnen, doch nicht bedacht und effektvoll, sondern zum Nachteil der narrativen Stringenz. Auf eine solche Unklarheit der Perspektive stößt man auch bei seiner Erzählung ›Die eingemauerte Frau‹15: Es geht um eine Ehefrau, die so aufsässig ist, daß sich ihr Mann nicht anders zu helfen weiß, als mit einem Knüppel so lange auf sie einzuhauen, bis ihm der Arm weh tut. Aber das beeindruckt sie nicht. In seiner Verzweiflung mauert er die Frau schließlich ein. Er läßt nur ein kleines Loch in der Wand, durch das er sie mit gräuslich schwarzem Brot versorgt, wie man es nur den Hunden vorwirft. Zugleich führt er ihr ein Wohlleben vor, indem er vor ihren Augen köstlich speist und sich mit Frauen vergnügt. Schließlich unterbindet er jeden Kontakt mit ihren Verwandten und spricht kein Wort mehr mit ihr. Das tut seine Wirkung. Es heißt, daß die Teufel aus ihr herausfuhren und der Heilige Geist in sie einzog. Sie wird von Reue erfüllt, beichtet ihre Sünden und gerät gar in den Geruch der Heiligkeit. Sie wird zu einem Vorbild für alle bösen Frauen, so daß diese sich ebenfalls bekehren.
Der Weg zur Wende, der hier inszeniert wird, bedient sich unverkennbar legendarischer Motive. Die Einmauerung lehnt sich an eine Praxis an, die man aus Inclusenviten kennt. Stephen L. Wailes hat die einschlägigen Materialien zusammengetragen.16 Aber der legendarische Komplex ist kontrafaktisch umgedreht: Nicht um freiwillige Buße geht es im Blick auf eine Erlösung im Himmelreich, sondern um erzwungene Buße, die zu einem ordnungsgemäßen Eheleben zurückführt. Legendentypisch ist auch die Conversio als ein Gnadenakt beschrieben. Sie führt aber zu einer sehr merkwürdigen Heiligkeit – einer Heiligkeit, die dadurch zustande kommt, daß der Eigenwille der widerborstigen Frau mit Gewalt gebrochen wird. Kann man das ganz ernst nehmen? Hedda Ragotzky hat von „ironischer Überspitzung“ gesprochen.17 Doch worin läge der Sinn einer solchen Ironisierung? Man muß doch wohl annehmen, daß der Stricker es ernst gemeint und ein fragwürdiges hybrides Gebilde geschaffen hat. Es ist jedoch eine Beobachtung dagegenzuhalten, die Wailes zu verdanken ist.18 Er bemerkt, daß die Frauen, die sich nach dem Vorbild der Eingemauerten bekehren, dies nicht aufgrund ihrer heiligen Ausstrahlung tun, sondern aus Angst, daß es ihnen ebenso ergehen könnte. Dann würde die Heldin sich mit der Überzeugung von der Wirkung ihres heiligen Lebens selbst täuschen. Alle Tugend der Frauen beruhte dann ausschließlich auf der Angst vor der männlichen Gewalt. 14
Siehe zu dieser traktathaften Ablösung der Moralisatio aus dem Handlungszusammenhang Hedda Ragotzky, „Die ,Klugheit der Praxis‘ und ihr Nutzen. Zum Verhältnis von erzählter Geschichte und lehrhafter Fazitbildung in Mären des Strickers“, PBB 123 (2001), S. 49–64, hier S. 59f. 15 Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. VI. 16 Stephen L. Wailes, „Immurement and religious experience in the Stricker’s ,Eingemauerte Frau‘“, PBB (Tübingen) 96 (1974), S. 79–102. 17 Hedda Ragotzky, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Tübingen 1981, S. 135. 18 Wailes [Anm. 16], S. 97f.
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doˆ gedaˆhte ein ieslich übel wıˆp: ,ich hæte verlorn mıˆnen lıˆp, ob ich quæme in daz gaden. der nœte wil ich mich entladen. ich wil guot sıˆn und reine‘.
Wenn das die Wahrheit ist, die der Stricker vermitteln will und hinter der er steht, dann ist das eine sehr böse, aber eine in ihrer Abgründigkeit letztlich vielleicht doch gute Geschichte. Neben solch hybriden Experimenten gibt es beim Stricker auf der andern Seite doch auch Erzählungen, in denen reine Schwankkomik realisiert ist, mit einem kleinen Abstrich jeweils, wie sich zeigen wird. Dies gilt in erster Linie für ›Der Gevatterin Rat‹19. Und dieser Fall ist um so bemerkenswerter, als es zu dieser Erzählung keine Vorbilder zu geben scheint, so daß man hier des Strickers eigene Erfindungskraft und sein Erzähltalent unmittelbar am Werk sehen kann: Ein Mann haßt seine Frau so sehr, daß er sie am liebsten tot sähe. Und sie tut ihm gewissermaßen den Gefallen. Auf den Rat einer Gevatterin hin wird dem abwesenden Mann mitgeteilt, daß sie gestorben sei, und der erscheint vor Freude nicht einmal zur Beerdigung, bei der man an ihrer Statt einen Holzklotz in den Sarg legt. Indessen wird die abgehärmte Frau von der Gevatterin gepflegt und aufgeputzt, so daß sie nicht wiederzuerkennen ist. Und nun kommt es, wie es kommen muß: Es wird dafür gesorgt, daß der Mann seiner ehemaligen Frau begegnet. Er verliebt sich leidenschaftlich in sie und gibt keine Ruhe, bis seine Frau wieder seine Frau wird.
Mit der Enthüllung der Wahrheit explodiert der Schwank typusgerecht in einem komischen Show-down. Bliebe es dabei, könnte man sein uneingeschränktes Vergnügen daran haben. Aber es gibt kein versöhnendes Gelächter, weder zu zweit noch in der Öffentlichkeit. Der blamierte Mann gewinnt kein neues, besseres Verhältnis zu seiner Frau, vielmehr weiß er nicht, ob er ihr Vorwürfe machen oder ob er sie loben soll. Und unter den Leuten ist er lebenslang dem Spott ausgeliefert. Dieser Schluß nimmt der Enthüllung das Befreiende und vermindert damit die komische Wirkung, von dem der Schwank seinem Wesen nach lebt. – Schade um die gelungene Erfindung. Man könnte jedoch mit Klaus Grubmüller dagegenhalten, es gehe dem Stricker eben hier wie stets letztlich um den lehrhaften Effekt. Die Verspottung des Ehemanns sei die gerechte Strafe für sein Fehlverhalten und diene so der exemplarischen Funktion.20 Das mag richtig sein, doch damit wird das Mißverhältnis zwischen der ganz auf die komische Entlarvung angelegten Erzählung und dem aus dieser Perspektive ausscherenden Schluß nur um so augenfälliger. Optimal realisierte Schwankkomik bietet zunächst auch ›Die Martinsnacht‹21, und dieses Stück ist wohl ebenfalls vom Stricker erfunden: Wenn der Dieb im Stall, von dem bezechten Bauern in der Martinsnacht überrascht, geistesgegenwärtig die Kleider von sich wirft, die Rinder segnet, und dies, wie er erklärt, als Dank dafür, daß man ihn, den hl. Martin, an seinem Festtag so prächtig gefeiert habe, und wenn der Bauer das glaubt und um sein Vieh betrogen wird, so kann man 19
Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. VII. Grubmüller [Anm. 9], S. 44. 21 Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. XI. 20
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darüber uneingeschränkt lachen. Am Schluß schimpft die Frau den Gutgläubigen zwar ein Rindvieh, und man verspottet ihn, aber es ist, wie gesagt wird, weniger die Schande, die ihn schmerzt, als der Schaden, d. h., es überwiegt der äußere Verlust, nicht ein seelischer Jammer, der Mitleid erregen könnte. Und das ist schwankgemäß. Wenn dann doch noch etwas aus dem Rahmen fällt, ist es wieder das moralische Epimythion, in dem der Erzähler davor warnt, Diebesworte für bare Münze zu nehmen, denn ein Dieb müsse ja lügen, um zu seinem Ziel zu kommen! Eine solche Moral ist so sinnlos wie unnötig. Die Geschichte genügt sich selbst. Ist es diese Selbstgenügsamkeit, die dem Stricker bei seiner eigenen Erfindung nicht recht geheuer gewesen ist? Man gewinnt den Eindruck, daß er unter einer Art moralischem Sinngebungszwang steht und dabei immer wieder hilflos danebengreift.
II Statt die Strickerschen Kurzerzählungen von generellen Erzählperspektiven und ihren Bedingungen her zu beurteilen, kann man sie auch von der Geschichte des jeweiligen narrativen Typus her aufzuschließen und zu bewerten versuchen. Es läßt sich dann unter Umständen zeigen, daß ein Stoff sich unter wechselnden Aspekten oder Intentionen unterschiedlich entfaltet, um dann möglicherweise in einer bestimmten Variante das in ihm steckende Erzählpotential in optimaler Weise zu realisieren. Max Lüthi hat von der Zielform einer Erzählung gesprochen und einen solchen Prozeß an einem Fall auch eindrucksvoll demonstriert.22 Die Zielform wäre dann das Kriterium für die Beurteilung einer Variante auf dem Weg zu ihr hin. Man wird sich für einen solchen Bewertungsmaßstab gewiß nicht ohne Vorbehalte entscheiden dürfen, denn möglicherweise beruht eine Erzählung, die gegenüber ihrer Zielform zurückbleibt, nicht auf einer Schwäche der Phantasie, sondern hängt an einer dazu querstehenden Intention. Aber es gibt doch immer wieder Fälle, an denen sich zeigen läßt, daß in einer Variante ein Handlungsgang objektiv plausibler durchgespielt wird als in einer andern. So ist etwa Boccaccios Version der ›Frauentreue‹ gegenüber der mittelhochdeutschen Version offenkundig schlechter motiviert.23 Fragen wir also auch beim Stricker, wie er sich bei seinem Erzählen zur Tradition des jeweiligen Erzähltyps und den in ihm angelegten Entfaltungsmöglichkeiten verhält – wenn denn eine solche Tradition faßbar ist. Als erstes Beispiel: ›Der begrabene Ehemann‹24. Eine Frau prüft die unbedingte Liebe ihres Mannes dadurch, daß sie von ihm verlangt, ihr alles zu glauben, was sie sage. So setzt sie ihm am Mittag ein Abendbrot vor und verlangt, daß er dann schlafen gehe; er muß sich in ein kaltes Bad legen, von dem die Frau behauptet, es sei heiß; und schließlich redet sie ihm ein, er liege im Sterben, und dann läßt sie ihn einsargen und 22
Max Lüthi, „Urform und Zielform in Sage und Märchen“, Fabula 9 (1967), S. 41–54. Vgl. meine Studie „Boccaccio und die Tradition der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 394–409, hier S. 405f. 24 Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. IV. Grubmüllers Text [Anm. 11], S. 30ff., folgt dieser Ausgabe bis auf eine geringfügige Änderung (vgl. den Komm., S. 1030). 23
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tatsächlich begraben. Der Mann spielt mit, bis es ernst wird, aber dann ist es zu spät. Der Pfaffe, mit dem die Frau sich liiert hat, deutet seine Schreie aus dem Sarg als Teufelsstimme und läßt das Grab eilig zuschaufeln.
Die Geschichte vom unsinnigen Beweis absoluter Liebe ist in vielen Varianten überliefert.25 Doch in keiner wird der Mann am Ende einer Reihe von absurden Zumutungen tatsächlich lebendig begraben, sondern er kommt kurz vor der Katastrophe zur Besinnung. Nur der Stricker hat die Geschichte bis zur letzten Konsequenz durchgespielt. Hat er damit ihre Entfaltungsmöglichkeiten voll genützt? Hat er allein die Zielform erreicht? In gewisser Weise ja. Zugleich jedoch hat er eine Grundbedingung komischen Erzählens nicht eingehalten, derzufolge der Schaden dessen, über den man lacht, nicht unangemessen sein darf. Der Schluß zerstört die Komik; die vergnüglich-lachhafte Situation mündet in bitteren Ernst. Das ist eine böse Geschichte, aber man kann sagen, sie sei in ihrer radikalen Gemeinheit eine gute Geschichte.26 Anders verhält es sich mit der Erzählung ›Der junge Ratgeber‹27: Ein weiser Ratgeber rät seinem König, nach seinem, des Ratgebers, Tod nicht seinen Sohn zu seinem Nachfolger zu bestellen. Der König hört nicht auf ihn, und der Sohn verteilt dann in einer Hungersnot die Vorräte des Landes und verbraucht den ganzen königlichen Schatz, um das Volk zu retten. Zur Rede gestellt, sieht der König ein, daß der junge Mann weise gehandelt hat.
Es ist offenkundig, daß das Eingangsmotiv, die Warnung des sterbenden Vaters, erzählerisch ins Leere geht. Es fehlt denn auch in der Vorlage, der ›Disciplina clericalis‹ des Petrus Alfonsi, auf die die Strickersche Variante direkt oder indirekt zurückgehen dürfte.28 Ob der Stricker die Geschichte nun selbst verdorben hat oder sie einer schon mißglückten Vorstufe verdankt, er hat sie jedenfalls schlecht erzählt.
III Nunmehr zur Möglichkeit einer Beurteilung der erzählerischen Leistung im Rahmen eines Corpus mit spezifischem Gesamtprogramm. Für die Strickerschen Kurzerzählungen hat Hedda Ragotzky hier Pionierarbeit geleistet.29 Zwar geht es ihr nicht explizit um Fragen der Qualität, aber wenn ihre These 25
Siehe ebd., S. 1031f. Hier ist es also diese Gemeinheit, die alles Exemplarische übersteigt. Grubmüller [Anm. 9] ist gegenüber dem „herzlos-kaltblütigen Fazit“ (S. 41) dieser Erzählung nicht unempfindlich gewesen, er meint aber, daß sich das doch rechtfertige, wenn man bedenke, daß „das Verhalten des Mannes (. . . ) die Ordnungsprinzipien der Welt außer Kraft setzt“ und „der Demonstrationszweck des Musterfalls zum Verzicht auf alle Relativierungen zwingt“ (S. 42). Hätte er sich seinem spontanen Empfinden und nicht seiner Theorie überlassen, hätte er statt im Exemplarisch-Moralischen in der Demonstration einer brutal-makaberen Amoral das Ziel dieser Erzählung sehen müssen. 27 Der Stricker, Verserzählungen II, hg. v. Hanns Fischer, 4., durchges. Aufl. besorgt v. Johannes Janota, Tübingen 1997, Nr. XV. 28 Petrus Alfonsi, Die Kunst, vernünftig zu leben (Disciplina clericalis), dargest. u. aus dem Lat. übertr. v. Eberhard Hermes, Zürich 1970, S. 209–211. 29 Ragotzky [Anm. 17], S. 83–140. 26
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richtig ist, daß den Verserzählungen des Strickers ein klar durchdachtes moralisches Programm zugrunde liegt, wird man sein Erzählen, insofern es dieses Programm erfüllt, auch als gelungen bezeichnen dürfen. Nach Ragotzkys Interpretation enthüllen sich die Strickerschen Kurzerzählungen als Vehikel eines unerbittlichen ideologischen Konzepts. Als dessen Zielpunkt stellt sie die Stabilisierung der bestehenden Ordnung heraus, der Eheordnung, der Ständeordnung, der Weltordnung. Und das Erzählprogramm, das daraus geflossen ist, ist denn ihrer Meinung nach auch auf einen prägnanten Begriff zu bringen, auf den Begriff der kündikeit.30 Der Begriff sei zwar im Mittelhochdeutschen im allgemeinen negativ konnotiert: kündikeit heißt soviel wie ,Hinterlist‘, ja ,Verschlagenheit‘.31 Der Stricker habe diesen Begriff jedoch positiviert, er bezeichne bei ihm eine umsichtig gezielte Aktion, über die eine gebrochene Ordnung wiederhergestellt wird. Dabei habe er unterschieden zwischen gevüeger und ungevüeger kündikeit. gevüegiu kündikeit sei ein angemessenes kluges Verhalten, angemessen in bezug auf die gegebenen Umstände. Ragotzky übersetzt mit: „situationsspezifisches Interpretations- und Handlungsvermögen“.32 ungevüegiu kündikeit hingegen meine eine Reaktion zur Wiederherstellung der Ordnung, die das Maß überschreitet.33 Ihr Paradebeispiel für gevüege kündikeit ist ›Der kluge Knecht‹34: Der Knecht eines Bauern bemerkt, daß die Frau seines Herrn es mit einem Pfaffen treibt, wenn jener außer Haus bei der Arbeit ist. Er darf in seiner untergeordneten Position aber den Herrn nicht direkt darauf aufmerksam machen. Er führt deshalb eine Situation herbei, die es ermöglicht, daß der Bauer den Sachverhalt selbst zu entdecken vermag. Während der Bauer zum Holzen in den Wald fährt, kehrt er ins Haus zurück und beobachtet heimlich, wie die Frau alles für das Stelldichein mit dem Pfaffen arrangiert, Essen und Trinken, und sich anschickt, sich mit ihm zu vergnügen. Als dann der Bauer früher als erwartet erscheint, schafft die Bäuerin alle Corpora delicti eilig beiseite und versteckt auch den Pfaffen. Da der Bauer dem Knecht wegen seines Ausbleibens Vorwürfe macht, entgegnet dieser, er habe immer treu die Pflichten gegenüber seinen Herren erfüllt, außer einmal, als ein Wolf in die Schweineherde einbrach. Da sei er zu spät gekommen. Der Wolf habe sich ein Ferkel geschnappt, und das sei etwa so groß gewesen wie jenes gebratene, das da oben versteckt sei. Er habe dann mit einem Stein nach dem Wolf geworfen, und dieser Stein sei etwa so groß gewesen wie das dort hinten versteckte Weißbrot; er habe den Wolf getroffen, und der habe so viel Blut verloren, wie Met in jener Kanne dort sei, und da habe sich der Wolf unter einem Holzstoß verkrochen, so wie der Pfaffe dort unter der Bank. Der Bauer holt die inkriminierenden Dinge aus den Verstecken und packt zuletzt den Pfaffen, der sich mit einer schönen Summe Geld loskaufen muß, während er der Frau eine gehörige Tracht Prügel verpaßt, so daß es ihr noch tagelang weh tut.
Die Art und Weise, wie der Knecht hier seiner Position gemäß den Ehebruch indirekt aufdeckt, dies nennt der Stricker vriuntlıˆche oder gevüege[ ] kündikeit (v. 308 bzw. 336). Hedda Ragotzky unternimmt es dann zu zeigen, daß so gut wie sämtliche Kurzerzählungen des Strickers diesem Prinzip gehorchen, sei es, daß mit gevüeger kündikeit 30
Ebd., passim, insbes. S. 83f., S. 89–92. Sie bringt zahlreiche Belege aus der Spruchdichtung, ebd., S. 84, Anm. 3–7. 32 Ebd., S. 84, Anm. 1, ebenso S. 89. 33 Ebd., S. 90. 34 Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. VIII; danach auch in: Novellistik [Anm. 11], S. 10ff. 31
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eine verletzte Ordnung wiederhergestellt wird, oder sei es, daß mit ungevüeger kündikeit in derselben Absicht operiert wird – wie etwa beim ›Begrabenen Ehemann‹ –, oder sei es, daß die Fähigkeit zu situationsgemäßem Handeln überhaupt mangelt und man falschen Vorstellungen verfällt; der Gegenbegriff zu kündikeit heiße mhd. waˆn.35 Es ist gevüegiu kündikeit, wenn ein Mann seine hartnäckig widerspenstige Frau einmauert, bis ihr störrischer Sinn sich wandelt. Es ist gevüegiu kündikeit, wenn ein Mann, dessen Frau verlangt, daß er zum Beweis seiner Treue sich dem Gottesurteil des glühenden Eisens unterziehe, sich listig mit einem im Ärmel versteckten Stück Holz vor dem Verbrennen schützt, während sie, als er sie zum Gegenbeweis zwingt, sich fürchterlich die Hand verbrennt.36 Es ist gevüegiu kündikeit, wenn eine Frau, die von ihrem Mann gehaßt wird, ihn glauben läßt, sie sei gestorben, und sich ihm dann von einer Gevatterin schön gepflegt und neu eingekleidet als Unbekannte präsentiert und ihn in sich verliebt macht, um ihm schließlich seine Blindheit und Unvernunft zu enthüllen, usw. Es gehe immer darum, daß eine Norm gebrochen werde und der Normbrecher oder der von Normbruch Betroffene dies erkenne und dem Recht Geltung verschaffe,37 es sei denn, es handle sich darum zu demonstrieren, daß dies jemandem nicht gelingt, also die negative Seite des Prinzips, verfehlte kündikeit, anschaulich zu machen. Hedda Ragotzky hat durch die strenge Konsequenz ihrer Interpretation der Strikkerschen Kurzerzählungen vom Begriff der kündikeit aus großen Eindruck gemacht. Ihre Arbeit ist 1981 erschienen und bisher grundsätzlich nie in Frage gestellt worden. Und dies, obgleich ihr schon drei Jahre später, freilich eher beiläufig und deshalb unbeachtet, in einer bestimmten Hinsicht der Boden entzogen worden ist. Ich denke an eine Studie von Elfriede Stutz, die, angestoßen von Ragotzkys Verständnis der Strikkerschen kündikeit, eine semantische Analyse des Begriffs auf der Basis seiner Verwendung in der zeitgenössischen didaktischen Literatur vorgenommen hat.38 Sie stellt dabei fest, daß der Begriff durchgängig pejorativ akzentuiert ist: „kündekeit beinhaltet Scharfsinn, jedoch nicht ein sittlich indifferentes Gewitztsein, sondern unredliche Gerissenheit, ja Verschlagenheit.“39 Wenn der Stricker den Begriff verwende – und er tut dies, entgegen dem Eindruck, den Ragotzkys Arbeit vermittelt, nur ein einziges Mal: im Epimythion zum ›Klugen Knecht‹40–, dann sei es „schwer denkbar“, daß er ihn „gegen allen herrschenden Sprachgebrauch“ positiv verstanden wissen wollte.41 gevüegiu kündikeit meint demnach nicht ein der Situation angemessenes kluges Verhalten und Handeln, sondern in dem einen konkreten Fall nichts anderes als eine tückische Aktion in guter Absicht. Oder in der Formulierung von Elfriede Stutz: Der Ausdruck „entspricht (. . . ) grob unserem ,frommen Betrug‘“.42 Und wenn das richtig ist – und es spricht alles 35
Siehe Ragotzkys entsprechende Gruppierung der Erzählungen: [Anm. 17], S. 90f. ›Das heiße Eisen‹ in: Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. V; danach auch in: Novellistik [Anm. 11], S. 44ff. (mit einer kleinen Einschränkung; siehe den Komm., S. 1037). 37 Ragotzky [Anm. 17], S. 90. 38 Elfriede Stutz, „Versuch über mhd. kündekeit in ihrem Verhältnis zur Weisheit“, in: Digressionen. Wege zur Aufklärung. Festgabe für Peter Michelsen, hg. v. Gotthardt Frühsorge, Klaus Manger, Friedrich Strack, Heidelberg 1984, S. 33–46. 39 Ebd., S. 45. Das deckt sich im Prinzip mit Ragotzkys eigenem Befund; vgl. Anm. 31. 40 Abgesehen vom Adv. kündiclıˆche in ›Edelmann und Pferdehändler‹, siehe unten S. 440. 41 Stutz [Anm. 38], S. 44. 42 Ebd. 36
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dafür –, dann folgt daraus, daß gevüegiu kündikeit nicht für das eintreten kann, was Ragotzky als moralisches Konzept des Strickers herausgearbeitet hat. Nun mag man dagegenhalten, daß dieses Konzept, auch wenn es nicht durch den ja nur singulär verwendeten Begriff kündikeit abgedeckt sei, doch Geltung besitzen könne. Dann hätte Ragotzkys Stricker-Interpretation auch ohne ihn Bestand. Es ist also zu prüfen, ob die Strickerschen Erzählungen unabhängig von dem inkriminierten Begriff das von Ragotzky statuierte Programm erfüllen und das Erzählen dabei dermaßen in sich konsistent ist, daß die literarische Leistung ohne Vorbehalt positiv beurteilt werden kann. Schon die Besprechung einzelner Erzählungen unter den Gesichtspunkten 1 und 2 hat gezeigt, daß dies nicht so ohne weiteres zu bejahen ist. Werfen wir nochmals einen Blick auf den ›Klugen Knecht‹. Der Stricker erklärt im Epimythion noch genauer, weshalb man sagen müsse, daß der Knecht mit gevüeger kündikeit, also ,tückisch mit guter Absicht‘, gehandelt habe. Hätte er nämlich seinem Herrn einfach vom Ehebruch seiner Frau berichtet, hätte sie es abstreiten und der Herr ihn für einen Lügner halten können. Er habe zudem seine Position in der sozialen Ordnung berücksichtigt, indem er es zu vermeiden wußte, seine Überlegenheit direkt zur Schau zu stellen und damit dem Bauern ein michel swære (v. 306) anzutun. Dagegen – gegen den Autor wie gegen die Interpreten, die ihm das abgenommen haben43 – ist zu sagen, es hätte ja durchaus genügt, wenn der Knecht den Betrogenen dazu gebracht hätte, seine Frau mit dem Pfaffen in flagranti zu ertappen. Weshalb die witzige Enthüllung über die Geschichte mit dem Wolf und dem Ferkel? Die Antwort lautet: Sie gehörte zur Stofftradition,44 und man versteht, daß der Stricker dieses reizvolle Motiv nicht opfern wollte, doch unter dem Aspekt einer diskreten Aufklärung ist es überschüssig. Die Geschichte bietet mehr, als was nach der Moral des Epimythions erforderlich gewesen wäre. Das Raffinement der Enthüllung vermittelt ein selbstgenügsames heimtückisches Vergnügen, und so dürfte denn gevüegiu kündikeit im revidierten Sinn durchaus das Richtige treffen. In der Stofftradition jedoch ist es in der Regel ein schlauer fahrender Schüler, der sich diesen witzigen Enthüllungsspaß leistet. Zu einem Bauernknecht paßt er nur schlecht. Es gibt jedoch Strickererzählungen, die eine kündikeit im Sinne von Ragotzky als Leitprinzip der Interpretation nicht nur einschränken, sondern es stark in Frage stellen. Das sei an zwei Fällen demonstriert: 1. Fall: ›Edelmann und Pferdehändler‹45 Ein reicher junger Edelmann verhält sich insofern nicht standesgemäß, als er es an milte fehlen läßt. Er lebt kündiclıˆche (v. 5), und das kann hier zweifellos nur negativ verstanden werden. Die 43
Nach Ragotzky auch Grubmüller [Anm. 11], Komm., S. 1026; ebenso Wolfgang Achnitz, „Ein mære als Bıˆspel. Strickers Verserzählung ›Der kluge Knecht‹“, in: Germanistische Mediävistik, hg. v. Volker Honemann u. Tomas Tomasek, Münster, Hamburg, London, 2., durchges. Aufl. 2000, S. 177–203, hier S. 191ff. 44 Novellistik [Anm. 11], Komm., S. 1023ff.; Achnitz [Anm. 43], S. 199; siehe auch Klaus Grubmüller, „Zum Verhältnis von ,Stricker-Märe‘ und Fabliau“, in: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme, hg. v. Emilio Gonza´lez u. Victor Millet (Philologische Studien und Quellen 199), Berlin 2006, S. 173–187. 45 Stricker, Verserzählungen II [Anm. 27], Nr. XIV.
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Verwandten mahnen ihn diskret. Da tut er so, als ob er bereit sei, Pferde zu verschenken. Er läßt einen Pferdehändler kommen und gibt ihm den Auftrag, erstklassige Rosse zu besorgen. Was immer der dann aber anbringt, wird mit fadenscheinigen Gründen zurückgewiesen, bald ist ihm das Alter, bald die Farbe, bald die Kopfhaltung usw. der Tiere nicht recht. Um die Ehrlichkeit seiner Bemühungen zu prüfen, schenken ihm die Verwandten schließlich ein Pferd, und dieses nimmt er denn auch unbesehen an. Da wissen sie, daß er ein unverbesserlicher Geizhals ist, und geben es auf, ihn ändern zu wollen. Den Pferdehändler aber hat er finanziell ruiniert, und als der sich beklagt, schimpft er ihn einen gouch und droht ihm, ihn umzubringen, wenn er nicht schleunig aus dem Land verschwinde.
Und die Moral der Geschichte? Der Pferdehändler wird getadelt, weil er in den Dienst eines Mannes getreten sei, der keine triuwe kennt. Das Schimpfwort des Edelmannes wird im Epimythion aufgenommen: 375
swer dienet oder raˆtet vil, doˆ man ez vür guot niht haben wil, den haˆt man vür einen gouch. dar naˆch loˆnet man im ouch.
Das ist ein provozierendes Fazit. Es wird gebilligt, daß derjenige, der die Ordnung verletzt hat, ungeschoren davonkommt, während der, dem Unrecht getan worden ist, bestraft wird. Ragotzky versucht, auch diesen unmoralischen Schluß mit ihrer Begrifflichkeit der gevüegen und der ungevüegen kündikeit zu bewältigen.46 gevüegiu kündikeit gebe es auf seiten der Verwandten, sie geben guten Rat und ziehen sich dann zurück, als dies nichts hilft. Der Edelmann agiere mit ungevüeger kündikeit, die im Pferdehändler auf einen Kontrahenten treffe, dem kündikeit überhaupt fehle, der sich vielmehr vom waˆn leiten lasse und deshalb zu Recht Schiffbruch erleide. Und wenn gesagt werde, die Verwandten hätten den Edelmann bıˆ sıˆnem site (v. 295) gelassen, so bedeute dies, daß sie „damit seine Geltung als soziale Person annullieren“.47 Doch diese angebliche Diskreditierung des Geizhalses ist einigermaßen mühsam herausinterpretiert und beweist nur, daß auch Ragotzky mit der Moral dieser Geschichte, selbst wenn ihre Begrifflichkeit stimmte, im Grunde nicht fertig wird. Die Erzählung verhöhnt jede Moral. Sie bricht mit dem von Ragotzky angesetzten Grundprinzip, demzufolge am Schluß die gerechte Ordnung wiederhergestellt sein sollte – es sei denn, es wäre möglich, über den Düpierten zu lachen; doch gerade dies schließt sich hier aus. Ohne das Epimythion könnte das eine böse Geschichte sein. Durch das Epimythion, das die Bosheit rechtfertigt, wird daraus eine Erzählung, die mit einem Mißklang endet.48 2. Fall: ›Das Ehescheidungsgespräch‹49 Ein Mann kündigt seiner Frau an, daß er sich von ihr scheiden lassen wolle, und zwar in einem Jahr, aber dann scheint ihm die Wartefrist zu lang, und er verkürzt sie auf vierzig Wochen und korrigiert sich dann immer weiter, um schließlich die sofortige Trennung zu verlangen. Und dazu entwirft er ein Bild von ihr, das sie zu einem wahren Scheusal macht: ,Du bist verschrum46
Ragotzky [Anm. 17], S. 112–117. Ebd., S. 115. 48 Siehe indessen mein Postskript, unten S. 445. 49 Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. III. 47
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IV. Diverses
pelt und schwarz, dein Atem stinkt wie ein Arschloch, mir graust, wenn ich dich nur anschaue‘, usw. Die Frau geht scheinbar auf sein Ansinnen ein, dreht das Spiel mit der Trennungsfrist dann aber um: ,Gut‘, sagt sie, ,trennen wir uns heute, oder doch lieber morgen, oder besser in sieben Tagen‘, bis sie am Ende erklärt, sie wolle ihn überhaupt nicht freigeben. Und sie fordert rabiat sein Einverständnis: Wenn er auch nur ein Wort dagegen einwende, würde sie ihm wie einem Huhn den Hals umdrehen. Da wird der Mann kleinlaut, fleht sie um Gnade an, schiebt seinen Ausbruch auf den Wein, von dem er zuviel getrunken habe, und nun kehrt er das häßliche Bild von seiner Frau ins überzogene Gegenteil um, er nennt sie das schönste aller Geschöpfe, tugendvoll, und sie überstrahle alle Frauen wie die Sonne die Sterne, usw. Da vergibt sie ihm, küßt ihn und zieht ihn ins Bett, wo sich alle Zwistigkeiten von selbst erledigen, so daß beide am Ende zusammen lachen und singen.
Ohne nähere Erklärung sieht Ragotzky auch diese Erzählung unter dem Aspekt gevüeger kündikeit.50 Das wird man, auch wenn man das damit gemeinte Konzept unterstellt, schwerlich nachvollziehen können, denn das Verfahren zur Wiederherstellung der Ordnung reduziert sich hier, wie bei der ›Eingemauerten Frau‹, auf pure Brutalität. Die Drohung der Frau, ihm den Hals umzudrehen, jagt dem Mann einen solchen Schrecken ein, daß er das zuvor als so häßlich beschriebene Weib zu einer idealen Schönheit hochstilisiert. So wird die Wirklichkeit durch Gewalt in ihr Gegenteil umgelogen. Das ist eine abgründige Geschichte. Denn ihr implizites Fazit lautet: Mit Brutalität und Sex lösen sich alle Probleme. Ein Epimythion erübrigt sich. Nirgendwo wird deutlicher, wie radikal der Stricker jenes Prinzip, das Ragotzky mit dem Begriff der kündikeit zu fassen versuchte, zu unterlaufen vermag. Durch die grobe Konsequenz, mit der dies hier geschieht, ist das aber doch eine gute böse Geschichte. Das Fazit: Wenn das Ziel der Strickerschen Kurzerzählungen, wie behauptet wird, darin besteht, direkt oder ex negativo eine gebrochene Ordnung wiederherzustellen, so geschieht dies nur ausnahmsweise im Sinne einer Lösung, die voll aufgeht, d. h. die nicht nur äußerlich rehabilitiert und straft, sondern auch innerlich die Situation in Ordnung bringt. Und eine unvoreingenommene Analyse zeigt, daß sie dabei bis auf ganz wenige Ausnahmen unmenschlich und humorlos sind. Es gibt kaum einmal Komik, die einen zum Lachen bringen könnte. Denn im Lachen würde man ja der verlachten Ordnungswidrigkeit ein wenigstens relatives Recht zugestehen. Die Unterlegenen haben beim Stricker kein Recht mehr. Der Sieger hebt den Besiegten nicht auf, noch wäre er bereit, seinen Sieg zu relativieren. Vielmehr beharrt er rigoros auf einer Ordnung, die von unerhörter Starrheit ist. Dementsprechend sind fast alle Schlüsse der Strickerschen Kurzerzählungen deprimierend oder zumindest unbefriedigend. Es ist zwar möglich, daß ein relativ harmloser Ordnungsverstoß wie im ›Nackten Boten‹ aufgeklärt und ohne Rest bereinigt wird.51 Aber das bleibt ein singulärer Fall – wenn man vom ›Erzwungenen Gelübde‹ absieht, das überraschend mit einem befreienden Gelächter endet.52 Ansonsten kommt es so gut wie nie zu einer wirklich versöhnlichen Lösung. Der arme Mann, der durch die Unbesonnenheit seiner Frau seine drei Wünsche verspielt, stirbt am Ende vor Gram. Der Ehegatte, der aus Liebe seiner Frau verspricht, ihr alles, 50
Ragotzky [Anm. 17], S. 103, Anm. 24. Stricker, Verserzählungen I [Anm. 11], Nr. IX. 52 Ebd., Nr. II. 51
3. Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten
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was sie sage, zu glauben, wird gnadenlos lebendig begraben. Die Frau, die sich am heißen Eisen verbrennt, geht mit einer verkrüppelten Hand durch das Leben, wobei ihr Mann, der sich nur durch Trug aus der Affäre gezogen hat, sie künftig hassen und, so sehr er nur kann, verächtlich machen will. Wenn die eingemauerte Frau ihren Sinn wandelt und freikommt, so meint sie zwar, ihr Vorbild würde alle bösen Weiber im Land auf den Pfad der Tugend führen, aber im Grunde kuschen sie nur aus Angst, daß ihnen dasselbe Schicksal zuteil werden könnte. Der Mann, der in ›Der Gevatterin Rat‹ seine eigene Frau nochmals heiratet, gerät nicht nur in ein quälend zwiespältiges Verhältnis zu ihr, sondern er sieht sich sein Leben lang dem Gespött der Leute ausgeliefert. Obschon die Frau im ›Klugen Knecht‹ sich nach ihrem Fehltritt sehr um ihren Mann bemüht, liebt er sie, wie es heißt, nicht mehr so wie zuvor. Der geizige Edelmann kommt ungeschoren davon, während der Pferdehändler, der sich redlich Mühe gegeben hat, – mit der Billigung des Autors – in den Ruin getrieben wird. Und wenn im ›Ehescheidungsgespräch‹ der Konflikt fröhlich im Bett ad acta gelegt wird, so schwebt darüber doch die Gewalt und die Lüge. Man könnte sich fragen, ob diese trostlosen Schlüsse bewußt gesetzt sind und hinter ihnen eine tiefere Einsicht steht, etwa in der Richtung, daß gesagt werden sollte, eine gebrochene Ordnung könne zwar repariert werden, aber es blieben doch die Risse immer noch sichtbar, es könne nie wieder so sein, wie es einmal war. Aber für eine solche Intention erscheinen die deprimierenden Schlußbemerkungen doch zu beiläufig. Eher meine ich, daß etwas anderes kaum vermeidlich durchschlägt, nämlich ein negatives Frauenbild.53 Die von vornherein abgewertete Po53
Es findet sich auch in einem 212 Verse umfassenden Gedicht, das sich fast Satz für Satz durch die Kurzerzählungen illustrieren ließe; siehe Gustav Rosenhagen, Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte, III, Berlin 1909, Nachdr. Dublin, Zürich 1970, Nr. 117. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. u. erw. Aufl. besorgt v. Johannes Janota, Tübingen 1983, hat, S. 37, die Hauptargumente des Gedichts in weitgehend freier Paraphrase folgendermaßen wiedergegeben: „Gegen törichte Frauen gibt es kein Mittel. Da sind solche, die ihren rechtschaffenen Mann nicht lieben, andere, die unerschütterlich zu ihrem Taugenichts halten, wieder andere, die einem Mann, den sie gering achten, das Geld abnehmen und es einem andern geben, der von ihnen nichts wissen will. Gegen so viel Torheit ist ein Mann machtlos. Niemand soll sich auf den Ratschlag einer Frau verlassen. Frauen haben oft nur den Verstand eines Kindes. Ein einziger weiser Mann hat mehr Weisheit als alle Frauen zusammen. Der Frauen Sinn ist nur auf schöne Kleider gerichtet; würden sie ebenso begierig sein auf Tugend, dann wären sie wie Engel. Wäre ein Mann noch so rechtschaffen, seine törichte Frau hielte doch wenigstens drei schlechtere für besser. Es ist wie bei einem kleinen Kinde: schenkt man ihm einen Pfennig und hält ihm nachher ein Ei hin, dann gibt es den Pfennig um das Ei. Könnte eine Frau einkaufen, wie sie wollte, sie kaufte bestimmt ein Ei um einen Pfennig. Für Frauen muß man viel mehr ausgeben, als sie wieder einbringen. Dafür müßten sie sich dem Mann gegenüber durch besonderes Wohlverhalten erkenntlich zeigen. Hätten die Frauen über die Männer Gewalt wie diese über sie, dann wären sie gewiß nicht bereit, ihnen soviel Torheit nachzusehen. Darum ist es gut, daß die Gewalt bei den Männern liegt. Nun gibt es aber auch Frauen, die die Herrschaft über ihren Mann anstreben. Das kommt davon, wenn Männer ihren Frauen gegenüber zu gut sind. Schafe muß man hüten, Rosse unter dem Zaume halten, sonst werden sie wild. Wer seiner Frau nachgibt, verliert auch ihre Liebe. Ein Mann muß bei aller Zuneigung zu seiner Frau den Verstand behalten. Eine Frau, die ihren Mann beherrscht, macht ihm das Leben zur Qual, und beide verlieren das Ansehen bei den Leuten. Wer etwas auf sich hält, sollte nicht in allen Dingen einer törichten Frau folgen. Sollte eine Frau mich wegen dieses Rates anfeinden, so gibt sie damit zu erkennen, daß sie nach der Herrschaft über ihren Mann strebt.“
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IV. Diverses
sition der Frau verhindert eine völlige Versöhnung, denn dazu müßte der Mann die Partnerin ja auf dieselbe Stufe heben. Das bringt der Stricker nicht über sich, und so muß alle Wiederherstellung der Ordnung in den Ehekonflikten – und darum handelt es sich ja meistens – fast durchwegs mit einem Mißklang enden. Der Stricker kann bestenfalls auf böse Weise ein guter Erzähler sein. Wo Güte erforderlich wäre, da versagt er auch als Dichter.
Postskript Bei der Diskussion in Santiago ist gegenüber meiner kritischen Beurteilung der Erzählkunst des Strickers von mehreren Seiten ein grundsätzlicher Einwand erhoben worden, der zu bedenken ist. Es wurde vorgebracht, daß die Moralisatio am Schluß von mittelalterlichen Kurzerzählungen unterschiedliche Funktionen erfüllen könne. Es sei nicht nur damit zu rechnen, daß ein Epimythion das, was die Erzählung an Lehre vermitteln wolle, explizit und adäquat zum Ausdruck zu bringen beabsichtige, die Moralisatio könne auch dazu dienen, eine unmoralische Geschichte augenzwinkernd zu bemänteln,54 oder einfach nochmals einen verqueren Spaß darauf setzen, ja, es müsse schließlich auch damit gerechnet werden, daß eine offensichtlich falsche Moral den Hörer/ Leser dazu anstacheln sollte, sie für sich durch die richtige Einsicht zu ersetzen. Die Voraussetzung für diese wechselnden Funktionen sei, daß die Mären nicht als abgeschlossene Texte im modernen Sinne verstanden werden dürften, daß sie vielmehr in einem kommunikativen Prozeß stünden, bei dem das Weiterdenken der Rezipienten immer schon mit einkalkuliert sei. Ich kann diesen Überlegungen zur Polyfunktionalität der Moralisatio im Prinzip durchaus zustimmen, ja, es ist möglich, wie Hedda Ragotzky gezeigt hat, weitere funktionale Differenzierungen vorzunehmen.55 Daß eine Moralisatio den Kern einer Erzählung treffen kann, ist selbstverständlich, und dies um so sicherer, je stärker diese als Exempel konstruiert ist.56 Auch der Stricker bietet ein Beispiel: Die Epimythion-Lehre des ›Nackten Boten‹ lautet: ,Wer sich auf den äußeren Anschein (waˆn, v. 221) verläßt und eine Sache nicht nachprüft, der kann Schaden leiden und in Schuld geraten.‘ Daß diese kurze Geschichte aus dem Rahmen des für den Stricker typischen Erzählgestus fällt, sollte freilich nicht übersehen werden. Von der Möglichkeit, eine unmoralische Erzählung durch eine an den Haaren herbeigezogene Moral schadlos zu verkaufen, macht der Stricker keinen Gebrauch. Auch Moralisationen als pointenhafte Späße fin54
Daß auch hierbei wiederum unterschiedliche Akzentuierungen möglich sind, hat Victor Millet gezeigt: „Märe und Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen“, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. v. Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 273–290. 55 Ragotzky [Anm. 14]. Sie stellt gegenüber Grubmüllers Thesen fest, daß sein Blick auf die Exempelfunktion der Strickerschen Mären „zu einseitig an der didaktischen Instrumentalisierung der Geschichten ausgerichtet“ sei; es müsse vielmehr auf das „Spannungsverhältnis“ geachtet werden, das „für den Übergang von erzählter Geschichte zur Fazitbildung kennzeichnend“ sei (S. 63). 56 Haug [Anm. 4], S. 456f.
3. Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten
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den sich bei ihm nicht. Bleibt die Möglichkeit einer falschen Moral, die zum Weiterdenken zwingt. Hierbei könnte man an das Epimythion zu ›Edelmann und Pferdehändler‹ denken. Wenn man es in der Weise zusammenfaßt, daß man sagt: ,Wer einem treulosen Mann dient, ist selbst daran schuld, wenn er zu Schaden kommt‘, dann steht die Moral offensichtlich gegen den Tenor der Erzählung, in der der Geizhals eine unverkennbar üble Figur abgibt, und man könnte dann sagen, der Rezipient sei zur Korrektur der Lehre aufgefordert. Doch das Epimythion mit seinen 37 Versen ist sehr viel differenzierter angelegt, als dies die oben gegebene sentenzhafte Reduktion nahelegt. Es wird zunächst nochmals das geizige, unsoziale Verhalten des Edelmanns herausgestellt, und dann wird gesagt: Wer so einem diene, der sei verloren; man könne es ihm so gut oder so schlecht machen, wie man wolle, das bedeute ihm alles nichts (vv. 341–355). Und es habe auch keinen Zweck, dem Mann seinen Geiz abgewöhnen zu wollen; aller guter Rat gehe verloren (vv. 356–370). Und dann folgt eine Mahnung zur Vorsicht: Man solle prüfen, ob jemand wirklich einen Dienst oder Rat haben will, bevor man das eine oder das andere anbiete (vv. 371–374). Und erst am Ende steht dann das Verdikt: Wer trotzdem Dienste oder Rat anbietet, ist ein Narr (gouch) und bekommt den Lohn, den er verdient hat (vv. 375–378). Der harte Schluß ist also vorbereitet und stellt dadurch einen erheblich geringeren Affront dar, als wenn man die vier letzten Verse isoliert betrachtet. Die epimythische Pointe mag zwar immer noch schief sitzen, aber doch nicht so sehr, daß sie einen zu einer Revision drängen müßte. Es ist – und dies gilt bei den Geschichten mit bösen Schlüssen allgemein – weniger eine allfällige Moral als die Geschichte selbst, die provoziert. Die weiteren Moralisationen in den Strickerschen Verserzählungen lassen sich keiner der erwähnten Möglichkeiten zuordnen. Bei den ›Drei Wünschen‹ mündet die Lehre, wie gezeigt, in eine allgemeine Betrachtung über Typen von Torheit, in der ›Martinsnacht‹ ist die Moral schlicht sinnlos. Im übrigen hat Hedda Ragotzky zu Recht bemerkt, daß man es häufig statt mit einer direkten Moral zur Erzählung mit Fazitbildungen zu tun hat, die in die Richtung der Spruchdichtung gehen, also im Grunde zum gängigen epimythischen Zweck querliegen.57 So zeigt sich denn, daß zwar eine Polyfunktionalität der Moralisatio beim Stricker prinzipiell in Betracht zu ziehen ist, daß ihre verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten aber kaum einmal pointiert wahrgenommen werden, daß sie sich vielmehr meist recht beliebig geben. Das Verhältnis von Erzählung und Epimythion erscheint dadurch eigentümlich unschlüssig, es ist offenbar noch nicht konzis auf seine erzählerischen Einsätze hin durchschaut, also sozusagen poetologisch noch nicht zu sich selbst gekommen. Der Stricker erweist sich auch unter diesem Aspekt als ein ,Anfänger‘ mit dem ganzen innovativen Reiz und der ganzen unreifen Vorläufigkeit, die dazu gehören.
57
Ragotzky [Anm. 14], S. 60ff.
4. Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter
Unter den spätmittelalterlichen profanen Tragzeichen aus den Niederlanden ist der Anteil derjenigen, die erotische Motive zeigen, auffällig hoch. Ja, wenn man von den ornamentalen Broschen, den Münzen und den heraldischen Stücken absieht, die funktional in eine eigene Sparte gehören, überwiegen die erotischen Darstellungen zahlenmäßig alle übrigen – wie Ritter, Teufel, Sirenen, Schweine, Hunde, Vögel, Waffen usw.1 Es sind insbesondere zwei einschlägige Motive, die immer wieder erscheinen: koitierende Paare (HP 1, Abb. 610–615; HP 2, Abb. 1724–1734) und männliche und weibliche Genitalien (HP 1, Abb. 617–667; HP 2, Abb. 1735–1777). Einige Beispiele: Abb. 1730 zeigt ein koitierendes Paar auf einer Art architektonischer Konsole; Abb. 1729: dasselbe Motiv in einem Kamm – das ist nicht etwa ein Gebrauchsgegenstand, denn die Darstellung bewegt sich in der üblichen Größenordnung dieser Tragzeichen: 3 cm hoch, 4,5 cm breit:2
Auch Szenenfolgen kommen vor, z. B. Abb. 1726: links ein Mann, unter einem Baum sitzend, der einer ihm die Arme entgegenstreckenden Frau seinen mächtigen Penis vorführt; rechts ist wohl das Ergebnis dieser Demonstration zu sehen (siehe gegenüberliegende Seite). In vielfältigen Variationen erscheinen männliche und weibliche Genitalien, die nicht nur abgelöst präsentiert, sondern gewissermaßen als Eigenwesen verselbständigt sind, Siehe die Sammlungen Hendrik Jan E. van Beuningen u. Adrianus M. Koldeweij, Heilig en Profaan. 100 laatmiddeleeuwse insignes uit de collectie van H. J. E van Beuningen (Rotterdam Papers 8), Cothen 1993 [zit. HP 1]; Hendrik Jan E. van Beuningen, Adrianus M. Koldeweij, Dory Kicken, Heilig en Profaan 2. 1200 laatmiddeleeuwse insignes uit openbare en particuliere collecties (Rotterdam Papers 12), Cothen 2001 [zit. HP 2]. 2 Die Darstellung des Koitus im Kamm parodiert im Kleinformat jene Gebrauchskämme aus Elfenbein, die an dieser Stelle höfische Liebesszenen zeigen. Malcolm Jones, „The sexual and the secular badges“, in: HP 2, S. 196–206, hier S. 196, fragt dazu: „is their designer mocking the aristocratic taste for amour courtois, is he cynically proclaiming that this is what all that conventional dalliance is really about?“ 1
4. Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter
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indem man sie mit Flügeln oder Beinen oder beidem versehen hat. Einen geflügelten Penis mit Hoden bietet Abb. 1761, einen Penis mit Flügeln, zwei Beinen, einer Krone auf der Eichel und einer Glocke darunter Abb. 1758:
Mehrfach finden sich auch Penisse am Bratspieß, auf Abb. 1744 z. B. betreut von Mann, Frau und Kind – eine Familiengrillparty. Auf Abb. 1751 dient bei einem solchen Penis-Barbecue eine Vulva als Fettpfanne:
Abb. 1744
Abb. 1751
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IV. Diverses
Auch die Vulva kann sich auf die Beine machen – auf Abb. 1774 mit Pilgerhut, Wanderstab und Rosenkranz –, oder sie kann hoch zu Roß daherkommen: auf Abb. 656 als gekrönte Reiterin, die in der einen Hand einen Bogen hält, dessen Pfeil auf sie selbst gerichtet ist, und in der andern wohl eine Geißel:
Häufig finden sich auch hybride Kombinationen oder Häufungen von Geschlechtsteilen, z. B. Abb. 661: eine Vulva auf Stelzen, die von drei Phallussen gekrönt ist, oder Abb. 1745: eine Frau mit Wanderstab, die einen Korb mit Penissen auf dem Rücken trägt:
Auch Ausgestaltungen zu szenischen Arrangements kommen vor, etwa Abb. 1763, wo eine Vulva offenbar einem Penis auf einer Leiter nachsteigt, oder Abb. 652, wo zwei hochbeinige, geschwänzte Phallusse eine Vulva mit kronenartigem Hut, wie eine Würdenträgerin auf Stangen geschultert, davonführen, während eine dritte Penisfigur, deren Arme und Hände als Penisse gestaltet sind, sie begleitet:
4. Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter
Abb. 1763
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Abb. 652
Vereinzelt gibt es Tragzeichen mit narrativem Hintergrund: ,Aristoteles und Phyllis‘ (Abb. 1627) – ein Motiv, auf das ich später zurückkommen werde –, eine Liebesszene, die vermutlich von der ›Burggräfin von Vergi‹ inspiriert ist (Abb. 610, 611, 1726),3 die vier Haimonskinder auf dem Wunderpferd Bayard (Abb. 1679);4 ferner finden sich Episoden mit Wilden Männern und Frauen (Abb. 588–595, 1663–1678, 1699, 1702– 1704, 1738), von denen einige möglicherweise einen literarischen Hintergrund haben, die aber nicht spezifisch genug sind, um eine konkrete Zuweisung zu erlauben.5 Die erste Frage, die sich angesichts dieser phantastischen erotischen Bildlichkeit stellt, dürfte die sein, ob solche Tragzeichen als dezidiert obszön anzusehen sind oder ob es sich um harmlos-scherzhafte Spielereien handelt, bei denen man sich mehr oder weniger unbefangen im sexuellen Bereich bewegt. Unser spontanes Empfinden ist selbstverständlich kein brauchbarer Maßstab, um die Frage zu entscheiden. Denn während wir heute eher amüsiert als schockiert auf solche Darstellungen reagieren, hätte man sie vor fünfzig Jahren schwerlich vorzeigen können, ohne einen peinlichen Effekt hervorzurufen. Die Einstellung gegenüber dem Bereich des Sexuellen ist seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so liberal geworden wie wohl nie zuvor in der abendländischen Geschichte. Gerade dies aber sollte uns die kulturelle Bedingtheit dessen, was als obszön zu gelten hat, um so nachdrücklicher ins Bewußtsein rufen. Doch welche Möglichkeiten haben wir, den historischen Rezeptionshorizont für das, was jeweils als obszön angesehen worden ist, zu rekonstruieren?6 Wir stehen vor einer mentalitätsge3
Jones [Anm. 2], S. 201. Ausführlich zum literarischen Zusammenhang die Einleitung von Willem P. Gerritsen zu De burggravin van Vergi. Een middeleeuwse novelle, vertaald door Willem Wilmink, mit mndl. Text, hg. v. Ria Jansen-Sieben, Amsterdam 1997, S. 9–22, insbes. S. 20ff. 4 Jones [Anm. 2], S. 201. 5 Siehe zu diesem Komplex Richard Bernheimer, Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment, and Demonology, Cambridge/MA 1952, insbes. Kap. 5: „The erotic connotations“; Norbert H. Ott, „Travestien höfischer Minne. Wildleute in der Kunst des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit“, in: Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext. FS Leander Petzoldt, Frankfurt a. M., Berlin u. a. 1999, S. 489–511; sowie Erika Langbroek, „Die Jungfrau und das Wilde Tier in der Erzählung ,Valentin und Namelos‘“, in: Erotik, aus dem Dreck gezogen, hg. v. Johan H. Winkelman u. Gerhard Wolf (ABäG 59), Amsterdam, New York 2004, S. 139–153. 6 Diese Frage wird u. a. auch von Stefanie Stockhorst aufgeworfen: „Offene Obszönität. Be-
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IV. Diverses
schichtlichen Frage, die sinnvoll nur fächerübergreifend und multiperspektivisch angegangen werden kann. Man darf sich auch nicht scheuen, auf Grundsätzliches zu sprechen zu kommen und notfalls kulturgeschichtlich weit auszugreifen. Versuchen wir uns zunächst über den Begriff ,obszön‘ zu verständigen.7 Er steht in Korrelation zu einer Sphäre, die der Scham unterliegt und deshalb tabuisiert ist. Konkret ist dies insbesondere die Sphäre des Sexuellen und Skatologischen. Wo es einen solchen Schambereich nicht gibt, macht das Wort ,obszön‘ keinen Sinn. Von Obszönität ist also dann zu sprechen, wenn diese Tabusphäre provokativ enthüllt wird oder wenn man sie provokativ ins Bild oder ins Wort bringt. Das provokative Moment ist entscheidend, d. h., der Vorstoß muß absichtlich erfolgen; geschieht die Enthüllung zufällig – etwa wenn jemandem die Hose herunterrutscht –, so ist dies nur peinlich. Enthüllung ist freilich eine unscharfe Bestimmung. Man kann verhüllend enthüllen, man kann die Provokation verschleiern, und dabei kann das Zweideutige besonders provokativ wirken. Der virtuose Striptease hat dies zu einer hohen Kunst entwickelt. Doch das ist ein sekundäres Problem; es berührt die Frage nach der Möglichkeit einer Ästhetisierung des Obszönen – es wird noch davon zu sprechen sein. Obszönität definiert sich somit als die provokative Darbietung oder Darstellung dessen, was der Scham unterworfen ist. Und die Definition muß so formal bleiben; denn was der Scham unterliegt, konkret zu bestimmen, ist generell nicht möglich, da dieser Bereich kulturhistorisch außerordentlich variabel erscheint. Die Schamschwelle kann sehr hoch getrieben werden. Wenn z. B. in einer Kultur der weibliche Fuß unter die Schamschwelle fällt, wird seine Entblößung zu einem obszönen Akt. Die viktorianische Prüderie ging bekanntlich so weit, daß eine Dame das Wort ,Hose‘ nicht aussprechen durfte. Daran hängt auch der Pornographiestreit. Wenn die Prozesse um ›Madame Bovary‹, ›Ulysses‹, ›Fanny Hill‹ oder Schnitzlers ›Reigen‹ uns auch heute obsolet erscheinen, so hat doch die Diskussion um die Grenze zwischen Kunst und Pornographie keineswegs ihre Brisanz verloren; man denke an den Fall Sorokin. Und die großen Bibliotheken haben immer noch ihre Giftschränke, das Enfer etwa der Bibliothe`que nationale. Wir leben in einer Zeit, in der, wie gesagt, die Schamschwelle radikal herabgesetzt ist. Aber es scheint doch eine untere Grenze zu geben, jedenfalls für unsere Kultur – denn ob die Scham als ein anthropologisches Universale anzusehen ist, ist umstritten. Ich beschränke mich also auf die abendländische Tradition. In unserer Kultur steht eine prinzipielle Preisgabe der Schamschwelle nicht zur Debatte. FKK-Strände sind ausgegrenzt. Wer nackt durch die Straßen geht, landet in der psychiatrischen Klinik.
deutungsangebote der Geschlechtsdarstellungen profaner Tragezeichen im kulturellen Kontext“, ebd., S. 215–234, hier S. 216f. 7 Vgl. zum Folgenden Wolf-Dieter Stempel, „Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem“, in: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. v. Hans Robert Jauss (Poetik und Hermeneutik III), München 1968, S. 187–205; Jan M. Ziolkowski, „Introduction“, in: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages, hg. v. J. M. Ziolkowski, Leiden, Boston, Köln 1998, S. 3–18.
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Das gilt für den öffentlich-lebensweltlichen Bereich. Was hingegen die Darstellung in Wort und Bild betrifft, scheint es kaum noch Schamgrenzen zu geben, die nicht überschritten werden dürfen. Als in den fünfziger Jahren Hildegard Knef im Film ›Die Sünderin‹ für einen Augenblick nackt auf der Leinwand zu sehen war, kam es zu einem solchen Skandal, daß sie es vorzog, Deutschland zu verlassen. Heute hat man sich daran gewöhnt, daß sich fast bei jeder Inszenierung irgend jemand auf der Bühne nackt auszieht, und man scheut sich nicht, im Kino einen Koitus zu zeigen. Aber wenn man damit auf eine Provokation zielt – und oft geht es um gar nichts anderes –, so setzt dies die Schamschwelle, bei aller demonstrativen Verachtung für sie, doch immer noch voraus. Daß sich die Provokation verbraucht und immer weiter getrieben werden muß, um noch zu wirken, und schließlich alles in Langeweile endet, steht auf einem andern Blatt. Die bloße Verletzung der Schamschwelle ist nicht ,abendfüllend‘, und das ist, wie zu zeigen sein wird, von Bedeutung für die Frage der Ästhetisierung des Obszönen. Was bedeutet der Bereich der Scham und seine Provokation durch den obszönen Akt in kulturtheoretischer Hinsicht? Wo man einen solchen Bereich ansetzt, rechnet man mit einer Sphäre, die sich prinzipiell der kulturellen Bewältigung entzieht. Schärfer formuliert: Das Sexuelle und das Skatologische stellen die durch den Geist geprägte Ordnung in Frage. Das ist letztlich der Grund für die Tabuisierung. Und doch bestimmt dieser Bereich die Conditio humana wesentlich mit. Wir können unsere Leiblichkeit nicht verleugnen; sie läßt sich nur mit Schaden verdrängen. Deshalb gehört in archaischen Kulturen zur Tabuisierung der rituelle Tabubruch, d. h. der Durchbruch durch die Schamgrenze unter zeitlich und räumlich genau begrenzten Bedingungen, in agrarischen Kulturen etwa durch öffentliche Promiskuität zu bestimmten Zeiten. Durch den obszönen Akt wird die Sterilität der Ordnung aufgebrochen, wird die Ganzheit des Lebens zurückgewonnen, wird Bewegung, wird Fruchtbarkeit gewährleistet.8 Davon dürfte noch etwas in der verkehrten Welt des Karnevals nachklingen. Deutlich wird dies insbesondere in der alpenländischen Fastnacht mit ihren fäkalischen Exzessen, wie ich sie in meiner Kindheit noch erlebte und wie es auch mittelalterliche Überlieferungen zu karnevalistischen Grenzüberschreitungen belegen.9 In der Reaktion darauf mischt sich Erschrecken mit Gelächter. Michail M. Bachtin hat von einer mittelalterlichen Lachkultur gesprochen und sie als Opposition zur etablierten kirchlichen und weltlichen Macht verstanden.10 Bachtins Idee einer rebellischen Befreiung von Autorität durch eine karnevalistische Gegenkultur hat Kritik erfahren; man hat ihm entgegengehalten, daß der obszöne Durchbruch durch die Ordnung streng geregelt, daß er zeitlich und räumlich beschränkt war, also mehr als ein Ventil funktionierte, damit am Ende die etablierte Ordnung nur um so gesicherter aus dem Chaos hervorgehen konnte. Bachtin hat die oppositionellen Kräfte der Vormoderne zweifellos überschätzt. Und die Enthistorisierung des Karnevalistischen zu einer überzeitlichen Kategorie, wie seine 8
Ethnographische Materialien bei Theodor H. Gaster, Thespis. Ritual, Myth, and Drama in the ancient Near East, New York 1961, S. 41f. 9 Siehe Eckehard Simon, „Carnival obscenities in German towns“, in: Ziolkowski [Anm. 7], S. 193–213. 10 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. 1987.
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Nachahmer dies getan haben, ist erst recht problematisch.11 Der obszöne Durchbruch durch die Ordnung hat zwar einen allgemeinen, wohl anthropologischen Grund, aber er erscheint in vielfältigen Formen; man muß versuchen, ihn von Fall zu Fall historisch konkret zu fassen. Auch in Hinblick auf die Funktion des Lachens sind gegenüber Bachtin Vorbehalte anzumelden, denn das Lachen ist ursprünglich ebenfalls rituell funktionalisiert. Es gibt dazu weltweit ethnographische Zeugnisse. Nach einem australischen Mythos muß man den Regenfrosch Dok zum Lachen bringen, damit er sein Wasser läßt.12 Die japanische Sonnengöttin Amaterasu wird vom Mond- und Sturmgott Susanowo beleidigt und zieht sich in eine Höhle zurück, so daß es finster wird auf der Welt. Da führt Uzume, die Göttin der Freude, obszöne Tänze auf, so daß alle Götter zu lachen beginnen und die Sonnengöttin aus ihrer Höhle herausgelockt wird.13 Im orientalischen Kultdrama wird gelacht, damit es regnet oder weil es regnet.14 Der Wilde Mann in der alpinen Folklore, der im Regen lacht, ist ein letzter Abkömmling dieser Mythologie.15 Es sei auch an den mittelalterlichen Risus paschalis erinnert: die Priester pflegten am Ostermorgen auf der Kanzel Witze zu erzählen, um die Gemeinde zum Lachen zu bringen. Auch dieses Lachen, evoziert durch Zweideutigkeiten, war gedacht als Antwort auf die Überwindung des Todes in der Auferstehung und die Erneuerung des Lebens.16 Es gibt auch ein direktes „Lachen wider den Tod“ – dies der Titel einer berühmten Studie von Franz Dölger über Lachrituale bei Begräbnissen.17 Lachen, Leben und Sexualität gehören zusammen. Doch was jeweils mythisch-rituell als kausaler Ablauf ausgespielt oder auserzählt wird, ist im Grunde eins: man entblößt sich und lacht, damit das Leben sich erneuert, und weil das Leben sich erneuert hat, darf man sich lachend entblößen. Dies ist wohl letztlich die anthropologische Basis dafür, daß wir auch heute noch auf etwas Obszönes mit Lachen reagieren können. Doch auch das Phänomen des Lachens ist zu historisieren. Man weint überall und zu allen Zeiten über dasselbe, aber man lacht über völlig Verschiedenes. Der Einbruch in die Tabuzone bedeutet, daß man sich diesem Bereich öffnet, d. h. ihn anerkennt und bedingt zuläßt und ihn damit zugleich bewältigt. Deshalb kann das 11
Dietz-Rüdiger Moser, „Schimpf oder Ernst? Zur fröhlichen Bataille über Michael Bachtins Theorie einer ,Lachkultur des Mittelalters‘“, in: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. FS Rolf Bräuer, hg. v. Angela Bader u. a. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), Stuttgart 1994, S. 261–307. 12 Franz Rolf Schröder, Skadi und die Götter Skandinaviens, Tübingen 1941, S. 18. 13 Ebd., S. 19. 14 Siehe Flemming F. Hvidberg, Weeping and Laughter in the Old Testament. A Study of Canaanite-Israelite Religion, Leiden, København 1962, S. 22ff., S. 146ff. 15 Bernheimer [Anm. 5], S. 24. Das Motiv findet sich auch bei den Trobadors, die es ihrer Liebesideologie entsprechend abgewandelt haben, siehe ebd., S. 31ff. 16 Vgl. meine Studie „Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters“, in: Haug, Strukturen, S. 257–274, hier S. 264; Werner Röcke, „Ostergelächter. Körpersprache und rituelle Komik in Inszenierungen des risus paschalis“, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, hg. v. Klaus Ridder u. Otto Langer (Körper, Zeichen, Kultur 11), Berlin 2002, S. 335–350, fordert und versucht eine historische Differenzierung. 17 Franz Dölger, „Lachen wider den Tod“, in: Pisciculi. Studien zur Religion und Kultur des Altertums. FS Franz Joseph Dölger, Münster 1939, S. 80–85.
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Obszöne anderseits gerade gegen die Welt, der es zugehört, gegen das Unbeherrschte, Ordnungslose, Chaotische, eingesetzt werden. Man wirft also die obszöne Provokation auf die bedrohliche gegenkulturelle Sphäre zurück. Das ist der Sinn der Entblößung der Genitalien als Abwehrgestus. Die Belege dazu gehen quer durch die Zeiten und Kulturen.18 Das klassische Beispiel ist die Sage von Bellerophon, der im Zorn auf die Lykier Poseidon bewegt, ihr Land mit einer Meeresflut zu überschwemmen. Da treten ihm die lykischen Frauen mit entblößter Scham entgegen, und Bellerophon weicht vor ihnen zurück und mit ihm das Meer.19 Deutlicher treten die Implikationen der Abwehr des Zerstörerischen durch die weibliche Entblößungsgeste in einer Episode der altirischen CuChulainnsage heraus.20 CuChulainn hat in einem wilden Kampf die drei Söhne der Nechta, eines dämonischen Weibes, besiegt, hat ihnen die Köpfe abgeschlagen und sie an seinen Streitwagen gehängt. Immer noch in rasender Kampfwut fängt er zwei Hirsche und bindet sie hinten an den Wagen, dann betäubt er mit der Steinschleuder 22 Schwäne, um diese ebenfalls am Wagen festzubinden. Vorne die dahinstürmenden Pferde, hinten die Hirsche und über dem Streitwagen die 22 Schwäne – so rast der Held auf die Residenz Emain zu. Dort bekommt man es mit der Angst zu tun. Da schickt der König ihm die Frauen entgegen, und als CuChulainn sich nähert, entblößen sie sich. Da wendet der Held sein Gesicht ab, und in diesem Augenblick packen ihn die Krieger des Königs und tauchen ihn in ein Faß mit kaltem Wasser. Es birst vor Hitze; man steckt ihn in ein zweites Faß, in dem das Wasser noch faustgroße Blasen wirft; erst im dritten Faß kühlt der Held so weit ab, daß er gefahrlos wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden kann. Es zeigt sich also, daß man, um die Gegenwelt des Dämonisch-Chaotischen zu besiegen, gezwungen ist, sich ihr zu öffnen und sich ihr anzuverwandeln, so daß man selbst dämonisiert wird. Doch es wird dann gerade das, was in der Kultur verhüllt diesem Bereich entspricht, die Schamsphäre, das Mittel zur Entdämonisierung. Es gibt, wie gesagt, eine Fülle Belege für diese apotropäische Funktion der Entblößung, durch die die ungebändigte Natur gewissermaßen mit ihren eigenen Waffen geschlagen wird. Kulturgeschichtlich ist also eine Doppelfunktion des Obszönen anzusetzen: das Obszöne sprengt die Kultur auf das von ihr Ausgegrenzte hin auf, und es vermag dieses zugleich zu neutralisieren. Die Grenzen werden durchbrochen und doch gewahrt, aber in diesem Bewahren klingt der gefährdende Anspruch des Ausgegrenzten nach. Was geschieht, wenn das Obszöne aus der Lebenswelt in die Darstellung, ins Wort oder ins Bild, übernommen wird? Und dies impliziert die Grundsatzfrage, die den Literatur18
Materialien kunterbunt bei Hans Peter Duerr, Obszönität und Gewalt, Frankfurt a. M. 1993, S. 82–90. 19 Siehe Erich Bethe, Art. ,Bellerophon‘, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. v. August Pauly u. Georg Wissowa, III,1 (5. Halbbd.), Sp. 241–251. 20 Die altirische Heldensage Ta´in Bo´ Cu´alnge, hg. u. übers. v. Ernst Windisch, Leipzig 1905, S. 130ff.; Rudolf Thurneysen, Die irische Helden- und Königsage bis zum siebzehnten Jahrhundert, Halle 1921, S. 126ff. Vgl. meine Studien „Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung“, in: Haug, Brechungen, S. 72–90, hier S. 78ff., und „Szenarien des heroischen Untergangs“, in diesem Bd., S. 399–411, hier S. 403.
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und Kunstwissenschaftler bei dieser Thematik vor allem interessieren muß: Ist eine Ästhetisierung des Obszönen möglich? Die Meinungen gehen auseinander. Hans Blumenberg und auch Hans Robert Jauß äußerten bei der Diskussion auf der ›Poetik- und Hermeneutik‹-Tagung über ›Die nicht mehr Schönen Künste‹ die Ansicht, daß sich das Obszöne im Grunde nicht ästhetisieren lasse, d. h., es bliebe auch auf literarischer oder bildlicher Ebene ein lebensweltliches Phänomen, oder genauer: es würde in der Schockempfindung immer auf das Lebensweltliche durchschlagen.21 Demgegenüber wäre zu überlegen, ob sich das Obszöne nicht doch, wenn man es ins Komische wendet, in eine ästhetische Distanz bringen läßt, und dies insbesondere dann, wenn man mit Verschleierungen arbeitet, mit Metaphern, Anspielungen, Doppeldeutigkeiten, mit Stilisierungen also, die mehr oder weniger kunstvoll auf einen Lacheffekt zielen. Nun hat sich jedoch gezeigt, daß das Lachen ganz ursprünglich mit dem Obszönen verschwistert ist und dabei derselben Ambivalenz von Anerkennung und Bewältigung seines Gegenstandes unterworfen zu sein scheint. Im Lachen erledigt man zwar das Verlachte, aber es steckt darin doch ein positives Moment. Es sei an die Komiktheorie von Joachim Ritter und Odo Marquard erinnert: „Komisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt.“22 Will man aber der subjektiven Seite gerecht werden, so kann man schwerlich umhin, den Sachverhalt psychologisch umzuformulieren, wie Wolfgang Beutin dies im Rekurs auf Freud getan hat:23 die Ambivalenz spielt dann zwischen Moral und Lust. Wie immer dem sei, Lachen im Bezug auf Obszönes heißt jedenfalls: Man bewältigt im Lachen nicht nur den Schock des Obszönen, sondern man gesteht der Sphäre, in die man dabei vorstößt, lachend ein Recht zu – ein relatives Recht gewiß, aber ein Recht eben doch im Gesamtzusammenhang des Lebens. Und wohlgemerkt: im Akt des Lachens wird die ästhetische Sphäre genau so gebrochen wie im Schock. Die komische Stilisierung des Obszönen ist zwar ein ästhetisches Phänomen, aber der Lacheffekt bricht aus dem ästhetischen Bereich aus. Er ist amoralisch und deshalb so gesund. Wo Sexuelles oder Skatologisches in der Weise ästhetisiert wird, daß es Gelächter hervorruft, ist somit davon auszugehen, daß dieses einen obszönen Schock aufzufangen hat. Der mentalitätsgeschichtliche Schluß: Wo wir im sexuell-skatologischen Zusammenhang Komik ausmachen können, haben wir einen Ausweis dafür, daß wir an die Schwelle des Bereichs stoßen, deren Überschreiten zu der betreffenden Zeit als obszön empfunden wurde. Das ist denn auch meine Antwort auf die Streitfrage, ob im Mittelalter erotische Schwänke nicht einfach ein schockloses Vergnügen waren. Charles Muscatine hat dies behauptet: „Sex, in the fabliaux, is fun.“24 Natürlich hat das Spaß gemacht. Aber es 21
Jauss [Anm. 7], S. 613f. Odo Marquard, „Exile der Heiterkeit“, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Poetik und Hermeneutik VII), München 1976, S. 133–151, hier S. 141. Vgl. Joachim Ritter, „Über das Lachen“, in: Joachim Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 62–92, hier S. 76. 23 Wolfgang Beutin, „Das Lachen über das Obszöne in der Dichtung“, in: Bader [Anm. 11], S. 246–260. 24 Charles Muscatine, „The fabliaux, courtly culture, and the (re)invention of vulgarity“, in: Ziolkowski [Anm. 7], S. 281–292, hier S. 288. 22
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handelt sich ja nicht einfach um die Darstellung von Sex, sondern es werden Geschichten erzählt, in denen man Konflikte inszeniert, wobei Barrieren durchbrochen und Ordnungen in Frage gestellt werden. Das geht nicht in der Vorstellung von einem Mittelalter auf, das in erotischen Dingen unbefangen-naiv gewesen sein soll, von einem Mittelalter, für das, wie etwa Norbert Elias meinte, eine sehr niedrige Schamschwelle anzusetzen wäre.25 Die Lyrik und der Roman mit ihrer Dezenz in eroticis sprechen ohnehin entschieden dagegen. Darüber, wie sich der Schwank-Typus zu diesen literarischen Gattungen verhält, sind die Meinungen übrigens geteilt. Schafft man mit den erotischen Schwänken ein Gegengewicht zur höfischen Literatur, weil diese gegenüber der in Frage stehenden Thematik so restriktiv war? So die These Per Nykrogs, der geradezu von mittelalterlicher Pornographie spricht.26 Man hat dagegen zu bedenken gegeben, daß der Schwank älter ist als die höfischen Gattungen: er gehöre einem Substrat an, das sich quer zu den dominanten literarischen Konventionen durch die Jahrhunderte durchhalte.27 Das ist gewiß richtig, aber es ist doch zu beachten, daß Fabliau und Märe zur selben Zeit literarisch werden, in der die höfische Literatur entsteht, und daß sie wohl weitgehend dasselbe Zielpublikum hatten. Zudem wird man nicht übersehen dürfen, in welchem Maße höfisches Rittertum in der Kurzerzählung problematisiert, um nicht zu sagen: diffamiert werden konnte.28 Der mittelalterliche Schwank hatte eine spezifische, notwendige Position und Funktion im literarischen Gesamthaushalt der Zeit. Analog sind die Verhältnisse dort zu beurteilen, wo Erotisch-Obszönes nicht ins Wort, sondern ins Bild gebracht wird und ihm dabei ein spezifischer Ort in einem übergreifenden Zusammenhang zugewiesen wird. Man denke an grotesk-erotische Darstellungen außen an Kirchen: sie sind nach außen verbannt, und zugleich bannen sie nach außen.29 Oder man denke an die burlesk-obszönen Drolerien auf den Rändern mittelalterlicher Handschriften;30 hier scheint eine sprachlose Welt quer zu den religiösen Texten, die sie umspielen, ein Eigenleben zu führen. Gewiß, sie stehen klein und zierlich 25
Elias hat nicht nur Daten falsch interpretiert, sondern es ist ihm aufgrund seines ideologisch naiven Mittelalterbildes die Komplexität der Situation völlig entgangen. Vgl. meinen Aufsatz „Literaturtheorie und Triebkontrolle. Bemerkungen eines Mediävisten zum sogenannten Prozeß der Zivilisation“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 603–615. 26 Per Nykrog, Les fabliaux, Gene`ve 21973. Er bemerkt S. 228 zu den erotischen Fabliaux: „leur force comique de´rive directement de la doctrine de l’amour courtois, dont ils prennent syste´matiquement le contre-pied.“ 27 Muscatine [Anm. 24], S. 290f. 28 Treffende Beobachtungen dazu bei Klaus Grubmüller, „Wolgetan an leibes kraft. Zur Fragmentierung des Ritters im Märe“, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens, hg. v. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 193–207. 29 Vgl. Anthony Weir u. James Jerman, Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches, London 1986; Patrick K. Ford, „The which on the wall. Obscenity exposed in early Ireland“, in: Ziolkowski [Anm. 7], S. 176–190. 30 Sowohl Sebastiaan Ostkamp, „Profane Insignien und die Bildsprache des Spätmittelalters: Die Welt christlicher Normen und Werte steht Kopf“, in: Winkelman u. Wolf [Anm. 5], S. 155–191, wie Norbert H. Ott, „Zwischen Literatur und Bildkunst. Zum ikonographischen Umkreis der niederländischen Tragezeichen“, ebd., S. 193–214, weisen darauf hin.
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in deren Schatten und dürften kaum eine Schockwirkung ausgeübt haben. Das heißt, diese Sphäre ist immer schon bewältigt und als solche an den Rand verwiesen, durch die Übermacht des heiligen Wortes ins Dekorative abgeschoben. Daß sie als bewältigte trotzdem auftaucht, zeigt aber, daß in diesen spaßigen Marginalien der Akt der Bewältigung noch nachklingen darf – ein Akt, der also auch der erotisch-skatologischen Sphäre sehr wohl noch einen Blick gönnt, einen harmlosen Blick, aber immerhin einen Blick. Man kann sich aus der Sicherheit der geistlichen Position heraus sehr weit vorwagen, bis hin zu Messepersiflagen und parodierten heiligen Texten.31 Das ist nur verständlich aus einer unbezweifelten Überlegenheit der geistig-geistlichen Wahrheit heraus. Und schließlich erscheint das relative Recht des Überwundenen dann im religiösen Drama als Spielraum des besiegten Bösen, eines Bösen, das zwar durch die Erlösungstat Christi im Prinzip erledigt ist, dem aber bis zu Christi Wiederkunft doch noch eine beschränkte Aktionsfreiheit gewährt wird: die Teufel werden losgelassen, gefährlich, schockierend und obszön, um am Ende verlacht zu werden. Was in den Marginalien nur noch als Spur vorhanden ist und bestenfalls amüsiert, bricht sich in den Spielen wieder dramatisch Bahn, und deshalb kann hier wieder das ambivalente Gelächter dagegenstehen.32 Auch wo das Obszöne als Bewältigtes zugelassen ist, besteht die Möglichkeit, daß es auf seine archaische Basis durchschlägt. Es sind also – ich fasse zusammen – folgende drei Aspekte des Obszönen zu berücksichtigen: 1. Die obszöne Geste besitzt lebensweltlich als provokativer Vorstoß in die Schamsphäre eine unentbehrliche kulturelle Funktion: sie holt das Ausgegrenzte, das Körperlich-Animalische, das doch mit zum Lebensganzen gehört, ins Bewußtsein zurück. Es kann im Lachen bewältigt und zugleich akzeptiert werden. Ja, in der Umdrehung wird das Obszöne zum Mittel, die Bedrohung durch das Chaos zu paralysieren. 2. Kommt das Obszöne zur Darstellung, so ist nach seiner Position im literarischikonographischen Gesamthaushalt der betreffenden Kultur zu fragen. Das Obszöne kann sein Recht am Rande der Ordnung behaupten, außen an den Kirchen, als Marginalie, als schwankhaftes Gegenspiel zu höheren literarischen Formen. 3. Es ist mit der Möglichkeit einer Ästhetisierung des Obszönen zu rechnen, bei der es als Problem gewissermaßen reflektiert wird, indem man es spielerisch handhabt, es überzieht und es damit auf einer intellektuellen Ebene genießt und entschärft. Dies freilich immer mit der Möglichkeit, daß man doch wieder ins Archaische zurückfällt. Wie sind nun im Horizont dieser Aspekte die niederländischen erotischen Tragzeichen zu beurteilen? Fragt man mit Johan H. Winkelman nach ihrem Sitz im Leben, so ist davon auszugehen, daß sie, wie die Bezeichnung es insinuiert, getragen, d. h. an die Kleider genäht oder an Halsketten gehängt oder mit Anstecknadeln befestigt wurden.
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Vgl. Paul Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, München 1922. Dazu meine Studie „Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Spiel des Mittelalters“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 650–663.
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Die an ihnen angebrachten, häufig noch erhaltenen Ösen und Nadeln lassen daran keinen Zweifel.33 Dabei mag man zunächst an eine Funktion auf der elementarsten Ebene denken, also an eine quasi-rituelle Funktion, und dies mit der charakteristischen Ambivalenz: obszöne Grenzüberschreitung als Einbeziehung des Ausgeschlossenen oder dessen Abwehr. Die erotischen Insignien hätten also den Charakter von Amuletten, die Fruchtbarkeit und Glück bringen oder vor Unheil schützen sollen. Malcolm Jones hat diese These eindrucksvoll demonstriert.34 Dies ist gewiß die nächstliegende Erklärung.35 Sie ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Direkt fassen läßt sich diese Funktion aber nicht. Man kann nur auf ikonographische Querbeziehungen verweisen und an eine überregional-überzeitliche Subkultur denken, für die erotische Darstellungen von apotropäischem Charakter zu belegen sind.36 Hyperbolische Phallusse oder groteske Vulvadarstellungen sind offenbar kennzeichnend für den Bilderfundus eines breit ausgreifenden kulturellen Substrats, wobei es jeweils schwer sein dürfte zu entscheiden, ob Traditionszusammenhänge vorliegen oder ob es sich um polygenetische Produktion handelt.37 Nur sollte man sich dabei hüten, von einer Volkskultur im romantischen Sinne zu sprechen; die niederländischen Tragzeichen gehörten jedenfalls, wie die Fundorte zeigen, überwiegend in ein urbanes Milieu. Als nächstes darf nicht übersehen werden, daß die profanen und die religiösen Tragzeichen nebeneinander gefunden wurden, daß sie also in einer ikonographischen Gesamttradition zusammengehören. Eine zureichende Beurteilung der profanen Stücke ist also schwerlich denkbar, wenn man sie isoliert betrachtet. Sind die heiligen und die profanen Tragzeichen also in derselben Weise zusammenzusehen wie die Drolerien und die heiligen Texte? Kann man mit dem sexuellen Bereich spielen, weil das Heilige von vornherein überlegen ist? Ja, demonstriert man auch hier dessen unangefochtene Übermacht, indem man sich diese Gegenspiele erlaubt? Die Provokation wäre in diesem Fall durch die ikonographische Gesamttradition immer schon aufgefangen. Doch so bedenkenswert dieser zweite Aspekt ist, die These bleibt relativ abstrakt, d. h., man gewinnt damit bestenfalls einen mentalen Rahmen, in dem die erotischen Bildspiele zugelassen worden sein könnten. Es ist damit aber nichts gesagt über das, was durch die erotischen Themen auf den Tragzeichen konkret vermittelt werden sollte. Was war, auf die spezifischen Motive bezogen, ihre kommunikative Funktion? Handelt es sich, um nochmals einen Gedanken Johan H. Winkelmans aufzugreifen, um mehr oder weniger provozierende Botschaften zwischen den Geschlechtern, vergleichbar etwa an33
Johan H. Winkelman, „Bazige vrouwen, hitsige dwazen en leurende kooplieden. Over laatmiddeleeuwse erotische insignes uit de Nederlanden“, in: HP 2, S. 179–195, hier S. 197. Tragzeichen an Personen auf zeitgenössischen Gemälden bestätigen dies; vgl. Kim Zweerink u. Jos Koldeweij, „Insignes en Jheronimus Bosch“, ebd., S. 207–224, hier S. 215. 34 Malcolm Jones, „Sacred and Profane: Reinforcement and Amuletic Ambiguity in the Late Medieval Lead Badge Corpus“, in: Winkelman u. Wolf [Anm. 5], S. 111–137. 35 Sie ist immer wieder vorgebracht worden, siehe z. B. Winkelman [Anm. 33], S. 185; Zweerink u. Koldeweij [Anm. 33], S. 211ff. 36 Siehe Anm. 29. 37 Anbindungen der niederländischen Tragzeichen an Ausläufer der spätantiken erotischen Kunstindustrie sind nicht auszuschließen.
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züglichen T-Shirt-Bildern oder -Aufschriften?38 Auch damit ist sehr wohl zu rechnen. Aber nachweisen läßt sich eine solche provokative Bildersprache als zwischenmenschliches Spiel wiederum nicht. Immerhin aber findet sich in der mittelalterlichen Dichtung die Fiktion, daß jemand sein Genitale als Boten zu seiner Angebeteten schickt – dies als obszöne Persiflage des Typus Botenlied.39 Amulettfunktion, lizenzierte Gegenbilder in einem übergreifenden ikonographischen Zusammenhang und zwischengeschlechtlich provozierende erotische Kommunikation – alle diese Aspekte dürften wohl eine Rolle spielen, und ihr Zusammenwirken mag im Prinzip eine zureichende Erklärung für den stupenden Erfolg dieser Massenware sein. Doch das enthebt uns nicht der Aufgabe, ganz konkret auf die einzelnen Motive einzugehen und die spezifischen Akzente zu ermitteln, die sie in den genannten Zusammenhängen setzen. Man wird sich dabei freilich mit Teilergebnissen zufrieden geben müssen. Bei den eingangs vorgeführten Typen dürfte für die kopulierenden Paare schwerlich etwas Spezifisches auszumachen sein.40 Aufschlußreicher ist hingegen die so häufig auftauchende pointierte Verselbständigung von Genitalien. Vom Körper losgelöst, können sie, wie oben demonstriert, gewissermaßen in Bewegung geraten, sich auf den Weg machen, wie die Penisse und Vulven auf Beinen, zu Pferd oder auf Stelzen. Oder man kann mit ihnen hantieren, Penisse in Körben sammeln oder sie an einen Bratspieß stecken. Derartiges findet sich kaum unter den Drolerien in den Handschriften.41 Aber es gibt überraschend Vergleichbares in der Antike, etwa in der griechischen Vasenmalerei.42 Es sei im folgenden noch ein besonders kunstvolles Gebilde vorgestellt:
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Winkelman [Anm. 33], S. 185. Dafydd Johnston, „Erotica and satire in Medieval Welsh poetry“, in: Ziolkowski [Anm. 7], S. 60–72, hier S. 67. 40 Ausgenommen vielleicht die Koitusdarstellung im Kamm, Abb. 1729, siehe oben S. 446, mit Anm. 2. 41 Sehr wohl aber in Marginalien einer Hs. des ›Roman de la Rose‹; siehe Adrianus M. Koldeweij, „Erotische insignes en een Roman de la Rose-handschrift“, in: HP 1, S. 110–114. 42 Siehe Jones [Anm. 2], S. 198. 39
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Ein erigierter Penis, aggressiv vorwärts marschierend auf zwei menschlichen Beinen. Er trägt an der hinteren Hälfte etwas, was wie ein Pullover aussieht, unten Kniebundhosen und an den Füßen spitze Schuhe. Im After steckt ein Blattbüschel. Obendrauf steht oder geht eine großköpfige Frau mit einer Schubkarre, in der drei Penisse stecken. Man könnte sich denken, daß sie zusätzliche Munition zur Unterstützung des Angreifers mitführen sollte! Die Größenverhältnisse sind absurd; wollte man sie ernst nehmen, hätte der Penis, gemessen an der Frau, etwa die doppelte Höhe eines aufrechten Menschen. Man muß darin aber eher eine surreale Komposition jenseits aller Proportionsnormen sehen. In einer solchen Darstellung steckt zweierlei: zum einen der Anspruch auf eine Autonomie der Sexualsphäre und zum andern die Absurdität dieses Gedankens, wenn man ihn wörtlich nimmt. Der Anspruch auf Autonomie realisiert sich hier wie bei den eingangs gebotenen Beispielen als Witzbild. Die Genitalien können tatsächlich losmarschieren, sich aufeinander einlassen, oder man kann sie bizarr-phantastisch kombinieren, aus Penissen eine Krone bilden oder sie wie Baguettes in einer Karre davonfahren oder sie am Spieß braten, also extra heiß machen, und die Vulva kann dabei als Fettpfanne dienen. Diese Verselbständigung entkonkretisiert die natürliche Funktion der Geschlechtsteile; es entstehen neue, fiktive Konstellationen, die bestenfalls über eine symbolische Deutung Sinn gewinnen, wenn sie nicht nur in spaßigen Einfällen aufgehen. Von der Theorie des Obszönen her gesehen, heißt das: man läßt sich nicht nur auf den tabuisierten Schambereich ein, sondern man löst ihn aus dem menschlichen Gesamtbild. Dabei verlangt das Tabuisierte nicht nur Berücksichtigung, vielmehr wird sein Anspruch in einer grotesk-wörtlichen Verselbständigung des Sexuellen überzogen. In diesem Überziehen fängt man die Gefährdung, die die Öffnung der Tabusphäre mit sich bringt, auf. Die Bedrohung verpufft in einem surrealen Witz. Und man kann bestenfalls so darüber lachen, wie man eben über einen Witz lacht: punktuell und nicht sehr elementar. Das Vergnügen am Spiel in einer Sphäre, deren subversives Potential entschärft ist, überwiegt die Provokation, die freilich noch mitschwingt. Es gibt zu dieser Verselbständigung der Genitalien überraschende Entsprechungen auf literarischem Gebiet.43 So vor allem in drei anonymen deutschen Kurzerzählungen: ›Das Nonnenturnier‹, ›Gold und Zers‹ und ›Der Rosendorn‹. Im ›Nonnenturnier‹44 gelingt es einer Frau, ihrem Liebhaber, der sie treulos verlassen will, einzureden, daß er den Frauen noch lieber wäre, wenn er sich des häßlichen Dings Es ist in der Forschung schon verschiedentlich darauf hingewiesen worden, siehe Jan van Os, „Seks in de 13de-eeuwse fabliaux: Literaire voorlopers van erotische insignes?“, in: Heilig en Profaan. Laatmiddeleeuwse insignes in cultuurhistorische perspectief, hg. v. Adrianus M. Koldeweij u. August Willemsen, Amsterdam 1995, S. 36–43; Johan H. Winkelman, „Naturalia et Pudenda. Erotische insignes uit de late Middeleeuwen en hun literaire achtergronden“, ABäG 55 (2001), S. 223–238. 44 Text: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. v. Hanns Fischer (MTU 12), München 1966, S. 31–47; Codex Karlsruhe 408, hg. v. Ursula Schmid, Bern, München 1983, S. 162– 177; Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller (Bibliothek des Mittelalters 23), Frankfurt a. M. 1996, S. 944–977, Komm., S. 1330–1340. Lit.: Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchges. u. erw. Aufl. besorgt v. 43
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zwischen den Beinen entledigen würde. Und der tut das nach einem Streitgespräch mit seinem Penis tatsächlich. Er schneidet ihn ab und versteckt ihn in einem Nonnenkloster unter der Treppe. Doch als der Dummkopf sich so entmannt den Frauen präsentiert, wird er von ihnen mit Schimpf und Schande aus der Stadt geprügelt und muß den Rest seines Lebens trostlos in der Wildnis zubringen. Der Penis indessen sorgt dafür, daß die Nonnen ihn entdecken. Und es entsteht sogleich ein Streit darüber, wer ihn haben darf. Man einigt sich schließlich darauf, einen Kampf zu veranstalten: das begehrte Ding soll der Siegerin gehören. Es kommt zu einer wüsten Rauferei und einem brutalen Gezerre um den Siegerpreis, bis der schließlich von Unbekannt entwendet wird. So bleibt den Nonnen nichts, als Schweigen über den Vorgang zu geloben.45 ›Gold und Zers‹46 beginnt mit dem Bericht des Erzählers über ein wütendes Streitgespräch zwischen den beiden Titelfiguren, das er mitangehört hat. Es geht darüber, welchen von beiden die Frauen für wertvoller halten. Da sie sich nicht einigen können, beschließen sie, den Betroffenen die Entscheidung zu überlassen. Sie fällt zugunsten des Goldes aus. Empört verläßt der Penis das Land. Doch sowohl er wie die Frauen merken bald, daß sie sehr dringend aufeinander angewiesen sind. Der Penis kehrt zurück, fällt einer Magd in die Hand, die ihn entzückt zu ihrer Herrin trägt. Um ihn aber nicht wieder zu verlieren, stechen ihm die Frauen die Augen aus. Eine Nonne hängt sich diese an den Hals, und sie verwandeln sich in zwei Brüstchen. Wenn nun ein Mann diese anfaßt, reckt sich sein Penis, weil er glaubt, man wolle ihm die verlorenen Augen zurückgeben. Das weibliche Gegenstück dazu ist ›Der Rosendorn‹.47 Einer Frau, die sich unter einem Rosenstrauch im Garten zu waschen pflegt, gerät ein Kraut in die fud, das die wunderbare Eigenschaft hat, Stumme zum Sprechen zu bringen. So erhält die fud eine Stimme, und sie beklagt sich sogleich, daß sie nicht die Aufmerksamkeit und Pflege empfange, die sie verdiene, denn es sei nicht die Schönheit, die die Dame so anziehend für Männer mache, sondern sie, ihre fud. Die Frau widerspricht empört, und es kommt zu einem Wortstreit, der so heftig wird, daß die fud schließlich die Frau wütend verläßt. Darauf muß diese erfahren, daß sie sich getäuscht hat: sie wird von den Männern gemieden und als Fudlose verspottet. Aber auch die selbständig gewordene fud wird übel traktiert, man stößt sie mit Füßen, weil man sie für eine Kröte hält. In ihrer Verzweiflung begeben sich beide zu dem Ort, wo sie sich getrennt haben, treffen sich dort glücklicherweise und beschließen, doch wieder gemeinsam weiterzumachen.
Johannes Janota, Tübingen 1983, Nr. 93, S. 380; Grubmüller (s.o.), S. 1334; Grubmüller [Anm. 28], S. 205f.; vgl. auch Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München 1985, S. 556. 45 Meine Überlegungen gelten dem zweiten Teil dieser Erzählung. Zu den literarhistorischen Vernetzungen auch des ersten Teils siehe die ertragreichen Analysen von Gerd Dicke, „MärenPriapeia. Deutungsgehalte des Obszönen im ›Nonnenturnier‹ und seinen europäischen Motivverwandten“, PBB 124 (2002), S. 261–301. 46 Texte: Die deutsche Märendichtung [Anm. 44], S. 431–443; Codex Karlsruhe 408 [Anm. 44], S. 744f. Lit.: 2VL 3, Sp. 76f. [Werner Williams-Krapp]; Ziegeler [Anm. 44], S. 504; vgl. auch S. 551. 47 Texte: Die deutsche Märendichtung [Anm. 44], S. 444–461; Codex Karlsruhe 408 [Anm. 44], S. 562–568. Lit.: Ziegeler [Anm. 44], S. 503; vgl. auch S. 556.
4. Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter
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Gegenüber der Verselbständigung der Genitalien, die bei den Tragzeichen im witzig inszenierten Bild aufgeht, muß ihre Verselbständigung in den Mären als Handlung dargeboten werden, und diese kann nur katastrophal sein. Die Tragzeichen brauchen nicht aufzuzeigen, daß die Autonomie des Sexuellen auf Abwege führt, sie erledigt sich in der grotesken Komposition von selbst. Beim Erzählen hingegen müssen Penis und Vulva zu dramatis personae werden und an ihrer Verselbständigung scheitern. Auch dabei dominieren die grotesken Züge, und das Groteske in seiner betonten Fiktionalität mindert auch hier die Schockwirkung des Obszönen. Aber die Provokation ist doch sehr viel handfester als bei den Tragzeichen, und deshalb wird man auch eher kräftig gelacht haben, freilich weniger über die unglücklichen Genitalien als darüber, wie die betroffenen Personen in frustrierter Lüsternheit mit ihnen umgehen. Und das heißt, daß die Genitalien nicht in erster Linie ihre Autonomie behaupten, sondern für einen Bereich stehen, der verkannt oder unterdrückt wird. Die Mechanik folgt also geradezu musterhaft dem obszönen Prinzip, nach dem der Durchbruch durch die Schamgrenze das Tabuisierte zugleich lachend anerkennen und bewältigen soll. Und man könnte daran auch heute noch sein Vergnügen haben, wenn das nicht alles doch allzu primitiv wäre. Die erotischen Tragzeichen sind im Vergleich mit ihren narrativen Parallelen geradezu geistreich. So unterschiedlich sich die verselbständigten Genitalien im Bild und in der Erzählliteratur aber auch darstellen, die zeitliche Parallelität dieses merkwürdigen Motivs48 fordert kulturhistorische Überlegungen heraus. Klaus Grubmüller hat einen Hinweis in dieser Richtung gegeben, wenn er von einer „Fragmentierung des Ritters im Märe“ spricht.49 Als Reaktion auf die integrale Ritterfigur der höfischen Tradition, bei der, jedenfalls als Zielvorstellung, Herz und Leib, Mut und Kraft, Wesen und Erscheinung sich entsprechen, beginne sich in der Gegenliteratur des Märe das Körperliche zu dissoziieren; das Nur-Leibliche und insbesondere das Geschlechtliche werde pointiert herausgestellt. Die sich autonom gebärdenden Genitalien erscheinen dann als äußerste, groteske Ausphantasierung dieser Tendenz. Man sollte sich aber auch in dieser Perspektive der Ambivalenz des Vorgangs stets bewußt bleiben. Wer wie Peter Strohschneider oder Gerd Dicke die Dissoziation nur im Blick auf eine Verzerrung der durch Gott verbürgten Weltordnung sieht, endet zwangsläufig bei einer moralischen Interpretation.50 Die bizarre Abweichung zielt dieser Meinung nach darauf, die Norm um so nachdrücklicher anzumahnen. Der für das Spätmittelalter konstatierte Disziplinierungsschub im Blick auf eine zunehmend zerfallende Ordnung stünde auch hinter dieser 48
Die erotischen Tragzeichen werden zwischen 1300 und 1425 datiert, die besprochenen deutschen Kurzerzählungen gehören ans Ende des 14. und in den Beginn des 15. Jahrhunderts. In der altfranzösischen Literatur ist das Motiv des verselbständigten Genitale mindestes hundert Jahre älter. 49 Grubmüller [Anm. 28]. 50 Peter Strohschneider, „Der tuorney von dem czers. Versuch über ein priapeiisches Märe“, in: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985, hg. v. Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett, William H. Jackson, Tübingen 1987, S. 149–173; Dicke [Anm. 45], insbes. S. 294f. Auch Ute von Bloh, „Heimliche Kämpfe“, PBB 12 (1999), S. 214– 238, bemerkt – hier S. 235f. –, daß durch die Erzählungen von rebellierenden Genitalien die gültigen Ordnungsverhältnisse nicht suspendiert würden, daß also auch die Verteilung von Macht und Herrschaft in der Geschlechterhierarchie am Ende fest bleibe.
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sexuellen Schwankliteratur.51 Aber das ist, um es noch einmal zu betonen, nur die eine Seite. Wenn man sie verabsolutiert, unterschlägt man das Vergnügen an der Amoral, mißachtet man die Doppelfunktion des Lachens und verkennt man den gefährlichheilsamen Durchbruch in die obszöne Sphäre. Die moralfreien erotischen Tragzeichen – d. h. jene Spielarten, die eine apotropäische Funktion ausschließen – erlauben es, die Gegenmöglichkeit: abgründigen Spaß und provozierendes Spiel, ostentativ vor Augen zu führen. Es scheint also, daß im 14./15. Jahrhundert an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Medien eine Spannung massiv aufgebrochen ist und sich in parallelen obszönen Bildern geäußert hat, die dem integralen Weltentwurf der hochhöfischen Literatur immer schon eingeschrieben war. Ein letzter Schritt: Es gibt, wie gesagt, unter den Tragzeichen auch einige wenige, die identifizierbare literarische Szenen bieten. Der Musterfall – und Johan H. Winkelman hat auch hier schon einen gewichtigen Vorstoß gemacht52 – ist Phyllis auf dem Rücken von Aristoteles (HP 2, Abb. 1627; ein zweites, beschädigtes Exemplar HP 1, Abb. 539):
Es wird berichtet, daß Aristoteles die Liebe seines Schülers Alexander zu der hübschen Phyllis zu unterbinden trachtete. Um sich zu rächen, präsentiert das Mädchen sich vor dem Philosophen tändelnd in lockerer Gewandung. Der Alte kann den Reizen nicht widerstehen, doch Phyllis fordert als Bedingung für ein Schäferstündchen, daß er sich auf alle Viere niederlasse, daß sie ihm einen Zaum in den Mund legen dürfe, um so auf ihm durch den Garten zu reiten. Er willigt ein, und da Phyllis für lachende Zuschauer sorgt, ist er moralisch erledigt. Die bös-burleske Geschichte von der Diffamierung des großen Philosophen scheint narrativ und ikonographisch im Mittelalter und weit in die Neuzeit hinein omnipräsent gewesen zu sein.53 Sie gehört in die Reihe der Weiberlisten, also der warnenden Exem51
Strohschneider [Anm. 50] nimmt Elias’ Kulturtheorie so weitgehend für seine Deutung in Anspruch, daß er S. 172 sagen kann, das ›Nonnenturnier‹ enthalte „gewissermaßen ein verdichtetes, so auch vieles Einzelne verzeichnendes, seine Grundstruktur aber doch erstaunlich getreu bewahrendes Bild des Prozesses der Zivilisation“. 52 Winkelman [Anm. 33], S. 179–181. 53 Zur literarischen Tradition: Novellistik [Anm. 44], S. 1185ff. Zur ikonographischen Tradition: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, begonnen v. Hella
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pel, die die gefährliche Macht der Sinnlichkeit gegenüber dem Geist demonstrieren sollen. Die Akzentuierung ist ambivalent: der Hörer/Leser kann sich aufgefordert sehen, mit den Zuschauern im Garten zu lachen, oder er kann sich auf eine misogyne Moral zurückziehen. Wie verhält sich in unserem Fall das Bild zur Erzählung? Ist das Bild sozusagen als Kurzformel für die Erzählung zu nehmen? Geht es darin auf, die Erzählung wachzurufen? Malcolm Jones bemerkt, daß die Reitszene nirgendwo so grob erotisch dargestellt sei wie auf den betreffenden Tragzeichen.54 Nicht nur hat der Philosoph einen überdimensionalen Penis, sondern die reitende Frau trägt offenbar eine Rute in der Hand, mit der sie ihn schlägt. Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, daß die AristotelesPhyllis-Geschichte hier zum Anlaß für eine massive sado-erotische Darstellung genommen worden ist; das Hoffräulein, das sich listig-lustig dafür rächt, daß der Philosoph ihr den Geliebten verwehrt, hat sich in eine Dominafigur verwandelt, wobei der Geschlagene, wie seine Brüste wohl andeuten sollen, zugleich halb verweiblicht wird. Es stellt sich der Verdacht ein, daß das gängige Exempel damit eine ganz andere Tradition überdecken oder, wenn man will, legitimieren sollte. Ich greife zur Illustration nochmals auf ein Beispiel aus der irischen Heldensage zurück. Es handelt sich um eine Episode aus der ›Zweiten Schlacht von Mag Tuired‹.55 Es geht hier um den Kampf zweier mythischer Geschlechter, der göttlichen Tu´atha De´ Danann und der dämonischen Fomoire. Im Lauf der Auseinandersetzung begibt sich Dagda, der Anführer der Tu´atha De´ Danann zu den Fomoire, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Die Fomoire veranlassen ihn, eine Unmenge Porridge zu verschlingen. Er frißt soviel, daß er völlig aus der Form gerät und zu einer dickbauchigen Groteskfigur wird. Er kann sich kaum noch vorwärtsbewegen. Dabei zieht er eine Gabel mit einem Rad hinter sich her, das einen tiefen Graben hinterläßt. Mit diesem seltsamen Gerät dürfte wohl, kaum verhüllt, sein Penis gemeint sein, auch wenn sein mächtiges Glied dann noch extra genannt wird. Nun trifft Dagda auf die hinreißend schöne Tochter des Fomoirehäuptlings, und er entbrennt in Verlangen nach ihr. Aber er ist wegen seines riesigen Bauches impotent. Das Mädchen verhöhnt ihn und beginnt mit ihm zu ringen: Sie wirft ihn so hart zu Boden, daß ein großes Loch aufgerissen wird und er tief in die Erde sinkt. Da fragt er sie, was sie wolle. Sie sagt, sie wolle, daß er sie auf seinem Rücken zum Haus ihres Vaters trage. Dann macht sie sich erneut über ihn her und schlägt ihn so, daß sich das Erdloch um ihn herum mit seinen Exkrementen füllt. Sie fragt ihn nach seinem Namen, aber er weiß nicht mehr, wie er heißt. Statt dessen nennt er sich nach dem, zu dem er beim Verlust seiner Identität geworden ist: Dickbauch, Exkrement, Regeneration, Geburt. Dann, nachdem er sich ganz entleert hat, steigt er aus der Grube und nimmt das Mädchen auf den Rücken. Sie schlägt ihn weiter, bis es schließlich zur Vereinigung kommt. Sie sorgt Frühmorgen-Voss, fortgeführt v. Norbert H. Ott u. Gisela Fischer-Heetfeld, Bd. 1, München 1991, S. 263–270. 54 Jones [Anm. 2], S. 203. 55 Cath Maige Tuired. The Second Battle of Mag Tuired, hg. v. Elizabeth A. Gray (Irish Texts Society 52), Dublin 1982, S. 47–49.
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IV. Diverses
übrigens später dafür, daß die Fomoire von den Tu´atha De´ Danann besiegt werden können. Auch hier öffnet sich der Protagonist also der chaotisch-weiblichen Dämonie der antikulturellen Welt, ja, er verwandelt sich in sie, um sie letztlich zu besiegen, dies nun aber in einem bis ins Unappetitliche gehenden sado-erotischen Prozeß. Die archetypische Konstellation erhält eine spezifisch skatologisch-sexuelle perverse Note. Sie dürfte grundsätzlich als Möglichkeit in der Erneuerung der Ordnung aus dem Chaos, in der Wiedergeburt des Männlichen aus dem Weiblichen, in der Verlebendigung des Geistes aus der Sinnlichkeit drinstecken. Die neuzeitliche Pornographie ist nur eine Verzerrung dieses Sachverhalts, zu der es dadurch gekommen ist, daß man diese Zusammenhänge geleugnet hat.56 Ein untergründiges sado-erotisches Geschlechter-Verhältnis, wie es sich beispielhaft in der Erzählung von Dagda und der Tochter des Fomoirehäuptlings fassen läßt, hat anscheinend auf die Aristoteles-Tragzeichen eingewirkt und die Bildlichkeit gegenüber der literarischen Überlieferung in seinem Sinne forciert. Wenn das richtig ist, dann wäre hier also das komische und/oder moralisch-misogyne Exempel auf jene mythisch-rituelle Situation zurückgespielt worden, die in der irischen Sage noch ganz offen zutage liegt. Auch in diesem Fall müßte man voraussetzen, daß das kulturelle Substrat Archetypisches länger und markanter bewahrt oder es neu produziert hat, so daß es sich in der Sexualität des Aristoteles-Tragzeichens zur Geltung bringen konnte. Es zeigt sich also, daß man sich auch auf der letzten Betrachtungsebene, bei der Analyse der je spezifischen erotischen Motive im Blick auf die Ästhetisierung, als Hintergrund das, was Obszönität in ihrer ganzen provozierenden Zwiespältigkeit bedeuten konnte und kann, bewußt halten muß. Die volle Bedeutungsspanne zwischen dem Archaisch-Archetypischen und einem mehr oder weniger geistreichen Spiel ist von Fall zu Fall neu in die Debatte zu bringen und dabei die jeweilige Position mit aller Vorsicht zu bestimmen. Und man darf sich auch dadurch nicht davon abschrecken lassen, daß manche Bezüge nur als Möglichkeiten in Frage kommen. Was der Rezipient davon jeweils realisiert haben mag, wird man so wenig präzisieren können, wie es gelingen dürfte, Schock und Gelächter gegenüber dem Obszönen jeweils mehr als nur annähernd in ihrer historischen Nuancierung zu fassen. Daß die Beschäftigung mit den niederländischen erotischen Tragzeichen uns aber zu weiterführenden Einsichten verhilft und neue Differenzierungen erlaubt, steht außer Frage.
56
Es sei dazu auf Jean-Pierre Dubost, Eros und Vernunft. Literatur und Libertinage, Frankfurt a. M. 1988, verwiesen.
5. Kindheit und Spiel im Mittelalter Vom Artusroman zum ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander
I Philippe Arie`s hat 1960 in einer aufsehenerregenden Studie behauptet, daß das Mittelalter kein Verhältnis zur Kindheit gehabt habe, sie sei vielmehr erst im 17. Jahrhundert entdeckt worden. Es habe das Bewußtsein von einem kategorialen Unterschied zwischen dem Kind und dem Erwachsenen gefehlt. Und er hat dies in Zusammenhang damit gebracht, daß die Kindersterblichkeit so groß gewesen sei, daß die Eltern sich aus Angst vor dem Verlust nicht affektiv an ihre Kinder binden wollten und man deshalb die Kindheit als ein Lebensstadium von eigener Art und von eigenem Recht nicht wahrnehmen konnte.1 Arie`s’ Thesen haben lebhafte Proteste ausgelöst.2 Man hat ihm entgegengehalten, daß es vor dem 17. Jahrhundert und so auch im Mittelalter sehr wohl Kindheitsvorstellungen gegeben habe. Wenn sie sich nicht mit unserem Konzept deckten, dürfe man deshalb der Vormoderne nicht unterstellen, daß sie die Kindheit nicht wahrgenommen und sie nicht in bestimmter Weise mit ihrer Auffassung vom Lebensganzen verbunden habe. Einer der eindringlichsten Kritiker war James A. Schultz, der 1995 im Gegenzug die Kindheitsvorstellungen des Mittelalters auf der Grundlage der mittelhochdeutschen Erzählliteratur herausgearbeitet hat.3 Er konnte zeigen, daß durchaus mit einem mitPhilippe Arie`s, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien re´gime, Paris 1960; dt.: Geschichte der Kindheit, München 1975 [zit.]. Sein Ausgangspunkt ist der ikonographische Befund, daß man Kinder als kleine Erwachsene dargestellt hat; vgl. Kap. 2, S. 92ff. Bei Verhaltensformen, bei Spielen wurden Kinder frühzeitig in die Welt der Erwachsenen einbezogen; vgl. Kap. 4, S. 126ff. Zusammenfassung der Thesen: S. 109ff. 2 Aus der Fülle der kritischen Stellungnahmen zu den Thesen von Arie`s seien folgende herausgehoben: Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit, Paderborn, München 1980, insbes. S. 10–16 (wertvolle Ergänzungen bietet die Rezension von Wolfgang Maaz, Mittellateinisches Jb. 18 [1983], S. 323f.); James A. Schultz, The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages, 1100– 1350, University of Pennsylvania Press 1995, S. 4; Friedrich Wolfzettel, „Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung“, in: Kunst und Erinnerung, hg. v. Ulrich Ernst u. Klaus Ridder, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 291–313 passim. Als besonders abwegig sah man den Gedanken an, daß Eltern im Mittelalter ihre Kinder nicht geliebt haben sollen. 3 Schultz [Anm. 2]. Zu älteren literaturwissenschaftlichen Studien, die sich jedoch weitgehend darauf beschränken, die Materialien bereitzustellen, siehe Arnold [Anm. 2], S. 15f., S. 65f. Auch jüngere Arbeiten kommen – so nützlich sie sein mögen – oft kaum darüber hinaus: Ursula Gray, Das Bild des Kindes im Spiegel der altdeutschen Dichtung und Literatur. Mit textkritischer Ausgabe von Metlingers ,Regiment der jungen Kinder‘, Bern, Frankfurt a. M. 1974; Anja Russ, Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und Lanzelot-Romanen, Stuttgart 2000. 1
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IV. Diverses
telalterlichen Kindheitskonzept zu rechnen ist, wenngleich es sich in wesentlichen Zügen von unserem vor allem durch die Romantik geprägten Bild unterscheidet. Während etwa bei den Brüdern Grimm oder bei Novalis das Kindsein als ein Zustand der Unberührtheit, der Reinheit, aufgefaßt, ja mit der Idee eines Goldenen Zeitalters verbunden und ihm damit ein geradezu utopischer Eigenwert zugesprochen wird, so steht dem im Mittelalter diametral die Auffassung gegenüber, daß das Kindheitsstadium in erster Linie durch seine Defizienz gegenüber der Reife des Erwachsenseins gekennzeichnet ist: dem Kind fehlen Kraft, Einsicht, Selbstbeherrschung, Artikulationsfähigkeit, Würde. Positiv werden Kinder nur in dem Maße gesehen, in dem sie schon frühzeitig solche für den Erwachsenen geltenden Charakteristika zeigen oder erahnen lassen. Die Individualgeschichte versteht sich denn auch nicht als Entwicklung aus kindlichen Erfahrungen heraus, sondern als schrittweise Enthüllung der Prägung, die das Kind durch seine Herkunft mitbekommen hat. Diese erbliche Prägung heißt mittelhochdeutsch art, und das ist es denn auch, was sich allen Widerständen zum Trotz am Ende durchsetzt. Die Jugendgeschichten der mittelalterlichen Romanfiguren dienen der Enthüllung dieser Erbanlage, und dies kann etwa in den Heldenepen schon sehr früh durch unerhörte Krafttaten geschehen. Andrerseits wird der Übergang aber auch immer wieder deutlich markiert, beim Jungen durch die Schwertleite, beim Mädchen durch die Hochzeit. In jedem Fall wird die Kindheit völlig in der Perspektive des späteren Erwachsenseins gesehen und in der Epik auf dieses hinerzählt. Sie ist also kein Stadium von eigenem Wert und eigenem Recht. Grundsätzlich ergibt sich daraus: Kindheit ist wie gender ein kulturhistorisches Konstrukt. Von Bedeutung ist dabei nicht nur, ob man der Kindheit einen Eigenwert zugesteht oder nicht, sondern auch, wie man das eine und das andere funktionalisiert. Literarisch gesehen: Wenn kein Interesse an der Kindheit als solcher vorliegt, wird man entweder bei einem Helden überhaupt darauf verzichten, sie zur Sprache zu bringen, oder man kann auf sie eingehen, wenn es darauf ankommt, je spezifische Prägungen in seinem Lebensgang schrittweise zu enthüllen. Wenn man auf der andern Seite die Kindheit als ein Entwicklungsstadium von eigenem Wert versteht, wird man ihr eine mehr oder weniger wegweisende Entfaltung im Rahmen einer Biographie zubilligen, ja, man kann darüber hinausgehen und im Kindsein eine grundsätzliche Daseinsmöglichkeit sehen und sie, wie vor allem in der Romantik, zu einer Utopie eines ungebrochenen Weltverhältnisses stilisieren.4
II Ich nehme im folgenden die Diskussion um die mittelalterlichen Kindheitsvorstellungen da auf, wo Schultz sie abgebrochen hat, nämlich bei der Frage, was sein Befund für das 4
Und dieses Konzept wirkt lange nach. So spiegelt es sich noch, wie Richard N. Coe, When the Grass Was Taller. Autobiography and the Experience of Childhood, Yale Univ. Press 1984, gezeigt hat, in Kindheitsautobiographien des 20. Jahrhunderts, wenn sie dazu tendieren, rückblickend eine durch Magie und Spiel gekennzeichnete autonome Kinderwelt der Welt der Erwachsenen gegenüberzustellen, insbes. S. 62f. und S. 277ff.
5. Kindheit und Spiel im Mittelalter
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Erzählkonzept des mittelalterlichen Romans bedeutet. Auffällig ist, daß in den beiden Gründungsromanen des neuen, arthurischen Typus, in Chre´tiens de Troyes ›Erec‹ und ›Yvain‹,5 die Kindheit der Helden gänzlich ausgeklammert bleibt. Sie präsentieren sich vielmehr schon bei ihrem ersten Auftritt in ritterlicher Vollkommenheit. Dabei erscheinen sie zwangsläufig als individuell leere Idealfiguren. So erfährt man nichts über das Leben Erecs oder Yvains, bevor sie am Artushof in ihre Rollen eintreten, und erst durch ihre Aventüren erhalten sie so etwas wie eine persönliche Zeichnung, d. h., ihre Aventüren sind, wie man gesagt hat, ihre Individualität. Wenn in anderen höfischen Romanen – z. T. schon bei Chre´tien – doch Kindheitsgeschichten vorgeschaltet werden, indem man die Erzählung mit den Eltern und der Geburt des Helden beginnt, wie bei Tristan6 oder bei Lancelot7, dann gilt das, was oben generell gesagt worden ist: die Darstellung der Kindheit und der Jugend dient dazu, die Heranbildung des Helden zum vollkommenen Ritter vor Augen zu führen. Sie können dabei durch die besondere Situation, in der sie heranwachsen, eine spezifische Akzentuierung erhalten: Tristan wächst ohne Kenntnis seiner wahren Identität und nicht dem Rang gemäß auf, der ihm seiner Herkunft nach zukäme, und das muß er durch ungewöhnliche Leistungen kompensieren: er überbietet mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten die übliche Idealität; er erscheint als Wunderkind. Lancelot wächst elternlos bei einer Fee in einem Zauberland heran. In seiner Jugend durchläuft er einen paradigmatischen ritterlichen Erziehungsprozeß. Er ist dabei vollkommen in seiner körperlichen Erscheinung, außer daß er ein zu großes Herz hat, was auf das vorausweist, was sein Schicksal bestimmen wird: die übermächtige Liebe zur Königin Guenievre. Wolframs ›Parzival‹ liefert auf der Grundlage von Chre´tiens ›Conte du Graal‹ das Negativbild dazu.8 Auch Parzival wächst nicht da auf, wo er seiner Herkunft nach hingehörte – seine Mutter hat sich mit ihm nach dem Kampftod ihres Mannes in eine Wildnis zurückgezogen, um das Kind vor einem gleichen Schicksal zu bewahren –, und dadurch wird er daran gehindert, eine ritterliche Ausbildung zu durchlaufen, so daß er, wenn er dann zum Artushof aufbricht, dort unvorbereitet und unter verhängnisvollen Vorbedingungen erscheint. Hier gibt es also tatsächlich eine Kindheitsgeschichte, aber aus einer völligen Mangelsituation heraus, die der Junge trotz kindlicher Bemühungen – er jagt mit einem Spieß und selbstgeschnitzten Pfeilen und Bogen – nicht zu beheben vermag, so daß das Kindsein gerade auch angesichts der Züge, die auf Parzivals art deuten – seine Schönheit, sein Drang nach einer ritterlichen Existenz usw. – als potenzierte Defizienz erscheint. Mit anderen Worten: Das typische Schema des höfischen Romans setzt, unabhängig davon, ob eine Enfance-Einleitung geboten wird oder nicht, allemal beim Auftritt des 5
Chre´tien de Troyes, Erec und Enide, übers. u. eingel. v. Ingrid Kasten (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), München 1979; Chrestien de Troyes, Yvain, übers. u. eingel. v. Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), München 1962. 6 Tristan, hg. Ranke. 7 Lancelot, Roman en prose du XIII e sie`cle, hg. v. Alexandre Micha, Bde. I–IX, Gene`ve 1978– 1983; Prosalancelot, hg. Steinhoff. 8 Chre´tien de Troyes, ,Le Roman de Perceval‘ ou ,Le Conte du Graal‘, übers. u. hg. v. Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991; Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann, übertr. v. Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8/1 u. 8/2), Frankfurt a. M. 1994.
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Protagonisten am Hof ein, auch wenn das nicht heißt, daß nicht einzelne Elemente aus der Eltern- und Jugendgeschichte später noch eine Rolle spielen können, denn die problematische Gegenwelt, in die der Held vom Hof aus dann eintritt – es wird gleich davon die Rede sein –, ist eben jene Welt, aus der er kommt. Ob aber mit oder ohne Vorgeschichte, es ist festzuhalten, daß der arthurische Roman Chre´tienscher Prägung wie auch der nicht-arthurische ›Tristan‹ grundsätzlich eine biographische Entwicklung des Helden in unserem Verständnis ausschließen, ja, daß der Typus auf einem Konzept beruht, das der Idee eines Entwicklungsromans diametral entgegensteht. Auch wenn eine Kindheit vorgeschaltet wird und man da auf Signale in Hinblick auf die künftige Bestimmung stößt, der Ort, von dem aus die Handlung entworfen wird, ist in der Regel ein königlicher Hof, der stereotype Züge trägt. Er präsentiert sich als eine Art gesellschaftliche Utopie, als eine Gemeinschaft von Rittern und Damen, die sich in harmonischer Balance befindet. Am Beginn des ›Iwein‹ schildert Hartmann von Aue diese Idealgesellschaft in folgender Weise:9 Nach dem Pfingstessen am Artushof tat jeder das, was ihm die höchste vreude, ,die höchste höfische Daseinslust‘, verschaffte. Die einen plauderten mit den Damen, die anderen gingen spazieren, sie tanzten oder sangen, sie machten Wettläufe oder Weitsprünge, hörten Musik, übten Scheibenschießen oder redeten von Liebe und Heldentaten. Somit: das gesellschaftliche Leben als Spiel, d. h. der spielerische soziale Umgang am Artushof, erscheint als Ausdruck höfischer Idealität. Das Spiel ist als fiktionales Faktum zugleich Metapher für die Zielform menschlichen Daseins, die damit letztlich utopischen Charakter hat. Die Spielmetapher vermag dies insofern ins Bild zu bringen, als das Spiel seinem Begriff nach10 einen ausgegrenzten Spielraum verlangt, in dem die Regeln der Bewegung frei gesetzt werden – ,frei‘ meint: unabhängig von der unmittelbaren Zweckbindung des Tuns, und dies in einer partnerschaftlichen Konkurrenz, die den Verlierer unbeschädigt läßt. Zugleich wird Spielen jedoch vom Bewußtsein getragen, daß es eine Wirklichkeit außerhalb des Spielbezirks gibt, mit der es sich in ein Verhältnis setzen muß, und sei es nur, indem es für sich räumliche wie zeitliche Grenzen zieht. Im arthurischen Roman wird diese Grenze zum zentralen Problem.11 An ihr wird die entscheidende Handlung angestoßen, denn sie beginnt damit, daß jemand die spielerische Idealität des Hoflebens von außen stört. Ein Provokateur tritt auf, der all das verkörpert, was die arthurische Gemeinschaft ausschließt: Rücksichtslosigkeit, Gewalt, das Böse schlechthin. Ein Ritter muß ausziehen, den Provokateur besiegen und damit die ideale Gemeinschaft in ihrem Spielstatus restituieren. Das Ziel ist also gewissermaßen mit dem Anfang identisch,12 doch genauer betrachtet, ist doch auf diesem Weg 9
Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters 6), Frankfurt a. M. 2004, S. 320–322, vv. 62–72: doˆ man des pfingestages enbeiz, / männeclıˆch im die vreude nam / der in doˆ aller beste gezam. / dise spraˆchen wider diu wıˆp, / dise banecten den lıˆp, / dise tanzten, dise sungen, / dise liefen, dise sprungen, / dise hoˆrten seitspil, / dise schuzzen zuo dem zil, / dise redten von seneder arbeit, / dise von manheit. 10 Zum Spielbegriff vgl. meine Studie „Der Artusritter gegen das Magische Schachbrett oder Das Spiel, bei dem man immer verliert“, in: Haug, Strukturen, S. 672–686, hier S. 677f. 11 Siehe zum Folgenden detaillierter meine Studie „Das Experiment mit der personalen Liebe im 12./13. Jahrhundert“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 256–280, hier S. 259–263. 12 Dabei soll nicht übergangen werden, daß es in der Ausgangssituation auch innere Anzeichen dafür geben kann, daß die spielerische Balance prekär ist. Dieses Moment der inneren Unruhe wird im Artusroman insbesondere durch die Figur des ,Kritikers‘ Keu/Keie verkörpert.
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5. Kindheit und Spiel im Mittelalter
des Helden etwas geschehen, nämlich dies, daß der prekäre Status der arthurischen Utopie ins Bewußtsein der arthurischen Gesellschaft getreten ist, denn am Schluß pflegt der Held am Hof seine Geschichte zu erzählen. Und diese Bewußtseinsänderung sollte sich auch beim Hörer oder Leser vollziehen; er sollte begreifen, daß der ideale Artushof nur denkbar ist im Wissen darum, daß er einen utopischen Moment darstellt, der gefährdet ist, ja, daß in seine spielerische Existenz das, was außerhalb liegt, niemals endgültig integriert werden kann, da die außerarthurische Wirklichkeit grundsätzlich nicht spielerisch harmonisierenden Regeln folgt, sondern regelwidrig ist, ja durch Widersprüche, durch Aporien geprägt erscheint. Wenn der Artusroman die Fiktion eines Lebens als Spiel entwirft, dann macht er es also zugleich als solches bewußt, indem er es mit einer Gegenwelt konfrontiert, die es negiert, und dies nicht nur durch das Disharmonische, das Böse, sondern – und zu diesem Zwecke wird für den Helden noch ein zweiter Auszug, ein zweiter Aventürenweg entworfen – auch durch positive Forderungen, die aufgrund ihres absoluten Anspruchs die spielerische Balance in Frage stellen: insbesondere gilt dies für den absoluten Anspruch des Eros. Dieser Anspruch treibt den Helden erneut in die Gegenwelt, und dieser zweite Weg konfrontiert ihn mit der Bedingungslosigkeit der Liebe, die sich gerade dort bewährt. Und die Erzählung endet damit, daß bei der Restitution der arthurischen Idealität, indem der Held von seinen Taten berichtet, die Maßlosigkeit des erotischen Anspruchs in die Spielwelt der Balance, des Maßes, hineinerzählt wird. Das Erzählen gehört zum Spiel, obschon oder gerade weil das Erzählte das Spiel problematisiert. Es versteht sich, daß im Rahmen eines Handlungskonzepts, das auf einer solchen doppelten Kreisbewegung beruht, die vom Artushof ausgeht und zu ihm zurückführt, ein Erfahrungsprozeß im Sinne einer biographischen Entwicklung nicht von Interesse ist. Insbesondere hat hier ein Lebensstadium, das durch ein Kindsein von eigenem Wert gekennzeichnet ist, keinen Ort. Und so ist es denn auch nicht das Kindsein, mit dem die Vorstellung einer spielerischen Existenz verbunden ist, sondern sie markiert, wie gesagt, eine Zielform des Daseins, dies jedoch im Sinne einer Utopie, die gerade durch ihren Spielcharakter als solche zum Bewußtsein gebracht wird. Kindheit und Spiel können unter diesen Voraussetzungen nicht zusammengesehen werden.
III Doch die höfische Erzählliteratur deckt nicht die ganze Breite der mittelalterlichen Kindheitsvorstellungen ab. In theologischer und insbesondere in hagiographischer Perspektive können die Akzente anders gesetzt sein. Eine grundsätzliche Gegenposition bietet jenes Wort Jesu, nach dem den Kindern das Himmelreich gehört, und dies verbunden mit der Aufforderung, daß wir wie die Kinder werden müssen, um ins Himmelreich zu kommen (Mt 18,3; 19,14; Mk 10,14f.; Lk 18,16f.).13 In dieser biblischen Sicht erscheint das Kind nicht als defizienter Erwachsener, man sieht sich vielmehr genötigt, dem Kindsein Unverdorbenheit, Reinheit, ja Unschuld zuzugestehen.14 Isidor 13
Darauf hat auch Schultz [Anm. 2], S. 52f., hingewiesen, doch ohne dieses Gegenbild weiter auszuarbeiten. 14 Vgl. Hans Herter, „Das unschuldige Kind“, Jb. f. Antike und Christentum 4 (1961), S. 146–162, hier S. 158–160.
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IV. Diverses
von Sevilla hat dies durch eine entsprechende Etymologie untermauert: Puer a puritate vocatus, quia purus est, was im Mittelalter vielfach weitergegeben worden ist.15 Insbesondere taucht die Vorstellung von der unverdorbenen Kindheit in der Heiligenlegende auf.16 Doch das Wort Jesu warf Probleme auf: völlig sündlos konnten Kinder doch nicht sein, denn sie waren ja von der Erbsünde mitbetroffen. Nach Augustinus ist die Seele des Kindes durch die Sündhaftigkeit der Ureltern verdorben, daher der kindliche Unverstand, der Zorn, die Aggressivität usw. Und das verbindet sich dann mit der negativen Kennzeichnung des Kindes durch Aristoteles.17 Man sah sich also gezwungen, die biblische Sicht zumindest zu relativieren. So heißt es etwa in Ulrichs von Türheim ›Rennewart‹: diu kint vil nah bar sünden sint, also: ,fast ganz ohne Sünden‘.18 Aber trotz der theologischen Bedenken hält sich die Vorstellung von einer unschuldigen Kindheit neben dem Defizienzkonzept durch. Und auch dieser Aspekt sollte sich literarisch niederschlagen, zwar nicht im Roman, aber in der Lyrik, freilich nicht ohne Verschränkung mit dem Gegenkonzept. Wie in der altfranzösischen Lyrik das Singen in kindlichen Erfahrungen verankert werden konnte, hat Friedrich Wolfzettel eindrucksvoll dargestellt: das Kinderspiel zwischen den Geschlechtern wird im erinnernden Rückgriff zur Präfiguration der späteren Liebeserfahrung, insbesondere bei Froissart.19 Ich stelle dem ein andersartiges, mittelhochdeutsches Beispiel aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegenüber: das ›Erdbeerlied‹ eines Meister Alexander, auch ›Kindheitslied‹ genannt, das diese Perspektive in ebenso reizvoller wie irritierender Weise auffächert. Der Dichter, der in der Überlieferung unter dem Namen ,Wilder Alexander‘ erscheint, war wohl ein fahrender Berufssänger, von dem ein eher schmales, aber sehr persönlich geprägtes Œuvre von Spruch- und Lieddichtungen auf uns gekommen ist.20 Das ›Erdbeerlied‹ ist sein wohl eigenwilligstes und reizvollstes Gedicht. Ich biete es nachstehend in der normalisierten Form, die Carl von Kraus ihm gegeben hat:21 15
Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX, hg. v. Wallace M. Lindsay, Oxford Univ. Press 1911, XI, 2,10. Zur Nachwirkung Fritz Peter Knapp, „Das Kindheitslied des Wilden Alexander und die Alterslyrik Walthers von der Vogelweide“, in: Methodisch reflektiertes Interpretieren. FS Hartmut Laufhütte, Passau 1997, S. 61–74, hier S. 63. 16 Shulamith Shahar, Childhood in the Middle Ages, London, New York 1990, S. 17–20; Knapp [Anm. 15], S. 63f. 17 Herter [Anm. 14], S. 161f.; Shahar [Anm. 16], S. 14–16; Schultz [Anm. 2], S. 52f.; Knapp [Anm. 15], S. 62. – Ein Gegenbild impliziert schon das Pauluswort 1 Kor 13,11. 18 Hinweis von Schultz [Anm. 2], S. 52. Vgl. auch die zwiespältige Haltung von Guillaume de Machaut: Wolfzettel [Anm. 2], S. 303. 19 Ebd., S. 298ff., insbes. S. 306. 20 Vgl. Ingeborg Glier, Art. ,Meister Alexander (Der Wilde Alexander)‘, 2VL 1, Sp. 213–218. 21 Carl von Kraus, Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. 1: Text, Tübingen 1952, S. 12f.; Bd. 2: Kommentar, besorgt v. Hugo Kuhn, Tübingen 1958, S. 10–12. An zwei Stellen weiche ich ab: In V,4 ersetze ich das unverständliche pherierlin nicht wie v. Kraus durch gfeterlin, sondern, wie heute meist üblich, durch pfetterlin – zu den Konjekturvorschlägen vgl. Peter Kern, „Das ,Kindheitslied‘ des Wilden Alexander. Zur verhüllenden Redeweise in mittelhochdeutscher Lyrik“, ZfdPh 98 (1979), Sonderheft, S. 77–91, hier S. 84f., Anm. 25; Knapp [Anm. 15], S. 70, Anm. 29 –, und in V,5 bleibe ich beim hsl. ez muoz, für das sich auch v. Kraus im Kommentar ausspricht, ohne dem im Text zu folgen, wo er er muoz schreibt. Eine der Jenaer
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5. Kindheit und Spiel im Mittelalter I Hie bevorn doˆ wir kinder waˆren und diu zıˆt was in den jaˆren daz wir liefen uˆf die wisen von jenen her wider ze disen, 5 daˆ wir under stunden vıˆol vunden, daˆ siht man nu rinder bisen.
Damals, als wir Kinder waren und es die Zeit war in jenen Jahren, daß wir auf die Wiesen laufen konnten, von einer zur andern, wo wir bisweilen Veilchen fanden – da sieht man nun Rinder rennen.
II Ich gedenke wol daz wir saˆzen in den bluomen unde maˆzen welich diu schœneste möhte sıˆn. Daˆ schein unser kintlich schıˆn 5 mit dem niuwen kranze zuo dem tanze. alsus geˆt diu zıˆt von hin.
Ich erinnere mich gut daran, wie wir in den Blumen saßen und auszumachen suchten, welche wohl die Schönste wäre. Da leuchtete unser Jugendglanz unter den frischen Kränzen beim Reigentanz – so vergeht die Zeit.
Seht, doˆ liefe wir ertbern suochen von der tannen zuo der buochen über stock und über stein der wıˆle daz diu sunne schein. 5 doˆ rief ein waltwıˆser durch die rıˆser: ,wol dan, kinder, und geˆt hein!‘
Seht, da liefen wir Erdbeeren suchen, zwischen Tannen und Buchen über Stock und über Stein, solange die Sonne schien. Da rief ein Waldhüter durch die Zweige: ,Es reicht jetzt, Kinder, geht nun heim!‘
Wir enpfiengen alle maˆsen gestern doˆ wir ertbern laˆsen, daz was uns ein kintlich spil. doˆ erhoˆrte wir soˆ vil 5 unsern hirten ruofen unde wuofen: ,kinder, hie geˆt slangen vil.‘
Wir bekamen alle Flecken, gestern, als wir Erdbeeren pflückten. Das war für uns nur Kinderspiel. Da hörten wir unseren Hirten mehrmals rufen und klagen: ,Kinder, hier gibt’s viele Schlangen!‘
Ez gienc ein kint in dem kruˆte, daz erschrac und rief vil luˆte: ,kinder, hie lief ein slang ˆın, der beiz unser pfetterlıˆn. 5 daz neheilet nimmer, ez muoz immer suˆren und unsaelic sıˆn.‘
Eins der Kinder ging durchs Gras, es erschrak und schrie ganz laut: ,Kinder, hier kroch eine Schlange hinein; sie hat unser Vetterchen gebissen. Es wird nie wieder gesund, es wird für immer vergiftet und heillos bleiben.‘
III
IV
V
Liederhandschrift – der einzigen Überlieferung des Liedes – nahe Textgestalt bieten Werner Höver u. Eva Kiepe in: Epochen der deutschen Lyrik 1. Von den Anfängen bis 1300, München 1978, S. 339f.
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IV. Diverses
VI ,Wol dan, geˆt hin uˆz dem walde! unde enıˆlet ir niht balde, iu geschiht als ich iu sage: erwerbet ir nicht bıˆ dem tage 5 daz ir den walt ruˆmet, ir versuˆmet iuch und wirt iuwer vreuden klage.
,Es reicht nun, geht aus dem Wald heraus! Denn wenn ihr nicht schnell verschwindet, dann geschieht, was ich euch sage: Schafft ihr es nicht, solange es Tag ist, aus dem Wald zu kommen, wird es zu spät für euch, und eure Freude wird zu Leid.
Wizzet ir daz vünf juncvrouwen sich versuˆmten in den ouwen unz der künic den sal besloˆz? ir klage und ir schade was groˆz, 5 wande die stockwarten von in zarten
Erinnert ihr euch, daß fünf Jungfrauen sich in den Wiesen versäumten, bis der König den Saal verschloß? Ihre Klage und ihre Strafe waren groß, denn die Wächter rissen ihnen die Kleider herunter, so daß sie nackt dastanden.‘
VII
daz si stuonden kleider bloˆz.‘
Dieses Gedicht erscheint, wenn man sich genauer darauf einläßt, als ein Vexierrätsel. Und so hat es denn eine intensive Forschungsdiskussion ausgelöst und zu immer wieder neuen Interpretationsversuchen geführt. Die wichtigsten jüngeren Studien stammen von Franz Josef Worstbrock, Peter Kern und Fritz Peter Knapp, auf die ich mich bei meiner Darstellung kritisch stützen werde.22 Doch gebe ich zunächst ein textnahes Referat mit ersten Hinweisen auf die sich abzeichnenden Probleme: Jemand, vielleicht – wie das Gedicht es später nahelegt –, eine ältere Frau,23 erinnert sich an die eigene Kinderzeit und skizziert in der ersten Strophe mit wenigen Strichen eine Frühlingsszene: Kinder, die durch die Wiesen laufen und Veilchen suchen. Die letzte Zeile aber wechselt abrupt zur Gegenwart: heute sind diese Wiesen von rennenden Rindern zertrampelt; die Idylle ist inzwischen gewaltsam zerstört. Nicht nur ist damit vom Standpunkt des Erzählers oder der Erzählerin aus die Kinderzeit vergangen, sondern auch die Szenerie hat sich völlig verändert: das Alter findet sein Spiegelbild in den abgegrasten, fruchtlosen Spätsommer- oder Herbstfluren. Damit kündigt sich schon eine Doppelbödigkeit an, die in dem Gedicht zusehends deutlicher werden wird. Der Frühling ist nicht nur Staffage für kindliches Treiben, sondern er steht für das, was die Kindheit hier bedeutet: für einen Zustand ungebrochenen, spielerisch-gewaltlosen Lebens. Und dies als Rückblick aus einer Zeit, für die das nicht mehr gilt.
22
Kern [Anm. 21]; Franz Josef Worstbrock, „Das ,Kindheitslied‘ des Wilden Alexander. Zur Poetik allegorischen Dichtens im deutschen Spätmittelalter“, in: Medium aevum deutsch. FS Kurt Ruh, hg. v. Dietrich Huschenbett u. a., Tübingen 1979, S. 447–465, = in: Franz Josef Worstbrock, Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 102–118 [zit.]; Knapp [Anm. 15]. – Jüngste Ausgabe mit Übersetzung und kritischem Kommentar: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. v. Burghart Wachinger (Bibliothek des Mittelalters 22), Frankfurt a. M. 2006, S. 288–291, Kommentar: S. 780–782. Zur älteren Forschung Kern, S. 78f.; Worstbrock, S. 102f. 23 Dies die These von Wachinger [Anm. 22], S. 781.
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Die zweite Strophe malt das Szenario in dieser Sicht weiter aus. Die Kinder sitzen in den Blumen, jedes der Mädchen möchte die Schönste sein,24 sie flechten Kränze, tanzen im Reigen, und über all dem liegt der Glanz der Jugend. Und wieder hält die letzte Zeile resignativ fest, daß das alles vergangen ist, aber nun reflektierend: alsus geˆt diu zıˆt von hin: Leben bedeutet Vergänglichkeit. Die Kinderzeit ahnt nichts davon. Mit der dritten Strophe ändert sich nicht nur die Szenerie, sondern auch die Art und Weise des erinnernden Zugriffs. Die Kinder spielen nicht mehr unbehelligt in den Wiesen, sondern sie laufen nun in den Wald über stock und über stein. Und das Seht zu Beginn verlangt vom Hörer, teilzunehmen und die aufgerufenen Erinnerungen unmittelbar nachzuvollziehen. Man pflückt nun auch nicht mehr Blumen, sondern man sucht Erdbeeren. Die Zeit der ersten Veilchen ist vorbei; die Vorstellung eines Frühsommertags drängt sich auf. Die Erdbeersuche besitzt Konnotationen, die nicht unbedingt harmlos sind. Es könnte ein erotischer Aspekt mit im Spiel sein,25 und in diesem Fall würde man folgern dürfen, daß mit dieser Strophe auch eine neue Altersstufe in den Blick fällt. Dafür spricht zudem, daß nun unvermittelt von der Tageszeit die Rede ist. Die Jahreszeit, der Frühling der ersten beiden Strophen, wird von einem einzelnen Sonnentag abgelöst, der sich schon dem Abend zuneigt, und unter diesem Aspekt tritt eine mahnende Figur, ein waltwıˆser, auf den Plan, der die Kinder – oder man müßte nun wohl sagen: die jungen Leute – auffordert, heimzugehen.26 Was ist ein waltwıˆser? Die übliche Übersetzung lautet ,Waldhüter‘.27 Aber klingt hier nicht auch mhd. wıˆs, ,klug, verständig, weise‘, mit? Handelt es sich möglicherweise um jemanden, der über den Wald Bescheid weiß, d. h. der seine tiefere Bedeutung kennt?28 Die vierte Strophe sieht das Erdbeersuchen noch einmal, reflektierend, aus größerer Distanz. Es wird an die maˆsen, die ,Flecken‘, erinnert, die man sich dabei geholt hat. Aber sie wurden damals nicht ernstgenommen, das gehörte zum Spiel, als das man das Unternehmen ansah. Die ,Kinder‘ denken noch so, wie sie es in der Frühlingszeit gewohnt waren. Man meint, in der Art und Weise, wie der Erzähler oder die Erzählerin dies formuliert – daz was uns ein kintlich spil –, einen leicht kritischen Ton zu hören. Jedenfalls hatte man damals die Gefahr, in die man sich begab, unterschätzt. Und nun tritt ein weiterer Mahner auf, unser hirte, der vor Schlangen warnt. Und wieder wird man fragen: Wer ist das? Einer, der auf die jungen Leute aufpassen soll? Oder ist damit 24
diu schœneste bezieht sich doch wohl eher auf spielende kleine Mädchen als auf die Blumen, so Wachinger, ebd., S. 782. Anders Knapp [Anm. 15], S. 68, mit Hinweis auf den Streit der Blumen in Walthers ›Mailied‹ (Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns, hg. v. Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996, S. 106f. [Lachmann 51,13ff.], Strophe 3). Doch der spielerische Streit der Blumen unter sich ist etwas ganz anderes als ein Wettstreit der Kinder darüber, welche Blume die schönste sei. 25 Zu den erotischen Konnotationen der Erdbeere Worstbrock [Anm. 22], S. 109, Anm. 36. Siehe jedoch Knapp [Anm. 15], S. 64f. 26 Der zeitliche Spielraum, den der mhd. Begriff kint überspannt, ist sehr viel größer als bei nhd. ,Kind‘, es ist die ganze Jugendzeit eingeschlossen; vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch V, Sp. 711; Schultz [Anm. 2], S. 23ff. 27 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch III, S. 664. Ursprünglich wohl ein Rechtsterminus: einer, der die Befugnis hat, Holz zu schlagen; vgl. Kern [Anm. 21], S. 80, Anm. 9. 28 Das erwägt auch Knapp [Anm. 15], S. 69.
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IV. Diverses
eine geistliche Instanz, ein Seelenhirte, gemeint? Und er ruft nicht nur, sondern er klagt. Es scheint mit den Schlangen das Unheil schon bedrohlich, ja vielleicht unabwendbar präsent zu sein. Dieses Unheil manifestiert sich in der fünften Strophe in einem konkreten Fall. Die Erinnerung wendet sich einem einzelnen Kind zu, das mit ansehen muß, wie ein anderes von einer Schlange gebissen wird – ist es vielleicht die Erzählerin selbst, die von sich in der dritten Person spricht? Und dann folgt ein seltsamer Kommentar: der Schlangenbiß wird nie mehr heilen, das vergiftete Kind wird für alle Zeit suˆren und unsaelic sein. Was damit gesagt wird, sind schwerlich die Folgen eines gewöhnlichen Schlangenbisses, vielmehr wird mit suˆren und unsaelic ein geistlicher Zusammenhang wachgerufen: es dürfte der Verlust des Seelenheils angedeutet sein.29 Und so stellt sich denn auch die Frage, wer diesen Kommentar gibt. Doch wohl kaum das Kind, das Zeuge des Unfalls ist, eher die Erzählerin, die durch den Mund des Kindes spricht, das sie, wie gesagt, möglicherweise selbst war. Spätestens damit wird das Geschehen unverkennbar auf eine zweite Ebene hin durchsichtig: es geht um eine innere, eine seelische Gefahr. Die sechste Strophe bringt dann nochmals eine Aufforderung an die ,Kinder‘, den Wald zu verlassen, und dies verbunden mit der Drohung, daß sonst die Freude zu Leid werde. Der Wald erscheint als Ort der Gefährdung schlechthin oder konkreter: der Gefährdung durch das Weltleben.30 Und in Strophe VII wird dies dann mit dem Gleichnis von den törichten Jungfrauen exemplifiziert (Mt 25,1–13), die, weil sie sich nicht rechtzeitig Öl für ihre Lampen besorgt haben, zu spät zur Hochzeit des Herrn kommen und dann vor verschlossenen Türen stehen. Es spielen aber offenkundig noch andere biblische Motive hinein, denn dort ist weder von einem König die Rede noch davon, daß den Verspäteten die Kleider heruntergerissen werden. Man mag dabei an Mt 22,1–4 bzw. Ct 5,7 denken.31 Unklar bleibt, wer diese beiden Schlußstrophen spricht. Ist es nach dem Zwischenbericht der fünften Strophe wieder der Hirte von Strophe IV, der sich noch einmal an die Kinder wendet? Oder handelt es sich um eine an die Hörer gerichtete Mahnung des Erzählers / der Erzählerin, sich vom Wald, von der Gefährdung durch die Verlockungen der Welt, abzuwenden?32 Die Unklarheit hat Helmut Birkhan zu dem Vorschlag veranlaßt, die Strophen VI und VII zwischen III und IV einzuschieben.33 Doch würde durch das vorgezogene biblische Gleichnis die Bildlichkeit allzu früh auf die moralische Deutung hin durchbrochen. Diese gehört zweifellos an den Schluß. Es liegt nahe anzunehmen, daß die letzten beiden Strophen bewußt doppelt ausgerichtet sind, also den Kindern des Liedes wie den Hörern als ,Weltkindern‘ gelten sollten, die ja als solche immer schon und zusehends deutlicher mit angesprochen sind.34 29
Zur übertragenen Bedeutung von suˆren sei auf den ›Parzival‹-Prolog verwiesen: Wolfram, Parzival [Anm. 8], v. 1,2. Vgl. dazu meine Analyse „Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des ›Parzival‹-Prologs“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 145–159, hier S. 146, S. 149f. 30 Zu silva = mundus siehe Kern [Anm. 21], S. 82, Anm. 15; Worstbrock [Anm. 22], S. 107. 31 Siehe dazu Kern [Anm. 21], S. 81f.; Worstbrock [Anm. 22], S. 107; Knapp [Anm. 15], S. 71ff. 32 Für letzteres plädiert u. a. Kern [Anm. 21], S. 79 mit Anm. 8. Da auch zu andern Vorschlägen. 33 Helmut Birkhan, „Altgermanische Miszellen ,aus funfzehen Zettelkästen gezogen‘“, in: Festgabe für Otto Höfler, hg. v. H. Birkhan, Wien, Stuttgart 1976, S. 15–82, hier S. 54–58. 34 Siehe Worstbrock [Anm. 22], S. 108 (Weltleben als pueritia), S. 110.
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IV Es ist offenkundig und man ist sich in der Forschung weitgehend darüber einig, daß das ›Erdbeerlied‹ auf einen hinter ihm liegenden Zweitsinn zu lesen ist. Dies wird schrittweise immer klarer; in der fünften Strophe wird es unverkennbar manifest und drängt dazu, rückblickend nach Signalen in dieser Richtung zu suchen und die Lektüre entsprechend zu revidieren. So sehr aber im Prinzip darüber Einigkeit besteht, so wenig ist zu übersehen, daß sich der Zweitsinn nicht als durchgängiger, geschlossener Bedeutungszusammenhang darstellt, vielmehr überlagern sich unterschiedliche Sinnperspektiven, und dies ist der Grund dafür, daß es zu divergierenden Deutungen kommen konnte. Geht man von den ersten beiden Strophen aus, so sieht man sich vor das harte Gegenüber von Einst und Jetzt gestellt. Sie geben sich als Rückblick auf eine Kindheit, die auf den ersten Blick keinerlei defiziente Züge zeigt, sondern als eine idyllisch unschuldige Lebensphase erscheint, die jedoch inzwischen längst vergangen ist. Im Älterwerden ist sie, so darf man unterstellen, in einem natürlichen Prozeß zurückgelassen worden. So konnte man denn das Gedicht als Altersklage verstehen und es in die Nähe von Walthers von der Vogelweide Elegie Oweˆ war sint verswunden alliu mıˆniu jaˆr rükken,35 wobei man konkrete Anklänge meinte heraushören zu können. So Peter Kern36 und dann in größerer Eindringlichkeit Fritz Peter Knapp.37 Der eigentliche Schlüssel wäre demnach der Vers II,6: alsus geˆt diu zıˆt von hin. Die weiteren Strophen wären dann gewissermaßen entwicklungspsychologisch anzuschließen: Erwachsenwerden schließt den Verlust der Unschuld in sich, man kann Verfehlungen nicht vermeiden – alle holen sich maˆsen –, man macht Todeserfahrungen, und daraus resultiert dann die Mahnung, sich vom Weltleben, für das der gefährliche Wald steht, abzuwenden und rechtzeitig an das Heil der Seele zu denken. Doch so stimmig diese Sicht zu sein scheint, vom Verlust der unschuldigen Kindheit her entfaltet sich eine Thematik, die quersteht zur Altersklage – sie fehlt denn auch bei Walther – und die eine Sinnperspektive ganz anderer Art eröffnet. Denn man kann schwerlich verkennen, daß die Wende von der unschuldigen Kindheit der beiden ersten Strophen zur Gefährdung und zur Todeserfahrung in der Situation danach dermaßen mit heilsgeschichtlichen Signalen besetzt ist, daß man sich veranlaßt sieht, darin eine Allegorie des Sündenfalls zu sehen. Signifikant ist vor allem das Motiv vom Kind, das von einer Schlange gebissen wird und von dem es dann heißt, daß es für immer unsaelic, ,heillos‘, bleiben werde. Die Szene ist übrigens, wie schon Edward Schröder anmerkte,38 aus zwei Vergilversen herausgesponnen (›Eklogen‹, III,92f.):
35
Walther von der Vogelweide [Anm. 24], S. 264f. (Lachmann 124,1ff.). Kern [Anm. 21], S. 85f., angeregt durch Max Wehrli, „Die Elegie Walthers von der Vogelweide“, Trivium I,3 (1943), S. 12–29. 37 Knapp [Anm. 15], S. 66ff. – Daß Walthers Elegie im übrigen sehr viel weiter reichende Perspektiven eröffnet, braucht kaum eigens betont zu werden; siehe zur Komplexität von 124,1ff. Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, Stuttgart, Weimar 22005, S. 166–169. 38 Edward Schröder, „Meister Alexanders Kindheitslied“, ZfdA 42 (1898), S. 371f. 36
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IV. Diverses Qui legitis flores et humi nascentia fraga, frigidus, o pueri, fugite hinc, latet anguis in herba.
(Ihr Kinder, die ihr Blumen sammelt und auf dem Boden wachsende Erdbeeren, flieht von hier: Kalt lauert die Schlange im Gras.)
Diese beiden Verse waren im Mittelalter auch isoliert in Florilegien und Proverbiensammlungen verbreitet, und dies mit variierenden allegorischen Deutungen. Franz Josef Worstbrock ist dieser Tradition in seiner umsichtigen Studie nachgegangen und hat überzeugend gezeigt, daß der Wilde Alexander nicht auf Vergil selbst zurückgegriffen hat, sondern auf das frei schwebende und vielfältig in Anspruch genommene Verspaar, ohne jedoch eine konkrete allegoretische Gleichung zu übernehmen,39 vielmehr hat er das Verfahren im Prinzip adaptiert und es in einen schrittweise enthüllenden Darstellungsprozeß übergeführt.40 Wenn der Wilde Alexander also die Deutungstradition dieser zwei Eklogenverse gekannt und das Motiv von der Schlange im Gras in sein Gedicht eingesetzt hat, dann als Signal für eine Sinnperspektive, in der der Prozeß, der in den Strophen I bis V vorgeführt wird, nunmehr in heilsgeschichtlicher Allegorese gelesen werden sollte. Vom Schlangenbiß der fünften Strophe aus deutet sich die Situation der Strophen III und IV rückblickend neu, d. h., die Motive werden in neuer Weise doppelbödig: die Erdbeersuche, der hereinbrechende Abend, die Flecken, die man sich holt, die Warnung vor Schlangen und auch die Figuren des waltwıˆsen und des Hirten, all dies evoziert eine Situation, die gegenüber jener der Strophen I und II grundsätzlich verändert ist und damit auch den Anfang in ein neues Licht taucht: die Kinderzeit der ersten beiden Strophen erscheint als paradiesischer Zustand; der Frühling, die amöne Landschaft, die Schönheit und der Glanz weisen auf einen Status vor jenem Fall, der dann von Strophe III an beschworen und schließlich paradigmatisch inszeniert wird. Man kann das individualpsychologisch sehen als Übergang vom Kindsein zur Pubertät und zur Geschlechtsreife, doch wird der biographische Prozeß dabei zum Spiegel der heilsgeschichtlichen Wende vom Paradieszustand zum Sündenfall. Und der Schluß, die Strophen VI und VII, ziehen diese Linie dann aus zur Forderung nach einer Entscheidung für das Heil oder die Verdammnis. Doch auch wenn man diese Sinnperspektive bis zum Schluß weiterführen kann, so kommt es mit Strophe VI nochmals zu einem Bruch und einer erneuten Blickwende. Sie wird eröffnet durch die Mahnung, nicht der Welt zu verfallen. In dieser Sicht erscheint der Weg der Kinder von den Wiesen in den Wald als eine das Seelenheil gefährdende Zuwendung zu den Verlockungen der Welt. Die Schlange ist dabei nicht als Zeichen für den Status quo des irdischen Lebens zu verstehen, sondern als Gefährdung des künftigen Seelenheils. Man kann ihr entgehen, wenn man rechtzeitig – bevor es Abend wird – der Welt entsagt. Das wird zuerst deutlich durch das auffällige gestern in IV,2. Es schert aus dem Lebensablauf aus.41 Das Gleichnis von den törichten Jungfrauen schreibt diese 39
Worstbrock [Anm. 22], S. 104ff. Am nächsten steht eine Deutung in dem allegorischen Wörterbuch ›Distinctiones monasticae‹ aus dem frühen 13. Jh. – Worstbrock [Anm. 22], S. 113f., worauf gleichzeitig auch Kern [Anm. 21], S. 88f., hingewiesen hat –, doch ist die Akzentuierung eine andere; siehe auch Knapp [Anm. 15], S. 61f. 41 Siehe Kern [Anm. 21], S. 84: Es handle sich möglicherweise um eine Anspielung auf Ps 89,4: 40
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Sicht fest. Es nimmt dabei – gegen den biblischen Kontext – das Motiv vom Spielen in den Wiesen auf und deutet es als Sich-Versäumen: das ist das entscheidende Signal für die nochmalige, radikale Wende der Perspektive, denn das stellt das Geschehen von Anfang an unter den Aspekt der Weltversuchung, die Schritt für Schritt immer massiver wird. Auch das Kinderspiel, zuvor noch paradiesisch konnotiert, zeigt sich nun schon als Fehlverhalten. Es ergibt sich also, daß sich im ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander drei Deutungsperspektiven abzeichnen, die sich in irritierender Weise überlagern. Von den beiden ersten Strophen aus kann man das Lied als Altersklage verstehen. Die verlorene Kindheit ist aus der Distanz gesehen, und in den folgenden Strophen wird Schritt für Schritt der Verlust aufgerollt. Doch von Strophe III an drängt sich immer deutlicher eine andere Perspektive vor, bis sie in Strophe V unverkennbar manifest wird: sie übersetzt das Geschehen in den Mythos von Paradies und Sündenfall und führt zur Mahnung, an das Heil der Seele zu denken. Mit Strophe VI aber wird auch diese Sicht unterlaufen: der gesamte Weg der Kinder von Anfang an erscheint als Weltverführung, der allein die Weltabwendung entgegenzusetzen ist. Somit denn nacheinander: 1. Kindsein unter dem resignativen Aspekt seines Verlusts, 2. Kindsein als mythisches Bild paradiesischer Unschuld und 3. Kindsein als gefährliche Unbedenklichkeit gegenüber der sündigen Welt. Diese Überlagerung der Deutungsperspektiven führt beim Hörer/Leser zu immer neuen Irritationen. Zugleich aber macht sie nicht zuletzt den Reiz des Liedes aus. Sie zwingen zu einem changierenden Verständnisprozeß. Jede Beschränkung auf eine der drei Perspektiven, wie die bisherigen Interpreten dies getan haben, verfehlt die Komplexität des Konzepts.
V Rückblick: Es stehen im Mittelalter sehr unterschiedliche Kindheitsbilder nebeneinander. Alle sind sie, wie gesagt, kulturhistorische Konstrukte. Das heißt selbstverständlich nicht, daß sie nicht die Realität geprägt haben können.42 Auch faktisch ist die Art des Umgangs mit Kindern in Anlehnung an die Konstrukte geschichtlich variabel. Spielen ist demgegenüber ein Anthropologikum, das nur in dem Sinne variabel ist, als es dem, was es seiner Definition nach optimal sein kann, mehr oder weniger genügt. Und es ist dann diese optimale Erfüllung, die hinter dem Spiel als Metapher steht. Was das Verhältnis von Kind und Spiel betrifft, so ergibt sich: Wo das Kindsein idealisiert wird, sei es – wie im ›Erdbeerlied‹ – nostalgisch oder allegorisch, kann das Kinderspiel als Metapher für diese Idealität eintreten. Dabei sollte man jedoch nicht dies hesterna quae praeteriit; dazu ein Hinweis auf eine analoge Verwendung des Wortes bei Radulphus Ardens: „Anläßlich seiner Deutung des Jungfrauengleichnisses setzt Radulphus die dies hesterna (. . . ) gleich mit dem aptum veniae tempus, mit der vorübergehenden Zeit der Gnade, während der man sich – anders als die törichten Jungfrauen – für die Ankunft Christi bereithalten und, wie er sagt, der Gefahr des neglegere (des sich versuˆmens) begegnen soll.“ 42 Der Vorstellung vom Kindsein als einer gegenüber dem Erwachsenenstatus defizienten Phase entspricht z. B. in der Realität eine massive Züchtigungspädagogik; siehe Arnold [Anm. 2], S. 79–81.
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IV. Diverses
verkennen, daß Kinderspiele de facto nur sehr bedingt jenem optimalen Spielbegriff gerecht werden, der die Voraussetzung für eine Metaphorisierung darstellt. Das Kind muß erst lernen, das Spiel in Abgrenzung gegen die faktische Wirklichkeit zu verstehen und sich jene Freiheit, die es ermöglicht, anzueignen. Die das Kindsein als Idealstatus charakterisierende Spielmetapher ignoriert dies. Auch das Kindsein als spielerische Existenz ist ein Konstrukt. Wird die Kindheit hingegen als defiziente Vorstufe des Erwachsenseins gesehen, kann die Spielmetapher den Zielpunkt des Weges kennzeichnen, auf dem diese Defizienz zurückgelassen wird: die arthurische Spielgesellschaft, zu der der junge Held aufbricht. Aber es geht dabei nicht um diesen Weg, so sehr er eine vorbereitende oder vorausdeutende Funktion haben kann, sondern um die Krise des Ziels und d. h. des Spiels, in die der Held bei seinem Auftritt am Hof eintritt. Literarisch ist also im einen wie im andern Fall die Grenze des Spielstatus im Blick: er wird als verlorener aufgerufen, oder es wird seine Bedrohung narrativ in die Diskussion gebracht. Man kann daran grundsätzliche Überlegungen anknüpfen: Es scheint zwei Möglichkeiten zu geben, Idealität im Bild des Spiels in den Blick zu nehmen. Geht man vom menschlichen Status quo in seiner Defizienz aus, so kann man diese unter dem Aspekt einer verlorenen Idealität sehen und sie im Mythos von der Austreibung aus dem Paradies fassen, was sich säkularisiert als Idee von der verlorenen Kindheit im Sinne einer ursprünglich harmonisch-spielerischen Daseinsform niederschlägt. Es stellt sich dann die Frage nach der Möglichkeit einer Wiederherstellung des Status quo ante, und die Antworten, die gegeben worden sind, bewegen sich zwischen einem allgemeinen heilsgeschichtlichen Prozeß – unter Einschluß gesellschaftspolitischer Modelle – und der Vorstellung einer individuell-biographischen Entwicklung. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß man literarisch-fiktional eine spielerische Idealität entwirft und sie dabei als immer schon gefährdeten Moment des Glücks darstellt, das nur im Bewußtsein dieser Gefährdung zu realisieren ist. Man grenzt sowohl die defiziente Wirklichkeit wie alle absoluten Ansprüche aus dem Spielentwurf aus, um sie im Erzählspiel aber doch ins Bewußtsein hereinzuholen. Das Mittelalter hat die eine wie die andere Möglichkeit durchgespielt.
V. Reden und Nachrufe
1. Ernst Penzoldt – der Freund des Theaters
Ernst Penzoldt war immer schon ein ,Freund des Theaters‘ gewesen – als miterlebender Zuschauer, als Schreiber der ›Münchner Theaterbriefe‹, als Verfasser eigener Stücke –, aber er wurde es in einem ganz besonderen Sinne, als Kurt Horwitz ihn mit der Spielzeit 1953/54 ans Münchner Residenztheater berief. Er sollte da, nach Horwitzens unkonventioneller Idee, eigentlich als Dramaturg amtieren, aber die Titulierung wollte ihm nicht gefallen; sie schien ihm wohl nicht jenes freie kritische Verhältnis zu erlauben – auch seinem eigenen Tun gegenüber –, an dem ihm gelegen war; und so einigte man sich denn auf die Bezeichnung ,dramaturgischer Berater‘. Und das hatte er sich wohl überlegt und es so erklärt: „Die Vorsilbe ,be‘ bedeutet: innere Beteiligung und sanften Nachdruck. So empfinde ich es, dieses freundschaftliche B e raten.“1 Und unter diesem Etikett konnte er auch ein Freund seines Theaters werden oder bleiben, er konnte mit klugem Rat und engagiertem Herzen ganz dabei sein und doch seine Liebe auch als Verpflichtung zur Wahrheit verstehen, als Verpflichtung, immer neu Rechenschaft zu geben über das, was erreicht und nicht erreicht worden war. Und so wurde er denn, wie Horwitz es in seinem Nachruf treffend gesagt hat, das Gewissen unseres Hauses.2 Ich selbst bin – ebenfalls auf Umwegen, wenngleich ganz anderen – zur selben Zeit wie Penzoldt ans Residenztheater gekommen. Der neue Intendant Horwitz hatte auch einen Lektor gesucht: Ich habe mich ihm als frisch promovierter Theaterwissenschaftler vorgestellt, und er meinte, er wolle es mit mir wagen, vorausgesetzt, daß Ernst Penzoldt seine Zustimmung gäbe. So wanderte ich denn an einem Sommertag zur Schwedenstraße 39, nicht ohne Bangen, aber ich wurde mit großer Freundlichkeit aufgenommen und war schnell als Juniorpartner akzeptiert. Das war der Beginn einer herzlichen ,kleinen‘ Freundschaft: Es sollte ihr nur wenig Zeit vergönnt sein; es waren nicht einmal anderthalb Jahre, bis Penzoldt im Januar 1955 starb. Aber es wurde eine Zeit guter und sehr persönlicher Zusammenarbeit, bei der ich freilich sehr bald merkte, daß es für mich vor allem darauf ankam, erst einmal hinzuhören und zu lernen, die literaturwissenschaftlichen Maßstäbe, die ich von der Universität mitbrachte, durch ein Urteilen aus einem offen-sensiblen Herzen heraus zu ergänzen. Und wenn ich heute auf diese gemeinsame Dramaturgenzeit zurückblicke, so geschieht dies mit einem Gefühl der Dankbarkeit dafür, daß ich dabei meinem Sehen und Verstehen so etwas wie eine neue Dimension hinzugewonnen habe.
1
Aus einem Kurzvortrag, in dem sich der dramaturgische Berater bei einer Pressekonferenz an seine ehemaligen Kritiker-Kollegen gewandt hat. 2 Kurt Horwitz, „Dank an Ernst Penzoldt“, Blätter des Bayerischen Staatsschauspiels 7 (1954/55), Heft 5, S. 58.
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V. Reden und Nachrufe
Das Besondere dieser Erfahrung habe ich bei einer Gedenkstunde für Penzoldt in der Falckenbergschule 1958 schon einmal in Worte zu fassen versucht. Ich habe zum jetzigen Anlaß jenes Vortragsmanuskript hervorgeholt und wiedergelesen, und da ich vieles darin auch heute nicht besser sagen könnte, erlaube ich mir im folgenden, jene Skizze zum einen mit alten Notizen, die ich aufgehoben habe, und zum anderen mit Eindrücken, die mir über die Jahre hinweg lebendig geblieben sind, zu einem vielleicht etwas flickerlteppichartigen Erinnerungsbild zusammenzufügen. Wie paßt ein Mensch wie Ernst Penzoldt in den dramaturgischen Betrieb eines Staatstheaters? Wußte Kurt Horwitz, daß er sich damit so etwas wie eine stille Revolution ins Haus holte? Wohl doch. Denn bei Penzoldt konnte man sicher sein, daß er sich nicht nach der Konjunktur von Namen und Meinungen richten würde, man konnte wissen, daß er nicht den bequemen Weg zu gehen vorhatte, den einem die sogenannte öffentliche Meinung hinterher auch noch als den richtigen bestätigte, man mußte darauf gefaßt sein, daß er, indem er es sich selbst nicht leicht machte, auch dem Theater tagtäglich den nicht immer erfreulichen Spiegel vorhalten würde. Penzoldt als Dramaturg, das war dann auch tatsächlich eine Herausforderung an die Bequemlichkeiten, an die Schematismen der Empfindung und des Urteils, eine Herausforderung auch an alles Unverbindliche und Halbwahre. Und es war eine Herausforderung nicht nur für uns, das Team am Residenztheater, sondern auch für die Öffentlichkeit, vor der er für unsere Entscheidungen eingestanden ist, oft in schmerzender Vehemenz. Denn man darf nicht vergessen, daß bei ihm die Sensibilität seines Herzens durchaus mit einer großen moralischen Empörbarkeit zusammenging. Und daß dies keine Mischung war, die ein opportunistisch-geruhsames Lavieren erlaubte, versteht sich von selbst. Doch wer so beschaffen ist, der ist offen für Verletzungen; und man konnte nicht erwarten, daß die Routiniers des Kulturbetriebs dafür ein Organ hätten. Er hat sich, mehr als er zeigte, daran aufgerieben. Innerhalb des Theaters aber fühlte sich Ernst Penzoldt sehr wohl. Das mag zunächst vielleicht überraschen. War Penzoldts poetische Welt im Grunde nicht völlig ,undramatisch‘? Denn es gibt doch kaum etwas Undramatischeres als Sandkörner und Vogelfedern, um nur zwei von vielen kleinen Dingen zu nennen, für die er eine besondere Vorliebe hatte. Man mag dem entgegenhalten, daß er ja selber eine ganze Reihe von Theaterstücken geschrieben habe, die durchaus mit Erfolg gespielt worden sind. Und, wie schon erwähnt, er hat sich auch als Theaterkritiker betätigt. Aber wie steht es denn mit der ,Dramatik‘ bei diesen theatralischen Tätigkeiten? Penzoldt wußte oft selbst nicht recht, was für einer Kategorie er seine Stücke zuordnen sollte. Er erfindet für ›Brummell‹ wie für ›Die verlorenen Schuhe‹ das Wort ,Biodrama‘, nimmt es aber gleich wieder zurück, indem er sagt: „Gewiß, es ist kein Drama, aber es ist Theater.“ Und die Aufführungen erwiesen dann auch die Berechtigung dieser Form: „Ich behaupte sogar, sie bereichert das Theater durch eine, wenn auch nach der bisherigen Übung undramatische, neue Art der Imagination, die für die Wahrnehmung durch den Beschauer natürlich eine andere Einstellung des Aufnahmegerätes voraussetzt, als es das Drama erfordert.“3 Ein andermal aber sagte er: „Vielleicht ist der 3
Ernst Penzoldt, Causerien, Frankfurt a. M. 1949, S. 383.
1. Ernst Penzoldt – der Freund des Theaters
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Mensch erst dann ein dramatisches Wesen, wenn man ihn aus dem Zusammenhang mit Gott gelöst und ihn ganz sich selbst überlassen hat, also wenn ihm bei seiner Gottähnlichkeit bange wird.“4 Und zu diesem Schritt hätte er sich selbst schwerlich bereitgefunden. Auch als Kritiker des dramatischen Genres sieht er sich nur unter Vorbehalten: Ich bin kein zünftiger, erfahrener Kritiker, sondern nur ein, wenn auch begeisterter, Liebhaber des Theaters, einer von denen, die immer zu früh im Theater sind, weil sie es gern sehen, wie sich der Raum füllt, und die keinesfalls auf das Gesumme der Stimmen verzichten möchten (was immer ein wenig an das eines Schulzimmers erinnert, ehe der Lehrer die Klasse betritt). Auch gebe ich mich willig jener angenehmen, erwartungsvollen Erregung hin, bevor der Vorhang aufgeht, die ich das Lampenfieber des Zuschauers nennen möchte.5
Und einem, der auf diese Weise beteiligt war, mußten dann schon die Wörter ,Kritiker‘ und ,Rezensent‘ anstößig sein. ,Kritiker‘, das sei „onomatopoetisch unstreitig ein ,hartes Wort‘, ein Wort sozusagen mit spitzen Ellenbogen“, und ,Rezensent‘, „das klingt (. . . ), als hörte man Gras schneiden mit der Sense“.6 Ein Liebhaber mit spitzen Ellenbogen und einer Sense, das ist nun mal eine unmögliche Vorstellung. Seine Kritiken, die er lieber ›Theaterbriefe‹ nannte,7 waren denn auch von einer besonderen Art. Er schrieb sie aus der lebendigen Erfahrung des mitgehenden Zuschauers heraus, also nicht vom hohen Sockel herab, sondern ganz unprätentiös und immer die Chancen bedenkend, die ein Stück unter den besonderen Bedingungen der Zeit und der Möglichkeiten einer Bühne und eines Ensembles hat. Er selbst sagte das so: Der Kritiker steht nicht mit einem Fuß (dem rechten) im Zuschauerraum und dem andern (dem linken) auf der Bühne, sondern mit beiden Füßen mitteninne im Theater, oder er sollte es doch wenigstens. Er ,vertritt‘ es, um im Bilde zu bleiben, das Theater nämlich, tritt mit Händen und mit Füßen beifällig oder tadelnd für die Sache und das Gesetz des Theaterspielens ein, für die Rechte der Dichtung, der Bühne und des Zuschauers.8
Aber wenn er dann tadeln mußte, weil etwas mißlungen war, hatte er dafür gerade um der Sache willen immer mehr Wehmut als Schärfe übrig, obwohl er gelegentlich durchaus auch kräftig spotten konnte. So hat er einmal eine Kritik mit den trostreichen Worten zusammengefaßt: „Die Windmaschine hatte gute Momente.“9 Dieses stete Bemühen, immer erst einmal das Positive zu sehen und damit zu fördern statt zu vernichten, hat die Fachgenossen irritiert. Und einer, Walter Kiaulehn, hat ihm denn auch das böse Wort zugerufen: „Herr Penzoldt, wo bleibt das Negative?“10 Nun, Penzoldt hatte das Negative nicht nötig, um sich wie so manch ein Rezensent geistreich zu profilieren. Was andere achtlos beiseite warfen, das hat er behutsam aufgehoben, um vielleicht sogar eine Welt daraus zu bauen. 4
Ebd., S. 333. Ebd., S. 306f. 6 Kurzvortrag [Anm. 1]. 7 Die ›Münchner Theaterbriefe‹ bilden das Fünfte Buch der Causerien [Anm. 3], S. 279–422. 8 Kurzvortrag [Anm. 1]. 9 Zu einer Aufführung von Max Halbes ›Strom‹, in: Penzoldt, Causerien [Anm. 3], S. 378. 10 Kurzvortrag [Anm. 1]. 5
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V. Reden und Nachrufe
Penzoldts Theater und Penzoldts Welt: Im Grunde hat er das Theater nicht anders gesehen als die durch seinen Blick verwandelte Wirklichkeit außerhalb; oder man kann es auch umgekehrt sagen: Er erlebte die Wirklichkeit auf das hin, was sie gewissermaßen poetisch verdichtet an Einblicken in ihre Ordnung und Unordnung, in das Menschliche und Über-Menschliche, in das Liebenswerte und in das Erschütternde freigab. Das theatrum mundi, wie der Dichter es erlebte, ließ ihm die Welt der Bühne von Anfang an vertraut erscheinen. Diese Vertauschbarkeit der Sphären, dieses Spiel im Übergang, war schon an seiner Sprache, ja an seinem Vokabular abzulesen. Und das war das erste, woran jemand wie ich sich bei ihm gewöhnen mußte. So z. B., wie er mit dem kleinen Wort ,hübsch‘ umging. Er sprach es so aus, als ob es noch von einem längst entschwundenen Kinderhimmel übriggeblieben sei. Zugleich gab er ihm aber eine eigentümlich schelmische Drehung, die einem den Eindruck vermittelte, als ob er damit ein kleines Zauberkunststück vorführen würde, bei dem sich die Dinge wunderbar verwandelten. Mich hat das überrascht, denn ich war es höchstens gewohnt, von ,hübschen Mädchen‘ zu sprechen; ein Gedanke oder eine Vorstellung hingegen waren für mich zutreffend oder überzeugend oder packend, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, sie als ,hübsch‘ zu bezeichnen. Er aber tat dies mit Vorliebe, und so sah ich mich voll Verwunderung einem Menschen gegenüber, der es fertigbrachte, eine Beziehung, die man, wie gesagt, höchstens zu hübschen Mädchen hatte, auf die ganze Welt zu übertragen. Es war dabei weniger ein großes, kosmisches Gefühl, als vielmehr eine große Liebe zum Kleinen und Kleinsten, zur besonderen Einzelheit, in der sich für ihn die Schönheit des Ganzen spiegelte, als ob er aus Bescheidenheit ein Hintertürchen zur Herrlichkeit der Schöpfung gewählt hätte, um dann selbst freudig überrascht zu merken, daß er damit sofort mitten drin war, während die andern noch lange hilflos mit großen Gesten im abstrakten Raum herumruderten und sich nur zu oft am Ende mit mehr oder weniger klugen Allgemeinheiten begnügen mußten. Ernst Penzoldt sah natürlich, daß es auch Menschen ganz anderen Schlages gab – Menschen, die partout von einem Meteor erschlagen werden müssen, wie der alte Powenz, dem er das großzügig zugestanden hat, oder die den Blitz anzogen wie Richard Billinger, der ja überall, wo er erschien, von unheimlichen Ereignissen umwittert war. Penzoldt sprach von dem kosmisch so geplagten Dramatikerfreund in verblüffter Bewunderung, wenngleich nicht ganz ohne eine leise Spur von Spott, so als ob der damit doch allzuviel Bühnentheatralik in die Wirklichkeit hereingeholt hätte und es somit zu Recht ausbaden müßte. Er hat diese Verblüffung in einem seiner ›Theaterbriefe‹ und dann auch in einem Programmheft des Residenztheaters anläßlich der Aufführung von Billingers ›Plumpsack‹ in köstlicher Weise zu Papier gebracht.11 Theaterdonner als Wirklichkeit: Auch in dieser Richtung waren die Sphären durchlässig. Er selbst hat sich demgegenüber nie in Szene gesetzt, es gab keine kosmischen Überraschungen, wenn er auftrat, aber die Dinge öffneten sich vor ihm und gaben unter seinem Blick etwas von ihrem Geheimnis preis. Wo immer Squirrel, seine letzte und vielleicht reizvollste Figur, erscheint, beginnen sich die Sonnenrädchen zu drehen. Penzoldt konnte dieses Bild, von 11
„Der rote Tupfen“, in: Penzoldt, Causerien [Anm. 3], S. 312–317; „Natürliche Anziehung“, Blätter des Bayerischen Staatsschauspiels 7 (1954/55), Heft 3, S. 40f.
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dem Thomas Mann sagte, daß es im ganzen ›Krull‹ nichts Schöneres gebe, nur erfinden, weil er auch selber etwas von diesem zauberischen Vermögen besaß, die Dinge liebend zum Leben zu bringen, von der Fähigkeit, allem freund zu sein und in seinem Herzen für alles und jedes den verwandten Ort zu finden, dem es sich öffnen konnte. Auch das sind Wunder, aber sie geschehen nicht theatralisch unter Blitzen und Donnerschlägen, sondern sie ereignen sich im Stillen und nur für einen Unaufdringlichen. Etwas von dieser Behutsamkeit, mit der er an die Dinge heranging, muß sich mit der Zeit auch auf ihn selbst, auf seine Stimme, seine Bewegungen übertragen haben, so daß er es auf geheimnisvolle Weise fertigbrachte, sich trotz seiner großen und einprägsamen Gestalt von innen her etwas Unauffälliges zu geben. Da konnte es denn geschehen, daß er, nachdem er schon längere Zeit bei uns ein- und ausgegangen war, vom Theaterpförtner gefragt wurde, wo er denn hinwolle – worauf er lächelnd antwortete, daß er gerne den Dramaturgen sprechen möchte. Solch Theatralisches en miniature, das hat er sich zum Vergnügen sehr wohl erlaubt, und so fand er denn auch das wahrhaft Dramatische oft woanders, als man es gewöhnlich erwartete und sah. Er vermochte dies, weil er frei war von allen Vorgaben und Denkschablonen. So wie er es fertigbrachte, die Welt gegen ihre erdrückende Gewöhnlichkeit immer wie am ersten Tag zu sehen, so stand er auch einem Theaterstück immer wie zum ersten Mal gegenüber. Er hat dies selber so gesagt: Auch für das Paradies des Theaters gilt es, daß man nicht hineingelangt, es sei denn, man werde wie die Kinder. Ich behaupte: die Künstler (und unter ihnen nicht zuletzt die Schauspieler) sind die Kinder, die sich mit Erfolg geweigert haben, erwachsen zu werden. Theater, das bedeutet – mutatis mutandis – Kinder (jeden Alters) spielen für Kinder (jeden Alters).12
All das heißt nun keineswegs, daß Penzoldt nicht ein reiches konkretes Wissen besessen und seinen Rat nicht aus einem weiten Horizont geschöpft hätte, aber er konnte das alles weglegen und im Altbekannten, im Hundertmal-Gehörten das Unerhörte sehen. Ich erinnere mich an eine Probe zu den ›Räubern‹, in der er einen Satz Daniels im letzten Akt für uns ,entdeckte‘: Franz rechtet in seiner Todesverzweiflung mit Himmel und Hölle, da kommt der alte Diener – Kurt Stieler hat ihn unvergeßlich gespielt – und sagt: „Befehlt Ihr, daß ich Euch Lebensbalsam auf Zucker tröpfele?“ Und Franz antwortet: „Tröpfele mir auf Zucker.“ „Auf einmal schrumpft“ – so bemerkte Penzoldt – „für eine Sekunde das grausige Geschehen zu ein paar lächerlichen Hofmannstropfen und einem Stückchen süßen Zucker zusammen.“13 Einer der wahrhaft grandiosen Augenblicke in der dramatischen Literatur – wer hat je vor ihm darauf geachtet? So wie er Stücke sah, so las er sie auch. Verdrießlicherweise ist der allergrößte Teil der Stöße von Dramen, die auf den Schreibtisch eines Dramaturgen kommen, schlicht hoffnungslos. So hatte ich denn immer ein wenig ein schlechtes Gewissen, wenn ich unter den Bergen von Stücken zu ersticken drohte und er sich freundlich anerbot, mir etwas von der Leselast abzunehmen. Aber eines hat mich doch immer wieder beruhigt: Er 12
Von der „poetischen Kindlichkeit“ des guten Schauspielers sprach Penzoldt öfters, z. B. auch in dem ›Theaterbrief‹ „Abschluß und Anfang“, Münchner Tagebuch 3 (1948), Nr. 1 (10. Jan.). 13 Er hat es festgehalten in einem Vortrag mit dem Titel ›Die Klassiker in unserer Zeit‹, den er vor der Volksbühne München Anfang Januar 1954 gehalten hat.
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verstand es, selbst im übelsten Wust noch eine Kostbarkeit oder Köstlichkeit zu entdecken. Ich erinnere mich, daß er einmal sagte: „Das hier ist ein Stück ohne eine Spur von Begabung, und doch gibt es darin einen wirklich guten Satz“; er lautete: „Ich kenne keine Hemmungen außer Ladehemmungen.“ Aber auch wenn etwas trostlos schien, blieb er nie dabei stehen, sondern er suchte nach dem Kern des Übels und übersetzte die Erfahrung sofort in eine allgemeine Einsicht und erzielte damit einen Gewinn auf anderer Ebene. Er hatte nämlich den genialen Plan gefaßt, eine ,Dramaturgie nicht aufführbarer Theaterstücke‘ zu schreiben. Und indem wir eifrig anfingen, Material dafür zu sammeln, waren wir plötzlich auch für das gräßlichste Borgiadrama dankbar. Diese Dramaturgie nicht aufführbarer Theaterstücke ist leider nicht zu Ende gediehen, aber es zeichneten sich doch schon unverkennbar Hauptkategorien ab. Und da sich in seiner Sammlung der Einzelfälle soviel Beherzigenswertes und zugleich trefflich ins Wort Gebrachtes findet, möchte ich mir erlauben, einiges davon zu Wohl und Wehe werdender Dramatiker hier mitzuteilen (ich tilge nur die Namen der betroffenen Poeten):14 1. Dramatomanie: Wie es den Cäsaren-Wahn und den religiösen Wahnsinn gibt, so auch die Dramatomanie. Die echten Dramatiker haben natürlich alle ein bißchen was davon. Aber hier handelt es sich um einen rein pathologischen Fall. Beispiel: Gutenberg: „Wer Großes will, wird Großes leisten!“ Denn das ist typisch für die Dramatomanen, daß sie in Plattheiten schwelgen, sich (wie man sich ,in einen Zorn hineinredet‘) an Worten berauschen und sich sehr tief vorkommen. Sie müssen alle ihren ›Faust‹ schreiben.
2. Belehrstücke oder Toleranz und Dramatik: Die Absicht dieses Belehrstückes ist begrüßenswert. NNs Art ist aber viel zu vornehm, zu wenig zupackend, zu melancholisch, um zu wirken. Es ,berührt‘ ein Problem, das ,angefaßt‘ zu werden verdient. Der Autor ist zu tolerant, um dramatisch zu sein.
3. Stücke aus der Gartenlaube: Typisches Beispiel für jene nichtexistente romanhafte Nebenwelt, die vielleicht mit ,Gartenlaube‘ am besten charakterisiert ist. Es wäre eine Doktorarbeit wert, der Genesis dieser Literaturgattung, die an Quantität die gute Literatur weit übertrifft, nachzuspüren. Diese Pseudoliteratur ist offenbar dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen. Einen großen Teil der Nachfrage befriedigt heute der Feld-, Wald- und Wiesen-Film. Die Figuren solcher Stücke entstammen einer (irrigen) Meinung, so müßten sie dem breiten Publikum gefallen. Inzwischen glaubt dieses breite Publikum wirklich, so seien die Menschen, redet ihnen nach – man kann es, wenn man indiskret ist, in seinen Ohren hören! – und lebt filmisch oder romanhaft. Herrn NNs Stücke sind von der Art. Die Personen existieren nicht, sie tun nur so.
14
Ich habe diese Auszüge aus Penzoldts Stückebeurteilungen seinerzeit für die Blätter des Bayerischen Staatsschauspiels 7 (1954/55), Heft 5, S. 59–61, zusammengestellt.
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4. Das Kriegsstück: Krieg ist ein Unglück, aber an sich kein dramatischer oder tragischer Vorgang. Krieg ist Wahnsinn und Verbrechen. Das ist bei allen Kriegsstücken die unbestreitbare Voraussetzung. Durch diese Tatsache, die alles, was geschieht, deckt, das Absurdeste und Zarteste, das Gemeinste und Ritterlichste, ist alles aufgehoben. Krieg ist die leibhaftige contradictio in adjecto. Ein Stück, in dem nur Wahnsinnige spielen, muß nach kurzer Zeit uninteressant sein. Daher auch die Wirkungslosigkeit der Anti-Kriegsstücke. Sie rufen nur den Protest der Kriegsliebhaber heraus, selbst ein (auf dem Hintergrund des Krieges sich abspielendes) Liebesdrama wie ›Kar1 und Anna‹ von Bruno Frank hatte bekanntlich diese Wirkung.
5. Schauerdramen (vornehmlich in der Renaissance spielend): Ha, das ist ja ein verteufeltes Schauerstück, in hochtrabend-geschraubtem Stil geschrieben und, welch ein Kunststück, kein einziger echter Ton darin. Die Eitelkeit des Autors – ,Wie habe ich das gemacht!‘ – ist nicht zu verkennen. Eine Herzogin wird dadurch vergiftet, daß auf die gemalten Lippen des Bildnisses ihres geliebten, aber untreuen Gatten, das sie zu küssen pflegt, Gift aufgetragen wird. So monströs ist das im Renaissance-Gewande einherschreitende Verbrecherdrama durchweg. Es ist mit ,zynischem Humor‘ aufgeputzt. Grausig, grausig fürwahr. Stilprobe: „Unser Zorn spitzt seine Donnerkeile.“ Hauptanrede: Monseigneur.
6. Das Historiendrama: Welch ein Kunstwerk ist Thomas Manns ›Fiorenza‹ verglichen mit den zahlreichen Versuchen anderer, jene Zeit auf das Theater zu bringen! Man weiß nicht recht, woran die untauglichen Verfasser sich mehr berauschen, am Laster oder an der Tugend! Sie merken nicht, daß es eines menschlichen Formates bedarf, um Erscheinungen wie Savonarola oder Michelangelo zu schaffen. Denn sie übernehmen einfach die Figuren und denken, weil diese Menschen historisch sind, müßten sie auch dramatisch sein.
7. Hochstilige Wank- und Taumelstücke (eine besonders beliebte Kategorie – Penzoldt hat oft schon nach der Lektüre nur eines halben Aktes gesagt: „Ich wette, daß da bald jemand wanken und taumeln wird“ – und er hatte so gut wie immer recht): Ich finde keinen hinreichenden Grund, warum der Autor sein Stück in einem so unerträglich geschraubten Deutsch schreibt. Er hält es für gehobene Sprache. Beispiel: „Dieses scheint mir nicht ganz zweifelsfrei der Fall zu sein.“ Oder: „Die Nacht ist schwül. Bewegt am Himmel ein Gewitter sich?“ Oder: Regieanmerkung: „wankend mit wehem Blick“ – „Sie taumelt“ – „während diesem schließt sich langsam der Vorhang“.
Es gibt dazu auch eine mehr melancholische Variante: Probe: „Brav gab er sich zufrieden und lächelte zuletzt mich gnädig an, obwohl er mich verwünscht. Was kümmert es mich. Ich bin die Stimme meines Herrn, und diese Tatsache umschreibt meine Pflicht.“ Es ist zu erwarten, daß in diesem Stück jemand ,taumelt‘. Beinahe habe ich es getroffen. „Alice wankt zerstört ab.“ Ich habe den Eindruck, daß der Verfasser ein Melancholiker ist oder Steuerberater (was das gleiche ist).
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8. Nachklassiker: Bei diesem und anderen Autoren frage ich mich immer, was bewegt sie, den Stücken der klassischen Dichter ähnliche hinzuzufügen. Sie gleichen in etwa denen, die glauben, man könne in unseren Tagen etwa das Demetrius-Fragment von Schiller vollenden. Wie schade, so scheinen sie nur zu denken, daß Shakespeare oder Schiller nicht länger gelebt haben. Bestimmt hätten sie dann noch ein Hohenstaufen-Drama geschrieben. Also will ich’s an ihrer Stelle tun. Seltsam: Jene kann man lesen und immer wieder lesen, ohne sich einen Augenblick zu langweilen. Aber diese sind leider langweilig. Wie, sind diese Dramen nicht in einer schönen Sprache abgefaßt? Gewiß, in einer Sprache, bei der selbst aufregende Szenen alles Erregende verlieren. Ich will ein hartes Wort sagen, um mich verständlich zu machen: Es gibt in Metzgerläden Figuren, die aus Schweinefett gegossen sind. Das edelste Heldenantlitz, in dieser Materie geformt, wird uns nie ergreifen.
9. Das Gesinnungsstück: Eine gute, anständige Gesinnung ist lobenswert, aber anödend. Warum ödet sie in ›Unsere kleine Stadt‹ von Wilder nicht an? Sind es nicht lauter anständige Leute? Aber sie sind nicht gesinnungstüchtig. In der Gefahr würden sie auch geprüft werden, aber sie würden nie zaudern, anständig zu handeln. Woher kommt es, daß bei Frau NN die anständige Gesinnung uns nicht interessiert? Ich glaube, weil sie bewußt anständig ist, weil sie das Thema ist. Gesinnung ist (auf diese Art) alles andere als bühnenwirksam. Möglicherweise mißfällt uns an diesen gutgemeinten Stücken das, was uns an der Gegenwart mißfällt, ja anwidert, nämlich daß der Charakter durch die Gesinnung ,ersetzt‘ wurde. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen Bienenhonig und Kunsthonig. Man kann von einem Charakterdarsteller sprechen. Ein Gesinnungsdarsteller ist nicht gefragt. Gesinnung zu besitzen kann unangenehm werden. Charakter ist heutzutage absolut lebensgefährlich. Denn er beschämt die Gesinnung.
Ernst Penzoldt sagte einmal von Hamlet, daß er, wie andere Leute das absolute Gehör, das absolute Gefühl besitze: Er leide darum bei jedem falschen Ton.15 Das kann auch für ihn selber gelten. Er konnte bei jedem Stück sofort den Finger auf die Wunde, auf den kritischen Punkt legen. So quälend oder ärgerlich dies aber immer wieder sein mochte, er hat es verstanden, auch dies zu verwandeln, und die vielen dramaturgischen Gespräche, die sich dabei ergaben, sind mir stets noch ein hilfreicher Erinnerungsschatz. Eine seiner vornehmsten Aufgaben sah der ,dramaturgische Berater‘ in der „Hauskritik“, wie er das nannte. Sie hatte die Form von Briefen an den Intendanten, geschrieben unter dem Eindruck der Generalprobe oder der Premiere. Das waren genaue Beobachtungen dessen, was auf der Bühne verwirklicht worden war, verbunden mit allgemeineren Überlegungen, die uns für die weitere Arbeit hilfreich sein sollten. Vertraulich für den Führungsstab des Theaters gedacht, konnten und sollten sie ganz unverblümt offen sein. Vieles von dem, was Penzoldt hierbei zu Papier brachte, ist über den Anlaß hinaus von Interesse. Aus dem Abstand von fast vierzig Jahren dürfte es wohl erlaubt sein, drei Beispiele bekannt zu machen (mit ganz wenigen Kürzungen, wo es unumgänglich war), 15
Penzoldt, Causerien [Anm. 3], S. 291.
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als Kostprobe gewissermaßen für eine spätere vollständige Veröffentlichung dieser internen Theaterbriefe. Zunächst die liebenswürdige Abrechnung mit einem jungen Autor, dem Dichter des ›Götz‹, und mit der Art und Weise, wie unser Theater mit dem Anfängerwerk umgegangen ist:16 Sehr verehrter, lieber Herr Horwitz, der große Stil der Klassiker-Aufführungen des Staatsschauspiels findet nun seine Fortsetzung im ›Götz‹. Es glückte der Regie und dem Bühnenbildner, das Rezept gefunden zu haben, wie man den großen Bühnenraum ausspielen kann und zugleich die ,intimeren‘ Szenen ,mitkommen‘ läßt; wenn da und dort die Konzeption des historischen Gemäldes etwas fadenscheinig oder unbefriedigend ausfiel, so liegt es – am Text. (Ich habe, ehe ich diesen Vorwurf machte, insgeheim den Hut abgenommen). Kriminalstücke zu schreiben scheint den Juristen Goethe (vgl. ›Faust‹) im Grunde gereizt zu haben. Die Vergiftungsgeschichte ist gar zu naiv ersonnen. Die Schönheiten des Stückes liegen ganz woanders, und die Regie hat sie sichtbar gemacht. Es ist ein Lob, wenn dadurch die Schwächen der Dichtung auch sichtbar werden. Der Götz, der ja, wenn man ehrlich sein will, ein Raubritter war, wird wirklich zu einer einprägsamen Gestalt, auch in seiner ,Beschränktheit‘. Überraschend war für mich – aber es steht da –, daß die Freundschaft, erst zwischen ihm und Weislingen, dann mit Georg, ein entscheidender Zug seines Wesens ist. Er vergißt Georgs nie, auch nicht im Sterben. (. . . ) In der Erinnerung bleibt ein großer Eindruck, bei dem schwächere Einzelleistungen nicht ins Gewicht fallen. Es ist gut, daß Götz der Mittelpunkt bleibt. Es ist ja seine Autobiographie, die wir wie eine großartige Moritat, bei der Goethe den Zeigestab führt, vorüberziehen sehen. Die Inszenierung ist auch im Detail gut gearbeitet, ohne kleinlich zu wirken oder gar den großen Zug zu verlieren. Sterbeszenen sind meist peinlich, hier nicht. Sie packt. Man denkt an den Satz bei J. P. Jakobsen: „Ich will im Stehen sterben.“ Ich glaube, daß die Technik von diesem ,Schinken‘ hohes Lob verdient, auch die Musik (selbst wenn sie einem manchmal durch Mark und Lothar geht). Die Striche sind von respektvoller Rücksichtslosigkeit. Aber man hat es ja schließlich auch mit einem jungen Autor zu tun. Da darf man es. Der Wechsel von Idylle, Theatralik, Dramatik, ja die Kontraste von Bild zu Bild sind erstaunlich (schon bei Goethe), und wenn der Dichter nicht viel von den Romantikern hält, dann nur darum, weil er diese Zeit schon hinter sich hatte. Man kann nicht sein ganzes Leben romantisch sein. Mit den besten Grüßen und Wünschen 21.9.54 Ihr P.
Dann Penzoldts Hauskritik zum ›Sommernachtstraum‹, wo ihm das Modische einfach zuviel geworden ist:17 Sehr verehrter, lieber Herr Horwitz, nach einer Hauptprobe soll man noch nicht urteilen, dennoch, vom Optischen her wird sich nicht viel ändern. Ich habe schon über die ,Gartenwirtschaft‘ mit den umgestürzten Tischen gewitzelt. Das ganze Bühnenbild ist eine Konzession an die Mode der Zeit, und so empfinde ich es doch im Grunde als ,Krampf‘, der gegenüber Shakespeare nicht besteht. Dagegen fand ich die Pastelltöne der Kostüme, vor allem der Lie16
Regie: Leonard Steckel; Bühnenbild: Teo Otto; Musik: Mark Lothar. Die Titelrolle spielte Walter Richter. 17 Regie: Gustav Rudolf Sellner; Bühnenbild: Franz Mertz; Musik: Carl Orff. Hans Clarin spielte den Puck, Elfriede Kuzmany die Titania.
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benden, sehr geglückt. Ausgezeichnet die Maske Clarins, der überhaupt zu den Vorzügen der Aufführung gehört. (. . . ) Nach meiner Meinung müßte grundsätzlich der Puck (oder Troll) ein Bub sein (schwer zu finden, zugegeben) und auch Oberon (der Tage noch ein Kind) jung und elfenhaft. Hier stört das Nußkipfl auf dem Kopf, wodurch er manchmal wie die Witwe Bolte aussah. Er war zu schwer, zu irdisch für diese Titania. Was ich befürchtete, das waren die Rüpelszenen. Gewiß: Es saßen einmal Kelten in Bayern wie in England. Orff ist musikalisch ein bayerischer Separatist. Aber Valentinsche Raubritter von München sollten dennoch nicht als Vorbild dienen. (. . . ) Im Ernste: man sollte die Rüpelszenen getrost etwas feiner nehmen. Es dürfte und müßte unfreiwillige Komik sein, denn die Handwerker nehmen es ernst. S i e parodieren nicht. Es war mir zu aufdringlich. – Wenn Theseus am Schluß sagt: „Zu Bett!“ – so möchte ich nicht tauschen mit ihm wegen der XANTIPPOLITA, mit der er schlafen muß. Nun, geschieht ihm recht, dem Schürzenjäger!! Die liebenden athenischen Jungfrauen waren besser als ihre Jünglinge, die in der Hilflosigkeit ihrer Gestik Zwillingsbrüder sein könnten. Lysander hat hoffentlich Unterricht in der Sprechtechnik? Aber: Beide wirkten sympathisch. Reizend wieder Hübner. Über die Musik kann ich nicht urteilen, da sie durch das Klavier ersetzt war. Aber das, was ich daraus konstruierte, überzeugte mich nicht vom ,MUSS‘ her. (. . . ) Sollte die Orffsche Musik wesentlich zur Qualifizierung der Inszenierung beitragen, dann war es vom Stück her, das spürbar ,Geheimnisse‘ in sich verbirgt, nicht geglückt. Nichts gegen Musik, nichts gegen Orff, dessen Arbeiten mir sehr liegen, aber alles für Shakespeare. Bedarf es der Noten-Krücken? Vielleicht. Bankrott der Dichtung und Sprache? Wir wollen es nicht hoffen! [17.8.1954] Ihr P. Sehr verehrter, lieber Herr Horwitz, die Gerechtigkeit gebietet, daß ich nach der gestrigen Aufführung – das ,gestrig‘ soll keine Kritik sein, oder doch im Unterbewußtsein? – mein Urteil revidiere. Ich habe das Stück nun mit der ganzen Musik aus den Höhen des Schwalbennetzes, aus den Tiefen der Unterbühne und von der Bühne selbst gehört. Verglichen mit den anderen Orffschen Kompositionen, die ich seit dem ›Mond‹ kenne und schätze, ist dies das am wenigsten ,orphische‘ Werk von ihm, ein wenig billig, bis zur Operetten-Süße, stilistisch schwankend und nicht entfernt (objektiv gesehen) an die für seine Zeit vielleicht noch gewagtere Musik Mendelssohns heranreichend. Doch ist von den nur zum Teil einen zusätzlichen und steigernden Beitrag zur Dichtung gebenden ,musikalischen Einlagen‘, die an alte Theaterzettel erinnern, Lobendes zu sagen: am bezauberndsten die Singelfen auf der Treppe. Von daher hätte die Feerie inszeniert werden sollen. Auch gestern empfand ich den Krampf mit den nierenförmigen Gartentischen als störend. Großartig das Trompeten-Duo. Aber ein bißchen an den Haaren herbeigezogen. Der Trompeter könnte als Gockelhahn, ,der als Trompete dient am Morgen‘, verkleidet sein. Es ist ein Zeichen der Zeit, daß man, auch hier, viel zu laut ist. Die zu große Lautstärke müßte die Waldgeister zu Tode erschrecken. Wieder hatte ich Angst, der faunische Puck könnte von dem Bahngleis links oben abstürzen (ohne Netz). Bühnenpolizeilich sind zweifellos starke Verstöße passiert. Der Einbruch des Cirkus, des Artistischen ist nicht nur hier offenbar. Kletterstange! Der Erfolg ist unleugbar, besonders ,auf der Galerie‘, und umso stärker je mehr aggraviert wird, besonders bei den Rüpeln. Gewiß, es war auch damals zu des über die Maßen herrlichen Autors Zeiten eine Clownerie vermutlich. Aber auch in diesem Bezirk gibt es einen Grock und andere. (. . . ) Leider kam Shakespeare oft nicht recht durch, am reinsten bei der Partie der Titania. Aber es sollte uns Zwergen um Shakespeare gehen, dessen größter Fehler (oder Vorzug) sein ans Wunderbare grenzender poetischer, textlicher Reichtum ist, der zum großen Teil unter den (nierenförmigen) Tisch fällt. Die Helena fand ich überzeugender als Hermia. Beide tragen die Szenen der Liebespaare fast allein. Sehr hübsch die Stelle: „Liegt nicht so nah! Liegt weiter dort hinüber!“ Sehr reizend kam die ,Schulfreundschaft‘ der beiden heraus, die vom
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Dichter so gut gesehene. Wie ja überhaupt das private Geheimnis des Dichters, auch da wo der Schlüssel fehlt, unendlich wichtig für das Geschehen ist, denn man spürt, man wittert es. Eine ,reine Freude‘ wird wohl in unseren verdorbenen Zeiten mit diesem Stück kaum zu erreichen sein. Der Mätzchen (und Matze) sind mir zu viele, ich meine die Regieeinfälle, über die man stolpert. (. . . ) Das klingt nun nach dem ,Verein für werkgetreue Wiedergabe der Opern Richard Wagners‘ bzw. Shakespeares. Ich bin kein Freund des Neuen und Interessanten (oder sich interessant Machens?). Aber ist nicht alles ein wenig mit dem Holzhammer (einschließlich der lustigen Holzhackersbuam) gemacht? Zuviel Kunstgewerbe. Ihr P.
Und schließlich der Glückwunschbrief zum ›Konfusen Zauberer‹.18 Er trägt das Motto: O selig, o selig ein Kindskopf zu sein! Lieber Herr Horwitz, wenn einem für Freuden die Augen feucht werden, so muß das was bedeuten. Mir ging es mehrmals so im ›Konfusen Zauberer‹, und wenn ich sonst nicht mehr mich nach meiner kurzen Kritiker-Periode zurücksehne, diesmal tat es mir herzlich leid, nicht über Hübners (und des ganzen Theaters) vortreffliche Inszenierung in der Presse berichten zu dürfen. Mir würde es nicht passieren, unübersehbare Einzelleistungen zu vergessen. Aber das kommt wohl von dem kritischen Zustand der gegenwärtigen Kritik. So viele ,Befugte‘ gibt es weiß Gott nicht, und ich denke altmodisch genug: Kritiker zu sein ist kein Nebenamt, das heute der, morgen jener übernimmt. Aber da kann man nix machen. Oder vielleicht doch? Darüber wäre zu beratschlagen. Wie auch immer, die Aufführung schien mir noch besser als die unvergeßliche von ›Alpenkönig und Menschenfeind‹ seiner Zeit in den Kammerspielen, wo einem auch schon das Herz aufging. Es ist so herrlich, naiv sein zu dürfen, und da ich immer der Meinung war, Naivität sei eine wesentliche Eigenschaft des Genies, bestehe ich auch jetzt auf dieser Maxime. Ach, es war alles da, sogar das bengalische Licht, das wie eine Entsprechung der Beleuchtung in uns wirkte, dazu die hellblauen Genien, das ,Luftschloß‘, das emporschwebt, die ,Weißwurst‘-Grotte etc., und alles nicht mit der überkomplizierten Bühnentechnik (wie vielleicht Unkundige und Theaterfremde denken), sondern mit den primitiven Mitteln von einst. ,Seht Euch das an‘, möchte man einen Ausrufer sagen lassen, ,solange es das noch gibt, denn es hängt an Hübner und denen, die es noch haben!!‘ Natürlich schlägt das Stück den Gesetzen der Dramaturgie ins Gesicht, und der Junge hinter mir bedauerte es mit vollem Recht, „daß die Seeräuber nicht mehr kämen.“ Der Verfasser läßt sie (und anderes) am Wege liegen, wenn er ihrer nicht mehr bedarf. (. . . ) Wie sympathisch und mit Fug kasperl-larifarihaft war der konfuse ,Bezauberer‘, wie verliebenswürdig Frau Kuzmany, daß man – au! ,kuzmanisch‘ werden könnte. Wie sie die Mundstellungen beherrscht bei den Coloraturen, kurz wie sie durch ihre Kunst dieses Nichts von Flatterhaftigkeit zu einem Erlebnis macht. Den Grund nicht zu vergessen! Dies und alles Übrige kommt aus einem tiefen Respekt vor dem Theater, das keine Schlamperei duldet, sondern minutiöse Arbeit verlangt von allen Beteiligten, wie es hier glückte. Herzlichen Glückwunsch P.
Mir will scheinen, daß man sich kaum etwas denken könnte, was Penzoldts Verhältnis zur Bühne als Welt und zur Welt als Bühne so unmittelbar spiegelt wie dieser ›Zaube18
Regie: Bruno Hübner; Bühnenbild: Kurt Hallegger; Musik: Mark Lothar. Die Titelrolle spielte Bruno Hübner, Elfriede Kuzmany war die Flatterhaftigkeit.
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rer‹-Brief. Die geniale Naivität, die spielerische Heiterkeit und heitere Verspieltheit dieses Stücks und der Hübnerschen Aufführung kann nur jemand so genießen, der von allem dem auch selbst etwas in sich trägt. Es bedarf der gleichen ursprünglichen Fähigkeit, das Herz aufgehen zu lassen, um so zu schreiben, so zu spielen und so zu erleben. Ernst Penzoldt hatte sich diese ursprüngliche Sensibilität des poetischen Sehens und Hörens bewahrt, welche die Voraussetzung ist für alles künstlerische Tun. Ich sagte schon, daß das, was er bei Hamlet das „absolute Gefühl“ nannte, auch für ihn selber Geltung hatte. Und auf ›Hamlet‹ möchte ich am Schluß noch einmal zurückkommen – er ist auch hier wieder einmal so etwas wie ein Verständnisschlüssel. Denn es gibt wohl kaum ein Werk der Weltliteratur, das die Interpreten aller Zeiten so sehr genarrt hat wie gerade dieses Stück, und wer immer seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen meinte, dem hielt es am Ende immer nur das eigene Spiegelbild entgegen. So wird jede HamletDeutung zu einer Interpretation des Interpreten. Penzoldt hat in Hamlet den Menschen im Zustand seiner höchsten Verletzlichkeit gesehen,19 den Menschen, der mit seinem absoluten Gefühl die kleinste Dissonanz registriert und darunter leidet. Man wird dies an Shakespeares Figur sozusagen Schritt für Schritt belegen können, aber Penzoldt hat sie nur deshalb so zu sehen vermocht, weil sie ihm als der Spiegel der tiefen Verwundbarkeit der eigenen Seele erschien, die er meist sorgsam unter seiner liebenswürdigen Heiterkeit verborgen zu halten suchte. Er war deshalb so verwundbar, weil er zum Schutz seiner Seele nichts Negatives in sie aufnehmen konnte – sie hätte sich damit selbst verraten. Haß hatte in ihr keinen Platz. So konnte man ihn sehr leicht aufstören, ein wenig mit Dummheit, aber meist legte er das bald mit einem mitleidig melancholischen „Ach“ beiseite. Über alles hingegen, was böser Wille, was Gemeinheit und Niedrigkeit war, darüber kam er nicht hinweg, das waren nicht einfach fremde Elemente, sondern das war eine Gegenwelt, die die seine in ihrem Fundament in Frage stellte. Da bäumte er sich dagegen auf, und er konnte dabei in einen verzweifelten Zorn geraten. Zum absoluten Gefühl gehört das absolute Gewissen. Neben Hamlet steht Ophelia. Was hat ihm die Reizende bedeutet? Ophelia erscheint ihm gleichsam als die Materialisation und Inkarnation von Hamlets Psyche, als erschüfe seine Sehnsucht durch Imagination die leibhaftige Gestalt des ihn ergänzenden Bildes, das er in der Seele trägt. Hamlet spielt den Wahnsinn, Hamlet spielt mit dem Selbstmord, Ophelia tut wirklich, womit er nur spielt, sie gibt sich dem holden Wahnsinn hin und dem süßen Tod.20
Und wenn er meint, daß man in Hamlets Sprache am ehesten Shakespeares eigene Sprache, ja seine „Umgangssprache“ durchhören könne,21 so daß der Dichter sich in der Figur des Helden auf sich selbst zurückspiegele, dann müßte in Ophelia des Dichters leidender Genius erscheinen: Sie wäre dann diejenige Gestalt, die vorführt, was der Dichter wirklich durchlebt und durchleidet, wenn er dichtend spielt.
19
Penzoldt, Causerien [Anm. 3], S. 298. Ebd., S. 294. 21 Ebd., S. 288. 20
1. Ernst Penzoldt – der Freund des Theaters
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Es mag wenig Bühnengestalten geben, von deren Erscheinung mit so viel Liebe und in so zarten Worten die Rede ist. Demnach muß etwas Überirdisches an ihr gewesen sein, etwas von einem Engel oder einer Elfin, einer Nymphe. „Nymphe“, so redet Hamlet sie an, „schließ in Dein Gebet all meine Sünden ein!“22
In der Nymphe, im Engel Ophelia den Genius des Dichters Hamlet-Shakespeare zu sehen, ist ein bestrickend hübscher Gedanke. Aber kann man sich wundern? Auch hier liegt es am Spiegel, denn diese Wesen: die Engel, Elfen und Geister, dem luftigen Zwischenreich zugehörig, ziehen mit ihrem Zauber durch Ernst Penzoldts ganzes Werk. Seine Federnsammlung und der Engelsflügel, der über der Tür seines Zimmers hing, zeugen zudem für diese Sympathie. Und dazu noch eine kleine, vielleicht allzu persönliche Randbemerkung: „Wissen Sie“, sagte er einmal im Ton, in dem man ein Geheimnis anvertraut, zu mir, „es gibt Menschen, die Flügel haben, und Menschen, die keine haben“, und dann fügte er ganz schlicht hinzu: „Sie gehören auch zu denen mit Flügeln.“ Es gibt Worte, die einen ein Leben lang begleiten und eine nicht ermeßbare Wirkung tun: Für mich war es dieses Wort. So wie Ernst Penzoldt den Dichter in Hamlets absolutem Gefühl leiden sieht, so sieht er, wie er sich in der Gestalt Ophelias durch seinen eigenen poetischen Genius erlöst, indem er sich ins Überirdische emporschwingt. Und was ist auch Penzoldts Werk anderes als eine immer neue Begegnung mit dem Engel? Man darf das freilich nicht mißverstehen: Die Genien Penzoldts sind keine Ophelien; die überirdischen Wesen, die in seinem Werk leibhaftig im Diesseits erscheinen, sind nicht rein himmlischer Natur, es ist vielmehr so, als ob sie einer Nebenlinie angehörten, die irgendeinem frühen Fehltritt mit einem von der Powenzbande ihren Ursprung verdankte. Ja, es scheint sich da überhaupt einiges vermischt zu haben. Die Powenze bekamen dabei offenbar etwas von der Unschuld der Engel mit, die Engel etwas von der Schamlosigkeit der Powenze, so als ob die spezifisch untere Naivität und die spezifisch obere gegeneinander ausgetauscht worden und dadurch beide Bereiche menschlich und nahbar geworden wären. Es gibt die verschiedenartigsten Mischungsverhältnisse, aber schließlich sollten die Bereiche völlig miteinander verschmelzen: Squirrel ist die vollendete Harmonie der beiden Sphären. Der Penzoldtsche Genius hat sich in dieser seiner letzten und vielleicht schönsten Gestalt eigenhändig auf die Bühne begeben, sehr undramatisch selbstverständlich, nur mit Hilfe einer kleinen Ohnmacht, aber dafür um so liebenswürdiger – wer hätte es anders erwartet?
22
Ebd., S. 295. [Die Publikationsrechte für das Œuvre Ernst Penzoldts liegen beim Suhrkamp Verlag. Ich danke für die Erlaubnis, in diesem Aufsatz einiges Unveröffentlichte zu zitieren.]
2. Nachruf auf Wolfgang Mohr (1907–1991)
Wolfgang Mohr, Emeritus im Fach Deutsche Philologie an der Universität Tübingen, ist am 8. November im Alter von 84 Jahren gestorben. Er war 1957 aus Kiel hierher auf den mediävistischen Lehrstuhl berufen worden. Im Amtsjahr 1961/62 war er Dekan der Philosophischen Fakultät. Einen Ruf nach Münster und mehrere amerikanische Gastprofessuren hat er abgelehnt. Nach intensiven und fruchtbaren Jahren als Forscher und Lehrer hat er sich 1972 entpflichten lassen. Seitdem hielt er sich dem Universitätsbetrieb fern. Er wollte die Kraft und die Zeit, die ihm blieben, ganz seinen Übersetzungen der großen Literatur des deutschen Mittelalters widmen: Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Es hatte ihm immer schon alles an dieser Vermittlung gelegen, ja, er verstand sein wissenschaftliches Tun als Brückenschlag zwischen den großen Gipfeln der deutschen Dichtung und der Gegenwart; wenn er mittelhochdeutsche Texte interpretierte, hatte er Goethe und seine Zeit mit im Blick. Es ging ihm weniger um die Andersartigkeit des Mittelalters als um das, was es über die Jahrhunderte hinweg an Verbindendem gab und was eine Beschäftigung gerade mit der mittelalterlichen Vergangenheit lohnte, ja verlangte. Dabei aber drängte er immer darauf, genau zu lesen, jeweils das treffende neuhochdeutsche Wort zu finden, die Figuren in ihren menschlichen Bezügen präzis zu fassen; und so hat er denn auch immer wieder an seinen Übersetzungen herumgefeilt, um das Original möglichst bis in den Tonfall hinein exakt zu transponieren. Dieses Betroffensein vom existentiellen Wert der großen Literatur schloß ein wissenschaftliches Engagement in sich, das es ihm als akademischem Lehrer nicht eben leicht machte. In dem Maße, in dem er zu begeistern vermochte – er konnte mit seinen Vorlesungen das Auditorium maximum füllen! –, in dem Maße verlangte er den Studierenden eben diesen Ernst und Einsatz ab. Und als man es 1968 wagte, seine Maßstäbe und seine Art des Zugangs in Frage zu stellen, reagierte er kompromißlos. Für die eher flexible Haltung der Kollegen zeigte er kein Verständnis, und er war von da an nur noch für wenige Freunde zugänglich. Diese Freunde jedoch, Hörer von einst und Leser von heute, wissen, wieviel ihm die deutsche Mediävistik verdankt. Viele seiner Interpretationen gehören zu den klassischen Stücken der Mittelalterforschung. Man wird immer wieder zu ihnen greifen, zu den Aufsätzen über Iweins Wahnsinn,1 über Parzivals Schuld,2 über die Gawanbücher Wolframs,3 über den ›Tristan‹ als Künstlerroman,4 zu 1
„Iweins Wahnsinn: Die Aventüre und ihr ,Sinn‘“, ZfdA 100 (1971), S. 73–94. „Parzivals ritterliche Schuld“, in: W. Mohr, Wolfram von Eschenbach. Aufsätze, Göppingen 1979, S. 14–36. 3 „Parzival und Gawan“, ebd., S. 62–93; „Obie und Meljanz. Zum siebten Buch von Wolframs ,Parzival‘“, ebd., S. 94–119; „Landgraf Kingrimursel. Zum achten Buch von Wolframs ,Parzival‘“, ebd., S. 120–137. 4 „Tristan und Isold als Künstlerroman“, Euphorion 53 (1959), S. 153–174. 2
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den Studien über Walther von der Vogelweide5 oder über die späte Lyrik eines Burkhart von Hohenfels6 oder eines Tanhuser7. Grundlegend bleiben auch seine Interpretationen des ›Grafen Rudolf‹8 und des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ von Mechthild von Magdeburg9, die auch deshalb herauszuheben sind, weil sie besonders schön die große Spanne seines Interesses markieren. Viel Energie hat Mohr schließlich auf die Neubearbeitung des ›Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte‹10 verwandt, nicht nur als Redaktor, sondern ebensosehr als Verfasser einer großen Zahl zentraler Artikel, insbesondere im Bereich der Metrik – übrigens auch eines seiner Lieblingsgebiete, über das er, aller Trockenheit spottend, packend zu lesen wußte. Wolfgang Mohr gehörte noch zu jener großen Generation von Literaturwissenschaftlern, die, universal gebildet, in weiten Perspektiven dachten und doch genau waren, die einen harten kritischen Geist besaßen und doch mit dem Herzen interpretierten, die heftig sein konnten und doch Bonhomie ausstrahlten. Mit ihm geht einer der letzten dieser Generation – ein Herr in seinem Fach, ein nobler Gelehrter.
5
„Der ,Reichston‘ Walthers von der Vogelweide“, in: W. Mohr, Gesammelte Aufsätze, Bd. II: Lyrik, Göppingen 1983, S. 151–164; „Zu Walthers ,Hofweise‘ und ,Feinem Ton‘“, ebd., S. 165– 171; „Die ,vrouwe‘ Walthers von der Vogelweide“, ebd., S. 173–184; „Zu den Atze-Sprüchen Walthers von der Vogelweide und zu den persönlichen, politischen und anekdotischen Hintergründen mittelalterlicher Zeitdichtung“, ebd., S. 185–208; „Altersdichtung Walthers von der Vogelweide“, ebd., S. 209–242. 6 „Goethes Gedicht ,Wiederfinden‘ und der Frühlingsreien Burkarts von Hohenvels“, ebd., S. 91– 111. 7 „Tanhusers Kreuzlied“, ebd., S. 335–356. 8 „Zum frühhöfischen Menschenbild in ,Graf Rudolf‘“, ZfdA 96 (1967), S. 97–109. 9 „Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg“, in: Märchen, Mythos, Dichtung. FS Friedrich von der Leyen, hg. v. Hugo Kuhn u. Kurt Schier, München 1963, S. 375– 399. 10 begr. v. Paul Merker u. Wolfgang Stammler, 2. Aufl., 5 Bde., Bde. 1–3 hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr, Bde. 4 u. 5 hg. v. Klaus Kanzog u. Achim Masser, Bd. 5 bearb. v. Klaus Kanzog u. Johann S. Koch, Berlin, New York 1958–1988.
3. Nachruf auf Kurt Ruh (1914–2002)
Am 8. Dezember ist Kurt Ruh gestorben. Es ist seiner hier [in der ›Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur‹] dankbar zu gedenken: Er hat die Herausgeberschaft der ZfdA 1969 von Friedrich Ohly übernommen und sie bis 1985 betreut. Er hat dabei nicht nur ihr traditionell hohes wissenschaftliches Niveau bewahrt, sondern zudem Akzente gesetzt, durch die er ihr sein Verständnis von mediävistischer Literaturwissenschaft aufprägte. Schon die Rubrik ,Handschriftenfunde zur deutschen Literatur des Mittelalters‘, die er gleich 1969 einführte, konnte als Signal gelten. ,Die Handschrift‘ im Blickpunkt: Das bedeutete für Ruh nicht nur Verpflichtung zu strenger textkritischer Arbeit – das war für ihn als Philologen alter Schule eine Selbstverständlichkeit –, sondern dies schloß auch die Forderung in sich, der Geschichte der Überlieferung ein eigenes Interesse entgegenzubringen. Das sollte insbesondere für jene Texte Geltung haben, die unter wechselnden Bedürfnissen immer wieder abgewandelt worden sind, also für mittelalterliche Gebrauchsliteratur jeglicher Art. Und dies ist denn auch der Bereich, in dem Ruh bahnbrechende Erschließungsarbeit geleistet hat. Es sei an seine Habilitationsschrift erinnert: ›Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskaner-Mystik und -Scholastik‹,1 oder an die beiden Bände ›Franziskanisches Schrifttum im deutschen Mittelalter‹,2 in den ›Münchener Texten und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters‹ – einer Reihe, die ihm als Mitglied der Herausgeberkommission insgesamt viel verdankt. Nach seiner Berufung auf den mediävistischen Lehrstuhl an der Universität Würzburg, 1960, unterstützte ihn dabei die von ihm gegründete und geleitete Würzburger Forschergruppe ,Prosa des deutschen Mittelalters‘. Beispielhaft für eine solche Dokumentation lebendiger Überlieferungsvielfalt ist die von Georg Steer herausgegebene ›Rechtssumme‹ des Bruder Berthold.3 Diese dezidierte Erweiterung des wissenschaftlichen Interesses einerseits auf die Gebrauchsliteratur und anderseits auf die Geschichte ihres Gebrauchs kam auch dem von Ruh initiierten und von ihm bis 1985 als Hauptherausgeber betreuten neuen ›Verfasserlexikon‹4 der deutschen Literatur des Mittelalters zugute. In diesem epochalen Werk, für das Ruh die gesamte mediävistische Kompetenz heranzuziehen wußte, hat der in der beschriebenen Weise erweiterte Literaturbegriff zu einer Darstellung des mittelalterlichen deutschen Schrifttums geführt, die unser Bild vom literarischen Leben insbesondere des Spätmittelalters grundlegend verändert hat. 1
Bern 1956. Bd. 1, München 1965; Bd. 2, München, Zürich 1985. 3 Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds: Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der ›Summa confessorum‹ des Johannes von Freiburg, hg. v. Georg Steer, 8 Bde., Tübingen 1987–1991. 4 Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begr. v. Wolfgang Stammler, fortgef. v. Karl Langosch, 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Burghart Wachinger zusammen mit Gundolf Keil, Kurt Ruh, Werner Schröder, Franz Josef Worstbrock, Berlin, New York 1978ff. 2
3. Nachruf auf Kurt Ruh (1914–2002)
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Diese programmatische Neuorientierung ist jedoch nicht so zu verstehen, daß Ruh sich jenem literarischen Bereich versagt hätte, dem traditionell das Hauptinteresse der Mediävisten zu gelten pflegte, den großen dichterischen Leistungen der mittelhochdeutschen Lyriker und Epiker. Mit der Neugründung der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft, die er von 1968 bis 1974 als erster Vorsitzender leitete, wußte er gerade dafür ein besonderes Gesprächsforum zu schaffen. An eigenen Beiträgen sind, abgesehen von vielen Einzelinterpretationen – sie finden sich in seinen ›Kleinen Schriften‹5 –, die beiden erfolgreichen Studienbücher ›Epik des Mittelalters‹ I und II6 zu nennen, die für die großen Erzählwerke des deutschen Hochmittelalters musterhafte Interpretationen bereitstellten. Methodisch hat Ruh strukturalistische Ansätze, wie sie insbesondere von Hugo Kuhn in die Diskussion gebracht worden sind, aufgegriffen, um sie prägnant in Handbuchwissen umzusetzen. Dabei kam ihm seine pädagogische Erfahrung, die er sich als Gymnasiallehrer an der Evangelischen Mittelschule in Schiers (Graubünden) erworben hatte, zustatten. Klare interpretatorische Konzeptionen, ebenso einsichtig wie entschieden vorgetragen – darin besteht die Überzeugungskraft seines wissenschaftlichen Stils. Man vermag also der Bedeutung von Kurt Ruhs Lebenswerk nur gerecht zu werden, wenn man beides zusammensieht: auf der einen Seite seine Empfänglichkeit für das Faszinosum der großen poetischen Leistung und die Bemühung, sie unserem Verständnis zugänglich zu machen, und auf der andern seine Offenheit gegenüber dem gesamten Horizont des deutschsprachigen Schrifttums und die unermüdliche Aufarbeitung seiner Überlieferung. Das erste machte ihn resistent gegenüber den Tendenzen zur globalen sozialgeschichtlichen Vereinnahmung der Literatur in den sechziger/siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, während das zweite ihn veranlaßte, gerade vordringlich nach dem pragmatischen Aspekt der literarischen Produktion und ihrer Wandlungen zu fragen. Diese Doppelperspektive prägte dann auch in besonderer Weise Ruhs grandioses Spätwerk, seine ›Geschichte der abendländischen Mystik‹,7 dem er die ganze Kraft der letzten Jahre widmete. Mystische Erfahrung im Sinne einer einigenden Begegnung mit dem Göttlichen steht bekanntlich je und je quer zur Geschichtlichkeit und damit zum Vermittelbaren. Die Darstellung hat es deshalb immer wieder mit der Einmaligkeit der Einzelerfahrungen in ihrem Niederschlag in den Texten zu tun. Und dennoch sind sie eingebettet in Traditionszusammenhänge, die gewissermaßen ihren Nährboden bilden. Ruh hat deshalb in großer Breite jenes Frömmigkeitsschrifttum in seine Mystikgeschichte einbezogen, das, auch wenn ihm selbst der mystische Charakter abzusprechen ist, doch die mystischen Einzelerfahrungen vorbereitet oder in der Nachwirkung von ihnen gezehrt hat. Gerade hier wird also der für Ruh kennzeichnende doppelte Blick, der Blick auf das Unvergleichliche der hohen Leistung und der Blick auf die weite Überlieferungslandschaft mit ihrer Fülle funktional-pragmatischer Textsorten, besonders fruchtbar, ja, dies allein hat es ihm ermöglicht, Mystik als Geschichte darzustellen. Und schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß Ruh sich mit besonderer Eindringlichkeit um jenen mystischen Denker bemüht hat, dessen Werk den zweifellos bedeu5
Berlin, New York 1984, Bd. 1: Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters; Bd. 2: Scholastik und Mystik im Spätmittelalter. 6 Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1967, 21977; Bd. 2: ,Reinhart Fuchs‘, ,Lanzelet‘, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980. 7 4 Bde., München 1990–1999.
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tendsten Beitrag des deutschen Mittelalters zur abendländischen Geistesgeschichte darstellt: Meister Eckhart. Ihm hat er 1985 eine Monographie gewidmet (überarbeitet 1989),8 die in der für ihn charakteristischen luziden Weise die komplexe Problematik von Biographie und Œuvre klärend auszufalten und in ein überzeugendes Entwicklungsbild zu bringen wußte. Theoretisch eher zurückhaltend, vielmehr konsequent an den Gegenständen ausgerichtet und immer verantwortungsbewußt gegenüber dem, was wir tatsächlich wissen können oder was sich durch Plausibilität nahelegt: Unter diesen Prämissen hat Ruh ein literatur- und frömmigkeitsgeschichtliches Lebenswerk geschaffen, das Grundlagencharakter besitzt. Im Wechselspiel der Aspekte wie im Bewußtsein der ungelöst bleibenden Fragen erscheint es dennoch undogmatisch. Der stupende Reichtum, den dieses Werk bietet, ist übrigens um so bewunderungswürdiger, als Kurt Ruh keinen leichten Weg gegangen ist. Er hat sich, neben einem vollen gymnasialen Lehrprogramm, 1954 an der Universität Basel habilitiert und dann auch dort gelesen. Und dies keineswegs zu Lasten des Unterrichts, für den er sich vielmehr engagiert einsetzte und in dem er zu begeistern wußte – ich kann dies als ehemaliger Schierser Schüler aus persönlicher Erfahrung bezeugen: Er hat uns nicht nur den ganzen Horizont deutschsprachiger Literatur vom ›Hildebrandslied‹ bis zu zeitgenössischen Autoren eröffnet, sondern auch weltliterarische Ausblicke geboten; ich erinnere mich an eine faszinierende ,Deutschstunde‘, in der er uns als kompetenter Italianist in die ›Göttliche Komödie‹ einführte. Und er hat sich diesen pädagogischen Habitus auch nach seiner Berufung auf den Würzburger Lehrstuhl bewahrt, und ,pädagogisch‘ sollte man dabei nicht etwa als Einschränkung mißverstehen, sondern mit ,protreptisch‘ gleichsetzen. Der große Kreis von Schülern und Schülerinnen, die seine methodischen Ansätze aufgenommen und unterschiedlich genützt und weiterentwickelt haben, bestätigt dies. Man mag wohl ermessen, wieviel eisernen Willen es erforderte, aus achtzehn Jahren Schuldienst heraus eine derart erfolgreiche wissenschaftliche Laufbahn zu begründen. Ruhs Härte gegen sich selbst rechtfertigte aber auch einen hohen Anspruch an das Arbeitsethos seiner Kollegen, Mitarbeiter und Schüler. Er konnte sehr unduldsam sein, wenn er den Eindruck gewann, daß man nicht mit letztem Ernst und ganzer Sorgfalt bei der Sache war. Doch wer ihn durch begabtes Bemühen einmal überzeugt hatte, dem bewahrte er unverbrüchlich seine Freundschaft. Das persönlich Erstaunliche an ihm war, daß er zugleich kantig und überaus sensibel sein konnte. Würdigungen für Kurt Ruhs Verdienste um die mediävistische Forschung und Lehre sind nicht ausgeblieben. 1979 wurde er zum Ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt; 1984 wurde er Ehrenmitglied der Koninkl. Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde. Die Universität Uppsala und die katholische Fakultät der Universität Tübingen verliehen ihm den Ehrendoktortitel. 1981 erhielt er den Brüder-Grimm-Preis der Universität Marburg. 1986 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Wir trauern um einen großen Gelehrten und einen aufrechten Menschen.
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Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 21989.
4. Rede bei der Gedenkfeier für Richard Brinkmann (1921–2002) am 16. Juni 2003
Liebe Familie Brinkmann, sehr verehrte, liebe Freunde Richard Brinkmanns, Maria Mancini! – Maria Mancini, das war nicht nur die Jugendliebe Ludwigs XIV., sondern auch der Name einer Zigarre, der wohl berühmtesten in der deutschen Literatur. Zweihundert Stück davon hat Hans Castorp auf den Zauberberg mitgenommen und sich dann nochmals fünfhundert nachkommen lassen. Werner Fritzen hat Nachforschungen zu dieser „bräunlichen Schönen“ angestellt, und er hat sie auf der Cigarren-Preisliste No. 80 vom 1. Dezember 1913 des Jos. Feinhals, königlich bayrischen Hoflieferanten und Hoflieferanten Sr. H. des Herzogs von Anhalt, entdeckt und auch eine Abbildung mit Legende dazu gefunden: „Maria Mancini. Beste Zusammenstellung feinster Sumatra-Havana-Gewächse, als Nachtisch-Cigarre hervorragend geeignet; große elegante Form. 13 3/4 cm lang, in Kisten von 50 Stück.“ Werner Fritzen hat das Ergebnis seiner Recherchen mit Bemerkungen zu den erotisierenden Allusionen der „bräunlichen Schönen“ an Richard Brinkmann geschickt. Richard sagte zu mir: „Das nehmen wir in unser Blättle, mit Abbildung.“1 Ich war – er hatte mich erst kurz davor als Nachfolger von Hugo Kuhn zur ›Deutschen Vierteljahrsschrift‹ geholt –, ich war doch etwas irritiert: ein Artikel über eine Zigarre, und mag sie auch noch so literarisch sein, dazu leicht lasziv, in einer der renommiertesten geisteswissenschaftlichen Zeitschriften? Würde ich wohl mit einem solchen Herausgeber zurechtkommen? Ich kam zurecht, indem ich ihn und die Weise, wie er mit seiner Wissenschaft und Herausgeberschaft umging, allmählich verstehen lernte. Und zunächst war ja ein gewisses Vorvertrauen nicht unangebracht. Immerhin hatte er, als ich dazustieß, das Geschäft schon 20 Jahre lang besorgt und dabei der Zeitschrift zusammen mit Hugo Kuhn zu international größtem Ansehen verholfen. Das konnte doch alles nicht nur Rauch sein? Oder wenn Rauch, dann jedenfalls mit feinem Gespür für Qualität. Qualität: Elberfeld so um 1930, schätze ich, Samstag Nachmittag. Der erste Zigarrenhändler der Stadt eilt mit einem Stapel Kisten in den Armen zum Hause Brinkmann. Während Vater Brinkmann sich ins oberste Stockwerk begab, mußte der Händler unten im Parterre eine Zigarre nach der andern anbrennen. Der Duft sollte im Treppenhaus aufsteigend sein volles Bouquet entfalten. Und das ging so lange, bis von oben der Ruf ertönte: „Das ist die richtige!“ Feinsinnig und feinsinnlich, das gehörte für Richard Brinkmann schon von seinem kaufmännisch-großbürgerlichen Elternhaus her zusammen. 1
DVjs 55 (1981), S. 107–118; Abb.: S. 111.
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Und so hat er denn auch die väterliche Zigarrenkultur weitergepflegt, mit ausgesuchten Händlern in der Schweiz, Davidoff in Genf, oder einem speziellen Geschäft in St. Gallen, bei dem ich vorbeifahren mußte, wenn ich in die Gegend kam, um ihm ein Kistchen – bangend – über die Grenze zu schmuggeln. Und auch die andern Sinne wurden in ihrer edelsten Form bejaht. Neben der feinen Nase der feine Gaumen, neben der Zigarre der Wein. Richard Brinkmann hatte einen so erlesenen Keller, daß er das, was so gemeinhin angeboten wurde, unmöglich trinken konnte. Bei den Sitzungen der Germanistischen Kommission auf der Reisensburg pflegte man abends in einem der Erkerzimmer die Arbeit des Tages heiter zu beenden. Da hat er immer ein Fläschchen aus dem eigenen Keller mitgebracht, und es versteht sich, daß ich mich nach Möglichkeit freundschaftlich in seine Nähe gesetzt habe. Natürlich hat er mit dieser hochstilisierten Kultiviertheit bewußt kokettiert, aber die Gegenwelt war ihm wirklich ein Greuel. Er hat sich einmal auf sie in ihrer ganzen Schrecklichkeit eingelassen, in seiner Studie über die Berichte von Wienreisenden im 18. Jahrhundert.2 Was er hier zusammentragen mußte an Unannehmlichkeiten unterwegs und gräßlichen Nachtquartieren, scheint ihn, auch wenn er sie literarisch auskostete, persönlich so entsetzt zu haben, daß er nur noch in den besten Hotels absteigen konnte. Und wieder wußte er auch über diesen Aspekt des Körperlichen ins Schwärmen zu geraten, über das alte Conti in München etwa, in dem er, wie er sagte, schönste Tage und Nächte verbracht habe, oder das Hoˆtel d’Angleterre in Singapur, das einen mit dem Rolls Royce vom Flughafen abholte. Nichts haßte er so sehr wie Hotels, in denen die Betten, wie er sich ausdrückte, nach Handlungsreisenden rochen. Wieder meldet sich hier der durch edle Zigarren hochsensibilisierte Geruchssinn. Wie sollte da Maria Mancini, „die bräunliche Schöne“ des Jos. Feinhals, nicht Einzug halten dürfen in die edle ›Deutsche Vierteljahrsschrift‹? Feinsinnig und feinsinnlich: Man darf wohl sagen, das sei eine ausgesprochen katholische Mischung. Und Richard Brinkmann hat diesen Wurzelgrund nie verleugnet, wenngleich er, was ihm sehr wichtig war, mit einem Fuß oder wenigstens einem halben auch in der andern Konfession stand. Seine Mutter stammte aus protestantischem Haus, und er hat später eine schwäbische Protestantin geheiratet. Und so hat er denn auch beide Theologien studiert. Er wohnte bei seinem Studium in Tübingen im Hause von Theodor Steinbüchel, der sein theologischer Mentor und sein Freund wurde. Irgendwo gab es in ihm einen beharrlichen gläubigen Kern, der aber so tief saß, daß er nichts Prinzipielles nach sich zog, denn das Prinzipielle verlangt Askese und führt zu Direktheit, und dem einen wie dem andern war er abhold. Es waren die Zwischentöne, auf die es ihm ankam, das Unterschwellige, Doppelbödige. Der Witz als das Überdirekte hebt das Direkte auf. Richard Brinkmann hat ihn brillierend gepflegt. Doch er war in eine Zeit geraten, in der Zwischentöne nicht gefragt waren, eine Zeit, die grob war und das Feinsinnige verpönte. Das führte schon beim Studium zu einem Unbehagen, denn auch da herrschte das Grobmaschige, besonders in der Germanistik, 2
„Nördliche Wien-Reisende im 18. Jahrhundert“, in: Austriaca. Beiträge zur österreichischen Literatur. FS Heinz Politzer, in Zusammenarbeit mit R. Brinkmann hg. v. Winfried Kudszus u. Hinrich C. Seeba, Tübingen 1975, S. 7–42.
4. Rede bei der Gedenkfeier für Richard Brinkmann (1921–2002)
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zu der er sich halbherzig entschloß und der er dann auch sein Leben lang in Halbherzigkeit treu geblieben ist, indem er sie zwar betrieben, aber sich nie mit ihr hat identifizieren wollen. Er verschaffte sich damit eine Distanz zu seinem Tun, die ihm auf allen Registern wissenschaftlichen Könnens zu spielen erlaubte, ohne daß ihn das verpflichtet hätte, in den konkreten Ergebnissen den letzten Sinn dieses Tuns zu finden. Unbefriedigt von den germanistischen Lehrern in Göttingen, wo er zu studieren anfing, dann zurückhaltend fasziniert von den Großen in Münster, Jost Trier und Günther Müller, waren ihm Kunstgeschichte, klassische Philologie und Philosophie lieber. Gerhart Krüger hat den Interessiert-Begabten entdeckt und ihn gefördert. Aber die Zeit war allzu kurz. Nachdem sein Jahrgang zunächst vom Wehrdienst freigestellt worden war, wurde er 1941 doch einberufen. Er tat Dienst im Osten, bis ihm 1943 eine Mine den rechten Arm zerfetzte und ihm ein Stück der Schädeldecke wegriß. Verlassen und verblutend lag er auf einem Acker. Zufällig kam ein polnischer Bauer vorbei, der ihm versprach, eine Karre zu holen. Und nach unmeßbarem Warten erschien er tatsächlich wieder und brachte ihn ins Lazarett. Vom Arm blieb nur ein Stumpf, und der Schädel wurde mit Blech geflickt. Es amüsierte ihn später, Besucher dadurch zu verblüffen, daß er darauf trommelte. Es war dies das einzig Kriegerische, das ich je bei ihm bemerkt habe. Trotzalledem und noch angesichts seiner langwierigen und zermürbenden Krankheit in den letzten Jahren hat er an der Überzeugung festgehalten, daß er in seinem Leben im Grunde immer Glück gehabt habe. Die Verwundung, so schwer sie war, habe ihm, so meinte er, zweifellos das Leben gerettet. Und sie hat ihn dann nicht daran gehindert, eine hinreißend schöne Frau mit klugem Herzen zu gewinnen. Und sie hat ihn nicht daran gehindert, um die Welt zu reisen als Botschafter deutscher Wissenschaftskultur, insbesondere aber: als Botschafter eines durch den Krieg anders gewordenen Deutschland, eines beschädigten Deutschland, um Freundschaft mit der linken Hand, die vom Herzen kommt, anzubieten. Und überall war er willkommen, er hätte nach Austin, Texas, an die Columbia in New York, nach Bloomington in Indiana gehen können. Er blieb in Tübingen. Nur mit Berkeley hat er ein Abkommen getroffen, jedes vierte Semester dort zu lehren. Auch Rufe von deutschen Universitäten hat er abgelehnt. Sein Standort war und blieb das schöne Haus im Rotbad, er bewahrte die Welterfahrung in den Erinnerungsdingen in der ,Brinkmann-Hall‘, dem großen Gesellschaftsraum: er konnte einen noch im Rollstuhl von einer Erwerbung zur andern führen und ihre Geschichten erzählen: ein Hahn als Dachreiter aus Frankreich, eine Kuh als Windfahne aus den USA mit einem Schußloch, indianische Flechtarbeiten, Teppiche, kostbare Teppiche vor allem. Und man freute sich jedesmal mit über seine Liebe zu diesen welthaltigen Dingen. Aber er hat sich, was er erfahren hat, nicht nur über solche Erinnerungsstücke gegenwärtig gehalten, sondern auch über Anekdoten, über einen Schatz treffender Momentaufnahmen von Personen, und er hat die Freunde aus aller Welt in seinem gastlichen Haus sehr gerne damit unterhalten. Und er blieb auch hier bei uns, weil er dieses Land mochte; es lag ihm die alte schwäbische Liberalität, in ihr fand er etwas wieder von dem Unprinzipiellen, das seine Lebensform war. Manches, was er für unsere Universität erreichte, ging am Amtsweg
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vorbei: es gab ein Vertrauensverhältnis mit Stuttgart. Es konnte geschehen, daß er in einer zweifelhaften Situation seinen heißen Draht zum Ministerium benutzte und anfragte, ob dies oder das rechtens sei, und dann die Antwort erhielt: „Fragen Sie nicht, tun Sie das, was Sie für vernünftig halten.“ So war die Beziehung einst zwischen unserer Universität und Stuttgart: unprinzipiell vernünftig, abgestützt durch ein gegenseitiges Wissen um die Redlichkeit hier wie dort – Redlichkeit, ein Wort, das bei dem gegenwärtigen Denken in Evaluationen und Statistiken seinen Sinn verloren hat. Richard Brinkmann verkörperte jenen Geist. Und zur Redlichkeit kam ein verantwortungsvoller Fleiß. Fleiß und Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, das waren auch die Tugenden, mit denen er die Manuskript-Berge, die sich bei der ›Vierteljahrsschrift‹ aufhäuften, unermüdlich abgearbeitet hat. Gerhart von Graevenitz, der es bedauert, hat dies in seinem Nachruf in unserer Zeitschrift sehr gut geschildert.3 Sein Geschmack machte ihn großzügig, das Undogmatische machte ihn weltoffen, er wurde in schwäbischer Liberalität heimisch, und in seinen Tugenden klang einiges nach vom Kaufmannssohn aus Elberfeld, in Kleinigkeiten übrigens ebenfalls. Er kannte alle Parkplätze in Tübingen, die gebührenfrei waren, und er hat nie eine Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten. Wenn wir zusammen in seinem Mercedes unterwegs waren und er mich zu meinem Vergnügen, und weil er sich ausruhen wollte, ans Steuer ließ, hörte ich, auch wenn ich glaubte, er schliefe: Achtzig – sechzig – achtzig – sechzig. Ironische Distanz zu allem, was sich absolut gab, ausbalanciert mit pragmatischer Lebenskunst – eine solche Haltung konnte nur ein unbehagliches Verhältnis zu einer Wissenschaft in sich schließen, die Literatur traktierte. Brinkmanns Literaturverständnis war durchdrungen von einer großen Sensibilität für den mehrschichtigen und inner- wie außerliterarisch verflochtenen Charakter dichterischen Sprechens, und daraus mußte sich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem vereindeutigenden wissenschaftlichen Begriffsapparat ergeben. Und insbesondere mußte er empfindlich sein gegenüber allem Ideologischen, gegenüber Pauschalurteilen oder gar jargonhaften Worthülsen. Als höchstes Lob konnte er in einer Habilitationssitzung sagen: „Dieser Kandidat hat nicht wie so häufig einen Schnuller zu einem Luftballon aufgeblasen.“ Der Fallen, die in allen positiven Aussagen lauern, war er sich immer bewußt, so daß er, wenn er doch positiv formulierte, immer gleich die Grenzen des Gesagten aufzeigte. So versuchte denn sein Interpretationsstil stets neu den Drahtseilakt zwischen der wissenschaftlichen Begrifflichkeit und der lebendigen inneren Spannung, die das Niveau literarischer Texte ausmacht. Meisterhaft wird dies schon in der wirkmächtigen, zweimal neu aufgelegten Habilitationsschrift ›Wirklichkeit und Illusion‹4 gehandhabt. Der Begriff ,Realismus‘, so sagt er, verfehle das mit ihm Gemeinte, wenn man darin lediglich die Intention sehe, das Tatsächliche wiederzugeben; es gehe vielmehr um die Frage, wie das Subjekt dieser Tatsächlichkeit habhaft und gerecht zu werden vermag. Die Möglichkeiten sind offen. Gerhart von Graevenitz, „Nachruf auf den Tod von Richard Brinkmann“, DVjs 77 (2003), S. 5–15. 4 Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des 19. Jahrhunderts, Tübingen 31977. 3
4. Rede bei der Gedenkfeier für Richard Brinkmann (1921–2002)
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Und auch wenn wieder neue oder alte Ganzheiten anvisiert werden, stehen sie doch in diesem fragenden Prozeß. Brinkmann hat dies immer wieder auch in der Auseinandersetzung mit den Kritikern seines Buches verständlich zu machen versucht. Er mußte ja diejenigen irritieren, die in seinen Arbeiten handfeste Ergebnisse suchten und stattdessen auf offene Fragen stießen. Hier insbesondere traf er sich im Geiste mit seinem Freund Hugo Kuhn. Die Subjekt-Objekt-Problematik durchzieht Brinkmanns ganzes Œuvre, vielfältig und immer wieder anders. Das ist nicht verwunderlich bei jemandem, der sich der gebrochenen Vermittlung der Welt über Empfindung und Sprache nicht nur bewußt war, sondern diese Brechung lebte. So war die Subjekt-Objekt-Problematik schon grundlegend für die frühe Studie zu Wittenwilers ›Ring‹,5 in der er gewissermaßen die kulturgeschichtlich-philosophische Begründung des Problems vorführte. Er zeigte, daß es in dem Maße virulent wurde, in dem die mittelalterliche Gott-Welt-Analogie im 14./15. Jahrhundert zerfiel, so daß man sich nun einer Wirklichkeit konfrontiert sah, die, abgelöst, in ihrer platten Trivialität sinnleer erschien – so bei Wittenwiler –, während zugleich das ideenhaft-universalistische Erbe hoffnungslos in den eingeschobenen didaktischen Passagen des ›Ring‹ nachklang. Auf der subjektiven Seite mußte dies Angst erzeugen, die sich in eine groteske Verzerrung der quasinaturalistischen Wiedergabe der Welt umsetzte. Das Dämonische bricht im ›Ring‹ schließlich massiv durch die zerstörte Ordnung durch. Der krude Spaß mündet in eine alles vernichtende Schlächterei. – Das Gegenstück dazu bietet Brinkmanns Studie zu ›Werther‹ und Gottfried Arnold.6 Bei Arnold wird die subjektive Seite im geist-erfüllten ,Ketzer‘ verabsolutiert, im ›Werther‹ erscheint sie dann säkularisiert in maßlos ichbezogener Individualität, doch nicht ohne daß der Held in seinem Leiden sich in eigentümlichen Kontaminationen christliche Vorstellungen anverwandeln würde. Daß die Frage der Subjektivität in den Romantikstudien Brinkmanns eine Leitrolle spielen mußte, versteht sich vom zentralen Vorwurf her von selbst, den sich die Romantiker schon von den zeitgenössischen Denkern zugezogen haben: dem Vorwurf des schrankenlosen Subjektivismus mit seiner über die Wirklichkeit hinweggehenden transzendentalphilosophisch-poetischen Bewegung. In der Einführung zu dem von ihm organisierten und geleiteten Symposion ›Romantik in Deutschland‹7 macht Brinkmann dies zur kritischen Hürde für ein literaturgeschichtlich angemessenes Verständnis. Was hier als unerbittlich fragende Herausforderung erscheint, hatte freilich in dem Aufsatz über ›Deutsche Frühromantik und Französische Revolution‹8 unter einem bestimmten Aspekt schon zuvor eine subtil-kühne Antwort gefunden: und zwar im Sinne eines metaphorisch-utopischen Durchbruchs durch den Antagonismus von Revolution und reaktionärer Rückwendung. 5
„Zur Deutung von Wittenwilers ,Ring‘“, DVjs 30,2/3 (1956), S. 201–231. „Goethes ,Werther‘ und Gottfried Arnolds ,Kirchen- und Ketzerhistorie‘. Zur Aporie des modernen Individualitätsbegriffs“, in: Versuche zu Goethe. FS Erich Heller, hg. v. Volker Dürr u. Ge´za von Molna´r, Heidelberg 1976, S. 167–189. 7 „Romantik als Herausforderung. Zu ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Rezeption“, in: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion, hg. v. R. Brinkmann (DVjs, Sonderbd. 52), Stuttgart 1978, S. 7–37. 8 in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien v. R. Brinkmann u. a. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1395), Göttingen 1974, S. 172–191. 6
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Dem steht hart die Studie über die ›Nachtwachen‹ von Bonaventura alias Klingemann gegenüber.9 Hier wird grausig textnah vor Augen geführt, was geschieht, wenn man das Movens der transzendentalen Bewegung, die Ironie, radikalisiert, so daß im absoluten Zweifel an der subjektiven Erkenntniskraft sich die Welt wie das Ich in Nichts auflösen. Einen Nachklang findet die Thematik in Brinkmanns Analyse der poetologischen Bedingungen für das Denken und Dichten um die Jahrhundertwende. Hier nun ergreift die Skepsis die Sprache selbst, man empfindet, daß die Wirklichkeit von Begriffen verstellt und erstickt wird. Und so geht es dem Interpreten dann darum, aufzudecken, welche Chancen bestehen, die Blockade zu überwinden, auf der einen Seite etwa über eine indirekte, quer zum Wörtlichen sich einstellende Sinnvermittlung bei Hofmannsthal,10 auf der andern über das Symbolische in der expressionistischen Lyrik.11 Der wohl tiefgründigste Aufsatz Brinkmanns zum Verhältnis von Wort und Wahrheit trägt den Titel ›Dichtung als Vollzug‹12; er zeigt an den ›Hymnen an die Nacht‹ des Novalis, inwiefern es der Dichtung gelingen kann, dadurch etwas geschehen zu lassen, daß sie es ins Wort bringt: „das Subjekt“, so sagt er, ist dabei „zugleich das Objekt (. . . ), an dem sich ein Vorgang ereignet“.13 Die zweite Hymne charakterisiert er so: sie „spricht nicht nur von etwas; sie realisiert in der Sprache, wovon sie spricht.“14 Und er bringt dies in Verbindung mit der Möglichkeit des religiösen Vollzugs im Wort, womit eine Beziehung eröffnet wird, die Brinkmann immer wieder beschäftigt hat, so insbesondere in der kurzen Skizze ›Theologie und Literaturwissenschaft – Die freundlichen Brüder‹15. Eine besondere Beziehung hat Brinkmann seit seiner Dissertation mit Fontane verbunden – die große Monographie ist 1967 erschienen.16 Es ist immer wieder eine geistesverwandte Zuneigung spürbar, die freilich durch historische Nüchternheit jeweils schnell wieder zurückgenommen wird. Man kennt Fontane ja als harten Kritiker am verkrusteten Ständewesen seiner Zeit. In den Romanen erscheinen die Figuren aus der adeligen und bürgerlichen Gesellschaft häufig überscharf gezeichnet, ja reichlich bizarr, aber sie stehen doch in einem letztlich versöhnlichen Licht. Das hat man ihm nicht nur von links zum Vorwurf gemacht. Brinkmann versteht diesen Widerspruch vom Eigenrecht der poetischen Darstellung her. Die Überbetonung des Negativen und Häßlichen, die von vielen Realisten des 19. Jahrhunderts forciert wurde, hätte das, worum es Fontane ging, verhindert, nämlich das Banale und Alltägliche auf ein Menschliches hin transparent werden zu lassen. Der immer wieder in seiner irritierenden Treffsicherheit 9
Nachtwachen von Bonaventura. Kehrseite der Frühromantik? (Opuscula 31), Pfullingen 1966. „Hofmannsthal und die Sprache“, DVjs 35 (1961), S. 69–95. 11 „,Abstrakte‘ Lyrik im Expressionismus und die Möglichkeit symbolischer Aussage“, in: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten, hg. v. Hans Steffen (Kleine VandenhoeckReihe 208), Göttingen 1965, S. 88–114. 12 „Dichtung als Vollzug. Anläßlich der ,Hymnen an die Nacht‘ des Novalis“, in: Anspruch der Wirklichkeit und christlicher Glaube. Probleme und Wege theologischer Ethik heute, hg. v. Helmut Weber u. Dietmar Mieth, Düsseldorf 1980, S. 331–352. 13 Ebd., S. 338. 14 Ebd. 15 Theologische Quartalschrift 157,3 (1977), S. 219–222. 16 Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, München 1967. 10
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bewunderte Untertitel der Monographie, ›Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen‹, bietet dafür die paradoxe Formel. Sie bedeutet: Die gesellschaftlichen und auch die religiösen Traditionen bleiben auch in ihrer überholten Formalität verbindlich, und sie sind deshalb zu respektieren, so gut es eben geht. Auch wenn einem bewußt ist, daß sie entleert sind, ist es doch möglich, daß das ursprünglich Humane darin durchbricht. Das ist – und damit schwenkt Brinkmann auch hier auf die ihn bedrängende Grundfrage ein – Fontanes Antwort auf das Realismusproblem. Er weigert sich, eine objektive Wirklichkeit vorzutäuschen, die doch nur ein Produkt des Erzählers sein kann, vielmehr bekennt er sich zur unumschränkten Subjektivität aller Darstellungskunst. Und gerade dies führt er über seine Figuren vor, vor allem in ihren die Romane prägenden Gesprächen, in denen Meinung gegen Meinung gesetzt wird. Nichts wird endgültig formuliert. Und doch kann im Hintergrund unmerklich-innerlich etwas geschehen. Der unlösbare Widerspruch zwischen den möglichen Positionen ist das Kennzeichen einer wahrhaft realistischen Dichtung. Die eigentümliche Affinität zwischen der in dieser Weise charakterisierten poetischen Welt Fontanes und Richard Brinkmanns eigenem Wissenschafts- und Lebensstil ist bei aller Distanzierung, die er selbst übt, nicht zu verkennen. Die Versuche, mit dem Dilemma zwischen einer objektiv nicht mehr verbindlich geordneten Welt und einer subjektiv zu einer Scheinobjektivität herabgewürdigten Tatsächlichkeit zurechtzukommen, führen trotz der unvergleichbar andern historisch-sozialen und persönlichen Lage zu bemerkenswerten Übereinstimmungen: Da ist Brinkmanns bewußte Pflege einer offenheiteren Gesprächskultur, da ist der unverstellte Bezug zur Sinnlichkeit der Dinge, da sind seine Erkenntnisskepsis und der entsprechende Umgang mit der Wahrheit dessen, was von andern als eindeutig präsentiert wird, und da ist schließlich, quer zu allen gesellschaftlichen Verzerrungen, mit denen man leben muß, der Glaube an die Möglichkeit von Humanität. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies, wenn man beachtet, daß Brinkmann als Interpret immer auch Kritiker ist: Im Widerspruch entfaltet sich das Relative und vollzieht sich das Humane. Wissenschaftliche Zugriffe werden stets in ihrem Teilrecht bewußt gehalten, sowohl, wenn er sich distanziert, wie auch, wenn er etwas gutheißt. Dabei bleibt die Bemühung um ein differenziertes Urteil insofern immer offen, als sich diese Bemühung selbstreflexiv in den Interpretationsprozeß einschreibt. Radikale Ablehnung ist selten, sie findet sich nur, wo trotz aller Verständnisbereitschaft nichts Brauchbares zu gewinnen ist. Auf der andern Seite bleiben viele Urteile in der Schwebe und bieten sich damit als bloße Wegweiser für weitere Überlegungen an. Dieses Sich-selbst-Zurücknehmen mußte übrigens auch das Verhältnis zu seinen Schülern prägen. Jürgen Brummack hat beim letzten Geburtstag das treffende Wort dafür gefunden: Brinkmann hatte Autorität, ohne mit ihr zu demütigen. Aus all dem wird verständlich, daß Brinkmann sich nicht in erster Linie als Gelehrten sah, der Wissenschaftsgeschichte machen wollte, ihm ging es vordringlich um den Stil im Umgang mit den Menschen, die dieses Geschäft betrieben. Im persönlichen Gespräch, das es ihm zu ermöglichen schien, das Wissenschaftliche in Lebensverständnis überzuführen, sah er seine wichtigste Aufgabe, nicht im Sinne irgendeiner verbindlichen Lehre, im Gegenteil: im Sinne einer Humanität aus dem Unverbindlichen.
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Ich schließe mit einem Satz, dem für mich schönsten Satz, aus Lorenzens Grabrede auf den alten Stechlin – indem ich meine, daß er auch für Richard Brinkmann Geltung hat: „Nichts Menschliches war ihm fremd, weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigner menschlicher Schwäche jederzeit bewußt war.“
5. Rede zum 80. Geburtstag von Karl Bertau Gehalten am 2. November 2007 in Erlangen
Lieber Carolus Magnus, liebe Bertau-Freunde beiderlei Geschlechts! Man tut sich nicht leicht mit Karl Bertau, auch ich nicht, und dies, obgleich wir uns allein schon astrologisch sehr nahe stehen. Wir sind beide Novemberkinder. Ein Zeitpunkt für einen Lebensbeginn nicht ohne Merkwürdigkeiten, ja nicht ohne Abgründe. Novemberkinder werden im Fasching gezeugt, sind also vorwiegend Produkte launigen Übermuts oder scherzhafter Unbedenklichkeit. Und dann erblickt man im düstersten Monat das Licht der Welt, oder eben kein Licht, sondern trübselige Novembernebel und fröstelnde Schauer. Jeder andere Monat ist erfreulicher, auch der Dezember, wo schon wieder das Licht in der Finsternis sich ankündigt. Ja, wir sind als Novemberkinder doppelt gezeichnet, von dem düstern Empfang in dieser Welt zum einen und zum andern von einer Bizarrerie, die vom dubiosen Ursprung in einer Faschingsnacht her irgendwie mitspielt. Das verbindet mich mit Karl Bertau in knorriger Weise; es schuf über Querliegendes hinweg Verständnis und dann je länger je mehr Sympathie. Aber es blieb doch immer eine gewisse Distanz zwischen uns, von meiner Seite aus Scheu vor seiner allzu großen Überlegenheit in vielen Gebieten: seiner großen Musikalität, die ihm auch für die staunenswerte Darstellung der Frauenlob-Melodien zustatten kam, dann seiner souveränen Beheimatung in mehreren Sprachen und Literaturen, die er immer mehr erweiterte, schließlich der rückhaltlosen Verabsolutierung des Zugriffs, mit der er seine Sache betrieb und betreibt und die mich zaghaft macht. Nun, vor allzu großer Überlegenheit rettet bekanntlich nur eines: Liebe. Aber vielleicht, so stelle ich es mir gerne vor, ist diese meine Zuneigung nicht nur die Frucht überwältigender Begegnung, vielleicht ist sie untergründiger, sie könnte von sehr viel weiter herkommen. Vielleicht. Karl Bertau hat geschrieben: „Persönlich erinnerte Vergangenheit reicht nicht weit zurück, allenfalls bis zum Großvater (. . . ). Dennoch stellen wir uns fremde Zeiten und Personen vor. In ihnen stehen nur vergessene und verdrängte Bilder der eigenen lebensgeschichtlichen Vergangenheit wieder auf, in bildhafter Verkleidung, als Zeichen.“1 Das ist meine Legitimation für einen Verdacht. Im Jahre 1812 zog der Grenadier Charles Berteau mit Napoleon nach Rußland. Er sah Moskau brennen und machte sich im hereinbrechenden Winter mit der Grande Arme´e auf den mörderischen Rückzug in Eis und Schnee. Es war auch ein Schweizer 1
Über Literaturgeschichte: Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 9.
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Kontingent dabei. Da diese Alpenkerle im Ruf besonderer kriegerischer Zähigkeit standen, erhielten sie den Befehl, den Übergang über die Beresina zu decken. So könnte ich mir denn sehr wohl denken, daß da ein Vorfahr von mir dabei war und dem Grenadier Berteau über die Eisschollen hinübergeholfen hat. Zurück nach Frankreich kam er aber doch nicht, sondern er blieb in Pommern hängen, sei es, daß er mit seinen erfrorenen Zehen nicht weiterkonnte, oder sei es, daß ein pommrisches Mädchen ihm seine Wunden allzu zärtlich verbunden hat. Jedenfalls er blieb, nannte sich nun Bertau, zeugte Kinder und vererbte ihnen die Sehnsucht nach Frankreich, bis hin zu unserem Karl. Und erst da, in der Folge eines neuen katastrophalen Rußlandfeldzuges ging der Weg nach Westen weiter. Und so trostlos wie 1812, oder noch trostloser. Nichts blieb ihm auf der Flucht, wie er sagt, als „Mantel, Hose und Knobelbecher[ ]“, die ihm auch nicht gehörten, und tief in den Knochen der Schrecken über den Zusammenbruch und das Grauenhafte, das ihn verschuldet hat.2 Er wurde Literaturwissenschaftler, hat in der Schweiz eine Professur übernommen – vielleicht in untergründiger, unbewußter Dankbarkeit für die schweizerische Hilfe an der Beresina, freilich in Genf, in Frankreichnähe. Da hat er sich als Anfänger bedenkenlos, ohne Rücksicht auf Gängig-Abgesichertes an eine neue Literaturgeschichte3 gewagt, mit der er große Aufregung verursachte. Die Wohlwollenden schwankten zwischen Bewunderung und Verwunderung. Aber sein Name war von da an im Fach nicht mehr wegzudenken. Wie kann man im Bewußtsein der deutschen Katastrophe Literaturgeschichte schreiben? Karl Bertau hat sich darüber Rechenschaft gegeben, hinterher, in seinem Buch ›Über Literaturgeschichte‹, der großen Auseinandersetzung mit Kurt Ruh. Er sah in Ruhs Weise, mit Literatur umzugehen, den Ausdruck eines durch die Schrecken der Naziherrschaft nicht angefochtenen Denkens, Ruh habe das Böse in der Form eines totalitären gesellschaftlichen Apparates nie an sich selbst erfahren, er lebte also gewissermaßen noch in einer heilen Welt und sei davon verschont geblieben, der „funktionalistischen Vernunft (. . . ) [ ]ein erlebtes Mißtrauen entgegenzusetzen“.4 Er war sich sicher, über funktionalistische Strukturanalysen gültigen Sinn herstellen zu können, sich in vorgeprägten Mustern bewegend, die das Geschehen simultan übergreifen. Das erlaubte Ruh auch den für ihn typischen pädagogischen Gestus in der Vermittlung der literarhistorischen Vergangenheit, als weitere Simplifizierung, damit man alles getrost nach Hause tragen kann. Und das impliziert, daß solche Deutung nachdrücklich Geltung beanspruchte. Bertau setzt vehement dagegen: Deutung ist eine Form des lebendigen Umgangs mit Tradition, und eine definitive Deutung würde diesen Umgang beenden (. . . ). Deswegen ist der Gedanke einer definitiven Interpretation, der immer wieder begegnet, absurd, weil gegen das Leben des Geistes gerichtet. Wer deutet, muß wissen, daß er vorläufig deutet – und dennoch darf seine Deutung nicht beliebig sein (. . . ).5
So erregt solcher innerer Widerstand bei Bertau aber auch hochkommt, so sehr hat er sich andrerseits redlich bemüht, das anzuerkennen, was bei Ruh gut gesehen ist. Die 2
Ebd., S. 14. Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972/73. 4 Über Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 15. 5 Ebd., S. 10. 3
5. Rede zum 80. Geburtstag von Karl Bertau
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Kritik schwankt zwischen harter Ablehnung und echter Dankbarkeit. „Für Kurt Ruh als Zeichen vielfältigen Dankes“, so lautet die Widmung. Und sie war komischerweise nicht ironisch gemeint. Das war vor 25 Jahren. Wie stellt sich das heute dar? Ich denke, Karl Bertau hatte recht und unrecht zugleich, recht in der Sache, unrecht darin, daß er die Differenz auf die unterschiedlichen Biographien zurückführte. Ruh hat nicht deshalb so interpretiert, wie er es getan hat, weil er mit einer unbeschädigten Vergangenheit in die Wissenschaft eintrat, sondern weil er der traditionellen germanistischen Interpretationsmethode folgte, ja, sie in höchst eindrucksvoller Weise zur Vollendung führte. Was Gelehrte wie etwa Helmut de Boor ziemlich gröblich durchspielten, das hat er so differenziert und in einer solchen Breite von Aspekten entfaltet, daß man ihm, auch wenn man anders denkt, Respekt nicht versagen kann. Auf eine einfache Formel gebracht lautet diese Methode: Du sollst fragen, welches Problem einem Werk zugrunde liegt, und dann darstellen, wie der Autor es narrativ löst. So ist man seit Generationen in unserem Fach mehr oder weniger gekonnt vorgegangen, und diese Leitfrage, die Frage nach dem Problem und seiner poetischen Lösung: das versteht noch Hans-Georg Gadamer unter Interpretieren. Ruh stand jenseits alles Persönlich-Biographischen in einer etablierten Tradition. Verständlich, daß Kurt Ruh durch dieses ihm mit vielfältigem Dank gewidmete Buch tief getroffen war. Er sprach von einer „Beerdigung erster Klasse“ und sagte mir, daß er nach der Lektüre erst einmal eine Flasche Wein aus dem Keller holen mußte. Er hat es verkraftet, aber es war damit scheinbar unwiederbringlich eine hermeneutische Kluft aufgerissen, und man würde denken, daß das für unser Fach von fundamentaler Bedeutung hätte werden müssen. Aber merkwürdigerweise geschah gar nichts. Niemand hat sich, soweit ich sehe, auf die Brisanz dieser Auseinandersetzung eingelassen. Die normalen Interpreten machten unbeirrt im traditionellen Stil weiter, höchstens, daß sie die Fragestellungen und Lösungen mit modisch aufgeputztem Vokabular verbrämten. Die andern gaben die Interpretation einfach preis und machten den kulturhistorischen Schwenk mit und betrieben Literaturgeschichte als Kulturgeschichte, in unverbindlicher, vereinnahmender Neutralität. Auch ich bin wohlbehütet in der Schweiz aufgewachsen, trotzdem konnte auch ich bei aller Bewunderung für Ruhs große Leistungen nur bedingt mit ihm mitgehen. Ich habe es nicht so offen gesagt wie Bertau, aber er hat es gewußt und ist bei Gelegenheit erbost hochgefahren. Im Grundsätzlichen stimmten Bertau und ich – wenngleich ganz unabhängig voneinander und mit etwas anderen Akzentuierungen – in dem überein, was zu tun war und wie es zu tun war. Was uns verbunden hat und verbindet, ist einmal die leidenschaftliche Bemühung um das, wofür sie sich lohnt: um das große Werk. Seine ästhetische Qualität. Bertau ist sich dabei im klaren, daß eine solche Ansicht, wie er sagt, heute – also um 1980 – „kein gutes Wetter hat“. Er sagt: „Heute wird (. . . ) für einen ,erweiterten‘ Literaturbegriff plädiert“, und das beziehe seine Rechtfertigung nur aus der Struktur der verwalteten Welt (. . . ). Wer verspricht, (. . . ) Literatur auf möglichst breiter, empirischer Grundlage zu erforschen, der wird dafür einen möglichst großen institutionellen und personellen Apparat brauchen, Bücher und Mitarbeiter. Den Mitarbeitern wird der Sinn ihres Tuns in der Verfertigung von Bausteinen zu einem großen Gebäude bezeichnet; da aber mit der Fertigstellung aller Bausteine auch alle Arbeitsplätze vernichtet wären, wird niemand ein vitales Interesse an der Vollendung des großen Gebäudes
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V. Reden und Nachrufe
haben – es sei denn, eine neue Baustelle mit noch unbeendbarerem Programm winke bereits. (. . . ) Ich halte solche Projekte für genau so hybride wie die Vorstellung eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums.6
Das hat er, wie gesagt, vor 25 Jahren geschrieben, aber es könnte heute nicht aktueller sein. Die universitäre Katastrophe, in die wir gegenwärtig hineinschliddern, beruht auf dem Zwang zu dieser ins Hybride getriebenen Organisation von Projekten mit hochstilisierten Zielen und einem möglichst großen Aufwand an Mitteln, damit es etwas hermacht und vorzeigbar wird. In diesem bloßen „Betrieb“, wie Hugo Kuhn sagen würde,7 verliert die Literaturwissenschaft ihre eigentliche Aufgabe. „Deswegen“, so fährt Bertau fort, und das ist mir aus dem Herzen gesprochen, deswegen bin ich gegen den Begriff einer erweiterten Literaturgeschichte und ergreife entschieden Partei für eine auch durch ästhetische Urteile sich beschränkende. Sinnvoll erscheint mir eine Literaturgeschichte als Geschichte von Kunstwerken höchsten Ranges.8
Dabei geht bei ihnen die Linienführung niemals glatt auf. Bertau sagt: „Daß die Werke Wolframs und Gottfrieds über einem Abgrund entstehen, scheint mir für den Begriff von Literatur, ja von Kunst in der Geschichte fundamental zu sein.“9 Damit ist die Gegenposition auf den entscheidenden Punkt gebracht. Und er hat dies dann ex negativo glänzend am ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven demonstriert, den Kurt Ruh in seine Literaturgeschichte aufgenommen hatte, da er ihn als Alternative zum Chre´tienschen Romanmuster der Berücksichtigung für würdig befand. Aber er mußte die Linien zusammenbiegen, mußte strukturelle Abstraktionen vornehmen, um das Ganze stimmig zu machen. Karl Bertau hat offengelegt, daß dies nicht aufgeht. Der Roman sei zwar durchaus amüsant, aber doch nur von kulturhistorischem Interesse, ein bedeutendes Literaturwerk sei er nicht.10 Darf man den ›Lanzelet‹ also nicht in eine Literaturgeschichte aufnehmen? In Bertaus eigner fehlt er. Ich möchte gerade seine Analyse in einer Literaturgeschichte nicht missen. Hier ist er wieder einmal zu rigoros gewesen. Ich denke, man darf bei der Interpretation der herausragenden Werke sehr wohl das literarische Ambiente mitbedenken, denn es spiegelt nicht selten in versagenden Versuchen das, was in großen Werken abgründig ist und wogegen man sich sträubt. Bertau ist natürlich in praxi genau so verfahren. Seine ,Wolframstudien‘ haben diese Gedankengänge über Jahre hin begleitet und sich dabei insbesondere auf Abgründiges kapriziert, Aggressionsphantasien, psychoanalytische Zugriffe oder tote Witze – besonders köstlich.11 Dann folgt die ›Ackermann‹-Phase. Bertau hat seine Frau verloren. Da läßt er sich auf des Ackermanns Dialog mit dem Tod ein. Sieben Jahre lang. Und das Ergebnis ist eine 6
Ebd., S. 40f. Vgl. meinen Aufsatz „Hugo Kuhn und die Krise der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert“, in: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 664–677, hier S. 667. 8 Über Literaturgeschichte [Anm. 1], S. 41. 9 Ebd., S. 28f. 10 Ebd., S. 40. 11 Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983. 7
5. Rede zum 80. Geburtstag von Karl Bertau
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Neuedition12, akribisch bis in alle Nuancen der Überlieferung hinein. Ein Wunderwerk an philologischer Gelehrsamkeit und unerbittlicher Sorgfalt. Er lernt Tschechisch, um den ›Tkadlecek‹, den tschechischen Ableger der ursprungsnächsten Handschrift, die er ediert, miteinbeziehen zu können. Und all dies im Alleingang, ohne Projektmittel und ohne Anleihen beim akademischen Betrieb, jedoch im Gespräch mit seinen Studenten, denen er damit Äußerstes zugemutet hat. Und bei all dem aber nun kein Wort zum Thema. Auch der Kommentar zum aufregenden XXXIII. Kapitel mit dem kühlen Urteil Gottes über die beiden Kontrahenten bleibt rein formalistisch und textkritisch. Das rhetorische Schema, dem die Argumentation folgt, wird dargelegt. Kein Hinweis auf mögliche Fragen zum göttlichen Urteil. Das ist konsequent, aber man ist doch erstaunt über solche rigorose Selbstdisziplin. Auch außerhalb der Edition schreibt er nicht darüber. Man kann nur ahnen, was sich in diesen sieben Jahren in der Tiefe abgespielt hat. Der einzige Ort, wo er es sich erlaubt, etwas – sehr zart – durchscheinen zu lassen, ist die Widmung: „a` la me´moire d’une e´pouse bien aime´e“. Sieben Jahre – in der Zeit wird bekanntlich jede Zelle unseres Körpers durch eine neue ersetzt. Die ›Ackermann‹-Ausgabe trägt das Datum 1994. Als er sich gut zehn Jahre später wieder zu Wort meldet – er hatte inzwischen wieder geheiratet –, ist alles anders, radikal anders. ›Schrift – Macht – Heiligkeit‹13 versteht sich explizit als Kulturgeschichte, eine Ausweitung, die er vom Blick auf die großen literarischen Leistungen seinerzeit dezidiert abgelehnt hatte. Eine Kulturgeschichte der Macht, die sich über die als heilig erklärten Schriften durchsetzt. Und Bertau hat dies mit Hilfe des ›Lexikons des Mittelalters‹14 anhand von 38 Schriftkulturen demonstriert. Ein gewaltiges Unternehmen. Grandios in seinen Perspektiven, gebaut wie aus Marmorquadern, die zwar wechselnde Maserierungen zeigen, aber in der Sättigung durch die Fakten fugenlos zusammenpassen. Es gibt ein zwingendes Muster, das sich immer neu abwandelt, von religiöser zu profaner Sakralität. Ich war überwältigt, ich konnte dem meine Bewunderung nicht versagen, aber ich war doch zutiefst beunruhigt. Ich versuchte und versuche noch, zu begreifen, was hier geschehen ist. All das, worum es ihm einst leidenschaftlich ging, die großen dichterischen Leistungen, all das ist wie weggewischt. Wenn überhaupt, dann ist hier nur ganz am Rande von Literatur die Rede, oder sie erscheint mit machtbestimmter Schriftlichkeit gleichgesetzt. Das kam mir wie ein Widerruf dessen vor, was er über die großen Dichter des Mittelalters geschrieben hat. Als er mir seinerzeit sein Buch schenkte, habe ich ihn daran erinnert, daß Literatur nicht nur von Macht abhängig ist, sondern daß sie auch der Ort des Widerstandes gegen sie sein kann, verdeckt oder auch in offener Konfrontation, was natürlich gefährlich ist. Die Blutzeugen des Widerstandes folgen sich über die Jahrhunderte, im Westen 12
Johannes de Tepla, civis Zacensis, Epistola cum Libello ackerman und Das büchlein ackerman, nach der Freiburger Hs. 163 und nach der Stuttgarter Hs. HB X 23, hg. u. übers. v. K. Bertau, 2 Bde., Berlin, New York 1994. 13 Schrift – Macht – Heiligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlichen Mittelalters, hg. v. Sonja Glauch, Berlin, New York 2005. 14 Lexikon des Mittelalters, hg. v. Robert-Henri Bautier, Robert Auty, Norbert Angermann, 9 Bde., München, Zürich 1980–1998.
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V. Reden und Nachrufe
wie im Osten. Selbst Harun al Raschid hat Dichter geköpft, wie bei Bertau nachzulesen ist.15 Er weiß das also sehr wohl, aber er behandelt es beiläufig, und so lege ich denn provozierend das schmale Bändchen des ›Miroire‹ der Marguerite Porete, die 1310 in Paris um der Freiheit ihres Geistes willen verbrannt worden ist, in die Waagschale gegen Bertaus schweres Buch. Aber mit solchen Bedenken und Einwänden ist dieses schwere Buch noch nicht verstanden. Es beansprucht das Recht auf Einseitigkeit, die aus Not geboren ist. Das führt ins Biographische zurück. Kann es sein, daß der Totalitarismus des Bösen, diese frühe Erfahrung, der Bertau zu entkommen suchte, ihn schließlich doch noch eingeholt hat? Und stellt er sich den Schrecken, indem er sie objektiviert, indem er sie auf das unerbittlich Faktische hin ausdörrt und sie damit bewältigt? Und das ins Universale hebt und eine allgemeine Wahrheit gewinnt? Der Analysand, so hat er in seinem Aufsatz über Psychoanalyse und Literatur gesagt,16 müsse das, was ihn umtreibe, eigenständig zur Sprache bringen und deuten. Es könne ihm niemand von außen die Deutung liefern. Und doch, lieber Karl Bertau, war es meine heimliche Absicht, Ihnen mit diesem Versuch, Sie zu verstehen, über die Eisschollen der Gewalterfahrung hinwegzuhelfen, mit fester Hand, aber zitterndem Herzen, in der Hoffnung zugleich, daß Sie nicht in irgendeinem Pommern stecken bleiben, sondern Frankreich, das Land der geköpften Macht, erreichen, nach dem Sie sich immer gesehnt haben, oder auch Anschouwe oder gar Munsalvaesche, wo Sie Ihre tieferen Wurzeln haben. Daß das gelingen möge, das ist mein großer Freundeswunsch zu diesem großen Geburtstag.
15 16
Schrift – Macht – Heiligkeit [Anm. 13], S. 153. „Innere Erfahrung und epische Bearbeitung mythischer Strukturen im ,Parzival‘“, in: Wolfram von Eschenbach [Anm. 11], S. 110–125, hier S. 110f.
6. Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Stellen Sie sich ein rechtschaffenes Städtchen vor, am Fuß einer steilen Voralpenkette, mit einem engen und massiven mittelalterlichen Kern, Resten der einstigen Stadtmauer, aufgesprengt zu der weiter draußen gelegenen Bahnstation hin, wo auch etwas Industrie sich angesiedelt hat, eine langgestreckte Weberei vor allem, die Arbeit und bescheidenen Wohlstand brachte. Dazu ein Hospital und ein paar Kasernen. Die Einwohner sind mehrheitlich katholische Bauern und Arbeiter, aber mit einer kleinen protestantischen Oberschicht, die die meisten Führungsstellen innehat und deren Kirche draußen bei der Weberei ebenso groß ist wie die katholische beim alten Kern. In einer der protestantischen Familien wächst da ein empfindsamer und zugleich neugieriger Junge heran, das älteste von vier Kindern. Der Vater, zunächst Abteilungsleiter, später Direktor der Weberei, hatte sich sein Haus oberhalb des Städtchens an den Hang gebaut. Er nahm sehr aktiv am politisch-gesellschaftlichen Leben des Orts teil, aber man wohnte doch oben, und das hat auch das Bewußtsein der Kinder durchdrungen, die da in liebevoller Strenge sehr behütet und abgeschirmt erzogen wurden. Mit den grobschlächtigen katholischen Buben ließ man sich selten ein, sie wurden höchstens zum Kirschenstehlen verwendet, da sie das ja hinterher beichten konnten. In dem Haus am Hang gab es einen Schrank mit Büchern: Lexika und Klassikerausgaben. Und so waren denn die Dramen Schillers die erste eigenhändige Lektüre des Jungen, und wenn andere von Karl May redeten, redete er von Karl Moor. Als er etwas älter war, wurde der protestantische Pfarrer des Orts sein bester Freund; er war ein gelehrter Mann, er konnte Dänisch und war dabei, Kierkegaard ins Deutsche zu übersetzen. So kam es, daß der Junge mit vierzehn Jahren das ›Entweder-Oder‹ las – vor allem das ›Entweder‹. Der Pfarrer fing dann auch an, ihm Latein zu geben, denn er hatte die Eltern davon überzeugt, daß man den Jungen auf das Gymnasium schicken sollte. Und das machte Aufsehen, denn noch nie hatte ein Bub aus diesem Städtchen eine höhere Schule besucht. So trat der Junge denn in ein Internat ein, eine ,Evangelische Lehranstalt‘, wie das damals hieß. Sie lag in einem noch engeren Tal zwischen noch höheren Bergen. In den meisten Fächern hinkte der Neuling aus der unbedarften Volksschule zunächst sehr hinten nach, aber er schaffte es mit zäher Energie, an die Spitze zu kommen, denn er hatte nur den einen Gedanken, seinen Eltern und seinem Pfarrer vor dem Städtchen keine Schande zu machen. Das Internatsleben war streng reglementiert. Doch es gab genügend Freiräume für individuelle Initiativen. Und man brauchte sie, denn es fehlte jede Anregung oder Ablenkung von außen, Phantasie war gefragt, und die hatte er zum Glück.
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V. Reden und Nachrufe
Zugleich aber führte diese Enge und Abgeschirmtheit zu einem immer ungeduldigeren Drang auszubrechen. Daß er dies nach der Maturität in der Weise tat, daß er sich dem Theater zuwandte, hatte fast etwas Zwangsläufiges. Das Theater war ja seit je jene schillernde Grenzzone der bürgerlichen Welt, in der man sich ins Unbürgerliche vorwagte, um es zugleich ästhetisch zu vereinnahmen, wobei freilich der Schritt hinter die Bühne schon etwas recht Dubioses an sich hatte. Zur Beruhigung seiner zwar liberalen, aber doch ein wenig verunsicherten Eltern studierte der Junge dann zwar Theaterwissenschaft, war aber mehr an der Schauspielschule als an der Universität zu finden. Doch es hielt ihn nicht lange im eigenen Land. Er zog in jene Stadt, die im Ruf stand, die theaterfreudigste Europas zu sein, nach Wien. Daß er den Schock dieses Wechsels aus den Bergen in die Weltstadt nicht ohne Schaden überstand, ist kaum verwunderlich. Die bürgerliche Moral ging zu Bruch. So kam eines Tages der besorgte Vater angereist, redete ihm ins Gewissen und verpflanzte ihn nach München, wo der junge Mann sich auf seine angestammte Rechtschaffenheit und Strebsamkeit besann, das Universitätsstudium nun fleißig betrieb und ordentlich zum Abschluß brachte. Er gab hinterher zwar noch etwas seinem Hang zur Bühne nach, indem er für einige Zeit einen Dramaturgenposten am Theater der Bayerischen Landeshauptstadt bekleidete. Doch schließlich kehrte er zur Universität zurück, passierte die Habilitation, bekam auch bald einen germanistischen Lehrstuhl an einer kleineren Universität, um nach ein paar Jahren zu einer großen und berühmten überzuwechseln, nach Tübingen – einer bekanntermaßen protestantischen Stadt, was seine Eltern mit allem versöhnte. Er machte sich im Laufe der Zeit durch seine literaturwissenschaftlichen Publikationen einen gewissen Namen; dies nicht zuletzt dadurch, daß in seinen Darstellungsstil noch etwas von der dramatischen Verve der theatralischen Vergangenheit hineinwirkte. Er wurde Mitherausgeber des angesehensten geisteswissenschaftlichen Periodikums der Zeit, erhielt einen großen staatlichen Preis und wurde schließlich Mitglied mehrerer gelehrter Akademien, sogar der altehrwürdigen Heidelberger, was ihn mit dankbarem Stolz erfüllte. Wer würde nicht denken, daß er nicht auch hochgeehrt gestorben ist? Doch ja – denn jeder wird, wenn er vom heutigen Anlaß absieht, schwerlich etwas anderes vermuten, als daß es sich hier um einen Bildungsweg handelt, wie er für das 19. und vielleicht noch für das frühe 20. Jahrhundert nicht untypisch war: der emporstrebende Sohn aus gutem Bürgerhaus, der nach einem leicht fragwürdigen Umweg über eine vermeintliche theatralische Sendung mit Anstand und Fleiß eine akademische Laufbahn absolviert. Aber, meine Damen und Herren, so war das in Wirklichkeit keineswegs. Die geschilderte Jugend – die natürlich die meinige ist – fiel in die 30er Jahre unseres Jahrhunderts und das Studium in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Anachronistische dieser Vita wird aber sehr wohl begreiflich, wenn man weiß, daß das Städtchen in den Voralpen Walenstadt heißt, allbekannt nicht durch seine Weberei oder sein Hospital, sondern gewissermaßen durch seine Kasernen – ich denke natürlich an Strawinskys ›Geschichte vom Soldaten‹ –, Walenstadt also, in einem Land gelegen, wo unangefochten von den großen europäischen Katastrophen der Geist protestantischer Bürgerlichkeit sich selbst überdauert hat. Und so stimmt denn meine kleine anachronistische Biographie von dem Augenblick an nicht mehr, in dem der junge Student der Schweiz den Rücken kehrte. Wien war nicht mehr die glanzvolle Stadt der Künste,
6. Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
515
sondern so zwielichtig, wie das der ›Dritte Mann‹ trefflich festgehalten hat: die besetzte, in Sektoren geteilte Stadt, in der die Vier in einem Jeep um die Hofburg herumfuhren. Und München bestand aus Ruinen, das Mensa-Essen war kläglich, und Bücher gab es kaum. Die Kommilitonen hier wie dort waren aus dem Krieg zurückgekommen oder hatten die Bombennächte erlebt. Und sie waren von einem ungeheuren Drang beseelt, das nachzuholen, was sie versäumt hatten. Das führte zu einer Atmosphäre geistiger Leidenschaftlichkeit, der gegenüber mir mein braves Bildungsbürgertum schal wurde. Das war das Ende dieser anachronistischen Jugend. Die frühen 50er Jahre in Deutschland haben mich umgeprägt, und dies in gewisser Weise anhaltender und irreversibler als meine Kommilitonen. Denn der geistige Aufbruch hielt bekanntlich nicht lange an, er ist bald im Wirtschaftswunder versandet, und viele, die mit mir studierten, suchten schnell Sicherheit und keine Experimente. Das aber hatte ich gehabt. Ich konnte nicht dahin zurück. Die große literarische Erfahrung der Zeit war nicht zufällig die Neuentdeckung des Barock gewesen. Hier fand man seine Welt mit ihren bis zum Zerreißen überzogenen Spannungen wieder. Ich schrieb eine Dissertation über die Bedeutung des Theatralischen in den Dramen des Andreas Gryphius. Und die Erfahrung der Zeit und der Geschichte, die darin verarbeitet war, wollte ich nach der Promotion umsetzen, vermitteln. Ich ging zu Kurt Horwitz, der gerade die Intendanz des Münchner Residenztheaters übernommen hatte. Ich sagte ihm, was ich im Sinn hatte, und er engagierte mich mit schalkhaft väterlichem Ernst. Ich mußte wieder einmal hart umlernen, aber es wurde eine fruchtbar-intensive Zusammenarbeit. Horwitz war ein unkonventioneller, wagemutiger Theatermann. Er spielte das, was ihm spielenswert schien, ohne Rücksicht auf Moden und Meinungen. Und er ließ sich auf vieles ein, was ich ihm vorschlug. Mein schönster Erfolg war, daß wir als Festaufführung zur 800-Jahrfeier der Stadt München den ›Cenodoxus‹, Jakob Bidermanns barockes Weltdrama, in meiner Bearbeitung auf die Bühne brachten. Horwitzens Nachfolger verkörperte den genauen Gegentypus. Er schielte nach dem billigen Erfolg, und so herrschten nun Mittelmaß und Routine. Ich ging und fing nochmals von vorne an. Ich brach wiederum auf, in ein neues Land und ein neues Fach. Ich bewarb mich bei der Harkness Foundation in New York um eines der sieben europäischen Stipendien, und ich bekam es. Das bedeutete ein Jahr freies Studium in den Vereinigten Staaten. Die Flagge, unter der ich segelte, hieß Comparative Literature, und was mir vorschwebte, war eine große Arbeit über orientalisch-abendländische Literaturbeziehungen. Ich war darauf nicht unvorbereitet, denn ich hatte neben dem Theater begonnen, orientalische Sprachen zu lernen. Die Harkness Foundation organisierte meine Studien in der perfektesten Weise; als ich ankam, waren die Türen offen zu allen Institutionen und Persönlichkeiten, die für mich von Interesse waren: Roger Sherman Loomis, Erwin Panofsky, Stith Thompson – alle standen sie in meinem Terminkalender. Und zum ersten Mal sah ich große, intakte und zugängliche Bibliotheken. Ich habe mich durch sie durchgefressen. Fasziniert von den Möglichkeiten Amerikas, mit einem Wust von Material und mit der festen Absicht, Europa endgültig den Rücken zu kehren, kam ich nach Deutschland zurück. Da begegnete ich in einer Glücksstunde einem Mann, der mich dazu brachte, das Steuer nocheinmal herumzuwerfen: Hugo Kuhn, der neue Mediävist in München.
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V. Reden und Nachrufe
Das Einverständnis war spontan. Der geplante Ausbruch nach außen verwandelte sich in eine innere Entdeckungsreise in die Literatur des Mittelalters, und sie wurde erregender als alles, was ich bislang kennengelernt hatte. Warum? Jeder Interpret versteht seine Texte nach dem Muster, nach dem er gelebt hat. Viele haben nicht gelebt, und so bleiben ihre Darstellungen konturlos. Eines meiner Bücher trägt den Titel ›Strukturen als Schlüssel zur Welt‹. Es geht darin um literarische Muster, um die Art und Weise, wie sie sich aufbauen und wie sie umbrechen: Geschichte als Umkonstruktion überkommener Denk- und Darstellungsschemata. Alles Bewegende liegt in den Übergängen. Persönliche Erfahrung hat sich dabei verflochten mit den paar ganz großen Lektüren, die die Dekaden meines Werdegangs markierten: Ernst Robert Curtius in den 50er Jahren, Hans-Georg Gadamer in den 60er Jahren und Hans-Robert Jauß in den 70ern, der mich zu ›Poetik und Hermeneutik‹ geholt hat. Bei aller Nähe im Prinzipiellen war das große historische Paradigma des Übergangs für mich jedoch die fundamentale Umstrukturierung so gut wie aller Traditionen im 12./13. Jahrhundert, die die Grundbedingung war für die Entwicklung des neuzeitlichen Europa. Hier war die Übergangserfahrung am glänzendsten zu demonstrieren, und so bin ich immer wieder neu darauf zurückgekommen. Und von da aus war dann weiter auszugreifen, Stufe für Stufe, in immer neuen Variationen und Brechungen bis ins 15./16. Jahrhundert hinein; das letztere zusammen mit Burghart Wachinger, dem Partner im Leibnizpreis-Projekt, das die vergangenen fünf Jahre bestimmte: ›Spätmittelalter und frühe Neuzeit‹. Man hat mir vorgeworfen, ich reduzierte alles auf abstrakte Muster. Ich antworte: Verstehen kann man das, was sich wandelt, nur vor dem Hintergrund dessen, was sich durchhält. Ohne strukturelle Einsichten gibt es keine Geschichte. Und doch könnte es sein, daß die Kritiker recht haben. Vielleicht ist das, was man nicht verstehen kann, wichtiger als das, was man von den Zusammenhängen her zu begreifen und zu erklären vermag, ich meine: das Unableitbare, das Spontane, das Unbedingte, das, was quer zur Geschichte steht. Dann wäre freilich auch das Muster, nach dem ich Ihnen meine Vita vorgestrickt habe, letztlich falsch. Und ich müßte Ihnen alles nocheinmal neu und anders erzählen. Ich müßte als erstes dann wohl über meine Mutter etwas sagen, die in England aufgewachsen ist und die nicht in das Bild des Städtchens paßte und die mir früh eine Ahnung davon gab, was es heißt herauszufallen, und die dabei zwar fröhlich und dankbar war, aber ohne im Innersten zufrieden zu sein. Und dann mein Mentor, der Pfarrer, dessen Name hier dankbar festgehalten sei: Theodor Bätscher – er gab mir nicht nur Kierkegaard zu lesen, sondern er sprach zu mir auch von Karl Barth; und so bekam ich früh einen Eindruck von dem, was die Unbedingtheit der Wahrheit ist. Und in meinem Gymnasium in Schiers hatte ich eine Reihe von Lehrern, die Persönlichkeiten von nicht gewöhnlichem Maß waren. Drei von ihnen traf ich später auf Lehrstühlen wieder: Richard Weiß als Volkskundler in Zürich, Martin Anton Schmidt als Theologen in Basel und Kurt Ruh in Würzburg, der die deutsche Mediävistik in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat. Diese Lehrer haben, jeder auf seine besondere Art, mir mehr als Wissen vermittelt, sie haben die Lust zum intellektuellen Abenteuer in mich eingepflanzt, die mich nie wieder verlassen sollte.
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Und als ich später genau dies bei einem anderen Gelehrten wiederfand, bei Hugo Kuhn, da bin ich bei ihm geblieben. Und plötzlich war auch das, was ich am Theater gesucht hatte, übertragbar: die Leidenschaft für das Spiel. Ich begriff, daß das Unbedingte nur erträglich ist, wenn man der Vermittlung einen Spielraum gibt. Das Wort, das Fiktionale hat hier sein Recht, die Literatur als Medium experimenteller Erfahrung ihre Notwendigkeit. Zugegeben, diese Experimente sind letztlich da, um zu versagen, aber im Versagen sind sie Zeichen für das, was nicht zu fassen ist. Das Erzählen mildert den Abgrund zwischen zwei Menschen. Es hat sein Gutes, gerade auch dadurch, daß es nicht ans Ziel kommt. Literaturwissenschaft treiben heißt also, sich darum bemühen, diesen Zwischenbereich lebendig zu erhalten, gerade weil er so fragwürdig ist, weil aber er allein das Leben zwischen den absoluten Forderungen und den leeren Mustern menschlich macht. Und hier – und zum Ende – ist auch ein Wort über die Frauen in meinem Leben zu sagen, ohne die ich nicht der wäre, der ich heute bin. Eine von ihnen habe ich geheiratet. Sie brachte zur Literatur Tanz, Musik und Malerei hinzu und schuf mir ein Ambiente, das ausgezeichnet ist durch vollendete Formkunst. Hier konnte ich sehen lernen, was Sensibilität für die Nuance bedeutet. Die andern, die ich nicht geheiratet habe, lehrten mich das Gegenteil, die Preisgabe, die Unwiederbringlichkeit – und das Lachen. Subtiles Formbewußtsein auf der einen Seite und auf der anderen die Bereitschaft, sich selbst immer wieder zurückzulassen: ein Literarhistoriker, der seinem Gegenstand gerecht werden, der ihn distanziert erfahren und lebendig präsentieren will, muß, meine ich, von beidem eine Ahnung haben. Ohne diese Spannung träufelt von seinem Lehrstuhl bestenfalls gelehrte Langeweile, und das ist die größte Sünde wider den Geist.
Abkürzungsverzeichnis
Bei Periodica und Schriftenreihen werden die fachüblichen Kürzel verwendet. Im übrigen werden abgekürzt zitiert: DW
Meister Eckhart, Die deutschen Werke, hg. v. Josef Quint u. Georg Steer, Stuttgart 1936ff.
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Meister Eckhart, Werke, Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hg. u. komm. v. Niklaus Largier, 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 20 u. 21), Frankfurt a. M. 1993.
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Haug, Strukturen
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Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, hg. v. Josef Koch, Konrad Weiss u. a., Stuttgart 1936ff.
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Prosalancelot, hg. Steinhoff
Prosalancelot, hg. v. Hans-Hugo Steinhoff, 5 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 14–18), Frankfurt a. M. 1995–2004.
Ruh, Eckhart
Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989.
Ruh, Geschichte
Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 4 Bde., München 1990–1999.
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Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. v. Friedrich Ranke, Berlin 141969.
2
Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begr. v. Wolfgang Stammler, fortgef. v. Karl Langosch, 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Burghart Wachinger zusammen mit Gundolf Keil, Kurt Ruh, Werner Schröder, Franz Josef Worstbrock, Berlin, New York 1978ff.
VL
Nachweise der Erstpublikation
I.1
Wie modern ist das Mittelalter? = in: Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft, hg. v. Reto Sorg, Adrian Mettauer, Wolfgang Pross, München 2003, S. 15–26. [Wilhelm Fink Verlag]
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Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozeß. Einige grundsätzliche Erwägungen = in: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Klaus Ridder (Wolfram-Studien 20), Berlin 2008, S. 19–39. [Erich Schmidt Verlag]
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Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts = in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink, Berlin, New York 2006, S. 49–64. [Walter de Gruyter]
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Von der perfectio zur Perfektibilität = in: Vollkommenheit, hg. v. Aleida u. Jan Assmann (Archäologie der literarischen Kommunikation 10), München. [Wilhelm Fink Verlag; in Vorbereitung]
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Schreckensorte und künstliche Paradiese. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte der Landschaftsdarstellung = in: Ort und Landschaft, hg. v. Jose´ Sa´nchez de Murillo u. Martin Thurner (Aufgang 5), Stuttgart 2008. [Verlag W. Kohlhammer]
I.6
Über Literaturgeschichte. Anläßlich des Erscheinens von Johannes Janotas ›Literaturgeschichte des 14. Jahrhunderts‹ Neufassung auf der Grundlage von: Rez. Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. v. Joachim Heinzle, Band III: Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit. Teil 1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, Tübingen 2004, ZfdA 134 (2005), S. 525–532. [Franz Steiner Verlag, Stuttgart]
II.1
König Artus. Geschichte, Mythos und Fiktion = „König Artus. Geschichte, Mythos, Fiktion“, in: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Mittelalter, hg. v. Inge Milfull u. Michael Neumann, Regensburg 2004, S. 104–125. [Verlag Friedrich Pustet]
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Nachweise der Erstpublikation
II.2
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem klerikalen Konzept der Curialitas und dem höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans? = in: Courtly Literature and Clerical Culture. Selected papers from the tenth triennial congress of the International Courtly Literature Society, Universität Tübingen, Deutschland, 28. Juli – 3. August 2001, hg. v. Christoph Huber u. Henrike Lähnemann, Tübingen 2002, S. 57–75. [Attempto Verlag]
II.3
Die Rollen des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman = in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens, hg. v. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 247–267. [Max Niemeyer Verlag]
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Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram = in: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colo´quio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002, hg. v. John Greenfield (Anexo 13), Porto 2004, S. 37–65. [Faculdade de Letras da Universidade do Porto]
II.5
Die ,Theologisierung‘ des höfischen Romans in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ und in der ›Queste del Saint Graal‹ = in: Mittelalterliches Denken. Debatten, Ideen und Gestalten im Kontext, hg. v. Christian Schäfer u. Martin Thurner, Darmstadt 2007, S. 163–180. [Wissenschaftliche Buchgesellschaft]
II.6
Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chre´tien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg Diesen Beitrag hat Walter Haug verfaßt zum Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstags von Jan-Dirk Müller in Bad Irsee, November 2006, an dem er selbst noch teilnehmen konnte. Die Akten erscheinen unter dem Titel Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, hg. v. Ursula Peters u. Rainer Warning im Frühjahr 2009 im Wilhelm Fink Verlag, München. Wir danken dem Verlag und den Herausgebern für die Erlaubnis zum Vorabdruck in diesem Band.
II.7
Vom ›Tristan‹ zu Wolframs ›Titurel‹ oder Die Geburt des Romans aus dem Scheitern am Absoluten = DVjs 82/2 (2008), S. 193–204. [J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart]
II.8
Das erotische und das religiöse Konzept des ›Prosa-Lancelot‹ = in: Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, hg. v. Klaus Ridder u. Christoph Huber, Tübingen 2007, S. 249–263. [Max Niemeyer Verlag]
II.9
Die komische Wende des Wunderbaren: arthurische Grotesken = in: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2003, S. 159–174. [Max Niemeyer Verlag]
Nachweise der Erstpublikation
523
III.1
Gotteserfahrung im abendländischen Mittelalter = in: Religionen – die religiöse Erfahrung, hg. v. Matthias Riedl u. Tilo Schabert (Eranos NF 14), Würzburg 2008, S. 15–41. [Königshausen & Neumann]
III.2
Gab es eine mittelalterliche Ästhetik aus platonischer Tradition? [leicht verändert] = in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen, hg. v. Verena Olejniczak Lobsien u. Claudia Olk (Transformationen der Antike 2), Berlin, New York 2007, S. 19–42. [Walter de Gruyter]
III.3
Das dunkle Licht. Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik bei Dionysius Areopagita, Johannes Scotus Eriugena und Nicolaus Cusanus [unveröffentlicht]
III.4
Das platonische Erbe bei Meister Eckhart = in: Auf klassischem Boden begeistert. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. FS Jochen Schmidt, hg. v. Olaf Hildebrand u. Thomas Pittrof, Freiburg i. Br. 2004, S. 17–35. [Rombach Verlag]
III.5
Reden und Schweigen bei Meister Eckhart [unveröffentlicht]
III.6
Eckhart, Predigt 72 = „Predigt 72: ,Videns Iesus turbas‘“, in: Lectura Eckhardi II. Predigten Meister Eckharts, von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hg. v. Georg Steer u. Loris Sturlese, Stuttgart 2003, S. 111–137. [Verlag W. Kohlhammer]
III.7
Meister Eckhart und das ›Granum sinapis‹ = in: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS Johannes Janota, hg. v. Horst Brunner u. Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 73–92. [Max Niemeyer Verlag]
III.8
Transzendenzerfahrung in Bildern des Abschieds = in: Inszenierungen des Abschieds, hg. v. John Greenfield (Trends in Medieval Philology), Berlin, New York. [Walter de Gruyter; in Vorbereitung]
III.9
Gotteserfahrung bei Nicolaus Cusanus. Dargestellt aus der Perspektive der Analogieformel von der unähnlichen Ähnlichkeit = in: Nicolai de Cusa Opera Omnia. Symposium zum Abschluß der Heidelberger Akademie-Ausgabe, hg. v. Werner Beierwaltes u. Hans Gerhard Senger, Heidelberg 2006, S. 101–145. [Universitätsverlag C. Winter]
IV.1
Szenarien des heroischen Untergangs = in: 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und die Europäische Heldendichtung, hg. v. Alfred Ebenbauer u. Johannes Keller (Philologica Germanica 26), Wien 2006, S. 147–161. [Fassbaender]
IV.2
›Brandans Meerfahrt‹ und das Buch der Wunder Gottes = in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hg. v. Laetitia Rimpau u. Peter Ihering, Berlin 2005, S. 37–55. [Akademie Verlag]
524
Nachweise der Erstpublikation
IV.3
Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten oder Wie steht es um die Erzählkunst in den sogenannten Mären des Strickers? = in: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme, hg. v. Emilio Gonza´lez u. Victor Millet (Philologische Studien und Quellen 199), Berlin 2006, S. 9–27. [Erich Schmidt Verlag]
IV.4
Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter = in: Erotik, aus dem Dreck gezogen, hg. v. Johan H. Winkelman u. Gerhard Wolf (ABäG 59), Amsterdam, New York 2004, S. 67–90. [Rodopi]
IV.5
Kindheit und Spiel im Mittelalter. Vom Artusroman zum ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander = in: Kind und Spiel, hg. v. Jose´ Sa´nchez de Murillo u. Martin Thurner (Aufgang 3), Stuttgart 2006, S. 139–154. [Verlag W. Kohlhammer]
V.1
Ernst Penzoldt – der Freund des Theaters = in: Ernst Penzoldt – Kunst und Poesie. Ausstellung im Palais Stutterheim, 3. Mai bis 14. Juni 1992, hg. v. Gertraud Lehmann, Erlangen 1992, S. 163–180. [Junge & Sohn]
V.2
Nachruf auf Wolfgang Mohr (1907–1991) = „Zum Tod von Wolfgang Mohr“, Tübinger Universitätszeitung 50 (1992), S. 13f.
V.3
Nachruf auf Kurt Ruh (1914–2002) = „Kurt Ruh (1914–2002)“, ZfdA 132 (2003), S. 145–147. [Franz Steiner Verlag, Stuttgart]
V.4
Rede bei der Gedenkfeier für Richard Brinkmann (1921–2002) am 16. Juni 2003 [unveröffentlicht]
V.5
Rede zum 80. Geburtstag von Karl Bertau. Gehalten am 2. November 2007 in Erlangen [unveröffentlicht]
V.6
Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften = in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1992, Heidelberg 1993, S. 69–74. [Universitätsverlag C. Winter]
Herausgeber und Verlag danken den Verlagen für die Abdruckgenehmigung.
Register: Autoren – Werke – Stoffe [Autoren von Sekundärliteratur sind nur in denjenigen Fällen aufgeführt, in denen sie aus wissenschaftstheoretischer/-geschichtlicher (I.1, I.6) oder (auto-)biographischer Perspektive (Abt. V) in den Blick genommen werden. Die Anmerkungen sind insoweit berücksichtigt (Seitenzahl + A), als sie weitere inhaltliche Informationen zum jeweiligen Gegenstand liefern.]
Abailard 118, 263 Adam von St. Viktor 338 Alanus von Lille 263–266, 269, 354, 376, 425 Albertus Magnus 242, 271, 320A, 322A, 324A, 391A Albrecht von Scharfenberg, ›Jüngerer Titurel‹ 12, 56 Alcher von Clairvaux 322A, 329 ›Alexanderroman‹ 158, 412f., 426A, 429 ›Altes Atlilied‹ 409f. Ambrosius 292 Andre´, ›Romanz des Franceis‹ 98 Angelus Silesius 425 ›Annales Cambriae‹ 94 ›Annolied‹ 79 Anselm von Canterbury 15, 17f., 386A Anselm von Laon 118 Aristoteles, aristotelisch 3, 26, 34, 157, 173, 190, 252, 284, 286, 289, 310, 470 ›Aristoteles und Phyllis‹ 449, 462–464 Arnold, Gottfried 503 Arrian 414 Augustinus, augustinisch 23, 32, 48, 61f., 71, 101, 151–153, 190, 227, 230, 252, 254, 256, 286f., 287A, 288A, 289, 291f., 296, 314f., 318f., 320f., 322A, 324A, 326f., 327A, 330, 333, 367, 375A, 377, 383A, 425, 470 ›Augustinus und das Kindlein‹ 425 Avicenna 288, 288A, 307 ›Barlaamroman‹ 225 Barth, Karl 516 Bätscher, Theodor 516 Baumgarten, Alexander Gottlieb 251 Beda 96 Bellerophon-Mythos 453 Benedikt XVI. 14f. Benjamin, Walter 13 Benoıˆt de Sainte-Maure 36
›Beowulf‹ 67, 400, 406 Bernardus Silvestris 263 Bernhard von Chartres 7 Bernhard von Clairvaux 20, 48, 190, 233f., 242, 259, 292, 356f., 359, 373, 373A, 379 Bertau, Karl 74, 88, 507–512 Bruder Berthold 496 Bidermann, Jakob, ›Cenodoxus‹ 515 Billinger, Richard 484 Bloom, Harold 6, 76 Boccaccio, Giovanni 25, 29, 432, 436 Boethius 252, 286 Bonaventura 27, 48, 242f., 260, 371, 379, 496 Bonaventura (E. A. F. Klingemann), ›Nachtwachen‹ 503 Boor, Helmut de 74f., 509 Brandan-Legende 61, 212, 416–418, 420 ›Brandanreise‹ / ›Brandans Meerfahrt‹ 212, 416, 418–429 ›Branwen-Mabinogi‹ 407–411, 410A Breri 180, 185 Brinkmann, Richard 499–506 ›Buch von Taliensin‹ 95 Burckhardt, Jacob 4f. ›Die Burggräfin von Vergi‹ 449 Burkhart von Hohenfels 495 Caesarius von Heisterbach 93, 425 Caradoc von Llancarvan, ›Vita Gildae‹ 93 Chalcidius 252 Chaucer, Geoffrey 266 Chre´tien de Troyes, Chre´tienscher Roman 8, 21, 24, 31, 38, 41, 43f., 102, 105–107, 111f., 141, 147, 158, 164f., 175f., 178–180, 182, 191f., 196–198, 197A, 200f., 209, 213f., 216, 218, 467–469, 510 – ›Erec‹ 8f., 43, 103, 105, 115f., 116A, 119f., 126–131, 133f., 136, 142f., 148f., 158–167, 175–177, 191, 196f., 213f., 467
526 – ›Lancelot‹ (›Le Chevalier de la Charrete‹) 8, 93, 105f., 131–133, 135f., 139, 165, 168, 178, 192, 197f., 198A, 203 – ›Perceval‹ (›Le Conte du Graal‹) 8, 38, 104f., 116, 119A, 134–136, 165f., 168, 178, 192f., 196f., 200, 200A, 213f., 216, 218f., 467 – ›Yvain‹ 8, 11, 41f., 66, 103f., 129–131, 133, 135f., 145A, 146, 163–165, 167, 175, 177, 192, 197, 213f., 216, 219, 467 Cicero 34, 157, 172, 262f. Claudian 264 Cleland, John, ›Fanny Hill‹ 450 Colonna, Vittoria 241 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 54 CuChulainn-Sage 403, 405, 411, 413A, 453 Curtius, Ernst Robert IX, 516 Ps.-Cyprian 61f. Dante Alighieri 225, 266, 498 David von Augsburg, ›Die sieben Staffeln des Gebetes‹ 48–50, 242–245, 260, 379 Deleuze, Gilles 176, 184 Dennis, John 73 Descartes, Rene´ 14f., 18 ›Des Knaben Wunderhorn‹ 425 Diderot, Denis 53 ›Die Sieben Raben‹ 302 Dietrich-Sage 212, 400, 413 Dionysius Areopagita, dionysische Tradition 45, 47, 52f., 239–242, 246f., 255–262, 271f., 274–284, 289, 293, 298, 304, 318A, 332, 336f., 336A, 338, 341, 345, 350, 352, 355, 356A, 377f., 380, 382, 385, 387, 389A, 390, 391A, 392 ›Distinctiones monasticae‹ 476A ›Der dritte Mann‹ (›The Third Man‹) 515 Dürer, Albrecht 58 Eckhart 20, 29, 50–52, 82, 190, 246–250, 247A, 248A, 259, 281, 286–290, 293–301, 303–341, 343–348, 350–353, 367–370, 374f., 378, 380f., 393–395, 498 Eilhart von Oberg, ›Tristrant‹ 181 Elias, Norbert 5, 16f., 76, 86, 110, 112, 455, 462A Elsbeth von Oye 246A, 365A, 373 ›Eneas, Roman d’‹ 158 Engelbert von Admont 111A ›Estoire‹ 181 ›Ezzolied‹ 79 Ficino, Marsilio 283 Finnsburg-Sage 409
Register Fischer, Hanns 84 Flaubert, Gustave, ›Madame Bovary‹ 450 Fontane, Theodor 504–506 Frank, Bruno 487 Frauenlob 83f., 266, 507 Freud, Sigmund 454 Friedrich, Caspar David 72 ›Friedrich von Schwaben‹ 84 Froissart, Jean 470 Gadamer, Hans-Georg 76, 509, 516 Galfredus de Vinosalvo 33 Galfred von Monmouth 41, 92, 95–97, 100– 103, 107 ›Genesis‹ 14A, 32, 60f., 167, 286f. Georg-Legende 215 Gervasius von Tilbury 93 Gildas 94, 96 Ginzberg, Louis 60f. Giotto di Bondone 58 Giraldus Cambrensis 91f., 96 Godefroi von Leigni 165 Goethe, Johann Wolfgang 45, 54f., 72, 259, 489, 494, 503 ›Gold und Zers‹ 459f. Gorgo-Mythos 127 Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹ 24, 26, 35, 37, 40, 42f., 64–67, 74, 80A, 109, 111–113, 121, 121A, 126, 185f., 188–191, 194f., 266– 269, 467f., 494, 510 Graevenitz, Gerhart von 502 ›Graf Rudolf‹ 495 ›Granum sinapis‹ 338–353 Greenblatt, Stephen 7 Gregor der Große 48 Gregor von Nazianz 62 Gregor von Nyssa 47, 52, 232, 278f., 292, 372 Grimm, Jacob und Wilhelm 466 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 241, 255A, 271 Gryphius, Andreas 515 Guigo II. 48 Guillaume de Lorris / Jean de Meun, ›Roman de la Rose‹ 65, 458A Guillaume de Machaut 470A ›Guingamor‹ 413A Hadewijch 28, 78 Hadlaub, Johannes 83 Haimonskinder-Sage 449 Halbe, Max 483 Haller, Albrecht von 73A Harnack, Adolf von 14A Hartmann von Aue 103, 108f., 111, 147, 269, 494
Register – ›Der arme Heinrich‹ 208 – ›Erec‹ 41f., 116, 116A, 127, 142, 147–151, 154, 159 – ›Gregorius‹ 40f. – ›Iwein‹ 11, 22, 41, 66, 108, 118f., 121, 132, 145f., 151, 160A, 163A, 164, 218, 468, 494 Haubrichs, Wolfgang 75, 79 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 54 Heidegger, Martin 225 Heinrich von dem Türlin, ›Diu Croˆne‹ 12, 136– 139, 217–222 Heinrich von Mügeln 83 Heinrich von Neustadt 82, 84 Heinrich von Veldeke, ›Eneasroman‹ 36, 158 Heinzle, Joachim 75–88 Henricus Septimellensis 98 Herder, Johann Gottfried 72 Hermeias 253 Hesiod 157A Hieronymus 62 Hildebrand-Sage 413 ›Hildebrandslied‹ 498 Hilduin von St. Denis 45f., 241, 257, 279 Hippolytos 292, 372 Hofmannsthal, Hugo von 504 ›Hoheslied‹ 28, 233–235, 237, 242, 356–359, 362f., 365, 373 Hollier, Denis 87 Homer, homerisch 206, 256, 289 – ›Odyssee‹ 206, 412f. Horaz 112 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. 16 Horwitz, Kurt 481f., 515 Hugo von Montfort 83 Hugo von St. Viktor 242, 261, 261A, 271, 282, 291 Isaac de Stella 291 Isidor von Sevilla 34, 157, 262, 470 ›Iter ad Paradisum‹ 413f., 426A Jacobsen, Jens Peter 489 Jacobus de Voragine 425 Jacques de Longuyon, ›Les Voeux du Paon‹ 100f. Jamblich 253 Janota, Johannes 75, 80–87 Jauß, Hans Robert 4, 516 Jean de Meun 266; siehe auch unter Guillaume de Lorris Joachim von Fiore 198, 198A Johann von Würzburg, ›Wilhelm von Österreich‹ 84 Johannes Damascenus 293A
527 Johannes de Grocheo 111A Johannes Duns Scotus 15 Johannes Sarracenus 259 Johannes Scotus Eriugena, eriugenische Tradition IX, 46f., 54, 241f., 257–259, 261f., 262A, 266, 268, 279–284, 292, 339A, 372A, 377–381, 390, 392f. Johannes von Salisbury 25, 60, 173, 263, 270 Johannes von Tepl, ›Der Ackermann‹ 510f. Johnson, L. Peter 75, 79f., 87 Joyce, James, ›Ulysses‹ 450 Juan de la Cruz 48, 278, 380A Julian del Castillo 93 Kant, Immanuel 14A, 285 Kiaulehn, Walter 483 Kierkegaard, Sören 513, 516 ›King James-Bibel‹ 354, 375 Kleist, Heinrich von 303, 328 Knapp, Fritz Peter 82 ›König Rother‹ 79, 413 Konrad, ›Rolandslied‹ 36, 39, 79, 174, 211, 400 Konrad von Megenberg 82 Konrad von Würzburg – ›Partonopier und Meliur‹ 68f. – ›Trojanerkrieg‹ 111A Kreuzholzlegende 206 Krüger, Gerhart 501 Ktesias 414 Kuhn, Hugo 497, 499, 503, 510, 515–517 Kuhn, Thomas S. 6 ›Lancelot en prose‹ → ›Prosa-Lancelot‹ Landino, Cristoforo 33 Lanfranc 425 Langer, Otto 81 Laurentius-Legende 215 Layamon (Lawman) 96 Leibniz, Gottfried Wilhelm 72 ›Liber de causis‹ 252, 340A Brüder Limburg, ›Tre`s Riches Heures‹ 58A ›Livre d’Artus‹ 98f. Loomis, Roger Sherman 515 Lope de Vega 425 Lothar, Mark 489, 489A, 491A Luther, Martin 60–62, 250, 354, 376 Lydgate, John 93 Macrobius 263, 289 ›Maelduin-Imram‹ 212, 414–417, 420 ›Mag Tuired, Die Zweite Schlacht von‹ 463f. Maimonides, Moses 287, 287A Malory, Thomas 93 Mann, Thomas 485, 487, 499
528 ›Manuel und Amande‹ 98 Marguerite Porete 233f., 234A, 365–367, 512 Marius Victorinus 252 Marx, Karl 5 Maximus Confessor 47, 232, 279, 292, 309, 372, 372A May, Karl 513 Mechthild von Magdeburg, ›Das fließende Licht der Gottheit‹ 28f., 78, 233–237, 245, 359–365, 373, 495 Mendelssohn Bartholdy, Felix 490 Michelangelo Buonarroti 487 Mirabeau, Honore´-Gabriel de Riquetti de 53 Mohr, Wolfgang 494f. Mönch von Salzburg 83 Müller, Günther 501 ›Navigatio Sancti Brendani Abbatis‹ 416–418, 420, 423f., 428 Nennius, ›Historia Brittonum‹ 94, 96 Nestroy, Johann 491 ›Nibelungenlied‹ 10, 111A, 399–401, 403–406, 409–411, 410A Nicolaus Cusanus 29, 33, 50, 52–54, 58–60, 259, 283–285, 369, 380–395 Nietzsche, Friedrich 195, 403 ›Das Nonnenturnier‹ 459f. Notker III. von St. Gallen 35A Novalis 466, 504 Ohly, Friedrich 496 Olympiodor 253 Orff, Carl 489A, 490 Origenes 48A, 232f., 247, 291f., 295A, 309, 356, 372f. Ostervigil 195 Otfrid von Weißenburg, ›Evangelienbuch‹ 35, 412 Otranto, Fußbodenmosaik von 98f. Palissy, Bernard 59 ›Pan˜catantra‹ 25, 173 Panofsky, Erwin 515 Patinir, Joachim 58 Paulus, paulinisch 45f., 225, 227, 230–232, 235, 238f., 247f., 255, 257, 271, 279, 283, 292, 309, 324f., 330, 333, 354f., 369, 371, 372A, 373A, 374–376, 380, 393, 470A Peire Cardenal 98 Penzoldt, Ernst 481–493 ›Periplus Maris Erythraei‹ 414 Perseus-Mythos 405 Peter von Blois 111A Petrarca, Francesco 71
Register Petrus Alfonsi 437 Philo von Alexandrien 278 Pindar 157A Platon, platonisch-neuplatonische Tradition 34, 46–50, 52, 115, 157, 229–232, 236, 239– 241, 245, 250–261, 263–265, 268–270, 272– 284, 286–293, 295–299, 303, 331f., 336f., 340f., 345, 355f., 359, 361, 368, 379, 381, 383A Der Pleier, ›Garel von dem Blühenden Tal‹ 26, 41 Plotin, plotinisch 46f., 231, 251–255, 263, 272– 274, 283, 289, 331, 355 ›Der Prediger‹ 7, 32f. Proklos, proklisch 45f., 239f., 252–256, 259, 263, 266, 271–275, 283, 292A Properz 66 ›Prosa-Lancelot‹ (›Lancelot en prose‹) 36, 106f., 113f., 119, 121, 133, 165, 168–171, 196–209, 215, 401, 406A, 467 Radulphus Ardens 477A Raimund, Ferdinand 491 ›Rappoltsteiner Parzifal‹ 84 Raynaldo d’Arezzo 425 ›Reinfried von Braunschweig‹ 84, 412 ›Rhetorica ad Herennium‹ 34, 157, 172, 262 Richard von St. Viktor 20, 242f., 259f., 291, 379 Bruder Robert, ›Tristrams Saga‹ 187 Robert de Boron 197f., 198A, 207 Robert Grosseteste 281 Robert von Glouchester 93 ›Roland, Chanson de‹ 39, 174, 400f., 406, 406A ›Rolandslied‹ → Konrad ›Der Rosendorn‹ 459f. Rousseau, Jean-Jacques 54, 62, 227 Rudolf von Ems, ›Der guote Gerhart‹ 26, 179 Ruh, Kurt 74, 496–498, 508–510, 516 Runkelstein, Wandmalereien der Burg 100 Sachs, Hans 425 Savonarola, Girolamo 487 ›Schedelsche Weltchronik‹ 212 Schiller, Friedrich 227, 485, 488, 513 Schmidt, Martin Anton 516 Schnitzler, Arthur, ›Reigen‹ 450 Schröder, Werner 74 Schulz, Armin 84 ›Schwarzes Buch von Carmarthen‹ 95 Seuse, Heinrich 82, 249, 380 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of 73 Shakespeare, William 303, 488–493
529
Register ›Sieben weise Meister‹ 173, 302 ›Sir Gawain and the Green Knight‹ 69–71, 218 Solon 157A Sorokin, Vladimir Georgijewitsch 450 Spinoza, Baruch de 54, 72, 285 Steer, Georg 496 Strawinsky, Igor 514 Der Stricker – ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ 216–218 – Mären 430–445 Suchenwirt, Peter 82 Suger von St. Denis IX, 260–262, 281f. ›Die Sünderin‹ 451 Tanhuser 495 Tauler, Johannes 82, 249, 260, 356A, 380 Tempier, E´tienne 27 Theodul 63 Theokrit 62 Thomas de Cabham 111A Thomas Gallus 291 Thomas von Aquin 33, 50f., 242, 271, 281, 286, 320A, 324A Thomas von Cantimpre´ 425 Thomas von England, ›Tristran‹ 37, 66, 180– 189, 266 Thomasin von Zerclaere, ›Der welsche Gast‹ 35, 41, 111, 190 Thompson, Stith 515 ›Tkadlecek‹ 511 Trier, Jost 501 Tristan-Stoff 169, 180, 193, 202, 413, 468 Turgot, Anne-Robert Jacques 53 ›Ui Corra-Imram‹ 417, 420 Ulrich von Türheim, ›Rennewart‹ 470 Ulrich von Zatzikhoven, ›Lanzelet‹ 200A, 510 Vasari, Giorgio 59 Vergil – ›Aeneis‹ 158, 412f. – ›Eklogen‹ 62f., 475f.
Viktoriner 48, 292, 373A Vollmann-Profe, Gisela 75, 79 Voltaire 53f. Wace 41, 96, 101–103, 213A Wachinger, Burghart 516 Wagner, Richard 491 Walther-und-Hildegund-Sage 413 Walther von der Vogelweide 80, 473A, 475, 495 ›Wartburgkrieg‹ 93 Weber, Max 5, 15–17 Weiß, Richard 516 Wellbery, David E. 87 Wellek, Rene´ 75 ›Wiener Genesis‹ 67, 211A Wilder, Thornton 488 Wilder Alexander, ›Erdbeerlied‹/›Kindheitslied‹ 470–477 Wilhelm von Conches 263 Wilhelm von Moerbeke 252 Wilhelm von Ockham 29, 81 Wilhelm von St. Thierry 48, 50, 233f., 244, 291, 356, 358f., 373 William von Malmesbury 96 William von Newburgh, ›Historia Regum Anglicarum‹ 96 Wirnt von Gravenberc, ›Wigalois‹ 11, 214f., 214A Wittenwiler, Heinrich, ›Der Ring‹ 26, 503 Wittgenstein, Ludwig 301 Wolfram von Eschenbach 26, 38f., 43, 66A, 74, 105, 111, 269, 494, 510 – ›Parzival‹ 10f., 23f., 38f., 43, 105, 112f., 112A, 117, 119f., 120A, 136, 150–156, 165, 167f., 171, 178, 192–194, 197, 208, 269, 467, 474A, 494 – ›Titurel‹ 194f. – ›Willehalm‹ 38f. Xenophanes 157A
Bildnachweise
Abb. S. 99: Zürcher Hochschule der Künste, Medien- und Informationszentrum MIZ – Archiv Fotografie: Fachklasse für Fotografie, Ausstellungsstr. 60, CH-8005 Zürich Abb. S. 446–449, S. 458, S. 462: Stichting Middeleeuwse Religieuze en Profane Insignes / Medieval Badges Foundation, Gooyerdijk 43, NL-3947 NB Langbroek