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German Pages [280] Year 2014
Claudia Ulbrich
Verflochtene Geschichte(n) Ausgewählte Aufsätze zu Geschlecht , Macht und Religion in der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Andrea Griesebner , Annekathrin Helbig , Michaela Hohkamp , Gabriele Jancke , Claudia Jarzebowski und Sebastian Kühn
2014 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung des Friedrich-Meinecke-Instituts am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin , der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien , der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung der Freien Universität Berlin und von KollegInnen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung : Lucas Cranach d.Ä., Frauen vertreiben Geistliche ( Ausschnitt ), Federzeichnung , um 1537 , Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
© 2014 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG , Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1 , A-1010 Wien , www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung : Michael Haderer , Wien Satz : Carolin Noack , Wien Druck und Bindung : Finidr , Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79632-9
Inhalt Verflochtene Geschichte( n ). Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Grenze als Chance ? Bemerkungen zur Bedeutung der Reichsgrenze im Saar-Lor-Lux-Raum am Vorabend der Französischen Revolution. . . . . . . . 46 Die Jungfrau in der Flasche. Ländlicher Traditionalismus in Deutschlothringen während der Französischen Revolution. . . . . . . . . . . 55 „Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Die Heggbacher Chronik. Quellenkritisches zum Thema Frauen und Bauernkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Eheschließung und Netzwerkbildung am Beispiel der jüdischen Gesellschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet. . . . . . . . . . . . . . . 99 Von der Amazone zur Mutter Courage. Zu den Lebenserinnerungen der Regula Engel. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Untergrombacher Bundschuh 1502. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschlechterrollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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„Hat man also bald ein solches Blutbad , Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehen , daß mich solches jammert wider zu gedenken …“. Religion und Gewalt in Michael Heberers von Bretten „Aegyptiaca Servitus“ ( 1610 ). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schreibsucht? Zu den Leidenschaften eines gelehrten Bauern. . . . . . . . . .
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Familien- und Hausbücher im deutschsprachigen Raum. Ein Forschungsüberblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Gemeinde : Politische Gemeinde , Pfarrgemeinde. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung. . . . . . . . . . . . . . .
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Tränenspektakel. Die Lebensgeschichte der Luise Charlotte von Schwerin ( 1731 ) zwischen Frömmigkeitspraxis und Selbstinszenierung. . . . . . . . . .
252
Erscheinungsnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftenverzeichnis Claudia Ulbrich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verflochtene Geschichte(n). Einführung Katharina Legendre war eine „arme Witwe“ aus Steinbiedersdorf – so jedenfalls wird sie von ihren Anwälten beschrieben , die sie in ihren vielfältigen Rechtsstreitigkeiten unterstützten. Dabei stellten sie z. T. sehr umfangreiche und grundsätzliche Überlegungen über die „rechte Ordnung“ an. Das Erbe allerdings an himmelblauen Kleidern und die Frage , wer sie tragen dürfe und was das bedeute , beschäftigten zwar Katharina Legendre , kaum aber ihre Anwälte. Die gegnerischen Advokaten beschrieben sie wiederum als „übellästiges Weib“, ganz das Gegenteil der Schilderung ihrer Anwälte. Was wissen wir von Katharina Legendre über diese Beschreibungen hinaus ? Diese stritt nicht nur mit der Familie ihres Schwiegersohns , sondern auch mit ihren Gläub igern , vor Gericht , auf der Straße wie in der Kirche. Die Kirchenstrafe ( vier Pfund Kirchenwachs ) akzeptierte sie , deutete sie aber um als Beitrag zum Seelenheil ihrer Vorfahren.1 Sehr verschiedene Perspektiven erscheinen hier auf eine scheinbar ganz unbedeutende Frau eines scheinbar unbedeutenden Dorfes im Grenzland zwischen Deutschland und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts. Dieses Beispiel ist aber instruktiv für viele grundsätzliche Fragen und Probleme der frühneuzeitlichen Geschichte : Geschlechterordnung , Justiznutzung , Konflikt und Ehre , Haus und Dorf , Ständeordnung , Rechtsordnung , Herrschaftsverhältnisse , Religion , Verwandtschaft und Erbe – all diese Aspekte sind angesprochen. Sie erschließen sich erst in ihrem Zusammenhang über ein solches Beispiel. Verflochtene Geschichte( n ) – dieser Titel verweist nicht so sehr darauf , dass im Folgenden verschiedene Aufsätze zu unterschiedlichen Themen zusammengefasst werden. Er verweist gleichzeitig auch auf grundsätzlichere Anliegen , die – unserer Ansicht nach – die historiografische Arbeit von Claudia Ulbrich durchziehen. Ihre Arbeiten lassen sich kaum einer bestimmten historiografischen Richtung , einem Zugang , einem Etikett oder auch nur bestimmten Themenrichtungen eindeutig zuordnen. Religiöse Lebenswelten , Bauernkrieg , ländliche Gesellschaften und bäuerlicher Widerstand , Geschlechterforschung , jüdische Geschichte , Denunziationsforschung , Gewaltforschung , Selbstzeugnisforschung , Französische Revolution oder die Thematisierung von Grenzen – in ihren Arbeiten zu allen diesen Gebieten überschneiden sich die Themen und Zugänge. Und das ist kein Zufall , weil diese Themen und Zugänge , wie Claudia Ulbrich immer wieder aufzeigt , notwendig miteinander verknüpft sind. Geschlechterforschung ohne die Thematisierung von ständischer Gesellschaft lässt sich ebensowenig sinnvoll betreiben , wie die Erforschung von Religion und Konfession ohne die Thematisierung von verwandtschaftlichen und geschlecht1 Claudia Ulbrich : Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ( Aschkenas , Beiheft 4 ), Wien / Köln / Weimar 1999 , S. 89–103.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n )
lichen Zusammenhängen. Denn die historischen Lebenswelten wie die historiogra fischen Kategorien sind aufeinander bezogen und können nicht getrennt voneinander gedacht werden. Eines der Merkmale der Arbeiten von Claudia Ulbrich ist daher auch die Verweigerung der Formulierung vermeintlich starker Thesen , die diese komplexen Zusammenhänge nicht greifen können. Stattdessen werden analytische Kategorien miteinander verknüpft und dabei als Hauptkategorien hinterfragt – die einfachen Gegensätze ( Mann / Frau , oben / unten , jüdisch / christlich , innen / außen , ein- / ausgeschlossen , politisch / privat , sakral / weltlich ) werden zugunsten einer relationalen Geschichtsschreibung verabschiedet. Der Titel „Verflochtene Geschichte( n )“ verweist damit auch auf eine andere , neue Art von Geschichtsschreibung , die sich den großen Meistererzählungen entzieht. Neben modernisierungstheoretischen Konzepten hinterfragt Claudia Ulbrich auch alternative Konzepte , etwa die der Ausbeutung und Unterdrückung der Marginalisierten und Vergessenen , wenn dadurch Frauen , Bauern oder Personen jüdischen Glaubens homogenisiert werden. Stattdessen wird das scheinbar Partikulare in den Vordergrund gerückt , um von da aus nicht nur einfach Geschichten zu erzählen ( denen der Vorwurf des Partikularismus gemacht werden könnte ), sondern um Geschichte( n ) zu schreiben , die sich eben nicht nur im Singular verstehen lässt.2 Die vielen einzelnen Partikularitäten verbinden sich miteinander zu größeren Zusammenhängen , ohne dass man von ihnen ( den Partikularitäten ) abstrahieren und sie auf den Begriff , eine Tendenz , eine Entwicklung bringen könnte und müsste. Geschichte( n ) lässt sich nicht reduzieren auf einen oder wenige Hauptaspekte , sondern , so eine Erkenntnis der Arbeiten von Claudia Ulbrich , die Pluralität und Konflikthaftigkeit zumindest der frühneuzeitlichen Gesellschaft muss systematisch in Rechnung gestellt werden. Es ist aber eine Geschichtsschreibung vom Partikularen aus , die dort den Ort von Geschichte( n ) sieht und daher auch nicht zu vermeintlich „großen“ Fragen strebt. Diese Geschichtsschreibung zielt wieder auf die grundsätzliche Relevanz des Partikularen in Vielfalt ab. Und so stehen etwa auch die ganz unterschiedlichen Deutungen des Handelns der Katharina Legendre nebeneinander , oder besser : Sie stehen im Konflikt zueinander. Das ist nun selbst wieder sehr , vielleicht zu abstrakt formuliert. Denn in den Arbeiten von Claudia Ulbrich wird kein Programm beschrieben oder behauptet. Immer wieder führt sie auf eindrückliche Weise exemplarisch , empirisch gesättigt , quellen2 Nach Reinhart Koselleck : Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte , in : Ders. : Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten , Frankfurt / M. 1989 , S. 38–66 , wird Geschichte seit der „Sattelzeit“ singularisch verstanden , und dieses Prinzip scheint auch heute das vorherrschende zu sein. Geschichte( n ) reformuliert dahingegen nicht einfach den vormodernen Begriff von Geschichten im Plural , sondern trägt sowohl diesem Denken als auch postmodernen und globalen Verhältnissen Rechnung.
Verflochtene Geschichte(n). Einführung
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nah , methodisch reflektiert und theoretisch inspiriert vor , wie diese Geschichte( n ) geschrieben werden kann. Dies setzt nicht nur eine intensive Arbeit mit historischen Quellen voraus , sondern auch , dass die oft aufwändige Recherche und die Analyse von Quellen ernst genommen werden. Das Herausarbeiten der vielen Stimmen , die in den – aus meist einer einzigen ( oft herrschaftlichen ) Perspektive geschriebenen – Quellen stecken , ist der Endpunkt einer Grundeinstellung , die zunächst einmal die Ungewissheiten betont , die das Verständnis der Quellen immer wieder begleiten. In diesem Zusammenhang stehen dann die Beschäftigungen auch mit Quelleneditionen.3 V. a. aber ist immer wieder die methodische Reflektion wichtig , wie man mit diesen Quellen umgehen kann. Gerade Claudia Ulbrichs Forschungen über Gerichtsquellen , Selbstzeugnisse und Chroniken waren und sind unter diesem Gesichtspunkt wegweisend.4 In theoretischer Hinsicht sind ihre Arbeiten zunächst einmal von der klassischen Sozialgeschichte inspiriert , ergänzt aber um neuere und neueste Felder der Theorieund Methodenbildung. Neben der history from below sind hier zu nennen die Geschlechtergeschichte , die historische Anthropologie , die Mikrogeschichte , aber auch bestimmte Richtungen von Soziologie und Ethnologie. Theorie wird von Claudia Ulbrich aber nie als Selbstzweck verstanden – weshalb man in ihren Arbeiten auch keinen epigonalen Jargon finden wird –, sondern als Teil eines Argumentationszusammenhangs , der von der Empirie ausgeht und diese zu durchdringen versucht. Die Praxis , wie Geschichte( n ) im Vollzug von ganz unterschiedlichen AkteurInnen gemacht wird , bleibt stets im Zentrum. Theoretische Überlegungen dienen dazu , andere Zugänge zu Quellen und Phänomenen zu erlangen , Probleme zu erkennen und neue Fragen zu stellen. Vielleicht aus diesem Grund findet man , neben Verweisen auf Judith Butler , Joan W. Scott , Pierre Bourdieu , Charles Taylor u. a. in erster Linie Bezüge zu anderen 3 Une conversion au XVIIIe siècle. Mémoires de la comtesse de Schwerin , hg. von Maurice Daumas / Claudia Ulbrich , unter Mitarbeit von Sebastian Kühn / Nina Mönich / Ines Peper , Bordeaux 2013. Wilhelm Ignatius Schütz , Ehren=Preiß / des hochlöblichen Frauen=Zimmers – Johann Gorgias , Gestürzter Ehren=Preiß / des hochlöblichen Frauen=Zimmers ( Historia Scientiarum ), hg. von Marion Kintzinger / Claudia Ulbrich , Hildesheim u. a. 2003. 4 Von den zahlreichen Aufsätzen zu Selbstzeugnissen und Chroniken ( vgl. das Schriftenverzeichnis am Ende dieses Bandes ; in diesem Band v. a. die Aufsätze Heggbacher Chronik , Von der Schweizer Amazone zur Mutter Courage , und Familien- und Hausbücher im deutschsprachigen Raum ) sind v. a. zu nennen Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich : Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung , in : Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung (= Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung , Bd. 10 ), hg. von Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich , Göttingen 2005 , S. 7–27 ; Claudia Ulbrich : Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts , in : Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 2 ) , hg. von Winfried Schulze , Berlin 1996 , S. 207–226.
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HistorikerInnen , die so gearbeitet haben und arbeiten : vor allem Natalie Zemon Davis , E. P. Thompson , Hans Medick , David Sabean und Alf Lüdtke sind hier zu nennen. Wichtig in allen Arbeiten ist eine Konzentration auf Akteursgruppen , die tradi tionell als „Marginalisierte“, „Ausgeschlossene“, „Vergessene“ zählen und immer noch , trotz vielfältiger Forschungen in diesen Bereichen , eher als Objekte , denn als Subjekte von Geschichte( n ) behandelt werden : Leibeigene , ländliche Bevölkerungen , Frauen , Juden. In den Arbeiten von Claudia Ulbrich werden sie zu selbstbewusst handelnden Subjekten ihrer eigenen Geschichte( n ), mit eigenen Meinungen , eigenen Interessen , eigenen Bedürfnissen , eigenen Strategien. Dafür waren sie fähig und bereit – und das zeigt Claudia Ulbrich in ihren Arbeiten immer wieder –, in Konflikten zu leben. „Das Nebeneinander verschiedener , teils komplementärer , teils widersprüchlicher Prinzipien verweist auf eine Ordnung , die in Pluralität begründet ist. Sie ermöglichte den Menschen , flexibel auf Veränderungen zu reagieren , forderte ihnen aber auch ein hohes Maß von Konfliktfähigkeit ab.“5 Diese Konflikthaftigkeit bestand durchaus auch innerhalb dieser sehr heterogenen Gruppen. Sie dürfen daher nicht idealisiert und homogenisiert werden , und eben auch und gerade nicht als Marginalisierte. Auch Bauern und Bäuerinnen , Juden und Jüdinnen , so untergeordnet und abhängig manche von ihnen gewesen sein mögen , verfügten über Macht , übten Herrschaft aus , waren vielleicht ungerecht , hatten einen EigenSinn. Sie können nicht mehr als passive Opfer und ErdulderInnen eines Geschehens begriffen werden , auch nicht als alternative Bezugspunkte einer alternativen Geschichte , sondern nur als vielfältige AkteurInnen jeweils anderer Geschichte( n ), die miteinander konfliktreich lebten. Die Kollektivpersonen Frau , Jude , Bauer etwa , denen agency nur dank ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe zugesprochen wurde , werden damit verabschiedet , um stattdessen die Personen in vielfältigen Kontexten zu verankern und dort ihre Handlungsfähigkeit zu verorten , ohne in einen methodischen Individualismus zu verfallen6. Daher ist es Claudia Ulbrich in ihren Arbeiten auch immer wieder ein ganz zentrales Anliegen , die jeweiligen Handlungsspielräume auszuloten. Mikrohistorisch inspiriert , lässt Claudia Ulbrich Geschichte( n ) nicht nur von AkteurInnen gestalten , sondern geht von ihnen aus. Durch diese Akteurszentrierung ist auch keine Trennung in die unterschiedlichen historiografischen Gegenstandsbereiche möglich , wie sie entsprechend der getrennten Funktionsbereiche moderner Gesellschaften auch in der Geschichtswissenschaft ausdifferenziert worden sind : Sozial- , Wirtschafts- , Politik- , Religionsgeschichte , Geschichte der Emotionen , der Sexualität , der Gewalt etc. … All diese Bereiche und Themenfelder greifen in den Arbeiten 5 Ulbrich : Shulamit und Margarete ( s. Anm. 1 ), S. 183. 6 Siehe grundsätzlich zum Problem des Individualismus Jancke / Ulbrich : Vom Individuum zur Person ( s. Anm. 4 ).
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von Claudia Ulbrich ineinander. Sie bedingen einander und sind daher nicht losgelöst voneinander zu analysieren. Dieser Ansatz der Arbeiten von Claudia Ulbrich wäre möglicherweise auch eine Anregung für die Gesellschaftsanalyse moderner Gesellschaften. Denn in allen Arbeiten werden mit mikrohistorisch inspiriertem Zugang Aussagen zur Meso- und Makroebene gemacht. Das zeigt sich u. a. darin , dass von einzelnen AkteurInnen ausgehend ganz unterschiedliche Handlungsräume erschlossen werden : Haushalte , Nachbarschaften , politische und religiöse Gemeinden , Regionen , Herrschaftsräume bis hin zum Heiligen Römischen Reich und darüber hinaus zur globalen Ebene. Gesellschaften werden so nicht vom Staat oder der Obrigkeit her analysiert. Sie werden gedacht in Verflechtung und Überlagerung dieser unterschiedlichen Handlungsräume. Welche veränderten Perspektiven auf Geschichte ermöglicht ein solcher Zugang ? Wir meinen , er ermöglicht einen neuen Blick auf Gesellschaften und deren Funktionsweisen , auf Kulturen und deren Geschichte( n ). Im besten Sinne des Wortes werden so „dezentrierte Geschichten“ ( Natalie Z. Davis ) möglich.7 Dabei war und ist es ein Anliegen Claudia Ulbrichs , transkulturell zu arbeiten – anders allerdings , als dieser mittlerweile modisch gewordene Begriff suggeriert. Denn transkulturelle Zugänge sollten nicht nur scheinbar feste Großkulturen vergleichen ( und damit weiter festschreiben ), sondern genau diese ( meist impliziten ) Gewissheiten kultureller Homogenität auflösen. Und so nimmt sie viele „Kulturen“ innerhalb dessen an , was allzu häufig als eine Kultur vorausgesetzt wird : Europa , das Reich , eine Region , eine Dorfgemeinde … Das Transkulturelle bezieht sich dann sowohl auf Differenzen im vermeintlich Eigenen als auch auf eine Arbeitsweise , bei der solche Differenzen immer mit berücksichtigt sind , ja ganz gezielt zum Gegenstand des Fragens gemacht werden. Wenn es immer wieder um die Praktiken und Interaktionen der unterschiedlichen historischen AkteurInnen und um ihre Handlungslogiken geht , dann werden von dieser mikrohistorisch inspirierten Kulturgeschichte aus unterschiedliche , von vielen Konflikten durchzogene kulturelle Geflechte rekonstruiert. Transkulturalität in einer solchen Arbeitsweise ist dann auch anschlussfähig an weitere Forschungen im globalen Rahmen , wie sie etwa in der DFG-Forschergruppe Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive durchgeführt wurden.8 Diese Arbeitsweise , transkulturell im implizit Eigenen zu arbeiten , ist zugleich eine methodische Voraussetzung , um überhaupt erst unterschiedliche Geschichte( n ) rekonstruieren zu können. Denn hier 7 Natalie Zemon Davis : Dezentrierende Geschichtsschreibung. Lokale Geschichten und kulturelle Übergänge in einer globalen Welt , in : Historische Anthropologie 19 ( 2011 ), S. 144–156. 8 Vgl. etwa Les écritures de soi dans une perspective transculturelle. Pistes de recherche en Allemagne , in : Les écrits du for privé en Europe du Moyen Age à l’époque contemporaine. Enquêtes , analyses , publications , hg. von Jean-Pierre Bardet / Elisabeth Arnoul / François-Joseph Ruggiu , Bordeaux 2010 , S. 81–89.
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werden die Identifizierungen aufgebrochen , die , mitunter explizit , häufig implizit , zwischen HistorikerInnen und ihren Gegenständen – z. B. bestimmten Akteursgruppen , historischen Räumen etc. – stattfinden. Die historischen Erkenntnisgegenstände werden ständig angeeignet und verfremdet , das Verhältnis zu ihnen ist in Bewegung und wird als ein mehrperspektivisches laufend rekonstruiert und in Frage gestellt. Die wissenschaftlichen Arbeiten von Claudia Ulbrich durchzieht die Beschäftigung mit ländlichen Gesellschaften. In Arbeitszusammenhängen v. a. mit Renate und Peter Blickle entstanden so nicht nur die größere Arbeit zur Leibherrschaft am Oberrhein , sondern auch weiterführende Forschungen zum Bauernkrieg und zu bäuerlichem Widerstand. Nachdem in einem verbreiteten Handbuch noch bis in die 1970er Jahre deklariert wurde , dass mit „der Niederlage im Bauernkrieg [ … ] der Bauer für fast drei Jahrhunderte aus dem Leben unseres Volkes“ ausschied ,9 trugen diese Forschungen Claudia Ulbrichs mit dazu bei , dass ein neues Licht auf die Konflikthaftigkeit der Herrschaftsverhältnisse in ländlichen Gesellschaften geworfen werden konnte. Claudia Ulbrich interessierte sich aber nicht nur für „den“ Bauern , sondern sehr bald für andere ländliche BewohnerInnen und die Differenzen innerhalb dieser Gesellschaften. Vor allem ihre Arbeiten zu Bauersfrauen , Mägden , Witwen , Töchtern etc. differenzieren nicht einfach nur das Bild , sondern bieten neue Perspektiven auf Machtverhältnisse , Herrschaftstechniken , Vorstellungswelten und Alltagspraktiken dieser konfliktreichen Gesellschaften. Einige Aufsätze in diesem Band können diesem Themenbereich zugeordnet werden. Unartige Weiber etwa fragt danach , wie Frauen überhaupt in den Quellen sichtbar werden ; der Untergrombacher Bundschuh thematisiert die Bedeutung der Zuschreibung als Rebellion oder Widerstand ; die Heggbacher Chronik stellt die methodische Frage nach dem Quellenwert und der Bedeutung , wenn in einer Chronik Frauen eine Rolle im Bauernkrieg zugeschrieben wird ; „Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ schließlich wirft das Problem kultureller Bedingtheit von Handlungsmustern generell auf , um die Kategorien des Weiblichen und Kriminellen zu hinterfragen. Die Beschäftigung mit ländlichen Gesellschaften zieht sich aber weiter – zeitlich hin bis zur Französischen Revolution , thematisch nun noch stärker mit geschlechtergeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Aspekten verknüpft. Es bleibt die Grundannahme , dass Gesellschaften nur in Konfliktfähigkeit , in Aushandlung von Machtverhältnissen geschaffen werden. Die grundlegende Monografie dazu , Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhundert , erschien erstmals 1994 , weitere Perspektiven werden durch zahlreiche Aufsätze vertieft. Jüdische Lebenswelten zeigen sich vielfältig verflochten mit denen ihrer christlichen Nachbarschaften ; die französische Revolution hatte weitreichende Auswirkungen auf die Vorstellungswelten auch der ländlichen Bevölkerung – allerdings an9 Günther Franz : Der deutsche Bauernkrieg , Darmstadt 101975 ( 1933 ), S. 299.
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ders , als revolutionär oder traditionalistisch inspirierte Ansichten suggerieren. Auch die Bedeutung von Grenze verschob sich , nicht allerdings der sehr pragmatische Umgang damit , das Ausloten der Handlungsspielräume. In all diesen Arbeiten wird nun die Kategorie des Raumes stark gemacht und gerade in ihrer Differenzierung für die Analyse der Handlungsspielräume wichtig – seien es die jüdischen Netzwerke über Eheschließungen oder die Verflechtungen von politischer und religiöser Gemeinde ( häufig zugleich lutherischer , kalvinistischer , katholischer , jüdischer ). Der Themenbereich der Selbstzeugnisse umfasst thematisch ganz unterschiedlich ausgerichtete Arbeiten – von Gewalt und Religion über Tränen und Emotionen im Zusammenhang einer Konversion bis hin zur Schreibsucht eines gelehrten Bauern , von Gerichtsdokumenten über Hausbücher bis zum Konversionsbericht , von Personkonzepten bis zu transkulturellen Perspektiven –, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Neben einer Quellenedition , der HerausgeberInnentätigkeit für verschiedene Sammelbände , für Zeitschriftenhefte und Buchreihen und der von Claudia Ulbrich initiierten und geleiteten DFG-Forschergruppe Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive sind zahlreiche Aufsätze entstanden , von denen für den vorliegenden Band fünf ausgewählt wurden. Die Auswahl erfolgte entlang der vorherrschenden Thematik : etwa Gewalt und Religion bei dem Reisebericht des gelehrten Reisenden Michael Heberer , Tränen und ihre religiösen Bedeutungen im Konversionsbericht der Gräfin von Schwerin oder die Schreibsucht eines gelehrten Bauern bei Autobiographie und Tagebüchern des Kleinbauern Ulrich Bräker. Gemeinsam ist den Artikeln , dass es Claudia Ulbrich immer auch um die Frage des Textes geht , um die Gattung , um Schreibmuster und um die Einflüsse der Schreib- und Kommunikationssituation auf die jeweils formulierte Perspektive. Bei den vielen Editionen der Lebensbeschreibung von Regula Engel etwa ergibt sich schließlich die Frage , ob in irgendeinem dieser gedruckten und durch Herausgeber erkennbar stark bearbeiteten Werke überhaupt noch Regula Engels eigene Perspektive sichtbar wird und wie auf einer solchen Grundlage noch wissenschaftlich gearbeitet werden kann. Dies ist nur eine der von Claudia Ulbrich als Ergebnis ihrer Arbeit gestellten ganz grundsätzlichen Fragen : Ein Problem wird benannt , das der weiteren Forschung neue Perspektiven erschließt. Andere Arbeiten machen die Gattung zum Thema : im Falle von Hausbüchern auch im Vergleich unterschiedlicher Hausbuch-Traditionen in verschiedenen europäischen Ländern , im Falle von vor Gericht entstandenen Texten mit dezidiertem Verweis darauf , dass diese „Egodokumente“ als „Konstrukt[ e ] eines Anderen“ gelesen werden müssen10. Ergebnis der historischen Forschungen von Claudia Ulbrich sind oft ganz grundsätzliche Fragen , die weiteren Forschungen neue Dimensionen eröffnen. So auch , wenn sie grundsätzliche Fragen der in Selbstzeugnissen verhandelten Personkonzepte und 10 Ulbrich : Zeuginnen und Bittstellerinnen ( s. Anm. 4 ), S. 212.
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transkulturelle Perspektiven entfaltet ,11 so dass sich eine komplexe Sicht auf diese vielfältige Quellengruppe ergibt : Diese Quellen werden in jedem einzelnen Fall zur minutiösen Rekonstruktion verflochtener Geschichte( n ) genutzt – Lehrstücke für die Verknüpfung von thematischer , methodischer und theoretischer Arbeit. Mit dieser für jeden einzelnen Text eigens zu leistenden Kontextualisierung werden Selbstzeugnisse zu wichtigen Quellen einer mikrohistorisch arbeitenden historischen Anthropologie. Die für diese Publikation ausgewählten Aufsätze sollen einen Überblick über Claudia Ulbrichs verschiedene Forschungsthemen geben. Gleichzeitig lassen sie sich als Beispiele für ihre methodischen und theoretischen Arbeitsweisen lesen. So können sie eine Einführung in das von ihr praktizierte Schreiben von verflochtener Geschichte( n ) bieten und vielfältige Anregungen für weitere Forschungen geben , die an methodisch und theoretisch reflektierter Geschichtsschreibung interessiert sind. Ausgewählt wurden Aufsätze , die uns besonders wichtig scheinen. Nicht aufgenommen wurden Arbeiten , die sie in Zusammenarbeit mit anderen geschrieben hat , auch wenn dies einen großen und wichtigen Teil ihrer wissenschaftlichen Arbeit ausmacht. Einige wichtige Aufsätze wurden zugunsten mehrerer kürzerer Texte nicht aufgenommen ; andere sind noch gut zugänglich oder bereits in einem Wiederabdruck verfügbar. Die Aufsätze sind in einfacher chronologischer Reihenfolge angeordnet – jede Aufteilung nach Themen , AkteurInnen- oder Quellengruppen , methodischen oder theoretischen Gesichtspunkten würde dem für jeden einzelnen Aufsatz charakteristischen Verflechten dieser Aspekte nicht gerecht werden. Am Schluss des Bandes findet sich eine vollständige Publikationsliste , so dass von jedem Aufsatz ausgehend auch die zugehörigen Arbeiten leicht auffindbar sind. Die HerausgeberInnen
11 Claudia Ulbrich : Person and Gender : The Memoirs of the Countess of Schwerin , in : German History 28 ( 2010 ), S. 296–309 ; ead. : Vers une histoire transculturelle des écrits du for privé , in : Les usages des écrits du for privé , hg. von François-Joseph Ruggiu , Bern / Berlin / Frankfurt / M. u. a. 2013 , S. 25–34.
Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland I. „… gleichwie nit ruhmlich ist einem Mann , wan er sich nit verhaltet gegen seinem Weib mit Lieb , also ist hochsträfflich das Weib , wann es sich zu vil anmasset , zu maisterloß , zu aigensinnig erzaiget , wie jener Mann erfahren , dessen Weib bey dem Fluß wolt Wasser schöpfen , schlipfert mit einem Fueß , fallet hinein und ertrinckt , der Mann höret die traurige Freuden Post , gehet hinauß sein liebes Weib zu suchen , geht aber gegen dem Fluß auffwerts , einer fragt jhn , was er suche ? Ey das Wasser hat mir mein Weib weggetragen , da such ich. Bist nit ein Narr , sagt der , du must abwerts gehn und suchen , sie ist ja nit gegen dem Fluß auffwerts geronnen ? Ey , sagt der Mann , was waist du darumb ? Du hast mein Weib nit gekennt , sie hat jhr Lebenlang einen aigensinnigen Kopf gehab , und das Widerspil gethan , wann ich befolchen , mach Feur auff , hat sie Wasser geholet ; wann ich hab Wasser begehrt , hat sie zum Feur gesehen , sie wird in einem Augenblick jhren Kopff nit verändert haben , sie ist gewiß auffwerts geschwummen.“1
Die Geschichte von der Frau , die ihr Leben lang so widerspenstig war , dass sie noch nach dem Ertrinken gegen den Strom schwamm , ist ein geläufiger Topos aus dem Motivbereich des ‚bösen Weibes‘.2 Volkserzählungen haben ihn in zahlreichen Varianten bis ins 18. Jahrhundert hinein überliefert.3 Nicht jeder verstand es , den Stoff so lebendig zu vermitteln wie der Kapuzinerprediger Conrad von Salzburg , der mit seiner plastischen Schilderung die Gläubigen für wenige Augenblicke in eine andere Welt führt. Sie verlassen die Kirche , jenen Raum , in dem man üblicherweise eher ernst und andächtig ist , und gehen zum Fluss , um dem Dialog zweier Männer zu folgen. Hier , am Fluss , sind die geltenden Moral- und Wertvorstellungen der Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Die Traurigkeit des Todes ist aufgehoben , stellt er doch zugleich für den Mann 1 Conrad von Salzburg : Fidus Salutis Monitor , … Treuer Heyls-Ermahner … Predigen auf alle Sonntäg … 1. Jahrgang ( Salzburg 1683 ), S. 59 f , zit. n. Elfriede Moser-Rath : Das streitsüchtige Eheweib. Erzählformen des 17. Jahrhunderts zum Schwanktyp ATH 1365 , in : Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 10 ( 1959 ), S. 40–50 , hier S. 43. 2 Franz Brietzmann : Die böse Frau in der Litteratur des Mittelalters , Berlin 1912 , bes. S. 120 ff ; Rudolf Schmidt : Die Frau in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts , Straßburg 1917 ; Elfriede MoserRath ( Hg. ): Predigtmärlein der Barockzeit. Exempel , Sage , Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes , Berlin 1964 ; Dies. : Das streitsüchtige Eheweib ( s. Anm. 1 ), S. 40 ff ; Alfred Kind / Eduard Fuchs : Die Weiberherrschaft in der Geschichte der Menschheit , München 1913 ; Eduard Fuchs : Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart , Bd.1 Renaissance , München 1909 , bes. S. 270 ff. und TB Ausg. ( 1985 ) S. 256 ff ; Konrad Hoffmann : Cranachs Zeichnungen ‚Frauen überfallen Geistliche‘ , in : Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 26 ( 1972 ), S. 3–14. 3 Moser-Rath : Das streitsüchtige Eheweib ( s. Anm. 1 ), S. 40 ff.
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eine Erlösung dar , die Befreiung von seinem ‚lieben‘ Weib. Das liebe Weib aber ist in Wirklichkeit eine Furie , und wer mit einer solchen verheiratet ist , ohne sie zu Lebzeiten gezähmt zu haben , ist ein Versager. „Schlag dein Weib alle Tage siebenmal und zieh ihr jedesmal ein Fell über die Ohren , bis ihr zuletzt die Seele ausgeht“4 – diesen Rat eines Poeten hatte sich der energielose Ehemann nicht zu eigen gemacht. Im wahren Leben wäre er seiner Duldsamkeit wegen dem Spott der Menge preisgegeben worden ; man hätte ihm das Dach abgedeckt oder ihm wenigstens eine Geldstrafe abgenommen , wäre sein unwürdiges Dasein bekannt geworden.5 Nicht so in Conrads Predigt. Da wird derjenige zum Narren , der den irrenden Ehemann auf den rechten Weg schicken will. Der Tod der Widerspenstigen ist so ambivalent wie die ganze Geschichte.6 Das Bild der Ertrunkenen , die flussaufwärts schwimmt , weist über sich hinaus , gibt der Widersetzlichkeit eine gewisse Eigendynamik. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den grotesken Gegensatz des Unten ( ertrinken ) und Oben ( aufwärts schwimmen ). Selbst nach dem Tod ist die Widerspenstige den Naturgesetzen nicht unterworfen. Hier scheinen übernatürliche Kräfte am Werk , Kräfte , die der Mann nicht steuern , nicht beeinflussen kann , Kräfte , die viel mehr mit der Frau zu tun haben als mit ihm , der er doch von Gott beauftragt wurde , die Frau zu beherrschen.7 Ohne jeden Zweifel stört das Bild von der widerspenstigen Ertrunkenen die herrschenden Vorstellungen von der Ordnung der Dinge , und gerade darum musste ein Mann , der solches Chaos zuließ , bloßgestellt werden. Der Prediger verzichtet auf eine direkte Wertung des Geschehens. Wenn er von einer „traurigen Freuden Post“ spricht , verweist er auf die Mehrdeutigkeit des Ereignisses und überlässt es dem Zuhörer zu urteilen. Auch dies ist ungewöhnlich. Predigten pflegen eindeutig zu sein , lassen keinen Zweifel daran , was gut oder böse , schön oder hässlich , angenehm oder unangenehm ist. Nun geht es Conrad in seiner Predigt offensichtlich nicht um die Frau , die gegen den Strom schwimmt , sondern um die Eintracht in der Ehe. Dies jedenfalls lassen seine einleitenden Sätze vermuten. Als Exempel für das „hochsträfliche“ Verhalten eines eigensinnigen Weibes erzählt er seinen Zuhörern die bekannte Geschichte von der widerspenstigen Ertrunkenen. Er nimmt Elemente der Volkserzählung auf , verändert sie und schmückt sie aus. Conrad verzichtet auf die Einleitung des Schwankes , der zufolge die Frau nur deshalb in den Bach 4 Zitiert nach Brietzmann : Die böse Frau ( s. Anm. 2 ), S. 182. 5 Zum Pantoffelhelden : Fuchs : Illustrierte Sittengeschichte ( s. Anm. 2 ), S. 272 ; Julius Reinhard Dietrich : Eselritt und Dachabdecken , in : Hessische Blätter für Volkskunde 1 ( 1902 ), S. 87–112. 6 Zur Bedeutung einzelner Elemente der Groteske und zur Aufdeckung kultureller und literarischer Traditionslinien : Michail Bachtin : Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur , Frankfurt / M. 1987 , bes. S. 49 ff. ; Peter Burke : Helden , Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der Frühen Neuzeit , Stuttgart 1981. 7 Zum Verhältnis von Frauenbild und Naturvorstellung : Carolyn Merchant : Der Tod der Natur. Ökologie , Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft , München 1987 , S. 142 ff.
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fiel , weil sie aus Widersetzlichkeit ihren Stuhl immer weiter vom Tisch wegschob.8 Der Kapuzinerprediger interessiert sich weniger für die Ursachen. ‚Seine‘ Widerspenstige rutscht einfach ab. Bei genauer Betrachtung ist Conrads Variante der Geschichte von der widerspenstigen Frau die Geschichte eines Mannes. Während sie Randfigur bleibt , wird er – und dies ist äußerst bemerkenswert – zum Objekt einer satirischen Verlach-Komödie.9 Anti-Held kann nur werden , wer im normalen Leben ein Held ist , wenigstens soweit ist die Welt noch in Ordnung. Die Frau erscheint dagegen als das andere , das ‚abgeleitete‘ Geschlecht.10 Selbst ihre Eigensinnigkeit wird aus der Optik des Mannes geschildert. Wäre da nicht ein Rest von Unbeherrschbarkeit , so würde sie wohl untergegangen sein im großen Strom der Zeit. Conrads Predigt steht in der Tradition des zwanglosen Osterlachens. Nur einmal im Jahr , an Ostern , war es auch in der Kirche erlaubt zu lachen. Wie im Karneval draußen wird an Ostern drinnen die Welt für kurze Zeit auf den Kopf gestellt. Freilich geht es in der Kirche viel offizieller zu als draußen. Viele Elemente aus Conrads Erzählung sind seinen Zuhörern längst von draußen bekannt : Sie gehören in einen anderen Kontext , in die ambivalente Welt des Karnevals. So ambivalent und widersprüchlich wie die Welt des Karnevals ist auch die Welt in Conrads szenischer Darstellung. Indem er seine Geschichte in einem Raum ansiedelt , in dem physikalische Gesetze und gesellschaftliche Normen aufgehoben sind , schafft er – bewusst oder unbewusst – eine Gegenwelt , die die Zuhörer zu einem Mitlachen animieren kann , das zugleich befreit und erneuert. In diesem Sinne war Conrads Predigt nicht nur affirmativ. Die Wiederaufnahme des Motivs der widerspenstigen Ertrunkenen war auch geeignet , Aufsässigkeit zu reproduzieren. II.
Mit der Interpretation von Conrads Predigt sind wir unversehens in die Welt der aufsässigen Frau hineingeraten. In Erzählungen und Lehrstücken , in Bildern und Bräuchen kämpfen Männer seit dem Mittelalter gegen das böse Weib , als gelte es , eine zweite Vertreibung aus dem Paradies zu verhindern. Dass Eva sich von der Schlange hatte verführen lassen , ist mittelalterlichen Dichtern Beweis genug , dass die Frau von Natur aus schwach 8 So beispielsweise in den Exempla des Jacques de Vitry , s. Moser-Rath : Das streitsüchtige Eheweib ( s. Anm. 1 ), S. 43. 9 Zu den Formen des Lachens , insbesondere zur neuzeitlichen Degeneration des Lachprinzips : Bachtin : Rabelais ( s. Anm. 6 ), bes. S. 89 ff. ; in Bezug auf das deutsche Lustspiel : Eckehard Catholy : Das deutsche Lustspiel. Vom Mittelalter bis zum Ende der Barockzeit , Stuttgart 1969 , S. 8 ff ; Norbert Schindler : Karneval , Kirche und verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert , in : Jahrbuch für Volkskunde 7 ( 1984 ), S. 9–57. 10 Simone de Beauvoir : Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau , Hamburg 1951 ; Karin Hausen : Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert , München 21987 , S. 9 ff.
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ist und zu Ungehorsam neigt.11 Sie ist das Einfallstor des Teufels in die Welt. Nur weil Adam Eva zu viel Freiraum gelassen und ihrer Verführung erlegen war , war es zum Sündenfall gekommen. Nur wenn die Frau dem Manne unterworfen ist und der Mann den göttlichen Auftrag erfüllt , die Frau zu beherrschen , bleibt die Menschheit vor neuen Anfechtungen des Teufels verschont. So wie das Weibliche und das Teuflische schicksalhaft zusammengehören , so verweist das übel-wîp-Motiv in der Literatur auf die Verbindung von Weiberregiment und Teufelsmacht. Die mittelalterlichen Dichter schlachteten dieses Motiv weidlich aus , erzählten von berühmten Leidensgefährten geschlagener Männer , die der Weiberlist erlegen waren , von Adam und Samson , von David und Salomon , von Aristoteles , Virgilius und anderen. Sie wurden nicht müde , Prügelrezepte zu erfinden und Ratschläge zu erteilen , wie der Mann das böse Weib zähmen und züchtigen kann.12 Waren die üblen Weiber ursprünglich ritterliche Damen , so sinkt ihr sozialer Status im 15. Jahrhundert. In einer Übergangsphase werden Bürgerinnen , danach schließlich Bäuerinnen dargestellt. Die Frauen schlagen sich mit dem Mann um die Vorherrschaft im Hause. Sie wollen die Symbole der häuslichen Macht , den Bruch , die Tasche und das Messer haben und begehren , selbst die Hosen anzuziehen.13 Hans Sachs schafft in einem seiner Fastnachtspiele den Sieman , das Mannweib , das in der Literatur noch lange präsent war. „Ich bin der Weib , du bist die Mann“, schreibt Joh. Olorinus Wariscus 1612.14 Auch in Bildquellen nimmt der Themenkreis der ‚Weibermacht‘ seit dem Spätmittelalter einen breiten Raum ein. Adam und Eva , Samson und Delila , David und Bathseba dienen neben vielen anderen als Exempla. Schlagende Weiber werden in Massen auf Spielkarten und in Flugschriften abgebildet. Im 16. Jahrhundert verprügeln sie nicht nur ihre Ehemänner , sondern auch Mönche und Pfaffen. Solche scheinbar motivgleichen Bilder erzählen oft sehr verschiedene Geschichten. Manchmal sind es kleine Details , die die Aussage des Bildes verändern. Es macht einen Unterschied , ob die Frau nackt ist oder angezogen , schön oder hässlich , jung oder alt. Je nachdem , ob sie eine Peitsche in der Hand hat oder eine Kunkel , ob sie mit dem Schlüsselbund schlägt oder mit der Mistgabel , kann ‚Weibermacht‘ etwas anderes bedeuten. Auch ist es nicht dasselbe , ob das schlagende Weib auf einem belehrenden Flugblatt abgebildet ist oder auf einer Spielkarte , die der Mann spottend im Wirtshaus betrachtet , wohl wissend , was ihn zu Hause erwartet , wenn er viel zu spät und betrunken den Raum männlicher Geselligkeit verlässt.15 11 Weibliche Minderwertigkeit wurde nicht nur religiös und historisch , sondern später auch medizinisch begründet : Natalie Zemon Davis : Humanismus , Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich , Frankfurt / M. 1987 , S. 136 ff. 12 Brietzmann : Die böse Frau ( s. Anm. 2 ), S. 120 ff. 13 Ebda., S. 144. Bruch = kurze Hose. 14 Ebda., S. 208 ff. 15 Konrad Renger : Lockere Gesellschaft. Zur Ikonographie des verlorenen Sohnes und von Wirtshausszenen in der niederländischen Malerei , Berlin 1970.
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Auf dem Kupferstich des Israel von Meckenem ( um 1490 ; Abb. 1 ) erscheint das böse Weib als ein verführerisches Wesen. Mit gelöstem Haar , entblößten Brüsten und gelupftem Rock stellt sie für den Mann eine Versuchung dar , der er mehr oder weniger hilflos ausgesetzt ist. Noch hat er die Macht im Haus , trägt er Messer und Tasche an seinem Gürtel. Aber die Frau schlägt mit der Kunkel , dem Spinnrocken , auf ihn ein. Seit Urzeiten gehört das Spinnen zu den wichtigsten Tätigkeiten der Frau.16 Es kann als Manifestation weiblicher Produktivität schlechthin aufgefasst werden. Vom Anbau des Flachses über das Raufen , Rösten , Brechen und Hecheln bis hin zum Reinigen , Schlagen , Zupfen und Rupfen und dem schließlichen Verspinnen des Wergs werden alle Arbeiten von der Frau selbst erledigt. Indem sich die Frau neben der Produktivität des Gebärens einen zweiten Bereich weiblicher Produktivität erschließt , hat sie Gottes Fluch bei der Vertreibung aus dem Paradies gewissermaßen aufgehoben. Sie tritt neben den Mann , um wie er im Schweiße ihres Angesichtes das Brot zu verdienen. Weibliche Produktivität erscheint damit als eine latente BedroAbb. 1 : Das böse Weib. Kupferstich von Israel hung der biblisch sanktionierten Herrvon Meckenem , um 1490 schaft des Mannes über die Frau. Auf ihre Bedeutsamkeit verweisen zahlreiche bildliche und literarische Verarbeitungen des Spinnerinnenmotivs.17 „Als Adam grub und Eva spann , wo war denn da der Edelmann ?“ fragen aufsässige Bauern sei dem Mittelalter und stellen der vorgegebenen hierarchischen Ordnung eine Gesellschaft der Gleichen gegenüber.18 Ob sich diese Gleichheit auch auf die Gleichheit der Geschlechter bezieht , lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aber die meisten Forscher sind sich darin einig , dass die Arbeitsteilung zwischen Bauer und Bäuerin im Mittelalter eher funkti16 Gerburg TreuschDieter : Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit , Berlin 1983. 17 Dagmar Schlapheit-Beck : Frauenarbeit in der Malerei 1870–1900. Das Arbeitsbild im deutschen Naturalismus , Berlin 1985. 18 Peter Seibert : Aufstandsbewegung in Deutschland 1476–1517 in der zeitgenössischen Reimliteratur , Heidelberg 1978 , S. 94 ff.
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onal als hierarchisch war.19 Angesichts der arbeitsrollenbezogenen Unentbehrlichkeit der Frau bei der gemeinsamen Sorge um das tägliche Brot , trat die Frage der im weltlichen und kirchlichen Recht sanktionierten Unterordnung der Frau in der Ehe in den Hintergrund.20 Wer Adam und Eva betrachtete ( Abb. 2 )21 , dachte nicht zwangsläufig an Evas Schuld , nein er konnte dieses Bild auch ganz anders wahrnehmen : Da waren zwei , die sich selbst ernährten , und keiner , der sie ausbeutete.
Abb. 2 : Als Adam grub und Eva spann , aus der Yerislaw-Bibel , um 1340
Da die Frau jede freie Minute ihres Lebens mit dem Spinnen verbringen sollte , ließ sich die Bedeutung des Spinnens auch umkehren. Die Pflicht zur permanenten Tätigkeit war ein Ansatzpunkt zur Domestizierung der Frau.22 Wann immer sie aus ihrem 19 Eileen Power : Als Adam grub und Eva spann , wo war da der Edelmann ? Das Leben der Frau im Mittelalter , Berlin 1984 , S. 40. Allgemein zum Problem der Arbeitsteilung in agrarischen Gesellschaften : Susan Carol Rogers : Female Forms of Power and the Myth of Male Dominance : A Model of Female / Male Interaction in Peasant Society , in : American Ethnologist 2 ( 1975 ), S. 727 ff. 20 Shulamith Shahar : Die Frau im Mittelalter , Hamburg 1983 ) 225 ; Werner Rösener : Bauern im Mittelalter , München 1985 , S. 192 f ; Hans-Werner Goetz : Leben im Mittelalter , München 1986 , S. 52 f ; Heide Wunder : Frauen in der Gesellschaft Mitteleuropas im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ( 15.–18. Jahrhundert ), in : Hexen und Zauberer , hg. von Helfried Valentinitsch , Graz 1987 , S. 123–154 , hier 132 ff. 21 Josef Kirchner : Die Darstellung des ersten Menschenpaares in der bildenden Kunst von der ältesten Zeit bis auf unsere Tage , Stuttgart 1903 ; Adam und Eva-Darstellungen aus eigenem Museumsbesitz. Katalog des mittelrheinischen Landesmuseums Mainz , Mainz 1983. 22 Vgl. etwa das Motiv der ‚faulen Spinnerin‘ , s. Schlapheit-Beck : Frauenarbeit ( s. Anm. 17 ), S. 49 ff.
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vorgegebenen Aufgabenbereich ausbrechen wollte , wurde sie zur Kunkel zurückgeschickt. „Man suln strîten und frouwen suln spinnen“, hatte Berthold von Regensburg bereits im 13. Jahrhundert gepredigt.23 Die adelige Argula von Grumbach , eine der wenig bekannten Frauen , die es gewagt hatten , öffentlich über Alternativen nachzudenken , musste sich zur Zeit der Reformation von einem Studenten sagen lassen : „So stell ab dein Muet und guet Dunckel und spinn dafuer an einer Kunckel Oder strick hauben und wirck Borten Ein Weyb solt nit mit Gottes worten stoltzieren und die Männer leren sonder mit Madalen zu hoeren …“24
Abb. 3 : Aristoteles und Phyllis. Stich von Hans Baldung , gen. Grien , 1513
Die Kunkel war ein Mittel , die Frau ins Haus zu schicken. Sie war zum Spinnen da und nicht zum Schlagen. Wurde – wie im Bild des Israel von Meckenem – der Spinnrocken in der Hand der Frau zur Waffe , so stellte dies für den Mann eine fundamentale Bedrohung dar. Gleichzeitig wurde hier gegen die göttliche und weltliche Ordnung verstoßen , die den Mann zum Herrscher über die Frau machte und der Frau einen wichtigen Platz in der Ökonomie zuwies. Der fliegende Drache im Hintergrund des Bildes stellt die Antwort des Mannes auf das böse Weib dar : Weibliche Aufsässigkeit wurde dämonisiert. Und Hexen gehörten auf den Scheiterhaufen … 25 Die populärste Darstellung , die die Herrschaft der Frau über den Mann thematisiert , zeigt Phyllis , wie sie auf Aristoteles wie auf einem Pferde reitet. Der Legende
23 Brietzmann : Die böse Frau ( s. Anm. 2 ), S. 131. 24 Zit. n. Alice Zimmerli-Witschi : Frauen in der Reformationszeit , Zürich 1981 , S. 96. 25 Auf die Verknüpfung der Hexenbilder mit dem Motiv des ‚Kampfs um die Hosen‘ verweist Heide Wunder : Die Macht der Bilder und das historische Argument. Überlegungen zur Eröffnung der Ausstellung ‚Hexenwahn und Hexenverfolgung in und um Schwäbisch Hall‘ , in : Württembergisch Franken 73 ( 1989 ), S. 155–163.
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Abb. 4 : Frauen überfallen Geistliche. Federzeichnung von Lucas Cranach d. Ä., um 1537
nach hatte die leidenschaftliche Phyllis Aristoteles zu dieser Demütigung überredet. Der Ritt ist die Rache der jungen Frau an dem alten Philosophen , der die Überlegenheit des Mannes über die Frau gelehrt und Alexander d. Gr. wegen seiner Aufmerksamkeit für Phyllis kritisiert hatte. Auch von dem Phyllismotiv machten die Künstler einen unterschiedlichen Gebrauch. So entwarf etwa der Niederländer Lucas van Leyden eine Satire auf den unterjochten Ehemann , die ähnlich wie themenverwandte literarische Werke jener Zeit26 eine belehrende Absicht hatten.27 Die Darstellung der ‚verkehrten Welt‘ dient dazu , ein Wunschdenken über die richtige Welt sichtbar zu machen : Hierarchisch soll sie sein und männerdominiert.28 Hans Baldung gen. Grien , einer der eigenwilligsten Meister der Dürerzeit29 , nutzte dagegen den Stoff zu einer umfassenden Gesellschaftskritik ( Abb. 3 ). Er siedelt die Szene im ländlichen Milieu , genauer gesagt im Innenhof eines Klosters , an und stellt damit einen Bezug zu den Krisen und Konflikten seiner Zeit her. Wir befinden uns am Vorabend von Revolution und Reformation. Die erlebten gesellschaftlichen Widersprüche werden in der antithetischen Komposition des 26 Schmidt : Die Frau ( s. Anm. 2 ), 1 ff. 27 Ludwig Baldass : Sittenbild und Stilleben im Rahmen des niederländischen Romanismus , in : Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien 46 ( 1923–25 ), S. 15–46 , hier S. 42. 28 Zum reformatorischen Weiblichkeitsideal : May B. Broda : Herr über Sie. Ein Versuch über die Typisierung der Frau in der Reformation , in : Feministische Studien 5 ( 1986 ), S. 46–58. 29 Wolfgang Hütt : Deutsche Malerei und Graphik der frühbürgerlichen Revolution , Leipzig 1973 , S. 451 ff.
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Bildes verdeutlicht. Hier stehen sich nicht nur Mann und Frau gegenüber , sondern auch Jugend und Alter , Schönheit und Hässlichkeit , Natur ( Sinnlichkeit ) und Vernunft ( Philosophie ). Der apfelbehangene Baum der Erkenntnis , der an Evas Erbschuld und den Sündenfall erinnert , kontrastiert mit dem verdorrenden Baum des Lebens. Im Gegensatz zu diesen klaren Gegensatzpaaren wirkt die Landschaft eher chaotisch , ein sinnfälliges Symbol der Unordnung , die entsteht , wenn der Spinnwirtel in der Hand der Frau zur Peitsche wird. In diesem Kontext wirkt das Weibliche verbunden mit Schönheit , Jugend und Sinnlichkeit anziehend und bedrohlich zugleich. Diese Ambivalenz scheint besonders geeignet , die Stimmung einer Umbruchsepoche einzufangen. Dass die Bilder von der männerbeherrschenden Frau für etwas anderes stehen , wird noch deutlicher , wenn wir uns die Federzeichnung Frauen überfallen Geistliche ( Abb. 4 ) näher betrachten. Lucas Cranach d. Ä. hat zwei Skizzen zu diesem Thema angefertigt. Auf ihnen sind Frauen , die mit Mistgabeln , Stangen und Dreschflegeln auf Geistliche einschlagen bzw. Wasserkübel über ihnen ausleeren , zu sehen. Kinder unterstützen die Frauen , indem sie Steine werfen. Die Häufung von Klerikern aller Stände zeigt an , dass es sich hier um einen fiktiven Kampf handelt. In einer kunst- und motivgeschichtlichen Untersuchung hat Konrad Hoffmann herausgearbeitet , dass auch dieses Bild in den Motivbereich des bösen ( Ehe- ) Weibes gehört.30 30 Hoffmann : Cranachs Zeichnungen ( s. Anm. 2 ), S. 3 ff.
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Die Ehesatire ist hier zu einer mehrfigurigen Kampfszene zusammengefügt , in der die Formen des Konfession- , Tugend-und Ehekampfes miteinander verschränkt sind. Die Geistlichen erscheinen als Pantoffelhelden , die sich von ihren Konkubinen und den Kindern der unkeuschen Liebe beherrschen lassen. Lucas Cranach übt mit seiner Zeichnung eine ganz massive Kirchenkritik. Die Unmoral der zölibatär lebenden katholischen Geistlichen gibt dem bösen Weib Möglichkeiten , sich zu entfalten. Es nutzt das unzüchtige Liebesverhältnis , um die Herrschaft über den Mann zu gewinnen. Aber auch die Frauen werden in Cranachs Zeichnungen verspottet. Ihre bürgerliche Kleidung steht in groteskem Gegensatz zu dem bäuerlichen Arbeitsgerät , mit dem sie bewaffnet sind. Einige haben die Brüste entblößt , was bisweilen als Zeichen der Kulturlosigkeit und Wildheit gedeutet wird.31 Das Gegenbild zur schlagenden Konkubine des katholischen Geistlichen ist die züchtige Ehefrau des protestantischen Pfarrers. Mit dieser Deutung ist die Interpretation des Bildes keineswegs erschöpft. Es fällt auf , dass die schlagende Frau in Cranachs Zeichnung im Unterschied zu vielen anderen Darstellungen nicht dämonisiert ist. Denn ganz offensichtlich geht es dem Maler nicht nur um die Propagierung der protestantischen Ehemoral , sondern auch um eine Schmähung der katholischen Kirche. Sie war soweit gesunken , dass Frauen sie bezwingen konnten. Damit dokumentiert das Bild weniger die Stärke und Aufsässigkeit der Frau als ihre Schwäche. Bürgerliche Kleider und bäuerliche Waffen verweisen auf die ‚wahren‘ Träger von Reformation und Revolution. III.
Nach der intensiven Begegnung mit der imaginären Welt des ‚bösen Weibes‘ ist es Zeit zu fragen , was all diese Texte und Bilder mit dem wirklichen Leben der Frau zu tun haben. Sind sie Zeugnis einer frauenfeindlichen Gesinnung mittelalterlicher Poeten32 oder Auswuchs männlicher Phantasie und Erotik ?33 Verweist der Hosenkampf auf die Realität einer männerarmen Gesellschaft34 oder auf das pädagogische Bemühen protestantischer Pfarrer , die vernünftige Oberherrschaft der Männer im Hause gegen die unvernünftige „Herrsch- und Zancksucht mancher stoltzen Weiber“ durchzusetzen ?35 31 Hans Peter Duerr : Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation , Frankfurt / M. 1985 , S. 50 ff. 32 Waldemar Kawerau : Die Reformation und die Ehe. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts , Halle 1892 , S. 41 ff. 33 Eckehard Catholy : Fastnachtspiel , Stuttgart 1966 , S. 41 f. 34 Fuchs : Sittengeschichte ( s. Anm. 2 ), S. 270. 35 Artikel ‚Weiberregiment‘ , in : Johann Heinrich Zedler : Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste , Halle / Leipzig 1732 ff , Bd. 54 , S. 106 f.
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Spiegeln die Bilder die Ängste von Männern vor der realen Macht der Frau oder sind sie gar eine eindrucksvolle Demonstration weiblicher Stärke ?36 Über die Bedeutung des Bildes von der ‚bösen Frau‘ wurde viel spekuliert , und die Antworten fallen so verschieden aus wie die Fragen. Einig ist man sich lediglich darüber , dass die widerspenstige Frau Bestandteil der ‚verkehrten Welt‘ ist. Ihr gehört die närrische Zeit des Karnevals. Im Schutze der Maske werden soziale Zwänge abgelegt , Hierarchien auf den Kopf gestellt.37 Da treten Untertanen als Herren , Frauen als Männer und Männer als Frauen auf. Während es den Herren nie eingefallen wäre , freiwillig den Untertan zuspielen38 , scheuten Männer nicht davor zurück , in die Rolle der Frau zu schlüpfen. So verkleidet finden wir sie bisweilen in Männerrollen wieder. Wenn der Mann als schlagendes Weib auftritt , ist die Welt in einem doppelten Sinn verkehrt. Diese zweifache Umkehrung der Hierarchie hat den Geschlechterkampf wohl eher neutralisiert als potenziert. Auch das Fastnachtspiel mit seiner ausgeprägten Freude an der Zotenhaftigkeit und Obszönität war eine rein männliche Angelegenheit.39 Ähnliches gilt für die Narrengerichte. Selbst die dort verurteilten ‚Sünder innen‘ , klatsch- und zanksüchtige Weiber , wurden von Männern dargestellt.40 Die Frauenrolle gab ihnen neben der Freude am Spiel die Möglichkeit , die eigene Aufsässigkeit zu legitimieren. Gleichzeitig tradierte sie das Prinzip weiblicher Widerborstigkeit. Insofern hatte die ‚verkehrte Welt‘ auch dann noch eine Bedeutung für die konkrete Lebenssituation der Frau , wenn sie von Männern beherrscht wurde. Weibliche Rollenumkehr war wesentlich seltener als männliches Transvestitentum.41 Natürlich kam es vor , dass Frauen sich als Männer verkleideten , um einen zeitlich befristeten Anteil an der Männergesellschaft zu haben.42 Aber das war eher 36 Marion Kobelt-Groch : Von ‚armen frowen‘ und ‚bösen wibern‘ – Frauen im Bauernkrieg zwischen Anpassung und Auflehnung , in : Archiv für Reformationsgeschichte 79 ( 1988 ), S. 103–137 , hier S. 132 f ; Anke Wolf-Graaf : Die verborgene Geschichte der Frauenarbeit. Eine Bildchronik , Weinheim 1983 , S. 84 ; Bettina Heintz / Claudia Honegger : Zum Strukturwandel weiblicher Widerstandsformen im 19. Jahrhundert , in : Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen , hg. von Bettina Heintz / Claudia Honegger , Frankfurt / M. 1984 , S. 7–68 , hier 16. 37 Burke : Helden ( s. Anm. 6 ), S. 192 ff ; Davis : Humanismus ( s. Anm. 11 ), S. 136 ff ; Bachtin : Rabelais ( s. Anm. 6 ), S. 187 ff ; Bob Scribner : Reformation , Karneval und die ‚verkehrte Welt‘ , in : Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags ( 16.–20. Jahrhundert ), hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1984 , S. 117–152 , hier S. 117 ff. 38 In Bauernunruhen kam es jedoch vor , dass sie dazu gezwungen wurden , s. Burke : Helden ( s. Anm. 6 ), S. 203. 39 Catholy : Fastnachtspiel ( s. Anm. 33 ), S. 41 f. 40 Davis : Humanismus ( s. Anm. 11 ), S. 106 ff ; Nikolaus Fox : Saarländische Volkskunde , Bonn 1927 , S. 407 f. ( über Karnevalsumzüge in ländlichen Saarstädten und großen Dörfern ). 41 Davis : Humanismus ( s. Anm. 11 ), S. 154. 42 Symmetrische Verkleidung erwähnt Davis : Humanismus ( s. Anm. 11 ), S. 156 , u. a. f. Nürnberg ; Georg Biundo : Die Kirchenvisitation im Oberamt Zweibrücken 1567 , in : Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 23 ( 1956 ), S. 138–148 , hier S. 141 für Hassel ; Friedrich Wintter-
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die Ausnahme. Eine Frau scheint in Männerkleidern immer noch mehr Aufsehen erregt zu haben als ein männlicher Butz. Was für die Männer ein Spaß war , wurde der Frau als Unzucht ausgelegt. So wird aus dem ehemals pfalz-zweibrückischen Hassel berichtet , das Volk habe „einen Greuel in der Faßnacht mit einem schändlichen Butzen angerichtet ; dieser Butz ist aber ein unzüchtiges Weib eines Mannes daselbst gewesen , habe Mannskleider angezogen und sind also ins Papsttum gegangen ; dabei soll der Meyer zu Hasel gewesen sein , und haben Braten geheischt , da dann dieser Butz , das unzüchtige Weib , dermaßen unter den Knaben gelegen , daß die im Papsttum hin und wieder nit wenig davon zu sagen haben“.43
Dass in einer männerdominierten , hierarchisch gegliederten Welt nicht der Frau , sondern dem Meier dafür der „Filtz gelesen“ wurde , mag ein Indiz dafür sein , dass sich den Frauen aufgrund ihres niedrigeren Status in einem gewissen Umfang größere Handlungsmöglichkeiten eröffneten als den Männern. Autonomen Formen weiblicher Geselligkeit ließ die Gesellschaft aber nur einen sehr engen , kontrollierten Spielraum. Im ‚normalen‘ Leben waren Frauen vor allem dann unter sich , wenn sie die Geburt eines Kindes feierten. Solche Feste waren der Obrigkeit suspekt. Viele Bestimmungen zeugen von dem Bemühen , sie einzuschränken. Aus männlicher Sicht waren sie eine Gefahr für den Säugling , der dabei angeblich oft ziemlich ‚verwahrlost‘ wurde. Wie unsinnig und vordergründig dieses Argument ist , machen die Frauen mit dem Hinweis deutlich , dass sie von ihren Männem vor der Geburt oft so schlecht gehalten werden , dass sie „ihre Kinder vom wasser nur böslich säugen“ können.44 In Wirklichkeit ging es den Männem wohl nicht um den Schutz des Kindes , sondern um die Domestizierung der Frau. Bei anderen Weiberfesten45 , wie etwa dem gemeinsamen Mahl der Kerzenmacherinnen46 oder bei der Hebammenwahl47 waren oft Männer dabei. Zumindest aber versuchten sie , regulierend lin ( Hg. ): Württembergische ländliche Rechtsquellen , Bd. 1 ( 1910 ), S. 612 f : Zensur und Rügeordnung des Spraitbacher Amtes ( 1658 ). 43 Biundo : Kirchenvisitation Zweibrücken ( s. Anm. 42 ), S. 141. 44 Friedrich Back : Die evangelische Kirche im Lande zwischen Rhein , Mosel , Nahe und Glan bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges , III , 2 : Die Reformation der Kirche sowie der Kirche Schicksale und Gestaltung bis zum Jahre 1620 , Bonn 1874 , S. 403. Weitere Belege finden sich in Rechtsquellen und Visitationsprotokollen. Vgl. etwa : Georg Biundo : Die General- und Spezialvisitation im Amt Meisenheim und Landsberg im Jahre 1585 , in : Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 25 ( 1958 ), S. 19–38 , hier S. 19 ff. ; Ders., Die Leiningen-Westerburger Kirchen- und Polizeiordnung vom Jahre 1566 , in : Ebda. 27 ( 1960 ), S. 1–22 , hier S. 20. 45 Vgl. im Einzelnen dazu Art. ‚Frau‘ in : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens II ( 1929 / 30 ), S. 1757 ff. 46 Back : Kirche ( s. Anm. 44 ), Bd. I , S. 140. 47 Karl Siegfried Bader : Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde , Köln / Graz 1962 , S. 297.
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einzugreifen. So trat etwa im Fall des von Christina Vanja geschilderten Weibergerichtes im hessischen Breitenbach der Pfarrer als Vermittler auf.48 In der ‚verkehrten Welt‘ finden wir weibliche Geselligkeit als Weiberfastnacht , Weiberfastelabend , Weibermontag oder -donnerstag , Weiberrecht oder Weiberzeche.49 Auch hierbei handelt es sich um relativ streng reglementierte Veranstaltungen. In 24 von Bob Scribner analysierten Karnevalsumzügen und ähnlichen Vorfällen , die in reformatorische Unruhen umschlugen , ließ sich nur zweimal weibliche Beteiligung eindeutig nachweisen.50 Bislang ist nur ein einziger Fall bekannt , in dem das Motiv der ‚verkehrten Welt‘ auf Frauen verschiedener sozialer Stände bezogen ist. Marion Kobelt-Groch hat die kleine Szene aus dem Bauernkrieg aufgespürt : Den Nonnen des oberschwäbischen Klosters Heggbach drohten die „bösen wîber“ an , sie würden ihnen die Augen auskratzen , falls ihre Männer getötet würden. Außerdem müssten die Nonnen „nuß und die kien melcken und böß jubben tragen , und sy herin und saubere belzlin tragen , und man würd unß in den gemainen hufen triben und daß heß ob dem haupt zuesament binden , und mir müessent auch kint hon und uns wehe geschehen lon , wie inen“.51
In unserem Zusammenhang interessiert vor allem , dass die Frauen erst dann aktiv werden , wenn ihre Männer gestorben sind. Erst als Witwen wollen sie sich auflehnen und das Spiel mit der ‚verkehrten Welt‘ spielen. Dann sollen die Nonnen ihre schlechten Kleider tragen , ihre Arbeit machen und sich vergewaltigen lassen , während die Bauernwitwen in schönen Kleidern den Schutz der Klostermauern genießen. Diese Quelle ist zugleich einer der ganz wenigen Belege dafür , dass auch die weibliche Welt als hierarchisch gegliedert angesehen werden konnte. Sie verweist darauf , dass soziale und geschlechtliche Kategorien in einem sehr komplizierten Beziehungsgefüge zueinander standen. So wie Nonnen als ‚Grundherren‘ eine männliche Rolle spielten , so wollten auch die Bauernfrauen als Witwen ‚ihren Mann‘ stehen , indem sie den Kampf ihrer Männer fortsetzten. Die Verkehrung der weiblichen Welt , wie sie hier geschildert ist , dürfte aber eine Ausnahme sein. Aufgrund der wenigen Hinweise über die Formen weiblicher Karnevalsgeselligkeit und der Überlegungen über die Verbreitung von männlichem und weiblichem Transvestitentum ist zu vermuten , dass selbst im 48 Christina Vanja : ‚Verkehrte Welt‘. Das Weibergericht zu Breitenbach , einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts , in : Journal für Geschichte 5 ( 1986 ), S. 22–29 , hier S. 22 ff. 49 Ebda. S. 160. Formen weiblicher Geselligkeit im Karneval bei Albert Becker : Frauenrechtliches in Brauch und Sitte. Ein Beitrag zur vergleichenden Volkskunde , Kaiserslautern 1913 ; Ernst Christmann : Volkskundeforschung in der Pfalz , Münster ( o. J. ). 50 Scribner : Reformation ( s. Anm. 37 ), S. 127 f. 51 Franz Ludwig Baumann ( Hg. ): Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Oberschwaben , Stuttgart 1876 , S. 283 ; Kobelt-Groch : Von ‚armen frowen‘ ( s. Anm. 36 ), S. 103.
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Karneval die Frau nicht sich selbst spielte. Sie wurde gespielt , genau so wie sie in den oben erwähnten Fällen gedichtet bzw. gezeichnet wurde. IV.
Die verkehrte Welt , ein Lieblingsthema der Frühen Neuzeit , hatte sehr vielfältige Funktionen. Soweit sie sich auf Fragen der Ordnung und Unterordnung bezog , war sie auf der Ebene zwischen Untertan und Obrigkeit angesiedelt. Hier konnte sie systemstabilisierend wirken , solange es der Obrigkeit gelang , die volkstümlichen Formen zu disziplinieren. In diesem Fall verstärkte die zeitweilige Aufhebung der sozialen Ordnung deren Akzeptanz. Karnevalsfreude konnte aber auch leicht außer Kontrolle geraten , umschlagen in Unruhe und Gewalt. Sie war eine Möglichkeit , Unterschichtenprotest sichtbar zu machen.52 In diesem Kontext spielt die Geschlechtersymbolik eine bedeutende Rolle. Ihre Ambivalenz hat Natalie Zemon Davis in einer räumlich und zeitlich weit ausgreifenden Untersuchung herausgearbeitet. Sie vermutet : „Das Spiel mit der ungebärdigen Frau gibt zum einen Gelegenheit , sich vorübergehend der traditionellen und stabilen Hierarchie zu entledigen , es ist aber auch Bestandteil der Auseinandersetzungen über Versuche , die grundsätzliche Machtverteilung in der Gesellschaft zu verändern. So betrachtet , könnte die aufsässige Frau sogar Innovationen in historischer Theorie und politischem Verhalten begünstigen.“53
Im Gegensatz zur älteren Forschung unterstreicht Davis , dass die Geschlechtsrollenumkehrung als Ausdruck und Ventil von Autoritätskonflikten nicht nur systemstabilisierend war , sondern auch Aufruhr und Ungehorsam legitimieren und weibliche Verhaltensoptionen erweitern konnte. Weibliche Aufsässigkeit scheint jedoch selbst in der ‚verkehrten Welt‘ einer stärkeren Kontrolle unterworfen gewesen zu sein als der karnevaleske Widerstand der Männer , die ja ihrerseits nicht nur beherrscht wurden , sondern auch herrschten. Und genau das ist der springende Punkt. Der Mann nahm im Karneval keine eindeutige Position ein. Einerseits nutzte er selbst die Möglichkeiten der Geschlechtsrollenumkehr aus , um an der Herrschaft Kritik zu üben , andererseits musste er verhindern , dass das weibliche Spiel mit der ‚verkehrten Welt‘ seine eigene innerhäusliche Machtposition bedrohte. Als derjenige , der beherrscht wurde , war er auch im ‚normalen‘ Leben Komplize der Frau , als derjenige , der herrschen wollte , wurde er zum potentiellen Verbündeten der Obrigkeit. Wollte er seine Macht behalten , 52 Emanuel Le Roy Ladurie : Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579–1580 , Stuttgart 1982. Nicht wenige Beispiele derartiger Unruhen sind für die Reformationszeit belegt , siehe Scribner : Reformation ( s. Anm. 37 ), S. 117 ff ; Burke : Helden ( s. Anm. 6 ), S. 203. 53 Davis : Humanismus ( s. Anm. 11 ), S. 143.
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musste er dafür sorgen , dass die überkommene Asymmetrie im Geschlechterverhältnis immer wieder reproduziert wurde. Er war gezwungen , ständig von neuem zu beweisen , dass er ein richtiger Mann sei.54 Mit dem Hinweis auf die ‚Zwitterstellung‘ des Mannes ist ein Interpretationsrahmen geschaffen , in den sich die oben erwähnten literarischen Texte , Bildquellen und Volksbräuche problemlos einordnen und miteinander in Verbindung bringen lassen. Letztlich geht es immer darum , Männermacht auszubauen oder wenigstens zu stabilisieren. Dabei konnte es sich ebenso um die Macht des Mannes über die Frau wie um die Beziehung zwischen Herrschaft und Beherrschten handeln. Die Versuchung ist groß , von den Überlegungen über männliches Machtund Autoritätsstreben auf eine antithetische Ebene weiblicher Widerborstigkeit zu schließen. Aber dieser Schluss ist ohne vorherige sorgfältige Überprüfung unzulässig. Bevor wir die Bilder der aufsässigen Frau auf die Realität rückbeziehen können , sind Überlegungen notwendig über die Beziehung zwischen der Bedeutung weiblicher Symbolik und der Realität weiblicher Existenz , die ja nicht zwangsläufig kongruent waren.55 Wenn Frauen oder Männer gegen vorgegebene Rollenerwartungen verstoßen , wird ihr Verhalten gerne dem des jeweils anderen Geschlechts zugeordnet. Am Ende des Mittelalters war das Gegenbild der ‚weiblichen‘ Frau nicht nur der Mann , sondern auch die tapfere , mit ‚männlichem‘ Geist und ‚männlichem‘ Gemüt ausgestattete virago56 , die alle übertreffende Mann( Jung )Frau57. Gegenbild des schlagenden ( Mann )Weibes war nicht nur der mit seiner Herrschaft das göttliche Gebot erfüllende Ehegatte , sondern auch immer die ‚gute Frau‘ , die sich ihm willig fügte. Als Hausmutter sollte sie seit dem 16. Jahrhundert an die Seite des Hausvaters treten.58 Umgekehrt gab es natürlich auch den ‚weibischen‘ Mann. Er begegnet uns beispielsweise in der Gestalt der „verwendten , widerspenstigen , dueckischen Bauren“. Die Hattgauer „seind weibisch und dueckisch , wo sie könden“, bemerkt ein Chronist im 16. Jahrhundert.59 ‚Tückisch‘ hatte in der Frühen Neuzeit viele Bedeutungen. Fast immer aber war damit eine negative moralische Kennzeichnung verbunden , die in der erwähnten 54 Gudrun-Axeli Knapp : Die vergessene Differenz , in : Feministische Studien 6 ( 1988 ), S. 12–31 , hier S. 12 ff. 55 Natalie Zemon Davis : Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte , in : Dies. : Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie , Religion und die Wandlungs fähigkeit des sozialen Körpers , Berlin 1986 , S. 129. 56 Jacob Burckhardt : Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch , ( 21869 ) ND Basel 1955 ( Ges. Werke III ), S. 267 f. 57 Claudia Opitz : Hunger nach Unberührbarkeit ? Jungfräulichkeitsideal und weibliche Libido im späten Mittelalter , in : Feministische Studien ( 1986 , 1 ), S. 59–75 , hier S. 59 f. 58 Gotthardt Frühsorge : Die Einheit aller Geschäfte. Tradition und Veränderung des ‚Hausmutter‘Bildes in der deutschen Ökonomieliteratur des 18. Jahrhunderts , in : Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 3 ( 1976 ), S. 137–157 , hier 137 ff. 59 Bernhard Hertzogen : Edelsasser Chronik und ausfurliche Beschreibung des untern Elsasses … , Straßburg 1592.
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Quelle durch den assoziativen Gebrauch mit weibisch auch gleich geschlechtsspezifisch verankert wurde. Indem nun die Aufsässigkeit der Bauern im Hattgau als weibisch-tückisch qualifiziert wurde , wurde das bäuerliche Engagement dem Bereich des Niederen zugeordnet. Analog vermutet man auch , dass Chronisten die Teilnahme von Frauen in Ketzerbewegungen nur halb so deutlich herausstreichen , weil sie die Bewegung abwerten wollten.60 Bei der Lektüre mancher Quellenstellen aus der Bauernkriegszeit fühlen wir uns unversehens an die Bilder von der schlagenden Frau erinnert. Wenn ein Pfarrer erzählt , er habe den ganzen Tag zitternd weinend in der Sakristei gesessen , weil einige Weiber „preger messer in ihren feusten gehalten“ und ihn töten wollten , so scheint dies eine Versprachlichung des bekannten Bildmotivs zu sein.61 Auch Eva , die böse Verführerin , taucht im Bauernkrieg wieder auf. Die Aufsässigkeit der Männer wird zumindest im gegenreformatorischen Lager als Ergebnis weiblicher Verführungskunst und Verführbarkeit gesehen. Die Frauen werden lutherisch und reizen ihre Männer zum Aufruhr.62 ‚Lutherisch‘ ist im gegenreformatorischen Sprachgebrauch durchaus als ‚teuflisch‘ zu verstehen ,63 und der Teufel und die Weiber gehörten in der Männerphantasie in der Regel zusammen. In einer Korrespondenz mit der Stadt Kenzingen am Kaiserstuhl stellt der Rat der Stadt Freiburg eine ganz enge Argumentationskette im Sinne der Verführungstheorie her : Hätte der Kenzinger Prediger Jakob Otter im wahrhaft evangelischen Sinne gepredigt – und das heißt konkret , dass er sich auf Paulus , Eph. 5 , 21 ( Die Weiber seien untertan ihren Männern als dem Herrn ) bezogen hätte –, hätten sich die Frauen vermutlich nicht zu der „unsynigkeit“ hergegeben , Unruhe zu erregen , und die Männer als ihre „Häupter“ wären in den „Fußstapfen“ ihrer Eltern geblieben.64 Auch diese Argumentation ist ein Stück ‚verkehrte Welt‘ und von daher geeignet , die Bedeutsamkeit weiblicher Eigeninitiative herunterzuspielen. Der assoziative Gebrauch von weibisch und tückisch konnte ebenso wie die Zuordnung von weiblich und teuflisch , unsinnig und ketzerisch Weiblichkeit stigmatisieren. Er konnte die Vorstellung verfestigen , dass es zwischen Mann und Frau neben den biologischen auch noch ihr wesensmäßige , charakterliche Unterschiede gab. Indem sie immer wieder in Wort und Bild mit bestimmten Eigenschaften in Verbindung 60 Shahar : Frau ( s. Anm. 20 ), S. 213 f. 61 Walther Peter Fuchs : Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland , Bd. 2 , ND Aalen 1964 , S. 24. 62 Baumann ( Hg. ): Quellen ( s. Anm. 51 ), S. 794. 63 Claudia Ulbrich : Geistliche im Widerstand ? Versuch einer Quantifizierung am Beispiel des Sundgaus , in : Zugänge zur bäuerlichen Reformation , hg. von Peter Blickle , Zürich 1987 , S. 237–265 , hier S. 255. 64 Ebda., S. 247.
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gebracht wurde , entstand der Eindruck , als sei die Frau von Natur aus widerspenstig , hinterhältig , ketzerisch , unordentlich , verführerisch und ( vom Teufel ) verführbar. Als es den Medizinern im 16. Jahrhundert schließlich einfiel , diese Eigenschaften physiologisch zu begründen und damit ihrerseits einen Beitrag zur Degradierung der Frau zu leisten , schloss sich der Teufelskreis. Wir stehen am Beginn der Hysterisierung weiblicher Existenz.65 Darüberhinaus disqualifizierte die Stigmatisierung von Weiblichkeit als Widerspenstigkeit weibliche Kritikfähigkeit. Frauen widersprechen , weil ihre ( niedere ) Natur sie dazu treibt , nicht weil es der Sache gemäß ist. Ob eine widerspenstige Frau anders wahrgenommen wurde als ein als Frau verkleideter aufsässiger Mann ? Solange die Kategorie Geschlecht in historischen Forschungen keinen fest etablierten Platz hat , können wir über solche Fragen nur spekulieren. Denn darüber , wie widerspenstig Frauen in Wirklichkeit waren , wissen wir so gut wie nichts. Dies ist nicht nur durch die Quellenlage bedingt. V.
Wollen wir etwas über die unartigen Weiber erfahren , so stehen wir vor dem Dilemma , dass die meisten Frauen keine eigenen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben. Mit der Querelle des femmes ist uns zwar der theoretische Diskurs über die Stellung der Frau erhalten , doch fehlt eine entsprechende Gegenüberlieferung , die sich auf den konkreten Alltag bezieht.66 Die einschlägigen Quellen wurden durchweg von Männern geschrieben. Sie liefern uns ein ‚deformiertes Bild‘ von Frauen und ihren jeweiligen konkreten Lebensbedingungen.67 Wer diesen Quellen Informationen über die Frau entnehmen will , muss sie gegen den Strich lesen und sehr sorgfältig interpretieren. Ansonsten ist die Gefahr der Mythenbildung gegeben , die Versuchung groß , Geschichte „zum Tummelplatz der eigenen Wünsche“ zu machen.68 Andererseits ist das durch die ‚Sprachlosigkeit‘ der Frau bedingte und in der Frauengeschichte häufig beklagte Quellenproblem nicht so ungewöhnlich.69 Es trifft weite Bereiche der Geschichtswissenschaft. Seit Sozialhistoriker sich von der Strukturgeschichte abgewandt und begonnen haben , in einem viel allgemeineren Sinn ihr Augenmerk auf 65 Regina Schaps : Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau , Frankfurt / M. 1982 , S. 31 ff. 66 Elisabeth Gössmann ( Hg. ): Das wohlgelahrte Frauenzimmer , München 1984 , S. 7 ff. 67 Claudia Opitz : Der ‚andere Blick‘ der Frauen in die Geschichte – Überlegungen zu Analyse- und Darstellungsmethoden feministischer Geschichtsforschung , in : Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 11 : Frauenforschung oder feministische Forschung ? ( 31987 ), S. 61–70 , hier S. 61 ff. 68 Knapp : Die vergessene Differenz ( s. Anm. 54 ), S. 17. 69 So sieht Burke : Helden ( s. Anm. 6 ), S. 62 bspw. ein „Frauenproblem“ für Kulturgeschichte und Sozialanthropologie.
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jene Gruppen der Gesellschaft zu richten , die auf dem Weg in die Moderne marginalisiert , ausgegrenzt und entrechtet wurden , waren sie ständig mit dem Problem der Quellenlosigkeit konfrontiert.70 Und dennoch ist es in den letzten Jahren gelungen , den „vergessenen Alltag“ jener anderen Kultur wiederzuentdecken.71 Infolge der erweiterten Fragestellung wurden auch erhebliche Fortschritte in der Frauengeschichte erzielt. Sie beziehen sich interessanterweise vor allem auf das Mittelalter und das 19. und 20. Jahrhundert.72 Dazwischen klafft eine Lücke von 300 Jahren. Die Frühe Neuzeit , jene für Frauen so schicksalhafte Epoche , in der sie entweder als Hausfrauen hinter dem Kochtopf , als Arbeiterinnen im Spinnhaus73 oder als Hexen auf dem Scheiterhaufen verschwanden , ist dagegen noch weitgehend unerforscht.74 Bislang wissen wir noch sehr wenig darüber , wie sich die politischen , ökonomischen und soziokulturellen Veränderungen in der Zeit der ersten Formierung des modernen Staates auf die Beziehung der Geschlechter ausgewirkt haben.75 Wir wissen nicht einmal , in welchem Umfang die ins Haus und ans Spinnrad verdrängten Frauen vom Prozess der Rationalisierung betroffen waren , welche Frauen sich damit abfanden und welche diesem Prozess eigene Formen des Widerstandes entgegensetzten. Nur soviel ist gewiss : In der ‚verkehrten Welt‘ des Karnevals , in Bildern und Volkserzählungen lebte weibliche Widerspenstigkeit weiter. In der Wirklichkeit scheint sie dagegen verdrängt worden zu sein. Ein Marginalisierungsprozess , so unsere Hypothese , ist ohne Gegenwehr der Betroffenen nicht vorstellbar. Um Spuren weiblicher Präsenz und Renitenz aufzudecken , möchten wir im folgenden nicht mit den sonst üblichen Negativkonzepten arbeiten. Was sich aus der Retrospektive als Marginalisierung , Verdrängung , Vernichtung , Vereinnahmung , Behinderung oder Stigmatisierung darstellt , entpuppt sich aus der ‚umgekehrten‘ Perspektive als ein langandauernder , konfliktreicher Prozess , dessen
70 Vgl. dazu auch die grundsätzlichen methodischen Überlegungen von Hans Medick / David Sabean : Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung , Göttingen 1984 , S. 11 ff. 71 Norbert Schindler : Spuren in der Geschichte der ‚anderen‘ Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung , in : Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags ( 16.–20. Jahrhundert ), hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1984 , S. 13–77 , hier S. 13 ff. 72 Zum Forschungsstand : Ute Frevert : Bewegung und Disziplin in der Frauengeschichte. Ein Forschungsbericht , in : Geschichte und Gesellschaft 14 ( 1988 ), S. 240–262 ; Gisela Bock : Geschichte , Frauengeschichte , Geschlechtergeschichte , in : Ebda., S. 364–391. 73 Christian Marzahn / Hans-Günther Ritz ( Hg. ): Zähmen und Bewahren. Die Anfänge bürgerlicher Sozialpolitik , Bielefeld 1984. 74 Dies scheint insbesondere ein Problem der deutschen Forschung zu sein ; vgl. Mary E. Wiesner : Women in the Sixteenth Century. A Bibliography , St. Louis 1983. 75 Eine erste Diskussion dieser Problematik bei Margaret W. Ferguson ( Hg. ): Rewriting the Renaissance. The Discourses of Sexual Difference in Early Modern Europe , Chicago 1986.
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Kenntnis ein wichtiger Beitrag zur Historisierung weiblicher Existenz sein kann.76 Dass dieser Prozess nicht linear verlief , verdanken Frauen in hohem Maße den widersprüchlichen Erfahrungen einer Aufbruchsepoche , die in Reformation und Revolution ihren Höhe- und Wendepunkt hatte. VI.
Argula von Grumbach , jene bereits erwähnte Adlige , die es gewagt hatte , öffentlich über Alternativen nachzudenken , verfasste 1524 Eyn Antwort in gedichtß weiß , ainem auß d’hohen Schul zu Ingolstat.77 Mit dieser Schrift wehrte sie sich gegen das Spottgedicht eines Studenten , der ihr geraten hatte , lieber an der Kunkel zu spinnen als die Männer lehren zu wollen. Sie beschwerte sich darüber , dass die Männer es ablehnen , mit ihr zu diskutieren. Die Hohen Herren der Universität Ingolstadt möchten Argula , die sie „durch iren in Gotlicher Schrift wolgegründten Sendtbrieffe“78gestraft hatte , lieber am Spinnrocken sehen : „Sag ich , tailt mir ewer Weyszhait mit so khommens mit der Gunckel her Das ist gar fast ir aller Leer“.79
Argula kannte nicht nur alle Schriften Luthers , sie hatte auch die Bibel anders gelesen als die meisten Menschen ihrer Zeit. Ihr war aufgefallen , dass sich aus vielen Stellen der Heiligen Schrift die Gleichberechtigung aller Christen , also auch der Frauen , ableiten ließ. Besonders deutlich schien das bei Paulus ( Eph. 4 ) zu sein :
76 Die Neigung , Frauengeschichte mit Hilfe von Negativkonzepten aufzuarbeiten , findet eine Fortsetzung darin , dass man in der Frauengeschichte mehr über die Defizite redet als über die Ergebnisse ( so der Tenor der zahlreichen Forschungsberichte ). In den gleichen Kontext gehört es , dass in Deutschland nicht die Anwesenheit , sondern die Abwesenheit von Frauen in der Geschichtsschreibung bemerkt wird , s. Bock : Geschichte ( s. Anm. 72 ), S. 365. 77 Zu Argula von Grumbach , s. Theodor Kolde : Arsacius Seehofer und Argula von Grumbach , in : Beiträge zur bayrischen Kirchengeschichte 11 ( 1904 ), S. 49–77 , 97–114 , 148–188 ; Roland H. Bainton : Women of the Reformation in Germany and Italy , Boston 1971 , S. 97 ff. ; Zimmerli-Witschi : Frauen ( s. Anm. 24 ), S. 90 ff. ; Paul Russell : Lay Theology in the Reformation. Popular Pamphleteers in Southwest Germany. 1521–1525 , Cambridge 1986 , S. 191 ff. Ihre Schriften sind microfichiert in : Hans-Joachim Köhler / Hildegard Hebenstreit-Wilfert / Christoph Weismann ( Hg. ): Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts auf Microfiche , Zug 1978 ff ). Für die Auskünfte über die im Tübinger Projekt Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts vorhandenen Informationen und Materialien bzgl. Argula von Grumbach bin ich Hans-Joachim Köhler sehr zu Dank verpflichtet. 78 Köhler u. a. ( Hg. ): Flugschriften ( s. Anm. 77 ), Fiche 4 Nr. 18 ( FS Nr.979 ). 79 Kolde : Arsacius Seehofer ( s. Anm. 77 ), S. 111.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) „Christus ist das haupt , dar auß der gantz leib zusamen gefügt. Nun seind wir alle in dem tauff gott eingeleibt … ain leib / Ain gayst / Ain hoffnung / Ain herre / Ain glaub / Ain tauff / Ain got / Ain vater / der da ist uber uns all / un durch alle dinge in uns allen.“80
Jeder getaufte Christ , so glaubte Argula , war in der Lage , das Wort Gottes zu erkennen und zu verteidigen. Als Gott die Menschen beauftragte zu lehren , hatte er „weder Frawen noch man darinnen außgeschlossen“. In Math.10 heißt es ganz neutral : „Wer mich bekennt vor den Menschen“, in Luk. 9 : „Wer sich mein schemt“. Solche Argumente halfen Argula , sich über das paulinische Schweigegebot für Frauen in der Kirche hinwegzusetzen. Couragiert verteidigte sie den jungen Theologen Arsacius Seehofer , der unter Androhung von Strafen zum Widerruf gezwungen worden war. Ähnlich wie später die Bauern , bezog sie das göttliche Wort auch ganz konkret auf die weltliche Ordnung : „Ich finde an keinem Ort der Bibel“, schreibt sie , „dz Christus noch sein Aposteloder Propheten gekerckert , gebrent noch gemordt haben / oder das land verbottenn“.81 Vergeblich forderte Argula die Universität zur Disputation heraus. Argula wurde nicht gehört. Die Universität hatte ihren Brief überall in entstellender Form verbreitet und sie verächtlich gemacht , weil sie eine Frau war. Ihre Schriften fanden in der Gelehrtenwelt kaum ein Echo.82 Nach einem Jahr reformatorischen Engagements war Argula wieder dort , wo eine verheiratete Frau nach herrschender Meinung hingehörte : Sie kümmerte sich um Haushalt und Kindererziehung. Ähnlich wie Argula von Grumbach war es der Genferin Marie Dentière ergangen.83 Auch Marie hatte aus dem Evangelium heraus die Gleichheit aller Menschen vor Gott und Christus abgeleitet. In Umkehrung der Genesisgeschichte warf sie den Männern vor , Christus verraten zu haben. Sie stellte Judas , die Häretiker und die „Verbreiter einer falsch Doktrin“, die Katholiken , in eine Reihe. Da die Frauen von den Männern zur Irrlehre verführt worden waren , war es nötig , dass sie sich nun selbst um Glaubensfragen kümmerten. Es sei ihre Pflicht , meinte Marie , die Männer auf ihre Fehler aufmerksam zu machen. Dem paulinischen Schweigegebot stellte sie ein originelles Argument gegenüber : „Et combien que ne nous soit permiz de prescher ès assemblées et églises publiques , ce néantmoins n’est pas deffendu d’escrire.“84 Wer „nicht reden 80 Köhler u. a. ( Hg. ): Flugschriften ( s. Anm. 77 ), Fiche 4 Nr. 18 ( FS Nr.979 ). 81 Ebda. 82 Zimmerli-Witschi : Frauen ( s. Anm. 24 ), S. 97. Russel : Lay Theology ( s. Anm. 77 ), S. 191. Vom Tübinger Flugschriftenprojekt wurden immerhin 129 erhaltene Exemplare ihrer verschiedenen Schriften erfasst. Nach Auskunft von Hans-Joachim Köhler ist aber unter 4. 000 Flugschriften der Reformationszeit abgesehen von ihren eigenen Flugschriften keine einzige , in der Argula im Text der Titelseite vorkommt. Sebastian Lotzer und Andreas Osiander äußerten sich jedoch über sie. 83 Das folgende nach Zimmerli-Witschi : Frauen ( s. Anm. 24 ), S. 57 ff. 84 Zit. nach Ebda., S. 67 , Anm. 49.
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darf , muss schreiben“, diese Devise hatte Marie sich zu eigen gemacht. Sie verfasste zwei große Werke , deren Rezeptionsschichte für eine geschlechtsspezifische Fragestellung äußerst aufschlussreich ist. Die erste Arbeit , La guerre et deslivrance de la ville Genesve , wurde anonym herausgegeben und hatte einen männlichen Erzähler. Von diesem Werk wurden später mehrere Kopien angefertigt.85 Die zweite Schrift , Maries Schreiben an Margarete von Navarra , erschien unter ihrem Namen und enthielt die erwähnten kritischen Reflexionen über die Stellung der Frau in der Kirche. Sie wurde konfisziert. Um sich auch für die Zukunft vor derart systembedrohenden Werken zu schützen , führten die Genfer die Zensur ein. Damit stellten sie unbeabsichtigt unter Beweis , wie ernst sie ein Werk nahmen , das aus der Feder einer Frau stammte. Die Genfer konnten Marie keine Fehler nachweisen , bestenfalls einige böswillige Interpretationen. Und da sich schlecht leugnen ließ , dass Mann und Frau vor Christus gleichwertig seien , meinte Pierre Viret , einer ihrer Gutachter , „dass durch das Evangelium aber die natürliche Ordnung ( ! ) und diejenige der menschlichen Gesellschaft nicht aufgehoben werde“.86 Auch diese absurde Äußerung zeigt , wie viel Sprengkraft eine alternative Bibellektüre haben konnte und wie sehr Männer sich davor fürchten mussten , dass Frauen sich das Sola-scriptura-Prinzip zu eigen machten. Arsacius Seehofer , der u. a. behauptet hatte , Laien und Frauen könnten Theologen sein , musste widerrufen.87 Der Herausgeber einer anonymen Flugschrift sah das baldige Weltende voraus , weil Kinder , Unmündige und Frauen Gottes Wort verkündigen mussten.88 In Memmingen soll Christoph Schappeier gepredigt haben : „Es werd darzu kumen , das die pfaffen den leyen beichten mueßen , subjungens , das got gelobet sey , das die layen bederley geschlechts gelerter seyn , dann die pfaffen und das gots wort baß kinden verkinden …“.89 Die Formulierung „Laien beiderlei Geschlechts“ verweist nicht nur darauf , dass Männer und Frauen als verschiedene gesellschaftliche Gruppen gesehen wurden , sie deutet auch auf eine gleichwertige Wahrnehmung beider Geschlechter. Meist finden wir Frauen in solchen Formulierungen entweder als Antipode zu Männern ( Laien , Kriegern ) oder zusammen mit Kindern und Unmündigen als Synekdochen für alle , die in rechtlichem Sinn unmündig waren. Argula und Marie waren nicht die einzigen Vertreterinnen jener Gruppe kritischer Frauen , die zur Zeit der Reformation mutig für das Evangelium eintraten. Argula , der man mit dem Tode gedroht hatte , behauptete , viele andere , die viel belesener seien als sie selbst , mobilisieren zu können :
85 Ebda., S. 59. 86 Ebda., S. 73. 87 Bainton : Women ( s. Anm. 77 ), S. 107. 88 Köhler u. a.( Hg. ): Flugschriften ( s. Anm. 77 ), Fiche 5 Nr.19 ( FS Nr. 978 ). 89 Barbara Kroemer : Die Einführung der Reformation in Memmingen. Über die Bedeutung ihrer sozialen , wirtschaftlichen und politischen Faktoren , Memmingen 1981 , S. 87.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) „Ja wan ich allain scrib wurden hundert weyber wider sy schreiben / Dann ir seind vil die beleßner und geschickter seind dann ich / und moechten also den namen uberkumen , das man sy ain schuol fur die weyber hiesse / wie wol ich kain zweiffel daransetz / ir seind noch vil under in die haimliche jungern des herren seynd.“90
Offensichtlich gab es unter den Frauen noch viele Jünger des Herrn. Ein um 1522 anonym erschienenes Frawenbiechlein bestärkte sie in ihrem Engagement.91 Die Hinweise auf ihre Aktivitäten sind meist nicht sehr präzise. So betonten auf dem wendischen Hansetag die versammelten Städte Lübeck , Hamburg , Rostock , Stralsund , Wismar und Lüneburg , Ungelehrte und Frauen hätten begonnen zu predigen.92 In den unruhigen Jahren der Reformation hätten selbst die „schnadderhaften Weiber … himmliche Witz“ gefressen , meinte ein Mönch 1522.93 Und in Memmingen redeten sogar die Mägde am Brunnen über Theologie.94Frauen verlangten reformatorische Prediger ,95 hörten mit Begeisterung der evangelischen Predigt zu und traten couragiert für ‚ihre‘ Geistlichen ein , wenn diese , was häufig vorkam , aus den Städten vertrieben wurden. Aus Riedlingen und Biberach , Allstedt und Mülhausen , Sangershausen und Kenzingen , Waidshut und Basel wird berichtet , dass Frauen ihren Prediger verteidigten , notfalls sogar mit Waffen oder Steinen.96 In der Frühphase der Reformation und während des Bauernkriegs entfalteten Frauen beachtliche Aktivitäten , die weit über die ihnen zugeschriebene ‚Zanksucht‘ hinausgingen. Sie zerstörten die Symbole des alten Glaubens , plünderten die Klöster und scheuten auch nicht davor zurück , mit Waffen zu kämpfen. Dabei zeigten sie bisweilen eine bedrohliche Aggressivität.97 Das Engagement von Frauen in der Reformationszeit beschränkte sich jedoch nicht auf das Eintreten für die Reformation. Sie zählten auch zu denen , die den alten Glauben verteidigten.98 Für unseren Argumentationszusam90 Köhler u. a. ( Hg. ): Flugschriften ( s. Anm. 77 ), Fiche 5 Nr. 19 ( FS Nr. 978 ). 91 Russel : Lay Theology ( s. Anm. 77 ), S. 189 ff. 92 Wilfried Ehbrecht : Köln-Osnabrück-Stralsund. Rat und Bürgerschaft hansischer Städte zwischen religiöser Erneuerung und Bauernkrieg , in : Kirche und gesellschaftlicher Wandel in deutschen und niederländischen Städten der werdenden Neuzeit , hg. von Franz Petri , Köln 1980 , S. 23–63 , hier S. 23 ff. 93 Zit. nach Kobelt-Groch : Von ‚armen frowen‘ ( s. Anm. 36 ), S. 122. 94 Kroemer : Einführung ( s. Anm. 89 ), S. 87. 95 Ebda., S. 156. 96 Belege bei Zimmerli-Witschi : Frauen ( s. Anm. 24 ); Kobelt-Groch : Von ‚armen frowen‘ ( s. Anm. 36 ), S. 121. 97 Belege bei Zimmerli-Witschi : Frauen ( s. Anm. 24 ); Kobelt-Groch : Von ‚armen frowen‘ ( s. Anm. 36 ); Benedict Bilgeri : Geschichte Vorarlbergs , Köln 1971 , S. 48 : versuchte Brandlegung im Frauenhaus durch eine Dirne ; Peter Kamber : Bauern , Reformation und Revolten in Zürich ( 1522–1525 ). Versuch einer Ereignisgeschichte von unten , Zürich 1992 : Beteiligung von plündernden Frauen am Ittinger Klostersturm. 98 Zimmerli-Witschi : Frauen ( s. Anm. 24 ), S. 131 f.
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menhang ist vor allem ihre Präsenz und ihre Bereitschaft zur Parteinahme wichtig. Das ‚öffentliche‘ Engagement von Frauen , das im spätmittelalterlichen Alltag offensichtlich einen festen Platz hatte , ist bislang viel zu wenig beachtete und kaum untersucht worden. Daher mögen einige wenige Beispiele genügen , um diese Dimension weiblicher Existenz sichtbar zu machen : 1501 wurde im Bregenzer Wald eine Frau zum Tode verurteilt. Sie sollte lebendig begraben werden. Gegen das Urteil „hannt sich uff erhaben ain erwirdige priesterschaft des gantzen lantz mit inen ain mengy schwanger frawen und ander und ain grosse zal jungkfrowen , dartzu ain gantze gemaind und habend ain söllich gross treffenlich pitt an den richter und das gericht gelegt und sy ermannt der gnaden und barmherzigkeit mitzetailen und sy leben lanssen …“99
Priester , Schwangere und andere Frauen sowie viele Jungfrauen und die ganze Gemeinde bewirkten mit ihrer Bitte die Aufhebung eines Urteils , das ganz offensichtlich ihrem Rechtsempfinden widersprach. Frauen treten hier als eigene , wenn auch heterogene Gruppe neben der Geistlichkeit und der Gemeinde auf. Was sie tun , ist in ihrem Rechtsverständnis sicherlich nicht aufsässig und wurde auch von der Obrigkeit , die der Bitte des ‚Volkes‘ nachgab , nicht so gesehen.100 Es kommt eben immer auf den konkreten gesellschaftlichen Kontext an , ob bestimmte Handlungsweisen als ‚widerspenstig‘ qualifiziert werden oder nicht. Ohne Widerspruch wurde auch akzeptiert , dass in Villingen 1509 „ain merglich zall edler und unedler jungfrawen und frawen sich versammelt“ hatte , um einen zum Tode Verurteilten zu befreien. Dafür dankte der Gerettete in seiner Urfehde der heiligen Jungfrau Maria und den „wyplichen bilden“.101 Als sich die Frauen in der Reformationszeit in die Rechtsprechung einmischten , Urteile kritisierten und Ratssprüche missachteten , ward dies jedoch etwas anderes. Wie die Bauern bezogen sie sich in ihrer Kritik auf das Evangelium und machten es damit zum Maßstab weltlichen Handelns. Argula hatte die Verurteilung des Arsacius Seehofer gegeißelt , weil es sich aus der Bibel nicht rechtfertigen ließ , jemanden zu kerkern , zu ermorden oder zu verbannen. Die Frau des Seilers Georg Husel beschimpfte den Rat der Stadt Nördlingen , weil er die Gefangennahme eines Aufständischen veranlasst hatte , und unterstellte ihm , er könne keinen gerechten Mann leiden. Die Hinrichtung eines anderen gab ihr Anlass zu fragen , „( o )b das auch Evangelisch sei“.102 In Dieth99 Vorarlberger Landesarchiv , Urk.verz. 3832 , zit. nach Karl Ilg : Späte Nachweise des ‚Lebendigeingrabens‘ als Strafvollzug aus den Alpenländern , in : Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 10 ( 1959 ), S. 232 ff. 100 Zur Rechtsprechungspraxis : Richard van Dülmen : Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit , München 21988. 101 Stadtarchiv Villingen , Urfehdbrief 117. 102 Hans Christoph Rublack : Das ‚Lied‘ des Nördlingers Contz Anahans , April 1525 , in : Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 41 ( 1982 ), S. 48–74 , hier S. 58 ff.
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marschen empörte sich eine Frau über das Todesurteil für den Prediger Heinrich von Zütphen. Mit Schlägen und Tritten wurde sie zum Schweigen gebracht.103 Andererseits konnte die Bibellektüre Frauen auch Anlass geben , ihre eigene Position kritisch zu überdenken. Von einer Biberacher Leibeigenen und ihren Kindern wird gesagt , sie wollten „kain ander hern haben dann annlain got denn allmechtigen , der ist ain herr aller menschen“.104 Mit einem ganz ähnlichen Argument hatte die adelige Argula die Universität lngolstadt in Unruhe versetzt : „ain vater , der da ist uber uns all …“, heißt es in ihrem Sendschreiben.105 Solche Sätze enthielten Sprengstoff. Sie konnten in eine grundsätzliche Gesellschaftskritik einmünden. Dies gilt insbesondere für den Begriff der ‚sozialen Gleichheit‘ als einem zentralen Anliegen der Revolution des ‚gemeinen Mannes‘.106 Die Frage , ob solche Forderungen wenigstens ansatzweise eine geschlechtsübergreifende Perspektive hatten , wurde von der Bauernkriegs- und Reformationsforschung kaum gestellt. So bleibt uns wieder nur Argula : Christus , meint sie , um ihr Recht auf Mitsprache zu beweisen , habe die Weiber und die Bauern auch nicht ausgenommen.107 In dieser Argumentation stellte sich die Adlige mit jenen Männern auf eine Stufe , die objektiv gesehen die Hauptgegner des Adels waren. Uns gibt diese Quellenstelle einen wichtigen Hinweis dafür , wie unzureichend es ist , Gesellschaft mit Hilfe einfacher polarer Modelle erklären zu wollen. Argula gehörte als Adlige zu ‚denen da oben‘. Als Hausmutter übte sie in begrenztem Umfang Herrschaft aus. In ihrer Rolle als Christin zählt sie sich dagegen eher zu ‚denen da unten‘ , die in der Kirche nichts zu sagen haben. Ihre Rolle als Ehefrau hatte Argula , soweit wir wissen , nicht in Frage gestellt. Einen Ansatzpunkt , die überkommene Beziehung der Geschlechter zu überdenken , bot auch Apostelgeschichte 4,19 , 5,29 , wonach man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Es lag nahe , diese Bibelstelle auf die Ehe zu beziehen. Argula wies dies weit von sich. Ihr Anspruch auf Mitsprache blieb auf die Welt außerhalb der Familie beschränkt. Im Täuferturn als einer Bewegung , die jede weltliche Obrigkeit negierte und ansatzweise alternative Formen menschlicher Gemeinschaft ausbildete , spielte die Überordnung des göttlichen Gehorsams über den weltlichen dagegen eine bedeutende Rolle.108 Um des Glaubens willen verließen Frauen ( und Männer ) ihre Ehe und schlossen sich den Täufern an. Für die Schweiz ( 1524–1540 ) hat A. Zimmerli-Witschi 103 Käthe Stricker : Die Frau in der Reformation ( Quellenhefte zum Frauenleben in der Geschichte 11 ), Berlin 1927 , S. 43 f. 104 Günther Franz : Der deutsche Bauernkrieg. Aktenband , ND Darmstadt 1977 , S. 151. 105 Köhler u. a. ( Hg. ): Flugschriften ( s. Anm. 77 ), Fiche 4 Nr.18 ( FS Nr. 979 ). 106 Peter Blickle : Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil , Oldenburg 1987. 107 Russel : Lay Theology ( s. Anm. 77 ), S. 261 , Anm. 39. 108 Zum Täufertum zuletzt : Hans-Jürgen Goertz : Die Täufer. Geschichte und Deutung , München 21988.
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einen Frauenanteil von knapp einem Drittel ermittelt , was auf eine gewisse Attraktivität dieser Glaubensgemeinschaft für Frauen hindeutet. Zumindest in den Anfängen der Bewegung scheinen sie als gleichberechtigte Glieder der Gesellschaft geachtet worden zu sein.109 Selbst Apostelgeschichte 4,19 , 5,29 ließ sich umkehren. Martin Luther bezog diese Bibelstelle auf die Tyrannei des Weibes , als er Stefan Roth aufforderte , seine Frau daran zu erinnern , dass er Gott mehr gehorchen müsse als ihr.110 VII.
In Luthers Lehren sehen viele den Ursprung für eine Straffung und ideologische Überhöhung der Männerherrschaft. Seinem Haus- und Eheverständnis wird eine Schlüsselfunktion für die Formierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft und damit auch für die weitere Gestaltung des Geschlechterverhältnisses zugeschrieben.111 Wie Calvin und Zwingli hielt auch Luther an der Idee der gottgewollten Unterordnung der Frau unter den Mann fest. Gleichzeitig wurde die christliche Ehe zur verbindlichen Norm erklärt. Für Frauen hatte dies schwerwiegende Folgen. Der Jungfrauenstatus , der ihnen im Mittelalter eine unabhängige Existenz ermöglicht hatte , wurde abgewertet , das ihm entsprechende Weiblichkeitsideal in die Ehe verlagert. Das Ideal der unberührten Jungfrau wurde über das Braut-Christi-Modell transponiert in eine Verherrlichung der entsinnlichten Ehefrau.112 Insofern die Frau den Auftrag erhielt , den Mann in der Ehe zu versittlichen , wurde ihr jedoch eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt , dass sich aus Luthers Auffassung über die Gleichheit von Mann und Frau vor Gott und der Betonung der gemeinsamen Verantwortung in der Ehe durchaus Ansatzpunkte ableiten ließen , die bestehende Geschlechterasymmetrie zu hinterfragen und zu überwinden.113 Damit könnte sich auch das frühe Engagement von Frauen für die Reformation erklären. Spätere Auslegungen von Luthers Konzeption der Eltern-Kind-Beziehung arbeiten jedoch die Sonderstellung des Vaters
109 Marion Kobelt-Groch : Warum verließ Petronella ihren Ehemann ? Gedanken zur Ehemeidung bei den Halberstädter Täufern , in : Mennonitische Geschichtsblätter 43 / 44 ( 1986 / 87 ), S. 62–79. 110 Luther und Bugenhagen an Stefan Roth in Zwickau ( 12. 4. 1528 ), in : D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel , 4 ( 1933 ), Nr. 1253. 111 Zur Einordnung in den größeren historischen Zusammenhang , s. Richard van Dülmen : Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550–1648 , Frankfurt / M. 1982. 112 Opitz : Hunger nach Unberührbarkeit ( s. Anm. 57 ), S. 59 f ; Broda : Herr über Sie ( s. Anm. 28 ), S. 46 f. 113 Gerta Scharffenorth : Die Beziehung von Mann und Frau bei Luther im Rahmen seines Kirchenverständnisses , in : „Freunde in Christus werden …“ Die Beziehung von Mann und Frau als Frage an Theologie und Kirche , hg. von Gerta Scharffenorth / Klaus Thraede , Gelnhausen 1977 , S. 183– 302.
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heraus.114 Ungeachtet der Ambivalenz in Luthers Frauen- und Eheverständnis wurde die bestehende Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses durch die normierende Inbezugsetzung zur göttlichen Ordnung verstärkt.115 Luthers Auffassung von der Ehe , auf die wir hier nicht weiter eingehen können , wurde von der protestantischen Predigtliteratur einseitig aufgenommen und weiter ausgebildet. So liest man etwa in der Predigtsammlung des Mansfelder Stadt- und Schlosspredigers Cyriacus Spangenberg , das Weib sei um des Mannes willen geschaffen. Der Mann soll sie nicht nur ernähren und versorgen , sondern auch „regiren / Das ist / Er sol Herr im Haus sein / und die Fraw sol gehorsam un unterthan sein / Denn Gott hat zum ersten den Man geschaffen / darnach das Weib / Und ist auch der Man des Weibes Heubt …“116 Solange es gelang , die Verbreitung feministischer Interpretationen der Schöpfungsgeschichte117 , die aus dem Umstand , dass Eva nach Adam erschaffen wurde , weibliche Superiorität ableiteten , zu verhindern , konnte den Frauen ihre ‚kreatürliche Zweitrangigkeit‘ zum Verhängnis werden. Der Ehefrau wurde ausdrücklich aufgetragen , sie solle sich „in Ehrwirdiger furcht gegen Jren Ehemann beweisen / jm gehorsam und trew sein / eines sanfften und stillen Geistes gegen jedermann / Nichtzancken / und das letzte wort behalten / Kinder und Gesinde auffziehen / und regiren / in Gottes Furcht und liebe“.118
Mit derartigen Formulierungen wurde à la longue die kompromissbereite , vermittelnde , dienende Frau kreiert , deren Friedfertigkeit bis heute durch die „unkritische und kampflose Hinnahme von Gewohnheitsunrecht“ definiert ist.119 Schreibende Frauen hatten ebenso wie die bäuerlichen Gemeinden während der Reformation die organologische Interpretation der Gesellschaft120 im Sinne des HauptLeib-Schemas dazu genutzt , egalitäre Vorstellungen zu entwickeln. Nach der ‚Verstaatlichung der Reformation‘ erhielt dieses Bild eine gegenläufige Bedeutung. Es wurde zur Stütze einer sich verfestigenden hierarchisch-patriarchalischen Ordnung , deren 114 Ebda., S. 231. 115 Die Ambivalenz in Luthers Frauen- und Eheverständnis wird herausgearbeitet bei : Heidi Lauterer-Pirner : Vom ‚Frauenspiegel‘ zu Luthers Schrift ‚Vom ehelichen Leben‘. Das Bild der Ehefrau im Spiegel einiger Zeugnisse des 15· und 16. Jahrhunderts , in : Frauen in der Geschichte 3 , hg. von Annette Kuhn / Jörn Rüsen , Düsseldorf 1983 , S. 63–86 ; Susan C. Karant-Nunn : The Transmission of Luther’s Teaching on Women and Matrimony : The Case of Zwickau , in : Archiv für Reformationsgeschichte 77 ( 1986 ), S. 31–46 ; Barbara Becker-Cantarino : Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur 1500–1800 , Stuttgart 1987 , S. 37 ff. 116 Zit. nach Frühsorge : Die Einheit aller Geschäfte ( s. Anm. 58 ), S. 147 f. 117 Gössmann ( Hg. ): Das wohlgelahrte Frauenzimmer ( s. Anm. 66 ), S. 1 ff. 118 Zit. nach Frühsorge : Die Einheit aller Geschäfte ( s. Anm. 58 ), S. 147 f. 119 Margarete Mitscherlich : Die friedfertige Frau. Eine psychoanalytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter , Frankfurt / M. 1987 , S. 4. 120 Merchant : Der Tod der Natur ( s. Anm. 7 ), S. 82 ff.
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Hauptpfeiler das Haus war. Luther unterschied in seiner Regimenter-Lehre drei Ebenen von Herrschaft : den status oeconomicus , das Haus , den status politicus , den Staat , und den status ecclesiasticus , die Kirche. Die beiden weltlichen Ordnungen , der status oeconomicus und der status politicus , waren nach seiner Systematik unmittelbar zum Reich Gottes , dem Status ecclesiasticus.121 Modell aller denkbaren Herrschaftsbeziehungen war die Hausherrschaft. Indem göttliche und menschliche Ökonomie in einen Zusammenhang gestellt wurden , rückte der Hausvater in eine gottähnliche Stellung auf. Aber auch die Hausmutter – und nur in dieser Funktion hatte die Frau gesellschaftliche Relevanz – stand nicht für sich , abgedrängt ins Abseits und ‚eingemauert‘ in die Ehe. Ihrer Position in der Ehe entsprachen im weltlichen Bereich die Untertanen im Staat und im geistlichen die Gemeinde in der Kirche. So wie die Frau zum Gehorsam gegenüber dem Mann erzogen werden sollte , so wurde der Untertan dazu angehalten , der Obrigkeit gehorsam zu sein. Davon konnte aber in der Frühneuzeit keine Rede sein.122 Dies zeigen insbesondere Arbeiten zum bäuerlichen Widerstand. VIII.
Die lange vorherrschende Meinung , dass die Bauern seit der Niederlage im Bauernkrieg 1525 aus der Geschichte ausgeschieden seien , gilt inzwischen als widerlegt. In dialektischer Umkehrung der älteren Auffassung neigt die Forschung heute dazu , Unruhen als strukturelles Merkmal der Ständegesellschaft anzusehen.123 Dem Unterschichtenprotest wird eine konstitutive Rolle im Formierungsprozess der modernen Gesellschaft zugebilligt.124 Die konflikttheoretischen Ansätze können auch der Frauengeschichte eine erweiterte Perspektive eröffnen. Wenn die Bilder von der ‚aufsässigen Frau‘ , von denen eingangs die Rede war , geeignet waren , ‚Untertanenungehorsam‘ in einem ganz allgemeinen Sinn darzustellen , liegt es nahe zu vermuten , dass ‚Untertanenungehorsam‘ , der auf den Abbau hierarchischer Strukturen zielte , umgekehrt auch Frauen veranlassen konnte , sich gegen die Herrschaft ihrer Männer aufzulehnen. Die Parallelisierung der Herrschaftsverhältnisse via Hausherrschaft , die den Untertanen eingeschärft worden war , bot einen Ansatzpunkt , auch die Verhältnisse ‚im eigenen Haus‘ zu hinterfragen. Es drängt sich daher der Verdacht auf , dass sich die Forschung 121 Otto Brunner : Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘ , in : Ders. : Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte , Göttingen 21968 , S. 33–61 ; Gotthard Frühsorge : Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen Oeconomia christiana. Zur Rolle des Vaters in der ‚Hausväterliteratur‘ des 16.–18. Jahrhunderts in Deutschland , in : Das Vaterbild im Abendland I , hg. von Hubertus Tellenbach , Stuttgart 1978 , S. 110–123. 122 Peter Blickle : Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch , München 1981 ; Ders. : Gemeindereformation ( s. Anm. 106 ). 123 Peter Blickle : Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800 , München 1988. 124 van Dülmen : Entstehung des frühneuzeitlichen Europa ( s. Anm. 111 ), S. 12.
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allzu schnell mit dem Verdikt einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur und deren Straffung in nachreformatorischer Zeit abgefunden hat. Gerade in Deutschland , wo mit der Stärkung des Gemeindeprinzips Tendenzen zum Durchbruch kamen , die die feudalhierarchische Struktur destabilisierten – P. Blickle spricht vom Kommunalismus als dem „dritten Weg“ in die Moderne125 – boten sich für Frauen Anknüpfungspunkte , gegen ihre eigene Unterlegenheit zu rebellieren. Andererseits gab die starke Stellung der Gemeinden den sie repräsentierenden Männern besonders wirksame Mittel in die Hand , Partizipationswünsche minderberechtigter Gruppen im eigenen Machtbereich ( Haus bzw. Gemeinde ) zu unterdrücken. Die Beteiligung von Frauen an Aktionen kollektiven Ungehorsams in der Frühen Neuzeit ist bislang nicht systematisch untersucht. Die wenigen Hinweise , die vorliegen ,126 sprechen eher dafür , dass Frauen im bäuerlichen Widerstand nicht als eigenständig handelnde Gruppe auftraten. Ähnlich wie die Burschenschaften entfalteten sie ihre Aktivitäten nur im Rahmen gemeindlich tolerierter und kontrollierter Gewalt. Dass Frauen dabei in Übereinstimmung mit ihren Männern handelten , ist vor allem damit zu erklären , dass beide , Frauen und Männer , in diesen Aktionen an der gleichen Rolle partizipierten : Sie waren die Beherrschten , die sich gegen die Herrschenden auflehnten. Von den vielfältigen institutionalisierten Möglichkeiten der rechtlichen Austragung eines Konflikts waren Frauenweitgehend ausgeschlossen ; d. h. konkret : sie waren an den zahlreichen Prozessen von Untertanen gegen ihre Obrigkeit nur als Witwen unmittelbar beteiligt. In direkten Widerstandsaktionen , die trotz der tendenziellen Verrechtlichung sozialer Konflikte nie verdrängt worden waren , boten sich den Frauen dagegen gerade aufgrund ihrer gesellschaftlichen Hintanstellung erweiterte Handlungsmöglichkeiten. Indem sie sich hinter ihrer Rolle versteckten , konnten sie sich schützend vor ihre Männer stellen. Fast immer waren es die Frauen , die die Tür öffneten , wenn plündernde Soldaten oder pfändende Amtleute ins Haus kamen. Blitzschnell mussten sie die Situation einschätzen und reagieren. Ihre fixierte Rolle als das schwache Geschlecht , das Anspruch auf Schutz auch vonseiten der Obrigkeit hatte , ebnete ihnen einen schmalen Pfad , männlicher Aggression entgegenzutreten. Auch ihre mindere Rechtsstellung , die die gleichzeitige Unterwerfung unter den Mann und unter den Herrn zur Folge hatte , konnten sie in Gemeindekonflikten zugunsten der Allgemeinheit nutzbar machen. So brachten Frauen in der Inzlinger Rebellion am Anfang des 17. Jahrhunderts als einzige Rechtfertigung ihrer kollektiven Frondienstver-
125 Blickle : Untertanen ( s. Anm. 122 ), S. 114. 126 Belege bei Andreas Suter : „Troublen“ im Fürstbistum Basel 1726–1740. Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert , Göttingen 1985 , S. 349 ff ; Werner Trossbach : Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806 , Weingarten 1987 , S. 147 ff.
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weigerung vor , das Fronen „inen durch ire mannen verbotten“ sei.127 Um die Vorteile der weiblichen Minderwertigkeit auszunutzen , schlüpften auch Männer in die Rolle von Frauen. N.Z. Davis hat für diese Form männlichen Transvestitentums viele Beispiele aus dem außerdeutschen Raum zusammengetragen.128 XI.
Fassen wir die verstreuten Hinweise über weibliches Verhalten gegenüber jedwelcher Obrigkeit in nachreformatorischer Zeit zusammen , so verdichtet sich die Vermutung , dass Frauen nach wie vor ausgesprochen widerspenstig und unartig waren. Sie fluchten und schlugen sich und hielten sich weder an kirchliche noch an weltliche Gebote. „Promiscue“ mit den Männern gingen sie zum Tisch des Herrn , und heimlich machten sie seltsame Tänze um den Altar.129 Es mangelte ihnen an – der herrschenden – Moral und Disziplin. Wo Frauen ein Gewerbe trieben , missachteten sie öfter als Männer die obrigkeitlichen Gesetze.130 Das Lumpenweiblein von Straßburg gab seinen bösen Lebenswandel nicht einmal auf , als der Rat glühende Zangen und den Tod durch Ertränken androhte. Die widerspenstige Händlerin hatte den Zorn der Obrigkeit auf sich gezogen , als sie erklärte , sie achte die Erlasse des Rates selbst dann nicht , wenn sie im Namen Gottes verkündet würden.131 Unartige Weiber finden wir überall : in der Backstube , wo sie partout neben dem Brot noch Kuchen backen und sich nicht mit der erlaubten Menge Teig begnügen wollen132 ; am Brunnen , wo sie beim Waschen und beim Sieden und Laugen des Garns tratschen , und im Haus , wo sie ihre Männer vernachlässigen oder das Werg nicht fertig spinnen.133 In ihrer Unbotmäßigkeit standen Männer den Frauen jedoch nicht nach. In Visitationsprotokollen und Urfehdbriefen ist viel mehr von schlagenden Männern als von bösen Weibern zu lesen.134 Den Gerichtsak127 Generallandesarchiv Karlsruhe 229 / 49291. Dazu : Claudia Ulbrich : La ribellione di Inzlingen ( 1600–1613 ). Un caso di resistenza contadina nella Germania sud-occidentale , in : Quaderni Storici 63 ( 1986 ), 759–774. 128 Davis : Humanismus ( s. Anm. 11 ), S. 143. 129 Das Folgende beruht auf der Auswertung von Visitationsprotokollen aus dem saarländisch-pfälzischen Raum ( s. Anm. 42–44 ) und Karl Lohmeyer : Bearbeitung von Birkenfelder Kirchenbüchern , T. 1 : Die geschichtlichen , kultur- und volkskundlichen Beziehungen , Birkenfeld 1909. 130 Merry E. Wiesner : Working Women in Renaissance Germany , New Brunswick 1986 , S. 111 ff., 121 : „Women were regularly discovered breaking any rule that was set”. 131 Ebda., S. 125. 132 Stadtarchiv Saarbrücken , Bestand St. Johann ( 1599–1603 ), Stadtprotokoll vom 21. 7. 1603. 133 Treusch-Dieter : Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde ( s. Anm. 16 ), S. 49. 134 Von 300 Urfehdbriefen aus Villingen ( Mitte 15. Jh. bis Ende 16. Jh. ) betrafen 39 ( 13 % ) Frauen. Die häufigsten Delikte waren Diebstahl sowie Fluchen und Zanken. In 45 Fällen ( 15 % ) schworen Männer eine Urfehde wegen Vergehen gegen Frauen ( Ehebruch , Vergewaltigung , Misshandlung ); Quelle : Stadtarchiv Villingen.
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ten zufolge versäumten Männer weitaus häufiger als Frauen ihre Pflichten , die Familie zu ernähren. Statt zu arbeiten , saßen viele im Wirtshaus , spielten Karten und tranken Wein. Viel eher als Frauen , die durch die Sorge für die Kinder gebunden waren , liefen Männer weg , wenn es ihnen zuhause nicht mehr passte , und suchten anderwärts ihr Glück. Frauen mussten sehen , wie sie sich und ihre Kinder durchbrachten. Wenn sie konnten , setzten sie sich gegen ihre Männer zur Wehr. Dieser erste Befund aus Visitationsprotokollen darf natürlich nicht verallgemeinert werden. Er bezieht sich auf eine ganz bestimmte – ländliche – Region und auf eine ganz bestimmte – bäuerliche – Sozialstruktur. Für die städtische oder die adelige Welt galten ganz andere Regeln. Im Dorf wurden Frauen vermutlich noch wesentlich länger als unruhestiftendes Element wahrgenommen als in der Stadt.135 Zu ihren ‚klassischen‘ Aufgaben gehörte die Präsenz und teilweise auch aktive Teilnahme an Raufhändeln. Dabei handelte es sich keineswegs nur um die den Frauen gerne nachgesagte ‚Zanksucht‘ , das Wort an sich ist schon diffamierend , sondern um eine wichtige Funktion für die Aufrechterhaltung der Ehre im Haus und der Ordnung im Dorf.136 Aus den Gerichtsprotokollen von Domfessel im Unterelsass erfahren wir von einem ganz alltäglichen Streithandel. Ein Mann hatte nach einem Wirtshausbesuch seinen Schwager verwundet. Kaum war der Streit ausgebrochen , kam es zu einem „Zulauff der weiber“, die die Szene beobachteten und damit eine Kontrollfunktion ausübten. Nachdem ein Friedgebot des Pfarrers nichts nutzte , kam die Frau des Delinquenten , „die nimpt ihn beym sack , und würffet ihn in die stein und kot , biß dz hilffe von andern geschieht“.137 Ein so unmittelbares Eingreifen von Frauen war in der damaligen Rechtsordnung nicht mehr vorgesehen. Dies mussten auch die 58 Frauen aus dem hessischen Breitenbach erfahren , als sie in der Mitte des 17. Jahrhunderts einem geschlagenen Ehemann das Dach abdeckten. Ihre Aktion hatte ein gerichtliches Nachspiel. Die Kasseler Regierung betrachtete die dörflichen Sitten und Rügebräuche „als Exzesse , als Unfug , als unrechtmäßige Aneignung herrschaftlicher Rechte“.138 Zur Schlichtung ehelicher und dörflicher Streitigkeiten standen weltliche und kirchliche Gerichte zur Verfügung. Frauen konnten , wollten sie zu ihrem Recht kommen , obrigkeitliche Hilfe in Anspruch nehmen. Damit verhalfen sie aber gerade jenen Institutionen zum Durchbruch , die sich die Domestizierung der Untertanen und die Verdrängung der Frau ins Haus zum Ziel gesetzt hatten. Während die institutionalisierten Formen dörflicher Gerichtsbarkeit eine reine Männersache waren , sicherten sich die Frauen durch ihre Präsenz , ihre Parteinahme 135 Wunder : Frauen ( s. Anm. 20 ), S. 140. 136 Bernhard MüllerWirthmann : Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf , in : Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. Bis zum 19. Jahrhundert , hg. von Richard van Dülmen , München 1983 , S. 79–111 , hier S. 82. 137 Landesarchiv Saarbrücken 22 / 4159. 138 Vanja : ‚Verkehrte Welt‘ ( s. Anm. 48 ), S. 29.
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( Tratsch ) und ihr ‚unartiges‘ Eingreifen in Streithändel noch lange eine aktive Beteiligung am Leben der Dorfgemeinschaft. Für Frauen als das biologisch schwächere Geschlecht hatte der Prozess der Institutionalisierung , der in der Frühneuzeit in zunehmendem Maße auch die Ebene des Dorfes erreichte , eine ambivalente Funktion : Einerseits trug er dem weiblichen Schutzbedürfnis Rechnung , andererseits war er der entscheidende Motor zur Verdrängung der Frau ins Haus und zur Zweiteilung der Welt in eine weiblich-friedfertige und eine männlich-aggressive. Um die Frauen zu domestizieren , hatten die Männer sich sehr viel einfallen lassen : Sie marginalisierten , dämonisierten und hysterisierten sie. Sie taten dies so nachhaltig , dass alternative gesellschaftliche Denkkonzepte , die weibliches Rollenverhalten verändern konnten , bis heute nicht in das Wissensrepertoire der Gesellschaft aufgenommen sind. Während weibliche Widerspenstigkeit stigmatisiert wurde , wurden die ‚unartigen Weiber‘ verschwiegen. Damit kommen wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurück : zur Geschichte von der widerspenstigen Ertrunkenen und ihre seltsamen Metamorphose in Conrads Predigt. Wäre die Frau nicht gegen den Strom geschwommen , so hätte man sie ganz vergessen.
Grenze als Chance ? Bemerkungen zur Bedeutung der Reichsgrenze im Saar-Lor-Lux-Raum am Vorabend der Französischen Revolution Grenzen werden und wurden nicht nur gezogen , um abzugrenzen , sondern auch um einzugrenzen. Das bedeutet , dass sie nicht notwendigerweise gegen andere gerichtet , mit Aggression nach außen und Assimilation im Innern verbunden sein müssen , vielmehr können sie auch Ausgangspunkt sein , eine Kultur der Verschiedenheit zu begründen , die befähigt , das „Menschenrecht auf Unterschied“ zu respektieren.1 Solange die Nation und mit ihr die moderne Grenze nicht erfunden war , waren Grenzen durchlässig. Sie hatten eine Scharnierfunktion , die Untertanen und Herrschaft in unterschiedlicher Weise nutzen konnten. Diese Scharnierfunktion von Grenze und ihre mögliche Auswirkung auf die Mentalität von GrenzlandbewohnerInnen sollen Gegenstand der folgenden Überlegungen sein , die ganz bewusst aus der Perspektive der Peripherie , des angeblich Marginalen argumentieren , das sich dem kategorisierenden Zugriff einer Perspektive von oben widersetzt , die die Welt in unendlich viele Dualismen einteilt , ohne jemals ihre Komplexität zu begreifen. Meine Ausführungen basieren auf einer mikrohistorischen Untersuchung , die sich auf die Reichsgrafschaft Kriechingen , eine Enklave in Deutsch-Lothringen , bezieht.2 Zur Grafschaft Kriechingen gehörten am Ende des 17. Jh. 60 Dörfer ganz oder zum Teil. Die unter Reichshoheit stehenden Dörfer Kriechingen , Steinbiedersdorf , Dentingen , Momersdorf , Niederwiesen , Büdingen , Saarwellingen und Tetingen bildeten das „Land der Grafschaft Kriechingen“, ein Gebilde ohne territoriale Einheit , das sich durch die gemeinsame Unterstellung unter den Landesherren und die Zuständigkeit der Reichsgerichte definierte. Zu den unter französischer , luxemburgischer bzw. lothringischer Souveränität stehenden kriechingischen Dörfern bestanden keinerlei Beziehungen , wohl aber zur jeweiligen französischen bzw. lothringischen Nachbarschaft.
1 Einen Überblick über die neueren Arbeiten zum Thema Grenze gibt Hans Medick : Zur politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Neuzeit Europas , in : Sozialwissenschaftliche Informationen 20 ( 1991 ), S. 15–163. 2 Zu Kriechingen : Claudia Ulbrich : L’impact de la Révolution française dans le compté de Créhange , pays enclave en Lorraine , in : Révolution Française 1988–1989. Actes des 113 et 114 congrès nationaux des societés savantes , Paris 1991 , 425–435. Dies. : Die Bedeutung der Grenzen für die Rezeption der französischen Revolution an der Saar , in : Aufklärung , Politisierung und Revolution ( Bochumer Frühneuzeitstudien 1 ), hg. von Winfried Schulze , Pfaffenweiler 1991 , S. 147–174. Dies. : Traditionale Bindung , revolutionäre Erfahrung und soziokultureller Wandel. Denting 1790–1796 , in : Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution , hg. von Karl Otmar Frhr. v. Aretin / Karl Härter , Mainz 1990 , S. 113–130.
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Die Reichsgrenze als eine unter vielen
Mit Ausnahme von Teting , einem Kondominium , war jedes der kriechingischen Dörfer mit einer Reichsgrenze umgeben. Diese territoriale Vielfalt war das Ergebnis einer Politik , die sich grundsätzlich von unseren modernen Vorstellungen von Gebietshoheit unterschied und auf die Möglichkeit der Nutzung von Grenzen erheblichen Einfluss hatte. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war weder im Reich noch in Frankreich die Idee einer territorialen Souveränität alleinige Grundlage der Expansionspolitik. Als Folge von Kriegen oder diplomatischen Beziehungen wurden nicht Gebiete , sondern ( Lehens )herrschaften mit ihren nicht einmal in Friedensverträgen genau präzisierten „Zubehörden“ und Herrschaftsrechte abgetreten oder annektiert.3 Besonders der Erwerb der hohen Gerichtsbarkeit bot die Möglichkeit , weitergehende Rechtsansprüche , wie etwa ein allgemeines Besteuerungsrecht , zu begründen. Der Zeitpunkt des Erwerbes hatte Einfluss auf die Zollgrenzen. Für Frankreich , das vor der Revolution ein extrem kompliziertes Zollsystem hatte , kann man drei Kategorien von Provinzen unterscheiden : 1. Das Gebiet der „cinq grosses fermes“. Es umfasste zwölf Provinzen , die untereinander freien Handel hatten und an ihren Grenzen gleichen Ein- und Ausfuhrbestimmungen unterworfen waren ; 2. „Les provinces réputées étrangerès“. Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von Provinzen , die sowohl untereinander als auch im Handel mit Dritten Zölle zahlen mussten ; 3. „Les provinces dites de l’étranger effectif “. Dies waren die zuletzt an Frankreich gekommenen Provinzen , unter ihnen Lothringen , die freien Handel mit dem Ausland hatten und zollmäßig von Frankreich getrennt waren.4 Auch im Reich lösten Grenzzölle erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Binnenzölle ab. Hier war die Zollhoheit mit dem Zerfall der kaiserlichen Macht an die Landesfürsten und teilweise sogar an die Städte übergegangen. Wie die Zollgrenze war auch die militärische Grenze nicht mit dem Machtbereich der Krone identisch. Sie orientierte sich an strategischen Punkten , nicht an den Rändern , Randzonen oder -linien eines Territoriums. Kulturelle Grenzen deckten sich manchmal , aber nicht immer mit den Reichsgrenzen. So war die Reichsgrenze , die die kriechingischen Dörfer umgab , weder eine Sprachgrenze noch stand sie in einem 3 Nelly Girard d’Albissin : Genèse de la frontière franco-belge. Les variations des limites septentrionales de la France de 1659 à 1789 , Paris 1970. 4 Marcel Marion : Dictionnaire des institutions de la France aux XVIIe et XVIIe siècles , Paris 1984 , Artikel : Traités , S. 538–540.
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unmittelbaren Zusammenhang mit der kirchlichen Organisation. Trotz der Rekatholisierungspolitik der französischen Krone war sie keine Konfessionsgrenze , jedenfalls nicht für die katholische und jüdische Bevölkerung. Des Weiteren war sie nicht identisch mit der Währungsgrenze , und sie entsprach nicht einmal eindeutig einer rechtlichen Grenze : Das Gewohnheitsrecht , das nach wie vor Geltung hatte , kümmerte sich auch im 18. Jahrhundert noch nicht um politische Grenzziehungen. Die Reichsgrenze hatte darüber hinaus keinen oder zumindest keinen behindernden Einfluss auf Ehestiftung und Verwandtschaftsbeziehungen , auf Grundbesitz und Mobilität. Selbst bei der Auswahl der Orte , in die das Metzer Hospital Waisenkinder schickte , um sie von Ammen aufziehen zu lassen , beachtete man die Grenze nicht. Dennoch war die Grenze als Staatsgrenze existent , sichtbar und bedeutsam. Sie trennte Bereiche unterschiedlicher Souveränität ab : Ein Haus , ein Dorf oder eine Herrschaft und ihre „Zubehörde“ unterstanden der Souveränität des Kaisers oder Königs , wobei der Begriff der Souveränität für beide Staaten , für Frankreich und das Reich , unterschiedlich definiert war. Für die Menschen , die in der Grafschaft Kriechingen lebten , bedeutete die Zugehörigkeit zum Reich vor allem , dass sie den Reichsgerichten unterstellt und in die Kreisverfassung ( Oberrheinischer Kreis ) eingebunden waren , Kontributionen zu Reichsanlagen leisten mussten und ihr Recht in deutscher Sprache von einem in kaiserlichen Rechten erfahrenen Amtmann oder Richter erhielten. Sichtbarer Ausdruck der Zugehörigkeit zum Reich waren u. a. die Grenzpfähle mit dem Reichsadler , die nicht an der Grenze , sondern in den Dörfern angebracht wurden. Aus französischer Perspektive hatte die Staatsgrenze eine größere Bedeutung , weil die Souveränität des französischen Königs mehr Rechte an seine Person bzw. an sein Amt band als dies im Reich der Fall war. Die Grenze des französischen Staates war , nicht anders als die Reichsgrenze , Sprachgrenze , soweit sie sich auf die offizielle Sprache der Verwaltung und des Gerichtes bezog. Sie grenzte die Gerichtsorganisation und den Geltungsbereich des geschriebenen Rechtes ab. Da der französische König nicht nur Gerichtshoheit , sondern auch Steuer- und Verwaltungshoheit beanspruchte , war seine Macht deutlicher zu spüren als im Reich , verkörpert durch zahlreiche Grenzaufseher und Polizisten ( Maréchaussés ). Reichs- , Zoll- , Steuer- und Gemeindegrenzen konnten , mussten sich aber nicht überlagern. In der Regel folgte die Reichsgrenze jedoch genau festgelegten älteren Gerichts- oder Gemeindegrenzen. Der Umstand , dass die Reichsgrenze nur eine von außerordentlich vielen Grenzen war , die die Gesellschaft des Ancien Régime durchzogen , relativierte ihre Bedeutung. Selbst für Menschen , die an der Grenze wohnten , waren andere Grenzen , Dorf- , Gemarkungs- oder Nutzungsgrenzen wesentlich wich-
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tiger. Sie grenzten die Rechte zwischen Einzelnen , zwischen Gemeinden oder Herrschaften räumlich klar voneinander ab.5 Sie waren durch ein umfassend geregeltes Grenzrecht und ein rigides Strafrecht geschützt , durch Zeichen kenntlich gemacht , ihre Kenntnis durch regelmäßige Umgänge gesichert. Die Dorf- , Gemarkungs- und Nutzungsgrenzen dienten dem Bedürfnis nach Ab- und Ausgrenzung , sie waren es , die als erste Identität stifteten , Mobilität zuließen oder kontrollierten. Auf die kleinen , überschaubaren Einheiten der Gemeinde bzw. der Herrschaft bezog sich denn auch bis weit ins 18. Jahrhundert der Begriff des Ausländers.6 Grenze für die Herrschaft – Chance für die Untertanen
Die Komplexität der Grenzen eröffnete den Menschen Handlungsspielräume und begründete besondere Formen der Mobilität und der Loyalität. Ausgerechnet im Grenzland gelang es dem Landesherrn nicht , auswärtige und fremde Ehen zu unterbinden und eine immobile Dorfgesellschaft heranzuziehen. Es bestanden gute Beziehungen zu den benachbarten Franzosen und Lothringern , von denen man nicht nur im Schmuggel , sondern auch im Konfliktfall reichlich Gebrauch machte. Im Schutz der Grenze leisteten die Untertanen der Reichsgrafschaft Kriechingen während des gesamten 18. Jahrhunderts ihren Landesherrn Widerstand , um ihre hergebrachten Rechte zu verteidigen. Sie führten Prozesse gegen sie , verweigerten Abgaben , griffen angeblich in herrschaftliche Wald- , Wasser- und Weidegerechtigkeiten ein. Solche Unbotmäßigkeit , die in den Augen der Untertanen nichts anderes als legitime Selbsthilfe war , wurde in der Regel durch militärische Exekutionen unterdrückt. Diese waren in Kriechingen schwer durchzuführen , weil der Landesherr , wollte er Truppen ins Land holen , zuerst beim französischen König ein Truppendurchmarschrecht erwirken musste. Rückten Truppen ein , konnten die Untertanen sich und ihre Habe jenseits der nahen Reichsgrenze in Sicherheit bringen , wenn sie früh genug gewarnt worden waren. So berichtet 1771 ein Kommandant , der nach Dentingen geschickt worden war , um angeblich rebellische Untertanen auszupfänden , die Landreiter seien am hellen Tag , abends um 6 Uhr im Dorf angekommen. Bis der Sergeant vom Pferd abgesessen wäre und die Ordre verlesen hätte , seien sie alle entsprungen und auf Loth-
5 Karl Siegfried Bader : Der schwäbische Untergang. Studien zum Grenzrecht und Grenzprozeß im Mittel alter ( Freiburger Rechtshistorische Arbeiten , Bd. 4 ), Freiburg1933 , und Ders. : Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf , Wien / Köln / Graz 1973 , S. 235 ff. 6 Ähnliches gilt auch für den Begriff Vaterland. Für die Kriechinger Untertanen war die Grafschaft , nicht das Reich das Vaterland.
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ringer und französischer Grenzen gewesen. Bei ihren Verwandten jenseits der Grenze hätten sie auch ihre Möbel und das Vieh in Sicherheit gebracht.7 Ein Hindernis stellte die Grenze , dies mag dieser kleine Zwischenfall zeigen , weit eher für die Herrschenden dar , die ein einheitliches Territorium regieren und kontrollieren wollten , als für die Beherrschten , die sich und ihre Habe hinter der Grenze dem herrschaftlichen Zugriff entziehen und mit Hilfe der Grenze eigene Rechtsvorstellungen durchsetzen konnten. Da man sich weitgehend darauf verlassen konnte , dass weder ein deutscher Soldat noch ein französischer Grenzposten die Grenze überschreiten würde , weil er mit einer Verletzung der Grenze einen ernsthaften zwischenstaatlichen Konflikt provozierte , war die genaue Kenntnis der Grenze erforderlich , wurde die Grenzlinie für viele weit eher ein Schutzwall als eine Trennungslinie. Eine weitere Möglichkeit , sich der Herrschaft zu entziehen , war dadurch gegeben , dass GrenzlandbewohnerInnen sich einem anderen Schutzherren unterstellen konnten. Konkurrenz zwischen Inhabern verschiedener Herrschaftsrechte – Leibherr , Gerichtsherr , Lehensherr oder Landesherr – haben Untertanen immer ausgenutzt. Im Grenzland kommt als weitere Option der Staatswechsel hinzu. Obwohl vor der französischen Revolution die Idee des Selbstbestimmungsrechtes der Völker noch nicht ausgereift war , war es im Grunde gerade diese Idee , die die Menschen im Grenzland nutzten , um ihre Interessen zu verteidigen. Sie lebten in der Fiktion , sie könnten sich , wenn die Herrschaft ihnen Recht versagte , einem anderen Herrn unterstellen. In Krisensituationen konnte die Vorstellung einer zumindest theoretischen Option – für den Kaiser oder den König – handlungsmotivierend werden. 1660 hatten sich die Dörfer der Reichsgrafschaft Kriechingen zum ersten Mal angeblich freiwillig Frankreich unterworfen.8 Sie hofften , mit dieser Entscheidung ihre im Krieg aufgeladene , unerträgliche Schuldenlast verringern zu können. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts drohten sie dann mehrfach mit einem Herrschaftswechsel. Ein halbes Jahrhundert später wurde diese Drohung fast zur Realität. Die Unruhen in der Grafschaft Kriechingen hatten bis dahin in einem solchen Maße zugenommen , dass es zur Normalität wurde , dass Abgaben nicht freiwillig entrichtet , sondern durch militärische Exekutionen gewaltsam eingetrieben wurden. Diese Exekutionen waren grausam und ruinös. Eine Möglichkeit , sich vor ihnen zu schützen , war die bereits erwähnte Flucht , eine andere der Herrschaftswechsel. 1764 nahmen die Untertanen der am meisten bedrohten Kriechinger Orte von sich aus Verhandlungen mit dem lothringischen Intendanten auf , um zu erreichen , dass die Grafschaft unter ein französisches Protektorat gestellt wurde. Damit leiteten sie langfristige Austauschverhandlungen 7 Landesarchiv Koblenz 56 / 501 : In sachen sämtlicher Untertanen und Dorfschaften der Grafschaft Kriechingen ctr. Herren Grafen zu Wied Runkel , Bericht vom 25. Mai 1771. 8 Archives départementales de la Moselle 10 F 77 : Die Teutsche Reichsgrafschaft Krichingen von den Franzosen mishandelt , 1793 , S. 10.
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ein , die jedoch vor der Revolution nicht mehr zum Abschluss kamen.9 Immerhin verweigerte Frankreich seit der Mitte der 70er Jahre dem Kreiskontingent ein Truppendurchzugsrecht. Als dem Grafen nicht einmal mehr der Bezug auf die Menschenrechte half , um seinen Anspruch , Pässe für die Soldaten zu erhalten , durchzusetzen , musste er mit seinen Untertanen einen Vergleich schließen. Trotz der wiederhergestellten Eintracht machten einige Kriechinger Gemeinden während der Revolution von dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Gebrauch und erbaten , wie viele andere Gemeinden im Grenzraum , die Reunion.10 Für sie blieb der Staat eine abstrakte und austauschbare Größe , dessen Legitimität primär funktional war. Obwohl in den Zeugenverhören sehr präzise zwischen Reichsuntertanen , sujet du roi und Lothringern unterschieden wurde , war die Zugehörigkeit zu einer Regierung mit einer gemeinsamen Tradition , Sprache und Geschichte wesentlich bedeutsamer als politische Grenzziehungen. Regeln und Realität des Handels
Dass Grenzen nicht nur trennten , sondern auch verbanden , zeigt sich auch am Schmuggel und der gemeinsamen Gegnerschaft gegen die Ferme. In Frankreich war die Erhebung von Steuern und Abgaben von den königlichen Domänen den „fermes genérales“ verpachtet , die ein Monopol für Salz und Tabak hatten und indirekte Steuern einzogen. Um ihrer Aufgabe , die Grenzen zu überwachen , gerecht zu werden , durften sie in einem gewissen Umfang staatlich-hoheitliche Funktionen wahrnehmen : Es stand in ihrer Macht , Gesetzesbrecher zu verfolgen , zu verhaften und zu bestrafen. Die „fermes genérales“ wurden jedoch erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu wirksamen Kontrollinstanzen , eine Entwicklung , die letztlich dazu führte , dass seit dieser Zeit auch der Schmuggel professioneller , zum Schluss sogar paramilitärisch organisiert wurde. Eine „Armee“ von 24. 000 Zöllnern kontrollierte in der Mitte des 18. Jahrhunderts die französischen Grenzen und lieferte die Delinquenten , so sie ihrer habhaft werden konnte , barbarischen Strafen aus. Dessen ungeachtet war der Schmuggel erheblich , denn die Grenze fokussierte schattenwirtschaftliche Aktivitäten innerhalb der jeweiligen Region. Besonders intensiv war er im Südosten , wo Textilien und andere Produkte , für die die Compagnie des Indes ein Monopol hatte , aber auch Uhren und Edelsteine aus der Schweiz illegal eingeführt wurden. Hier gab es ein professionalisiertes , hochgradig organisiertes und hierarchisch strukturiertes System von Schmugglerbanden.11 9 François-Yves Le Moigne : Versailles et Créhange au XVIIIe siècle ou les aléas d’une politique frontalière , in : L’Europe , l’Alsace et la France , FS : Georges Livet , Strasbourg 1986 , S. 307–316. 10 Claudia Ulbrich : L’impact ( s. Anm. 2 ), S. 432 f. 11 Paul Bequet : Contrebande et contrebandiers , Paris 1972 , S. 13 ff.
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Im Osten , im Bereich der „provinces dites de l’étranger effectiv“, die freien Handel mit dem Ausland hatten , überwog der Schmuggel von Salz und Tabak , die in jeder einzelnen französischen Provinz mit einer besonderen Steuer belegt waren. Salz und Tabak wurden trotz ihrer objektiv gesehen sehr verschiedenen Bedeutung als lebenswichtige Nahrungsmittel betrachtet , auf die auch die Armen einen Rechtsanspruch zu haben glaubten : Das Salz , weil es für die Ernährung und Viehzucht unentbehrlich war , der Tabak , weil er half , die Entbehrungen des täglichen Lebens zu kompensieren.12 Die Bevölkerung war gezwungen , Salz und Tabak bei der Ferme selbst zu kaufen oder einen Jahresvertrag für die Salzabnahme zu schließen. Da Salz und Tabak im Reich billiger waren als in Frankreich , boten sich die grenznahen Orte und die Enklaven als Stützpunkte für den Schmuggel an. Zwar hatten auch die kriechingischen Orte einen Handelsvertrag mit der Ferme , doch durfte diese aufgrund der Komplexität der Grenzen innerhalb der Grafschaft keine staatlich-hoheitlichen Funktionen wahrnehmen , d. h. sie durfte die Schmuggler nicht jenseits der Reichsgrenze verfolgen und war auf „Amtshilfe“ seitens des Landesherrn angewiesen. Da Schmuggler sich vergleichsweise leicht in die Enklaven zurückziehen konnten , galten diese den französischen Behörden denn auch als „asile de criminels et de déserteurs et un foyer de contrebande“.13 Die kriechingischen Dörfer waren von einer dichten Kette von Wachen umgeben. Um sie zu überlisten , waren gute , grenzüberschreitende Beziehungen zwischen Käufern und Händlern und ein funktionierendes Informations- , Warn- und Überwachungssystem erforderlich. Es wurde wesentlich über Frauen organisiert und basierte auf einem dichten Netz verwandtschaftlicher Beziehungen und auf gegenseitigen Arbeitsverhältnissen. Ein wichtiges Bindeglied stellten Reichsuntertanen dar , die als Soldaten in französischen Militärdienst traten , aber nicht in Kriegen gegen das Reich eingesetzt werden durften. Sie organisierten den Schmuggel in Gruppen von 30–40 Mann oder begleiteten diese zumindest und scheuten auch nicht davor zurück , Gewalt gegen die Grenzaufseher anzuwenden.14 Um nicht erkannt und verfolgt zu werden , schützten sie sich durch Verkleidung. Wer überführt wurde , musste mit harten Strafen rechnen. Immer wieder hört man Klagen in der Region , dass zwischen dem Delikt des Schmuggels und seiner Bestrafung ein grausames Missverhältnis bestünde. Offensichtlich wurde dies gerade dort empfunden , wo sich der Schmuggel nicht auf Handelsware , sondern auf lebensnotwendige Güter bezog. Zollkontrollen und -strafen waren eines der zentralen Themen in den am Beginn der französischen Revolution formulierten Beschwerdeschriften. So wird etwa im Ca12 Zur Bedeutung des Tabaks in Europa , s. Fernand Braudel : Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Der Alltag , München 1985 , S. 276 ff. 13 Le Moigne : Versailles ( s. Anm. 9 ), S. 311. 14 Archives diplomatiques Paris , C.P. 19 Allemagne , Petites Principautés Metz 10 F 67 , 10 F 421.
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hier de doléances einer Gemeinde im Saar-Lor-Lux-Raum geklagt , die Grenzaufseher betasteten „mit ihren frechen Händen den Körper von Personen beiderlei Geschlechts“ „bis zu den geheimsten Stellen … unter dem Vorwand , ein Händchen Salz oder für zwei Heller verbotenen Tabak zu suchen. Wenn sie nur das Geringste davon bei der Person finden , so erfolgt auf der Stelle unter großem Jubel Festnahme und Bestrafung der Protokollierten. Der Mann kommt ins Gefängnis , die Frau verliert den Mann , die Kinder den Vater , und wenn der Vater im Gefängnis ist , sterben die Kinder an Entkräftung , weil bei den hohen Kosten ein Loskaufen unmöglich ist.“15
Dieses Cahier , das hier stellvertretend für viele andere zitiert sei , zeigt zugleich den Zusammenhang von Schmuggel und sozialer Notlage an. Angesichts der Verbitterung der Bevölkerung verwundert es nicht , dass die Grenzaufseher 1789 die ersten Opfer des Volkszorns wurden.16 Der Versuch , die Kontrolle über die Untertanen zu verbessern und die Kosten für die Grenzaufseher zu verringern , war einer der Gründe dafür , dass man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der friedlichen Entflechtung der Grenzen begonnen hatte.17 Beschleunigt durch die Französische Revolution und den durch sie ausgelösten Zentralisierungsschub verloren die Binnengrenzen an Bedeutung. Sie wurden abgeschafft oder an die Landesgrenze verlagert , die nun territorialisiert wurde und als Zoll- und Steuergrenze größeres Gewicht erhielt. Die Kontrollen wurden verstärkt , die Strafen für Schmuggel verringert. Gleichzeitig erfolgte eine Konzentration aller politischen Kräfte im Zentrum , das sich politisch auflud , während sich die Staatsgrenze immer mehr zu einer Trennlinie verdichtete. Infolge dieses Prozesses setzte eine Bewegung ein , die von der Grenze wegführte und nicht mehr zur Grenze hin. Abschließend möchte ich drei Aspekte noch einmal besonders betonen : 1. Die Reichsgrenze war nur eine von außerordentlich vielen Grenzen , die die Gesellschaft des Ancien Régime durchzogen und die Räume ordneten. Dies relativiert ihre Bedeutung. 2. Solange die Grenze durchlässig war , hatte sie eine Scharnierfunktion. Sie verband die Menschen diesseits und jenseits der Grenzen. Mentalitätsprägend war nicht die zentripetale Orientierung auf ein politisches Zentrum , sondern die zentrifugale Bewegung hin zu den Grenzen. 15 Zitiert nach Johannes Schmitt : Französische Saarregion vor der Revolution , in : Revolutionäre Spuren … Beiträge der Saarlouiser Geschichtswerkstatt zur Französischen Revolution im Raum Saarlouis , hg. von Johannes Schmitt , Saarbrücken 1991 , S. 21 f. 16 Zu den Auseinandersetzungen mit den Grenzaufsehern um Salz und Tabak : Claudia Ulbrich : Sarreguemines en Révolution ou l’Histoire d’un Caméléon politique , in : Annales de l’est 1 ( 1992 ), S. 15–34. 17 Hans-Waller Herrmann : Beiträge zu den nassau-saarbrückischen Austauschverhandlungen mit Frankreich 1737–1768 , in : Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 16 ( 1968 ), S. 313–380.
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3. Grenze erweiterte die Handlungsspielräume der Untertanen , weil sie Schutz gewährte , Schattenwirtschaft ermöglichte und die Option für einen möglichen Herrschaftswechsel zuließ. Ein Hindernis stellte sie weit eher für die Herrschenden als für die Beherrschten dar.
Die Jungfrau in der Flasche. Ländlicher Traditionalismus in Deutschlothringen während der Französischen Revolution 1. Traditionalismus zwischen Kontinuität und Wandel
Mit der ländlichen Gesellschaft wird noch oft die Vorstellung von Traditionalität und Konservativität verbunden. Scheinbar unverändert verlief der bäuerliche Alltag über Jahrhunderte in gleichen Bahnen , strukturiert durch Kirchgang , Feste und Feiertage. Kirchliches Gemeindeleben und populare Frömmigkeit stabilisierten Denkhorizonte und Kulturmuster , die selbst ein so gewaltsames Ereignis wie die Französische Revolution kaum erschüttern konnte.1 Zwar wird die ältere Auffassung , der zufolge die Revolution im politischen und sozialen Bereich Zäsur , im kulturellen und religiösen aber Kontinuität bedeutet hat , längst nicht mehr unwidersprochen hingenommen ,2 haben insbesondere die Arbeiten von Michel Vovelle über die Dialektik der Entchristianisierung der longue durée und der brutalen Dechristianisierung des Jahres II die Möglichkeiten eines „Umbruchs der Mentalitäten“ aufgezeigt ,3 doch rückt das in jüngster Zeit stark anwachsende Interesse an gegenrevolutionären Bewegungen die Frage der Persistenz mentaler Strukturen , vor allem in der ländlichen Gesellschaft , wieder ins Blickfeld.4 Nicht nur für die Vendée , die bedeutendste und derzeit am besten erforschte Massenerhebung zur Zeit der Französischen Revolution , die 4–5 Millionen Bauern mobilisierte ,5 sondern auch für andere Regionen wurde nachgewiesen , dass die Volksaufstände der Revolutionszeit und die durch sie begründete Solidarität zwischen Adel , Klerus und Bauernschaft langfristige Wirkungen zeigten : Es entstand „ein katholisch-konservatives , antimodernistisches Sozialmilieu , das [ … ] vielerorts
1 Wolfgang Kaschuba : Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert , München 1990 , S. 78 ff. 2 Rolf Reichardt : Von der politisch-ideengeschichtlichen zur sozio-kulturellen Deutung der Franzö sischen Revolution. Deutschsprachiges Schrifttum 1946–1988 , in : Geschichte und Gesellschaft 15 ( 1989 ), S. 115–143. Rolf Reichardt : Stand und Perspektiven der kulturhistorischen Revolutionsforschung. Ein Überblick , in : 200. Jahrestag der Französischen Revolution. Kritische Bilanz der Forschungen zum Bicentenaire , hg. von Katharina Middell / Matthias Middell , Leipzig 1992 , S. 234–252. 3 Michel Vovelle : Vom Vendémiaire zum Fructidor des Jahres II : „Die andere Entchristianisierung“, in : Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich II , hg. von Hans Ulrich Gumbrecht / Rolf Reichardt / Thomas Schleich , München 1981 , S. 201–228. 4 Als Protagonisten dieser Auffassung sind v. a. F. Furet , D. Richet und R. Cobb zu nennen , die den traditionalistischen Charakter der städtischen und ländlichen Massenerhebungen herausgearbeitet haben. 5 Roger Dupuy : De la Révolution à la chouannerie : paysans en Bretagne : 1788–1794 , Paris 1988.
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bis ins 20. Jahrhundert fortbestand und zuweilen noch heute die religiösen Praktiken und das Wahlverhalten vieler Franzosen prägt“.6 Das seit der Aufklärung wachsende Bedürfnis nach Formen katholischer Frömmigkeit ist keineswegs auf Frankreich beschränkt und lässt sich daher nicht nur aus der Erfahrung der Revolution erklären.7 Doch bietet die Französische Revolution als eine Phase des gewaltsamen Zusammenpralls unterschiedlicher Kulturen weitaus eher als Zeiten eines langsameren Wandels die Möglichkeit , die an der Oberfläche kaum wahrnehmbare Beziehung von Kontinuität und Veränderung zu analysieren. Dass unsere Vorstellungen eines archaischen , ausschließlich rückwärtsgewandten und traditionsgebundenen „historisch stillgestellten ‚Volkstums‘ “ einer Revision bedürfen , daran lassen anthropologisch bzw. ethnologisch orientierte Forschungen keinen Zweifel.8 So hat der Soziologe Georges Balandier bereits in seiner 1967 erschienenen Anthropologie Politique unter Hinweis auf die ‚dynamischen Aspekte‘ des Traditionalismus eine Präzisierung des Begriffes gefordert. Ausgehend von außereuropäischen Gesellschaften unterschied er vier Ausdrucksformen traditionalen Verhaltens : den fundamentalen Traditionalismus , dessen Ziel die Erhaltung der „durch die Vergangenheit verbürgten sozialen und kulturellen Ordnungen und Werte“ ist , den formalen Traditionalismus , in dem Institutionen sowie soziale und kulturelle Muster beibehalten , ihnen aber eine andere Funktion zugewiesen wird , den WiderstandsTraditionalismus , der modifizierte oder wiederbelebte Traditionen dazu nutzte , Widerspruch auszudrücken , und schließlich den Pseudotraditionalismus , der mit Hilfe einer manipulierten Tradition „neuen Realitäten einen Sinn verleiht“.9 Balandiers Ansatz , der von der historischen Forschung kaum aufgegriffen worden ist , gibt ein begriffliches Instrumentarium an die Hand , das dringend erforderlich ist , um traditionsgebundene , rückwärtsgewandte oder konservative Bewegungen differenziert und präzise zu erfassen , und die Wandlungsfähigkeit der a priori als traditionsgebunden verstandenen Volkskultur sichtbar zu machen. Ein solches Raster scheint gerade für die Interpretation des Wandels der ländlichen Gesellschaft in der Französischen Revolution hilfreich , weil es differenziert genug ist , um den komplizierten , in sich widersprüchlichen Prozess der revolutionären Transformation auch dann zu beschreiben , wenn er sich nach außen lediglich als Konservativismus oder restaurative Bewegung
6 Michael Wagner : Die Gegenrevolution , in : Die Französische Revolution ( Ploetz ), hg. von Rolf Reichardt , Freiburg 1988 , S. 98–111 , hier S. 111. 7 Kaschuba : Lebenswelt ( s. Anm. 1 ), S. 78 f. 8 Wolfgang Kaschuba : Ritual und Fest : Das Volk auf der Straße. Figurationen und Funktionen populärer Öffentlichkeit zwischen Frühneuzeit und Moderne , in : Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung , hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1992 , S. 240–267. 9 Georges Balandier : Politische Anthropologie , München 1972 , S. 180 f.
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darstellt. Im Folgenden soll versucht werden , dies empirisch am Beispiel Deutschlothringens abzusichern. 2. Deutschlothringen – eine Region am Rande
Eine Reihe von Hinweisen spricht dafür , dass das deutschsprachige Lothringen jenen „Konservatorien“ zuzurechnen ist , die nach Auffassung Michel Vovelles „nicht durch die kollektive Erschütterung berührt wurden“.10 Die Region hat sich dem anti klerikalen Programm der Revolution weitgehend widersetzt und ihre religiösen Traditionen noch lange gewahrt. Als Indizien dafür gelten die massiven Eidverweigerungen ,11 die vergleichsweise schwache Dechristianisierungsbewegung und die Persistenz popularer Frömmigkeitsformen.12 Tiefgreifende Veränderungen erfolgten , darüber ist sich die Forschung einig , durch die Integration in den französischen Staat. Das ländliche Leben und die enge Bindung an den Katholizismus scheinen dagegen unverändert.13 Um die beiden zuletzt genannten Bereiche etwas besser in den Blick zu bekommen , sollen im Mittelpunkt der folgenden Analyse drei Zeitabschnitte stehen , die für das kulturelle und religiöse Leben zur Zeit der Revolution von besonderer Bedeutung waren : Das Jahr 1791 , das durch die Priestereidforderungen jede einzelne Gemeinde und , da Kirche und Religion jeden mündigen Christen angingen , de facto auch jedes einzelne Gemeindemitglied zu einer Stellungnahme für oder gegen die Revolution zwang , das Jahr II , das mit der gewaltsam durchgeführten Dechristianisierung vielen als traumatisches Erlebnis in Erinnerung geblieben sein wird , und das Jahr VII , in dem die Region zu einem Zentrum religiöser Massenbewegungen wurde. Die Konzentration auf Ereignisse , die für das religiöse Leben der Menschen von Bedeutung waren , erfolgte nicht nur , weil sich gerade in diesem Bereich das Beharrungsvermögen des „Volkes“ am deutlichsten auszudrücken schien , sondern auch wegen ihrer engen Beziehung zu gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Prozessen.14 Die Pries-
10 Michel Vovelle : Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten , Frankfurt / M. 1985 , S. 143. 11 Timothy Tackett : Religion , Revolution and Regional Culture in Eighteenth-Century France. The Ecclesiastical Oath of 1791 , Princeton 1986. 12 Michel Vovelle : La Revolution contre l’église. De la raison à l’être suprême , Brüssel 1988 , S. 286 f. 13 François Roth : Lothringen als Teil der französischen Nation ( 1789–1870 ), in : Lothringen – Geschichte eines Grenzlandes , hg. von Michel Parisse , Saarbrücken 1984 , S. 381–412. François-Yves LeMoigne : Lorraine et Révolution ( Cahiers Lorrains 1989 ), S. 115–124 und Eric Hartmann : La Révolution Française en Alsace et en Lorraine , Paris 1990. 14 Thomas Nipperdey : Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918 , München 1988 , S. 7 f.
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tereide bildeten , so Rolf Reichardt , „die ideologisch-politische Initialzündung zu einem kettenreaktionsartigen nationalen Polarisierungsprozeß“.15 3. Revolutionäre Mobilisierung : Die Konflikte um die Priestereide
Ein Gesetz der Nationalversammlung vom 26. Dezember 1790 forderte von allen kirchlichen Amtsträgern den Treueeid auf die Verfassung. Die Intention , Geistliche , die den Eid verweigerten , abzusetzen , war ein massiver Eingriff der weltlichen Machthaber in die Belange der Kirche. In einigen Gebieten akzeptierte die Mehrzahl der Geistlichen den Eid , sah sie in der Bindung der Kirche an die Nation eine Chance der Erneuerung. Aber es gab auch genau entgegengesetzte heftige Reaktionen. An der Zerrissenheit Frankreichs zur Zeit der Revolution lässt die Karte der Eidleistungen keinen Zweifel.16 Denn der Eid war nicht nur eine Angelegenheit der Geistlichen. „Die Entscheidung , den Eid zu akzeptieren oder zu verweigern , stand“, so eines der Ergebnisse der Studien von Timothy Tackett , „vielmehr am Ende eines intensiven Prozesses der wechselseitigen Beeinflussung von Klerus und Laien“.17 In den Diskussionen und Auseinandersetzungen der Laien um den Eid wird deutlich , in welchem Maße die Landbevölkerung nicht nur durch sozio-ökonomische , sondern auch durch religiös-kulturelle Veränderungen in den Prozess der Revolution einbezogen war. Deutschlothringen gehört zu jenen Regionen , in denen der Eid massiv zurückgewiesen wurde. Lag der Anteil der mit einem konstitutionellen Priester versorgten Pfarreien im Département Moselle Ende 1791 immerhin bei 62 % , so gab es im östlichen Teil des Départements , im deutschsprachigen Lothringen , drei Distrikte , die einen auffällig hohen Anteil an Eidverweigerern hatten : Bitche 97 % , Boulay 84 % und Sarreguemines 80 %.18 Die Priester dieser Distrikte hätten , so wird in der Forschung argumentiert , mit dem Eid nicht nur den Glauben , sondern auch ihre Gläubigen verraten.19 Der Zusammenhang zwischen der Einstellung der Laien und dem Verhalten des Priesters wird hier also deutlich gesehen , aber nicht sorgfältig genug erforscht. Denn die statis tischen Daten täuschen eine Eintracht vor , die es in Wirklichkeit nicht gegeben hat. In Boulay , einem ländlichen Distrikt , finden wir nicht nur so überzeugte Revolutionsgegner wie den Momersdorfer Pfarrer Jean Chavant , der mit dem „TE DEUM 15 Rolf Reichardt : Revolutionäre Priestereidforderungen und religiös-politischer Bewußtseinsbruch , in : Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins , hg. von Reinhart Koselleck / Rolf Reichardt , München 1988 , S. 603–604 , hier S. 603. 16 Tackett : Religion ( s. Anm. 11 ). 17 Timothy Tackett : Die Stadteliten und der Priestereid von 1791 , in : Französische Revolution , hg. von Koselleck / Reichardt ( s. Anm. 15 ), S. 579–602 , hier S. 579. 18 René Schneider : Le clergé de Moselle sous la Révolution , in : Cahiers lorrains 2–4 ( 1989 ), S. 283–296 , hier S. 289. 19 Henri Tribout de Morembert : Le diocèse de Metz , Paris 1970 , S. 176.
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in Gallos“ eine Schmähschrift gegen die französische Nation verfasst hatte ,20 sondern auch einen angeblich überzeugten Jansenisten wie den Pfarrer von Berlize , François Cierge , der am 26. Dezember 1790 als erster Priester der ganzen Diözese Metz den Eid auf die Verfassung schwor.21 Schauen wir uns diesen Distrikt etwas genauer an : Er bestand aus 9 Kantonen mit 45 Pfarreien. Die Zahl der amtierenden Priester wird mit 54 angegeben , 47 von ihnen verweigerten den Eid , 7 leisteten ihn.22 In Wirklichkeit waren die Verhältnisse aber sehr viel verworrener. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen legten in den ersten zwei Monaten des Jahres 1791 alle Priester des Distrikts den Eid auf die Verfassung ab. Neun taten dies ohne Einschränkung. Drei von ihnen widerriefen , nachdem der Papst die Zivilverfassung verurteilt hatte.23 Die übrigen drückten mehr oder minder weitreichende Vorbehalte aus , d. h. dass sie sich auf die Verfassung verpflichteten , soweit diese nicht der Doktrin der Kirche widersprach. Für die Laien waren diese Formeln wohl kaum durchschaubar , und es gibt einige Hinweise dafür , dass auch die Priester zunächst einmal nicht sicher waren , wie sie sich gegenüber der Eidforderung verhalten sollten.24 Die Restriktionen wurden im Laufe des Frühjahrs jedoch zunehmend zu einem Problem und lösten in den einzelnen Gemeinden umso intensivere Diskussionen aus , als die Pfarrer den Streit um den Eid auf der Kanzel 20 Jean Eich : Le Te Deum in Gallos et les vicissitudes de son auteur présumé , in : Revue ecclesiastique du diocèse de Metz 7 / 8 ( 1948 ), S. 210–216. 21 Paul Lesprand : Le clergé de la Moselle pendant la Révolution , T. IV , Montigny-les-Metz 1939 , S. 73 f. 22 Lesprand : Clergé 4 ( s. Anm. 21 ), S. 103. Andere Berechnungen gehen von 43 Priestern ( 6 Réfractaires und 7 Jureurs ) aus ( Jean Eich : Histoire religieuse du département de la Moselle pendant la Révolution , I , Metz 1964 , S. 278 ). Die Schwierigkeiten einer präzisen Datenerfassung macht Tackett für seine auf ganz Frankreich bezogene Arbeit deutlich. Für das Departement Moselle vermutet er , durch die Arbeit von Lesprand sehr gutes Material zu haben. Dabei übersieht er jedoch , dass Lesprand eine ganz andere Fragestellung hatte als er. Lesprands Anliegen war , die Haltung des Klerus zu beschreiben. Er gibt für jede einzelne Pfarrei an , wie sich der Pfarrklerus verhielt , interessiert sich aber kaum für die konstitutionellen Priester , die Jureurs. In den meisten Fällen ist seiner Arbeit nicht zu entnehmen , ab wann ein konstitutioneller Priester in einer Pfarrei praktizierte. Dies führt insofern zu Fehlberechnungen , als oft beide Pfarrer über einen längeren Zeitraum koexistierten , wobei der Réfractaire häufig nur heimlich arbeiten konnte. 23 Den Eid ohne Einschränkung leisteten die Pfarrer bzw. Vikare von Gomelange ( Lesprand : Clergé 4 [ S. Anm. 21 ], S. 34 ), Maizeroy , Berlize , Bazoncourt , Sanry-sur-Nied ( Ebda., S. 69 ff. ) und Bionville ( Ebda., S. 80 f. ). Die Pfarrer von Burtoncourt ( Ebda., S. 49 ), Villers-Brettnach ( Ebda., S. 54 ), Guinglange ( Ebda., S. 84 ) galten laut Protokollen als „jureurs“, protestierten aber im Mai dagegen und formulierten ausdrückliche Vorbehalte. Dabei ist zu vermuten , dass sie wie viele andere französische Priester ihre Meinung nach der Verurteilung des Eides durch den Papst geändert haben. 24 Der Vikar von Saargemünd konsultierte bspw. seinen Lehrer des kanonischen Rechtes , bevor er den Eid schwor. Der Pfarrer von Saargemünd änderte seine Meinung , nachdem ein päpstlicher Erlass gegen die Zivilkonstitution bekannt wurde ( Claudia Ulbrich : Die Bedeutung der Grenzen für die Rezeption der französischen Revolution an der Saar , in : Aufklärung , Politisierung und Französische Revolution ( Bochumer Frühneuzeitstudien 1 ), hg. von Winfried Schulze , Pfaffenweiler 1991 , S. 147–174 , hier S. 161 ).
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austrugen. Bereits im April wurde der Pfarrer von Maizeroy gezwungen , eine Erklärung , dass er den Eid geschworen habe , durch seine Unterschrift mit dem Zusatz zu bekräftigen : „curé de Maizeroy , trés soumis à la constitution“.25 Andere Gemeinden denunzierten ihren Pfarrer ,26 beantragten seine Neuwahl durch die Distriktversammlung27 oder beauftragten selbst einen Priester mit dem Amt.28 Fast immer waren solche Schritte mit innergemeindlichen Konflikten und Parteibildungen verbunden , die bis zu bewaffneten Auseinandersetzungen eskalieren konnten. Die ersten größeren Tumulte ereigneten sich in Boulay , dem einzigen Landstädtchen des Distriktes. Seit Mai waren die Pfarrer mehrfach denunziert worden , ohne dass Distrikt oder Departement etwas unternommen hätten. Aus Angst vor Unruhen wurden im September Truppen angefordert , im Oktober 1791 kam es dann zu einem regelrechten Bildersturm. Gemälde , die den Herzog Leopold und den König Stanislas darstellten , wurden zerstört , wenig später die Häuser der Regimegegner in schwarzer Ölfarbe mit dem Wort „Aristokrat“ markiert.29 Weder Patrioten noch Aristokraten scheinen eine Mehrheit in der Gemeinde hinter sich gehabt zu haben , so dass die Unruhen relativ schnell eingedämmt werden konnten. Zur gleichen Zeit stritt sich die neue Gemeindeverwaltung in dem Dörfchen Sanry mit dem ehemaligen Ortsadel um den Platz in der Kirche. Der ehemalige Herr ließ 100 Plakate drucken , um seinen Anspruch auf die vorderste Kirchenbank öffentlich geltend zu machen. Hier musste die Departementalverwaltung klarstellen , dass der bevorzugte Platz in der Kirche ein abgeschafftes Privileg sei.30 Freilich ging man bei der Abschaffung der Privilegien nicht so weit , dass man die Bank einfach dem „Volk“ überlassen hätte. Sie wurde von den neuen Amtsinhabern beansprucht. Verstreute Hinweise auf deren Statusempfindlichkeit – etwa die häufigen Klagen über Beleidigungen – deuten an , in welchem Maße die neuen Führungsschichten sich noch am Herrschaftsstil des Ancien Régime , dessen kulturelle Hegemonie sie zerstören wollten , orientierten.31 Gespalten hatte die Revolution auch die 25 Lesprand : Clergé ( s. Anm. 21 ), S. 70. 26 Boulay , 29. 5. 1791 ( Lesprand : Clergé [ s. Anm. 21 ], S. 17 ), Courcelle , 19. 9. 1791 ( Ebda., S. 66 ), Guenkirchen , 24. 6. 1791. 27 Brettnach , 28. 9. 1791 ( Lesprand : Clergé [ s. Anm. 21 ], S. 39 ), Pange , Colligny , Mont , Domangeville , Maizeroy , Mai 1792 ( Ebda., S. 71 ). 28 Vigy , 21. 8. 1791 ( Lesprand : Clergé [ s. Anm. 21 ], S. 62 ). 29 Lesprand : Clergé [ s. Anm. 21 ], S. 19. 30 Lesprand : Clergé [ s. Anm. 21 ), S. 76. Einen ähnlichen Streit um die Kirchenbank gab es 1792 auch in Denting. Hier ersteigerten die engagiertesten Patrioten des Dorfs die ehemals dem Herrn bzw. seinen Amtleuten vorbehaltene Bank ( Claudia Ulbrich : Traditionale Bindung , revolutionäre Erfahrung und soziokultureller Wandel. Denting 1790–1796 , in : Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution , hg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin / Karl Härter , Mainz 1990 , S. 113–130 , hier S. 121 ). 31 Zahlreiche Belege bei Jacques Touba : Gemeinde-Regesten Püttlingen ( KreisForbach ), 1782–1792 , in : Jahrbuch der elsaß-lothringischen wissenschaftlichen Gesellschaft zu Straßburg 8 ( 1935 ), S. 162 ff.
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Bevölkerung des Dörfchens Servigny-lés-Raville , dessen Kaplan Largent im Gegensatz zum Pfarrer ein glühender Anhänger der Revolution war.32 Ein großer Teil der Einwohner , die meisten Mitglieder der Gemeindeverwaltung , und der Procureur standen auf seiten Largents ; der Bürgermeister gehörte zu denen , die den Pfarrer unterstützten. In Pange war die Lage dadurch schwierig geworden , dass der Pfarrer ebenso wie zwei seiner Kollegen denjenigen , die Kirchengut erworben hatten , die Absolution verweigerte , so dass der größte Teil der Gemeinde 1792 Ostern ohne den für Katholiken obligatorischen Empfang der Sakramente feiern musste.33 Solche Erfahrungen dürften den Ablösungsprozess von der Kirche beschleunigt und die radikale Entchristianisierung des Jahres II vorbereitet haben. Auch in Boulay versuchte man Ostern 1792 vergeblich , einen verfassungstreuen Beichtvater zu finden.34 Insgesamt sprechen viele Indizien dafür , dass Ostern 1792 für viele Patrioten einen – offensichtlich nicht freiwillig vollzogenen – Bruch mit einer Kirche eingeleitet hatte , die den weltlichen und geistlichen Bereich in einer für Laien kaum akzeptierbaren Weise vermengte. Da wohl niemand zu diesem Zeitpunkt an die Rückgabe der Kirchengüter dachte , mussten viele darauf verzichten , die kirchenrechtlich vorgeschriebene österliche Beichte abzulegen , was ihren Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen zur Folge hatte. Diese Erfahrung scheint die Aufstandsbereitschaft erheblich erhöht zu haben. Nach Abschluss der österlichen Zeit ( 8. 4.–26. 5. ) spitzte sich die Krise in der gesamten Region zu. Bestärkt durch ein am 27. Mai erlassenes Dekret gegen die Eidverweigerer , das jedoch am Veto des Königs scheiterte , gaben viele Munizipalitäten ihre passive Haltung auf. Noch im Mai lehnten sich Einwohner der Dörfer Pange , Colligny , Mont , Domangeville und Maizery gegen ihren Pfarrer auf und denunzierten ihn bei der Departementsverwaltung. Wenig später verließ er vermutlich nicht freiwillig die Pfarrei. Im Juni wurde der Pfarrer von Guenkirchen gefangen , mit dem Tode bedroht und verjagt. In Drogny , wo sich bereits im Februar 1791 eine Opposition gegen den Pfarrer formiert hatte , mussten Pfarrer und Vikar fliehen , gegen ihren Kollegen in Bourtoncourt wurden Todesdrohungen ausgestoßen. Wenig später brach ein Aufruhr in Elblange aus , auch hier musste der amtierende Priester die Pfarrei aufgeben.35 Die Unruhen griffen auf Brettnach und Coume über36 und erreichten schließlich im
32 Lesprand : Clergé [ s. Anm. 21 ), S. 78 ff. 33 Lesprand , Clergé ( s. Anm. 21 ), S. 70 f. Im Distrikt Bitche sollen vereinzelt noch 1796 die Sterbesakramente nur gegen Verzicht auf die Kirchengüter gespendet worden sein ( Archives nationales , Paris , section moderne , F 19 , 1013 : Bericht an den Polizeiminister ). Der Streit ging nach dem Konkordat weiter. Dazu Henry Contamine : Les plaintescontre le clergé rural en Moselle sous le consulat et l’empire , in : Annuaire de la féderation historique lorraine 3 ( 1930 ), S. 101 ff. 34 Lesprand : Clergé ( s. Anm. 21 ), S. 20. 35 Lesprand : Clergé ( s. Anm. 21 ), S. 32. 36 Lesprand : Clergé ( s. Anm. 21 ), S. 40 f.
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Spätsommer die im Distrikt liegenden Reichsenklaven Denting und Momersdorf , auf die ein bewaffneter Überfall verübt wurde , dem vier Menschen zum Opfer fielen.37 Soweit man überhaupt etwas über die Träger dieser Aufstände weiß , sollen es Auswärtige und „Übelgesinnte“ gewesen sein , die die Pfarrer vertrieben haben. Es ist jedoch schwer vorstellbar , dass die Gemeinden ihren Pfarrer nicht hätten schützen können , wenn sie es wirklich gewollt hätten. Auch dafür gibt es schließlich viele Beispiele. Die Mehrzahl der Pfarreien wurde seit September 1792 von konstitutionellen Pfarrern geistlich versorgt. Aktionen gegen diese „Intrus“ sind aus dieser Zeit nicht mehr überliefert , doch hielt eine schwer einschätzbare Zahl von Gläubigen nach wie vor zu den nichtvereidigten Priestern. Dies spiegelt sich in den Pfarrregistern der Reichsenklaven wider. In Momersdorf , dessen Pfarrer erst nach der Reunion im Frühjahr 1793 der Eidforderung unterworfen worden war , nahmen zahlreiche Ortsfremde kirchliche Zeremonien in Anspruch , die bis dahin immer ein integraler Bestandteil dörflicher Festkultur waren. 54 % der Täuflinge des Jahres 1792 stammten aus Familien , die nicht zur Pfarrei gehörten. Insgesamt wurden in Momersdorf zwischen 1792 und 1797 112 Kinder von Auswärtigen und 33 von Einheimischen getauft. Dies sind Zahlen , die keineswegs auf eine dramatische Gegnerschaft zur Revolution hindeuten , aber Veränderungen signalisieren. Auch Eheschließungen wurden nun aus dem Dorf ausgelagert.38 Für viele war nicht mehr das Dorf resp. die Pfarrei als der unmittelbare Lebenszusammenhang der miteinander siedelnden Menschen , sondern die ideelle Gemeinschaft der Gläubigen zu einem zentralen Bezugspunkt geworden. Dies bedeutete natürlich auch einen erheblichen Verlust an Sicherheit und Geborgenheit , die die alte Dorfgemeinde ihren Mitgliedern geben konnte. Hiermit soll freilich nicht einer romantisierenden Einschätzung der dörflichen Welt das Wort geredet werden , dazu waren die dörflichen Lebensformen zu kontrolliert , zu intolerant und zu gewaltsam. Aber sie waren auch geordnet , überschaubar und irgendwie berechenbar. Zu diesem System von Sicherheiten gehörten auch lokale Traditionen und religiöse Bräuche , die während der radikalen Phase der Revolution systematisch zerstört werden sollten. Versuchen wir aus den zerstreuten Hinweisen über die Folgen der Eidleistung ein erstes Resümee zu ziehen , so ist zunächst einmal festzuhalten , dass die Eidforderung die Konflikte in die Dörfer hineintrug , so dass von einem Abseitsstehen der ländlichen Gesellschaft auch dort keine Rede sein kann , wo die Zahl der Eidverweigerer hoch war. Es konnte gezeigt werden , dass die Forderung des Priestereides auch auf dem Land in erheblichem Maße nicht nur religiöse , sondern auch politisch-soziale Veränderungen auslöste. Innergemeindliche Spannungen wurden vertieft , neue dorfübergreifende So37 Ulbrich : Bindung ( s. Anm. 30 ), S. 122 ff. 38 Archives départementales de la Lorraine ( künftig : AD Metz ): E dépôt Momersdorf 1E 2 : Régistres paroissiales.
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lidaritäten geschaffen , der Kompetenzradius der gewählten Gemeindevertreter erweitert. Nehmen wir nur so einen kleinen Bereich , wie die Frage der Pfarrerwahl , so wird deutlich , welchen Spielraum die Gemeindevertreter und einzelne Gemeindemitglieder de facto gewannen. Sie konnten – zumindest in der ersten Phase der Revolution , in der die Zentralisierung und Bürokratisierung noch nicht so weit fortgeschritten waren , dass eine effektive Kontrolle hätte ausgeübt werden können – entscheiden , ob sie ihren Pfarrer unterstützen , ihn stillschweigend dulden oder ihn denunzieren wollten. Zumindest wenn der Priester den Eid verweigerte , waren sie gezwungen , sich mit der Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat zu befassen und ihre eigene Position zu diesem Staat zu definieren. Fast durchgängig lässt sich beobachten , dass die Einstellung der Gemeinden radikaler war als die der Distrikts- und Departementsverwaltung , die viele Veränderungswünsche blockierte. Da das Recht der Pfarrerwahl aber nicht bei den Gemeinden , sondern bei den Distriktversammlungen lag , wurde an diesem Punkt gleichzeitig eine strukturelle Schwäche des neuen Staates deutlich , der die politischen Rechte nicht konsequent an die Basis abgab. Gerade bei den Dorfgemeinden , die von ihrer Tradition her ohne jeden Zweifel eine gewisse Prädisposition für demokratische Prinzipien hatten ,39 dürfte der Funktionsverlust der Gemeindeversammlung als einer Form der direkten Mitbestimmung ebenso auf Ablehnung gestoßen sein wie die Zusammenfassung zu Distrikten , die die bestehenden Divergenzen zwischen einzelnen Orten und zwischen Stadt und Land verstärkten. Damit ist die Pfarrerwahl – als eine Folge der Eidforderung – einer der Punkte , an dem die Widersprüchlichkeit revolutionärer Politik und ihre geringe Passfähigkeit auf ländliche Verhältnisse deutlich wird. 4. Konservative Bewusstwerdung : Das Bündnis zwischen gegenrevolutionärer Kirche und traditionsverhafteter Landbevölkerung
Der Zusammenhang zwischen Kirche und Politik bestand nicht allein in der Einführung des Wahlprinzips bei der Pfarrerwahl. Er stellte sich noch viel mehr dadurch her , dass die Pfarrer in hohem Maße für öffentliche Aufgaben gebraucht wurden und durch die Besoldung den Status öffentlicher kirchlicher Beamter erhielten.40 Seit Ausbruch der Revolution wurde jedes bedeutendere politische Ereignis – selbst der Sturm auf die Bastille – mit einem Te Deum gefeiert. Die Kirche wurde damit in den Dienst des neuentstehenden revolutionären Staates gestellt. Die enge Beziehung zum politischen 39 Wolfgang Schmale sieht in der dörflichen Soziabilität „l’outillage mental“ für die Entstehung demokratischer Prinzipien ( Wolfgang Schmale : La mentalité politique des paysans français au XVIIIe siécle , in : Il pensiero politico , Rivista di storia delle idee politiche e sociali 11 / 2 ( 1988 ), S. 209–217 ). 40 Bernard Plongeron : Der französische Klerus im ausgehenden 18. Jahrhundert zwischen Reform und Revolution , in : Deutschland und Frankreich im Zeitalter der französischen Revolution , hg. von Helmut Berding / Etienne François / Hans-Peter Ullmann , Frankfurt / M. 1989 , S. 245–262.
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Bereich war nicht neu – das Ancien Régime nahm die Dienste der Kirche in ähnlicher Weise in Anspruch –, doch wird gerade darin , dass nicht mehr die Herrschaft , sondern das Volk den Auftrag erteilte , die Veränderung der Machtstruktur deutlich. Wo sich die Kirche dem Volk verweigerte , machte sich dieses schließlich selbst zum Priester : Der Pfarrer von Puttelange im District Sarreguemines , der sich geweigert hatte , die Eidleistung der Deputierten in der Nationalversammlung in Anwesenheit des Königs ( 4. 2. 1790 ) mit einem Te Deum zu feiern , musste zusehen , wie der Bürgermeister seine Anhänger unter freiem Himmel versammelte und eine patriotische Ansprache mit anschließender Eidleistung hielt. Danach ertönte das Te Deum „chanté sous la voûte celeste [ … ] par un peuple prêtre , dont les accents n’ont pu qu’être agréable à l’èternel“.41 Dies ist ein eindrückliches Beispiel dafür , wie traditionale Formen wie das gemeinsame Te Deum einem Funktionswandel unterlagen. Sie wurden vom Volk benutzt , um neue politische Ziele zu rechtfertigen. Dieser formale Traditionalismus sollte während der Revolutionsepoche immer wieder zum Scharnier zwischen Tradition und Innovation werden. Dass die DorfbewohnerInnen nicht blind ihren Pfarrern folgten , wird bei der Problematik der Osterbeichte deutlich. Die Aussöhnung der Kirche wurde nicht dadurch gesucht , dass sich die Gläubigen dem Willen des jeweiligen Ortspfarrers beugten , viel eher wurde der umgekehrte Weg eingeschlagen : Laien suchten ihren Beichtvater entweder in fremden Pfarreien oder versuchten , wie das Beispiel Boulay zeigt , einen verfassungstreuen Priester zu verpflichten. Dass die kirchliche Autorität negierende Verhalten hatte in Deutschlothringen Tradition : In einer Region , die von einer tiefen Volksreligiosität geprägt und dem Einfluss unterschiedlicher kirchlich-religiöser Strömungen ausgesetzt war , kämpfte die Amtskirche in ihrem Bemühen um die Reduzierung der Feiertage , die Abschaffung abergläubischer Praktiken und heidnischer Sitten und Bräuche lange auf verlorenem Posten.42 Visitationsprotokolle vom Ende des 17. Jahrhunderts klagen über die vielen Wallfahrten und Feiertage , über die Vergnügungssucht , den Weiberkilt und die Ausschweifungen und Exzesse , die etwa bei den „skandalösen“ Eheanbahnungsbräuchen in der Karnevals- und Fastenzeit vorkamen.43 Einen handfesten Streit gab es 1719 in Steinbiedersdorf , weil der Pfarrer auf Anweisung des Bischofs eine Wetterprozession ver41 Lesprand : Clergé ( s. Anm. 21 ), S. 310. 42 Zum Widerstand der katholischen Bevölkerung Deutsch-Lothringens gegen aufklärerische Tendenzen der Kirche : Guy Cabourdin : La vie quotidienne en Lorraine aux XVIIe et XVIIIe siècles , Paris 1984 , S. 254 ff. Einen umfassenden Überblick über die Feiertagsdiskussion dieser Jahrzehnte gibt Peter Hersche : Wider „Müssiggang“ und „Ausschweifung“. Feiertage und ihre Reduktion im katholischen Europa , namentlich im deutschsprachigen Raum zwischen 1750 und 1800 , in : Innsbrucker Historische Studien 12 / 13 ( 1990 ), S. 97–122. 43 AD Metz 29 J 69 ( 1699 ).
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hindern wollte.44 1777 musste sein Nachfolger zugeben , dass der am Rande des Ortes lebende Eremit bei den Bauern mehr Ansehen genösse als er selbst.45 In der Pfarrei Mainvillers beschwerten sich 1772 Amtmann , Bürgermeister , Gerichtsschöffen , Einwohner und Pfarrgenossen bei der geistlichen und weltlichen Obrigkeit , weil der Pfarrer versucht hatte , die Sitzordnung in der Kirche zu ändern. In Mainvillers hatten die Männer vorne und die Frauen hinten zu sitzen und nicht , wie der damals offensichtlich noch reformfreudige Pfarrer meinte , die Frauen links und die Männer rechts.46 Zwei Jahre später war die Eintracht wieder hergestellt , und der Pfarrer unterstützte die Einrichtung einer jährlichen Prozession zu Ehren der Visitation Mariens. Damit wollten die Pfarrgenossen die Erinnerung daran wachhalten , dass sie 1735 und 1760 , nachdem sie der Muttergottes ein Gelöbnis abgelegt hatten , von einer schweren Seuche errettet worden seien. Nach ihrer Auffassung hatte Maria geholfen , während die Medizin , die „pharmacie“, versagt hatte.47 In Mainvillers erfreute sich nicht nur Maria , sondern auch der Heilige Blasius besonderer Verehrung. Daran änderte auch die Revolution nichts. Am 3. Februar 1791 , als in den umliegenden Pfarreien die Vorbereitungen für den Eid getroffen wurden , feierte die Pfarrei Mainvillers das Blasiusfest wie eh und je. Obwohl es ein gewöhnlicher Wochentag war , wurde morgens ein Hochamt gehalten , an dem auch Leute aus der Nachbarschaft teilnahmen , die die Gelegenheit zu Verwandtenbesuchen nutzten. Am Nachmittag saßen Jungen und Mädchen gemeinsam in der Wirtschaft und tranken Wein miteinander. Andere spielten Karten oder blieben bis zum späten Abend im Branntweinhaus. Die letzten waren noch nachts um eins unterwegs. Das Blasiusfest 1791 endete mit einer Schlägerei zwischen Burschen aus der Nachbarschaft , der allein wir die Schilderung des Festtags verdanken.48 Der Pfarrer von Mainvillers war der einzige des Distriktes Thicourt , der den Eid rigoros abgelehnt hatte. Er konnte trotzdem bis September 1792 in seiner Pfarrei bleiben. Die revolutionären Veränderungen waren jedoch auch an Mainvillers keineswegs spurlos vorübergegangen. Die Verwaltungsarbeit hatte in einem so erdrückenden Maße zugenommen , dass die Gemeinde im Dezember 1790 einen neuen Schreiber 44 AD Metz B 10041 , Actes judiciaries Pontpierre : Fiscalis ctra Niklas Krämer und Cons.1719. 45 AD Metz 10 F 751. Auch nach der Revolution blieb Deutschlothringen Schauplatz „skandalöser Szenen“. In Faulquemont etwa klagte der Pfarrer 1814 , die Gläubigen näherten sich dem Sakrament „wie die Schweine dem Trog“: Contamine : Plaintes ( s. Anm. 33 ), S. 110. 46 AD Metz 29 J 68. Der Pfarrer berief sich bei diesem Streit auf den Brauch in Lothringen , die Pfarrei auf die Nachbarpfarreien Landroff , Lesse und Flétrange , die sich während der Revolution jedoch völlig anders verhielten. Ihre Pfarrer leisteten im Gegensatz zu dem von Mainvillers 1791 alle drei den Eid ohne Einschränkung. 47 AD Metz 29 J 68. Die Verehrung der Notre-Dame-de-la-Visitation in Mainvillers ist noch bis weit ins 20. Jahrhundert lebendig ( Kapelle 1955 ). 48 AD Metz B 9924 , Acta in Denunciationssachen Peter Stoffels , Louis Stoffels , Ackermanns Sohn , aus Kriechingen ca. Michel Stoffel , Johann Stoffels Sohn , und Peter Stoffel , Michel Stoffels Sohn , pto. Injuriuarum realium.
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einstellte , der die Gesetze der Nationalversammlung , vor allem jene , die für die Gemeinde wichtig waren , sorgfältig in das Gemeinderegister aufnahm. Bis zum Blasius fest 1791 hatte er bereits 385 Einträge verzeichnet. Es ist schwer vorstellbar , dass es sich hierbei um eine reine Pflichtübung gehandelt haben kann , die ohne Konsequenzen für die Umgestaltung der politischen und ökonomischen Verhältnisse geblieben wäre. Aber darüber schweigen die Akten. Die Flucht des Pfarrers im September 1792 und das Verstummen der Akten im Mai 179349 lassen jedoch ahnen , dass auch Mainvillers in den Prozess der revolutionären Radikalisierung einbezogen war. Am Beispiel von Mainvillers wird deutlich , dass die Frömmigkeitsformen der Landbewohner weit mehr Ausdruck ihrer eigenen lebensweltlichen Ordnungsvorstellungen als der der Kirche waren. Dazu gehörte die Sitzordnung in der Kirche ebenso wie das gesellige Miteinander an Feiertagen und das Wachhalten der Erinnerung an die Errettung durch die Hilfe der Muttergottes. Die Ablehnung , die der radikalen Dechristianisierung des Jahres II gerade in den ländlichen Gebieten entgegenschlug , lässt sich daher wohl nur angemessen beurteilen , wenn sie in den großen Zusammenhang einer wenig „entzauberten“ dörflichen Kultur gestellt wird , die autonome Formen der Frömmigkeit gewahrt hatte. Die durch die Eidforderung erzeugte Interessenidentität zwischen gegenrevolutionärer Kirche und traditionsverhafteter Landbevölkerung kann angesichts der im Disziplinierungswillen der Kirche begründeten Spannungen nur eine oberflächliche Erscheinung gewesen sein. Sie lässt sich wohl am ehesten aus der Negation beschreiben , der gemeinsamen Ablehnung der Revolution. Ohne innere Brüche aber wären der fundamentale Traditionalismus der Bauern und der Widerstandstraditionalismus des Klerus auf lange Sicht wohl kaum bündnisfähig geworden. Die Erfahrung der Terreur sollte die verfeindeten Gruppen einander näherbringen. 5. Dechristianisierung und Disziplinierung : Die Widersprüche des Jahres II
Die radikale Dechristianisierung des Jahres II stellt den Versuch dar , die katholische Religion endgültig zu eliminieren.50 Sie war begleitet von einer rigiden Disziplinierungspolitik , die sich nicht nur gegen die Landbevölkerung , sondern auch gegen die kleinbürgerliche Volksbewegung und die Volksgesellschaften richtete , obwohl sie von diesen bis zu einem gewissen Grade mitgetragen wurde.51 Die Verschränkung von De49 AD Metz E Dépôt 1 D 1 , Mainvillers , Délibérations du Conseil municipal 1790–1830. Bis dahin waren 963 Gesetze vom örtlichen Schreiber eingetragen worden. 50 Vovelle : Vendémiaire ( s. Anm. 3 ), S. 201 ff. Vovelle : Révolution ( s. Anm. 12 ), S. 7 ff. Jean-Paul Bertaud : Alltagsleben während der Französischen Revolution , Darmstadt 1989 , S. 66 ff. 51 Rolf Reichardt : Die städtische Revolution als politisch-kultureller Prozeß , in : Revolution , hg. von Reichardt ( s. Anm. 6 ), S. 28–80 , hier S. 63. Eva Schleich : Kirche , Klerus und Religion , in : Revolution , hg. von Reichardt ( s. Anm. 6 ), S. 172–185 , hier S. 172 ff.
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christianisierung und Disziplinierung führte zu einer vielschichtigen und in sich widersprüchlichen Bewegung , die statt der ursprünglich erstrebten Gleichheit der Bürger eine Angleichung ihrer kulturellen Praktiken bewirkte , was der Unterdrückung einer vielgestaltigen lokalen , schichten- und konfessionsspezifischen Kultur gleichkam. Die Bewegung wurde durch Sonderbeauftragte der Revolutionsregierung energisch vorangetrieben und durch Truppen unterstützt , ist aber ohne das Zusammenwirken mit lokalen Gruppen kaum vorstellbar. Keimzelle der Veränderung war das politisierte städtische Kleinbürgertum , das seit Sommer 1792 zu einem bestimmenden Faktor der französischen Innenpolitik geworden war. Die in Volksgesellschaften zusammengeschlossenen Sansculotten führten damals „die plebejische politische Kultur zu ihrer höchsten Entwicklung“.52 In den Städten , manchmal aber auch auf den Dörfern ,53 fanden sich Menschen regelmäßig zusammen , um vor Ort basisdemokratische Umgangsformen zu erproben , über politische Probleme zu diskutieren und mehr in der Praxis als in der Theorie eine demonstrative revolutionäre Kultur zur Entfaltung zu bringen. Diese Kultur griff in erheblichem Maße auf das Repertoire volkskultureller Praktiken zurück. Prozessionen und Feste hatten in vielen Elementen die katholische Tradition zum Vorbild , Maskeraden erinnern an Fastnachtbräuche , und Maibäume wurden zu Symbolen der revolutionären Macht.54 Auch auf dem Land konnte es vorkommen , dass ein mit Messgewändern behängter Ochse in einer Prozession zur Kirche geführt wurde , doch sind die Zeugnisse dafür rar.55 Nicht nur die Anhänger , auch die Gegner der Revolution orientierten sich an der traditionellen Volkskultur , um Protest kundzutun.56 Traditionale Formen , wie etwa die Prozession , wurden durch Funktionswandel bzw. Funktionserweiterung politisiert. Sie wurden zum Ausdruck eines religiös bestimmten Weltbildes und waren zugleich ein Medium , um politische Positionen in der Gruppe erfahrbar und sichtbar zu machen. Ähnliches gilt auch für die Symbole selbst. In der Opposition zu dem neu entstehenden Symbolsystem ( Freiheitsbäume , Kokarden , Schärpen ) erhielten die alten Zeichen ( Kreuz , Glocken ) einen neuen politischen Sinngehalt. Selbst wenn die neue revolutionäre Kultur auf dem Land bei wei52 Reichardt : Revolution ( s. Anm. 51 ), S. 55. 53 Eine „Société des Amis de la liberté et de l’égalité“ existierte beispielsweise in dem Dorf Le Thillot ( Haute-Moselle ): Jean-Aimé Morizot : 9 Septembre 1793 : Une journée révolutionnaire en HauteMoselle , in : La Haute Moselle à l’époque de la Révolution (=Bulletin de la Haute-Moselle 18 ( 1989 ), S. 57 f. Insgesamt sind die Landjakobiner bislang kaum erforscht. 54 Lynn Hunt : Symbole der Macht , Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur , Frankfurt 1989 , S. 70 ff. 55 So bspw. in Haut Clocher und Langatte : C.G. : Entendez-vous dans nos campagnes passer la Révolution , in : Villages lorrains 50 ( 1990 ), S. 19 ff. 56 Hunt : Symbole ( s. Anm. 54 ), S. 87 f. In Deutschlothringen lebten 1796 Wetterprozessionen wieder auf , die ein Medium waren , um Protest gegen das revolutionäre Regime auszudrücken.
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tem nicht so verbreitet war wie in der Stadt , schloss dies eine Politisierung der traditionellen Symbole nicht aus. Diese konnten freilich eine sehr komplexe Bedeutung erhalten. Sie waren nicht nur ein Zeichen des Glaubens , sondern auch der dörflichen Identität , die gegen die städtische Revolution verteidigt werden musste. Bei dieser Bewegung stand Deutschlothringen nicht abseits.57 In den Städten hatten sich Volksgesellschaften gebildet , die in das raumübergreifende Netz revolutionärer Clubs eingebunden waren und sich aktiv um die Veränderung ihrer eigenen Lebenswelt , ihrer Straßen und Häuser , ihrer Kleider und ihres Schmuckes , ihrer Sprache und ihrer Umgangsformen bemühten.58 Unter dem Einfluss der Volksrepräsentanten radikalisierte sich die Bewegung im Laufe des Jahres II. Die Sonderbeauftragten Mallarme und Faure griffen mit unerbittlicher Härte durch , so dass die Dechristianisierung gerade hier in der Grenzregion mit einer weitaus größeren Konsequenz durchgeführt wurde als allgemein vermutet. Überall zerstörte man die Symbole des alten Glaubens und der Feudalität und ersetzte sie durch neue. Selbst Spielkarten mit den alten Bildern ( König , Dame , Bube ) wurden als Zeichen des Despotismus eingestuft und verboten. Der Sonntag und die christlichen Feiertage wurden offiziell abgeschafft , die Kirchen geschlossen und die Glocken abgehängt.59 Die Priester wurden gezwungen abzuschwören oder zu emigrieren. Die Zahl derer , die sich von ihrem Amt lossagten , war so erheblich , dass die von M. Vovelle vorgelegten Karten der Dechristianisierung für das Departement Moselle einer dringenden Korrektur bedürften.60 Allein im Distrikt Metz wurden im Frühjahr 1794 120 Lettres de prêtrises abgeliefert.61 Viele andere wurden bei den Volksgesellschaften deponiert und dort feierlich verbrannt.62 Nicht nur städtische , sondern auch ländliche Gemeinden waren von den Priesterabdankungen in hohem Maße betroffen. Aus dem Distrikt Boulay ist , um nur ein Beispiel zu nennen , eine Liste mit 13
57 Die Berichte des Volksrepräsentanten Mallarmé , der im Floréal / Prairial II Deutschlothringen bereiste , enthalten zwar viele Klagen über den „modérantisme“ der dortigen Bevölkerung , doch lassen sich beispielsweise aus den Protokollen der Volksgesellschaft von Sarreguemines und dem Tagebuch des dortigen Pfarrers Nicolas-Antoine Baur viele Einzelheiten zusammentragen , die ein zeitweise sehr intensives revolutionäres Engagement belegen. Wie bereits oben angedeutet muss vor allem zwischen den Distriktverwaltungen , die Mallarmé inspizierte , und den Aktivitäten der Volksgesellschaften bzw. auch der Munizipalitäten unterschieden werden. 58 Claudia Ulbrich : Sarreguemines en révolution ou l’Histoire d’un „Caméléon politique“, in : Annales de l’est 1992 , S. 15–34 ; Jean-Marie Portier / Didier Hemmert : Sarreguemines sous la grande Révolution , Sarreguemines 1989. 59 Frédéric Guir : Histoire de Boulay , Boulay 1933 , S. 53 ff. Für Saargemünd zahlreiche Belege in : Paul Bourson : Les Jacobins de Sarreguemines , in : La Sarre Française 2 , S. 1925 ff. 60 Vovelle : Révolution ( s. Anm. 12 ), S. 278 , Karte 5. 61 René Paquet : Bibliographie analytique de l’histoire de Metz pendant la Révolution ( 1789 bis 1800 ), Bd. II , Paris 1926 , S. 82 f., S. 987 f., S. 993 f., S. 1001 f., S. 1005 ff., S. 1011 f., S. 1021. 62 Belege bei Bourson : Jacobins ( s. Anm. 59 ).
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Pfarrern überliefert , die ihr Amt niedergelegt haben.63 Die massenhaften Abschwörungen im Département Moselle , die bislang nicht systematisch erfasst sind ,64 sind ein Symptom dafür , dass die Dechristianisierungskampagne auch das Land erreicht hat. Aus den wenigen erhaltenen Inschriften und Akten erfahren wir außerdem , dass auch die Dorfkirchen zu Tempeln der Vernunft umfunktioniert , Kreuze zerstört , Kapellen zum Nationalgut erklärt , das Inventar von Kirchen versteigert wurde.65 Nur vereinzelt hat auch der Kult des Höchsten Wesens auf dem Land Spuren hinterlassen ,66 Spuren , die man sehr bald zu beseitigen versuchte. Der Bürgermeister von Bouquenom war sicher nicht der einzige , der sich gezielt der „Entsorgung der Vergangenheit“ annahm. 1816 stellte er fest : „Il existe un arbre de la liberté qui rappelle les temps de la terreur , qui ont couverts la France d’un deuil de sang“. Er ließ den Baum fällen.67 6. Kurskorrektur : Die Öffnung der Kirche gegenüber der Kultur der „Nicht-Elite“
Die Frage , inwieweit die Landbevölkerung selbst aktiv an der Dechristianisierung teilnahm , ist außerordentlich schwer zu beantworten , denn in fast allen Gemeindearchiven fehlen die Akten über die radikale Phase der Revolution. Das Verstummen der Akten ist jedoch für sich allein schon ein „beredtes“ Zeugnis für die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an der Terreur. Ein lothringischer Heimatforscher , der zahlreiche Gemeindearchive durchgesehen hat , vermutet sicher nicht zu Unrecht , dass „bei der bald einsetzenden Ernüchterung in so vielen Gemeinderegistern – abgesehen von den besser beaufsichtigten Stadtarchiven – ganze Aktenbündel , soweit sie von jenen unliebsamen Vorkommnissen der Revolutionsperiode Zeugnis gaben , auf Nimmerwiedersehen , wohl von den Belasteten selbst oder deren Nachkömmlingen , beseitigt wurden“.68
63 Paquet : Bibliographie ( s. Anm. 61 ), Bd. II , S. 1023 ( ohne Datum ): Registre contenant l’inscription des rénonciations à l’état de prêtre , o. D. 64 Einen ersten Überblick über die Dechristianisierung in Elsass und Lothringen , der aber kaum Hinweise für das Departement Moselle enthält , gibt Hartmann : Révolution ( s. Anm. 13 ), S. 405 ff. 65 Die Spuren sind bislang nicht systematisch erfasst worden. In Bionville wurden das Inventar von Kirche und Sakristei versteigert ( AD Metz 88 E dépôt MI , Germinal II ), ebenso in Morlange im „temble de la raison“, hier wurde die alte romanische Kapelle als Nationalgut verkauft ( AD Metz E dépôt 88 15 / 2 Morlange , Déliberations 1793-IX ). Weitere Belege in den Gemeindeakten der ehemals kriechingischen Ortschaften. Über die zahlreichen zerstörten Kreuze ( etwa das „Croix du Dieu perdu“ in Steinbiedersdorf ) und Kapellen ( Notre Dame de Bon Secours , St. Avold ) gibt die Kunstgeschichte Aufschluss. 66 Inschriften sind erhalten in Pierrevillers , Vic-sur-Seille , St. Avold ( Un souvenir de la Révolution de 1789. La Pierre de la Bastille a Vatiment , in : Les cahiers lorrains 1980 , S. 45 ; AD Metz E depot 162 , Créhange I D 1 Aktenv. 1793–1800 : La maison de l’être suprême [ 10 Prairial II ]). 67 Joseph Levy : Geschichte der Stadt Saarunion seit ihrer Entstehung bis zur Gegenwart , Vorbruck-Schirmeck 1898 , S. 375. 68 Touba : Gemeinde-Regesten ( s. Anm. 31 ), S. 162.
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Die wenigen erhaltenen Gemeinderegister lassen noch erkennen , worin diese „unliebsamen Vorkommnisse“ bestanden haben dürften : Das Jahr II war nicht nur eine Zeit des Aufbruchs , in der bei der Verteilung der Allmenden oder des Holzes nach demokratischen Prinzipien verfahren wurde , sondern auch die Zeit der Denunziationen , der Requisitionen und der versteckten Getreidevorräte.69 Dies beeinträchtigte den sozialen Frieden. Die Notwendigkeit , die Zerrissenheit zu überwinden und das Unrecht und die Enttäuschung zu verarbeiten , führten zur Rückbesinnung auf konservative Werte. Der sich neuerlich verfestigende Traditionalismus bezog sich vor allem auf den Bereich der Religion , die aber im Zuge der Dechristianisierung ihrer politischen Funktion beraubt wurde. Gegen einige wenige , die sich während der Terreur zu sehr exponiert hatten , entstand ein abgrundtiefer Hass. Die Namen der Familien , die in der Nähe von Saarlouis den Steinplastiken eines Kreuzwegs die Köpfe abgeschlagen hatten , waren noch ein Jahrhundert später „ortsbekannt und gebrandmarkt“.70 Als Catherine Albert aus Boulay , die als junges Mädchen während der Revolution die „Déesse Raison“ darstellen durfte , im Alter von 90 Jahren starb , verweigerte man ihr lange Zeit die Beerdigung innerhalb der Friedhofsmauern. Von diesen Ausnahmen abgesehen versuchte man , die Revolution zu verdrängen , die Akten zu vernichten , die Symbole zu zerstören und die Identität eines ungebrochen traditionalistischen Lothringens aufzubauen. Die Auswirkungen sind bis in die Gegenwart spürbar : Die Forschung über die Revolution in Lothringen steht immer noch am Anfang , nicht einmal die wenigen erhaltenen Quellen sind erschöpfend ausgewertet.71 Die Vorstellung des lothringischen „modérantisme“ bedarf für die Städte mit Sicherheit einer Korrektur. Auf dem Land dürfte die Lage jedoch anders gewesen sein. Dass die kulturelle Revolution in den von der Aufklärung kaum berührten Dorfgemeinden keine Massenbasis gefunden haben kann , liegt schon in den Zielen der Dechristianisierung selbst begründet : Sie richtete sich nicht nur gegen die Kirche und das Christentum , sondern auch gegen alltagskulturelle Verhaltenssysteme , sofern diese den revolutionären Zielen entgegenstanden. Zu den sensibelsten Bereichen dürften die Feiertage gehört haben , die , wie am Beispiel des Blasiusfestes in Mainvillers deutlich wurde , einen sehr komplexen Nebensinn hatten. Die Verquickung der Dechristiani sierung mit sozialdisziplinierenden Maßnahmen , mit dem Ausbau von Verwaltung , Kontrolle und Reglementierung konnte in der schwach disziplinierten ländlichen Ge69 Belege dafür enthalten die Gemeindeakten von Créhange : AD Metz E dépôt 162 , Créhange , I D 1 , Akten v. 1793–1800. 70 Maria Moll : Geschichte der Kreisstadt Saarlouis 3 : Die Französische Revolution 1790 / 95 , Saarlouis 1980 , S. 300. 71 Die umfangreichen Gemeinderegister von Sarreguemines sind beispielsweise bislang nicht systematisch ausgewertet. Dazu Hartmann : Révolution ( s. Anm. 13 ), S. 9 ff. Le Moigne : Lorraine ( s . Anm. 13 ), S. 115 f.
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sellschaft nur als Fortsetzung einer Politik verstanden werden , gegen die man sich seit langem erfolgreich gewehrt hatte.72 Mit dem Kampf für Freiheit und Gleichheit hatten Maßnahmen wie die Reduzierung der Feiertage , das Verbot des Kartenspielens und der Aufbau hierarchischer administrativer Strukturen weit weniger zu tun als mit einer bis heute dominanten Auffassung von Fortschritt. Die Angriffe auf die Kirche als der Trägerin der vorrevolutionären Disziplinierungspolitik hatten der Landbevölkerung jedoch wenigstens im Bereich der religiösen Praxis Freiräume geschaffen , die diese schon bald wieder mit ihren eigenen Ordnungsvorstellungen auffüllte. Durch die Trennung von Staat und Kirche ihrer ehemaligen Funktion beraubt , musste sich die Kirche der inoffiziellen Kultur der „Nicht-Elite“ öffnen.73 Sie begann , Frömmigkeitspraktiken der einfachen Leute zu tolerieren , die sie bis dahin selbst bekämpft hatte. Das Wiederaufleben des Wallfahrtswesens ist eines der eindrücklichsten Zeugnisse für diesen Umschwung.74 Wenige Jahre nach der kulturellen Revolution wurde die Region zum Zentrum religiöser Massenbewegungen.75 7. Der Wunderglaube auf dem Prüfstand : Die Ereignisse an der Fontaine d’Host
Im April 1799 breitete sich in der Gegend von Saargemünd das Gerücht aus , dass die Jungfrau Maria an der Fontaine d’Host , einer seit langem bekannten Heilquelle , erscheinen und Wunder bewirken würde. Tausende von Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung machten sich täglich auf den Weg zur Quelle , um dabei zu sein , wenn das Bild der Jungfrau sichtbar wurde , sie ihre Kraft auf das Wasser übertrug und wundersame Heilungen vollbrachte. Alte und Kranke , Männer , Frauen und Kinder badeten in der Quelle und glaubten an ihre Heilung. Weit und breit waren Hymnen zu Ehren der Jungfrau zu hören.76 Die Pilger belebten das Geschäft. In Windeseile waren mehr als 50 Buden um die Quelle herum entstanden. Die lokalen Autoritäten drängten darauf , dass man das Was72 Vgl. dazu die wegweisenden Überlegungen von Hersche : Müssiggang ( s. Anm. 42 ). 73 Zur Definition des Begriffes „popular culture“ als einer inoffiziellen Nicht-Elite-Kultur Peter Burke : Helden , Schurken , Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit , München 1985 , S. 11. Zur Beziehung der katholischen Kirche zur Volkskultur Peter Hersche : Intendierte Rückständigkeit : Zur Charakteristik des geistlichen Staates im Alten Reich , in : Stände und Gesellschaft im Alten Reich , hg. von Georg Schmidt , Stuttgart 1989 , S. 133–149 , hier S. 143 ff. 74 Ähnliches gilt beispielsweise auch für Österreich : Eva Kimminich : Religiöse Volksbräuche im Räderwerk der Obrigkeiten. Ein Beitrag zur Auswirkung aufklärerischer Reformprogramme am Oberrhein und in Vorarlberg ( Menschen und Strukturen 4 ), Frankfurt 1988. 75 Henry Contamine : Les processions religieuses en Moselle pendant la revolution et l’empire , in : Annuaire de la Fédération Historique Lorraine 1930 , S. 167–202. 76 A. Bouvy : La fontaine d’Hoste en l’an VII ( Études d’histoire écclésiastique messine , offertes à Msgr. Benzler 0. S.B. ), Guenange 1902 , S. 122–149.
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ser chemisch untersuchen lasse : „Il est nécessaire d’envoyer sur-le-champ des chimistes et des hommes instruits dans cet art , sur les lieux pour analyser ces eaux“.77 Sie waren überzeugt davon , dass es für die Heilkraft des Wassers eine rationale Erklärung geben müsse , dass das Wasser Substanzen wie Schwefel und Magnesium enthalte. Sie glaubten auch , dem Volk klar machen zu können , dass die Jungfrau weder in der Quelle noch in den Flaschen , in die man das Wasser abgefüllt hatte , wirklich zu sehen sei. Anders als früher , als die Kirche den Wunderglauben bekämpft hatte , schien es ihnen nun in einer säkularisierten Welt möglich , die Kräfte der Natur zu nutzen : „Anciennement on en avait défendu l’usage par la puissance des prêtres“.78 In der Hoffnung , dass Host ein berühmter Badeort werden könne , bestanden sie darauf , dass die Eigentumsfrage der Quelle schnell geklärt würde , denn schon hatten sich die ersten Investoren gefunden , die die Grundstücke um die Quelle ankauften.79 Während die Massenansammlungen bei den Lokalbehörden die Hoffnung auf eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung der Region weckten , reagierte die Departementsverwaltung nicht weniger irrational als das wundergläubige Volk. Die politischen Führungsschichten fühlten sich durch die sich jeder rationalen Erklärung entziehenden Wahrnehmungen des Volkes bedroht , ließen Ängste aufkommen und verbreiteten Gerüchte. Nicht nur eine royalistische , sondern sogar eine austrorussische Verschwörung schien sich anzubahnen.80 Ihre Reaktion lässt erkennen , dass man sich der politischen Dimension der Wallfahrt bewusst war. Prozessionen und Wallfahrten waren eine Möglichkeit der politischen Meinungsäußerung und Selbstdarstellung , deren sich Anhänger und Gegner der Revolution in unterschiedlicher Weise bedienten.81 Dass es dabei um mehr ging , als um die Frage der Einstellung zur Revolution , machen Gerüchte wahrscheinlich , wonach die Jung-
77 Paquet , Bibliographie ( s. Anm. 61 ), S. 1069 : Le directeur du Directoire-Executif prés de l’administration municipale du canton de Puttelange à l’administration centrale du département de la Moselle ( 19 Prairial VII ). 78 Paquet , Bibliographie ( s. Anm. 61 ), S. 1072 : Legoux à l’administration centrale du département de la Moselle ( 25 prairial VII ). Zu Wallfahrt und Wunderglaube : Rebekka Habermas : Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit , Frankfurt 1991. 79 Paquet , Bibliographie ( s. Anm. 61 ), S. 1058 f. 80 Rudolphe Reuss : La Grande Fuite de décembre 1793 et la situation politique et religieuse du Bas-Rhin de 1794 à 1799 , Strasbourg 1924 , S. 249. 81 Zum Zusammenhang von Politik und Wallfahrt Habermas : Wallfahrt ( s. Anm. 79 ), sowie verschiedene Arbeiten von Wolfgang Brückner ( Die Verehrung des heiligen Blutes in Walldürn. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen zum Strukturwandel barocken Wallfahrtens , Aschaffenburg 1958 ). Den Zusammenhang zwischen Wallfahrt , Aufruhr und gemeindlicher Solidarität thematisiert David M. Luebke : Pilgrimage and popular politics : Some South German examples , der mir freundlicherweise ein Vortragsmanuskript zur Verfügung gestellt hat.
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frau in einem blau-weiß-roten Gewand erschien.82 Das Gefühl der Bedrohung , das sich im Bild der royalistischen bzw. austrorussischen Verschwörung festmachte , wurzelte , so scheint es , in einem ganz anderen symbolischen Diskurs zwischen Elite und „Volk“ :83 Es knüpfte an ältere Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen an , die in der Volksfrömmigkeit zum Ausdruck kamen.84 Seit der Revolution waren sie in ein radikal verändertes Umfeld eingebettet , verfochten doch nun beide Seiten eine unterschiedliche Vision der Gleichheit. Nachdem chemische Analysen keine befriedigenden Ergebnisse erbracht hatten , und es weder mit Truppeneinsatz , Passkontrollen noch Gefängnisstrafen gelang , die Pilger fernzuhalten , zerstörten Soldaten schließlich den Brunnen – nicht aber den Wunderglauben. Es kam zwar nach 1799 zu keinen Massenansammlungen mehr , doch blieb Host noch ein halbes Jahrhundert lang Wallfahrtsort. Dies war nicht nur den weltlichen , sondern auch den kirchlichen Behörden ein Dorn im Auge. Denn für viele ersetzte die Wallfahrt nach Host den sonntäglichen Gottesdienst. Im Rahmen einer zunehmend kirchlich kontrollierten Frömmigkeit hatte Host auf Dauer gesehen keine Chance. Die Quelle geriet schließlich in Vergessenheit.85 Sie musste den großen Wallfahrtsorten weichen , die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Konjunktur hatten.86 Dass der Wunderglaube durch gewaltsame Eingriffe nicht zu zerstören war , macht der Bericht eines Kommissars des Direktoriums des Departements Meurthe an seinen Kollegen vom Bas-Rhin aus dem Jahr VII deutlich : „Les mesures prises par l’administration centrale de la Moselle ont écarté la SainteVierge , qui n’a pu y résister et s’est réfugieé dans le département de la Meurthe , d’abord dans des bouteilles , ensuite dans une fontaine du canton de Niederwiller , attirant toujours un concours nombreux. Chassée aussi de cette asile , la Vierge vient de se sauver dans une fontaine [ … ] située prés de Haguenau“.87 Die Jungfrau in der Flasche passte nicht in das säkularisierte Bewusstsein der aufgeklärten Beamten. Man könne , meinen sie , angesichts des „barbarischen“ Unwissens des Volkes vor Scham erröten , zumal der absurde Glaube unvereinbar sei mit der Lie-
82 Paquet : Bibliographie ( s. Anm. 61 ), S. 1058. In der regionalen Geschichtsschreibung dominiert die obrigkeitlicher Perspektive entsprechende Interpretation der Wallfahrt als gegenrevolutionäre Aktion. 83 Auf diese Bedeutungsebene von Wallfahrt und Volksfrömmigkeit verweisen John Edon / Michael J. Sallnow in : Contesting the Sacred : The anthropology of Christian pilgrimage , hg. v. John Edon / Michael J. Sallnow , London 1991. 84 Habermas : Wallfahrt ( s. Anm. 79 ). 85 Bouvy : Fontaine ( s. Anm. 76 ), S. 148 f. 86 Zum Funktionswandel der Wallfahrten im 19. Jahrhundert : Michael R. Marrus : Pilger auf dem Weg. Wallfahrten im Frankreich des 19. Jahrhundert , in : Geschichte und Gesellschaft 3 ( 1977 ), S. 329–351. 87 Marrus : Pilger ( s. Anm. 87 ), S. 248.
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be und den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit.88 Freiheit und Gleichheit werden in der Argumentation der neuen politischen Führungsschichten verknüpft mit einem Fortschrittsverständnis , das nur noch der Vernunft , dem rationalen Wissen , der Technik und Wissenschaft verpflichtet ist. Im Gegensatz zu Wallfahrten und Wunderglauben , die gleichermaßen auf die soziale und natürliche Welt bezogen waren , beschränkte sich die neue Rationalität weitgehend auf den Bereich des Naturgeschehens.89 Für die Vision der Gleichheit , die im Wallfahrtswesen zum Ausdruck gebracht wurde , war kein Platz mehr , seit sich der Staat und seine Führungseliten explizit zum Vorkämpfer und Garanten von Freiheit und Gleichheit erklärt hatten. Die Schuld für den Wunderglauben möchten die Bürokraten denn auch einzig den eidverweigernden Priestern geben , denn dem Volk , dessen Frömmigkeitsformen einen sehr konkreten lebensweltlichen Bezug hatten , gestehen sie nach wie vor keine eigene Meinung zu. Aus ihrer Perspektive waren Wallfahrt und Wunderglaube einzig Ausdruck eines Widerstandes , den man gewaltsam unterdrücken musste. 8. Traditionalismus als Vehikel dynamischer Prozesse
Die Betrachtung des Revolutionsgeschehens vor Ort hat gezeigt , in welchem Maße selbst ein von der kollektiven Erschütterung kaum berührtes „Konservatorium“ wie Deutschlothringen in den Prozess der revolutionären Veränderung einbezogen war. Wenn dabei die Impulse zum großen Teil von außen kamen , heißt dies nicht , dass die örtliche Bevölkerung passiv blieb. Vielmehr lässt sich durchweg die aktive Aus einandersetzung mit dem Neuen beobachten. Sie war häufig eingebettet in traditionale Formen und Verhaltensweisen. Die ländliche Welt , die scheinbar unbeweglich in ihren Traditionen verhaftet blieb , entwickelte während der Jahre der Revolution eine enorme innere Dynamik , die sie befähigte , ihre eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen. In den Vorgängen der Aneignung und Umwertung spielte die Traditionsgebundenheit eine entscheidende Rolle. Der Traditionalismus der ländlichen Gesellschaft war während der kollektiven Erschütterung der Revolution weit mehr als ein konservatives Beharren. Er konnte die Fortsetzung einer vorrevolutionären Praxis sein , darüber hinaus aber sehr verschiedene Funktionen annehmen : Symbole und Freiräume des volkskulturellen Selbst verständnisses konnten zum Vehikel vergangenheitsorientierter wie fortschrittlicher Ideen werden. Dabei knüpfte die traditionsverhaftete Landbevölkerung an lebensweltliche Ordnungsvorstellungen , -bedürfnisse und -ansprüche an , die längst nicht mehr 88 Marrus : Pilger ( s. Anm. 87 ), S. 249. 89 Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen zu Konzepten wie Vernunft , Rationalität und Irrationalität von NORBERT ELIAS : Humana conditio. Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes ( 8. Mai 1985 ), Frankfurt 1985 , S. 16 ff.
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unangefochten Geltung hatten. Ein solcher Traditionalismus lässt sich wohl am ehesten als rückwärtsgewandte Utopie bezeichnen. Auf der anderen Seite griff die anti klerikale und antitraditionalistische basisdemokratische Kultur des Jahres II in erheblichem Maße nicht nur auf eigene , sondern auch auf ehemals obrigkeitliche Traditionen zurück , wertete sie um und benutzte sie , um die neuen politischen Ideen zur Entfaltung bringen zu können. Die Transformation symbolischer Handlungen ( Prozession , Te Deum ) und der Entwurf eines neuen Symbolsystems ( Freiheitsbäume , Kokarden ) bezogen traditionale Formen in den Politisierungsprozess ein. Auch das Kreuz , die Kirche und die Glocken erhielten eine neue Bedeutung. Sie waren Medien , um politische Positionen in der Gruppe erfahrbar und sichtbar zu machen und zu einer neuen Identität in einer veränderten Gesellschaft zu finden. Die Wandlungen sind an der Oberfläche kaum wahrnehmbar. Sie erschließen sich nur im Kontext der Alltagspraxis. Staat und Kirche , die sich bei ihrer Auseinandersetzung um Machterwerb und Machterhalt auch ihrerseits des traditionellen Symbolsystems bedienten , es in ihrem Sinne umzuwerten und sich anzueignen versuchten , konnten nicht verhindern , dass die Gläubigen das durch die Zerstörung der kirchlichen Autorität entstehende Machtvakuum nutzten , um sich Freiräume zu sichern oder zurückzuerobern. Gerade angesichts der obrigkeitlichen Versuche der Disziplinierung volkskultureller Praktiken ist die Jungfrau in der Flasche ein beeindruckendes Zeugnis für das findige Beharrungsvermögen einer autonomen ländlichen Kultur und ihrer Resistenz gegen aufgezwungene Veränderungen.
„Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand 1. Add and Stir : Weibliche Kriminalität in der historischen Forschung
Die Frage des Zusammenhangs zwischen Kriminalität und Weiblichkeit schließt ein weites für die Frauen- und Geschlechterforschung bedeutendes Themenfeld auf , das erst in Ansätzen erschlossen ist. Trotz eines verstärkten Interesses an Umfang und Formen abweichenden Verhaltens von Frauen sind die seitens der Kultur- und Geschichtswissenschaften bislang vorliegenden Ergebnisse eher bescheiden.1 Zwar hat die historische Kriminalitätsforschung im Hinblick auf die „allgemeine“ Kriminalität einen wichtigen Beitrag zur Erforschung unterschiedlich gegründeter Normensysteme und zum Verständnis der sozialen Bedingungen kriminellen Handelns geleistet und weiterführende Einsichten in das innere Gefüge von Gesellschaften vermittelt2 , doch fallen einige ihrer Vertreter bei dem Versuch , geschlechtergeschichtliche Fragen zu integrieren , bisweilen in einen befremdlichen Statistikfetischismus3. Die Interpretation der Daten beschränkt sich oft auf einen Problemaufriss , den man in Anlehnung an eine Formulierung von Meda Chesnay-Lind4 als den „Add and Stir Approach“ bezeichnen könnte. 1 Einen Überblick über die neueren Forschungen zur weiblichen Kriminalität in der Frühen Neuzeit geben Susanna Burghartz : Kein Ort für Frauen ? , in : Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen , Quellen , Antworten , hg. von Bea Lundt , München 1991 , S. 49–64 und Robert Jütte : Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit , in : Zeitschrift für Rechtsgeschichte , Germanistische Abteilung 108 ( 1991 ), S. 86–115. 2 Einen guten Einblick vermitteln die Arbeiten von Dirk Blasius : Kriminalität und Geschichtswissenschaft. Perspektiven der neueren Forschung , in : Historische Zeitschrift 233 ( 1981 ), S. 615–626. Dirk Blasius , Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung , in : Geschichte und Gesellschaft 14 ( 1988 ), S. 136–149. Heinz Reif ( Hg. ): Räuber , Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert , Frankfurt / M. 1984 , Gerd Schwerhoff : Köln im Kreuzverhör. Kriminalität , Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt , Bonn / Berlin 1991 und Ders. : Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung , in : Zeitschrift für historische Forschung 19 ( 1992 ), S. 385–414. 3 So beendet etwa Dirk Blasius , Kriminologie und Geschichtswissenschaft ( s. Anm. 2 ), S. 148 seine kenntnisreichen Ausführungen über „Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung“ mit einigen kurzen Hinweisen auf die Verschränkung von Kriminalitäts- und Geschlechtergeschichte , die sich weniger durch weiterführende Fragen oder die Wiedergabe des Forschungsstandes als durch eine Beschreibung des statistischen Befundes auszeichnen. Damit stellt er sich in die nach wie vor verbreitete Tradition jener Forscher , die im Hinblick auf Frauen und Geschlechtergeschichte mehr über die Defizite als über die Ergebnisse berichten. 4 Meda Chesnay-Lind : Women and Crime. The Female Offender , in : Signs. Journal of Women in Culture and Society 12 ( 1986 ), S. 78–96.
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Durch den unterschiedlichen Umgang mit Kriminalität und Frauenkriminalität wird die Chance vertan , aus der Analyse frauenspezifischer Delikte Erkenntnisse über die innere Struktur der Gesellschaft und ihre Veränderung hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen zu gewinnen. Bis zu einem gewissen Grad ist dies Ausfluss mangelnder Kenntnis weiblicher Lebenswelten und der impliziten Vermutung von deren Ahistorizität.5 Gravierender ist der Umstand , dass Kriminalität und Weiblichkeit gleichermaßen soziokulturelle Konstrukte sind , die dem wissenschaftlichen Nachdenken deshalb leicht verborgen bleiben , weil sie sich nahtlos in den Erfahrungsbereich der Gegenwart einzupassen scheinen. Die statistischen Befunde aus verschiedenen Zeiträumen weisen bemerkenswerte Übereinstimmungen auf , die den Schluss nahelegen , dass Frauen nicht nur weniger , sondern auch weniger schwere Verbrechen begehen.6 Trotz der bekannten Entwicklungstendenzen und der für einzelne Regionen beschriebenen Differenzen scheint die Geschlechtszugehörigkeit das sicherste Kriterium zu sein , um kriminelles Verhalten vorherzusagen.7 Dass diese Aussage ihre Validität nicht aus der Realität , sondern aus der Etikettierung dessen , was in der jeweiligen Epoche als „weiblich“ oder „kriminell“ bezeichnet wurde , erhält , wird deutlich , wenn man das Thema und die wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber aus einer historischen Perspektive betrachtet.
5 Ausgewiesene Forscher lassen sich , wenn sie über Frauenkriminalität schreiben , bisweilen zu Plattitüden hinreißen , die ihnen , würden sie allgemein über Kriminalität schreiben , sicher nicht in die Feder kämen. So macht Dirk Blasius , Kriminologie und Geschichtswissenschaft ( s. Anm. 2 ), S. 148 die für einen Historiker erstaunliche Feststellung : „Viel spricht dafür , dass Umfang und Typ der Frauenkriminalität stark von geschichtlichen Lagen beeinflusst werden.“ Robert Jütte : Geschlechtsspezifische Kriminalität ( s. Anm. 2 ), S. 98 stellt fest : „Ein fast reines Frauendelikt scheint – nicht zuletzt wegen der einschlägigen Gesetzgebung – der Kindsmord gewesen zu sein , während ein nur von Männern begangenes Verbrechen – jedenfalls in der Rechtspraxis – die Vergewaltigung ist …“ Beide Delikte sind definitorisch geschlechtsspezifisch festgelegt. Was den Kindsmord betrifft , so bezieht sich bereits § 131 der Carolina explizit auf „Weiber , so ihre Kinder töten“. Gerd Schwerhoff , Köln im Kreuzverhör ( s. Anm. 2 ), S. 180 schließlich stellt fest : „An den Gewaltritualen und Ehrspielen der Männer hatte das andere Geschlecht kaum einen aktiven Anteil.“ Wäre es anders , würde man wohl kaum von Ritualen und Spielen der Männer , sondern bestenfalls von Männlichkeitsritualen reden. Gleiche Bedenken sind auch gegenüber Martin Dinges : „Weiblichkeit“ in „Männlichkeitsritualen“ ? Zu weiblichen Taktiken im Ehrenhandel in Paris im 18. Jahrhundert , in : Francia 18 ( 1991 ), S. 71–98 angebracht. 6 Hans-Dieter Schwind : Kriminologie : eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen , Heidelberg 41992. 7 Lutz Gero Leky : Frauenkriminalität , in : Handbuch für Frauenfragen. Zur Stellung der Frau in der Gegenwart. Informationen – Analysen – Anregungen , hg. von Roswitha Wisniewksi / Hermann Kunst , Bonn 1988 , S. 209–213.
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2. Die Natur des Weibes ? Zur wissenschaftlichen Konstruktion von Kriminalität und Weiblichkeit
Ungeachtet ihrer Marginalität konnten Verbrechen von Frauen , die großen historischen Fälle nicht weniger als die Hexerei oder der scheinbar alltägliche Kindsmord , sich stets eines großen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses erfreuen.8 Häufig waren sie Gegenstand juristischer Diskurse , literarischer Abhandlungen oder wissenschaftlicher Forschung.9 Was daran interessierte , war meist weniger der individuelle Fall und sein soziales Umfeld als die „Natur des Weibes“, die in der außergewöhnlichen Situation des Verbrechens zum Vorschein kam.10 Antriebsschwäche , Heimtücke und die chaotische Natur der Frau , verbunden mit angeborener Passivität und geringerer physischer Kraft verdichteten sich zu einer Vorstellung von Weiblichkeit , die jede Frau zu einer – qua Geschlechtszugehörigkeit – potentiellen Verbrecherin macht. Eine derartig eindeutige Zuschreibung war geeignet , männliche Kontrolle über Frauen und damit Männerherrschaft zu legitimieren. Soziobiologische Erklärungen erleben zurzeit eine unerwartete Renaissance. Im Gegensatz zu dem älteren biologistischen Ansatz wird neuerlich auf hormonell bedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern hingewiesen , die für das verschiedene Aggressions- und Kriminalitätsverhalten von Frauen und Männern verantwortlich sein sollen.11 In diesen Erklärungen wird Geschlechteridentität auf ihre biologisch-sexuelle Komponente reduziert. Gleichzeitig wird die Bedeutung soziokultureller Faktoren übersehen oder soweit marginalisiert , dass eine eindeutige Beziehung zwischen einem biochemisch determinierten anatomischen Geschlecht und der Geschlechter identität vorausgesetzt werden kann. In ihrer letzten Konsequenz führt eine solche 8 Erinnert sei etwa an die bekannten Giftmörderinnen Anna Margarethe Zwanziger , Gesche Margarethe Gottfried und die Marquise von Brinvilliers oder an die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Vgl. u. a. Große Kriminalfälle. Aus dem Neuen Pitaval des Willibald Alexis , bearb. v. Alfred Christoph , München 1965. Anselm Ritter von Feuerbach : Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen , Gießen 1928. Eckart von Naso : Pariser Nokturno. Chronik der Marquise von Brinvilliers , Frankfurt / M. 1952. Das Leben und Sterben der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt nach den Prozeßakten der Kaiserlichen Freien Reichsstadt Frankfurt am Main , den sogenannten Criminalia 1771 , bearb. von Siegfried Birkner , Frankfurt / M. 1989. 9 Eine umfassende Darstellung hat Otto Ulbricht : Kindsmord und Aufklärung in Deutschland , München 1990 für den Kindsmord vorgelegt. 10 Ann Jones : Frauen , die töten , Frankfurt / M. 1986 , S. 27 wirft einigen Hauptvertretern der älteren Kriminologie vor , dass sie „akribisch ihre Vorurteile zu wissenschaftlichen Tatsachen veredelten“. Von Vorurteilen über die Frau durchtränkt sind beispielsweise die Arbeiten von Erich Wulffen : Psychologie des Giftmordes , Wien 1917 und Albrecht Wetzel : Über Massenmörder , Berlin 1920 , die die besondere Disposition des weiblichen Geschlechtes für den Giftmord erklären möchten. 11 Günther Kaiser : Das Bild der Frau im neueren kriminologischen Schrifttum , in : Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 98 ( 1986 ), S. 658–678.
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Argumentation dazu , dass nicht die Gesellschaft , sondern die scheinbar unveränderliche und unbeeinflussbare Natur für menschliches Verhalten und Fehlverhalten verantwortlich gemacht wird und Steuerungsmechanismen nicht mehr primär im gesellschaftlichen , sondern im genetischen Milieu einsetzen. Eine fast zwangsläufige Konsequenz derartiger Argumentation ist , dass männliche und weibliche Gewalt mit zweierlei Maß gemessen werden. Ein mordender Mann folgt letztlich dem Gesetz der Natur , eine mordende Frau verstößt nicht nur gegen die gesellschaftliche , sondern gegen die natürliche Ordnung und stellt daher eine ungleich höhere Bedrohung dar. Um derart verkürzten Interpretationen entgegenzusteuern , sind zweifellos jene sozialwissenschaftlichen Hypothesen von Bedeutung , die veränderbaren exogenen Faktoren einen hohen Stellenwert zuschreiben. Vor allem mit Hilfe der Theorie differentieller Sozialisation und unterschiedlicher informeller Sozialkontrolle lassen sich geschlechtsspezifische Verhaltensweisen bis zu einem gewissen Grade plausibel herausarbeiten. Letztlich bleibt bei diesem Ansatz jedoch das Problem der Interdependenz zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht , der Geschlechteridentität , ungeklärt. Der unterschiedliche Umgang von Frauen und Männern mit Gewalt verbietet es , diesen Aspekt zu vernachlässigen. Es ist offensichtlich sehr viel komplizierter , als die Einteilung der Menschheit in Männer und Frauen vermuten lässt. Die Beziehung zwischen Geschlecht als einem konstitutiven Element sozialer Beziehungen und Geschlecht als einer biologischen Größe ist keineswegs eindeutig : das heißt dem biologischen Mann- oder Frausein können unterschiedliche Identitäten von Männlichkeit und Weiblichkeit entsprechen.12 Judith Butler geht in ihren Überlegungen zum Unbehagen der Geschlechter sogar soweit , dass sie die Binarität der Geschlechteridentität bezweifelt und eine grundlegende Diskontinuität zwischen dem binär gedachten biologischen Geschlecht ( Mann / Frau ) und der sozio-kulturellen Geschlechteridentität für möglich hält.13 Um es weniger abstrakt auszudrücken : Zwischen dem biologischen Geschlecht und der Geschlechteridentität scheint eine sehr komplexe , teilweise wechselseitige Beziehung zu bestehen in dem Sinne , dass nicht nur das biologische Geschlecht die Geschlechteridentität beeinflusst , sondern dass die Geschlechteridentität auch Auswirkungen auf die Biologie des Menschen hat. Von einer gleichbleibenden Bedeutung des menschlichen Körpers kann daher keine Rede sein. Bezogen auf das hier zu diskutierende Problem der weiblichen Kriminalität wären unter anderem jene theoretischen Erklärungsansätze kritisch zu hinterfragen , die 12 Joan W. Scott : Gender. A Useful Category of Analysis , in : American Historical Review 91 ( 1986 ), S. 1053–1075. 13 Judith Butler : Das Unbehagen der Geschlechter , Frankfurt / M. 1991.
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Frauen ein hormonell verursachtes „verstärkt an der Gemeinschaft orientiertes , angepasstes Verhalten“ bescheinigen , das ihre Deliktbereitschaft erheblich einschränkt.14 Historisch lässt sich ein solches Verhalten ohnehin kaum belegen. 3. Gegenbilder : Frauen , Protest und Gewalt in der Frühen Neuzeit
„Im frühneuzeitlichen Europa“, so eine Beobachtung von Natalie Zemon Davis , „hielt man das weibliche Geschlecht für das ordnungswidrige schlechthin“.15 Frauen führten Rebellionen an oder nahmen zumindest aktiv daran teil.16 Im Kontext von Karneval und Aufruhr wurden sie zu Agentinnen des gesellschaftlichen Wandels.17 Ihr Engagement wird nicht mit der weiblichen Natur oder Psyche erklärt , sondern mit Funktionalität – der geringeren strafrechtlichen Verantwortung – und einem kulturellen Leitbild von Weiblichkeit , das sich am jeweiligen Diskurs orientierte.18 In der Wahl ihrer Waffen waren Frauen nicht zimperlich , in der Grausamkeit standen sie hinter den Männern nicht zurück. Dies wurde vor allem für Frankreich beobachtet , wo Frauen eine sonderbare Nähe zu blutigen Aktionen zeigten , die Arlette Farge mit Nichtwissen , mit Tabus und körperlichen Erfahrungen von Frauen , dem Zusammenhang von Menstruation und Unreinheit auf der einen Seite und ihrem Ausschluss aus der Politik auf der andern zu erklären versucht.19 Auch wo es weniger gewaltsam zuging , waren Frauen präsent. Sie widersetzten sich teils im Alleingang , teils gemeinsam mit ihren Männern notfalls gewaltsam herrschaftlichen Anordnungen , verhinderten Pfändungen , beleidigten Amtspersonen , drohten mit Schlägen , übertraten Verbote ( Wald- und Weiderechte ), missachteten ebenso wie die Männer Monopole ( Schmuggel ), übernahmen organisatorische Aufgaben und verweigerten sich dem Gericht , indem sie geschickt ihr Nichtwissen und ihre Minderberechtigung ausspielten. Wenn es um die Wiederherstellung der Ordnung im Dorf oder Stadtteil ging oder um die Notwendigkeit , häuslichen Streit zu schlichten , wussten sie sich in der Regel zu verteidigen.20 14 Kaiser : Bild der Frau ( s. Anm. 11 ), S. 670 f. 15 Natalie Zemon Davis : Humanismus , Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühzeitlichen Frankreich , Frankfurt / M. 1987 , S. 136. 16 Rudolf M. Dekker : Women in revolt. Popular protest and its social basis in Holland in the seventeenth and eighteenth centuries , in : Theory and Society 16 ( 1987 ), S. 337–362. 17 Olwen Hufton : Aufrührerische Frauen in traditionalen Gesellschaften : England , Frankreich und Holland im 17. und 18. Jahrhundert , in : Geschichte und Gesellschaft 18 ( 1992 ), S. 423–445. 18 Michelle Perrot : Délinquance et système pénitentaire en France au XIXe siècle , in : Annales 30 ( 1975 ), S. 67–91 , hier S. 67 ff. 19 Arlette Farge : Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts , Berlin 1989. Arlette Farge / Michel Foucault : Familiäre Konflikte. Die „Lettres de cachet“, Frankfurt / M. 1989. 20 Claudia Ulbrich : Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland , in : Arbeit , Frömmigkeit und Eigensinn , hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1990 , S. 13–
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Der Raum der Frauen war nicht nur das Haus , sondern auch die Straße. Noch war die Trennlinie zwischen den Geschlechtern weniger durch Räume als durch Funktionen bestimmt. Sie war semipermeabel und biologisch nicht eindeutig determiniert. Dies schlug sich auch im Protest- und Kriminalitätshandeln nieder. Für Holland betont Rolf Dekker , dass die Straße vor 1800 von den Frauen beherrscht wurde.21 Sie nutzten vor allem in Krisenzeiten ihre familiären und nachbarschaftlichen Kontakte , um die Aufstandswilligen zu mobilisieren. Während der Aufstände provozierten sie Autoritäten , erniedrigten Männer und führten das Regiment. Martin Dinges hält die Pariser Straßen des 18. Jahrhunderts für einen geschlechtsspezifisch indifferenten , d. h. von Frauen und Männern bevölkerten Raum und weist auf die besondere Bedeutung des Arbeitsplatzes in typischen Frauengewerben für die Herstellung einer weiblichen Öffentlichkeit hin. Für das Paris des 18. Jahrhundert kann er eine „sehr aktive gewalttätige Beteiligung der Frauen“ an männlichen Ehrhändeln beobachten. Zwar stellt er auch in seinem Material eine „statistisch höhere Gewaltneigung der Männer“ fest , doch glaubt er , dass sich die Qualität der Gewalt von Frauen in keiner Weise von der der Männer unterscheide.22 In den von ihm beschriebenen gewaltsamen Ehrhändeln , an denen beide Geschlechter beteiligt waren , entstammen Frauen und Männer den gleichen Lebenszusammenhängen , die sie gemeinsam verteidigen. Ob man derartige Auseinandersetzungen als Männlichkeitsrituale bezeichnen kann und soll , scheint mehr als fraglich. Der Begriff verdeckt , dass die Ehre und das dadurch ausgelöste Ritual nur Verweisstruktur für ganze andere Probleme haben.23Aufschlussreicher scheint in diesem Zusammenhang das von Nicole Castan entwickelte Konzept der „criminalité familiale“ zu sein.24 Nicole Castan arbeitet die Bedeutung der Solidarität zwischen Ehemännern und -frauen vor allem in den unteren sozialen Schichten heraus und stellt einen Zusammenhang zwischen weiblicher Gewalt und weiblicher Ehre her. Der Mann , so führt sie aus , benutzt die Frau für die gefährlichen Aktionen. Dabeinutzt er die unterschiedlichen Ehrvorstellungen und deren Implikationen aus. Da die Ehre der Frauen strikt auf die Familie bezogen ist und sich auf Sexualität ( Unberührtheit vor der Ehe , eheliche Treue ) und Mutterschaft bezieht , sind Frauen nur in diesen Bereichen zur Wah-
42 , hier S. 40 f. Rebekka Habermas : Frauen und Männer im Kampf um Leib , Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit , in : Dynamik der Tradition , hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1992 , S. 109–136 , hier S. 110. 21 Dekker : Women in revolt ( s. Anm. 16 ). 22 Dinges : „Weiblichkeit“ in „Männlichkeitsritualen“ ( s. Anm. 5 ), S. 94. 23 Gerade dies aber betont Dinges : „Weiblichkeit“ in „Männlichkeitsritualen“ ( s. Anm. 5 ), S. 80. 24 Nicole Castan : La criminalité dans le ressort du Parlement de Toulouse. 1690–1730 , in : Crimes et criminalité en France sous l’ancien Régime. 17–18e siècles ( Cahiers des Annales , 33 ), Paris 1971 , S. 91– 107.
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rung der Ehre verpflichtet.25 Dadurch entstehen ihnen Freiräume. Sie können Wörter gebrauchen und Taten begehen , die einem Mann niemals verziehen würden.26 Bernhard Müller-Wirthmann konnte auch in seiner Untersuchung bayerischer Raufhändel beobachten , dass Frauen , wenn sie gemeinsam mit ihren Männern die Ehre verteidigten , nicht weniger aggressiv waren als diese. Dabei konnten sie geschickt Weiblichkeitsvorstellungen ausnutzen , die an die Schwäche und Schutzbedürftigkeit von Frauen erinnerten , aber wenig mit dem harten Leben und Arbeiten , das auch den weiblichen Alltag auf dem Land bestimmte , zu tun hatten.27 Einen maßgeblichen Anteil hatten Frauen an der „kriminellen Subkultur“, die in Holland im 17. und 18. Jahrhundert entstanden war.28 Hier , aber auch in anderen europäischen Ländern zogen Frauen Männerkleider an , um – nicht weniger grausam als Männer – zu rauben oder sich einer Bande anzuschließen. Rudolf Dekker und Lotte van de Pol vermuten , dass eine Beziehung zwischen Transvestieren und Kriminalität besteht. Da bestimmte als kriminell qualifizierte Formen des Verhaltens nicht der weiblichen Geschlechtsrolle entsprachen , entschieden sich Frauen in entsprechenden Situationen für eine Verkleidung als Mann.29 Die Beispiele von Dekker / van de Pol verstärkten die Vermutung , dass zumindest in der Frühen Neuzeit Verhalten in einem viel stärkeren Maße durch die soziokulturelle Geschlechtsrolle als durch das biologische Geschlecht oder dessen psychische Disposition bestimmt wurde , dass es zwischen Stärke und Wehrhaftigkeit , die Frauen im alltäglichen Leben unter Beweis stellten , und der Schutzbedürftigkeit und Schwäche , die dem damals schon verbreiteten kulturellen Leitbild von Weiblichkeit entsprach , keine Übereinstimmung gab. Auch die zumindest in Frankreich am weitesten verbreitete Form weiblicher Gewalt , Lärmen und Aufruhr auf der Straße , entsprach nicht der normativ verankerten Vision des Weiblichen. Dennoch erforderte sie keine Verkleidung , denn die Frauen bedienten sich mit ihrem Lärmen ihrer eigentümliche Waffen , der Stimme.30 Schelt25 Dass der Zusammenhang zwischen weiblicher Ehre und Sexualität weniger dem Schutz von Frauen als der Möglichkeit der Kontrolle diente , hat Susanna Burghartz : Jungfräulichkeit oder Reinheit ? Zur Änderung von Argumentationsmustern vor dem Basler Ehegericht im 16. und 17. Jahrhundert , in : Dynamik der Tradition , hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1992 , S. 13–40 , hier S. 13 ff. herausgearbeitet. 26 Castan : La criminalité dans le ressort du Parlement ( s. Anm. 24 ), S. 93 f. 27 Bernhard Müller-Wirthmann : Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf , in : Kultur der einfachen Leute , hg. von Richard van Dülmen , München 1983 , S. 79–111 , hier S. 102. 28 Lotte van de Pol : Vrouwencriminaliteit in de Gouden Eeuw , in : Ons Amsterdam 34 ( 1982 ), S. 266– 269. Dies. : Vrouwencriminaliteit in Amsterdam in de tweede helft van de zeventiende eeuw , in : Tijdschrift voor Criminologie 29 ( 1987 ), S. 148–155. 29 Rudolf M. Dekker / Lotte van de Pol : Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte , Berlin 1990 , S. 51 ff. 30 Michelle Perrot : Rebellische Weiber. Die Frau in der französischen Stadt des 19. Jahrhunderts , in : Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen , hg. von Claudia Honegger / Bet-
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worte waren , so formulierte es ein Anwalt im 18. Jahrhundert , „die gewöhnliche Waffe der Weiber“, die Zunge die „allen weibern gemein habende Gegenwehr“. 4. Frauen sind anders ? Die kulturelle Bedingtheit „kriminellen“ Handelns
Die unterschiedlichen Formen der Gewalt machen nicht weniger als die Taktiken der Verkleidung deutlich , wie komplex das Problem weiblicher Kriminalität untersucht werden müsste. Statistische Befunde können bestenfalls ein erster Anhaltspunkt sein.31 Vermutlich verschleiern sie mehr als sie aufdecken. Denn in jedem Fall sagen sie weit mehr über das Strafsystem und seine Effektivität aus als über die Kriminalität selbst.32 Seitens der Historischen Protestforschung , zu der die Historische Kriminalitätsforschung eine bisweilen erstaunliche Distanz wahrt33 , wurde denn auch mit guten Argumenten bezweifelt , ob es sinnvoll ist , „Männeranteile gegen Frauenteile“ aufzurechnen34. Weiterführend scheint die Frage nach strukturellen Differenzen zu sein , die Carola Lipp in ihren Überlegungen zur frauenspezifischen Partizipation in Hungerunruhen des 19. Jahrhunderts angegangen ist. Sie interessiert sich für die Motive von Frauen , an Protesten teilzunehmen und für die je nach Geschlecht unterschiedlichen Ziele und Formen der Beteiligung. Damit rückt sie die Frage nach der kulturellen Bedingtheit bestimmter Handlungsmuster ins Blickfeld.35 Dass hierin ein wichtiger Schlüssel für tina Heintz , Frankfurt / M. 1984 , S. 71–98. Nicole Castan : Criminelle , in : Histoire des Femmes en Occident , hg. von Georges Duby / Michelle Perrot , Bd. 3 , Paris 1991 , S. 469–479. 31 Dass auch bei der Auswertung der Gerichtsakten größte Vorsicht geboten ist , hat Benoît Garnot : Un crime conjugal au 18e siècle. L’affaire Boiveau , Paris 1993 mit Nachdruck betont und darauf verwiesen , dass Gerichtsakten weit mehr über die Entwicklung der Mentalität der Eliten als über die der Angeklagten aussagen. 32 Ganz evident ist dies zum Beispiel im Fall des Kindsmords. Richard van Dülmen : Frauen vor Gericht. Kindsmord in der Frühen Neuzeit , Frankfurt / M. 1991 hat diesen Zusammenhang deutlich herausgearbeitet. Sein umfangreiches Zahlenmaterial lässt allerdings einen weiteren Schluss zu , der sich bei näherer Betrachtung als Trugschluss erweist , dem der Verfasser selbst zum Opfer fällt. Da er die Kindsmordzahlen in Relation zu anderen Kapitalverbrechen und nicht in Bezug auf die Zahl der Geburten interpretiert , entsteht der Eindruck , als sei Kindsmord „durchaus ein häufiges Vergehen“ ( S. 60 ). In der Zusammenfassung heißt es demgemäß auch ( S. 111 ): „Hinter dieser Strafwut der Obrigkeit stand ein rigides moralisches Bewusstsein , das keine Gnade kannte. Und um dieser Gefahr zu entgehen , entschlossen sich viele Frauen zum Kindsmord.“ Dass Kindsmord ein seltenes Delikt war , betont neben Ulbricht : Kindsmord und Aufklärung ( s. Anm. 8 ) auch Clemens Zimmermann : „Behörigs Orthen angezeigt“. Kindsmörderinnen in der ländlichen Gesellschaft Württembergs , 1581–1792 , in : Medizin , Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch der Robert Bosch Stiftung ( 1992 ), S. 67–102. 33 Blasius : Kriminalität und Geschichtswissenschaft ( s. Anm. 2 ), S. 616. 34 Manfred Gailus : Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847–1849 , Göttingen 1990 , S. 293. 35 Carola Lipp : Frauenspezifische Partizipation in Hungerunruhen des 19. Jahrhunderts. Einige Überlegungen zu strukturellen Differenzen im Protestverhalten , in : Der Kampf um das tägliche Brot. Nah-
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die Erforschung historischer Formen von Kriminalität liegt , hat Susanna Burghartz in ihren Studien zur Delinquenz in Zürich am Ende des 14. Jahrhunderts deutlich gemacht. Burghartz fragt in ihrer Untersuchung nach der unterschiedlichen Nutzung des städtischen Gerichts und kann nachweisen , dass das Ratsgericht zwar von Frauen genutzt wurde , aber aufgrund seiner Orientierung auf männliche Lebenswelten und Ehrcodices nicht der eigentliche Ort weiblicher Konfliktaustragung war.36 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Michaela Hohkamp , die die Gerichtspraxis in der vorderösterreichischen Herrschaft Triberg exemplarisch für die Jahre 1749–1754 untersucht hat.37 Sie kann beobachten , dass Ehefrauen wegen gegen sie verübter Gewalttaten nur selten weltliche Gerichte aufsuchten und sich stattdessen anderer Strategien bedienten. Angesichts der Bedeutung der Ehre in der ländlichen Gesellschaft kam verbalen Angriffen eine besondere Bedeutung zu , so dass sie , so Hohkamp , „ebenso wie körperliche Verletzungen als Gewalt interpretiert werden müssen“.38Häufig verlagerten Frauen ihre Konflikte in einen geschlechtsspezifischen Kontext , trugen sie ihren Streit in der Kirche oder auf der Straße aus , wo es unter Umständen zu handfesten Auseinandersetzungen kommen konnte. Ganz anders war die Situation vor den Ehegerichten , deren Vermittlung Frauen in Anspruch nahmen , um das Zustandekommen oder die Auflösung einer Ehe , nicht aber die Beilegung von Konflikten durchzusetzen.39 Im Zusammenhang mit der Ehe ist die Wertung von Gewalt , die Benoît Garnot in einer Mikrostudie über einen Gattenmord im 18. Jahrhundert herausgearbeitet hat , höchst bedeutsam. Garnot geht davon aus , dass Gewalt im 18. Jahrhundert im täglichen Leben in hohem Maße toleriert war. Physische Gewalt war ein Monopol der Männer und galt in bestimmten Fällen , in Ehrenhändeln , in Interessenkonflikten oder als Reaktion auf Ungerechtigkeiten als ehrenvoll. Angezeigt wurde sie nur , wenn sie zu exzessiv oder anormal war. Wenn überhaupt , dann durften Frauen Gewalt nur oberflächlich anwenden , weder Feuer noch Eisen benutzen. Ihrem Geschlecht entsprachen rungsmangel , Versorgungspolitik und Protest 1770–1990 , hg. von Manfred Gailus / Heinrich Volkmann , Opladen 1994 , S. 200–213. 36 Susanna Burghartz : Leib , Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts , Zürich 1990. Dies. : Kein Ort für Frauen ( s. Anm. 1 ). 37 Michaela Hohkamp : Frauen vor Gericht , in : Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung , hg. von Mireille Othenin-Girard / Anna Gossenreiter / Sabine Trautweiler , Zürich 1991 , S. 115–124. 38 Michaela Hohkamp : „Auf so ein erlogenes Maul gehört eine Maultasche“. Verbale und körperliche Gegen-Gewalt gegen Frauen. Ein Fallbeispiel aus dem Schwarzwald des 18. Jahrhunderts , in : Physische Gewalt im Alltag , Werkstatt Geschichte 4 ( 1993 ), S. 9–19. 39 Burghartz : Kein Ort für Frauen ( s. Anm. 1 ), S. 62. In Frankreich hatten Frauen und Männer vor der Revolution die Möglichkeit , den Ehekonflikt zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen und vor den König zu tragen. Vgl. Arlette Farge / Michel Foucault : Familiäre Konflikte. Die „Lettres de cachet“, Frankfurt / M. 1989 , S. 11 f.
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alten Vorstellungen zufolge eher die Komplizenschaft oder die Anwendung von Gift. Ähnlich wie bei den erwähnten Aufständen , scheinen auch bei „kriminellem“ abweichendem Verhalten nicht die Natur oder die Psyche der Frau , sondern tradierte kulturelle Muster und Weiblichkeitsvorstellungen erheblichen Einfluss auf das Verhalten von Frauen gehabt zu haben.40 Ähnliches gilt , wie ich in einer mikrohistorischen Untersuchung der Delinquenz eines kleinen Bauerndorfs im 18. Jahrhundert zu zeigen versucht habe , auch für die „Alltagskriminalität“. 5. Die Mehrdeutigkeit der „Alltagskriminalität“ – Ein Fallbeispiel41
In Steinbiedersdorf , einer kleinen Gemeinde in Deutschlothringen , für die eine ungewöhnlich dichte Überlieferung besteht , wurden im 18. Jahrhundert Frauen angezeigt , weil sie durch herrschaftliche Wiesen gelaufen , Gras oder Zwiebeln gerupft , Früchte geschnitten , Zäune verlegt , Kartoffeln gestohlen , zum Zwecke der Ernte auf einem fremden Kirschbaum gesessen , Kräuter , Obst , Reiser für Bohnenstecken oder Holz zum Heizen in Gärten , Feldern oder im Wald gesammelt hatten. Dabei waren sie oft zu zweit oder in Gruppen unterwegs. Töchter und Mägde , Ehefrauen und Witwen versuchten in Wald und Feld , an den Wegerändern oder in Nachbars Garten zu beschaffen , was sie zum Leben brauchten. Wiederholte Verbote und die Klagen über die außerordentliche Verbreitung dieser Delikte machen deutlich , in welchem Umfang Frauen dabei mit dem Gesetz in Konflikt gerieten , auch wenn ihre Aktionen nicht immer zur Anzeige kamen. Die soziale Akzeptanz ist ein Hinweis auf die Existenz von Legitimationsvorstellungen , die auf breiter Zustimmung aufbauten.42 In der Häufigkeit der Delikte spiegeln sich soziale Ursachen , die größere Armut von Frauen , aber auch ihr Recht und ihre Pflicht zur Existenzsicherung beizutragen , wider. Sozio-ökonomische und mentale Faktoren reichen jedoch nicht zur Erklärung der erwähnten alltäglichen Gesetzesüberschreitungen aus. 40 Garnot : Un crime conjugal ( s. Anm 31 ). 41 Eine ausführliche Darstellung mit Einzelnachweisen in Claudia Ulbrich : Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie , in : Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit , hg. v. Otto Ulbricht , Köln / Weimar / Wien , 1995 , 281–311. 42 Grundsätzlich Edward P. Thompson : Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert , in : Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts , hg. von Edward P. Thompson , Frankfurt / M. 1980 , S. 66–129 , hier S. 66 ff. Aufschlussreich für die Einschätzung der Notdelinquenz Sabine Kienitz : Unterwegs – Frauen zwischen Not und Normen. Lebensweise und Mentalität vagierender Frauen um 1800 in Württemberg , Tübingen 1989 , S. 111 f. Dass die soziale Akzeptanz auch mit männlichen Ehrvorstellungen zusammenhängen könnte , hat Yves Castan : Honnêteté et relations sociales en Languedoc 1715–1780 , Paris 1974 , S. 477 für das Languedoc herausgearbeitet. Hier war es unehrenhaft , eine Frau wegen Lebensmitteldiebstahls anzuzeigen.
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Bei genauerem Hinsehen ist eine weitere Differenzierung möglich , die eine verschiedene Interpretation scheinbar gleicher Handlungen nahelegt. Bei der Sammelwirtschaft ist zu unterscheiden zwischen jenen Tätigkeiten , durch die die herrschaftliche Sphäre verletzt wurde ( Holz- , Obst- , Gras- , Kräutersammeln ) und die bis zu einem gewissen Grade als „social crime“ interpretiert werden können , und denen , die gegen das Eigentum der Frauen und Männer im Dorf verstießen ( Gartendiebstahl , Zäuneverlegen ). Das Sammeln von Pflanzennahrung war seit jeher in erster Linie Frauenarbeit.43 Es stellte einen wesentlichen Beitrag zur Ernährung dar. Im Zuge der Einschränkung der Wald- und Weidennutzung wurde die Sammelwirtschaft zwar kriminalisiert , aber nicht abgeschafft. Dazu war ihre wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung viel zu hoch. Durch das Sammeln konnten Mädchen und Frauen über die unmittelbar notwendige Nahrungsbeschaffung hinaus die von ihnen erwartete Fähigkeit „des anhaltenden Eifers“ erwerben und nach außen hin ihren Fleiß demonstrieren.44 Wir haben es hier mit einer Aneignung von Weiblichkeit zu tun , die entsprechenden männlichen Sozialisationsmustern funktionaläquivalent ist , aber einem anderen Muster folgt. Die Arbeit musste zwar heimlich geschehen , war aber mit einem vorzeigbaren Ergebnis verbunden. Anders verhielt es sich mit dem Gartendiebstahl. Gartenarbeit war Frauenarbeit , Gartendiebstahl ein Delikt , das nicht nur frauenspezifisch war , sondern sich auch auf die Beziehung der Frauen untereinander bezog. Denn wer in Nachbars Garten erntete , brachte nicht nur den Nachbarn um seine Früchte , sondern auch und vor allem die Nachbarin um den Ertrag ihrer Arbeit. Gartendiebstahl war daher eine frauenspezifische Möglichkeit des Konfliktaustrags. Schließlich ist zu überlegen , inwieweit der Kleindiebstahl als Normenkonflikt einzuordnen ist. Die Hartnäckigkeit , mit der die entsprechenden Verbote übertreten wurden , deutet an , dass Frauen – bestimmter sozialer Schichten – sich weigerten , die im 18. Jahrhundert neu entstehenden Eigentums- und Grenzvorstellungen anzuerkennen. Wenn man den Ernst , mit dem die Eigentumsdebatte im 18. Jahrhundert geführt wur43 Michael Mitterauer : Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Geschlechterrollen in ländlichen Gesellschaften Mitteleuropas , in : Aufgaben , Rollen und Räume von Frau und Mann , hg. von Jochen Martin / Renate Zoepffel , Bd. 2 , Freiburg / München 1989 , S. 819–914 , hier S. 840 f. 44 So eine Anforderung von Johann Heinrich Campe , in : Ordnung , Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, hg. von Paul Münch , München 1984., S. 248 ff. Thorstein Veblen : Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen , München 1981 ( 1899 ), S. 22 spricht in diesem Zusammenhang treffender von „der langweiligen Emsigkeit der Frauen“. Vgl. dazu auch den Exkurs von Rudolf Schenda : Die Verfleißigung der Deutschen. Materialien zur Indoktrination eines Tugend-Bündels , in : Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung , hg. von Utz Jeggle / Gottfried Korff / Martin Scharfe / Bernd Jürgen Warneken , Hamburg 1986 , S. 88–108 , hier S. 92 ff. über den besonderen Fleiß der Frauen.
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de – bspw. der Streit um den Wald – bedenkt , ist es keineswegs marginal , die Kirschen in Nachbars Garten zu ernten. Damit komme ich zum Schluss. 6. D ie Reifizierung von Vorurteilen oder die Notwendigkeit eines anderen Blickes : Erkenntnismöglichkeiten Historischer Kriminalitätsforschung
Die Diskrepanz zwischen dem Verhalten von Frauen in den frühneuzeitlichen Aufständen und ihrer „Kriminalitätsbelastung“ macht deutlich , wie eng „kriminelles“ Verhalten mit bestimmten Wahrnehmungen und Vorstellungen , im konkreten Fall mit den kulturellen Konstrukten „Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ verbunden ist , die durch das „Medium Kriminalität“45 aufgedeckt werden können. Setzt man bei der Erforschung „weiblicher Kriminalität“ nicht an der Täterin bzw. am Delikt , sondern an der diesem zugrunde liegenden Handlungsmuster an , so wird es möglich , kulturelle Leitbilder herauszufiltern und Einblicke in die sich verändernde Rolle der Frauen in der Gesellschaft zu gewinnen , ohne deren Kenntnis die Interpretation der statistischen Befunde auf der von den Vertretern der Sozialwissenschaft so heftig inkriminierten Ebene des Intuitiv-Hermeneutischen bleibt. Darüber hinaus ist das Aufzeigen der statistischen Minderheitsposition geeignet , die Vorstellung der gesellschaftlichen Marginalität des weiblichen Geschlechtes zu verstärken , ohne dass dies ausreichend begründet werden müsste. Gleichzeitig entsteht durch das Hinzufügen von Frauen der Eindruck einer umfassenderen und angemesseneren Darstellung der Vergangenheit.46 Da als Konsequenz der Konstruktionen von Kriminalität und Weiblichkeit unter den wenigen nachweislich „kriminellen“ Frauen hauptsächlich Kinds- und Giftmörder innen zu finden sind , finden jene Vorstellungen von der „Natur des Weibes“, die den Konstruktionen zugrunde liegen , ihre – unausweichliche – Bestätigung in der Empirie. So gesehen ist unreflektiertes Sichtbarmachen „weiblicher Kriminalität“ keineswegs eine harmlose Ergänzung des Forschungsstandes , vielmehr birgt es die Gefahr , tradierte Vorstellungen von Weiblichkeit festzuschreiben und damit zu einer erneuten Verdrängung von Frauen beizutragen.
45 Regina Schulte : Das Dorf im Verhör. Brandstifter , Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts , Hamburg 1989 , S. 21. 46 Auf das Problem , dass Frauengeschichte keine harmlose Ergänzung zur traditionellen Historiographie ist , hat Gianna Pomata : Partikulargeschichte und Universalgeschichte – Bemerkungen zu einigen Handbüchern der Frauengeschichte , in : L’Homme Z.f.G. 2 ( 1991 ), S. 5–44 , hier S. 44 nachdrücklich aufmerksam gemacht und auf die Gefahr hingewiesen , dass dadurch ein neuer Anspruch auf Universalität , der „Anspruch eine noch ‚universellere‘ und ‚umfassendere‘ Schilderung der Erfahrungen der Vergangenheit zu besitzen , angemeldet werden kann“.
Die Heggbacher Chronik. Quellenkritisches zum Thema Frauen und Bauernkrieg Der dritten Auflages eines Buches über Die Revolution von 1525 hat Peter Blickle ein ereignisgeschichtliches Szenario vorangestellt.1 Besonders anschaulich wird sein Bericht dort , wo er auf Geschehnisse im Kloster Heggbach zu sprechen kommt.2 Die Bauern wollten , so zitiert er die Klosterchronik , mit den Nonnen „ain Danz hon“. Ihre Weiber , so heißt es weiter , „jagten den Nonnen vermutlich größeren Schrecken ein. ‚Sie müessent nuß und die Kein melken und bös Jubben tragen‘ , meinten die Bäuerinnen , sie selbst wollten im Kloster leben , ‚und saubere Belzlin tragen‘. ‚Man würd uns in den gemainen Hufen triben und daß Heß ob dem Haupt zuesamentbinden‘ , fürchteten die Nonnen , ‚und mir müessent auch Kint hon und uns Wehe geschehen lon‘. Doch dann lachten sie selbst wiederschallend , als sie unter ihre Betten krochen und feststellen mußten , daß darunter noch keine Bauern lagen“.3
1 Peter Blicke : Die Revolution von 1525 , 3. erw. Aufl., München 1993 , S. 1–22. 2 Heggbach war ein reichsunmittelbares Frauenkloster , das 1231 in den Zisterzienserorden aufgenommen und der Oberaufsicht des Abtes von Salem unterstellt worden war. Heggbach hatte u. a. Besitz und Herrschaftsrechte in Baltringen , Baustetten , Mietingen und Sulmingen , Hans-Martin Maurer : Artikel „Heggbach“, in : Baden-Württemberg. Handbuch der Historischen Stätten , Bd. 6 , Stuttgart 1965 , S. 253 ; Otto Beck : Die Reichsabtei Heggbach. Kloster – Konvent – Ordensleben. Ein Beitrag zur Geschichte der Zisterzienserinnen , Sigmaringen 1980 ; 750 Jahre Kloster Heggbach. 1231–1981 , hg. von Ludwig Haas , Sigmaringen 1981. 3 Blicke : Revolution ( s. Anm. 1 ), S. 4 f. unter Bezug auf den Bericht einer Heggbacher Nonne nach : Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs , hg. von Günther Franz , Darmstadt 1963 , S. 140–143 , Nr. 30. Um des besseren Verständnisses willen sei der Text im Wortlaut wiedergegeben : „Da mir uf Oculi [ 19. März ] wider anfiengent die Sacrament bruchen da was der bös Find aber strenger uf dan zuvor , und uf Guetentag nach Letare [ 29. März ] und uf Zinstag [ 28. März ] kament unsere Puren etlich her und fürtent das Koren hinweg und sagent , es wer iren , und mir soltent es inen auch baß gunnen , dan den Fremden , und schwurent so grülich Übel darzue , und kamend die bösen Wiber und händletent min Frauen und die Amptfrauen , si hetent den Punt über ir Mann angerieft , und wen man ire Mann todte , so weltent si herin und inen die Augen uskrezen , und sie müessent nuß und die Kien melken und bös Jubben tragen , und si herin und saubere Belzlin tragen , und man würd uns in den gemainen Hufen triben und daß Heß ob dem Haupt zuesament binden , und mir müesset auch Kint hon und uns Wehe geschehen lon , wie inen , vor hetten wir es bei den zwaien Bichter und bi dem Hofmaister gehept. Und wen sie zu Nacht für das Closter warent gezogen , so schossen sie gen dem Closter und schrient : ‚Ir Nunnen , gend eure Bütten herus !‘ Si schrien dick , daß mir es an unsern Bettstatten hertend , so stund mein Frau selig , Waldburg Büterlein , uf , die was Priorin , und nam ain Liecht und zund under die Bettstatten allen und luget , ob kain Bur darunder lege , so lachetent mir dann von Herzen“, Ebda., S. 141 f. ( Datierungen in eckigen Klammern bei Franz ).
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Die gleiche Quellenstelle hat Marion Kobelt-Groch herausgesucht , um das Engagement von Frauen im Bauernkrieg zu zeigen : „Offensichtlich allein“, so vermutet sie , „getrennt von ihren Männern , ergriffen hier Frauen Partei und versuchten , die Nonnen auf ihre Art einzuschüchtern. Es sind nur ein paar warnende Gesten , die wenig beängstigend wirken und eher dem Klischee vom typischen ‚Weibergezänk‘ zu entsprechen scheinen. Aber das ist es nicht allein ; die hier als Gemeinschaft formierten Frauen verraten mehr über ihre Anteilnahme am aktuellen Geschehen , ihre Lebenssituation und ihr Selbstverständnis als auf den ersten Blick vielleicht deutlich wird. Sie besitzen Informationen , wissen um drohende Gefahren und sind durchaus bereit , gewaltsam vorzugehen oder besser , im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich zu werden , allerdings nicht sofort , sondern erst dann , wenn ihren Männern etwas passieren sollte[ … ]. Der entschlossenen Loyalitätsbekundung folgt ein Angriff auf anderer Ebene : Die eigenen Lebensumstände werden mit denen der klösterlichen Kontrahentinnen verglichen und als äußerst miserabel empfunden. Mit wenigen Strichen entsteht eine flüchtige , aber dennoch glaubwürdige Skizze beschwerlichen Frauenlebens , geprägt von Arbeit , materieller Not und den Gefahren , die Schwangerschaften und Geburten in sich bargen. [ … ] Auch wenn sie im Moment außer einer gewissen Einschüchterung nichts bewirkten und sich ihre Argumentation eher in Schwarzmalerei erging , eines wird deutlich : Diese Frauen waren sich darüber bewußt , daß etwas Lebensveränderndes im Schwange war , was sie unmittelbar betraf.“4
Die verschiedenen Lesarten der gleichen Textstelle , die die weibliche Seite der Empörung des gemeinen Mannes ins Licht zu rücken scheint , machen neugierig auf den Text : Dies umso mehr , als Franz Ludwig Baumann , der ihn zuerst ediert hat , die Autorenschaft einer unbekannten Nonne des Klosters Heggbach bei Biberach zuschrieb5 und Günther Franz , der einen Ausschnitt neu herausgab , unumwunden einräumte , dass die Nonne von Heggbach „am besten“ über die Anfänge des Baltringer Haufens berichte.6 Und in der Tat findet man kaum eine Darstellung des Bauernkriegs in Oberschwaben , die nicht auf die Heggbacher Chronik zurückgreift.7
4 Marion Kobelt-Groch : Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen , Frankfurt / M. / New York 1993 , Kap. 2 : Von „armen frowen“ und „bösen wibern“. Frauen im Bauernkrieg zwischen Anpassung und Auflehnung , 34 f., zuerst erschienen in : Archiv für Reformationsgeschichte 79 ( 1988 ), S. 103–137. 5 Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Oberschwaben , hg. von Franz Ludwig Baumann , Stuttgart 1876 , S. 277–295. 6 Günther Franz : Der deutsche Bauernkrieg , Darmstadt 121984 , S. 117 , Anm. 7. 7 Dies gilt auch für meinen eigenen Überblick : Claudia Ulbrich : Oberschwaben und Württemberg , in : Der deutsche Bauernkrieg , hg. von Horst Buszello / Peter Blickle / Rudolf Endres , Paderborn 1984 , S. 97–133.
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Die Frage nach dem Text erwies sich als schwieriger als erwartet.8 Bereits erste Vorrecherchen zur Überlieferungsgeschichte machten deutlich , dass sich hier ein Forschungsprojekt mittlerer Reichweite auftut , das für die von Peter Blickle eingeforderte Diskussion um die „gemeine Frau“ von besonderer Bedeutung sein dürfte.9 Doch auch für eine bloße Ereignisgeschichte ist die Frage nach dem Text nicht ohne Belang , teilt doch die Heggbacher Chronik mit einem großen Teil der Bauernkriegsüberlieferung das Schicksal , dass „die Quellen durchgängig herrschaftlicher Provenienz sind und überwiegend aus den Jahren nach 1525 datieren“.10 Damit enden auch schon die die Heggbacher Chronik betreffenden Gewissheiten , so dass ich mich im Rahmen dieser Arbeit darauf beschränken muss , erste Befunde vorzutragen und Fragen zu formulieren. Als Heggbacher Chronik bezeichnet Baumann einen Ausschnitt aus dem Bericht einer Nonne des Klosters Heggbach , der 1541 im Auftrag der Äbtissin Veronika Kröhl verfasst worden war.11 Für die Authentizität der Erzählung spricht , dass sowohl die Schreiberin als auch die Auftraggeberin während des Bauernkriegs im Kloster lebten.12 Eine Reihe von Angaben lassen sich zudem durch andere Quellen bestätigen.13 Die Chronik beginnt nach einem einleitenden Satz zur lutherischen „kezerey“ im Dezember 1524 und endet mit der Unterwerfung und neuerlichen Vereidigung der 8 Insgesamt weist die Geschichte der Frauenklöster noch erhebliche Forschungsdesiderate auf. Für die Zisterzienserinnen s. Maren Kuhn-Rehfus : Zisterzienserinnen in Deutschland , in : Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit , hg. von Kaspar Elm / Peter Joerissen / Hermann Josef Roth , Bonn 1980 , S. 125–147 ; Brigitte Degler-Spengler : Zisterzienserorden und Frauenklöster. Anmerkungen zur Forschungsproblematik , in : Ebda. : Ergänzungsband , Köln 1982 , S. 213–220 ; Andreas Wilts : Beginen im Bodenseeraum , Sigmaringen 1994 , bes. S. 35 ff. ; Franz J. Felten : Verbandsbildung von Frauenklöstern. La Paraclet , Prémy , Fontevraud mit einem Ausblick auf Cluny , Sempringham und Tart , in : Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit. Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231 , 22.–23. Februar 1996 , hg. von Hagen Keller / Franz Neiske , München 1997 , S. 277–341 , hier S. 327 ff. 9 Blickle : Revolution ( s. Anm. 1 ), S. 304. Vorher bedürfte es jedoch einer ähnlich gründlichen begriffsgeschichtlichen Diskussion , wie sie seinerzeit über den „gemeinen Mann“ geführt wurde. Eingeleitet wurde sie bereits vor vielen Jahren von Lyndal Roper , in einem , wie mir scheint , wenig beachteten Aufsatz : Lyndal Roper : The „Common Man“, the „Common Good“, „Common Women“: Gender and Language in the German Reformation Commune , in : Social History 12 ( 1987 ), S. 1–22. 10 Blickle : Revolution ( s. Anm. 1 ), S. 192. 11 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 294 , ebenso : Beck : Heggbach ( s. Anm. 2 ), S. 56. Quellenbelege dafür , dass es sich um eine Auftragsarbeit der Äbtissin handelt , werden nicht angeführt. 12 Veronika Kröhl , die aus einem Ulmer Patriziergeschlecht stammt , ist 1496 ins Kloster eingetreten. Sie war von 1539–1551 Äbtissin , Moritz Johner : Heggbacher Klosterfrauen unter der Äbtissin Agnes Sauter ( 1480–1509 ), in : Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 31 ( 1922–24 ), S. 292–295. Für die Schreiberin kann dies nur aus textimmanenten Gründen erschlossen werden. Es handelt sich offensichtlich nicht um die „offizielle“ Schreiberin des Klosters. Zu deren Aufgaben s. Beck : Heggbach ( s. Anm. 2 ), S. 369. 13 So etwa die Namen der Klosterfrauen , die Angaben über die Verwaltung des Klosters und eine Reihe von anderen Daten. Für den Aufstand gibt es als Parallelüberlieferung bestenfalls Johannes Kesslers Sabbata , hg. von Emil Egli / Rudolf Schoch , St. Gallen 1902 , S. 173 ff. Dieser setzt aber andere Schwerpunkte.
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Bauern im Oktober 1525 , an die sich ein Dank für die Errettung des Klosters anschließt.14 Die Nonne schildert detailliert die Gefahren , denen das Kloster und die darin lebenden Menschen ausgeliefert waren , und gibt einen Einblick in die vielfaltigen Maßnahmen zum Schutz der Klosterfrauen und zur Sicherung des Klostergutes. Ausführlich berichtet sie über Diskussionen der Äbtissin und des Hofmeisters mit den Aufständischen. Ihre Einstellung gegenüber den Bauern ist ambivalent : Einerseits betont sie , dass von den Bauern eine ungeheure Bedrohung ausging : Vergewaltigung der Nonnen , Ermordung des Beichtvaters , Plünderung und Zerstörung des Klosters. Andererseits amüsiert sie sich über Huldrich Schmid und seine Vorstellungen vom Evangelium : Als er lehrte , dass sie , die Klosterfrauen , selbst arbeiten sollten „und eß solt es iederman thuen , und auch wie sie Moyses erlitten hett vor dem Pharao , und wie man umb ain oberkait nüzs solt geben“, da lachten sie heimlich darüber.15 Was die Bauern forderten – „da wolten die buren doch maister und gewaltig sin , und solten mir also lang arbeiten und inen underthenig sin , also lang sie underthenig werent gesin“16 – , erscheint gerade wegen der Reziprozität in der Darstellung der Nonne als verkehrte Welt.17 Entschieden wehrten sich die Klosterfrauen dagegen , in die Bruderschaft der Aufständischen , die angeblich nicht einmal die Texte , mit denen sie sich verschrieben hatten , verstanden , aufgenommen zu werden.18 Unterstützt wurden die Klosterfrauen von Biberacher Bürgern , von denen einige ihre Töchter im Kloster hatten. Es gelang den Nonnen , die Biberacher zu ihren Interessenvertretern zu machen. Sie gewährten dem Kloster Rat und Schutz , stellten Räume für die Auslagerung des Klostergutes zur Verfügung und halfen bei der Flucht. Vieles hatten die Nonnen auch den Familiaren , insbesondere dem Kaplan , Beichtvater und Hofmeister des Klosters zu verdanken , so dass die Schreiberin abschließend Gott dafür danken konnte , dass die Klosterfrauen die ungeheuer großen Gefahren an Leib , Gut und Leben heil überstanden hatten.
14 Der Vertrag vom 27. 10. 1525 ist abgedruckt in : Josef Anton Giefel : Regesta Heggbacensia , in : Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 3 ( 1880 ), S. 201–223 , hier S. 221. 15 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 282. Zur Einordnung der Position von Huldrich Schmid in Gerechtigkeitsvorstellungen : Peter Blickle : Freiheit und Gerechtigkeit. Ethische Fragen der Deutschen an die Theologen der Reformation , in : Lutherjahrbuch 62 ( 1995 ), S. 83–103 , hier S. 102 f. 16 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 282. In solchen Äußerungen wird die soziale Distanz der Schreiberin deutlich. Der Heggbacher Konvent entstammte auch im 16. Jahrhundert noch mehrheitlich dem Patriziat , Maren Kuhn-Rehfus : Die soziale Zusammensetzung der Konvente in den oberschwäbischen Frauenzisterzen , in : Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 41 ( 1982 ), S. 7–31 , hier S. 20. 17 Jedenfalls könnte man diese ebenso wie die einleitend in Anm. 3 erwähnte Textstelle – „mir müesset auch Kint hon und uns Wehe geschehen lon , wie inen“ – so deuten. Überhaupt stellt sich die Frage , ob und von wem hier Elemente aus der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts eingefügt wurden. 18 Die Aufständischen hatten als Zeichen der Bruderschaft ein rotes Kreuz an die Pforte gemalt. Zur Bildung von Zwangskollektiven und ihrer Bedeutung für die Ausbreitung der Bauernbewegung : Ulbrich : Oberschwaben ( s. Anm. 7 ), bes. S. 123.
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Die Heggbacher Chronik ist nicht im Original überliefert , doch vermutet Baumann , dass dieses 1740 noch erhalten und Grundlage für eine 1740 geschriebene Klosterchronik war. Diese Schrift hat jedoch eine verworrene Überlieferungsgeschichte. Sie existiert offensichtlich nur in einer Kopie aus dem 19. Jahrhundert.19 Darf man Ferdinand A. Mayer glauben , so hat der Chronist sie 1846 beendet „mit der Bitte , daß ein anderer die noch kommenden und werdenden Zustände dieses Klosters auf diesen Blättern allhier weiter fortsetzen möchte.“20 Mayer kam dieser Bitte nach , nachdem ihm eine Heggbacherin die Chronik übergeben hatte.21 Er schrieb eine phantasievolle Klostergeschichte , in die er die offensichtlich reichlich vorhandene mündliche Überlieferung einfließen ließ.22 Im Bauernkriegskapitel stützte er sich nicht auf diese Quelle , sondern auf die von Baumann edierte Heggbacher Chronik , fügte ihr aber einiges hinzu. So heißt es bei Baumann zum Sommer 1525 : „Es zoch das unnüz volck noch umb , und uff vigilia sancti Johannis Baptistae [ 23. Juni ] nament sie uns das vich uff dem velt und tribent es hinweg“.23 Mayers Version lautete dagegen : „‘Uff vigilia sancti Johannis Baptistae‘ berichtet die Chronistin weiter , ‚zog noch viel unnütz Volk umher‘. Dazu bemerkt sie ganz treuherzig : die ärgsten unter ihnen waren jederzeit die Weiber. Dann fährt sie fort : ‚sie nament uns das vich‘ “.24 Hatte der pensionierte Volksschulrektor Mayer doch noch eine weitere Version der Quelle , oder nutzte er die Gelegenheit , seine Meinung über Frauen historisch zu legitimieren ? Wenn ja , sollte er der einzige in der Reihe der Kopisten , Editoren und Neubearbeiter der Chronik sein , der sich solche Freiheiten erlaubt hatte ? Fest steht , dass auch der Baumannsche Text Fragen aufwirft : In seinem Nachwort zur Edition der Heggbacher Chronik weist Baumann darauf hin , dass „die erzählungen der nonne nur in einer dem originale beinahe gleichzeitigen copie [ erhalten seien ], welche leider ihre vorlage einige mal nicht recht las und deshalb an mehreren stellen völlig sinnloses schreibt“.25 Da Baumann darauf verzichtet zu haben scheint , die 19 Es handelt sich dabei um die von Pfarrer Benedikt Mittelmann aus Baltringen verfasste Kurzgefaßte Chronik des Reichsstiftes und Gotteshauses Heggbach in Schwaben. Zusammengestellt aus größtenteils urkundlichen Quellen von 1134–1846 ( Württembergische Landesbibliothek Stuttgart , Abt. F ). Auszüge ediert : Josef Anton Giefel : Eine Heggbacher Chronik , in : Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 2 ( 1879 ), S. 220–223 und S. 258–265. 20 Ferdinand A. Mayer : Geschichte des ehemaligen Reichsstifts und Gotteshauses Heggbach ( Schwab. ), Ulm 1920 , S. 1. 21 Mayer : Geschichte ( s. Anm. 20 ), S. 1. 22 In diesem Zusammenhang sei an die gefälschte Laichinger Chronik erinnert : Hans Medick : Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900 , Göttingen 21997 , S. 561–579 : „Die sogenannte ‚Laichinger Hungerchronik‘. Ein Beispiel für die ‚Fiktion des Faktischen‘ und das Problem der Überprüfbarkeit in der Darstellung von Geschichte“. 23 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 292. 24 Mayer : Geschichte ( s. Anm. 20 ), S. 39. 25 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 295.
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entsprechenden Passagen der Vorlage gemäß zu transkribieren , müsste der von Baumann und später von Franz edierte Text zunächst einmal mit dieser ersten Kopie aus dem 16. Jahrhundert verglichen werden. Diese ist jedoch nicht im Original erhalten , vielmehr existiert nur eine Abschrift , die Johann Ernst von Pflummern hatte anfertigen lassen , um sie in sein 1619 begonnenes Sammelwerk , die Annales biberacenses , zu integrieren.26 Anfang des 19. Jahrhunderts hat der Biberacher Stadtschultheiß Georg Ludwig Stecher eine wortgetreue Abschrift der Annales biberacenses gefertigt und durch ein Register erschlossen.27 Diese beiden Textvorlagen aus dem 17. und 19. Jahrhundert sind die Grundlage der Edition von Baumann. Nach seiner Auffassung bestehen die Aufzeichnungen der Heggbacher Nonne aus drei Teilen , „die in keinem engen Zusammenhange mit einander stehen“. Es handelt sich dabei um eine „Spuk- und Hexengeschichte“ aus dem Jahre 1524 , um die Geschichte Heggbachs im Bauernkrieg und um die Geschichte des Klosters im Schmalkaldischen Krieg ( 1546–1552 ).28 Den Wert der Quelle schätzt Baumann eher gering ein : Der Stil der Nonne sei „schauderhaft , oft sinnloses Geschwätz , besonders in der Gespenstergeschichte , die deshalb gar nicht verbotenus veröffentlicht werden“ könne.29 Die „Spukgeschichte“, die „in höchst verworrener Darstellung gegeben“ sei , wird daher nur auszugsweise ediert. Soweit es aus den Quellenausschnitten erkennbar ist , wird hier eine Geschichte erzählt , die sich in den Teufelsglauben des 16. Jahrhunderts einpasst.30 Sie handelt von der Novizin Magdalena Galsterin aus Sulmingen , die vom 26 Der genaue Titel lautet bei Baumann Annales biberacenses oder warhafte , kurze beschreibung schöner , gedenkwirdigen sachen , so sich teils vor , merteils aber nach erbawung des hl. romischen reichs statt Biberach bei und in deroselben , fürnemblich aber von dieser zeit an , seythero die catholische , alte religion daselbs erstens gare abgethon , hernach aber widerumb neben andern glaubensbekanntnussen introducirt und behart worden , verloffen und zuegetragen , Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 311. Die Annales biberacenses liegen als Handschrift im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. 27 Georg Ludwig Stecher ( 1760–1826 ) war der letzte evangelische Bürgermeister der Reichsstadt Biberach ; Ausgewählte Quellen zur Biberacher Geschichte , 1491–1991 , hg. von Kurt Diemer , Biberach 1991 , S. 91. Die Stechersche Handschrift befindet sich in der Landesbibliothek Stuttgart ( F 682 ). 28 Baumann hat die einzelnen Teile getrennt veröffentlicht : die Bauernkriegschronik in den Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 277–295 , die beiden anderen in den : Mittheilungen aus den Annales biberacenses des Obervogts Heinrich Ernst von Pflummern , in : Freiburger Diözesanarchiv 9 ( 1875 ), S. 239–264 , 246–259 und S. 260–264. 29 Baumann : Mittheilungen ( s. Anm. 28 ), S. 242. Warum Baumann hier Heinrich Ernst von Pflummern und nicht Johann Ernst nennt , lässt sich ohne archivalische Nachrecherchen nicht nachvollziehen , zumal er selbst 1876 die Annales biberacenses Johann Ernst von Pflummern zuschreibt ( Quellen , S. 311 ). Wie Otto Borst betont , waren die Annales aus den „Aufschrieben“ von Heinrich von Pflummern ( 1475– 1561 ), Joachim von Pflummern ( 1480–1554 ) und Johann Ernst von Pflummern ( 1588–1635 ) zusammengestellt , Otto Borst : Biberach. Geist und Kunst einer schwäbischen Stadt , in : Geschichte der Stadt Biberach , hg. von Dieter Stievermann / Kurt Diemer , Stuttgart 1991 , S. 65–169 , hier S. 88. 30 Zu Teufelsglauben und Besessenheit im 16. Jahrhundert : Stuart Clark : Thinking with demons : the idea of witchcraft in early modern Europe , Oxford 1997 ; Lyndal Roper : Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit , Frankfurt / M. 1995 , bes. S. 173 ff. ; Helga Robinson-Hammer-
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Teufel besessen war. Der „böß find“ machte sich offensichtlich besonders bei Beichte und Kommunion bemerkbar , verfolgte die Schwestern mit Klopfgeräuschen und Gestank.31 Magdalena wurde verdächtigt , „ain kint in der siten und nit im leib“ zu tragen.32 Sie musste am 1. Dezember 1524 – wenige Wochen vor der Geburt – das Kloster verlassen.33 Seit dieser Zeit kehrte Ruhe im Kloster ein. Eine Verbindung zur Bauernkriegsgeschichte , die an Weihnachten 1524 einsetzt , wird dadurch hergestellt , dass die Schreiberin ausdrücklich auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Protagonisten hinweist : Die beschuldigte Novizin war eine Schwester von Hans Galster , der als Fähnrich im Baltringer Haufen zu den Aufständischen zählte.34 Der Heggbacher Chronik zufolge hatte Magdalena ihn und die Bauern 1525 aufgehetzt , den Beichtpriester des Klosters zu verfolgen.35 Später soll er versucht haben , sich mit einer List Eintritt ins Kloster zu verschaffen.36 Auch der „böß find“ spielt in der Bauernkriegsgeschichte wieder eine Rolle. Erwähnt wird er im Zusammenhang der Textstelle , in der auch die „bösen Weiber“ auftauchen : „Da mir uf Oculi [ 19. März ] wider anfiengent die Sacrament bruchen da was der bös Find aber strenger uf dan zuvor“.37 Bei sorgfältiger Lektüre fällt auf , dass die ganze Passage von dem mehrheitlich chronologischen Ordnungsprinzip der Erzählung abweicht : Die Nonne springt hier vom stein : Correspondence with Lucifer 1521 , in : Krisenbewußtsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit – Crisis in Early Modern Europe ( Festschrift für Hans-Christoph Rublack ), hg. von Monika Hagenmaier / Sabine Holtz , Frankfurt / M. 1992 , S. 257–275 , Hans Christian Eric Midelfort : The Devil and the German People : Reflections on the Popularity of Demon Possession in sixteenth-century Germany , in : Religion and Culture in the Renaissance and Reformation , hg. von Steven Ozment , Kirksville / Mo 1989 , S. 99–119. 31 Baumann : Mittheilungen ( s. Anm. 28 ), S. 260. 32 Baumann : Mittheilungen ( s. Anm. 28 ), S. 261. 33 Baumann : Mittheilungen ( s. Anm. 28 ), S. 264. 34 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 281. 35 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 282. Wie Kuhn-Rehfus : Zisterzienserinnen ( s. Anm. 8 ), S. 114 betont , führte der Beichtpriester oder Kaplan in Zisterzienserinnenklöstern oft im Auftrag des Vaterabts die Geschäfte. Für Heggbach im frühen 17. Jahrhunden gibt es Hinweise , dass der Beichtvater zusammen mit dem Hofmeister das Holz und den Wert der Lehengüter zu schätzen hatte , Beck : Heggbach ( s. Anm. 2 ), S. 399. Der Chronik zufolge sollen die Aufständischen den Beichtprediger vor allem wegen seiner Beziehungen zu den Nonnen kritisiert haben ( s. z. B. o. Anm. 3 ). 36 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 285 : Er und Enderis Wall warnten die Klosterfrauen vor den Bauern. Sie erboten sich , falls sie ins Kloster dürften , „so wellent sie dasselb ort erhalten vor dem gemainen volck“, ein Anerbieten , das der Hofmeister angesichts der Wagen und Leitern als falsch entlarvte. Hans Hermann Garlepp , der sich besonders intensiv mit dem Baltringer Haufen , nicht aber mit der Heggbacher Chronik , die ihm als Quellengrundlage diente , befasst hat , liest diese Stelle jedoch so , als manifestiere sich hierin Hans Galsters Abneigung gegen Gewaltanwendung. Hans-Hermann Garlepp : Der Bauernkrieg von 1525 um Biberach a. d. Riss. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Betrachtung des aufständischen Bauern , Frankfurt / M. 1987 , S. 46. 37 Vgl. dazu das Zitat in Anm. 3.
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19. auf den 28./29. März , greift danach zeitlich wieder zurück , um schließlich erneut und ohne Bezug auf die erste Stelle über diese beiden für das Kloster schwierigen Tage zu berichten. In der chronologischen Reihenfolge wird das Geschehen einsichtiger : Zwischen dem 19. und 28. März war die Situation für das Kloster offensichtlich so kritisch geworden , dass die Nonnen Archivalien und einen großen Teil des Mobiliars , einschließlich der Lebensmittelvorräte , auf dreißig Wagen nach Biberach bringen ließen. Sie ließen für sich und die Soldaten Getreide zurück , das am 28. März von den Bauern genommen wurde.38 Bei dieser Plünderung traten dann auch die Frauen – die „bösen wiber“ – auf , was insofern wahrscheinlich ist , als es der bei Unruhen üblichen geschlechterspezifischen Aufgabenverteilung entsprach.39 Dass die Bauersfrauen geplündert hätten , wird in der Heggbacher Chronik jedoch nicht erwähnt. Wichtiger scheint die Drohung gegenüber den Klosterfrauen , sie müssten die Rollen mit den „bösen wibern“ tauschen. Deutlicher kann man wohl kaum darstellen , dass die Welt durch Bauernkrieg und Reformation aus den Fugen geraten war. Vorausgesetzt , der „bös find“ war nicht nur der politische Gegner , sondern auch der Teufel , so ist dies ein Hinweis darauf , dass die „Spukgeschichte“ und die Bauernkriegserzählung doch enger zusammengehören , als Baumann vermutet. Noch deutlicher wird dies durch die Verknüpfung über Hans und Magdalena Galster. Sollten nicht beide Geschichten geschrieben sein , um ganz bewusst einen Zusammenhang zwischen Teufel , Reformation und Bauernkrieg herauszuarbeiten ? Wenn dem so ist , gibt es keinen Grund , mit Baumann die Vermutung zu teilen , der „gesichtskreis der nonne“, die „über alles entferntere eine wunderbare unwissenheit“ verrate , sei beschränkt. Es stellt sich jedoch die Frage , warum Pflummern diese Quelle , wenn sie denn so banal war , in seine Annalen aufnahm und warum Baumann sie trotz seiner harschen Kritik des Druckes für würdig befand. Es liegt nahe , die Antwort in religionspolitischen Interessen zu suchen. Die Biberacher Reformation galt im späten 19. Jahrhundert zumindest in den regionalen Debatten als Metapher für das deutsche Problem : „Das nationalistische und ideologisch immer mehr verhärtete 19. Jahrhundert mußte“, so betont Otto Borst , „in einer derart engagierten Geschichtsschreibung kostbarste Munitionszufuhr
38 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 284. 39 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 283. Zur Beteiligung von Frauen an Unruhen zuletzt : Claudia Ulbrich : Frauen im Aufstand. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Partizipation in frühneuzeitlichen Bauernbewegungen , in : Schlaglichter Preußen – Westeuropa. Festschrift für Ilja Mieck zum 65. Geburtstag , hg. von Ursula Fuhrich-Grubert / Angelus H. Johansen , Berlin 1997 , S. 335–348. Zur besonderen Logik und Dynamik von Plünderungen : Carola Lipp : Frauenspezifische Partizipation an Hungerunruhen des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zu strukturellen Differenzen im Protestverhalten , in : Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel , Versorgungspolitik und Protest 1770–1990 , hg. von Manfred Gailus / Heinrich Volkmann , Opladen 1994 , S. 200–213 , S. 206.
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erkennen“.40 Da sich auch die Heggbacher Chronik hervorragend für eine pro-katholische Propaganda eignete , spielte es keine Rolle , dass es sich nur um den Text einer Frau handelte. Baumann sorgte , wie gezeigt , in seinen Kommentaren dafür , dass sie abqualifiziert wurde und dass sich lange niemand mehr für die unbekannte Nonne interessierte. Sie wurde trotz des relativ großen Bekanntheitsgrades der Chronik auch bei der in den letzten Jahren intensivierten Suche nach Schriftstellerinnen der Reformationszeit nicht entdeckt.41 Ein Blick in Baumanns Quellen ist nicht weniger interessant. Die Annales biberacenses des Johann Ernst von Pflummern gelten als wichtiges Dokument katholischer Stadtgeschichtsschreibung. Wie Otto Borst betont , waren sie aus den „Aufschrieben“ von Heinrich von Pflummern ( 1475–1561 ), von Joachim von Pflummern ( 1480–1554 ) und von Johann Ernst von Pflummern ( 1588–1635 ) zusammengestellt.42 Die erste – dem Original fast gleichzeitige – Abschrift des Textes müsste in der Zeit entstanden sein , in der der altgläubige Geistliche Heinrich von Pflummern eine kontroverstheologisch ausgerichtete Chronik der Biberacher Reformation verfasst hat.43 Heinrich von Pflummern wird als der bedeutendste Vertreter Biberachs in der Epoche der Reformation angesehen. Seine Chronik , „ein imposantes Zeitgemälde aus altgläubiger Perspektive“,44 stellt eine Abrechnung mit der reformatorischen Theologie dar , deren Verwerflichkeit Satz für Satz nachgewiesen wird.45 Da passt der Bericht der Nonne , der die Leiden und den Sieg der altgläubigen Klosterfrauen schildert , gut ins Bild. Hier werden die negativen Folgen der Reformation – Aufstand , Gewalt , Mord – vor Augen geführt.46 Gleichzeitig erscheint das Patriziat der einst so frommen Stadt Biberach in einem positiven Licht. Die großen Familien , die ihre Töchter im Kloster hatten , engagierten sich als Verteidigerinnen des rechten Glaubens. Das änderte sich 40 Borst : Biberach ( s. Anm. 29 ), S. 89. Borst erwähnt noch eine Reihe weiterer Schriften zur Geschichte Biberachs , die im gleichen Jahrzehnt wie Baumanns Quellen erschienen sind. Auch eine weitere Heggbacher Klostergeschichte wurde in dieser Zeit geschrieben : Johann Georg Mühling : Geschichte des Klosters der Cistercienserinnen zu Heggbach. Zusammengestellt aus urkundlichen Quellen vom Jahr 1134 bis 23. April 1875. Diese Chronik ist erwähnt bei Beck : Heggbach ( s. Anm. 2 ), S. 10. 41 Albrecht Classen : Frauen in der deutschen Reformation : Neufunde von Texten und Autorinnen sowie deren Neuwertung , in : Die Frau in der Renaissance , hg. von Paul Gerhard Schmidt , Wiesbaden 1994 , S. 179–201. Classen hat sich auf die Frühphase der Reformation konzentriert , vermutet aber , dass „noch eine Reihe anderer Schreiberinnen und Dichterinnen aus den 30er und 40er Jahren der Entdeckung“ harren , Ebda., S. 200. 42 Borst : Biberach ( s. Anm. 29 ), S. 88. 43 Bernhard Rüth : Reformation in Biberach ( 1520–1555 ), in : Geschichte , hg. von Diemer Stievermann ( s. Anm. 29 ), S. 255–288 , S. 255. 44 Rüth : Reformation ( s. Anm. 43 ), s. 255. Sie wurde 1544 / 45 unter dem Titel Etwas von der Lutherei verfasst. 45 Rüth : Reformation ( s. Anm. 43 ), S. 257 f. 46 Die Verknüpfung von Bauernkrieg und Reformation erfolgt durch den einleitenden Satz der Chronik , wonach Luther , der „schwarze Augustinermönch“, für die Unruhe verantwortlich gemacht wird.
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erst , als sich 1527 die Reformation in Biberach durchzusetzen begann. Christoph Gräter , der 1525 die Klosterfrauen verteidigte , gehörte zu denen , die sich nun zugunsten der Reformation einsetzten. Doch dies liegt schon außerhalb des Zeitraums , über den die Schreiberin 1541 berichtete. Wenn die Heggbacher Nonne , wie Baumann bemerkt , trotz ihrer „gutkirchlichen“ Gesinnung „dankbar selbst solcher wohltäter Heggbachs während des aufstandes“ gedenkt , „die der neuen lehre huldigten“,47 so kann das durchaus Absicht statt Einfalt gewesen sein. Anders als Heinrich von Pflummern , der seines Glaubens wegen die Heimat verlassen hatte und wegen seiner Standhaftigkeit als „Heiliger der Gegenreformation“ verehrt wurde ,48 muss Christoph Gräter den Zeitgenossen als wankelmütig erschienen sein. Die Hervorhebung des Engagements , das der spätere Vertreter der Reformation der Frauenzisterze entgegengebracht hat , verweist auf die Spannungen , die zur Zeit der Abfassung des Textes zwischen der Reichsstadt Biberach und der Abtei Heggbach bestanden hatten.49 Sie können aufgrund des Forschungsstandes hier wenigstens ansatzweise skizziert werden. Christoph Gräter wurde 1531 Bürgermeister von Biberach und engagierte sich seit 1535 für die Durchführung der Reformation im Umland.50 Baltringen und Burgrieden erhielten lutherische Prädikanten. Gegen die damit verbundenen Eingriffe in ihr Zehnt- und Patronatsrecht suchten die Nonnen den Schutz des Kaisers. Dieser befahl 1543 der Stadt Biberach , den lutherischen Prädikanten in Burgrieden abzusetzen und das Kloster Heggbach in seinem Patronatsrecht und dem Zehnt nicht zu beeinträchtigen.51 In der Abwehr reformatorischer Neuerungen war die Frauenzisterze offensichtlich erfolgreicher als die Mönche des Benediktinerklosters Ochsenhausen , die 1542 einen Vergleich mit der Stadt Biberach schlossen. Vieles spricht dafür , dass die Heggbacher Chronik Teil der reformatorischen Auseinandersetzung war. Sie gibt weit eher Zeugnis von der Macht und dem politischen Einfluss der Klosterfrauen , die eine Säkularisierung verhindern konnten ,52 als vom Bewusstsein der „bösen wiber“. So gesehen eignet sie sich wohl kaum zu einer Diskussion um die „gemeine Frau“ im Bauernkrieg , es sei denn , eine archivalische Recherche würde zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich des ursprünglichen Textes führen. 47 Baumann : Quellen ( s. Anm. 5 ), S. 294. Er erwähnt namentlich Stoffel Gräter. 48 Rüth : Reformation ( s. Anm. 43 ), S. 256. 49 Biberach hatte die Schirmherrschaft über das reichsunmittelbare Kloster , doch gab es bereits unter der Äbtissin Anna v. Kobold ( 1509–1515 ) Versuche , sich aus dieser Beziehung zu lösen und sich Ulm zu unterstellen , Beck : Heggbach ( s. Anm. 2 ), S. 274 ff. 50 Rüth : Reformation ( s. Anm. 43 ), S. 271 ff. 51 Giefel : Regesta ( s. Anm. 14 ), S. 222. 52 Knapp die Hälfte der Frauenzisterzen wurde im Gefolge der Reformation säkularisiert. Nur 73 von ca. 137 bestanden weiter , Kuhn-Rehfus , Zisterzienserinnen ( wie Anm. 8 ), S. 145.
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Über Frauenklöster könnten wir , wenn wir die Chronik mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen konfrontieren , einiges lernen.53 Ihr Anteil an der politischen Kultur des Alten Reiches wurde bislang viel zu wenig gewürdigt.
53 Vgl. dazu auch die Hinweise von Merry E. Wiesner : The Reformation of the Women , in : Die Reformation in Deutschland und Europa. Interpretationen und Debatten , hg. von Hans Rudolf Guggisberg / Gottfried G. Krodel , Heidelberg 1993 , S. 193–208.
Eheschliessung und Netzwerkbildung am Beispiel der jüdischen Gesellschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet Am 25. November 1754 heiratete Abraham Jacob , der Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Steinbiedersdorf ( frz. Pontpierre ), in zweiter Ehe Sara Kassell , die Witwe des Raphaël Lipman aus Bouxwiller im Elsass. Der 1750 verstorbene Raphaël Lipman hatte zu einer der fünf Familien gehört , die im 18. Jahrhundert als Hofagenten oder Hoflieferanten der Grafen von Hanau-Lichtenberg zu Ansehen und Reichtum gekommen waren. Seine Witwe Sara Kassell war die Tochter des Isaak Kassell aus Frankfurt. Die begüterte Städterin brachte nicht nur zwei Kinder in ihre zweite Ehe ein , sondern auch viel Geld , Kleider , Perlen und Diamanten. Dominik Barell , der herrschaftliche Schreiber und Notar der Grafschaft Kriechingen ( frz. Créhange ), bei dem die Heiratsurkunde hinterlegt wurde , notierte dazu : „Dot 900 Thaler Frankfurter Währung = 2700 livres de france sowie Kleidung , Quasturenn [ d. i. Zierrat ], Geschmuck bestehet aus Perellen u. Diamanten , die sie an ihrem Leib traget , sowie ein Vorhang und ein Robe-Lill vor der Tabell Moises , welches allhier zu Steinbiedersdorf in der Synagoge solle applizieret werden , wie auch ein Kleid vor die gedacht Tabell Moyse – alle 3 Sticker mit Gold und Silber brodiert – sollen in der Synagoge bleiben , so lange sie in St. ist.“1
Abraham Jacob verfügte zum Zeitpunkt der Eheschließung über ein ansehnliches Vermögen ; er belieh und belieferte seine Herrschaft , die Grafen von Kriechingen. Doch er wohnte weder in der Stadt Frankfurt noch in Bouxwiller , das im 18. Jahrhundert zu einer Residenz ausgebaut worden war2 , sondern in dem abgelegenen Steinbiedersdorf , 1 Archives Départementales de la Moselle ( im Folgenden zitiert : AD Mos. ) 3 E 6019 , S. 111–113. Ich beziehe mich bei meinen Ausführungen auf meine Mikrostudie über Steinbiedersdorf ( Claudia Ulbrich : Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ( Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden Beiheft 4 ), Wien 1999 ). Für Einzelbelege sei auf diese Arbeit verwiesen. Weiterführende Hinweise und Ergänzungen habe ich von Bernard Lyon-Caen , Pierre André Meyer , Jacques Blâmont und weiteren Mitgliedern des Cercle de Généalogie Juive bekommen. Sie haben mir ihre genealogischen Daten und zahlreiche Kopien von Quellen zur Verfügung gestellt und mich auf wichtige genealogische Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. 2 AndrÉ-Marc Haarscher : Les juifs du comté de Hanau-Lichtenberg entre le XIVe siècle et la fin de l’Ancien Régime ( Publications de la société savante d’Alsace. Recherches et documents 57 ), Bar le Duc 1997 , hier S. 20 : Die Grafschaft Hanau-Lichtenberg gehörte im 18. Jahrhundert zu Frankreich und war das größte protestantische Territorium im Elsass. Nachdem die Grafschaft an die Landgrafen von HessenDarmstadt gefallen war , wurde Bouxwiller zu einer Residenz ausgebaut , die auch viele reiche jüdische Kaufleute , Hoflieferanten und Bankiers anzog.
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30 km östlich von Metz. Warum entschloss sich Sara Kassell ausgerechnet zu dieser Ehe ? Durfte sie überhaupt selbst entscheiden ? Oder rieten andere der damals 44jährigen dazu , nach vierjähriger Witwenschaft diese neue Ehe einzugehen – so wie Glikl bas Judah Leib von ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter Esther überredet worden war , Altona zu verlassen , um sich in Metz zu verheiraten ?3 Bedeutete die Ehe für sie einen sozialen Abstieg , oder eröffnete sie ihr neue Handlungsmöglichkeiten und Lebensperspektiven ? War es ihr wichtiger , mit einem frommen und gebildeten Mann verheiratet zu sein , als den Reichtum der Residenzstadt zu genießen ? Oder versprach sie sich von dieser Ehe , dass sie für ihre Kinder gut wäre ?
Abb. 5 : Deutsch-französisches Grenzgebiet im 18. Jahrhundert.
Der überlieferte Ehevertrag gibt zu diesen Fragen keine Auskunft , aber er gewährt Einblicke in die Heiratspraxis. Das Beispiel verweist zum einen auf ein Heiratsmus3 Zu Glikl bas Judah Leib s. zuletzt : Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit ( Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 24 ), hg. von Monika Richarz , Hamburg 2001.
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ter , das in jüdischen Familien der wirtschaftlichen und sozialen Oberschicht der Frühen Neuzeit weit verbreitet war ; zum anderen eignet es sich als Ausgangspunkt für mikrohistorische Sondierungen , die es möglich machen , Eheschließung und Haushaltsgründung in einer jüdischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts von der Ebene einzelner Lebensläufe her zu analysieren. Ist dies ein Weg herauszufinden , inwieweit Menschen innerhalb spezifischer ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen individuell handeln konnten , ob und wie sie die Strukturen nutzen konnten und nutzten , wann und warum sie an ihre Grenzen stießen ? Lassen sich durch die Verbindung von Mikro-Perspektive und Makro-Modellen validere Aussagen treffen über die Kategorien , die Menschen wichtig waren , über deren Bedeutungen und Stellenwert ?4 Inwieweit können die Machtverhältnisse , in denen Menschen agierten und reagierten , auf diese Weise sichtbar gemacht und analysiert werden ? Und können solche Erkenntnisse dazu dienen , Makro-Fragen zu beantworten oder neue Fragestellungen zu generieren ? Ich möchte in drei Schritten vorgehen : Beginnen werde ich mit dem Versuch , ein jüdisches Heiratsmuster aus der Makro-Perspektive zu skizzieren , wobei ich mich auf die hier interessierende Region , das deutsch-französische Grenzgebiet , konzentriere ( I ). Der anschließende mikrohistorische Zugang , der um den Lebenslauf von Bernard Lipman herum organisiert ist ( II ), bildet die Grundlage für die abschließende Diskussion der methodischen Fragen ( III ). I. Jüdische Heiratsmuster aus der Makro-Perspektive
Angesichts des Umstandes , dass es bislang nur ganz wenige systematische Forschungen zur jüdischen Heiratspraxis im 18. Jahrhundert gibt5 , sollen hier nur einige für die spätere Mikroanalyse wichtige Grundsätze erklärt werden. In Hinblick auf die Fra-
4 Gadi Algazi : Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires , in : L’Homme Z.f.G. 11 ( 2000 ) H. 1 , S. 105–119 , hier S. 105 ; Andrea Griesebner / Christina Lutter : Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien , in : Geschlecht und Kultur ( Beiträge zur historischen Sozialkunde , Sondernummer 20 ), hg. von Andrea Griesebner / Christina Lutter , Wien 2000 , S. 58–64 , hier S. 61. 5 Dies gilt insbesondere für den deutschsprachigen Raum , in dem die Überlieferung – mit Ausnahme von Elsass und dem deutschsprachigen Teil Lothringens – schlecht zu sein scheint. Dass nun auch in Deutschland die jüdische Familiengeschichte zunehmend Interesse findet , zeigen Arbeiten wie : Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart , hg. von Sabine Hödl / Martha Keil , Berlin 1999 und Sabine Ullmann : Poor jewish families in early modern rural Swabia , in : International Review of Social History 45 ( 2000 ), S. 93–113. Einen Überblick über wichtige rechts- , religions- und sozialgeschichtliche Aspekte der Eheschließung gibt Jacob Katz : Mariage et vie conjugale à la fin du Moyen Age , in : La société juive à travers l’histoire , II : Les liens d’alliance , hg. von Shumel Trigano , Paris 1992 , S. 385– 441 , hier S. 385 ff.
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ge nach Netzwerken sind die Kategorien Nähe und Ferne zentral. Sie können sowohl auf die räumliche als auch auf die verwandtschaftliche Ordnung bezogen werden6. Jüdische Männer und Frauen heirateten nicht nur im Nahbereich. Wer es sich leisten konnte , suchte die EhepartnerInnen jenseits der territorialen Grenzen , um mit der Ehe weiträumige verwandtschaftliche Netzwerke auf- und auszubauen.7 Für eine solche Heiratspolitik gab es eine Reihe von Gründen. Wie Natalie Zemon Davis in ihrer Studie zu Glikl bas Judah Leib betont , resultierte sie zum Teil daraus , „dass am Wohnort nicht genug Aschkenasim geeigneten Standes lebten , selbst wenn man das jüdische Gesetz ausnutzte , das Vettern und Basen ersten Grades die Ehe erlaubte [ … ]. Wichtiger war indes , dass weitgestreute Ehen ein ökonomischer Vorteil und zugleich eine Sicherheitsmaßnahme waren.“8
Für die Oberschicht scheint die Reichweite des überregionalen Konnubiums ein Kriterium für ihre Position innerhalb der Oberschichthierarchie gewesen zu sein. Dabei ist jedoch , wie Rotraud Ries betont , zu unterscheiden zwischen einer jüdischen Bildungselite , der Kaufmannselite und den Hofjuden. Während sich der räumliche Horizont der Bildungselite auf den gesamt-aschkenasischen Kultur- und Bildungsraum bezogen zu haben scheint9 , waren die meisten Kaufleute , soweit sie der Oberschicht zuzurechnen sind , und die Hofjuden in ihren Aktivitäten und damit in ihrem Konnubium auf bestimmte Großregionen Mitteleuropas konzentriert. „Die Hofjuden der Klein- und Kleinstterritorien“ sind dagegen , so betont Ries , „nach Ansehen , Wirtschaftspotenz und Reichweite ihrer Beziehungen manchmal eher der jüdischen Mittelschicht der Schutzjuden zuzuordnen.“10 Einen Einblick in die Heiratspraxis einer kleinen Gruppe von Hofjuden eines Kleinterritoriums gibt André-Marc Haarscher in seiner Studie über die Juden in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg.11 Er kann sich für seine demographische Untersuchung auf 6 Wenn im Folgenden von Nahbereich die Rede ist , ist immer die räumliche Nähe oder Distanz gemeint. Nahe verwandtschaftliche Beziehungen werden immer ausdrücklich als Ehen in naher Verwandtschaft oder Heirat in nahen Verwandtschaftsgraden bezeichnet. 7 Eine solche Praxis unterscheidet Juden prinzipiell nicht von Christen. Ähnliches gilt auch für Heiraten im Adel oder in bestimmten Regionen Europas : André Burguière / Francois Lebrun : Die Vielfalt der Familienmodelle in Europa , in : Geschichte der Familie , Bd. 3 : Neuzeit , hg. von André Burguière / Christiane Klapisch-Zuber / Martine Segalen / Françoise Zonabend , Darmstadt 1997 , S. 13–118 , hier S. 108 ff. 8 Natalie Zemon Davis : Drei Frauenleben. Glikl , Marie de l’Incarnation , Maria Sibylla Merian. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser , Berlin 1996 , S. 21. 9 Rotraud Ries : Status und Lebensstil – Jüdische Familien der sozialen Oberschicht zur Zeit Glikls , in : Kauffrau , hg. von Monika Richarz , ( s. Anm. 3 ), S. 280–306 , hier S. 295. 10 Ries : Status ( s. Anm. 9 ), S. 293. 11 Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ).
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eine für eine jüdische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ungewöhnlich gute Quellenlage stützen. An erster Stelle sind die Heiratsverträge ( Ketubbot ) zu nennen , die umfangreiche mit der Eheschließung verbundene Regelungen enthielten. Dass sie in großer Zahl aufbewahrt wurden , verdanken wir einem Erlass Ludwigs XIV. Er ordnete 1701 an , dass alle elsässischen Juden innerhalb von 15 Tagen nach der Eheschließung ihre Heiratsverträge bei einem Notar oder einem anderen öffentlichen Amtsträger hinterlegen müssten. Diese Regelung galt bis 1791 , und sie wurde mit der Zeit auch von den Juden befolgt , die in den kleinen Reichsherrschaften im Elsass lebten. Insgesamt sind für das Elsass mehr als 5. 000 Heiratsverträge aus dem 18. Jahrhundert überliefert. Sie wurden bei der Eheabredung erstmals in den Tenaїm rischonim schriftlich fixiert , am Tag der Hochzeit in den Tenaїm acharonim erneuert und anschließend beim Notar deponiert. Für diese Verträge gab es zwar ein Formular , aber es blieb genügend Spielraum für individuelle Regelungen. Festgesetzt wurde nicht nur die Höhe der Mitgift – sie schwankte in Hanau-Lichtenberg zwischen 11 und 18. 750 Gulden –, sondern auch Fragen der Haushaltsgründung wurden detailliert geregelt. Nicht selten war vorgesehen , dass das junge Paar für zwei oder mehr Jahre kostenlos im Haus der Eltern des Mannes oder der Frau wohnen dürfe. Es kam auch vor , dass den Söhnen bereits in den Tenaїm die Teilhabe am Geschäft des Vaters zugesichert wurde. Weitere Bestimmungen betrafen den Platz in der Synagoge , das Erbrecht – Eltern konnten beispielsweise festlegen , dass ihre Töchter einen Teil des Erbes erhielten – sowie die Ketubba , d. h. die Summe , die der Frau im Fall der Scheidung oder Witwenschaft zu zahlen war.12 Die Auswertung von einigen dieser Heiratsverträge , von Testamenten , Inventaren , Gerichtsquellen u. a. ermöglichte Haarscher zu zeigen , wie sich in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Elite von Hofagenten und Hoflieferanten herausgebildet hat , die Geschäftsbeziehungen zu den Banken in Straßburg , Frankfurt , Berlin und Paris unterhielten. Sie hatten untereinander durch Heiratsallianzen im Nahbereich enge Verwandtschaftsbeziehungen aufgebaut , die eine Konzentration des Vermögens erlaubten.13 Wie Burguière mit Blick auf landwirtschaftlich geprägte Gebiete betont , waren solche Allianzstrategien vor allem dort üblich , „wo ein beträchtlicher Teil des Vermögens über die Frauen in Umlauf gebracht wurde.“14 Sie sind kein Spezifikum der jüdischen Gesellschaft. 12 André Aaron Fraenckel : Mémoire juive en Alsace. Contrats de Mariage au XVIIIème siècle , 2 vol., Strasbourg 1997. – Zur rechtlichen Bedeutung der Heiratsverträge demnächst grundsätzlich Birgit Klein : Das eheliche Güterrecht im Judentum des deutschen Sprachraums der Frühneuzeit : Entwicklung seit der rabbinischen Antike und Auswirkungen auf das Verhältnis der Geschlechter und zur christlichen Mehrheitsgesellschaft ( Habilitationschrift , Freie Universität Berlin , abgeschlossen 2006 ). 13 Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 183 sowie S. 318 : Document 59 : Liens de parenté entre les financiers du comté de Hanau-Lichtenberg. 14 Burguière / Lebrun : Vielfalt ( s. Anm. 7 ), S. 101. Die Systeme der Vermögensübergabe von einer Generation zur nächsten sind für die jüdische Gesellschaft weniger gut erforscht als für die christliche ,
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Aus den bisherigen Arbeiten lässt sich kein Hinweis darauf finden , dass die weiträumigen Geschäftsbeziehungen der Hofagenten der Grafen von Hanau-Lichtenberg bzw. ihrer Nachfolger , der Landgrafen von Hessen-Darmstadt , zu weiträumigen Heiratsallianzen geführt hätten bzw. dass umgekehrt weiträumige Allianzstrategien aufgebaut und genutzt worden wären , um die Geschäftsbeziehungen in räumlicher Hinsicht auszuweiten. Solche Ehen scheinen in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg insgesamt eine seltene Ausnahme gewesen zu sein : Nur in 11 von 238 zwischen 1720 und 1789 in den Gemeinden Bouxwiller , Ingwiller und Westhoffen geschlossenen Ehen kam einer der Partner aus dem Ausland.15 Eine Bevölkerungsaufnahme von 1784 bestätigt diesen Befund. Die meisten Ehen wurden mit einer Partnerin oder einem Partner aus einer anderen elsässischen Gemeinde geschlossen.16 Das schließt eine gewisse geographische Weiträumigkeit der Heiratsallianzen nicht grundsätzlich aus , lässt sich aber nicht mit dem vergleichen , was für die Elite der Hofjuden beschrieben wird. Auch Fraenckel , der die erwähnten 5.000 elsässischen Heiratsverträge aus dem 18. Jahrhundert zusammengestellt und Datum , Namen , Herkunftsorte , Mitgift und wichtige individuelle Regelungen publiziert hat , gibt als Tendenz an , dass Ehen mit Ausländern – außer an den Grenzen des Elsasses – selten seien.17 Die begrenzte Reichweite der Heiratsverbindungen und die Bevorzugung von Heiratsallianzen im Nahbereich verweisen auf die zentrale Bedeutung von Verwandtschaft für die familiären und ökonomischen Strukturen der Gesellschaft.18 Damit wird die Frage wichtig , welche Verwandtschaftsregeln bei der Eheschließung eine Rolle spieldoch gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Studien , die die Bedeutung der Mitgift für die jüdische Gesellschaft , deren ökonomische Grundlagen fast ganz auf dem Handel lagen , herausgearbeitet haben. Vgl. etwa Luciano Allegra : A model of jewish devolution : Turin in the eighteenth century , in : Jewish History Bd. 7 ( 1993 ) 2 , S. 29–58 , hier S. 53 : „Jewish dowries [ … ] were a liquid resource that met various needs ranging from the protection of capital to commercial barter , contractual negotiations , protection from debt and creditors , sinking funds in moments of crises , and bulworks against the flight of capital following a defection to Christianity.“ 15 Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 50 f. unterscheidet zwischen Elsass , Lothringen und Ausland. Es ist nicht klar , ob sich diese Bezeichnung auf den Bereich der Landjudenschaft bezieht oder darüber hinausgeht. Die Reichsenklaven werden in diesem Verständnis offensichtlich zum Elsass gezählt. 16 Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 51 und S. 353 ff. 17 Fraenckel : Mémoire ( s. Anm. 12 ), S. XVII. 18 Grundsätzlich sind Verwandtenehen nicht auf den Nahbereich begrenzt , doch dürften sie hier eine größere Rolle gespielt haben. Auf die zentrale Rolle der Verwandtenehen im 18. und 19. Jahrhundert mit Blick auf die christliche Gesellschaft verweisen David Warren Sabean : Kinship in Neckarhausen , 1700– 1840 , Cambridge 1998 , S. 398 ff. und David Warren Sabean : Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik , in : L’Homme Z.f.G. 13 ( 2002 ) H. 1 , S. 7–28 , hier S. 19 ff. Diese These wird von Jon Mathieu bestätigt , der für die Schweiz eine Zunahme von Verwandtenehen im 18. und 19. Jahrhundert beobachtet ( Jon Mathieu : Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends , 1500–1900 , in : Historische Anthropologie 10 ( 2002 ) H. 2 , S. 225–244 , hier S. 243 f. ). Für die jüdische Gesellschaft ist die Bedeutung der Verwandtenehen bei den Rothschilds bekannt und häufig erwähnt ( Niall Ferguson : Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes , Bd. 1 , Stuttgart 2002 , S. 383 ff. ).
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ten. Ehen in nahen Verwandtschaftsgraden scheinen , wie Birgit Klein betont , eine seltene Ausnahme gewesen zu sein.19 Dies gilt vermutlich auch für das Elsass. Haarscher macht darüber keine Angaben , doch finden sich auch sonst in der Literatur nur vereinzelte Hinweise. So erwähnt Jean Daltroff , dass Michel Levy , der dem Familienunternehmen Raphaёl Levy & fils angehörte , 1774 die Tochter seines Bruders geheiratet hatte.20 Auf diese Weise blieben die Mitgift und das für den Handel notwendige Wissen im Unternehmen. Auch die jüdischen Ehen im späteren Département Moselle unterlagen seit Beginn des 18. Jahrhunderts einer Registrierungspflicht , und auch hier haben nicht nur die in Frankreich lebenden Juden , sondern auch die jüdischen Familien in den zum Reich gehörigen Herrschaften der Region mit der Zeit den königlichen Erlass befolgt und ihre Heiratsverträge hinterlegt. Für Moselle konnte Jean Fleury in den Notariatsakten über 2. 000 jüdische Heiratsverträge nachweisen.21 Außerdem wurden hier wie auch im Elsass Testamente bei Notaren hinterlegt , deren Wert als familienhistorische Quellen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Auch wenn eine systematische Auswertung dieser Quellen sowohl für das Elsass als auch für den Moselraum nach wie vor ein Desiderat ist , gibt es bereits eine Reihe von Arbeiten , die mit quantitativen Methoden die demographischen Strukturen der christlichen und jüdischen Gesellschaft Ostfrankreichs für das späte 17. und 18. Jahrhundert vergleichend untersuchen. An erster Stelle ist die ausgezeichnete Arbeit von Jean-Pierre Meyer zu nennen , die auf der Basis der Geburts- , Heirats- und Sterberegister der jüdischen Gemeinde in Metz , die seit 1717 geführt werden mussten , sowie der Verzeichnisse der Beschneidungen ( „Mohelbücher“ ), der Heiratsverträge und der Gedenk-( „Memor-“ ) bücher , erstellt worden ist.22 Meyer setzt sich mit der bereits im 18. Jahrhundert von einflussreichen Menschen , wie Abbé Grégoire , vertretenen Auffassung auseinander , die jüdische Bevölkerung sei im 18. Jahrhundert sehr viel schneller gewachsen als die christliche. Begründet wurde diese Ansicht u. a. mit dem hohen Stellenwert der Ehe in der jüdischen Religion sowie der damit verbundenen Ablehnung des Zölibats , mit dem Gebot der Fruchtbar-
19 Birgit E. Klein : Allein nach dem „Gesetz Mosis“ ? – Inzestdiskurse über jüdische Heiratspraxis in der Frühen Neuzeit , in : Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge , hg. von Jutta Eming / Claudia Jarzebowski / Claudia Ulbrich , Königstein 2003 , S. 86–115. 20 Jean Daltroff : Le prêt d’argent des juifs de Basse-Alsace d’après les registres de notaires royaux strasbourgeaois ( 1750–1791 ) ( Collections Recherches et documents , Bd. 50 ), Strasbourg 1993 , S. 135. 21 Jean Fleury : Contrats de Mariage juifs en Moselle avant 1792. Recensement à usage généalogique de 2021 contrats de mariage notariés , o. O. 1989. 22 Pierre André Meyer : La communauté juive de Metz au XVIIIe siècle. Histoire et démographie , Nancy 1993 , S. 113–292.
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keit und die Frühehe.23 In seiner detaillierten Kritik bezieht sich Abbé Grégoire – wie viele andere Zeitgenossen , die sich berufen fühlten , zur jüdischen Heiratspraxis Stellung zu nehmen , – auf ein Gemisch von Vorurteilen und normativen Texten und greift Themen auf , die in der jüdischen Gesellschaft seiner Zeit intensiv diskutiert wurden.24 Von der Möglichkeit , sich vor Ort umfassend über die tatsächlichen Gegebenheiten zu informieren , machte er offensichtlich keinen Gebrauch. Schon Zalkind Hourwitz widersprach ihm 1789 mit dem Hinweis , dass die Juden sich in Bezug auf die Ehe mehr nach ihren Möglichkeiten als nach dem Talmud richteten. Einzig die sehr kleine jüdische Oberschicht habe ihre Kinder zu jung verheiratet.25 Die Kritik von Hourwitz an Grégoire und seinen Zeitgenossen wird auch durch die sorgfältigen demographischen Analysen von Meyer bestätigt. Er kann feststellen , dass es in Metz zwischen 1720 und 1789 in der jüdischen Bevölkerung einen geringeren Geburtenüberschuss gab als in der christlichen. Aufgrund eines Gesetzes , das den jüdischen Mädchen und Witwen verbot , auswärtige jüdische Männer zu heiraten und ihnen durch die Eheschließung die Niederlassung in Metz zu ermöglichen , war auch die heiratsbedingte Migration von Männern vergleichsweise gering. Unter den 1292 Ehen , die Meyer seiner Studie zugrunde legt , waren nur 197 , in denen die Ehepartner Auswärtige waren. Sie kamen aus Lothringen , aus verschiedenen deutschen Territorien , aus dem Elsass und vereinzelt aus Polen. In mehr als zwei Drittel dieser 197 Fälle heirateten die Frauen nach Metz ein und vergrößerten mit ihrer Mitgift die ökonomische Potenz der jüdischen Gemeinde. Weiträumigere Heiratsverbindungen lassen sich – hier bestätigt sich das eingangs beschriebene Heiratsmuster – vor allem für die jüdische Bildungselite und die reichen Kaufleute nachweisen.26 Eine dritte Gruppe bildeten Heiratsallianzen zwischen Familien aus der Stadt und dem Umland von Metz , die auf die engen ökonomischen und familiären Verflechtungen im Nahbereich 23 Zu den normativen Grundlagen der Ehe Mendell Lewittes : Jewish marriage. Rabbinic law , legend , and custom , Northvale u. a. 1994. 24 Die im 18. Jahrhundert in Ostfrankreich intensiv geführten Debatten über die jüdische Eheschließung und über das vermeintlich rasche jüdische Bevölkerungswachstum ( das zum Teil mit dem Gesetz Moses , zum Teil mit dem Warten auf den Messias in Verbindung gebracht wird ) müssen als Teil religionspolitischer Polemiken interpretiert und auch im Kontext innerjüdischer Auseinandersetzungen gesehen werden ( Chassidismus , Haskala ), nicht als Effekt der Realität. Biale betont die unterschiedliche Entwicklung der Heiratspraxis zwischen deutschen Juden und Ostjuden und bilanziert : „In Eastern Europe , the age of marriage , especially among the elite , remained very young throughout the eighteenth century , and it became one of the marks that distinguished the Ostjuden ( Eastern Jews ) in the eyes of the German Jews. A number of central European rabbis from the period noted that their cousins to the East married in uncommonly young ages , writing as if these Jews were from some exotic tribe.“ ( David Biale : Eros and the jews : from biblical Israel to contemporary America , New York 1992 , S. 128 ). 25 Meyer : Communauté ( s. Anm. 22 ), S. 9 f. 26 Meyer : Communauté ( s. Anm. 22 ), S. 192.
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( bis 50 km ) verweisen. Politische Zuordnungen spielen in diesem von vielen Grenzen durchzogenen Raum ( Lothringen , Trois Évêchés , Reichsenklaven ) für die jüdische Bevölkerung offensichtlich keine entscheidende Rolle.27 Auch in Hinblick auf die Heirat in engen Verwandtschaftsgraden bestätigt die Analyse der Metzer Eheschließungen die Vermutung , dass sie eher selten waren. Meyer hat bei einem Sample von 541 Ehen lediglich 18 Verbindungen zwischen Cousin und Cousinen und zwei zwischen Onkel und Nichte gefunden.28 Deutlich wird in seiner Analyse der hohe Stellenwert der sozialen Endogamie , die vor allem für die jüdischen Eliten nachgewiesen werden kann29. Familien der Gemeindevorsteher / Syndics verabredeten untereinander Ehen ihrer Kinder und sorgten so dafür , dass das Amt , das eigentlich ein Wahlamt war , in der Familie blieb. In Metz wurden 53 ( 39,2 % ) der 135 registrierten Ehen von Kindern von Gemeindevorstehern innerhalb der gleichen politischen Führungsschicht geschlossen. Öfter als üblich kamen die Ehepartner aus dem Elsass bzw. aus Lothringen , sodass man von einer überregionalen Verflechtung der Führungseliten sprechen kann. In Metz waren außerdem alle Familien von Ärzten durch Heiratsallianzen miteinander verbunden.30 Im Vergleich zwischen christlichen und jüdischen Eheschließungen wird deutlich , dass die jüdischen Männer bei der Heirat etwas älter waren ( 28,6 Jahre ) als die christlichen , was mit ökonomischen Zwängen begründet werden kann. Die jüdischen Frauen waren dagegen im Schnitt drei Jahre jünger als die christlichen , wenn sie verheiratet wurden. Meyer vermutet , dass die frühere Heirat der Mädchen darauf schließen lasse , dass man sich bei der Verheiratung der Töchter eher am Ideal der religiösen Vorschriften orientierte ; doch wäre es denkbar , dass auch hier ökonomische Gründe im Spiel waren.31 Das jüngere Heiratsalter führte nicht zu einer 27 Meyer : Communauté ( s. Anm. 22 ), S. 195. 28 Meyer : Communauté ( s. Anm. 22 ), S. 204. Das Ergebnis kann auch mit dem benutzten Datenmaterial ( Zivilstandsregister ) zusammenhängen. In anderen nicht veröffentlichten Unterlagen über einzelne Lebensläufe , die Pierre André Meyer mir zur Verfügung gestellt hat , gibt es eine Reihe weiterer Hinweise auf die Bedeutung der Verwandtenehe , die in demographischen Studien meist nur beiläufig erwähnt wird , so beispielsweise bei Jean Daltroff : Les Juifs de Niedervisse. Naissance , épanouissement et déclin d’une communauté , Sarreguemines 1992 , S. 55 : Eine Ehe zwischen Cousin und Cousine ersten Grades. 29 Unter sozialer Endogamie sind Ehen von Kindern aus dem gleichen Milieu zu verstehen , hier vor allem aus Familien der Amtsinhaber ( syndics ), der Gelehrten und der Ärzte. 30 Meyer : Communauté ( s. Anm. 22 ), S. 204 31 Es stellt sich zum Beispiel die Frage , ob die heranwachsenden Mädchen im elterlichen Haus oder in fremden Haushalten einer Arbeit nachgehen konnten , d. h. ob sie im elterlichen Haus als Arbeitskraft nötig waren oder eher Kosten verursachten. Als Ehefrauen hatten sie ihre Ehemänner bei ihrer Arbeit zu unterstützen , und es bot sich ihnen auch die Möglichkeit , selbstständig Geld zu verdienen ( Geldverleih ). Eine systematische Auswertung der Eheverträge insbesondere in Hinblick auf die Frage , in welchen Haushalt die Neuvermählten integriert wurden , könnte hier vielleicht erste Antworten bringen.
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größeren ehelichen Fruchtbarkeit , im Gegenteil : Die Metzer jüdischen Frauen scheinen weniger Kinder geboren zu haben als die Christinnen der umliegenden Stadtund Landgemeinden.32 Meyers Ergebnisse werden im Wesentlichen durch andere lokale und regionale Studien bestätigt.33 So kommt auch Haarscher zu dem Schluss , dass die jüdischen Mädchen zwar deutlich jünger verheiratet wurden als ihre christlichen Nachbarinnen , dass die Zahl der Kinder pro Haushalt aber fast gleich war. Im Durchschnitt hatten die meisten christlichen und jüdischen Haushalte , die er miteinander verglichen hat , zwischen zwei und drei Kindern.34 Glikl bas Judah Leib , die mit 12 Jahren verlobt wurde und 14 Kinder zur Welt brachte , von denen zwölf das Heiratsalter erreichten35 , eignet sich ebenso wenig als Beleg für ein zeit- und schichtübergreifendes ‚jüdisches Heiratsmuster‘ wie die religiösen Schriften oder gar die Stellungnahmen der zeitgenössischen ‚Beobachter‘ , die ihr Wissen um soziale Zustände offensichtlich eher aus den Büchern als aus der Anschauung bezogen. Während es letzteren gelang , an wirkmächtigen Diskursen teilzunehmen , blieb die Frage , wie Menschen im Spannungsfeld von widersprüchlichen normativen Vorgaben , ökonomischen , sozialen und familiären Zwängen sowie individuellen Bedürfnissen eine funktionsfähige Balance herstellten , unbeachtet. II. Die Lipmans aus Bouxwiller – Einblicke in eine Familiengeschichte
Raphaël Lipman und der eingangs erwähnte Abraham Jacob gehörten nicht zu der kleinen Gruppe von reichen Kaufleuten , die europaweite Handelskontakte aufbauten ; sie standen auch nicht als Hofjuden in einem auf Dauer angelegten Dienstleistungsverhältnis zu ihrer Obrigkeit36 ; sie waren – wie viele andere auch – erfolgreiche Geschäftsleute , zeitweilig Hoflieferanten , die bereit waren , sich in ihren Gemeinden und für ihre Gemeinden einzusetzen. Aus einer ganzen Reihe von Gründen bietet es sich an , ihre und Sarah Kassells fragmentarisch überlieferten Lebensgeschichten zum Aus32 Meyer : Communauté ( s. Anm. 22 ), S. 218. 33 Für das 19. Jahrhundert kann auf die Arbeit von Paula E. Hyman : The Emancipation of the Jews of Alsace. Acculturation and Tradition in the Nineteenth Century , New Haven 1991 , S. 56 ff. verwiesen werden , die allerdings große Unterschiede zwischen einzelnen Gemeinden und Haushalten zeigt. 34 Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 54. Hier stellt sich jedoch die Frage , ob solche Daten zuverlässig erhoben werden können. 35 Davis : Frauenleben ( s. Anm. 8 ), S. 20. 36 Als Hofjuden definiert Rotraud Ries : Hofjudenfamilien unter dem Einfluss von Akkulturation und Assimilation , in : Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart , hg. von Sabine Hödl / Martha Keil , Berlin 1999 , S. 79–105 , hier S. 80 f. „jüdische Kaufleute , deren Geschick , Durchsetzungsvermögen , Diensteifer und Risikobereitschaft , Herkunft und Beziehungen ihnen ermöglichten , in ein auf Kontinuität angelegtes Dienstleistungsverhältnis zu einem höfisch strukturierten Herrschaftszentrum zu treten”.
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Abb. 6 : Genealogie 1 : Eheallianzen der Hofagenten in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg
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gangspunkt einer mikrohistorischen Untersuchung zu machen.37 Gerade weil sie in einem begrenzten Milieu agierten , ist davon auszugehen , dass ihre Optionen und Strategien Teil kollektiver Phänomene sind. Deswegen ist ihre Geschichte vielleicht sogar repräsentativer als die eines bekannteren Hofjuden wie etwa Samuel Oppenheimer. Bernard Lipman war der Sohn von Sara Kassell und Raphaël Lipman und der Stiefsohn von Abraham Jacob. Er wurde 1740 in Bouxwiller im Elsass geboren und kam 1754 mit seiner Mutter nach Steinbiedersdorf , wo er 1766 eine Tochter des Vorstehers der jüdischen Gemeinde ( Parnas ) aus der Nachbargemeinde heiratete. 1776 war er der reichste Jude in Steinbiedersdorf und als Parnas der Amtsnachfolger seines Stiefvaters. Nach 1791 verließ er Steinbiedersdorf , um sich in Metz niederzulassen , wo er 1817 starb. Auf ihn werde ich im Folgenden die Erzählperspektive richten. Die Lipmans gehören zu einer kleinen Gruppe jüdischer Familien , die als Hoffaktoren oder Hofagenten während des 18. Jahrhunderts in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg zu Ansehen und Wohlstand gelangt waren. Mit Unterstützung der Obrigkeit konnte diese kleine Gruppe von Kaufleuten Bouxwiller zu einem wichtigen Zentrum jüdischen Lebens ausbauen. Grundlage des Wohlstands waren das Monopol auf Erzgruben und Eisenhandel , darüber hinaus der große Bedarf an Geld und Waren bei den Grafen von Hanau-Lichtenberg bzw. ihren Nachfolgern , den Landesgrafen von Hessen-Darmstadt. Die Überlieferung für Raphaël Lipman , den Vater von Bernard , beginnt 1719 in Bouxwiller im Elsass. Damals war er in die Krämerzunft aufgenommen worden und hatte zusammen mit Jacob Reichshoffer ein Monopol für den Eisenhandel in der Grafschaft Hanau-Lichtenberg erhalten. 1733 wurde er Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Sein Nachfolger war Jacob Reichshoffer. 1737 liehen Raphaël Lipman und Jacob Reichshoffer der Gräfin Louise Sophie von Nassau , geb. Gräfin von Hanau , und ihren Erben , den Grafen von Leiningen-Dabo , eine beträchtliche Summe Geldes. Im gleichen Jahr verheiratete Raphaël Lipman seinen Sohn Abraham mit Sara , der Tochter seines Geschäftspartners Jacob Reichshoffer. Abraham Lipman wurde wie sein Vater in die Krämerzunft aufgenommen. Für seine Laufbahn waren die engen Geschäftsbeziehungen wichtig , die er mit seinem Schwiegervater Jacob Reichshoffer unterhielt. Beide erhielten von der Herrschaft das Recht , bestimmte Waren ( Tabak , Schnaps u. a. ) mit 37 Ein wichtiger Grund ist auch der Stand der Aufarbeitung des Materials : Für die erste Phase der Familiengeschichte kann man auf die Studie von Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 138–208 zurückgreifen. Für den mittleren Abschnitt , die Zeit in Steinbiedersdorf , habe ich wichtige Zusammenhänge in Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ) herausgearbeitet , obgleich die Familiengeschichte von Bernard Lipman nicht im Zentrum meines Interesses stand. Zusätzlich hat mir Pierre-André Meyer , ein Nachkomme der Lipmans , einen 50 Seiten dicken „Lebenslauf “ von Bernard Lipman zur Verfügung gestellt , der vor allem über die Metzer Zeit und über die verwandtschaftlichen Zusammenhänge viel Neues bringt. Auf Einzelbelege werde ich bei der folgenden Familiengeschichte weitestgehend verzichten.
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einer indirekten Steuer zu belegen , und stiegen zu bedeutenden Hofagenten auf. Abraham Lipman konnte seinen Reichtum allerdings nicht dauerhaft sichern. 1770 stand er vor dem finanziellen Ruin. Im hohen Alter ernährte er sich mehr schlecht als recht von den Erträgen eines kleinen Krämerladens. Sein Geschäftspartner war erfolgreicher. Als er 1781 starb , hinterließ er ein Erbe , das nach Abzug der Schulden immerhin noch auf 1778 fl. geschätzt wurde. Auch seine Tochter Edel hatte Raphaël Lipman in eine der reichen Familien der Grafschaft Hanau-Lichtenberg verheiratet. Der neue Schwiegersohn Hirtzel Netter stand in engen Geschäftsbeziehungen mit ihm. Einer der Söhne von Edel und Hirtzel Netter , Raphaël Netter , taucht 1753 zusammen mit Isaac Lipman , dem Bruder von Edel und Abraham Lipman , als Pächter der Eisenschmelze im lichtenbergischen Tiefenbach auf. Onkel und Neffe waren also Geschäftspartner. Obwohl nur wenige Eckdaten bekannt sind , zeigt dieses Beispiel doch , wie eng wirtschaftliche Überlegungen und Eheallianzen , die später durch weitere Heiraten innerhalb der Familien gefestigt wurden , aufeinander bezogen sind. Dass eine solche Allianzstrategie nicht automatisch Stabilität bedeuten musste , mag ein Hinweis auf Hirtzel Netter verdeutlichen , der sich nachhaltig mit seinem Schwager zerstritt und zu seinem Konkurrenten wurde.38 Der Vater , Raphaël Lipman , beschränkte sich nicht auf Heiraten im Nahbereich. Für sich selbst traf er eine andere Wahl. Nach dem Tod seiner ersten Frau beschloss der Witwer , der noch seine beiden Söhne im Haus hatte , in zweiter Ehe Sara Kassell zu heiraten , die aus einer bedeutenden Frankfurter Kaufmannsfamilie stammte , Seine weitläufigen Geschäftsbeziehungen und sein wirtschaftlicher Erfolg waren ihm dabei sicher nützlich , vielleicht aber auch der Umstand , dass er keine Tochter mehr mit einer Mitgift ausstatten musste. Sara Kassells Vater war Tuchhändler und stand mit holländischen Kaufleuten in Kontakt. Nimmt man die Weiträumigkeit des Konnubiums als Gradmesser für sozialen Aufstieg innerhalb der jüdischen Gesellschaft , so muss die 1730 zwischen Raphaël Lipman und Sara Kassell geschlossene Ehe für Raphaël Lipman einen Aufstieg bedeutet haben. Ob die Ehe mit einem Witwer , der bereits drei Kinder hatte und aus einer vergleichsweise unbedeutenden Gemeinde kam , für Sara Kassell eine ‚gute Partie‘ war , lässt sich schwer beurteilen. Zum Zeitpunkt der Eheschließung war Sara Kassell Halbwaise. Der Tod ihres Vaters im Jahr 1725 hat ihre Ehechancen sicherlich beschränkt. Immerhin war Bouxwiller eine aufstrebende Residenzstadt mit guten Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Christen und Juden. Mit Raphaël Lipman hatte sie nicht nur einen recht erfolgreichen Geschäftsmann geheiratet , sondern auch einen engagierten Vertreter der Gemeinde. Seine Bibliothek umfasste 75 Bücher , was vermuten lässt , dass er Wert auf Bildung und Gelehrsamkeit legte. Sara Kassell , die 2. 300 fl. Mitgift mit in die Ehe brachte , lebte 20 Jahre mit ih38 Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 199.
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rem Mann in Bouxwiller , hatte mindestens zwei Kinder , Kaile und Bernard , und erlebte , wie ihre Stiefsöhne verheiratet wurden und Familien gründeten.39 Die Kinder ihrer Stiefsöhne waren so alt wie ihre eigenen. Als Raphaël Lipman 1750 starb , standen die Geschäfte gerade schlecht. Die Außenstände überschritten das Aktivvermögen , so dass die Familie sich entschied , das Erbe nicht anzutreten. Es wurde versteigert. Sara blieben ein Teil ihrer Mitgift , ihr Schmuck und ihre Kinder.40 Als Sara Kassell 1754 nach vierjähriger Witwenschaft eine neue Ehe einging , war dies vermutlich ein wohlüberlegter Entschluss. Der Umstand , dass sie ihre gute Aussteuer behalten hatte , gab ihr trotz des finanziellen Ruins ihres ersten Mannes gewisse Wahlmöglichkeiten. Sie war trotz allem eine wohlhabende Witwe , für die es nicht schwer gewesen sein dürfte , einen neuen Partner zu finden. Sie suchte ihn nicht im Umkreis der Familie ihres verstorbenen Mannes , sondern entschied sich , die Region Richtung Metz zu verlassen und sich in der Grafschaft Kriechingen , einer Reichsenklave , niederzulassen.41 Der Witwer Abraham Jacob war ein begüterter Kaufmann , der so viel Geld hatte , dass er seinem Landesherrn größere Summen leihen konnte. Er war aber auch ein frommer Jude , der Wert auf Bildung und Gelehrsamkeit legte , und ein engagierter Vertreter seiner Gemeinde. Seit vielen Jahren hatte er das Amt des Gemeindevorstehers inne , woraus man schließen kann , dass er das Ansehen der Gemeinde genoss und vom Landesherrn akzeptiert war. Aus seiner ersten Ehe hatte Abraham Jacob vier Kinder , die das Erwachsenenalter erreicht hatten und verheiratet waren : Der einzige Sohn Marx Jacob war 1741 in Steinbiedersdorf eine Ehe eingegangen. Von den drei Töchtern wurde eine 1746 in Landau ( 100 km entfernt ) verheiratet , das damals zu Frankreich gehörte. Die beiden anderen , Malquen und Shiva , hatten 1750 und 1754 in Steinbiedersdorf geheiratet.42 Shiva hatte 1. 000 Taler in französischer Währung , einen Gürtel sowie Wäsche und Immobilien im Wert von insgesamt 1. 200 Livres de France in die Ehe eingebracht.43 Als die Ehe zwischen Sara 39 Bernard war 1740 geboren , Kaile zwei Jahre früher. Von ihr gibt es in Steinbiedersdorf keine Spuren. Möglicherweise hatte Sara Kassell sie noch verheiratet , bevor sie selbst eine neue Ehe eingegangen war. 40 Als der Besitz von Raphaël Lipman inventarisiert wurde , weigerte sich Sara Kassell zunächst , ihren Schmuck zu deklarieren ( Haarscher : Juifs ( s. Anm. 2 ), S. 193 ). In dem – zu Beginn dieses Beitrags zitierten – Ehevertrag mit Abraham Jacob wird der Schmuck , den sie an ihrem Leib trägt , ausdrücklich erwähnt. – Vermutlich ist hier , wie im 18. Jahrhundert weithin üblich , zu rechnen : 2 Reichstaler = 3 Gulden. 41 Steinbiedersdorf in der Reichsgrafschaft Kriechingen liegt 40 km südöstlich von Metz und etwa 70 km von Bouxwiller entfernt. 42 Zur Familie des Abraham Jacob s. Jacques Blâmont : Généalogie en chambre , in : Revue du Cercle de Généalogie juive Nr. 67 , Bd. 17 , 2001 , S. 7–10 , hier S. 9. 43 Der Ehevertrag von Ahron Cahen und Shiva , der Tochter des Abraham Jacob , war am 31. 1. 1754 geschlossen worden ( Fleury : Contracts ( s. Anm. 21 ), S. 29 ), also acht Monate bevor Abraham Jacob wieder heiratete.
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Abb. 7 : Genealogie 2 : Eheallianzen der Familien Lipman und Levy
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Kassell und Abraham Jacob geschlossen wurde , waren alle Kinder ausgesteuert. Abraham Jacob besaß – vermutlich schon damals – ein großes Haus mit Pferdestall , Hof und Garten. Dieses Anwesen war ein soziales und religiöses Zentrum der jüdischen Gemeinde , in dem auch die Geschäfte mit nicht jüdischen Partnern abgeschlossen wurden. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte Sara Kassell ganz offensichtlich keine schlechte Partie gemacht.44 Da Abraham Jacob nur einen einzigen Sohn hatte , Marx Jacob , der 1756 starb , ist es nicht ausgeschlossen , dass Sara Kassell sich von Anfang an von ihrer Ehe mit Abraham Jacob gute Entwicklungsmöglichkeiten für ihren damals 14-jährigen Sohn Bernard versprochen hatte. Dieser baute sich mit Hilfe seines Stiefvaters sein eigenes Handelsgeschäft auf. 1766 heiratete er im Alter von 26 Jahren Fromette Levy , die Tochter des kurz vorher verstorbenen Vorstehers der jüdischen Gemeinde von Kriechingen , dem Hauptort der Grafschaft. Die Heirat erneuerte die Beziehungen zwischen zwei bereits verwandtschaftlich verbundenen Linien45 : Denn wenige Jahre zuvor hatte Fromettes Schwester Perle den Schwiegersohn von Abrahm Jacob , Ahron Cahen , geheiratet. Die Hochzeit von Fromette Levy und Bernard Lipman wurde 1766 mit großem Aufwand gefeiert. Unter dem größten Tumult der jungen Burschen wurde die Braut von Kriechingen nach Steinbiedersdorf geführt. Dabei wurden acht bis zehn Freudenschüsse abgefeuert , von denen einer einen jüdischen Jungen verletzte. Das „gantze Dorf “ wohnte dem Spektakel bei.46 Zum Zeitpunkt der Eheschließung war Bernard Lipman bereits ein vermögender Mann , der sich zu Recht Hoffnungen machen konnte , seinem Stiefvater , dessen einziger Sohn bereits gestorben war , auch im Amt des Vorstehers nachzufolgen. Die Ehe mit Fromette , der Tochter eines Vorstehers , verbesserte seine Chancen und brachte ihm einflussreiche verwandtschaftliche Beziehungen. Fromette hatte sechs Schwestern und einen Bruder. Ihr Bruder Feist Oury Levy war nach dem Tode seines Vaters Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Kriechingen geworden. Zwei ihrer Schwestern , Esther , die älteste , und Chinchen , die jüngste , hatten 1762 bzw. 1771 die beiden Brüder Isaac und Lazard Hesse aus Metzervisse geheiratet.47 Ihre Schwester Perle war in erster Ehe mit Ahron Cahen , dem Witwer von Shiva und Schwiegersohn von Abraham Jacob , verheiratet. Ahron Cahen 44 Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ), S. 215 ff. 45 Vgl. Gérard Delille : Remariages , mobilité sociale et construction de réseaux d’alliances en Europe Occidentale ( Xe–XVIIIe siècle ), in : Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien , hg. von Christophe Duhamelle / Jürgen Schlumbohm , Göttingen 2003 , S. 363–388. 46 Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ), S. 253. 47 Burguière / Lebrun : Vielfalt ( s. Anm. 7 ), S. 100 f. nennen solche Doppelhochzeiten „mariages remarquables“. Vgl. auch Takashi Iida : Wiederheiraten und Verwandtschaftsnetze auf dem unteilbaren Hof : Bauern , Büdner und Einlieger des brandenburgischen Amtes Alt-Ruppin im 18. Jahrhundert , in : Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien , hg. von Christophe Duhamelle / Jürgen Schlumbohm , Göttingen 2003 , S. 125–155.
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war mit seinem Schwiegervater Ausser Levy verwandt.48 In zweiter Ehe hatte Perle sich für Samson Meyer aus Ribeauvillé , den Sohn eines Vorstehers der jüdischen Gemeinde , entschieden , die Eheschließung aber mit Hilfe des Gerichtes gegen die Familie des Bräutigams erzwingen müssen.49 Vielleicht trugen die negativen Erfahrungen der Schwester bzw. Schwägerin Perle Levy mit der Familie ihres Bräutigams dazu bei , dass die Lipmans sich bei der Suche nach Heiratspartnern für ihre Kinder auch im Kreis der engeren Familie umsahen. Die soziale Endogamie der Familien der Gemeindevorsteher , die Meyer für Metz beobachten konnte , bestätigt sich auch in den hier beschriebenen Heiratsverbindungen : Durch Heiratsallianzen waren die Familien der Gemeindevorsteher Raphaël Lipman , Ausser Levy , Abraham Jacob , Bernard Lipman , Feist Oury Levy und Samson Meyer miteinander verbunden. Ein weiteres Heiratsmuster , das Meyer für Metz aufzeigen konnte , lässt sich in Steinbiedersdorf nur in abgeschwächter Form beobachten : die Bevorzugung von Gelehrten als Ehepartner der Töchter und Enkelinnen. Die Familien der Metzer Gemeindevorsteher ( Parnossen ) versuchten , Heiratsallianzen mit Rabbinerfamilien herzustellen. Angesichts des hohen Stellenwerts männlicher Gelehrsamkeit war dies Ausdruck der Frömmigkeit und des Prestiges. Darüber hinaus waren die Rabbiner von hoher praktischer Bedeutung als Richter und als geschäftliche Vermittler. Daran wird vielleicht auch Abraham Jacob gedacht haben , als er Steinbiedersdorf zum Sitz eines Rabbinats machte. Er selbst heiratete als alter Mann in vierter Ehe Hentla , die Tochter des Gelehrten Samuel Willstät. Für seine beiden Enkelinnen , Teille , die Tochter von Shiva , und Esther , die Tochter von Mardochec , hatte er Eheverträge ausgehandelt. Teille sollte mit Baruch Nauviller aus dem Elsass verheiratet werden , der in Abraham Jacobs Haus lernte und dort eine Wohnung bekommen sollte. Esther war Wolf Seligmann versprochen worden , der von der jüdischen Akademie in Fürth im Fränkischen kam und in Steinbiedersdorf als Schulmeister arbeitete. Die geplanten Heiraten dokumentieren einmal mehr den hohen Stellenwert männlicher Gelehrsamkeit in der jüdischen Gesellschaft , die auch Männern unterer Schichten sozialen Aufstieg ermöglichte.50
48 Ahron Cahen war offensichtlich ein Schwager oder Neffe seines Schwiegervaters und hatte mit diesem geschäftliche Kontakte. Die Verwandtschaftsverhältnisse werden in den Akten über einen Wucherprozess erwähnt , in den Ahrons Vater , der Kaufmann Jacob Cahen , verwickelt war ( AD Mos. Actes judiciaires B 11262 , Bailliage Sarreguemines : Procès contre Joseph Salomon et Jacob Cahen , juifs accusés d’ursure ). 49 Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ), S. 220 ff. Die wohlhabende Witwe Perle war selbst nach Bouquenom gefahren , um die Ehe zu verabreden. Es stellte sich aber kurz vor der Hochzeit heraus , dass sie schwanger war. Das war der Grund für den Konflikt mit der Familie ihres Bräutigams. 50 Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ), S. 232 ff.
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Bernard Lipman und Fromette Levy hatten neun Kinder , die zwischen 1767 und 1791 geboren wurden.51 Als in Frankreich 1791 die Begrenzungen für die Juden aufgehoben wurden , verließen die Lipmans Steinbiedersdorf , um sich in Metz niederzulassen. Wenig später folgte ihnen Lazard Hesse , der Fromettes Schwester Chinchen geheiratet hatte. Chinchen , Fromettes jüngste Schwester , war 1788 im Kindbett gestorben und hatte acht unversorgte Kinder hinterlassen. Edel , die zweitälteste Tochter der Lipmans , nahm die Stelle ihrer Tante ein. Sie wurde 1790 mit ihrem Onkel Lazard Hesse verheiratet.52 Für Bernard und Fromette Lipman , die neun Kinder hatten , war die Ehe ihrer Tochter mit dem Onkel möglicherweise von Vorteil , da eines der Kinder auf diese Weise versorgt war. Vielleicht war diese Ehe in naher Verwandtschaft auch ein Reflex auf die negativen Erfahrungen von Perle bei ihrer Heirat mit einem Mann aus dem weit entfernten Ribbeauvillé. Oder brachte die Französische Revolution ein Bedürfnis nach verwandtschaftlicher Nähe , anders gewendet : nach einem bekannten , wenn auch nicht häufig realisierten Heiratsmuster , hervor ?53 Die Lipmans stifteten mindestens noch eine weitere Verbindung im nahen Verwandtenkreis : 1800 verheirateten sie ihren Sohn Lipman mit Gittel , der jüngsten Tochter von Fromettes Bruder Feist Oury. Damit wurde die Allianz zwischen den Familien Lipman und Levy wiederholt. Nimmt man alle Beispiele zusammen , so fällt auf , dass die Levys in den Heiratsallianzen der Lipmans eine besondere Bedeutung hatten. Für die anderen Linien gilt das nicht in gleicher Weise. Es gibt lediglich einen Hinweis , dass Bernard Lipman die Kontakte zu seinen Stiefschwestern und Stiefbrüdern in Bouxwiller nicht ganz abgebrochen hatte : Oury , der viertälteste der neun Kinder von Fromette und Bernard Lipman wurde mit einer Cousine aus dieser Linie verheiratet. Darüber hinaus scheint die elsässische Verwandtschaft für Bernard Lipman keine große Bedeutung gehabt zu haben. Ähnliches gilt für die Beziehung zu den Erben des Abraham Jacob. Obwohl Abraham Jacob ein detailliertes Testament gemacht hatte , haben 51 Solange sie in Steinbiedersdorf wohnten , hatten sie Knecht und Magd. Zweimal standen Mägde der Lipmans wegen unehelicher Schwangerschaft vor Gericht. Dazu ausführlich Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ), S. 244 ff. ( Gelle ) und Ulbrich : Shulamit ( s. Anm. 1 ), S. 253 ff. ( Fromette Ahron ). 52 Edel und Lazard hatten 12 eigene Kinder. Alle diese Angaben habe ich den Unterlagen , die mir PierreAndré Meyer zur Verfügung gestellt hat , entnommen. Ob die Ehen im nahen Verwandtenkreis um 1800 wesentlich häufiger waren als früher – eine These die Sabean für die christliche Gesellschaft aufstellt – oder ob die Quellen besser sind , lässt sich nicht entscheiden. Ohnehin können aus mikrohistorischen Befunden dieser Art keine quantitativen , sondern nur qualitative Erkenntnisse gewonnen werden. 53 Es muss hier allerdings noch einmal betont werden , dass Verwandtschaft in den „klassischen“ demographischen Analysen nicht systematisch erfasst worden ist und alle diesbezüglichen Aussagen vorläufig sind. – Vgl. auch Marion Trévisi : Le mariage entre parents à La Roche-Guyon ( Vexin français ) au XVIIIe siècle : une étude de la perception du lien de parenté dans le cas des mariages avec dispense , in : Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien , hg. von Christophe Duhamelle / Jürgen Schlumbohm , Göttingen 2003 , S. 241–262.
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sich seine Erben , das heißt in diesem Fall : seine Brüder und ihre Familien und seine Enkel , zerstritten. Die erste , die einen Prozess anstrengte , war Hentle , Abraham Jacobs vierte und letzte Frau. Sie behauptete , ihr Mann habe ihr während der Ehe ein Teil des Erbes versprochen bzw. Schenkungen gemacht , und sah sich nun betrogen. Der nächste Prozess entstand , als Abraham Jacobs Enkelin Teille starb , ohne Erben zu hinterlassen. Zwischen ihrem Mann und den Seitenverwandten des Abraham Jacob kam es zum Streit um das Erbe , vor allem um das Haus , das beide Parteien für sich beanspruchten.54 Bernard Lipman scheint sich in diese Affäre nicht eingemischt zu haben , jedenfalls hatte er keine Forderungen zu stellen. Auch zur Familie seiner Mutter , den Goldschmidts aus Frankfurt , scheinen alle Beziehungen abgerissen zu sein. Für Bernard Lipman wurde die eigene Familie und die seiner Frau zu einem wichtigen Bezugspunkt im Leben. Vielleicht ist dies auch einer der Gründe , warum er auch die Heiratsallianzen entsprechend ausrichtete. III. Mikro-Perspektiven und Makro-Modelle
Aus der Geschichte der Lipmans wird deutlich , dass es innerhalb der gleichen Region und in der gleichen sozialen Schicht eine Vielzahl von Heiratsmustern gegeben hat , die in bestimmten Situationen bedeutend wurden. Dabei scheinen neben familiären Krisensituationen – wie dem Tod von Chinchen Levy bei der Geburt des neunten Kindes – Erfahrungen und Traditionen nicht zu unterschätzende Faktoren zu sein. Die Jacobs tendierten ganz offensichtlich eher dazu , außerhalb der engeren Verwandtschaft zu heiraten und auch überregionale Heiratsallianzen in die Wege zu leiten ( Teille , Esther , Hentla , Sara ). Raphaël Lipman verheiratete seine Kinder außerhalb der engeren Verwandtschaft , aber in seiner Nähe. Falls er die Hoffnung hatte , damit Konkurrenz vermeiden zu können , so hatte er sich zumindest in bezug auf seinen Schwiegersohn Hirztel Netter getäuscht. Hirtzel Netter wollte sich offensichtlich nicht in das entstehende Gewebe von Beziehungen einbinden lassen , das die reichen Bouxweiler Familien miteinander verband , und ging eigene Wege. Und die Levys ? Sie schlossen mehrere Ehen im Verwandtschaftszusammenhang. Dabei verheirateten sie ihre Kinder Edel ( Onkel-Nichte ) und Oury ( Cousin-Cousine ) auch in sehr nahen Verhältnissen , die sich für die jüdische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ansonsten kaum nachweisen lassen. Beim derzeitigen Forschungsstand lässt sich aus diesem Befund nicht schließen , dass es diese Ehen anderswo nicht gegeben hätte. Wichtiger als der quantitative Befund ist – und dies macht die Ehe zwischen Edel und Lazard deutlich – die Möglichkeit , eine solche Ehe einzugehen. Sie konnte dazu dienen , das Vermögen zu54 AD Mos. Actes judiciaires B 11059 : Acta in Sachen Baruch Levy von Steinbiedersdorf contra die Erben des Abraham Jacob und Vormünder allda , 1774.
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sammenzuhalten bzw. zusammenzuführen , die Betriebsgeheimnisse in der Familie zu bewahren und Vertrauen als wichtiges Kapital in Geschäftsbeziehungen ungeteilt auf die nächste Generation zu übertragen. Die Ehe von Lazard und Edel weist jedoch noch in eine ganz andere Richtung : Wenn wir auch keine Aussage darüber haben , warum die Lipmans ihre Tochter Edel mit ihrem Onkel verheirateten und ob Edel selbst – die wahrscheinlich noch keine 20 Jahre alt war – die Aufgabe , die acht Kinder ihrer im Kindbett verstorbenen Tante zu erziehen , gerne übernahm , so erscheint hier die Onkel-Nichte-Ehe in Hinblick auf die Familienökonomie als ein geeignetes Mittel , eine durch den Tod der Mutter verursachte Krisensituation zu meistern. Ihr Beispiel macht deutlich , dass Verwandtenehen nicht nur aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus geschlossen wurden , sondern dass sie Teil eines zum Überleben notwendigen Krisenmanagements sein konnten. Was dies für Edel bedeutete , ob sie eine Möglichkeit gehabt hätte , sich der Erziehungsaufgabe und der Ehe zu widersetzen , bleibt unklar. Eines aber lässt die mikrohistorische Spurensuche deutlich werden : Nach der Eheschließung konnte Edel weiterhin auf die Unterstützung durch ihre Eltern rechnen. Dafür spricht jedenfalls , dass sie wenige Jahre nach der Hochzeit mit ihrer großen Familie – neben den acht Kindern aus erster Ehe waren noch 12 eigene Kinder großzuziehen – nach Metz zog und im gleichen Haus wie ihre Eltern wohnte. Die Frage , ob die Levys eine Ausnahme sind , lässt sich mit einem mikrohistorischen Zugang nicht beantworten ; vielmehr müssten dazu die Eheverträge , von denen mehr als 7. 000 für das deutsch-französische Grenzgebiet , für Elsass und Lothringen im 18. Jahrhundert überliefert sind , systematisch mit quantitativen Methoden ausgewertet werden. Nachdem neuere Forschungen nachdrücklich auf die Bedeutung der Verwandtschaft als eine die Gesellschaft strukturierende Kategorie hingewiesen haben , müsste sie als Kategorie in einer quantitativen Untersuchung berücksichtigt werden , was bislang bestenfalls am Rande geschehen ist. Der mikrohistorische Zugang wirft andere Fragen auf : Was bedeutete es für die Mitglieder der Familie , innerhalb eines Verwandtschaftsverbandes verheiratet zu werden ? In welchen Situationen entschieden sich die Beteiligten für eine Ehe im Nah- oder im Fernbereich ? Was bedeutete es , mehrere Stunden , wenn nicht Tage von der Herkunftsfamilie entfernt verheiratet zu werden ? Bestand der Familienzusammenhang fort , wie funktionierte die Integration in die neue Umgebung , und welchen Stellenwert hatte hier das Geschlecht ? Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern ergibt sich schon daraus , dass vor allem Frauen der ehebedingten Migration unterworfen waren. Dies bedeutet zugleich , dass Männer , die von außen in eine Gemeinde einheirateten , eine Minderheit waren. Wie wurde dies verarbeitet ? Unter welchen Bedingungen – in welchem Muster – wurden die weiblichen Verwandten bevorzugt , und was bedeutete die starke Orientierung auf die Familie der Frau – wie sie im Fall Lipman-Levy deutlich
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wurde – für die Männer , für die innerehelichen und innerfamiliären Machtverhältnisse ? Hat das zufällig ausgewählte Beispiel wirklich nur Ausnahmen zutage gefördert ? In Hinblick auf die vorgeschlagene quantitative Analyse sämtlicher Heiratsverträge schärft der mikrohistorische Zugang den Blick. Wieweit lässt sich aus diesen Verträgen mit ihren detaillierten Regelungen auf das tatsächliche Verhalten schließen ? Wie erwähnt , enthalten die Kontrakte häufig den Hinweis , dass die Jungvermählten noch zwei oder drei Jahre im Haus der Eltern oder Schwiegereltern wohnen und dort eventuell sogar ernährt werden konnten. Ist dies ein Indiz dafür , dass in bestimmten Schichten der jüdischen Gesellschaft Eheschließung und Haushaltsgründung auseinander fielen ? Oder haben die jüdischen Familien , die doch ausnahmslos restriktiven Ansiedlungsbedingungen unterworfen waren , mit dem vertraglich fixierten Hinweis , dass zunächst kein neuer Haushalt gegründet werde , die Beschränkungen umgehen wollen , denen sie im Hinblick auf die Niederlassung ausgesetzt waren ? Ist nicht der Umstand , dass Abraham Jacob 1754 zuerst seine Tochter verheiratete , bevor er selbst die zweite Ehe einging , ein Hinweis darauf , dass man klare Verhältnisse schaffen wollte ? Schließt das Versprechen , die Kinder im eigenen Haus aufzunehmen , aus , dass man intern getrennte Haushalte führte ? Solche Fragen können nur von der Mikroebene aus beantwortet werden. Gerade für die Geschichte der jüdischen Minderheit , die in der Diskussion um das ( Nordwest- )Europäische Heiratsmuster keine Beachtung gefunden hat , kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Das Beispiel von Abraham Jacob und Sarah Kassell , die 1754 beide die zweite Ehe eingingen , erinnert zugleich an den hohen Stellenwert , den die Wiederverheiratung für den Aufbau eines Systems von Heiratsallianzen hatte. Dadurch wurden Verwandtschaftsbeziehungen gestiftet , die nach unserem heutigen Verständnis von Verwandtschaft gar nicht mit dieser Kategorie zu erfassen sind. Deswegen werden solche Beziehungen auch in genealogischen Arbeiten , die eine wichtige Bereicherung der historischen Familienforschung darstellen können , nicht als solche verzeichnet : In der Familie Abraham Jacobs spielt Bernard Lipman unter genealogischen Aspekten keine Rolle. Wenn man dagegen die sozialen und kulturellen Bedeutungen der Eheschließung untersuchen will , lässt sich gerade an dem durch die Ehe begründeten verwandtschaftlichen Verhältnis zwischen den beiden Parnossen von Steinbiedersdorf ein Hinweis auf ein Heiratsmuster finden , dessen Stellenwert durch die mikrohistorische Rekonstruktion von Lebensgeschichten sichtbar gemacht werden kann.
Von der Amazone zur Mutter Courage. Zu den Lebenserinnerungen der Regula Engel 1821 , als die Debatte über die „Geschlechtscharaktere“ von Mann und Frau voll im Gange war , wurde in Zürich die Lebensbeschreibung der Wittwe des Obrist Florian Engel 1 veröffentlicht. Regula Engel schildert darin ihr Leben als Soldatenfrau an der Seite ihres Mannes Florian Engel , mit dem sie Freud und Leid des Soldatenlebens in der Zeit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege geteilt hatte. Ihr Leben nahm eine tragische Wende , als sie in der Schlacht von Waterloo , in der sie selbst gekämpft hatte und schwer verletzt worden war , ihren Mann und zwei ihrer Söhne verlor. Armut , die vergebliche Suche nach ihren Kindern , soweit sie den Krieg überlebt hatten , und die Versuche , eine ihr bzw. ihrem Mann zustehende Rente zu erhalten , prägten ihr Witwendasein. Hauptsächlich dank der Unterstützung von Landsleuten , die sie überall auf ihren Reisen traf , der Beziehungen zu Angehörigen der ehemaligen politischen und militärischen Elite , die sie während ihrer Ehe geknüpft hatte , und der religiösen Netzwerke , in die die fromme , reformierte Schweizerin eingebunden war , konnte sie als Witwe überleben und einen Teil ihrer Pläne umsetzen. Ihren Lebensabend verbrachte sie im Züricher Spital , wo sie 1853 im Alter von 92 Jahren starb. Nicht nur der Titel , auch der Text , dessen größter Teil sich auf die Zeit nach dem Tod ihres Mannes bezieht , verweisen auf die Witwenschaft als zentrales Thema der Lebenserinnerungen der Regula Engel und auf den möglichen Anlass ihres Schreibens : Sie wollte auf ihr Schicksal als unversorgte Soldatenwitwe aufmerksam machen und mit dem Schreiben ihrer Lebensgeschichte etwas Geld verdienen , um nicht nur von der Mildtätigkeit anderer abhängen zu müssen. Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung einer solchen Lebensgeschichte war gut gewählt. Memoiren hatten Konjunktur , nicht nur in Frankreich , wo die Erfahrung des Umbruchs zahlreiche Menschen zum Schreiben oder Lesen von Autobiographien , Memoiren oder Erinnerungen bewogen hatte. Der Text fand sein Publikum und die Autorin Anerkennung , so dass ihre Erinnerungen bereits 1825 in einer zweiten „verbesserten“ Auflage erschienen.2 1 Zu diesem Text bereite ich einen längeren Aufsatz vor , in dem die Einzelnachweise detailliert aufgeführt werden. Für die Anregung , mich mit diesem Text zu befassen , möchte ich Stefan Marti herzlich danken. 2 Die schweizerische Amazone. Abentheur-Reisen und Kriegszüge einer Schweizerin durch Frankreich , die Niederlande , Ägypten , Spanien , Portugall u. Deutschland , mit der französischen Armee , unter Napoleon. Von ihr selbst beschrieben und herausgegeben von einem ihrer Anverwandten , 2. verbesserte Auflage ( Huber & Comp. ), St. Gallen 1825 ( im Folgenden abgekürzt mit 1825 ).
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Diese bildet mit einer Ausnahme die Grundlage für eine Reihe späterer Neuauflagen , in denen der Text immer wieder neu erfunden wurde. Durch Kürzungen , das Hinzufügen von Vorworten oder Titelvarianten veränderten die jeweiligen Herausgeber den Lektürevertrag , um einen Begriff und Gedanken von Philippe Lejeune aufzugreifen.3 Was damit gemeint ist , wird deutlich , wenn man die verschiedenen Ausgaben nebeneinander liest , beim Textvergleich nicht nur den Inhalt , sondern auch die Zeichensetzung und die Anmerkungen berücksichtigt und Titel , Vorworte und die Aufmachung der einzelnen Bände sowie das anvisierte Publikum in die Analyse einbezieht. Sechs der acht Auflagen , die ich ermitteln konnte , habe ich mir für diesen Beitrag genauer angeschaut , um zu zeigen , in welcher Weise Herausgeber- und Verlagsinteressen , ob sie nun finanzieller und / oder wissenschaftlicher oder moralisch-didaktischer Natur sind , die Gestaltung und Rezeption eines Textes beeinflussen können : Sie sind 1825 , 1904 , 1914 , 1977 , 1985 und 1992 erschienen und spiegeln in eindrücklicher Weise Vorstellungen über die Geschlechterordnung ihrer Zeit wider. Die Quellenlage ist Traum und Alptraum zugleich. Traum , weil sich hier am Einzelfall ein Problem , das in der autobiographischen Literatur weit verbreitet ist , in einer zeitlich langen Reihe zeigen lässt ; Alptraum , weil sie die miserable Textgrundlage , mit der ausgerechnet die Selbstzeugnissforschung zumindest im deutschsprachigen Raum arbeiten muss , so krass vor Augen führt. Die Geschichte der Regula Engel beginnt mit der Erstausgabe , die 1821 ohne Nennung eines Verlages unter dem Titel Lebensbeschreibung der Witwe des Obrist Florian Engel , von Langwies in Bündten , geb. Egli , von Fluntern , bey Zürich erschienen ist.4 Es handelt sich um „ein Broschürchen von neun mal siebzehn Zentimetern , 174 eng bedruckte Seiten im billig ( Block-print-verzierten ) Umschlag“.5 Das Buch fand schnell reißenden Absatz , die Autorin für eine gewisse Zeit Anerkennung und Auskommen. Beides versuchte Regula Engel zu nutzen , um in Frankreich eine Auszahlung der ausstehenden Ansprüche ihres verstorbenen Mannes durchzusetzen , doch sie hatte keinen Erfolg. Zudem musste sie erfahren , dass man vom Bücherschreiben nicht reich wird und dass auch die Spendenbereitschaft ihrer Mitbürger nach einer gewissen Zeit nachließ. Sie war auf Armenunterstützung angewiesen , und diese wurde ihr von der Stadt Zürich , der sie sich verbunden fühlte , versagt. Regula Engel sollte in die Heimatgemeinde ihres Mannes abgeschoben werden. In ihrer Not erinnerte die Autorin sich daran , dass sie 1817 in New York über mehrere Monate mit den Herren Wetter und Fehr aus St. Gallen am gleichen Tisch gegessen hatte. Diese Beziehung wollte sie nutzen. Sie machte sich nach St. Gallen auf und bot 3 Philippe Lejeune : Der autobiographische Pakt , Frankfurt / M. 1994 ( frz. zuerst 1975 ), S. 419. 4 Lebensbeschreibung der Wittwe des Obrist Florian Engel , von Langwies , in Bündten , geborne Egli , von Fluntern , bey Zürich , ohne Verlag , Zürich 1821. 5 Ursula Isler : Frauen aus Zürich , Zürich 1991 , S. 116.
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Johannes Fehr die „Übersetzung“ ihres Werkes zum Verkauf an. Der St. Galler Buchhändler ging auf den Handel ein , bezahlte ihr soviel , dass sie in den kommenden Monaten versorgt war , und versprach , das Werk in einer Auflage von 1. 000 Exemplaren drucken zu lassen. An der Überarbeitung ihres Werkes , das noch 1825 in einer prächtigen Aufmachung erschien , war Regula Engel beteiligt. Die Freude über ihr schön eingebundenes Buch und ihre neu gewonnene Lebensqualität entschädigte sie offensichtlich für den hohen Preis , den sie zu zahlen hatte. Ihr Name verschwand vom Titelblatt. Mit dem Weglassen des Eigennamens war die „einzige unzweifelhaft außertextuelle Markierung“ verschwunden , „die auf eine tatsächliche Person verweist , die dadurch verlangt , man möge ihr in letzter Instanz die Verantwortung für die Äußerung des gesamten geschriebenen Textes zuweisen“.6 Aus der Witwe , die durch den Namen ihres Mannes , ihren Vaternamen und die Angaben der jeweiligen Herkunftsorte eindeutig identifizierbar war , wurde eine namen- , wenn auch nicht heimatlose Amazone. Damit lässt sich das Werk einer Memoirenproduktion zuordnen , in der Frauen mehr als Protagonistinnen denn als Autorinnen eine Rolle spielen. Der Akzent der Lebensbeschreibung der Regula Engel wurde vom Autobiographischen ins Romanhafte verschoben. Ihre Bemerkungen über ihr Leben als Soldatin , ihre zum Teil sehr eigenen Gedanken über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und die Ordnung in der Ehe verlieren damit ihren Bezugspunkt im realen Leben , werden Unterhaltungsliteratur , „Causeries à batons rompus“ wie Fiechter , der Herausgeber der französischen Übersetzung , meint.7 Durch die äußere Gestaltung des Bandes wurde dieser Eindruck noch verstärkt. Eine schöne Lithographie auf der Innenseite des Umschlags , die das Kind Regula in einer Schweizer Landschaft bei der Begegnung mit einem Kapuzinerpater zeigt , gibt einer Szene im Leben der Regula Engel Bedeutung , die der Revisor in der ersten Auflage folgendermaßen beschreibt : „Wer die Verfasserinn , so wie ich , in der Jugend gekannt hat , der muss gestehen , dass man nicht leicht ein zärteres , schwächeres Kind gesehen hat , als sie war. Zwar voller Geist und Leben , aber von solch einem zarten Nervensystem , dass sie durch den geringsten Gegenstand erschüttert wurde.“8
6 Lejeune : Pakt ( s. Anm. 3 ), S. 23. 7 L ’Amazone de Napoléon , mémoires de Régula Engel. Texte traduit et présenté par Jean-Jacques Fiechter. Avant-propos de Ghislain de Diesbach , ( Olivier Orban ) Paris 1985 , S. 13 ( im Folgenden abgekürzt mit 1985 ). 8 Lebensbeschreibung der Wittwe des Obrist Florian Engel von Langwies , in Bündten , geborener Egli von Fluntern , bey Zürich , Enthaltend die Geschichte ihres Herkommens , Jugendschicksale , Verheurathung und weitläufige Reisen im Gefolge der französischen Armeen durch ganz Frankreich , die Niederlande , Italien , Spanien , Portugall , die Oesterreischichen und Preußischen Staaten , Deutschland und besonders auch der Expedition in Egypten und einer späteren Reise nach Amerika. Von ihr selbst beschrieben , und von ei-
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Das zu dieser Passage passende Bild an zentraler Stelle zu platzieren , deutet auf die Absicht des Verlegers , bei dem anvisierten Publikum Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Autorin und Freude über ihre Naivität aufkommen zu lassen. Doch nicht nur der Titel und die Aufmachung , auch der Text wurde in diesem Sinne verändert. Die Änderungen betrafen vor allem die politischen , religiösen und geschlechtergeschichtlichen Kontexte der Geschichte. Dazu seien wenigstens einige Beispiele erwähnt : Im dritten Abschnitt ihrer Lebensbeschreibung erzählt Regula Engel , dass ihr Mann von den Jacobinern verhaftet worden sei. Sie ließ eine Petition schreiben und überbrachte sie Robespierre. Heißt es in der Erstauflage noch ganz lakonisch : „Ich überreichte meine Bittschrift und fiel ihm zu Füßen“,9 so wird daraus in der zweiten Auflage : „Hier fiel ich , diesselbe mit zitternden Händen überreichend , dem grausamen , argusähnlichen-* ) Unhold zu Füßen , denn ach ! hier glaubte ich diese nur gottgebührende , demüthige Stellung zum erstenmale einem Menschen erweisen zu müssen , in dessen Hand Leben und Tod meines Gatten , des Ernährers und Vaters meiner Kinder lag.“
„Argusähnlich“ wird dem ungebildeten Leser in der Fußnote mit der Bemerkung erklärt „Robespierre pflegte gewöhnlich eine grüne Brille zu tragen“.10 „Flunkern“ nennen die Herausgeber der modernen Ausgaben dieses Verfahren in Bezug auf ähnliche Textstellen und fügen entschuldigend die Frage an „Kann man Frau Engel , als ‚miles gloriosa‘ , indessen übelnehmen , wenn sie ihrem Bericht derart einige Glanzlichter aufsetzte ?“11 Dabei vergessen sie , dass die „Schweizer Amazone“ in der zweiten Auflage nicht als „miles gloriosa“, sondern als nicht ernstzunehmende Exzentrikerin , die schon als Kind ein zartes Nervenkostüm hatte , vorgeführt wird. Dies machen vor allem die religionsbezogenen Passagen deutlich , die zum großen Teil ebenfalls erst in der zweiten Auflage erscheinen. Zu den eindrücklichsten Bemerkungen gehören jene , in denen Regula Engel ihre Flucht aus dem Elternhaus erklärt : „Es war der Wille des Schicksals , es war der Wille Gottes ; er brauchte diese böse Stiefmutter als Werkzeug , um mich auf die Bahn zu leiten , die ich nach seinem weisen , obschon mir jetzt noch unerforschlichen Willen gehen sollte.“ So eindeutig ironisierend wie bei Robespierre mit der grünen Brille und der bösen Stiefmutter als Werkzeug waren die Änderungen nicht immer. Manchmal begnügte man sich damit , die Interpunknem älteren Verwandten revidiert und mit Anmerkungen begleitet. Neu herausgegeben von Dr. phil. S.D. Steinberg , ( Verlag von Rascher und Co. ) 1914 , S. 28 ( im Folgenden abgekürzt mit 1914 ). 9 1914 , S. 45. 10 1825 , S. 42. Der Text , nicht aber die Anmerkung wurde in die neueren Auflagen übernommen. 11 Frau Oberst Engel. Von Cairo bis New York , von Elba bis Waterloo – Memoiren einer Amazone aus Napoleonischer Zeit , ( Artemis Verlag ) Zürich / München 1977 , S. 271.
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tion zu ändern. Dies trifft etwa auf jene Passage zu , in der Regula Engel den Heldenkult ihrer Zeit kritisierte und bemerkte : „Auch predigen sie sich immer vor , was für ein schöner Tod es sey für das Vaterland zu sterben , und doch , wenn in einer Schlacht 2000 den schönen Tod gestorben sind , so sagt man , es seyen 500 gewesen , und betriegt also 1500 um den ihnen gebührenden Ruhm , ist das nicht höchst ungerecht ? Oh ihr bösen Männer !“12
Das Ausrufezeichen hinter „Oh ihr bösen Männer !“ wurde in der zweiten Auflage durch ein Fragezeichen ersetzt. Damit wird auch deutlich , wie sorgfältig jene Passagen revidiert wurden , in denen Bemerkungen zur Geschlechterordnung standen. Gelegentlich gestattete man der Autorin jedoch einen „Ausreißer“, so etwa in jener kleinen Szene , in der sie vom Wunsch ihres Mannes schreibt , seine Frau bei sich zu haben : „Zu dieser so geheißenen Armee von Engelland nun mußte auch das 4. leichte Infanterie=Regiment marschiren , und da wollte auch mein Mann sein liebes Weibchen wieder bey sich haben , obgleich ich ein böser Ribel war , und ihm nicht unterthänig seyn wollte , er auch oft nach meiner Pfeife tanzen mußte , dazu war aber der brave Mann immer geduldig , und das machte ihn mir desto lieber. So sollte es eben in allen Ehen seyn : wenn die Frau etwas begehrt oder thut , so sollte der Mann nie widersprechen , so wär Segen in der Haushaltung und Friede im Lande.“13
Im Kontext solcher Passagen , die eine vorsichtige Gesellschaftskritik artikulieren , wird die Veränderung des „autobiographischen Paktes“ bedeutsam. Die Neufassung der Lebenserinnerungen der Regula Engel erhält ihre Authentizität nicht mehr aus der Nennung des Autorinnennamens , sondern durch die Unterschrift Hurters unter der Lithographie , mit der die Ausgabe geschmückt war. Zumindest die Zeitgenossen wussten damit etwas anzufangen. Der Name Hurter und die Nennung eines nahen Verwandten als Herausgeber können als Gewähr dafür gesehen werden , dass Regula Engel sich innerhalb der in ihrer Zeit propagierten Gesellschaftsordnung bewegte und dass ihr Leben und Schreiben unter männlicher Kontrolle standen. Damit waren gleich mehrere Probleme gelöst. Ihr außergewöhnliches Leben und ihre Leistungen im militärischen Bereich standen zwar nicht im Einklang mit bürgerlichen Handlungsmodellen für Frauen , aber da sie eingebunden blieben in ein differenzorientiertes , hierarchisches Geschlechterkonzept eigneten sie sich nicht als Ansatzpunkt für irgendwelche emanzipatorischen Gedanken. Im Gegenteil : Man konnte diesen vergnüglichen Text lesen , um sich klar zu machen , wie wichtig es ist , dass Frauen unter männlicher Auf12 1914 , S. 87. 13 1914 , S. 49.
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sicht stehen. Auch die Spannung zwischen weiblicher Geschlechtsrolle und Autorinnenschaft war auf diese Weise gelöst : Wie andere Frauen durfte auch Regula Engel schreiben und damit zu ihrem Lebensunterhalt beitragen. Doch sollte ihr , auch dieses Schicksal teilt sie mit anderen Autorinnen des 19. Jahrhunderts , die Anerkennung als Autorin versagt bleiben. Auf den ersten Blick könnte man meinen , dass ihr diese in der dritten Auflage ihrer Lebensbeschreibung , die Pfarrer Fritz Bär 1904 besorgte , wiedergegeben wurde. Zum ersten Mal erscheint ihr eigener Name im Titel. Der Eindruck der Authentizität wird verstärkt durch einen Kupferstich , der aus der Ausgabe des 1828 erschienenen zweiten Teils der Memoiren übernommen worden war. Er zeigt eine Frau mit einer Feder in der Hand. Um alle Zweifel zu beseitigen , enthält die Bildunterschrift noch einmal alle wichtigen biographischen Daten. Damit war der autobiographische Pakt wiederhergestellt. Aber Pfarrer Bär hatte einen neuen Text erfunden. Mit seiner Ausgabe beabsichtigte er , das Leben der Regula zum Vorbild für andere Frauen zu stilisieren. Die Darstellung eines solchen Lebens , die nicht wie eine Geschichte , sondern geradezu wie ein Roman klinge , verdiene es , so schreibt er in seinem Vorwort , „der Vergessenheit entrissen und einem Geschlechte , das arm ist an großen Erlebnissen , vorgehalten zu werden , wobei die ursprüngliche Form der Darstellung gewahrt geblieben ist und nur notwendige Kürzungen vorgenommen worden sind.“14 Diese „notwendigen Kürzungen“ waren allerdings so massiv , dass einzelne Aussagen einen ganz anderen Sinn erhielten. Viele Szenen aus dem Soldatenleben fielen dem Rotstift zum Opfer , so dass das Gewicht der Darstellung zugunsten jener Passagen verschoben wurde , in denen Regula ihre weiblichen Tugenden unter Beweis stellte : Mutterschaft , Gattenliebe und Fürsorglichkeit für andere nahmen ungleich mehr Raum ein als die Schilderung der Schlachten. Die Eingriffe in den Text waren so massiv , dass kurz nach dem Erscheinen dieser Auflage eine Diskussion darüber entbrannte , ob die Memoiren der Regula überhaupt authentisch seien. Zehn Jahre später legte S.D. Steinberg eine „wörtlich und orthographisch genaue Widergabe“ der ersten Auflage von 1821 vor , doch fand dieser Text wesentlich weniger Beachtung als die 1825 erschienene zweite „verbesserte“ Auflage , an der sich die vier Auflagen orientierten , die seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgegeben wurden. Die Neuentdeckung begann 1977 , als der Artemis Verlag Frau Oberst Engel herausgab. Während der Titel und der Wiederabdruck des Kupferstichs mit dem Bild 14 Die Schweizerische Amazone. Abentheuer , Reisen u. Kriegszüge der Frau Oberst Regula Engel von Langwies ( Graubünden ) geb. Egli von Fluntern-Zürich ( 1761–1853 ) durch Frankreich , die Niederlande , Egypten , Spanien , Portugal und Deutschland mit der französischen Armee unter Napoleon I. Von ihr selbst beschrieben. Mit einem Kunstdruckbild und Anhang herausgegeben von Fritz Bär , Pfarrer in Castiel , 3. Aufl. ( Buchdruckerei J. Walt ) Schiers [ 1904 ] o.P.
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der schreibenden Autorin deutliche Entlehnungen von Pfarrer Bär ( 1904 ) erkennen lassen , wurde der Text der Ausgabe von 1825 übernommen , ergänzt um einige Passagen aus dem 1828 erschienenen zweiten Teil der Memoiren. Aus diesem Gemisch ließ sich eine „helvetische Mutter Courage“ konstruieren , an der selbst Feministinnen der 70er Jahre Gefallen finden konnten : Die resolute Regula , die den Kindersegen mit ähnlichem „Gleichmut annimmt wie die anderen Launen der Fortuna“ ( wobei unter „Fortuna“ Napoleon Bonaparte zu verstehen sei ), wird als „eine Frau aus dem sogenannten Volke“ vorgestellt , die „ungeschminkt , humorvoll und träf “ ihre Erlebnisse aufschreibt. Dass der Text von einem Verwandten bearbeitet , mit einem Vorwort versehen und herausgegeben worden war , erfährt man nur andeutungsweise. Sein Vorwort wird als „durchaus belanglos“ hingestellt , es biete „nur eine Art Zusammenfassung der Lebensgeschichte“. Keine Lektürehilfe bekommen die LeserInnen bezüglich der Textpassagen , die auf ein pietistisches Umfeld der Autorin verweisen. Religion war als Thema offensichtlich nicht „in“. Auch Armut , Krankheit , Witwenschaft passen nicht zur Konstruktion der starken Frau und den mutmaßlichen Interessen der erwarteten LeserInnenschaft. In der französischen Ausgabe , die acht Jahre später erschien , ist die Gewichtung noch einmal ganz anders. Schon der Titel verweist auf das Umfeld Napoleons und damit auf andere Rezeptionskontexte als die schweizerische Ausgabe. Der Übersetzer Jean-Jacques Fiechter hat sich große Mühe gegeben , die Authentizität der Autorin und ihrer Lebensgeschichte zu beweisen. Er hält das Schicksal der Regula Engel für exemplarisch für die 100. 000 Überlebenden der Revolution und der Napoleonischen Kriege und verweist zu Recht darauf , dass der referentielle Rahmen angesichts der vielen Überlebenden nicht frei erfunden sein könne. Um letzte Zweifel zu beseitigen , bat er einen befreundeten Psychiater und Schriftsteller um eine Diagnose. Diesem kam die Geschichte der Regula Engel wenig glaubwürdig vor , und er bescheinigte der Autorin eine leichte Form der Schizophrenie.15 Die Frage , warum das – vermutlich dominant männliche – Lesepublikum zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Freude daran hatte , die Texte einer schizophrenen Frau zu lesen , kam ihm bedauerlicherweise ebenso wenig in den Sinn wie die , wessen und welchen Text er las. Hier zeigen sich einmal mehr die Langzeitwirkungen der Debatten um die „Geschlechtscharaktere“, die Karin Hausen 1976 mit ihrem wegweisenden Aufsatz zum Forschungsthema gemacht hat.16
15 1985 , S. 259. 16 Karin Hausen : Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben , in : Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen , hg. von Werner Conze , Stuttgart 1976 , S. 363–393.
Der Untergrombacher Bundschuh 1502 „Anno 1502 erhub sich durch zwei unruhige Köpfe in dem Dorffe Unter-Grünbach , im Bisthum Speyer gelegen , ein Aufruhr , und vermehrten sich die Rebellen bald auf 7000 Mann. Ihr Bund hieß der Bundschuh , und jeder von ihnen musste täglich 5 Pater noster beten. Sie haben gesucht , von dem Geitz derer Geistlichen und von der Grausamkeit des Adels sich zu befreyen , welche sie alle erschlagen , und die Unterthanen in Freyheit setzen wollten , allein ehe diese Unruhe recht ausbrach , wurde es entdeckt , weil sie solches in der Beichte offenbaret hatten , daher die Häupter dieser Rebellion wegen geköpfft und die andern zu Gehorsam gebracht worden.“1
Diese Textstelle aus Zedlers Universallexikon ist eine von vielen Varianten , in denen die Geschichte des Bundschuhs von Untergrombach erzählt wird. Authentisch ist sie sicher nicht , denn die Quellen lassen eine Rekonstruktion dessen , was sich 1502 in Untergrombach abgespielt hat , nicht zu.2 Aus diesem Grunde werde ich darauf verzichten , einen systematischen Überblick über Anlass , Ursachen , Programm , geplanten Verlauf , Träger , Ziele und Folgen der Verschwörung zu geben.3 Stattdessen werde ich mich kritisch mit der Überlieferung zum Bundschuh von Untergrombach befassen und nach der Wahrnehmung und Verarbeitung der Ereignisse im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des geplanten Aufstands fragen. Dabei konzentriere ich mich auf die von Albert Rosenkranz publizierte Dokumentation zum Bundschuh von Untergrombach.4 Die 31 von Rosenkranz edierten Quellen lassen sich in drei Gruppen unterteilen : Amtliches Schriftgut aus dem Jahr 1502 , das in direktem Zusammenhang mit der Bundschuhverschwörung des Frühsommers 1502 steht ( 1 ),5 amtliches Schriftgut aus späterer Zeit , in dem der Bundschuh aus räumlicher Nähe rückblickend thematisiert wird 1 Johann Heinrich Zedler : Großes vollständiges Universallexikon , 1733 , ND Graz 1961 , Bd. 3 , Sp. 783. 2 Auf diese Problematik hat zuletzt mit Nachdruck hingewiesen Guy P. Marchal : Bundschuh und schweizerische Eidgenossenschaft. Des Johann Trithemius Bericht über den Untergrombacher Bundschuh und seine wundersamen Folgen , in : Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 52 ( 3 / 2002 ), S. 341– 351. Marchal kündigt darin zudem einen Aufsatz an zum Thema : Der Rosenkranz’sche Bundschuh. Quellenkritische Reflexion zur Ereignisgeschichte aus inquisitorischen Verfahren. 3 Hier sei verwiesen auf die Darstellung von Albert Rosenkranz : Der Bundschuh. Die Erhebungen des südwestdeutschen Bauernstandes in den Jahren 1493–1517 , 2 Bde., Heidelberg 1927 , Bd. 1 : Darstellung , S. 137–250 ; Günter Franz : Der deutsche Bauernkrieg , Darmstadt 111977 , S. 62–68 ; und zuletzt Thomas Adam : Joß Fritz – das verborgene Feuer der Revolution. Bundschuhbewegung und Bauernkrieg am Oberrhein im frühen 16. Jahrhundert , Ubstadt-Weier 2002. 4 Rosenkranz : Bundschuh ( s. Anm. 3 ), Bd. 2 : Quellen , Kap. 2 : Der Bundschuh zu Untergrombach 1502 , S. 89–121. Zwar wird auch in späteren Quellen noch wiederholt auf den Bundschuh von 1502 rekurriert , doch können von diesen Aussagen nur bedingt Rückschlüsse auf die Ereignisse von 1502 gemacht werden. Im Kontext einer Erfahrungs- resp. Wahrnehmungsgeschichte wäre allerdings der Frage , welche Bedeutung der Bundschuh von 1502 für die Bildung einer Aufstandstradition hatte , noch einmal gesondert nachzugehen. 5 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 4–29.
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( 2 )6 und schließlich Chroniken , die in räumlich und zeitlich größerem Abstand geschrieben wurden und keinen unmittelbaren Bezug zu den Bundschuhunruhen von 1502 erkennen lassen ( 3 ).7 Anders als Rosenkranz , der seine Dokumentation mit einem nach 1509 geschriebenen Ausschnitt aus den „Annales Hirsaugienses“ des Abtes Johannes Trithemius beginnt , werde ich chronologisch vorgehen und zunächst das zeitgleiche Schriftgut aus dem Frühsommer 1502 in den Blick nehmen. 1. Bund oder Bundschuh ?
Am 15. April 1502 warnte der Bischof von Straßburg die Stadt Oberehnheim , „wie der buntschuch ( vor jaren under augen gewesen ) noch zur zeit nit herloschen , sonder abermals etliche des gemeinen volks in werbung standen mit verbuntnus der eiden und allgereit ein große summ sich vereint , darzu in werbung standen , alle fußknecht , so das land uf- oder abziehen , irer geselschaft zu verwicklen und ungeverlich zwuschen sanct marx tag ( 25. IV. ) sich zu herougen“.
Dieses Warnschreiben , das Bischof Albrecht von Straßburg in seinen Ämtern , dem Unterlandvogt im Elsass und den Städten Straßburg , Schlettstadt und Oberehnheim verkünden ließ , ist der früheste Beleg für die Anfänge einer Bundschuhbewegung am Oberrhein im Jahre 1502.8 Der Bischof verfolgt damit das Ziel , die elsässischen Städte und Landschaften in Alarmbereitschaft zu setzen und ein System gegenseitiger Information und Hilfeleistung zu initiieren. Um die benachbarten Herrschaften und städtischen Obrigkeiten zu mobilisieren , hebt er drei Aspekte besonders hervor : 1. Es handelt sich um eine Fortsetzung des 1493 niedergeschlagenen Bundschuhs von Schlettstadt , der „noch zur zit nit herloschen“. 2. Die Urheber stammen aus den Reihen des „gemeinen Manns“ und werben Landsknechte an. 3. Sie sind eidlich miteinander verbunden. Mit den Hinweisen auf die Kontinuität und den konspirativen Charakter der Bündnisse des „gemeinen Mannes“ ließ sich wirkungsvoll ein Schreckensszenario entwerfen , das weitere Informationen überflüssig machte. Der Bischof von Straßburg konnte darauf verzichten , das Zentrum des neuen Bundschuhs zu lokalisieren , das immerhin fast eine Tagesreise von Straßburg entfernt lag. Er machte auch keine Angaben über die 6 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 3 , 30 , 31. 7 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 1–2. 8 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 4. Späteren Berichten ist zu entnehmen , dass der Bischof von Speyer bereits ein bis zwei Wochen früher über die Bundschuhbewegung informiert worden war , deren Zentrum im rechtsrheinischen Teil des Bistums Speyer gelegen war.
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unmittelbar bedrohten beziehungsweise betroffenen Herrschaften , Bischof und Domkapitel von Speyer sowie die Kurpfalz , und nennt den Urheber der Nachricht nicht. Offensichtlich genügte der Hinweis „uns hat glaublichen angelangt“, um die Aussage zu authentisieren und die Gegenwehr der Obrigkeiten zu legitimieren. Die Warnung hat , wie die weiteren Briefe zeigen , funktioniert. Die Städte und Herrschaften bedankten sich , ergriffen geeignete Überwachungsmaßnahmen und informierten ihre Nachbarn. Dabei wurden , wie bei Gerüchten üblich , die Nachrichten zunehmend detaillierter.9 Bereits am 20. April berichtete die Stadt Schlettstadt an Colmar und Kaysersberg , dass sie erfahren habe , dass durch „etliche inlendige personen das gemein folk , desgleichen ouch us welscher nacion mit anhang der reisbumen , so im lande loufen , etwas boses furnemen tractiert.“10 Mit dem Verweis auf „inländische Personen“ und auf Verbündete „us welscher nacion“ wird die Bedrohung im Elsass sehr konkret , zumal die „Welschen“ seit den Armagnaken- und Burgunderkriegen als Feindbild in der Erinnerung der elsässischen Bevölkerung fest verankert waren. Zur Abwehr der „welschen“ Gefahr hatten sich die oberrheinischen Städte , die am Rande des burgundischen Pfandbesitzes gelegen waren , zusammengeschlossen und 1474 die Niedere Vereinigung , ein Landfriedensbündnis , geschlossen , das 1493 erneuert worden war.11 Solche überregionalen Schutz- und Verteidigungsbündnisse hatte es im Spätmittelalter häufig gegeben , aber ihre Stellung innerhalb des Reiches war ambivalent. Dies gilt besonders für die Zeit nach der Reichsreform von Maximilian , zu deren wichtigsten Elementen die Verkündigung des „Ewigen Reichslandfriedens“ 1495 gehörte.12 Die Regelungen und Institutionen des Wormser Reichstags zur Aufrechterhaltung des Ewigen Landfriedens hätten eigentlich Bündnisse der Reichsstände untereinander zur gegenseitigen Hilfe bei Landfriedensbruch überflüssig machen sollen. Doch die Reichsordnung blieb unfertig , und der Kampf um die Landfriedensordnung war immer auch ein Kampf um die Verteilung der politischen Macht zwischen König und Reich.13 Typisch für die Struktur des Alten Reiches und ihre verfassungsrechtlichen Formen war ihre Bipolarität , die in der doppelten Funktion des Königs begründet war. Der Kö9 Zum Zusammenhang von Gerüchten und Aufruhr bzw. Unterdrückung des Aufruhrs : Jacob Vogel ( Hg. ): Politik des Gerüchts (= Werkstatt Geschichte [ 5 / 1996 ]), S. 3–53 ; Jean-Noel Kapferer : Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt , Leipzig 1996. 10 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 5–9. 11 Claudius Sieber-Lehmann : Schwierige Nachbarn. Basel , Vorderösterreich und die Eidgenossen im ausgehenden 15. Jahrhundert , in : Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs , hg. von Franz Quarthal / Gerhard Faix , Stuttgart 2000 , S. 273–286 , bes. S 278 ff. 12 Zur Reichsreform : Heinz Angermeier : 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart , München 1984. 13 Heinz Angermeier : Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter , München 1966 , S. 556 ff. Peter Moraw : Von offener Verfassung und gestalteter Verdichtung. Das Reich im Späten Mittelalter 1250– 1490 ( Propyläen Geschichte Deutschlands 3 ), Berlin 1985.
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nig war Oberhaupt des Reiches und Landesfürst in den Erbländern seiner Dynastie. Mit seinen Versuchen , dynastische und Reichsinteressen in Einklang zu bringen , stieß er immer wieder auf den Protest der Reichsstände , die das Reich , nicht aber die Habsburgermonarchie repräsentierten. Die politische Gemengelage und die im Prinzip nicht auflösbaren Interessendivergenzen , die in der doppelten Funktion der Person des Königs begründet waren , beeinflussten sowohl seitens der Stände wie auch seitens des Königs die Wahrnehmung und die Reaktionen auf den Aufstandsversuch im Bistum Speyer. Zur Zeit des Bundschuhs von Untergrombach war die Reformbewegung ausgesprochen antikaiserlich. Allerorten versuchten die Stände die verzögerte Reichsreform durch regionale Bündnisse zu ersetzen.14 Dies war auch im Frühsommer 1502 nicht anders. Zu den ersten Maßnahmen der elsässischen Stände gehörte der Abschluss einer Einung. Am 29. April 1502 wurde eine Versammlung der Fürsten , Herren und Städte im Elsass anberaumt , zu der neben dem Vertreter des Landvogts als Statthalter des Königs auch Vertreter des Bischofs von Straßburg , des Pfalzgrafen , der Herrschaften Hanau und Bitsch sowie der elsässischen Städte , darunter Straßburg , Hagenau , Colmar und Schlettstadt , und Wilhelm von Rappoltstein erschienen waren.15 Auf dieser Versammlung , dem ersten Schlettstadter Tag , wurde ein umfangreicher Maßnahmenkatalog gegen den drohenden Aufruhr beschlossen : Allgemeine Bewaffnung , ständige Kontrollen , die Ausweisung verdächtiger Personen und eine Sperrstunde in den Gasthäusern sollten die Aufstandsgefahr eindämmen. Vor allem aber sollte der König schriftlich über „sollich böß furnemen“ informiert werden. In dem noch am gleichen Tag abgesandten Schreiben der Botschaften der Fürsten , Herren und Städte an Maximilian teilen die Versammelten dem König mit , dass sie eine Einung geschlossen haben , wobei sie angesichts der Bedrohung davon ausgehen , dass der König dies billigt.16 Schließlich handele es sich bei dem drohenden Aufruhr um ein „ungepurlich furnemen zu verruckung der oberkeit , göttlicher und keißerlichen rechten , wider alle erberkeit , zu verdilkung der fursten , herrschaft , adels , priesterschaft und geordneten regimenten , dem heiligen Rich verwandt , durch den bursman furgefaßt“.17 Gleichzeitig bitten sie Maximilian um Rat und Beistand. Sie authentisieren ihre Aussage , indem sie darauf verweisen , dass die Obrigkeit in der Beichte von den Plänen der Verschwörer erfahren hätte. Außerdem legen sie schriftliche Zeugnisse bei. 14 Heinrich Mitteis : Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch , neubearb. von Heinz Lieberich , München 191992 , S. 252. 15 Mit Ausnahme von Landau werden alle Städte des Zehnstädtebunds aufgeführt , doch werden nur für drei Vertreter genannt. 16 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 12 , S. 105 : „denken : zu gefallen ewer k[ uniklichen ] m [ ajestat ]”. 17 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 12 , S. 104 f.
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Es spricht einiges dafür , dass es sich dabei um jene handschriftlichen Artikel handelt , die Rosenkranz im Frankfurter Stadtarchiv gefunden und unter dem Titel „Bischöflich straßburgische Aufzeichnung für den 1. Schlettstadter Tag ( 29.IV.1502 )“ in seine Dokumentation aufgenommen hat. Sie sind , wie er schreibt , „in so verwilderter Schreibung abgefaßt , daß nur durch gründliche Änderungen ein erträglicher Wortlaut hergestellt werden kann.“18 Grundlage dieser Niederschrift war , so vermutet Rosenkranz weiter , die Aussage des Lux Rapp , eines Landsknechtes , der zuerst den Bischof von Speyer und , da dieser ihm keinen Glauben schenkte , den Bischof von Straßburg über die Verschwörung ( „samnung und buntnis“ ) informiert hatte. In diesem Schriftstück , das nach dem 23. April 1502 entstanden ist , taucht zum ersten Mal ein Hinweis auf Bruchsal auf. Es wird berichtet , dass der Informant in Bruchsal aufgefordert worden sei , einem Bündnis beizutreten , das angetreten war , der Gerechtigkeit Beistand zu tun. Er habe dies aus Pflichten seiner Herrschaft gegenüber nicht getan. Nun wird das Ausmaß der Bewegung dargestellt , die längst überregional agierte : Anhänger aus Bruchsal , Untergrombach , Jöhlingen , Speyer und anderen Orten werden erwähnt , dazu eine große Anzahl von Landsknechten , die sich beteiligen. Nicht nur in der Schweiz , die den Verbündeten ihre Unterstützung zugesagt hatte , sondern „in allen landen“ hatte die Bewegung der „buntschuer“, die durch Boten verbreitet wurde , Anhänger. Es sollen bis zu 20. 000 gewesen sein. Die Verschwörer hatten ein Losungswort , das gegen jede Herrschaft gerichtet war – „was ist das weßen ? [ … ] wir können vor pfaffen und den ettelleuten nit geneßen“ – und bedrohten jeden , der nicht beitreten wollte , mit dem Tod. Als erstes sollte die Obergrombacher Burg eingenommen werden. Die Artikel schließen mit dem Hinweis „das ein herr mit heltum uf der potschaft ride. Der sol auch im spil sin , der wil ine so viel lut zubringen , als sie bedorfen“. Damit wird eine Verbindung der Bundschuher mit religiösen Bewegungen und eine Unterstützung durch einen Adeligen angedeutet. Das revolutionäre Potential des Bundschuhs wird dadurch noch einmal unterstrichen. An der Dringlichkeit , Sofortmaßnahmen zu ergreifen , kann kein Zweifel mehr bestehen , denn eigentlich wollten die Aufständischen bereits am 23. April losschlagen , mussten den Termin aber auf den 15. Mai verschieben , weil das Fähnlein nicht fertig war. Interessant an diesem Schreiben , das die späteren Darstellungen des Untergrombacher Bundschuhs maßgeblich prägen sollte , ist , dass hierin zwei unterschiedliche Sichtweisen der Untergrombacher Bewegung zum Ausdruck kommen : Am Anfang werden Äußerungen der Akteure in indirekter Rede wiedergegeben. Dort heißt es , „wie das ein samnung und buntnis verhanden sie , der gerechtigkeit bistant zu thun.“ 18 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 10 , S. 100 : „Artikel , so durch min g[ nedigen ] herrn von Straßpurg verordent reth uf den tag zu Slytzstatt , die gethan die buntnis oder versamlung des ganzen volks betreffen , uf fritag post georgi ( 29. IV. ) anno 1502”. Rosenkranz ordnet dieses Schriftstück nicht weiter ein.
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Es ist hier , wie auch in einer Reihe weiterer Textstellen , von einem Bund die Rede. Einmal taucht jedoch auch das Wort „buntschuer“ auf , das zu der Diktion passt , die der Bischof von Straßburg bereits am 15. April 1502 gewählt hatte , um einen Zusammenhang mit der revolutionären Bewegung von 1493 herzustellen und ihren überregionalen Charakter zu betonen. Die Interpretation des Untergrombacher Bundes als Bundschuh sollte die Wahrnehmung und obrigkeitliche Reaktion auf die Ereignisse im Bistum Speyer fortan bestimmen. Wie oben angedeutet , legt der Überlieferungsort ( Frankfurter Stadtarchiv ) die Vermutung nahe , dass die Artikel am 29. April 1502 mit der Bitte um Abhilfe an den König geschickt worden waren.19 Dieser blieb nicht untätig. Während die Städte ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärften , wurde in der königlichen Kanzlei ein Strafmandat ausgearbeitet. Es wurde am 30. Mai auf dem Tag zu Heidelberg , im Beisein der Kurfürsten und Fürsten , ihrer Botschaften sowie der Grafen und Herren verkündet. Maximilian erklärte , dass alle an der Verschwörung Beteiligten zu bestrafen seien als „verretter irs vatterlands , iher hern und oberhut , des gemeinen nutz und frides im Rich und als trewlos und meineidig“. Mit der Behandlung der Bundschuher als Verräter knüpfte er an eine alte , bereits im Sachsenspiegel belegte Rechtsvorstellung an , die in der spätmittelalterlichen Entwicklung des politischen Strafrechts an Bedeutung gewann.20 Die in Maximilians Mandat vorgesehenen Strafen für die Landesverräter waren drakonisch : Alle , die sich im Bundschuh eidlich verbunden hatten und darunter ein Bündnis wider die „fursten , hern , herschaft , geistliche und weltliche , und alle oberkeit“ verstanden , und alle Hauptleute und Werber sollten als Landesverräter hingerichtet und nachher noch am toten Körper gestraft werden. Ihre Güter sollten an die jeweiligen Herren fallen , ihre Kinder des Landes verwiesen werden. Eine harte Strafe sollten auch diejenigen bekommen , die von der Verschwörung wussten , sich zwar nicht angeschlossen , die Information der Herrschaft aber auch nicht „gesagt , geoffenbart oder gewarnt haben.“ Dagegen sollten alle , die sich angeschlossen hatten , nur Mitläufer waren und sich innerhalb von zwei Monaten selbst anzeigten , eine gnädige Strafe erhalten , das heißt nur am Gut , nicht aber am Leib gestraft werden.21 Für die Nichtbeachtung des Mandates wurden hohe Strafen angedroht. 19 In dem Schreiben des 1. Schlettstadter Tages an Maximilian werden beigelegte Schriften erwähnt , wozu Rosenkranz die Frage formuliert : „Wo befinden sich die Schriften ? “ ( Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 12 , S. 104 , Anm. g ). Da es bei diesen Schriften um die Anzeige der Verschwörung gehen soll , scheint es naheliegend zu sein , dass es sich um die unter Nr. 10 abgedruckten Artikel handelt. 20 Claudius Sieber-Lehmann : Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft , Göttingen 1995 , bes. S. 89 ff. 21 Rosenkranz , Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 21 , S. 111.
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Die differenzierten Bestimmungen im Strafmandat Maximilians machen deutlich , dass man zwischen der „Verrätherey“ als einem eidlichen Zusammenschluss von Untertanen gegen die Obrigkeit und der „Verrätherey“ im Sinne des Verratens einer Bewegung deutlich zu unterscheiden begann.22 Wer sich oder andere anzeigte und damit der Rügepflicht nachkam , konnte , selbst wenn er zum Bundschuh geschworen hatte , mit einer milden Strafe rechnen und für seine Bereitschaft zur Denunziation sogar , wie der Landsknecht Lux Rapp ,23 eine Belohnung erwarten. Wer dagegen der Anzeigepflicht nicht nachgekommen war , wurde , auch wenn er sich der Bewegung nicht angeschlossen hatte , „herticlich gestrafft“24. In dieser Bestimmung kommt die Angst vor konspirativen Bewegungen zum Ausdruck , die um 1500 weit verbreitet war und die Maximilian , wie zu zeigen sein wird , propagandistisch zu nutzen suchte.25 Das Strafmandat Maximilians „wider daz furnemen des newen puntschuchs“ stellt eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Durchsetzung der Denunziation und zur Kriminalisierung von Aufruhr und Empörung dar , die Widerstand gegen die Obrigkeit zunehmend zu einem höchst gefährlichen Unternehmen werden ließ.26 Dabei laufen mindestens zwei Entwicklungen parallel : Zum einen wurde für das Delikt der „Verrätherey“ ein differenziertes System von Strafen entwickelt , das 1532 Aufnahme in die Constitutio Criminalis Carolina ( CCC ), die Peinliche Gerichtsordnung Karls V., fand , 22 Zur Begriffsgeschichte von Delation , Rüge , Anzeige siehe Renate Blickle : Denunziation. Das Wort und sein historisch-semantisches Umfeld : Delation , Rüge , Anzeige , in : Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziation während des 18. und 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive , hg. von Michaela Hohkamp / Claudia Ulbrich , Leipzig 2001 , S. 25–60. Renate Blickle arbeitet auch den Zusammenhang zwischen der Landfriedensgesetzgebung im 13. Jahrhundert und dem Aufeinandertreffen der Wörter „denuntiatio“ und „Rüge“ heraus ( Ebda., S. 43 ). 23 Zu Lux Rapp s. Kap. 2 : Verkehrte Welt ? 24 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), S. 111 : Strafmandat Maximilians , Absatz 2. 25 Neben den Bundschuhunruhen ist auch an den konspirativen Charakter des „Armen Konrad“ von 1514 zu erinnern ( Andreas Schmauder : Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisierungsprozeß im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit , Leinfelden-Echterdingen 1998 , u. a. S. 97 ). Mit der Angst vor Komplotten befassen sich mehrere Beiträge in dem von Yves-Marie Bercé und Elena Fasano Guarini herausgegebenen Sammelband : Complots et conjurations dans l’Europe Moderne. Actes du colloque international organisé par l’Ècole française de Rome , l’Institut de recherches sur les civilisations de l’Occident moderne de l’Université de Paris-Sorbonne et le Dipartemento di storia moderna e contemporanea dell’Università degli studi di Pisa ( Rome , 30 septembre – 2 octobre 1993 ), Paris 1996. 26 Peter Blickle : The Criminalization of Peasant Resistance in the Holy Roman Empire : Toward a History of the Emergence of High Treason in Germany , in : The Journal of Modern History 58 ( 1986 ), Supplement : Politics and Society in the Holy Roman Empire , 1500–1800 , S. 88–97. Das Delikt des Hochverrates muss allerdings m. E. in seiner Genese und Entwicklung auch in Zusammenhang mit dem in einer langen Rechtstradition stehenden Artikel 124 der Carolina ( CCC ) gesehen werden und nicht nur mit Artikel 127. Instruktiv und wegen des regionalen Bezugs auch einschlägig sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Sieber-Lehmann : Spätmittelalterlicher Nationalismus ( wie Anm. 20 ), S. 90 und S. 390–395.
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die die Grundlage der nachmittelalterlichen deutschen Strafjustiz bildet.27 Zum anderen wurde Aufruhr selbst verboten. Dies geschah in der badischen Landesordnung von 1495 , die zwei Jahre nach dem Bundschuh von Schlettstadt erlassen worden war , noch in einer sehr allgemeinen Formulierung. Es wurde festgehalten : „Item die unsern sollen auch bei iren verpflichten und bei schwerer strafe leibs und guts kein büntnus , einung oder gesellschaft zusamen verschreiben , verpflichten oder verbinden , die in einichem wege wider uns , unsere erben oder die unsern weren oder sein möchten.“28
In der zweiten württembergischen Landesordnung , die nach dem Armen Konrad erlassen wurde und den Empörerartikel des Tübinger Vertrags von 1514 aufgriff , wurde Widerstand gegen die Obrigkeit schon eindeutiger als Straftatbestand benannt und der Kreis der durch dieses Gesetz geschützten Obrigkeiten präzisiert : „Ob sich begeb furterhin , daz iemants wer der were , ainich ufflouff unnd embörung machen und furnemen wurde , wider die Herrschaft , irer furstlichen gnaden rett , ampleut , diener , Prelaten , gaistlichait , Burgermeister , Gericht , Ratt , oder sunst wider die erberkait , die nider zu truken … der sol syn lyb und leben verwurkt haben.“29
Außerdem wurden viele Präventivmaßnahmen beschlossen , wie künftige Empörung verhindert werden könnte.30 Nachdem das Verbot des Aufruhrs auch im Kontext der Revolution von 1525 mehrmals bekräftigt worden war , fand es 1532 als eigenständiges Delikt neben der „Verrätherey“ Aufnahme in die Carolina. Beide Delikte , „Verrätherey“ ( A rt. 124 CCC ) und „Aufruhr“ ( A rt. 127 CCC ) konnten auf den gleichen Tatbestand , den Landfriedensbruch , verweisen , wurden aber nun verschieden konstruiert : Während „Aufruhr des gemeinen Volkes“ nach der Schwere des Deliktes bestraft werden sollte , wurden in Bezug auf den Verrat geschlechterspezifische Strafen und in bestimmten Fällen Straffreiheit vorgesehen : Männer , die des Verrates überführt wurden , sollten gevierteilt , Frauen ertränkt werden. Zusätzlich wurde in Artikel 124 bezüglich der „Verrätherey“ ausdrücklich festgehalten , dass diejenigen , „durch welcher Verkundschafftung Richter und Oberkeit die Überlthäter zu gebührender Straff brin27 Artikel 124 der CCC : Straff der Verrätherey. Zum Majestätsverbrechen A. Cavanna : Artikel Majestätsverbrechen , in : Lexikon des Mittelalters , Bd. 7 , S. 148–150 , hier S. 150. 28 Rudolf Carlebach : Badische Rechtsgeschichte , Bd. 1 : Das ausgehende Mittelalter und die Rezeption des römischen Rechts unter Mitteilung der wichtigeren bisher ungedruckten Landesordnungen ( Landrechte ), Heidelberg 1906 , Nr. 5 : Landesordnung vom 21. September 1495 , hier S. 109 , § 25. 29 Vollständige und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze , Bd. 1–19 , hg. von August Ludwig Reyscher , Stuttgart , Tübingen 1828–1851 , Bd. 12 , Nr. 6 , S. 26 f. zitiert nach Schmauder , Württemberg im Aufstand ( s. Anm. 25 ), S. 278. 30 Ebda., S. 278 f.
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gen möchten“, diejenigen also , die – im modernen Sprachgebrauch – denunzierten , straffrei bleiben sollten.31 Hiermit wurde eine Praxis gesetzlich geregelt , die sich im Kontext der Landfriedensgesetzgebung entwickelt hatte und im Strafmandat von Maximilian vom Mai 1502 , das die Unterlassung der Anzeige mit harten Strafen belegte , ihren Ausdruck fand.32 Die in Heidelberg am 30. Mai 1502 versammelten Stände gaben sich mit dem Strafmandat alleine nicht zufrieden und formulierten einen „Ratschlag , wie man den buntschuch kunfticlich furkommen soll“, der dem König unmittelbar nach dem Heidelberger Tag überbracht werden sollte.33 Darin wiederholten sie die bereits früher formulierten Vorsichtsmaßnahmen ( Vertreibung der Bettler , ständige Überwachung aller Einwohner , Verbot des Reißlaufens ). Erneut vereinbarten sie für den Fall des Aufruhrs wider die Obrigkeit gegenseitige Hilfe. Ausdrücklich formulierten sie ein Verbot , öffentlich über den Bundschuh zu reden. Stattdessen sollte ein Kurfürstentag unter der Führung Bertolds von Henneberg einberufen werden und notwendige Reformen einleiten : „alles so in hewbten und underthon not ist zu reformiern“. Dies war zweifellos ein Versuch , nicht nur die Ursachen für die Unruhen im eigenen Lande abzustellen , sondern auch die Oberhand in der Reichsreform zurückzugewinnen.34 Zehn Tage später , am 10. Juni 1502 , wurde auf dem zweiten Schlettstadter Tag damit begonnen , die Beschlüsse des Heidelberger Tages umzusetzen und Vorkehrungen zu treffen für den Fall , dass „sich des buntschuchs halb einich ufrur begeben wurd“. Es wurde ein detailliertes Informationssystem verabredet , das mit dem entscheidenden Beschluss endete : „Es soll auch uf obgemelte verkundung iederman noch sinem vermögen on verzug , an ort und end er bescheiden wurt , mit macht zuziehen.”35 Die Stände hatten also ein Schutzbündnis zustande gebracht , in das zwar auch Vertreter des Königs integriert waren , das aber der Idee , dass Maximilian selbst den Reichsfrieden sichern könne , entgegenstand. Das Verhältnis zwischen König und Ständen war zu dieser Zeit äußerst gespannt. Maximilian brauchte Reichshilfe gegen die Feinde Habsburgs und des Reiches , insbe31 Artikel 124 und 127 der CCC. 32 Wenn die Carolina im Gegensatz zu 1502 keine Strafe für die unterlassene Anzeige formuliert , sondern nur die Straffreiheit von Denunzianten , die einen Verrat aufdecken , festhält , so ist festzuhalten , dass die Rügepflicht fest im Huldigungseid von Untertanen verankert war und keiner allgemeinen gesetzlichen Regelung bedurfte. 33 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 21 , Teil 2 : S. 112 f. 34 Rosenkranz geht in seiner Deutung immer von einer Zerrissenheit des Elsasses aus und von der mangelnden Bereitschaft der Obrigkeiten , sich zusammenzuschließen. Dies ist eine Darstellung , die sich angesichts der Reichsreformbestrebungen wohl kaum halten lässt ( Bundschuh 1 , 219 ). M. E. könnte man hier angesichts der gegenseitigen Unterstützungszusagen eher im Sinne Moraws von einer „gestalteten Verdichtung“ sprechen. 35 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 22 , Abschied des 2. Schlettstadter Tages vom 10. Juni 1502 , S. 113 ff., S. 114.
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sondere gegen Frankreich und die Eidgenossen.36 Diese wurde ihm am verabredeten Termin , dem 1. Juni 1502 , nicht geleistet , stattdessen schlossen sich die Kurfürsten gegen den König im Kurverein zusammen. Maximilian trat nun , im Sommer 1502 , mit dem Schwäbischen Bund in Verhandlungen. Der Schwäbische Bund war eine Landfriedenseinung , zu der sich 1488 die mindermächtigen Stände Schwabens auf Initiative von Kaiser Friedrich III. zusammengeschlossen hatten. Zu den Maximen des Bundes gehörte die Vermeidung gewaltsamer Auseinandersetzungen zugunsten von Formen rechtlichen Konfliktaustrags.37 Dennoch plante Maximilian den Bund für seine Ziele zu instrumentalisieren , wobei dynastische und Reichsinteressen nicht klar zu unterscheiden waren.38 Die Bundschuhunruhen gaben ihm Gelegenheit , einen erneuten Versuch zu unternehmen , den Schwäbischen Bund , der seit 1500 zunehmend zu gutnachbarlichen Beziehungen zur Eidgenossenschaft zurückgekehrt war , gegen die Eidgenossen zu mobilisieren.39 Am 11. Juni , also einen Tag nach dem zweiten Schlettstadter Tag , forderte er Esslingen und vermutlich auch andere Städte auf , „wegen merklicher Läuf und Geschäfte“ ihre Vertreter für den Bundestag in Ulm mit einer Vollmacht auszustatten. Die Schweizer , so schreibt er , planen einen Überfall , „nachdem sy hoffnung haben , durch den anslag des Pundtschuchs die pawerschafft wieder den geistlichen standt , adel und erbarkeit zu beschehen.“40 Wie eng Maximilian Eidgenossen und Bundschuh verknüpfte , macht ein Schreiben deutlich , das er am 25. Juni an Graf Wolfgang von Fürstenberg , den österreichischen Landvogt im Elsass , schickte. Er bat um Unterstützung , falls „das selb unser burgundisch land durch den buntschuch oder Schwyt[ z ]er“ überfallen würde.41 Die auf dem dritten Schlettstadter Tag am 30. Juni versammelten Stände ließen sich auf dieses Gesuch , das habsburgische Hausmachtpolitik in Burgund betraf , nicht weiter ein. Sie sagten lediglich zu , dass sie die Lage genau beobachten , gegenseitig Informationen aus36 Im Elsass war die burgundische Frage von besonderer Bedeutung. Maximilian hatte 1477 Maria , die Tochter und Erbin des letzten burgundischen Herzogs , geheiratet. Nach Marias Tod 1482 entflammte der burgundische Erbfolgekrieg , der schließlich zum Vertrag von Senlis ( 1492 ) führte , in dem das burgundische Erbe zwischen Frankreich und den Habsburgern aufgeteilt wurde. Die Streitigkeiten um Burgund bestanden aber noch jahrhundertelang weiter. 37 Horst Carl : Der Schwäbische Bund , in : Der Bauernkrieg in Oberschwaben , hg. von Elmar L. Kuhn / Peter Blickle , Tübingen 2000 , S. 421–443. 38 Herrmann Wiesflecker : Kaiser Maximilan I. : Das Reich , Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit , Bd. 3 , München 1977 , S. 18 f. 39 Dies betont Horst Carl gegenüber der älteren Forschung , die auch für die Zeit nach dem Schweizer bzw. Schwabenkrieg von 1499 von einem antagonistischen Verhältnis zwischen Schwäbischem Bund und Eidgenossenschaft ausgeht ( Horst Carl : Der schwäbische Bund : 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation , Leinfelden-Echterdingen 2000 , S. 451 ). 40 Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes ( 1488–1533 ), Erster Teil : 1488–1506 , hg. von Karl Klüpfel , Stuttgart 1846 , S. 468. 41 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 23 , S. 117.
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tauschen und in dem Umfang , wie am 10. Juni beschlossen , zur Rettung und Rüstung bereit seien.42 Durch den Verweis auf den Abschied des zweiten Schlettstadter Tages ( 10. Juni ), der nun beschlossen wurde , wird ein eindeutiger Zusammenhang mit der Unterdrückung von Aufruhr infolge des Bundschuhs hergestellt , aber das Thema Eidgenossen genauso wenig angesprochen wie die burgundische Frage , die eine dynastische , aber keine Reichsangelegenheit war. Mit dem Schwäbischen Bund verhandelte Maximilian Anfang Juli weiter. Er ließ die Städteboten ins deutsche Haus in Ulm kommen und malte in einer wohl inszenierten Veranstaltung das Schreckensszenario eines durch die politische Destabilisierung infolge der Bundschuhbewegung erleichterten Überfalls der Eidgenossen auf das Reich aus : Zunächst ließ der König den Städteboten zwei Schreiben verlesen :43 Das erste war ein Mandat „des Turgkenzugs , der kais. cron , der aidgenossen , des königs zu Franckreich und des Punschuchs halben“. In ihm stellte Maximilian den Bundschuh mit außenpolitischen Problemen , die zum Teil eher habsburgische als Reichsinteressen betrafen , auf eine Stufe. Indem er alle Feinde in einen Zusammenhang stellte , konnte er die Angst vor Aufruhr nutzen , um die Gefährlichkeit der „eidgenössischen Sozialrevolutionäre“ bildhaft zu machen.44 Da er gegen die äußeren Feinde keine Hilfe von den Ständen erwarten konnte , musste der Bundschuh , der Anfang Juli vermutlich längst unter Kontrolle war , als Argument herhalten : Maximilian forderte die Städte unter Androhung hoher Strafen auf , „by verlierung aller privilegien , freiheiten und mandate , so ain yeder vom reich hat , auch by manung christlichs glaubens , aid und pflicht , zum allerhöchsten mant und gepeut , von stund an uff zu sein und jrer Mt. gerüst gen Bruchsal oberhalb Speir gelegen zu zetziehen“.45
Das zweite ausführliche Schreiben , das Maximilian den Städteboten verlesen ließ , bezog sich auf Warnungen und Kundschaften aus Frankreich und der Schweiz. Maximilian will , so heißt es , erfahren haben , dass der französische König überall im Reich Unfriede stifte und „Widerwärtigkeit“ und „Aufruhr“ erwecke. Er wolle die Uneinigkeit zwischen den Kurfürsten , Fürsten und Ständen des Reichs und dem König nutzen , um die Kaiserkrone zu erlangen und ganz Deutschland und Italien zu unterwerfen.46 Um 42 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 24 , S. 117 f. 43 Die Nachrichten hierüber sind erhalten in einer Aufzeichnung des Ratsboten von Ulm , die Klüpfel abdruckt ( Urkunden [ s. Anm. 40 ], S. 469 ). Als Quelle benutzt er die nicht immer zuverlässige „Schmidsche Sammlung“. Für Hilfe bei der Einordnung dieser Quelle möchte ich Horst Carl herzlich danken. 44 Carl : Schwäbische Bund ( s. Anm. 39 ), S. 462. 45 Klüpfel : Urkunden ( s. Anm. 40 ), S. 469 f. 46 Klüpfel : Urkunden ( s. Anm. 40 ), 470.
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seinem Wunsch auf Unterstützung Nachdruck zu verleihen , berief Maximilian im Anschluss an die Eröffnung seiner Forderungen die Städteboten zu sich und hielt in Anwesenheit einer großen Öffentlichkeit persönlich eine Rede , die den Notizen des Ulmer Boten zufolge eine ganze Stunde dauerte. Wie Horst Carl betont , hatte Maximilian das Gremium der Städteboten gewählt , „um größtmögliche Verbreitung seiner Propaganda zu erzielen.“47 In seiner Rede beschwor er die Städtevertreter , ihm gegen seine und des Reichs Feinde Hilfe zu leisten und imaginierte eine große Verschwörung des Königs von Frankreich , der sich mit dem Papst , dem König von Ungarn , mit Venedig und den Eidgenossen verbündet habe. Außerdem berichtet er über zwei Bundschuherhebungen , eine in Nyderland , genannt „käs und brot“, und eine am Rhein , deren Ziel es sei , „das alle güter genomen und gleich dem armen als dem reichen sein sollen“. Ausdrücklich verweist er darauf , dass die Bewegung am Rhein erst kürzlich mit seiner Hilfe beigelegt worden sei , während sein Feind , der König von Frankreich , der nichts anderes im Sinn habe , als die Kaiserkrone zu erhalten , für die Unruhen verantwortlich sei. Darf man dem Ulmer Ratsboten glauben , so verstand es Maximilian in dieser Rede , sich meisterhaft in Szene zu setzen , nicht zuletzt , indem er abschließend „zu Gott und den hailigen mit uffgehabten vingern gesworen zwaymalen uff ainander , wa ym yezo nit verfolgt werde , sein leptag vom reich zu bett und zu tisch geschaiden zu sein.“ Der Versuch , mit dieser eindringlichen Rede den Bund für seine politischen Ziele zu instrumentalisieren , scheint fehlgeschlagen zu sein. Jedenfalls erhielt Maximilian auf der am gleichen Tag stattfindenden Bundesversammlung von den Bundesständen eine eher verhaltene Antwort : „Sie [ die Versammlung des Bundes ] würde in solchen Fällen nach ihrem Vermögen sich also halten und beweisen , dass königliche Majestät gnädiges Wohlgefallen darob haben könnte.“48 Dass dies kein Versprechen war , Maximilian in allen Punkten zu unterstützen , wird in den Konflikten zwischen dem eidgenössischen Basel und dem vorderösterreichischen Rheinfelden deutlich , in denen die Bundesstädte 1502 und 1503 die Hilfe verweigerten.49 Insgesamt zeigen die Versuche Maximilians , Hilfe für seine Machtpolitik zu erhalten , dass er ganz ähnlich wie wenige Wochen zuvor die elsässischen Städte und Herrschaften die Unruhen im Bistum Speyer zu eigenen politischen Zielen beziehungsweise zu propagandistischen Zwecken nutzen wollte.50 Der Bundschuh selbst interessierte 47 Carl : Schwäbische Bund ( s. Anm. 39 ), S. 459 , Anm. 199 weist darauf hin , dass eine solche Rede im Bundesrat „nur in den Korrespondenzen der Räte ein Echo gefunden“ hätte. 48 Klüpfel : Urkunden ( s. Anm. 40 ), S. 468 f. : Abschied der Bundesversammlung zu Ulm vom 24. Juni 1502. 49 Carl : Schwäbische Bund ( s. Anm. 39 ), S. 462. 50 Wenn man die politische Konstellation im Reich mit ins Kalkül zieht , wird deutlich , dass der Hinweis auf die Unterstützung durch die Eidgenossen in der Aussage des Lux Rapp eine strategische Bedeutung gehabt haben kann , um Maximilian für die Unterstützung der Forderungen der Stände zu gewinnen. Siehe dazu : Marchal : Bundschuh ( s. Anm. 1 ).
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ihn allerdings kaum. Indem Maximilian die Schuldfrage nach außen verlagerte , verschwanden die Untertanen als Akteure von der Bildfläche der Geschichte. Nicht der „gemeine Mann“, sondern die äußeren Feinde , die Eidgenossen und der französische König erschienen als die eigentlichen „Drahtzieher“. Um gegen sie zu mobilisieren und Dynastie- und Reichsinteressen in Einklang zu bringen , lag Maximilian daran , die vom Bundschuh ausgehende Gefahr möglichst plastisch zu schildern. Gleichzeitig zeigte er mit seinem Strafmandat , wie entschlossen und effektiv er sich für die Interessen des Reiches einsetzte. Während die elsässischen Stände und der Kaiser den Bundschuh zu Untergrombach zum Thema machen , fließen aus dem Unruhegebiet selbst so gut wie keine Nachrichten. Mit Datum vom 30. April , also einen Tag nach dem ersten Schlettstadter Tag , findet sich ein Eintrag im Protokollbuch des Speyrer Domkapitels , dem zu entnehmen ist , dass der Domdekan Heinrich von Helmstadt zum Speyrer Bischof geschickt worden war , um mit ihm zum Pfalzgraf zu reiten , um „in sachen die schweren lauf der buntnus , so itzo vorhanden sint“ zu verhandeln.51 Der nächste , die Unruhen betreffende Eintrag stammt von Pfingstmontag ( 16. Mai ), wurde also bereits nach dem zweiten , für den Aufstand vorgesehenen Termin , abgefasst. Untertanen des Bischofs , die zum Bund – das Wort Bundschuh wird in der Überlieferung des Domkapitels vermieden – geschworen hatten , hatten darum gebeten , wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Offensichtlich hatten Bischof und Domkapitel von Speyer zu diesem Zeitpunkt bereits die Ladung zum Heidelberger Tag vorliegen und wussten auch von dem beabsichtigten Strafmandat , das seine Wirkung bei den Untertanen nicht verfehlte. Nicht nur im Bistum Speyer , auch im Gebiet des Domkapitels , in Jöhlingen , verlor das „ufgeworfen buntnus“ schnell an Akzeptanz. Jöhlinger Untertanen fragten am 19. Mai , wie sie sich gegenüber denen verhalten sollten , die offen zu erkennen gaben , dass sie in den Bund geschworen hatten. Ziel ihrer Frage war , eine Bestrafung der Anhänger der Bewegung oder im Sinne von Maximilians Strafmandat Straffreiheit für sich selbst zu erreichen. Das Kapitel empfahl dem Bischof , dass er persönlich , begleitet von einem Vertreter des Domkapitels , am Heidelberger Tag teilnehme , um diese Fragen zu klären. Außerdem legte es dem Bischof nahe , einen oder zwei der Bundesgenossen gefangen zu nehmen , wohl zur Demonstration , dass die Obrigkeit beabsichtigte , gegen die Unruhestifter mit harten Maßnahmen vorzugehen. Auf dem Heidelberger Tag wurde dann im Strafmandat Maximilians unmissverständlich klar gemacht , dass die Schuldigen als Verräter zu strafen seien und dass alle Obrigkeiten verpflichtet seien , sich nach dem Mandat zu richten. Der Bischof von Speyer und der Pfalzgraf sollten ihre Gefangenen möglichst umgehend strafen , ohne die Antwort Maximilians beziehungsweise den weiteren Verlauf der Verhandlungen abzuwarten. Aus Sorge , der Bi51 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 13 , S. 105.
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schof von Speyer und andere betroffene Obrigkeiten würden mit ihren Untertanen , die sich im Bundschuh vereinigt und ein „bös furnemen“ geplant hätten , zu milde umgehen , forderten die elsässischen Städte und Herrschaften , unter ihnen der Statthalter des Königs , den Bischof von Speyer , den Plalzgraf und den Markgrafen von Baden am 10. Juni auf , die vorgesehenen Körperstrafen zu vollziehen und niemand ungestraft entkommen zu lassen.52 Angesichts des drohenden Strafgerichts ergriffen eine Reihe von Untertanen die Flucht. Anfang September baten Vertreter der Gemeinden Jöhlingen , Unter- und Obergrombach , dass diesen Leuten gestattet würde , wieder zurückzukommen , damit sie ihre Güter bebauen und ihre Kinder ernähren könnten. Eine endgültige Begnadigung erhielten die Gemeinden erst 1519. Die mit Bischof und Domkapitel Speyer in Verbindung stehenden Berichte über das „ufgeworfen buntnus“ lassen einen ganz anderen Eindruck entstehen , als die Korrespondenzen der elsässischen Städte und die Mandate , Propositionen und die Rede Maximilians , in denen fast durchgängig vom „bös furnemen“ und vor allem vom Bundschuh die Rede ist. Die Wahl der Wörter war sicher kein Zufall. Darf man der Aussage des Lux Rapp in der in Straßburg protokollierten Form glauben , so verstanden die Aufständischen ihren Zusammenschluss als einen Bund , der der Gerechtigkeit Beistand tun sollte. Während in dieser Formulierung Bezüge zum Bundes- und Landfriedensgedanken zum Ausdruck kommen , der in der politischen Theorie und Praxis des Spätmittelalters einen hohen Stellenwert hatte , verweisen die Einschätzung der Bewegung als Bundschuh und das Fehlen auf Hinweise auf ein konkretes politisches Programm auf den Kontext von Umsturz und bäuerlicher Revolte.53 Sowohl im Elsass ( 1493 Schlettstadt ) als auch im Reich ( „käs und brod“ ) ließ sich allein schon über den Begriff eine höchst gefährliche Aufstandstradition konstruieren. Dass diese Konstruktion geeignet war , umfassende Maßnahmen gegen aufständische Untertanen zu legitimieren , zeigt nicht zuletzt das Strafmandat Maximilians , das wegweisende Bedeutung für die rechtliche Einschätzung von Aufruhr und Verrat in der frühen Neuzeit hatte. Über das , was sich im Bistum Speyer im Frühsommer 1502 wirklich ereignet haben könnte , sagen all diese Quellen nur wenig aus. Deswegen soll nun gefragt werden , inwieweit im Rückblick verfasste Quellen unsere Kenntnisse über den Untergrombacher Bundschuh noch erweitern können. Dabei soll zunächst die Speyerer Überlieferung in den Blick genommen werden.
52 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 23 , S. 115. 53 Zum Bundesbegriff in der politischen Theorie des Spätmittelalters : Horst Carl : Landfriedenseinung und Ungehorsam – der Schwäbische Bund in der Geschichte des vorreformatorischen Widerstandsrechs im Reich , in : Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich , hg. von Robert von Friedeburg , Berlin 2001 , S. 85–112.
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Den ersten zusammenfassenden , im Bistum Speyer entstandenen Bericht über den Bundschuh von Untergrombach verdanken wir Georg Brentz , dem Landschreiber des Speyrer Bischofs.54 Er verfasste ihn nach dem Tod seines Landesherrn , Bischof Ludwig von Helmstatt , im Spätsommer oder Herbst 1504 und trug ihn in das Protokollbuch des Bistums ein. Quelle des Berichtes waren , so schreibt Brentz , die Schriften , die im Kontext der Verschwörung entstanden waren und einige Geständnisse von Bundschuhern , „die in einem busch , daruf steet ein buntschuhe“ zusammengestellt worden waren. Über den Anlass des Eintrags gibt es keine Hinweise , und da das Büschel nicht erhalten ist , gibt es auch keine Möglichkeit , Quelle und Bericht zu vergleichen , um daraus Rückschlüsse auf den Schreibanlass zu ziehen. Festzuhalten ist , dass Brentz , der als einer der ranghöchsten Beamten des Hochstifts Speyer Einblicke in die gesamte Verwaltung des Bistums hatte , der über die Missstände im kirchlichen und weltlichen Bereich bis ins Kleinste informiert war , der aufgrund seiner Tätigkeit als Schreiber die Probleme der Bauern kannte und um die Konflikte mit der Obrigkeit wusste , offensichtlich nichts beschreibt , was er selbst erlebt oder erfahren hat. Statt dessen verfasste er einen aktenmäßigen Bericht und trug ihn in ein Protokollbuch , das ansonsten nur Abschriften bischöflicher Verträge , Anordnungen und Dekrete enthält. Denkbar ist , dass Georg Brentz mit seinem Bericht beabsichtigte , schriftlich Hinweise auf mögliche Ansprüche des Lux Rapp , der als erster Ludwig von Helmstatt über den geplanten Aufstand informiert hatte , festzuhalten. Nicht auszuschließen ist , dass er den Bericht für Philipp von Rosenberg verfasste , der im Herbst 1504 die Nachfolge für den im August verstorbenen Ludwig von Helmstatt antrat. Wie Thomas Adam betont , wurden Philipp von Rosenberg , als er durch die Dörfer und Städte seiner neuen Herrschaft reiste , um die Huldigung entgegenzunehmen , Beschwerden vorgetragen. „Dabei bekam er gerade in den beiden Grombachorten den Unmut der Menschen zu spüren : Sie beschwerten sich wegen neuer Fronbelastungen und wegen der Einschränkung ihrer Waldrechte.“55 Doch selbst wenn er einen verwaltungsbezogenen Anlass gehabt haben sollte , passt der Bericht „Wie sich ein buntschuch erhube und widder getilget warde“ nicht recht in das Protokollbuch. „Zwischen zahlreichen Abschriften bischöflicher Verträge , Anordnungen und Dekrete“, so schreibt Adam , „wirkt die kurze Chronik der Unruhen von Untergromach fast wie ein Fremdkörper , wie eine störende und schwer erklärbare Unterbrechung der geregelten Ordnung und bürokratischen Abläufe.“56 Selbst wenn wir 54 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 3 , S. 95–97. 55 Adam : Joß Fritz ( s. Anm. 3 ), S. 130. 56 Thomas Adam : Neues von Joß Fritz ? Begriffsbestimmungen an einem Rebellen : Der Untergrombacher Bundschuhführer zwischen Mythos , Politik und Geschichtswissenschaft , in : Badische Heimat 82 , Heft 3 ( 2002 ), S. 477–495 , S. 482
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nicht wissen , welche Absicht Georg Brentz mit seinem Protokollbucheintrag über die Bundschuhunruhen verfolgte , ist es sehr aufschlussreich , sich anzuschauen , wie Brentz seinen Bericht aufbaute , worüber er berichtete und worüber nicht. Bemerkenswert ist schon der Anfang : Die mit der Formulierung „wie sich ein buntschuhe erhube und widder getilget warde“ überschriebene Erzählung beginnt keineswegs mit der Darstellung der Anfänge der geplanten Erhebung , sondern mit einem ausführlichen Bericht darüber , wie und wann die Obrigkeit im Bistum Speyer Kenntnis über die Verschwörung erhalten und wie und wann sie reagiert hatte. Brentz beginnt , und das spricht für den verwaltungsbezogenen Zweck der Aufzeichnung , mit dem Hinweis , dass Lux Rapp , ein in der Markgrafschaft Baden gebürtiger Fußknecht , in der Woche nach dem 3. April 1502 nach Udenheim gekommen sei und dem Bischof und seinen Hofmeister „in geheime“ angezeigt habe , dass sich eine Gesellschaft , „die buntschuwer genannt“, eidlich verbunden hätte , um Schlösser , Klöster und Städte einzunehmen , mit dem Ziel , „es sollten alle burger und buher zu inen slahen. dann wolten sie pfaffen und edelluten gesetz geben , sich selbs frihen und , wer ine widerwertig were , dieselbe zu döt slagen.“57 Dieser Nachricht schenkte weder der Bischof noch sein Hofmeister Glauben , und auch als Lux Rapp wiederum nach Udenheim kam , um den Namen des Hauptverdächtigen , des jungen Bauern Fritz aus Untergrombach , preiszugeben , glaubte man ihm nicht. Die Obrigkeit reagierte erst auf die Anzeige eines ihrer Untertanen , des Udenheimer Bürgers Theobald , der in einem herrschaftlichen Wald , dem „cammerforst“, von einem Udenheimer Bauern angeworben war , der Gesellschaft beizutreten. Sobald Theobald die Nachricht dem zuständigen Amtmann übermittelt hatte , schritt die Obrigkeit zur Tat : Sie ordnete die Verhaftung der Verdächtigten an , konnte aber nur einen der Schlossknechte gefangen nehmen , der verhört wurde und die Namen zahlreicher Anhänger bekannt gab , die ebenfalls gefangen und durch den Nachrichter verhört worden waren. Ihre Aussage entsprach im Wesentlichen dem , was Lux Rapp schon in seiner ersten Anzeige ausgesagt hatte. Im weiteren Bericht geht Georg Brentz knapp auf das gegenseitige Warn- und Informationssystem der Obrigkeiten ein , auch darauf , dass der Bischof seinen Beitrag geleistet hätte , indem er die Stadt Speyer und Kurpfalz warnte. Ausführlich werden die Strafen beschrieben , die unter Zugrundelegung des neuen , in der königlichen Kanzlei erarbeiteten Strafmandats verhängt worden waren : Man habe etwa hundert Anhänger der Bewegung für schuldig befunden , zehn seien hingerichtet , drei des Landes verwiesen , viele am Gut gestraft worden. Andere seien geflohen , manche außerhalb Landes verurteilt worden. Mit der Hoffnung , dass diese Strafen eine abschreckende Wirkung hatten und künftige Verschwörungen vermieden würden , schließt Brentz diesen Abschnitt ab. Er verweist schließlich dar57 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 3 , S. 95.
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auf , dass die Nachricht über die Unruhen – die „meer“ – die Obrigkeiten anfangs in großen Schrecken versetzt hatte , so dass sie Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Abschließend drückt er sein Befremden aus , dass der junge Bauer Fritz aus Untergrombach , der als Anfänger und Hauptmann der Bundschuher gelte , zu einem solchen Unternehmen fähig war und dass die Speyrer Untertanen nicht sofort ihrer Pflicht nachgekommen und die Obrigkeit gewarnt hatten. Gerade in der allgemeinen Umbruchsstimmung , in der alle Freiheit forderten und die Herrschaft von Pfaffen und Adel nicht mehr anerkennen wollten , hätte man die Bewegung , wenn sie auch nur einen Monat später verraten worden wäre , nicht mehr in den Griff bekommen. Brentz schließt mit einem Dank an Gott und einem Bekenntnis zur göttlichen Ordnung , die Priester und Adel zum Regieren , Bauern aber zum Dienen bestimmt habe , wobei die Herren zu einer mäßigen und vernünftigen Regierung verpflichtet seien. Der letzte Gedanke , dass Priester und Adel regieren und Bauern dienen sollen , greift im Grunde noch einmal das auf , was Lux Rapp – freilich mit umgekehrten Vorzeichen – als Programm der Aufständischen formuliert haben soll : Die Bundschuher wollten , so schreibt Brentz , „den pfaffen und edelluten gesetz geben“. Eine solche Formulierung gehört in den Motivbereich der verkehrten Welt. Sie verweist nicht nur auf ein verbreitetes literarisches Motiv , sondern auch auf den gesamten Bereich der Inszenierung von Herrschaft , vor allem im Kontext karnevalesker Bräuche.58 Die ritualisierte Rollenumkehr , die verkehrte Welt also , hatte eine lange Tradition , die vor allem in Bezug auf die symbolische Umkehr der Geschlechterrollen gut untersucht ist.59 Wenigstens einmal im Jahr für eine begrenzte Zeit spielerisch die Rollen zu tauschen , Kritik an der Herrschaft zu üben , konnte eine Ventilfunktion haben , konnte Herrschaft stabilisieren. Doch das Bild der verkehrten Welt war ambivalent , es drückte auch eine Gefährdung aus , konnte in Aufruhr und politischen Ungehorsam umschlagen. Es gibt eine Reihe von Hinweisen , die dafür sprechen , dass auch das Bundschuhsymbol in den Kontext karnevalesker Bräuche gestellt werden kann. So betont Hans Georg Wackernagel in einer kleinen Studie , „dass einst das ‚Bundschuhwappen‘ auch von knabenschaftlichen und ähnlichen Verbänden als Feldzeichen zu fehdemässigen und karnevalistischen Unternehmungen geführt wurde , zu Unternehmun-
58 Natalie Zemon Davis : Humanismus , Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich , Frankfurt / M. 1987 , S. 106–135 : Kapitel 4 : Die Narrenherrschaft , Keith Thomas : Work and Leisure in Pre-Industrial Society , in : Past and Present 29 , 1964 , S. 53 f., Michail Bachtin : Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold , hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann , Frankfurt / M. 1987 , S. 238 ff. 59 Davis : Humanismus ( s. Anm. 57 ), S. 136–170 : Kap. 5 : Die aufsässige Frau ( zuerst 1978 ).
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) gen , an dem man darf schon sagen merkwürdigerweise – nicht das bäuerliche , sondern das adelige Element massgebend beteiligt war“.60
Vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Praxis karnevalesker Bräuche , in denen spielerisch die alte Ordnung verspottet und vernichtet wird , um Raum zu schaffen für das Aufzeigen von Alternativen zur bestehenden Ordnung , wird bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar , warum man in Speyer der Warnung des Lux Rapp keine Beachtung geschenkt hatte. Wenn es , was Wackernagel nahelegt , auch noch einen ganz anderen Gebrauch des Bundschuhwappens gab , wenn Bundschuh nicht eindeutig als Aufruhrsymbol zu identifizieren war , dann musste die Obrigkeit der Anzeige des Lux Rapp nicht unbedingt Glauben schenken. Schließlich war Rapp ein Fremder , er überbrachte die Nachricht „in geheime“, und er bezichtigte Untertanen des Bischofs. Eine gute Obrigkeit aber muss – auch das ist eine Botschaft , die der Text von Georg Brentz vermittelt – den eigenen Untertanen vertrauen können , sie vor fremden Gerüchten schützen. Eine solche Deutung passt zu dem insgesamt apologetischen Grundtenor des Berichtes von Georg Brentz , der eben nicht die Anfänge und das Ende des Bundschuhs erzählt , sondern das Verhalten der Obrigkeit beschreibt und rechtfertigt , auf jeden Hinweis auf mögliche herrschaftsinterne Ursachen der Bewegung verzichtet und über die Rolle von Joß Fritz und die mangelnde Anzeigebereitschaft der Untertanen lediglich sein Befremden zum Ausdruck bringt. Brentz lässt keinen Zweifel daran , dass die Speyrer Obrigkeit die Bewegung unter Kontrolle hatte , und das , obwohl sie extrem gefährlich zu werden drohte. Die harten Strafen , unter denen die Bevölkerung noch 1504 zu leiden hatte , waren legitim – sie gingen auf königliche Ordre zurück – und notwendig. Schließlich hatte die Nachricht über die Vorgänge in Untergrombach , „den fursten ( großen und kleinen ) nit wenig furcht bracht“.61 Dass der junge Joß Fritz als Haupträdelsführer entkommen konnte , wird von Brentz zwar erwähnt , aber nicht weiter problematisiert. Brentz hofft auf die abschreckende Wirkung der Strafen. Waren doch allein im Bistum Speyer zehn Menschen wegen der Beteiligung an einer Verschwörung hingerichtet und danach am toten Körper gestraft worden. Das , was die Bewegung wirklich gefährlich machte , lässt sich jedoch nach Auffassung des Landschreibers nicht aus dem lokalen Kontext erklären , muss vielmehr in Zusammenhang mit dem allgemeinen Hang zur Freiheit erklärt werden : „dan der friheit allemeniglich begert und von pfaffen und adel ungern beswert sind“. Die leichte Mobilisierbarkeit der Untertanen hat ihre Ursache letztlich in den Freiheits- und 60 Hans Georg Wackernagel : Einige Hinweise auf die ursprüngliche Bedeutung des „Bundschuhs“, in : Schweizerisches Archiv für Volkskunde 54 ( 1958 ), S. 150–155 , hier S. 155. 61 Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 3 , S. 97.
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Reformdiskursen ihrer Zeit. Ihnen stellt Georg Brentz abschließend noch einmal das Bild von der „rechten Ordnung“ entgegen , die allerdings , so räumt er ein , auch von Obrigkeiten nicht immer beachtet wird. Wenn er abschließend auf Beispiele für eine schlechte Herrschaft und daraus resultierende Aufstände verweist und darüber klagt , dass es dafür auch jetzt noch „in tutschen landen“ Exempel gäbe , so hatte er damit wohl kaum die eigene Herrschaft im Blick. Untergrombach erscheint in seinem Bericht eher als ein zufälliger Ort für den Ausbruch einer Verschwörung , vielleicht müsste man präziser sagen : als zufälliger Ausgangspunkt für die Nachricht über eine Verschwörung , die , als sie neu war , die Obrigkeiten in Angst und Schrecken versetzte.62 Zusammenfassend kann man festhalten , dass Georg Brentz aufgrund seiner Position als Landschreiber im Bistum Speyer über ausreichend Detailwissen verfügt haben muss , um umfassend über den Bundschuh zu berichten. Letztlich ging es ihm aber nicht um eine Darstellung des geplanten Aufstandes , um die Aufständischen und ihre Ziele , sondern um die Herrschaft im Bistum Speyer , deren besonnenes Handeln er beschreibt und rechtfertigt. Seine Aussagen über die Ziele der Aufständischen oder die Zahl der Anhänger lassen sich daher nicht 1 :1 umsetzen und als konkretes Programm deuten. Historische Wahrheit bedeutete im 16. Jahrhundert nicht , zu schreiben , wie es wirklich gewesen war , sondern wie es hätte sein sollen. Dies wird noch deutlicher wenn wir uns nun in einem letzten Abschnitt dem Bericht des Sponheimer Abtes Trithemius zuwenden , dessen historische Glaubwürdigkeit durch schwerwiegende Fälschungsvorwürfe von jenen erschüttert wurde , die seine Texte mit einem zeitgenössischen Verständnis von Wahrheit zu erschließen versuchten.63 3. Eine Verschwörung der Gottlosen ?
Die ausführlichste Darstellung des Bundschuhs von Untergrombach stammt aus der Feder des Sponheimer Abtes Johann Trithemius , der 1495 beauftragt worden war , die Annalen des Klosters Hirsau aufzuschreiben. In einer ersten Arbeitsphase bis 1503 bearbeitete er den Zeitabschnitt bis 1370. Nach einer Unterbrechung von einigen Jahren nahm er 1509 die Arbeit an den Hirsauer Annalen wieder auf , führte das Werk bis in seine Gegenwart fort und überarbeitete das Gesamtwerk. Obwohl die Annales Hirsaugienses mit den Unruhen am Oberrhein nichts zu tun haben , findet sich im zweiten 62 Dass in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs kollektive Ängste keine Ausnahme waren , mag ein Blick auf die großer Furcht zur Zeit der Französischen Revolution zeigen ( s. dazu : Georges Lefebvre : La grande peur de 1789. Présentation de Jacques Revel , Paris 1988 ). S. dazu auch oben Anm. 25. 63 Nikolaus Staubach : Auf der Suche nach der verlorenen Zeit : Die historiographischen Fiktionen des Johannes Trithemius im Lichte seines wissenschaftlichen Selbstverständnisses , in : Fälschungen im Mittelalter : internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica , Müchen , 16.–19. September 1986 , Teil 1 : Kongreßdaten und Festvorträge ; Literatur und Fälschung , Hannover 1988 , S. 263–316.
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Band ein längerer Abschnitt über den Bundschuh im Bistum Speyer. Der Band wurde 1514 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine neue Verschwörung , der Bundschuh von Lehen , entstanden und unterdrückt worden. Sie hatte im Winter 1513 / 14 eine große publizistische Aufmerksamkeit erfahren. Auch wenn wir nicht wissen , wann genau Trithemius das Kapitel über 1502 geschrieben und abschließend bearbeitet hat , bleibt mit Guy P. Marchal festzuhalten , dass Trithemius „zunächst einmal ein den Geschehnissen sehr ferner Zeuge“ war. Doch das ist nicht das einzige Problem , das sich stellt , wenn man Trithemius zum Kronzeugen des Untergrombacher Bundschuhs macht. Trithemius muss , auch darauf hat Guy P. Marchal hingewiesen , im Kontext seiner Zeit interpretiert werden und das heißt , unter Berücksichtigung seiner Vorstellung von geschichtlicher Wahrheit , die er mit seinen gelehrten Zeitgenossen teilte. Und diese unterscheidet sich grundlegend von unserer eigenen Auffassung. Das eigentliche Wahrheitskriterium für den Humanisten Trithemius war die Frage , ob sich in einem Geschehen das heilsrelevante Wirken Gottes erkennen lasse. „Angesichts einer lückenhaften , widersprüchlichen , fabulösen oder verfälschten und weithin sogar gänzlich fehlenden Überlieferung muß“, so schreibt Nikolaus Staupach , „der Geschichtsschreiber seinen Quellen die ‚historische Wahrheit‘ durch verschiedene Behandlungsmodi abnötigen , wenn er seine Darstellungsabsichten , die den utilitas-Zweck seiner Werke ausmachen , erreichen will.“64
Dazu gehörten rhetorische Verfahren wie die Erweiterung oder Verkürzung des Stoffes , die Widerlegung von Traditionen , die der Autor für falsch hielt , das Überliefern von Nachrichten , die sich als nützliche Beispiele ( utilia exempla ) eigneten , auch dann , wenn ihr Wahrheitsgehalt nicht erwiesen ist , und „die demonstrative Unterdrückung von Zeugnissen , die der moralischen Tendenz des Werkes zuwiderlaufen , deren Faktizität aber unbestritten ist“.65 Was dieses Verständnis von Geschichtsschreibung für die Bundschuhberichterstattung des Trithemius bedeutet , hat Guy P. Marchal in Bezug auf die Bedeutung der schweizerischen Eidgenossenschaft für die Bundschuhbewegung herausgearbeitet. Überzeugend legt er dar , dass der Hinweis von Trithemius , die Bundschuher hätten sich ‚more Suizorum‘ verbunden , nicht als eine rapportierte Selbstaussage der Bundschuher , sondern als eine Wertung zu verstehen ist. Hier kommen antieidgenössische Vorstellungen zum Ausdruck , wie sie im Umfeld des süddeutschen Humanistenkreises , aber auch des Kaisers , zu dem Trithemius zeitweise sehr enge Kontakte hatte , verbreitet waren : Die Schweiz erscheint nicht als Vorbild sondern als Metapher für Verrat , Eidbruch , Abfall vom Reich.66 Die Auffassung , dass Joß 64 Staubach , Fiktionen ( s. Anm. 64 ), S. 279. 65 Staubach : Fiktionen ( s. Anm. 64 ), S. 280. 66 Marchal : Bundschuh ( s. Anm. 2 ).
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Fritz bereits 1502 „eine eigene , eine neue Gemeinschaft nach dem helvetischen Modell“ begründen wollte ,67 lässt sich demnach wohl kaum halten. Dem Text von Trithemius kann man sich wohl am ehesten nähern , wenn man ihn als Exempel für das Wirken der göttlichen Vorsehung liest.68 Der Autor beginnt seinen Bericht mit der Mitteilung , dass einige Bauern , wahnwitzige Übertreter ihrer Eide , sich nach Art der Schweizer gegen ihre Herren , den Bischof von Speyer und die Kanoniker , eidlich verbunden hätten. Er berichtet , wie schnell sich diese Bewegung ausgebreitet hatte und durch geheime Werber viele Anhänger warb. Detailliert beschreibt er das Fähnlein , auf dem sich neben der Bildsymbolik auch die Inschrift fand : „Nichts dann die Gerechtigkeit Gottes“. Aus dem nun folgenden Kommentar erschließt sich denn eigentlich die ganze Struktur des Textes : „Aber in den folgenden ( Aussagen ) nach dem Bekenntnis der Gefangenen werden wir leicht darlegen , dass diese unrechten Menschen nicht die Gerechtigkeit Gottes verlangt haben , sondern vielmehr sich bemühten , diese zu bekämpfen und auszutilgen. Doch weil die göttliche Vorsehung es so anordnete , wurde der Plan aufgedeckt , und ziemlich viele derjenigen wurden gefangen genommen , die als Verursacher der Verschwörung aufgetreten sind.“
Der Bundschuh wird also als Exempel genommen für das Wirken der göttlichen Vorsehung und ihren Sieg über die Gottlosen. Die unter der Folter erzwungenen Aussagen der Verschwörer , die ‚das Geheimnis ihrer Gottlosigkeit‘ offenbaren ( arcanum impietatis suae ), fasste Trithemius in dreizehn Artikeln zusammen. An zentraler Stelle werden die Frömmigkeitspraktiken dargestellt , die im Kontext mit der Aufnahme in das Bündnis standen : „Zweitens bekannten sie , daß ein jeder , wenn er auf ihren Wahnsinn geschworen habe , zuerst fünfmal das Vaterunser zusammen mit dem Englischen Gruß zur Erinnerung an die Fünf Wunden Christi mit gebeugten Knien aufsagen müsse , zu dem Zweck , daß Gott ihrem Vorhaben zur ( Erlangung der ) Gerechtigkeit einen günstigen Ausgang gewähren möge“.
Nachdem im Abschnitt vorher klar gestellt worden war , dass die Bundschuher gottlos waren , kann kein Zweifel bestehen , dass Trithemius mit dem Verweis auf die Ge67 Thomas Adam : Joß Fritz , ( s. Anm. 3 ) S. 105. Ganz explizit auch bei : Gunter Zimmermann : Die Grundgedanken der Bundschuhverschwörungen des Joss Fritz , in : Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 142 ( 1994 ), S. 141–164 , hier S. 152 ff. 68 Der Bericht des Trithemius aus den Annales Hirsaugienses , II , S. 589–592 ist bei Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 1 ediert und gut zugänglich. Ich werde ihn im folgenden in der Regel nicht in lateinischer Sprache , sondern in einer deutschen Übersetzung , die A. Lozar für eine Publikation vorbereitet , zitieren. A. Lozar sei an dieser Stelle für die Überlassung des Manuskriptes gedankt.
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bete und auf das religiöse Wahrzeichen Maria und Johannes nicht die Frömmigkeit , sondern die Gottlosigkeit und die Gotteslästerung der Bundschuher benennen will. Anders als in der Überlieferung von 1502 wird das Losungswort als einseitig antiklerikal beschrieben : „Was ist Euch für ein Wesen – Wir mögen vor den Pfaffen nicht genesen !“69 Zur Bekräftigung fügt Trithemius noch den Ausruf an : „O bäuerliche Sündhaftigkeit , dem Klerus immer beschwerlich !“ Gleich in zwei Artikeln , dem sechsten und dem zehnten , betont Trithemius , dass die Verschwörer beschlossen hätten , die Güter der Klöster , der Kathedral- und der Stiftskirchen , zugleich auch die des gesamten Klerus im Umkreis zu rauben und nach ihrem Gutdünken unter sich aufteilen zu wollen. Außerdem planten sie , die Kirchendiener zu unterwerfen und wo sie es könnten , in die Armut zu treiben. Letztlich war ihr Ziel , jede Art von Freiheit zu erringen und keinerlei Herrschaft mehr zu ertragen. Nachdem Trithemius ausführlich dargestellt hatte , was der „blinde Wahnsinn der Bauern“ ( rusticorum temeritas ) ausgebrütet hatte , beschließt er diesen Abschnitt mit einem Hinweis auf die Allmacht Gottes : „doch der allmächtige Gott kam ihrer Bosheit zuvor in seiner Güte und ließ nicht zu , dass sie etwas erreichten.“ Trithemius berichtet anschließend noch über die Rolle Maximilians bei der Unterdrückung der Unruhe , geht knapp , um nicht zu sagen eklektisch auf das Strafmandat Maximilians ein und endet mit der Feststellung , dass der Aufruhr beigelegt wurde , „nachdem die einen getötet , die anderen verstümmelt oder anders bestraft worden waren und viele die Flucht ergriffen hatten“. Insgesamt fällt auf , in wie vielen Einzelheiten der Text von Trithemius von der Überlieferung aus dem Jahr 1502 abweicht und um wie viel stärker der antiklerikale Charakter der Bewegung herausgestrichen wird. An seiner Abscheu über die Gottlosen lässt der Autor keinen Zweifel. Statt seinen Text als Steinbruch für historische Fakten zu benutzen , sollte man die Chronik als Exempel vom Sieg des Guten über das Böse lesen und in die Tradition jener Geschichtswerke stellen , über die Klaus Schreiner schrieb : „Je mehr sich [ … ] in der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung das moralische Interesse durchsetzte , das dem historischen Werk zugleich die Gestalt einer reichhaltigen Exempelsammlung gab , desto stärker wurden historische Stoffe manipulierbar. Die Frage nach dem historischen Wahrheitswert eines Berichtes wurde nebensächlich [ … ].“70
69 In der im April 1502 protokollierten Aussage des Lux Rapp heißt es „wir konnen vor pfaffen und den ettellutten nit geneßen“. Rosenkranz : Bundschuh , Quellen ( s. Anm. 4 ), Nr. 10 , S. 101 hält Trithemius für authentischer und vermutet , dass Lux Rapp die Edelleute hinzugesetzt habe. Seine Auffassung wurde in den Darstellungen zum Bundschuh in der Regel übernommen. 70 Klaus Schreiner : Abt Johannes Trithemius ( 1462–1516 ) als Geschichtsschreiber des Klosters Hirsau , in : Rheinische Vierteljahresblätter 31 ( 1966 / 67 ), S. 72–138 , hier S. 130 f.
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Ein solcher Bericht eignet sich als Quelle für eine Rezeptions- , nicht aber für eine Ereignisgeschichte des Bundschuhs. 4. Fazit
Wie eingangs erwähnt , lassen sich über den Bundschuh von Untergrombach kaum zuverlässige Quellen finden , und das , obwohl die Bewegung – nicht zuletzt aufgrund der aufgezeigten politischen Konstellationen – eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit erfahren und Verarbeitungsdruck ( Brentz , Trithemius ) erzeugt hat. Über das , was Joß Fritz und seine Anhänger wollten , können wir bestenfalls spekulieren. Unklar bleibt auch , ob ihre Aufstandsbereitschaft mit konkreten Beschwerden , mit Missständen im Bistum Speyer etwa , erklärt werden kann und welche Bedeutung die zeitgenössischen Reform- und Freiheitsdiskurse für die Mobilisierbarkeit des „gemeinen Mannes“ hatten. Auf Deutungsunterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung weist , wie oben gezeigt , die Verwendung der Wörter ‚Bund‘ , ‚bundnus‘ , ‚sammnung‘ bzw. ‚bös furnemen‘ und ‚Bundschuh‘ hin. Die Quellen deuten an , dass die Aufständischen ihren Zusammenschluss als einen Bund , der der Gerechtigkeit Beistand tun sollte , verstanden wissen wollten. Die Wortwahl verweist auf mögliche Bezüge zum Bundes- und Landfriedensgedanken. Interessant ist aber , dass es neben der Polarität zwischen Verschwörern und Obrigkeit auch noch eine zweite Trennlinie zu geben scheint : Die zwischen lokaler Obrigkeit und den anderen , weiter entfernten Herrschaften , die den Bundschuh und seine Bekämpfung zu ihrer Sache machten : den elsässischen Ständen und dem König. Bischof und Domkapitel von Speyer standen nicht nur im Verdacht , ihre Untertanen nicht konsequent genug zu bestrafen , in der Speyerer Überlieferung des Jahres 1502 wurde auch das Wort Bundschuh oder ‚bös fürnemen‘ vermieden und eher von ‚bund‘ oder ‚sammung‘ gesprochen. Und auch der Umstand , dass man in Speyer der Anzeige des Lux Rapp anfangs nicht geglaubt hat , deutet in die gleiche Richtung : In der Herrschaft selbst hielt man die aufkeimende Bewegung offensichtlich nicht für so gefährlich wie außerhalb. War das Ignoranz der lokalen Herrschaften oder ist es ein Symptom dafür , dass die Reaktionen der Obrigkeiten mehr in der Angst vor konspirativen Bewegungen als in der Existenz und Gefährlichkeit von Aufständen und Verschwörungen begründet waren ? Für die Speyrer Untertanen im Unruhegebiet hatte der als Bundschuh qualifizierte Aufstandsversuch schwerwiegende Folgen : Körperstrafen , Landesverweis , Hinrichtungen. Die Geschichte von Joß Fritz , der entkommen konnte und später einen neuen Aufstand organisierte , lässt dies manchmal vergessen. Aber auch für andere Untertanen , die für eine Veränderung ihrer Verhältnisse kämpfen wollten , verschlechterten sich die Rahmenbedingungen. Dem „gemeinen Mann“ wurde Selbsthilfe strikt unter-
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sagt , sein Kampf für eine Veränderung der Verhältnisse als Aufruhr eingestuft und kriminalisiert.71 Mit der Qualifizierung des Bundschuhs als „Verrätherey“ und den harten Strafandrohungen gegen alle Nichtbeteiligten , die ihrer Untertanenpflicht , die Herrschaft zu warnen , nicht nachgekommen waren , wurde der Kreis der Schuldigen auf die Mitwisser ausgedehnt und damit ebenso wie mit den verstärkten Überwachungsmaßnahmen die Kontrolle über die Untertanen verstärkt. Abschließend bleibt festzuhalten , dass mit dem Bundschuh von Untergrombach im Jahre 1502 eine Widerstandstradition begründet bzw. fortgeschrieben wurde , die trotz aller Restriktionen die nachfolgende Generationen immer wieder dazu ermutigte , sich zu erheben , um „der Gerechtigkeit einen Beistand“ zu tun.
71 Fehde war den Untertanen ohnehin immer verboten , so dass die entscheidende Veränderung weniger im Ausschalten der Selbsthilfe als in der Verdrängung schiedsrichterlicher Verfahren zu sehen ist. Sie wurden durch Gerichtsverfahren ersetzt , die für die Untertanen schwieriger , unübersichtlicher und kostspieliger waren. Dies lässt sich auch an den Klagen über das Rechtswesen ablesen , die um 1500 zunahmen ( Claudia Ulbrich : Der Charakter bäuerlichen Widerstands in vorderösterreichischen Herrschaften , in : Aufstände , Revolten , Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa , hg. von Winfried Schulze. Stuttgart 1983 , S. 202–216 ).
Geschlechterrollen 1. Begriff und Konzepte
Geschlechterrollen sind sozial konstruiert und in ihrer Ausprägung und Bedeutung vom jeweiligen historischen Kontext abhängig. Zwar betonten normative Ordnungen sowie wissenschaftliche , juristische und theologische Diskurse der europäischen Neuzeit die Hierarchie zwischen den Geschlechtern und wiesen Frauen und Männern unterschiedliche Aufgaben und Eigenschaften zu , doch erhielten psychologische Charakteristika , die aus dem biologischen Geschlecht hergeleitet wurden , erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts große Bedeutung für die Konstruktion von Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Frauen und Männer wurden nun nicht mehr graduell ( im Sinne des Eingeschlechtsmodells ), sondern wesensmäßig unterschieden. In Verbindung mit dem Konzept der „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“1 wurde die Vorstellung , dass der Mann von Natur aus für das öffentliche Leben und die Frau für den davon abgetrennten privaten Bereich zuständig sei , „wissenschaftlich“ fundiert und popularisiert ( s. u. 3. 3. ). Dieses letztlich ahistorische Konstrukt einer binären Opposition von Frauen und Männern und die damit verbundenen Vorstellungen einer identitätsgebundenen Sexualität ( auch Homosexualität ) prägen in vielen europäischen Gesellschaften bis heute nachhaltig die Vorstellungen über das angemessene Verhalten der Geschlechter und die Handlungsmöglichkeiten von Männern und Frauen. In der neueren Forschung werden soziologische und sozialpsychologische Rollentheorien , die in den 1950er , 60er und 70er Jahren Konjunktur hatten , als statisch und essentialistisch zurückgewiesen , weil sie Machtverhältnisse ebenso ausblenden wie den Prozess der Aneignung und Herstellung des Konstrukts Geschlecht. Eine historische Rollentheorie , die die unausgesprochenen Vorannahmen über die Naturgemäßheit einer zweigeschlechtlichen , in Differenz und Dominanz begründeten Geschlechterordnung hinter sich lässt , muss noch entwickelt werden. Sie müsste einen Weg aufzeigen , zu untersuchen , wie Geschlechterrollen , Differenzen und Identitäten sowie ihre Repräsentationen produziert , bestätigt , aufrechterhalten und verändert wurden. Mit einem solchen Ansatz könnte deutlicher als mit dem vieldeutigen Begriff „Geschlecht“ bzw. englisch gender zum Ausdruck gebracht werden , dass männliche und weibliche Identitäten nicht individuell definiert , sondern kulturell festgelegt wurden. 1 Karin Hausen : Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben , in : Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas : Neue Forschungen , hg. von Werner Conze , Stuttgart 1976 , S. 363–393.
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2. Grundlagen und Entwicklungslinien
In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften beruhte die gesellschaftliche Ordnung wesentlich auf der Idee der Zugehörigkeit , die in der Ordnung des Hauses konkretisiert wurde. „Haus“ bezeichnete nicht nur das Gebäude , sondern auch die ihm entsprechende Sozialform , in die Menschen über kürzere oder längere Zeit ihres Lebens eingebunden waren. Auch wenn viele Menschen außerhalb der Ordnung des Hauses lebten oder leben mussten , kann das Haus bzw. der Haushalt als die zentrale soziale Institution angesehen werden , in der und durch die Macht ausgeübt und soziale Hierarchien erzeugt und wirksam wurden. Das Haus war – in manchen ländlichen Regionen bis ins 20. Jahrhundert – normativ abgesicherter Arbeits- und Lebenszusammenhang und zugleich integraler Bestandteil einer Herrschaftsordnung , die zwischenmenschliche Beziehungen strukturierte.2 Unter dem Begriff Haus wurden nicht nur die ehelichen Haushalte verstanden , auch Herrschaft war nach diesem Modell konzipiert. Kirchliche , klösterliche , fürstliche oder höfische Haushalte stellten unterschiedliche Formen häuslichen Zusammenlebens dar.3 Zwar war das so verstandene Haus bzw. der Haushalt keineswegs der einzige Ort , an dem Geschlechterrollen produziert , bestätigt , aufrechterhalten und verändert wurden , doch war die Ordnung des Hauses von grundlegender Bedeutung für die Ausbildung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen. Neben normativen Vorstellungen , wie sie u. a. in der Hausväterliteratur beschrieben sind , beeinflussten verwandtschaftliche , nachbarschaftliche , staatliche und kirchliche Ordnungen , Literatur und Kunst , Predigten und Mythen ebenso wie Traditionen und alltagspraktische Anforderungen die Handlungsmöglichkeiten von Männern und Frauen und die geschlechterbezogenen Verhaltenserwartungen. Diese waren je nach dem Stand der einzelnen Personen innerhalb des Hauses und der Bedeutung des Hauses innerhalb von Nachbarschaft , Gemeinde und Herrschaft unterschiedlich. Neben Geschlecht prägten Kategorien wie Alter , Stand , Herkunft , Ehre ebenso wie die rechtlichen , religiösen und ökonomischen Rahmenbedingungen die Vorstellungen davon , für wen in welcher Situation welches Verhalten als gesellschaftlich angemessen angesehen wurde. Je nach Konstellation konnten die sozialen Unterschiede zwischen Frauen bzw. zwischen Männern in einem Haus wichtiger sein als die zwischen den Geschlechtern. Grundlegend war aber der Unterschied bzw. die Hierarchie zwischen 2 Claudia Ulbrich : Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ( Aschkenas Beiheft 4 ), Wien 1999 , S. 14–21. 3 Gabriele Jancke : Die Kirche als Haushalt und die Leitungsrolle der Kirchenmutter. Katharina Zells reformatorisches Kirchenkonzept , in : Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit , hg. von Heide Wunder / Gisela Engel , Königstein / Ts. 1998 , S. 145–155.
Geschlechterrollen
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den Häusern. Die Zugehörigkeit zu oder der Ausschluss aus einem adeligen , bürgerlichen , geistlichen oder bäuerlichen Haus konnte – unabhängig von Geschlecht und der Position im Haushalt – Identität bzw. Hierarchie zum Ausdruck bringen. Mit dem Niedergang der sozialen Einheit Haus und der Dissoziierung von Erwerbsund Familienleben seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde ein struktureller Wandel eingeleitet. Die Geschlechtergrenzen verschoben sich : In den zumeist komplementären Geschlechterentwürfen der bürgerlichen Gesellschaft , die im 19. Jahrhundert zur Leitkultur avancierte , wurden Frauen als Mutter , Hausfrau und Ehefrau auf die private Sphäre des Hauses verwiesen , das nun aus dem politischen Raum ausgesondert wurde , während die öffentliche Sphäre , Politik und Berufswelt den Männern zugeordnet wurde. Erst jetzt erhielten die Diskurse um die Geschlechterordnung durch die Einbindung in die binäre Opposition von Natur und Kultur den Anschein einer unhintergehbaren Realität. Die Neucodierung der Geschlechter wurde wissenschaftlich durch die Entwicklung einer Sonderanthropologie des „Weibes“ abgesichert ,4 die es erlaubte , das Männliche als eine universelle Kategorie mit dem allgemein Menschlichen gleichzusetzen. In der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts fand dieses Denken seinen Ausdruck in Wendungen wie „der Mensch mit Weib und Kind“.5 Die bis heute gesellschaftlich und wissenschaftlich wirksamen Vorstellungen von Geschlechterrollen in vormodernen Gesellschaften sind Effekte der bürgerlichen Geschlechterordnung. Sie fanden ihren Niederschlag in ahistorischen Entwürfen vom System des Patriarchats , das vielen Forschungen über gesellschaftliche Ordnungen als unausgesprochene Vorannahme zugrunde liegt. So konstruierte der deutsche Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl , der 1854 den Wissenschaftsbegriff des „ganzen Hauses“ prägte , für die Vormoderne ein autarkes , selbstgenügsames Haus , das von einem patriarchal-autoritären Hausvater regiert wurde. Die Ordnung im Haus setzte die Ungleichheit der Geschlechter voraus , die dem Denken seiner Zeit gemäß als Naturgesetz verstanden wurde. Im „ganzen Haus“ fanden die im 19. Jahrhundert entstandenen Vorstellungen von der Ordnung der Geschlechter , die durch einen „pathetischen Überschuss an Differenz und Hierarchie“6 gekennzeichnet waren , ein getreues Abbild. Die Vorannahme , dass es die ureigenste Bestimmung der Frau sei , als Mutter , Eheund Hausfrau ihr Leben zu gestalten , bestimmte bzw. verhinderte für lange Zeit die weitere historische Forschung über den Anteil der Frauen an der Geschichte. Ahis4 Claudia Honegger : Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib , 1750–1850 , Frankfurt / M. 1991. 5 Johann Gustav Droysen : Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte , München 61971 ( Orig. 1857 ). 6 Honegger : Die Ordnung der Geschlechter ( s. Anm. 4 ), S. X.
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torische , universelle Geschlechterrollenkonzepte trugen dazu bei , Frauen als historische Subjekte systematisch aus dem Geschichtsprozess auszuschließen und Vorstellungen von ihrer wesensmäßigen Bestimmung als Mutter festzuschreiben. Es gibt guten Grund zur Annahme , dass die Hausväterliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts mit dem Bild des treusorgenden , verantwortungsbewussten , stets um Kontrolle bemühten Hausvaters , dem die mit zahlreichen Aufgaben betraute Hausmutter zur Seite stand , im 19. und 20. Jahrhundert einen weitaus größeren Einfluss auf die Vorstellungen von Geschlechterrollen und Geschlechterpolitik hatte als in der Zeit ihrer Entstehung. Vor allem aber ist davon auszugehen , dass diese Texte vor der Folie des binären Geschlechtermodells sowie veränderter Haushalts- und Ökonomievorstellungen in einer ganz anderen Weise rezipiert wurden als zuvor. Im 19. und 20. Jahrhundert fanden die praktischen Anweisungen für eine gute und sparsame Hauswirtschaft viel weniger Aufmerksamkeit als die Aussagen über Geschlechterrollen. 3. Diskurse 3. 1. Differenzdiskurse
In Antike , Mittelalter und Früher Neuzeit gab es sehr viele und sehr unterschiedliche Stimmen , die sich mit der Beziehung der Geschlechter , den Eigenschaften und dem angemessenen Verhalten von Frauen und Männern beschäftigten. Dabei schien es zunächst eine offene Frage , ob Männer und Frauen gleich oder unterschiedlich seien. Letzten Endes hatten im Verlauf der Neuzeit jene Diskurse die größte Wirkung und die besten Überlieferungschancen , in denen die Differenz der Geschlechter begründet wurde. Diese Schriften stammten in der Regel aus der Feder gelehrter Männer , die weniger über ihr eigenes Geschlecht als über die Frau als solche nachdachten. Sie verwendeten meist die gleichen Texte wie die Vertreter und Vertreterinnen des Gleichheitsdiskurses ( u. a. biblischer Schöpfungsbericht , Paulusbriefe )7 , deuteten die Texte jedoch im Sinne von Differenz und Hierarchie. Dies lässt sich exemplarisch an der Genesis-Exegese ablesen : Der aus der dominanten Version der Genesis abgeleiteten Auffassung Evas als Verführerin setzten die Verfechter der Frauen in der Querelle des sexes seit dem 14. Jahrhundert , darunter Christine de Pisan , Lucretia Marinella und Marguerite de Navarra , Argumente entgegen , wonach Eva nicht für die Erbsünde verantwortlich sei. Im Anschluss an Christine de Pisan wurde die Auffassung formuliert , die Überlegenheit Evas und damit des weiblichen Geschlechts ruhe „auf vier Grundpfeilern , locus , ordo , nomen , materia , also dem Ort der Erschaffung , der Reihenfolge ( das zuletzt Erschaffene als das Vollkommenste ), dem Namen der ersten Frau ( der im Hebräischen Leben bedeutet ) und ihrer 7 Siehe unten 3. 2.
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Herkunft aus schon beseelter Leiblichkeit“.8 Wichtige Grundlagen für die Befürworter von Differenz und weiblicher Unterlegenheit waren die keineswegs unumstrit tenen misogynen Schriften der Kirchenväter ( Ambrosius , Augustinus , Hieronymus ). Daran anknüpfend entwickelten sie eine Theorie , mit der die physische , moralische und geistige Unterlegenheit der Frau begründet wurde.9 Diese Diskurse zielten nicht nur auf das weibliche Geschlecht , sondern auf die Gesellschaft als Ganzes. Der Geschlechterdiskurs symbolisierte ganz allgemein Ordnung und Unordnung im sozialen und politischen Bereich. Frauen galten vielen Autoren nicht nur als minderwertig , rebellisch und unvernünftig , sie symbolisierten auch alles , was den Ordnungsvorstellungen der schreibenden und herrschenden männlichen Elite zuwiderlief.10 Als eine der frauenfeindlichsten Schriften der Frühen Neuzeit gilt der Hexenhammer ( lat. Malleus maleficarum , 1486 ), der die Frau , „fe-mina“ – „diejenige , die weniger ( lat. minus ) Glauben ( lat. fides ) hat“ –, für das Böse in der Welt verantwortlich machen möchte. Der Hexenhammer allein hätte , daran besteht in der Forschung heute keinerlei Zweifel , niemals die frühneuzeitlichen Hexen-Verfolgungen auslösen können , aber die Schrift war ebenso wie der frauenfeindliche Kontext , in dem sie entstanden war , durchaus geeignet , in bestimmten Konstellationen den Hexenwahn und die Bereitschaft , v. a. Frauen als Hexen zu verfolgen und zu verbrennen , zu verstärken und den Verfolgern entscheidende Argumente zu liefern. In Hinblick auf die Vorstellungen von der Frau stellte die Reformation keinen entscheidenden Bruch dar. Die Reformatoren ( Luther , Zwingli ) lehrten zwar , dass Mann und Frau in Bezug auf Gott gleichwertig seien , hielten aber an der in der mittelalterlichen Scholastik formulierten „natürlichen Minderwertigkeit“ der Frau fest. Sie waren von der Notwendigkeit ihrer Unterwerfung unter männliche Autorität überzeugt. Von größerer Bedeutung als ihre Aussagen über die Geschlechterrollen ist jedoch die Aufwertung der Ehe als einer Institution , in der Geschlechterrollen eingeübt , gelebt und weitergegeben wurden. Auch die wissenschaftliche Revolution des 16. / 17. Jahrhunderts stellte das im 16. Jahrhundert vorherrschende Verständnis von Geschlecht nicht grundsätzlich in Frage. Die Minderwertigkeit der Frauen wurde mit der vom Aristotelismus gestütz8 Elisabeth Gössmann : Die Gelehrsamkeit der Frauen im Rahmen der europäischen Querelle des Femmes , in : Das Wohlgelahrte Frauenzimmer , hg. von Elisabeth Gössmann , München 1984 , S. 8–21 , hier S. 12. 9 Eva Cescutti : Fragilis sexus. Lateinisches Geschlechterwissen im Wandel , in : Streitpunkt Geschlecht. Historische Stationen in der Querelle des femmes in der Romania , hg. von Marlen Bidwell-Steiner et al., Wien 2001 , S. 28–38 , hier S. 31. 10 Natalie Zemon Davis : Humanismus , Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im früh neuzeitlichen Frankreich , Frankfurt / M. 1987 ( engl. : Society and Culture in Early Modern France , 1975 ), S. 136 ff.
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ten , bis ins 17. Jahrhundert verbreiteten Auffassung begründet , dass es nicht zwei , sondern nur ein Geschlecht gebe.11 Danach galt der Mann als die vollkommene , die Frau als die unvollkommene Variante des Menschen. Aus dem Glauben , dass die Natur immer nach dem Vollkommenen strebe , konnte die Angst , Frauen würden Männer verdrängen , ebenso resultieren wie die Praxis , dass sie als Ehefrauen , Herrscherinnen , Regentinnen , Soldatinnen oder Wissenschaftlerinnen Männerrollen einnehmen konnten. 3. 2. Gleichheitsdiskurse
Es gab jedoch auch zahlreiche Stimmen , die alternative Geschlechterentwürfe formulierten ; manche von ihnen wurden gewaltsam unterdrückt , andere konnten sich Gehör verschaffen. Zu denen , die zumindest im Nachhinein viel Aufmerksamkeit erfuhren , gehören v. a. jene Männer und Frauen , deren Schriften der europäischen Querelle des femmes zugeordnet werden. Im Streit um die Frauen , einer Theoriedebatte , in der misogyne Rede und frauenapologetische Gegenrede einander abwechselten , um sich über Themen wie den Status der Frauen , ihre Tugenden und Laster , Gehorsam und Herrschsucht oder die weibliche Wissens- und Wissenschaftsfähigkeit zu verständigen , meldeten sich im Laufe der Frühen Neuzeit immer mehr Autorinnen und Autoren zu Wort , die das weibliche Geschlecht verteidigten , die den Frauen zugeschriebenen Attribute in Frage stellten und die Auffassung vertraten , dass Mann und Frau gleichwertig seien. Zu den frühen Verfechterinnen des weiblichen Geschlechtes gehörten Frauen wie die englische Mystikerin Juliana von Norwich im 14. Jahrhundert oder die französische Schriftstellerin Christine de Pisan im 14. / frühen 15. Jahrhundert , die die ersten Kapitel des Buches Genesis umdeutete , ein Marienbild entwarf , das als Muster weiblicher Selbstentfaltung konzipiert war , und an eschatologische Vorstellungen von der Aufhebung der Geschlechterdifferenz im Jenseits anknüpfte. Mit ihren Schriften begründete sie keine Frauenbewegung , die sich die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ziel gesetzt hätte , wohl aber eine Frauentradition , die „Inseln in einer patriarchalen Welt“ schuf.12 Die Kritik an der Geschlechterhierarchie und -differenz wurde facettenreich vorgetragen : Marie le Jars de Gournay , die fille d’alliance ( „Wahltochter“ ) Michel de Montaignes , vertrat 1626 die These , der Unterschied zwischen den Geschlechtern habe nur in Bezug auf den Körper Bedeutung ; der ehemalige Jesuit François Poullain de la Barre argumentierte 1673 , dass die Frauen den Männern nur aufgrund der ihnen zugewiese11 Thomas Laqueur : Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud , Frankfurt / M. 1996 ( engl. : Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud , 1990 ), S. 39–171. 12 Gössmann : Die Gelehrsamkeit der Frauen ( s. Anm. 8 ), S. 18.
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nen Geschlechter unterlegen seien13 ; und Mary Wollstonecraft ging 1792 in Eine Verteidigung der Rechte der Frau davon aus , dass die Gleichstellung von Mann und Frau dadurch zu erreichen sei , dass die Frauen männlicher werden.14 Mit diesem Argument übte sie Kritik an Jean-Jacques Rousseau , der in Emile 1762 die Abhängigkeit der Frauen von den Männern mit der Natur begründet und ihre Erziehung an den Bedürfnissen der Männer ausgerichtet hatte : „Die ganze Erziehung der Frauen muss daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein , ihnen liebens- und achtenswert sein , sie trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen , das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau , das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen“.15
Mit Sätzen wie „Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann , die Frau aber ihr ganzes Leben lang Frau oder wenigstens ihre ganze Jugend hindurch“16 hatte Rousseau die Differenz der Geschlechter betont und Frauen auf ihre „naturgegebene“ Geschlechts- und Mutterrolle festgelegt. Dagegen forderte Mary Wollstonecraft , dass Frauen sich ebenso wie Männer entscheiden können müssten , wann sie als Menschen ( im Sinne des Gleichheitsdiskurses ) und wann als Frauen ( im Sinne des Differenzdiskurses ) leben.17 Sie schrieb in einer Zeit , in der Forderungen nach der politischen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Mann und Frau v. a. in Frankreich heftig umstritten waren : Frauen engagierten sich für die Französische Revolution , führten die Brotaufstände an , waren Hauptakteurinnen der großen revolutionären Aktionen des Volks ; doch waren ihre politischen Aktivitäten bei allen politischen Gruppen unerwünscht. Trotzdem entwickelten einige Frauen und Männer Konzepte zur Befreiung der Frauen. Frauen standen vor dem Paradoxon , dass sie einerseits als Frauen agierten und damit die Geschlechterdifferenz bestätigten , sie gleichzeitig aber mit ihrer Forderung nach Gleichheit untergraben wollten.18 Die bekannteste unter ihnen war Olympe de Gouges , die 1791 in
13 François Poullain : De l’égalité des deux sexes , Paris 1673. 14 Mary Wollstonecraft : A Vindication of the Rights of Woman , London 1792. 15 Jean-Jacques Rousseau : Emile oder über die Erziehung , Stuttgart 1995 ( Orig. 1762 ), S. 394. 16 Ebenda , S. 398. 17 Françoise Barret-Ducrocq : Aprés le ‚Women’s Liberation Movement‘ , la question des femmes dans la recherche scientifique : Historique et enjeux théoriques , in : Nouvelles sources et nouvelles méthodologies de recherche dans les études sur les femmes , hg. von Guyonne Leduc , Paris 2004 , S. 23– 40 , hier S. 29. 18 Joan W. Scott : Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man , Cambridge / London 1996.
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ihrer Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin die Geschlechterdifferenz „zur Basis der Menschenrechte auch für das weibliche Geschlecht“ machte.19 3. 3. Getrennte Sphären
Seit der Aufklärung wurde in zahllosen Debatten – letztlich mit Erfolg – versucht , eine Gesellschaftsordnung zu begründen , die gleichzeitig auf den Prinzipien von Gleichheit und Freiheit und auf der Idee der rechtlichen und sozialen Unterordnung des weiblichen Geschlechtes aufgebaut war. Dies geschah , indem Männern und Frauen getrennte Sphären zugewiesen und die bis dahin bestehende Idee der Durchlässigkeit und Interferenz von Geschlechterrollen zurückgedrängt wurden. Ein instruktives Beispiel sind die Diskurse um die neue republikanische Gesellschaftsordnung , die seit der Französischen Revolution in vielen Ländern angestrebt wurde. Darin wurden Männern und Frauen unterschiedliche Rollen übertragen : Während Männer politische Partizipation erhalten und politische Rechte aktiv wahrnehmen sollten , wurde für Frauen das Konzept der republikanischen Mutterschaft mit explizit politischer und kultureller Funktion erfunden : Eine republikanische Mutter sollte ihrem Mann und ihren Kindern Liebe und Gehorsam entgegenbringen und darauf achten , dass diese ihre republikanischen Rechte wahrnehmen.20 Das hier sichtbar werdende Modell getrennter Sphären wurde in der Romantik durch die Zuschreibung von Geschlechtermerkmalen ergänzt , die Männer mit Vernunft und Disziplin , Frauen hingegen mit Gefühl in Verbindung brachten. Ähnliches geschah auch in der Wissenschaft : Aus den biologischen bzw. anatomischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern leitete man nun zahlreiche weitere Differenzierungen ab , die sich auf Werte , Eigenschaften und Besonderheiten von Frauen und Männern bezogen. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die europäische Gelehrtenwelt davon überzeugt , dass Wissenschaft und Weiblichkeit unvereinbar seien : „Die Verfechter der Geschlechterpolarität schrieben die Identifizierung von Männlichkeit und Wissenschaft fest , indem sie die Theorie des Geschlechterunterschieds mit dem sozialen Konzept der getrennten Lebensbereiche – des Öffentlichen und des Privaten – verbanden. Dass Wissenschaft in öffentlichen Institutionen betrieben wurde , zwang ihr besondere Formen und Merkmale auf. Diese Eigenschaften deckten sich mit denen , die im 18. Jahrhundert als männliche definiert waren , Werte völlig anderer Art wurden aus der Wissenschaft ausgegrenzt und in der häuslichen Sphäre gepflegt“.21 19 Gisela Bock : Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart , München 2000 , S. 75. 20 Bonnie G. Smith : Changing Lives. Women in European History since 1700 , Lexington / Mass. 1989 , S. 129 f. 21 Londa Schiebinger : Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft , Stuttgart 1993 ( engl. : The Mind has no Sex ? Women in the Origins of Modern Science , 1989 ), S. 327.
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Dass die neue Auffassung von der Geschlechterdifferenz sozial wirksam wurde und sich in der bürgerlichen Gesellschaft zu einem konstitutiven Strukturelement steigerte , lässt sich nicht allein aus Diskursen erklären. Auch im Normensystem und in der sozialen Praxis musste die Geschlechterdifferenz immer wieder neu hergestellt und bestätigt werden ( sogenannte Performativität von Geschlecht ). Die wechselseitige Verschränkung von Diskurs und Praxis und die machtvolle Verbindung der Kategorie Geschlecht mit Vorstellungen der Naturgemäßheit haben sicher dazu beigetragen , die komplexen Wechselwirkungen zwischen „Biologie“ und „Kultur“ in einer binären Struktur Mann / Kultur – Frau / Natur polarisierend festzuschreiben. Generell ist festzustellen , dass es zu den Fragen , wie sich die Geschlechterdiskurse zu Normen und sozialen Ordnungen verhalten , inwieweit sich in den Diskursen Lebenserfahrungen widerspiegeln bzw. ob , wann , in welcher Weise und unter welchen Bedingungen Diskurse sozial wirksam wurden , noch einen großen Forschungsbedarf gibt. 4. Rollenwechsel 4. 1. Hintergründe
Die redundanten Diskurse über die Rolle der Frau , die v. a. von der gelehrten Elite geführt wurden , lassen sich als Diskurse der Ab- und Ausgrenzung lesen , als Teil einer umfassenden Strategie , eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen , welche die Ungleichheit zwischen den Ständen und Geschlechtern erzeugen , aufrechterhalten und festschreiben wollte. Bescheidenheit und Demut wurden zu Tugenden erklärt und die Gefährdung der Ordnung durch das Weibliche thematisiert , das zur Metapher für Schwäche , Gefährdung , Zügellosigkeit generell wurde. Berühmte oder auch gelehrte Frauen , die ihr Leben nicht an dem in normativen Diskursen formulierten „Bestimmungen des weiblichen Geschlechtes“ ausrichteten , wurden nicht selten als männlich beschrieben. 4. 2. Verkleidung
In der Renaissance bezeichnete man eine starke , aus ihrer Rolle hervortretende Frau lateinisch als virago ( „Mannjungfrau“, „Heldenjungfrau“ ), was zum Ausdruck brachte , dass das körperliche und das kulturelle Geschlecht im Denken der Zeit nicht übereinstimmen mussten. Darauf , dass nicht die Anatomie oder die psychische Disposition , sondern äußere Kennzeichen wie die Kleidung entscheidend für die Zuordnung zu einer Geschlechtergruppe waren , verweist auch die bis 1800 weitverbreitete , aber illegale Tradition der Verkleidung , die von dem inszenierten , z. T. ritualisierten Rollentausch zu unterscheiden ist. Die Geschichten von Frauen in Männerkleidern führen „in die Welt der Balladen und Volkserzählungen ( ganz zu schweigen von der Hagiographie ) und werfen faszinierende Fragen nach den In-
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teraktionen zwischen sozialer Realität einerseits und Literatur und Mythos andererseits auf “.22 Sie handeln in der großen Mehrzahl von Frauen , die Matrosen oder Soldaten wurden. Die Gründe der Verkleidung waren sehr unterschiedlich. In den Befreiungskriegen ( Niederlande , Preußen , Tirol ) – wenn es galt , das Vaterland zu verteidigen – wollten auch die Frauen nicht abseits stehen , und griffen als Männer verkleidet zu den Waffen. Andere gaben an , die männliche Geschlechterrolle aus Abenteuerlust angenommen zuhaben. Für die weitaus meisten war aber Armut das Hauptmotiv , trotz der Risiken von Entdeckung und Bestrafung , als Mann zu leben.23 Männer hatten weitaus bessere Möglichkeiten , Geld zu verdienen sowie einen größeren Aktionsradius als Frauen , und ihre Arbeit wurde besser bezahlt. Im Kontext dieser Diskurse , Mythen , Imaginationen und Praktiken konnten auch Personen wie die 1721 hingerichtete Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel24 oder der französische Diplomat Charles-Geneviève-Louis-Auguste-André-Thimothée d’Éon de Beaumont ( gest. 1810 )25 zeitweilig die geschlechtlichen Welten wechseln. Im 19. Jahrhundert verschwand diese Tradition der Verkleidung. Dies hing nicht zuletzt mit der Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen , mit veränderten Vorstellungen von Körper und Geschlechtsidentität zusammen. Geschlechterrollen wurden nicht mehr nur an äußeren Kennzeichen fest gemacht , das Anlegen von Männerkleidung durch eine Frau nicht mehr mit dem Wechsel der Geschlechterrolle in Verbindung gebracht , das Begehren in den Körper verlagert. Wie ein Mann zu leben und zu arbeiten wurde im 19. Jahrhundert , das die polare Ordnung der Geschlechter und für Frauen eine strikte Trennung zwischen öffentlichen und privaten Räumen propagierte , in die Welt der Imagination verbannt. So beschreibt die niederländische Frauenrechtlerin Aletta Jacobs in ihren Memoiren , „wie sie 1870 im Alter von fünfzehn Jahren von der schrecklichen Vorstellung ergriffen wurde , den Rest ihres Lebens mit der Versorgung eines Haushaltes verbringen zu müssen. Sie träumte davon , von zu Hause fortzulaufen und als Junge verkleidet auf einem Schiff nach Amerika anzuheuern , um dort als Kutscher ihr Brot zu verdienen“.26
22 Peter Burke : Vorwort , in : Rudolf Dekker / Lotte van de Pol : Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte , Berlin 1990 , S. 7–10 , hier S. 9. 23 Dekker / van de Pol : Frauen in Männerkleidern ( s. Anm. 22 ), S. 48. 24 Angela Steidele : In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel , hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation , Köln 2004. 25 Gary Kates : Monsieur d’Eon ist eine Frau. Die Geschichte einer politischen Intrige , Hamburg 1996 ( engl. : Monsieur d’Eon is a Woman : A Tale of Political Intrigue and Sexual Masquerade , 1995 ). 26 Dekker / van de Pol : Frauen in Männerkleidern ( s. Anm. 22 ), S. 119.
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Sie lebte in einer Zeit , in der sich Frauen im Rahmen der Frauenbewegung neue Wege zum Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft erkämpften. Aletta Jacobs war die erste Frau , die das Recht erhielt , in den Niederlanden ein Studium an einer Universität aufzunehmen. Sie wurde Ärztin. 4. 3. Herrscherinnen
Herrscherinnen , die wie Maria von Ungarn , Statthalterin der Niederlande ( reg. 1531– 1534 ), Elisabeth I. von England ( reg. 1558–1603 ) oder Katharina II. von Russland ( reg. 1762–1796 ) an den Schaltstellen der Macht agierten , benötigten keine Männerkleider. Ihnen wurde von männlichen Zeitgenossen aufgrund ihres Amtes ein männliches Verhalten attestiert. Elisabeth I. von England brachte die Diskrepanz zwischen Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle in der vielzitierten Wendung zum Ausdruck : „I know I have the body of a weak and feeble woman , but I have the heart and stomach of a king“ ( „Ich weiß , ich habe den Körper einer schwachen und kraftlosen Frau , doch das Herz und den Magen eines Königs“ ). Aus diesem Satz kann man auf ein Konzept schließen , das Politik mit Männlichkeit verband , nicht aber Politik ausschließlich zur Männersache machte. Indem die von Frauen vollbrachte Leistung von der weiblichen in die männliche Sphäre transponiert wurde , wurde sie als weibliche Leistung unsichtbar gemacht. Durch diese Transgression27 wurde die Asymmetrie der Geschlechter bestätigt. Sie war Teil eines umfassenden Systems von Zeichen , Bildern , Vorstellungen und Redeweisen , das die Verbindung von männlicher Stärke mit Dominanz und weiblicher Schwäche mit Unterordnung zum Ausdruck brachte. Politisch mächtige Frauen galten im neuzeitlichen Diskurs über Geschlechterrollen oft als abstoßend. Katharina II. begegnete diesem Bild auf doppelte Weise : Um als herrschende Frau akzeptiert zu werden , ließ sie einerseits Herrscherbildnisse von sich anfertigen und verbreiten , in denen die Harmonie von Weiblichkeit , Reichtum und Macht inszeniert wurde , andererseits ließ sie sich – u. a. als Amazone – in Männerkleidern abbilden , nutzte also die Möglichkeit des Rollenwechsels , um als herrschende Frau ihr Ansehen zu vergrößern. Auch der Konstruktion der Heldin , deren Bedeutung für die entstehenden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und für deren Erinnerungskulturen unbestritten ist , liegen normative Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zugrunde , die Erstere mit Aktivität – als Voraussetzung für Tapferkeit , Kampfeslust und Wagemut – und Letztere mit Passivität – als Voraussetzung für stille Pflichterfüllung – verbinden. Frauen fanden in der Heroenhalle am ehesten dann einen Platz , wenn sie von 27 Christopher F. Laferl / Christina Lutter : „Innere“ und „äußere“ Autonomie einer Fürstin der Frühen Neuzeit : Maria von Ungarn am Beginn ihrer niederländischen Statthalterschaft ( 1531–1534 ), in : Frühneuzeit-Info 8,2 ( 1997 ), S. 170–177.
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allgemein Männer zugeschriebenen Tugenden angetrieben wurden.28 Die bekannteste europäische Nationalheldin ist Jeanne d’Arc , die als Amazone , Heldin oder Jungfrau von den unterschiedlichsten politischen Strömungen instrumentalisiert wurde.29 Heldinnen konnten allerdings auch solche Frauen werden , die ihre weiblichen Tugenden besonders mutig verteidigten oder die „Pflichten des Alltags“ still erfüllten ; Leichenpredigten und Heiligenviten gehören zu den Quellen , die darüber erzählen. Diese Geschichten können als Teil eines Normativitätsdiskurses betrachtet werden , mit dem für Männer und Frauen verschiedene und verschiedenwertige Geschlechterrollen propagiert wurden. 5. Praktiken 5. 1. Diskurs , Praxis und Kontext
Um herauszufinden , wie vergangene Gesellschaften mit der Geschlechterdifferenz umgingen , wie Geschlecht sowie Geschlechterrollen und ihre Repräsentationen produziert , bestätigt und verändert wurden , reicht es nicht , Normativitätsdiskurse zu analysieren. Diskurse verweisen auf eine soziale Praxis , doch erhalten sie ihre Bedeutung nur im konkreten Kontext. Erst in der Interaktion zwischen den politischen , sozialen und ökonomischen Gegebenheiten und den Erfahrungen von Menschen lassen sich die Werte und Normen einer Gesellschaft erkennen. Nur wenn Geschlecht zu anderen Kategorien in Bezug gesetzt wird , die ihrerseits Differenz erzeugen ( wie Klasse , ethnische Zugehörigkeit , Religion , Sexualität oder Alter ), lässt sich ermitteln , in welcher Weise Geschlechterdifferenz Gesellschaften strukturiert. Die Beispiele für die Diskrepanz zwischen Normen und Praktiken in Bezug auf Geschlechterrollen sind Legion. So gibt es zahlreiche Hinweise darauf , dass arme Frauen hart arbeiten mussten. Der weibliche Tugend-Katalog , der Frauen u. a. Reinheit und Unterwürfigkeit abverlangte , galt für sie nur punktuell. Aber auch für Frauen der Elite , die politische Positionen innehatten , scheinen die „Bestimmungen des weiblichen Geschlechtes“ nur sehr bedingt gegolten zu haben. Die geforderte Unterwürfigkeit ließ sich kaum mit ihrem Status und ihren Aufgaben vereinen. Wenn man Praktiken zum Ausgangspunkt einer Analyse der Geschlechterrollen macht , zeigt sich , dass die jeweilige Grenzlinie zwischen den Geschlechtern schwierig zu ermitteln ist. Wie komplex die Prozesse der Inklusion bzw. Exklusion sind , lässt sich exemplarisch an den Bereichen Politik und Wirtschaft zeigen.
28 Waltraut Heindl / Claudia Ulbrich ( Hg. ): HeldInnen ? , (=L’Homme Z.f.G. 12,2 ), Wien 2001 , S. 235 f. 29 Hedwig Roeckelein et al. ( Hg. ): Jeanne d’Arc oder Wie die Geschichte eine Figur konstruiert , Freiburg / Basel / Wien 1996.
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5. 2. Politik
Nach einer verbreiteten , in der Debatte um Geschlecht hochwirksamen Vorstellung ist die Politik ein Bereich , in dem Frauen keine Rolle spielen. Mit einem solch exklusiv männlichen Politikbegriff lässt sich die Realität von europäischem Spätmittelalter und europäischer Neuzeit nicht abbilden , da Frauen hier als Herrscherinnen selbst im traditionellen Politikfeld gut vertreten waren. Frauen wie Elisabeth I. von England , Katharina II. oder Maria Theresia sind auf der ereignisgeschichtlichen Ebene sehr präsent , haben aber keinen Einfluss auf die Debatte über die Geschlechterrollen. Sie werden als Ausnahmefrauen dargestellt , die die vermeintliche Normalität des Ausschlusses der Frauen von der Politik bestätigten. Für die politische Partizipation war die Geschlechtszugehörigkeit jedoch nicht das einzige , oft nicht einmal das wichtigste Kriterium. Im Ancien Régime hatte generell nur eine relativ kleine Gruppe von Menschen die Möglichkeit , am politischen Leben teilzunehmen. Männer , denen es an Stand , Besitz oder Vermögen mangelte , waren von der politischen Partizipation ebenso ausgeschlossen wie die Mehrzahl der Frauen. In manchen Institutionen – etwa den republikanischen Gemeinwesen der Frührenaissance wie Florenz , den schweizerischen Kantonen oder den deutschen Reichsstädten – wurde die Ausgrenzung der Frauen mit der Geschlechtszugehörigkeit begründet.30 Hier konnten sie , wenn es ihr sozialer Status erlaubte , informell über Familie und Verwandtschaft Einfluss ausüben und sich in einem politischen Feld bewegen , das in der Neuzeit von zentraler Bedeutung war. Politik war in der Frühen Neuzeit nicht nur an Institutionen gebunden , vielmehr waren auch über Freundschaft oder Patronage gebildete Netzwerke konstitutiv für das politische Handeln.31 Ihre Bedeutung wird klar , wenn man überlegt , wie politisches Handeln gestaltet wurde. So gab es beispielsweise in Frankreich bis zur Französischen Revolution kaum ein Gesetz , das für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen galt. Gesetze wie Privilegien regelten die Beziehung zwischen König und Adel , und diese Privilegien wurden fortlaufend neu verhandelt. „Jeder , der genügend Macht , Status oder Reichtum hatte , war im 18. Jahrhundert darauf bedacht , sich über das Gesetz zu erheben. Von diesen Rahmenbedingungen mit den außergewöhnlich flexiblen rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen konnten die aristokratischen Frauen oft profitieren“.32 30 Natalie Zemon Davis : Frauen , Politik und Macht , in : Geschichte der Frauen , hg. von Georges Duby / M ichelle Perrot , Bd. 3 : Frühe Neuzeit , hg. von Arlette Farge / Natalie Zemon Davis , Frankfurt / M. 1994 , S. 189–206. 31 Gabriele Jancke : Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 10 ), Köln 2002 , S. 15. 32 Kates : Monsieur d’Eon ist eine Frau ( s. Anm. 25 ), S. 19.
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Französinnen , die der Elite angehörten , konnten als Mätressen oder im Salon Einfluss auf die Politik und das Geistesleben ihrer Zeit nehmen. In politischen Systemen , die auf dynastischer Erbfolge begründet waren , wurden Ein- und Ausschluss über die Abstammung , die Zugehörigkeit zu einem Herrschergeschlecht und die Stellung innerhalb der Familiendynastie bestimmt und nicht in erster Linie über die „natürliche“ Geschlechtszugehörigkeit. Unter den Frauen , die aufgrund ihrer Herkunft unmittelbaren Zugang zur Macht hatten , waren auch Königinnen. Die Thronfolge war unterschiedlich geregelt : In England konnten Töchter , wenn es keinen männlichen Thronfolger in der direkten Linie gab , Königin werden ( Elisabeth I., Anna ), in Frankreich dagegen prinzipiell nicht. In Anspielung auf die Lex Salica ( „Salisches Gesetzbuch“, 6. Jahrhundert ) wurde hier im 14. Jahrhundert festgelegt , dass nur die durch die männliche Linie verwandten Männer zur Thronfolge berechtigt seien. Gleichwohl konnten Frauen als Regentinnen stellvertretend für ihre Kinder die Regierungsgeschäfte führen ( z. B. Katharina von Medici im 16. Jahrhundert ). Zumindest zeitweise unter der Herrschaft einer Frau ( Gutsherrin , Gräfin , Fürstin , Königin ) zu leben , gehörte zum Erfahrungsbereich vieler Menschen der Frühen Neuzeit. Die Herrschaft von Königinnen und Fürstinnen war ein unerschöpfliches Thema öffentlicher Diskurse. Zu den stereotypen Vorwürfen , die man Herrscherinnen wie Katharina II. machte , gehörten Machtbesessenheit und sexuelle Unersättlichkeit. Katharina II., die sich als herrschende Frau nicht nur um die Legitimation ihrer eigenen Herrschaft , sondern auch um die Anerkennung des russischen Herrscherhauses innerhalb der europäischen Dynastien bemühte , gelang es , sich als selbstbestimmt agierendes Subjekt zu inszenieren.33 Dass Frauen nicht nur als Ausnahmen , sondern strukturell an der Politik bzw. am öffentlichen Leben beteiligt waren , belegt auch ein Blick auf die höfische Gesellschaft insgesamt , wo der Damenhof ein eigenes – institutionalisiertes – Zentrum politischer Macht bildete , auf Frauenklöster , deren Äbtissinnen hohe politische Ämter innehaben konnten , oder auf die Diplomatie. Frauen wie Catharina Stopia , die zwischen 1632 und 1634 als schwedische Diplomatin in Moskau tätig war , oder Renée de Guébriant , die 1645 / 46 als ambassatrice eine Botschaftsreise nach Polen unternahm , sind Beispiele dafür , dass Herrschaft komplementär ( als Herrschaft von Männern und Frauen ) verstanden werden und Frauen in bestimmten Figurationen auch Ämter ausüben konnten , die üblicherweise Männern vorbehalten waren.34 Die Durchlässigkeit der Geschlechtergrenzen ist ein Strukturelement frühneuzeitlicher Herrschaft , lässt sich allerdings nicht verallgemeinern. Von 33 Ruth Dawson : ‚Europens Kaiserin‘. Katharina II. und ihre Zelebrität , in : HeldInnen ? , hg. von Heindl / Ulbrich ( s. Anm. 28 ), S. 265–290 , S. 283. 34 Anuschka Tischer : Eine französische Botschafterin in Polen 1645–1646. Die Gesandtschaftsreise Renée de Guébriants zum Hofe Władislaws IV., in : HeldInnen ? , hg. von Heindl / Ulbrich ( s. Anm. 28 ), S. 305–321 , hier S. 307.
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Ämtern in der Verwaltung und vom Kriegsdienst scheinen Frauen qua Geschlecht grundsätzlich ausgeschlossen gewesen zu sein. Die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und die Auffassungen von der Naturhaftigkeit der Frau blieben nicht ohne Folgen für die Konzepte , Programme und Praktiken der Politik , die nun zunehmend mit einem neuen Konzept von geschlechtergebundener Öffentlichkeit verbunden und zur Männersache wurde. Mit der normativen Festschreibung getrennter Sphären war die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten in der Praxis allerdings keineswegs vollzogen. Aus der engen Verflechtung zwischen Vereins- und FamilienLeben entwickelte sich eine Dynamik , die nicht nur maßgeblichen Einfluss auf die liberale Bewegung im Vormärz hatte , sondern auch der Märzrevolution 1848 / 49 ihre Dynamik verlieh. Frauen fanden v. a. im Bereich der Wohltätigkeit neue Betätigungsfelder , die das Politische nachhaltig beeinflussten.35 Durch die karitative Arbeit , die unentgeltlich geleistet und gesellschaftlich als Hausarbeit eingeschätzt wurde , erweiterte sich der Erfahrungsbereich v. a. bürgerlicher Frauen , die in zumeist religiös gebundenen Vereinen und neuen Orden umfassende Betätigungsfelder fanden ( z. B. Elisabethverein der Katholikinnen des Rheinlandes , gegründet 1830 ; weiblicher Verein für Armen- und Krankenpflege in Hamburg , gegründet 1832 ). Nicht nur in Europa machten Frauen im 19. Jahrhundert auch die Hebung der Sitten zu ihrer Aufgabe. So gab es etwa 1832 in Utica im Staate New York 40 Frauenvereine , die sich der Mädchen annahmen , die von Prostitution und Vergewaltigung bedroht waren. Es entstand ein „Schmelztiegel der Identität“, der „an den Grenzen von Politischem und Sozialem , Öffentlichem und Privatem , Glaubensbekenntnis und Morallehre als Versuchslabor“ wirkte.36 5. 3. Wirtschaft
Die Vorstellung , dass das Arbeitseinkommen des Mannes ausreichen müsse , den Lebensunterhalt einer Familie zu finanzieren , ist relativ jung. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein konnte in den meisten Haushalten das Überleben nur dann gesichert werden , wenn Mann , Frau und Kinder gemeinsam ihre Arbeitskraft einbrachten ; sie waren aufeinander angewiesen. Empirische Daten belegen , dass der Zwang zur Wiederverheiratung für Männer viel größer war als für Frauen.37 Dies ist eines von vielen Indizien dafür , dass Frauen weit eher die Rollen der Männer übernehmen konnten bzw. 35 Rebekka Habermas : Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte ( 1750–1850 ), Göttingen 22002 , S. 257 f. 36 Michelle Perrot : Ausbrüche , in : Geschichte der Frauen , hg. von Georges Duby / M ichelle Perrot , Bd. 4 : 19. Jahrhundert , S. 505–538 , hier S. 513. 37 Olwen Hufton : Frauenleben. Eine europäische Geschichte , 1500–1800 , Frankfurt / M. 1998 ( engl. : The Prospect Before Her , 1995 ), S. 310.
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mussten als umgekehrt. Es war keineswegs unüblich , dass Frauen manchmal über Jahre hinweg , gelegentlich auch bis zu ihrem Lebensende einem Haushalt vorstanden , einen Hof oder Handwerksbetrieb leiteten bzw. das Geschäft oder Amt ihres Mannes fortführten. Weit mehr als das körperliche Geschlecht beeinflussten die Position innerhalb der Familie bzw. Gesellschaft , Alter oder Geschwisterfolge den Status und die Handlungsmöglichkeiten – ohne die Unterschiede zwischen den Geschlechtern einzuebnen. Dass Geschlecht dennoch als Differenz- und Dominanzkategorie auch in diesem Zusammenhang wirksam war , zeigt ein Blick auf die Frauenarbeit. Viele Frauen , v. a. aus den unteren Schichten , mussten – auch wenn sie verheiratet waren und kleine Kinder hatten – Lohnarbeit verrichten. Ihre Arbeit wurde durchweg schlechter bezahlt als die der Männer. Anders war es dort , wo Kapital und Vermögen im Spiel waren. Vermögen wurde in der Neuzeit in einem erheblichen Umfang durch Ehe und Erbe in Umlauf gebracht. Normativ waren Frauen dabei fast immer benachteiligt. Die Praxis konnte jedoch erheblich davon abweichen , was darauf verweist , dass viele Menschen möglicherweise ganz andere gesellschaftliche Überzeugungen bzw. Gewohnheiten hatten , als die überindividuell konzipierten normativen Texte vermuten lassen. Es gibt viele Hinweise , dass die ökonomischen Zugriffs- und Verfügungsmöglichkeiten von Frauen und Männern individuell vertraglich geregelt werden konnten. In England konnten Frauen nach der Theorie weder Rechtssubjekt sein noch hatten sie Eigentum. Das Eherecht des englischen Common Law unterwarf sie rechtlos der Willkür des Ehemanns. Eine Analyse der Erbpraktiken des späten 16. bis 18. Jahrhunderts konnte jedoch nachweisen , dass die Eigentumsrechte von Ehefrauen in der Praxis wesentlich umfangreicher waren , als gesetzliche Regelungen dies nahelegen.38 Der 1668 geschlossene Ehevertrag zwischen George Fox , dem Gründer der „Gesellschaft der Freunde“, und Margaret Fell ist ein bekanntes Beispiel dafür , dass englische Männer auch ganz darauf verzichten konnten , einen Anspruch auf Einkommen und Vermögen ihrer Frauen zu erheben.39 In der europäischen jüdischen Gesellschaft , deren ökonomische Grundlagen fast ganz auf dem Handel ruhten , war die Mitgift von großer Bedeutung für die Sicherung und Vermehrung des Handelskapitals. Dies wirkte sich in der Praxis auch auf die Geschäftsfähigkeit der ( Ehe- ) Frauen aus. Gracia Nasi und Glikl bas Juda Leib sind prominente Beispiele für jüdische Unternehmerinnen des 16. bzw. 17. Jahrhunderts. Auch christliche ( Ehe- ) Frauen waren in weit größerem Maße im Handel präsent , als die Geschlechterdiskurse vermuten lassen. Ihre geschäftliche Handlungsfähigkeit war partikulargesetzlich geregelt. In vielen Fällen sorgten Witwenprivilegien dafür , dass 38 Amy Louise Erickson : Women and Property in Early Modern England , London 1993. 39 Natalie Zemon Davis : Neue Perspektiven für die Geschlechterforschung in der Frühen Neuzeit , in : Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit , hg. von Heide Wunder / Gisela Engel , Königstein / Ts. 1998 , S. 16–41 , hier S. 34.
Geschlechterrollen
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Frauen die Familienbetriebe nach dem Tod des Mannes weiterführen konnten. Auch hier bestimmten individuelle Regelungen zwischen Eheleuten – im Rahmen dessen , was gesellschaftlich möglich bzw. durchsetzbar war – die Handlungs- und Erwerbsmöglichkeiten. Manche Frauen , die heute als Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation angesehen werden , wie etwa die Ballonfahrerin Sophie Blanchard im frühen 19. Jahrhundert , taten nichts anderes als diese Unternehmerinnen : Sie führten den Betrieb , das Geschäft oder das Amt ihrer Männer weiter. In den beschriebenen Fällen waren patriarchale Familienstrukturen ( Witwen , Frauen mit beträchtlicher Mitgift oder gutem Erbe ) die Voraussetzung für die Möglichkeit , erwerbstätig zu sein bzw. in Machtpositionen zu kommen , doch sind sie zugleich ein Beleg dafür , wie unterschiedlich die Handlungsmöglichkeiten von Frauen bzw. von Männern im Rahmen patriarchaler Strukturen sein konnten. Im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem System sozialer Beziehungen erhalten Normen ihre Deutung und Bedeutung : Was möglich , üblich oder akzeptiert war , lässt sich nicht aus normativen Texten , sondern nur aus einer Analyse der Praxis ablesen.
„Hat man also bald ein solches Blutbad , Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehen , dass mich solches jammert wider zu gedenken …“. Religion und Gewalt in Michael Heberers von Bretten „Aegyptiaca Servitus“ ( 1610 ) Mehr als 20 Jahre nach seiner Rückkehr aus der „Aegyptiaca servitus“ publiziert Michael Heberer von Bretten seine „Warhafte Beschreibung einer Dreyjährigen Dienstbarkeit / So zu Alexandrien in Egypten ihren Anfang und zu Constantinopel ihr Endschafft genommen“.1 Michael Heberer beschreibt darin , wie er 1582 von Heidelberg , wo er als Hauslehrer eines schwedischen Grafen gearbeitet hatte , zu einer Bildungsreise aufgebrochen war. Zwei Jahre lang hatte er Gelegenheit , mit seinem Herrn , Monsieur de Foyssy2 , Italien und Frankreich kennen zu lernen. Für ihn als Protestant war der Aufenthalt in Frankreich nicht ungefährlich , doch hatte man ihm „der Religion halben sicherheit“ versprochen.3 Zweifellos wusste er um die Gefahren , hatte er doch in Paris Bekannte und Verwandte getroffen , die „wegen der Religion grosse gefahr und schwere gefängnis ausgestanden“ hatten.4 Als sich die politischen und religiösen Konflikte 1584 erneut verschärften , beschloss er , das Land zu verlassen und ließ sich von seinem Herrn ein Empfehlungsschreiben geben , das ihm den Dienst bei dessen Bruder Philibert de Foyssy , dem Kommendator des Malteserordens , ermöglichte.5 Er machte 1 Aegyptiaca Servitus : Das ist / Warhafte Beschreibung einer Dreyjährigen Dienstbarkeit / So zu Alexandrien in Egypten ihren Anfang / und zu Constantinopel ihr Endschafft genommen. Gott zu Ehren / und dem Nechsten zur Nachrichtung / in Drey unterschiedene Bücher außgetheilet / und mit etlichen Kupfferstücken in Druck verfertiget Durch Michael Heberer von Bretten / Churfürstlicher Pfaltz Cantzley Registratorn / der solche in der Person ausgestanden Mit zwo angehenckten Reisen / die er nach seiner Dienstbarkeit / in vier Königreich / Böhmen / Polen / Schweden / Dennemarckt / Auch nechstligende Fürstenthumb und Seestädt vollbracht ( Reprint : Frühe Reisen und Seefahrten in Originalberichten , Bd.6 : Michael Heberer Von Bretten : Aegyptiaca Servitus , mit einer Einleitung von Karl Teply , Graz 1967 ). Das vierte Buch mit den späteren Reisen ist in dieser Ausgabe nicht enthalten. Für kritische Lektüre und weiterführende Hinweise danke ich Gabriele Jancke , Barbara Kellner-Heinkele und Thomas Max Safley. 2 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 37 und 39 , auch de Chammesson , Geschlecht de Foyssy. 3 Ebda., S. 38. 4 Ebda., S. 40. 5 Der Ritterorden der Johanniter stellte zusammen mit den Templern den Kern der Heere der Kreuzfahrerstaaten dar. Die Ritter legten ein Gelübde ab ( Gehorsam , Armut , Keuschheit ). Nach dem Verlust von Rhodos an die Osmanen ( 1522 ) erhielt der Ritterorden 1530 Malta als Lehen von Karl V. mit der Aufgabe , Sizilien gegen die Türken zu verteidigen. Von 1581–1594 war ein Franzose , Hugo Lubens de Verdale , Großmeister auf Malta. Von Malta aus wurden bis ins 18. Jahrhundert Angriffe gegen die Osmanen organisiert. Im deutschen Priorat des Ordens hatte sich die Ballei Brandenburg seit 1544 zu einem protestantischen Ordenszweig entwickelt. Zur Geschichte des Ordens : Hermann Sautter : Artikel Malteser- und Johanniterorden , in : Die Religion in Geschichte und Gegenwart , Bd. 5. Tübingen 42002 ,
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sich in Begleitung von zwei Franzosen auf den Weg6 und erlebte , zusammen mit seinen beiden Reisegefährten , 1585 in Marseille ein Hugenottenmassaker. Nachdem es der Gruppe gelungen war , die Stadt zu verlassen , brach sie nach Malta auf , wo Heberer in den Dienst des Philibert de Foyssy trat.7 In dieser Eigenschaft beteiligte er sich an Kriegs-und Raubzügen der Malteser im Mittelmeer , geriet in osmanische Gefangenschaft und wurde schließlich Galeerensklave. Erst drei Jahre später wurde er freigekauft und konnte unter großen Gefahren in seine Heimat zurückkehren. Das Leben im muslimischen Machtbereich bedeutet für Michael Heberer Hunger , Kälte , Krankheit , Zwangsarbeit , Gewalt und den Tod vieler Gefährten.8 Trotzdem schreibt er nicht nur eine Leidensgeschichte , sondern auch eine Überlebensgeschichte , in der Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Religion und die eigene Handlungsfähigkeit selbst in Situationen , in denen er extremem Zwang ausgesetzt war , eine große Rolle spielen.9 Die Überlebensgeschichte ist Zeugnis für einen engen Kulturkontakt , in dem bereits elaborierte Regeln und Routinen für den Umgang mit Fremden existierten. Die Leidensgeschichte dagegen erzählt von unterschiedlichen Formen erlittener Gewalt und von Möglichkeiten der Verarbeitung von Gewalterfahrungen10. Der physischen Gewalt kommt in Heberers Darstellung eine zentrale Rolle zu. Er beschreibt und kommentiert physische Gewalt auch dann detailliert , wenn sie bis zum Extrem gesteigert war. Dabei ist er sicher auch von christlichen Texttraditionen wie Märtyrerviten , Jenseitsbeschreibungen oder Berichten über die „Barbarische Sclaverey“ beeinflusst , in denen die grausamen Qualen , die Sünder im Jenseits oder ChrisSp. 718. Der Johanniterorden. Der Malteserorden. Der ritterliche Orden des hl. Johannes vom Spital von Jerusalem. Seine Geschichte , seine Aufgaben , hg. von Adam Wienand , Köln 31988. 6 Monsieur Maidle und M. Le Carré , Sekretär des Duc D’Aumale. 7 Er bezeichnete sich als „Philibertus de Foyssy , Dominus de Chammesson , Commendator de la Romagnia , Nancy & Bellae crucis“, Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ) S. 456. 8 Zur Sklaverei im Mittelmeer , vgl. Fernand Braudel : Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II , Bd. 2 , Frankfurt / M. 1994 ( zuerst 1949 , übers. nach der 4. Aufl. Paris 1979 ), S. 692 ff. Einen neueren Überblick , der sich allerdings auf christliche Sklaven beschränkt , gibt Robert C. Davis : Christian Slaves , Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean , the Barbary Coast , and Italy , 1500–1800 ( Early Modern History , Society and Culture ), Basingstoke 2003. 9 Außerdem bietet Heberer eine ausführliche Beschreibung von Geschichte und Landschaft. Darauf und auf die literarischen Vorlagen soll hier nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu : Teply : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. XXIV f. 10 Zum Problem der Darstellung von Erfahrung in Selbstzeugnissen : Kaspar von Greyerz : Erfahrung und Konstruktion. Selbstrepräsentation in autobiographischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts , in : Berichten , Erzählen , Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas ( Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit ), hg. von Susanna Burghartz / Maike Christa Adler / Dorothea Nolde , Frankfurt / M. 2003 , S. 220–239 und Gudrun Piller-Gysin : Private Körper. Erfahrungen , Diskurse und Praktiken zum Körper in Deutschschweizerischen Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts , Diss. Basel 2003 ( erscheint in : Selbstzeugnisse der Neuzeit , Köln u. a. 2005 ).
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ten in der „Barbarei“ erwarteten , ausgemalt werden.11 In Heberers Darstellung gibt es jedoch eine Ausnahme : das Hugenottenmassaker. Was 1585 in Marseille passiert war , kann oder will Heberer offensichtlich auch Jahre später nur schwer in Worte fassen : „Nach dem nun des Morgens / obgemelt Königlich Mandat / mit der Trommetten ausgerufen worden / hat man also bald / ein solch Blutbad / Würgen und Wüten / in der Stadt gehört und gesehen , dass mich solches jammert wider zu gedenken / will geschweigen / nach der leng zu erzehlen.“12
Angesichts der Schilderung der „Aegyptiaca Servitus“ ist Heberers Sprachlosigkeit in Hinblick auf das Massaker erklärungsbedürftig13. Ich möchte in meinem Beitrag der Frage nachgehen , inwieweit die Gewalt , die Christen Christen angetan hatten , für ihn einen anderen Stellenwert hatte als jene , die Heberer in seiner Gefangenschaft erfahren hatte. Bildeten religiöse Kulturen für ihn tatsächlich eine zentrale Kategorie in Hinblick auf Gewaltsamkeit ? Wie verhalten sich Selbst-und Fremddeutung im Spannungsfeld von Christentum und Islam ? Mit welchen anderen Kategorien überschneidet sich Religion , und wo genau lässt sich die Grenze zwischen legitimer und nicht legitimer religiös motivierter Gewalt ziehen ? Bei der Analyse dieser Fragen knüpfe ich sowohl an Forschungen zum Martyrium an , die auf den Zusammenhang von Gewalt und christlicher Leidensbereitschaft hingewiesen haben14 , als auch an Untersuchungen , die Gewalterfahrungen und -wahrnehmungen in den Kontext historischer Legitimierungs- und Delegitimierungsvorgänge gestellt haben.15 Wenn ich mich in meiner 11 Auf die literarischen Aspekte der Textsorte „Gefangenenbericht“ weist Ernstpeter Ruhe hin : Christensklaven als Beute nordafrikanischer Piraten. Das Bild des Maghreb im Europa des 16.–19. Jahrhunderts , in : Europas islamische Nachbarn. Studien zur Literatur und Geschichte des Maghreb , hg. von Ernstpeter Ruhe , Würzburg 1995 , S. 159–186 , hier S. 163. Berichte über die Grausamkeit der „Barbaren“ und „Türken“ waren so verbreitet , dass davon auszugehen ist , dass Heberer sie kannte. Neben Kreuzzugspolemiken gehörten Hexentraktate , Teufelsschriften und Martyrien zu den Textsorten , in denen bis zum Extrem gesteigerte Grausamkeit beschrieben wurde. 12 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. l ), S. 56. 13 Zum Problem des Unsagbaren : Philipp Sarasin : Mapping the body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus , Politik und Erfahrung , in : Historische Anthropologie 7 ( 1999 ), S. 437–451. 14 Grundlegend : Peter Burschel : Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit ( Ancien Regime , Aufklärung und Revolution , Bd. 35 ). München 2004. 15 Vgl. hierzu vor allem die Überlegungen von Michaela Hohkamp , die die Frage aufgeworfen hat , „in welchen sozialen Konstellationen Gewalttätigkeiten auch jenseits rechtlicher Festlegungen legitimierbar waren bzw. wer Gewalthandlungen überhaupt als Gewalttätigkeiten wahrnehmen konnte“: Michaela Hohkamp : Grausamkeit blutet – Gerechtigkeit zwackt : Überlegungen zu Grenzziehungen legitimer und nicht-legitimer Gewalt , in : Streitkultur( en ). Studien zu Gewalt , Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft ( 16.–19. Jahrhundert ) ( Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft , 2 ), hg. von Barbara Krug-Richter / Magnus Eriksson , Köln u. a. 2003 , S. 389–415. Eine breite Dokumentation der neueren Forschungen zur Gewalt in der Frühen Neuzeit bietet der Tagungsband der 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit : Gewalt in der Frühen Neuzeit ( Ber-
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Untersuchung lediglich auf einen einzelnen Text beziehe , den ich einer dichten Lektüre unterziehe , so bedeutet dies zugleich , dass mein Erkenntnisinteresse nicht primär darauf gerichtet ist , verallgemeinerbare Einsichten in Gewalterfahrung , -wahrnehmung oder -verarbeitung in unterschiedlichen religiösen Kontexten zu finden , vielmehr geht es mir darum , den mikroanalytischen Zugriff zu nutzen , um Fragen zu generieren , die sich auf das Schreiben über Gewalt im Kontext verschiedener Religionen an der Wende vom 16. / 17. Jahrhundert beziehen16. Nach einer Analyse der Schilderung des Hugenottenmassakers , der ich eine Schlüsselfunktion in Heberers Text zuschreibe ( I ), werde ich Gewalterzählungen , die sowohl in der Christenheit als auch in der muslimischen Welt eine Rolle spielen , ins Zentrum rücken und vergleichend untersuchen. Es handelt sich um Episoden aus dem Seekrieg im Mittelmeer und der anschließenden Gefangenschaft ( II ) und um die Darstellung und Deutung obrigkeitlicher Strafgewalt in verschiedenen herrschaftlichen Kontexten ( III ). Sie bilden die Folie , vor der abschließend noch einmal systematisch nach Mustern und Möglichkeiten , im christlichen Europa der Frühen Neuzeit über Religion und Gewalt zu schreiben , gefragt wird ( IV ). I. Das Hugenottenmassaker ( 1585 )
Mit dem Tod des Herzogs von Anjou im Jahr 1584 setzte in Frankreich eine neue Welle politisch bzw. religiös motivierter Gewalt ein. Die Vorstellung , dass nach dem Tod des letzten Erben aus dem Hause Valois mit Heinrich von Navarra ein Calvinist auf den französischen Königsthron kommen könnte , löste neue Feindseligkeiten aus. Der Herzog von Guise verbündete sich mit Philipp II. von Spanien ( Vertrag von Joinville ) und die Ligue begann , wichtige Stützpunkte einzunehmen. Der achte Religionskrieg zeichnete sich ab. Für Michael Heberer , der die neuerliche Eskalation miterlebte , war die neue politische Konstellation kaum der Rede wert. In seinem Bericht erwähnt er weder den Tod des Herzogs von Anjou noch die daraus folgenden Thronstreitigkeiten. Stattdessen geht er ausführlich auf eine Steuererhöhung ein , die Heinrich III. im Februar 1584 bewilligt worden war. Sie hätte den gemeinen Mann und den Adel zum Gegner des Königs gemacht und dem Herzog von Guise zu Macht und Einfluss verholfen.17 Der Grund , warum er diese Geschichte erzählt , liegt auf der Hand. Sie gibt liner Historische Studien ), hg. von Claudia Ulbrich / Michaela Hohkamp / Claudia Jarzebowski , Berlin 2005. 16 D. h. ich lese den Text als Selbstzeugnis. Für die meinem Ansatz zugrundeliegenden theoretischen und methodischen Prämissen sei verwiesen auf : Claudia Ulbrich / Gabriele Jancke : Einleitung , in : Dies. : Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung ( Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung , Band 10 ). Göttingen 2005 , S. 7–27. 17 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 46.
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Heberer die Möglichkeit , den Großprior des Malteserordens18 als einen besonders ehrenhaften , klugen und aufrechten Mann einzuführen und seine eigene Entscheidung , sich auf den Weg nach Malta zu machen , zu rechtfertigen. Der Großprior sei , so berichtet er , der einzige gewesen , der im königlichen Rat gegen die Steuer votiert und den König daran erinnert habe , dass die Bevölkerung schon so viele Lasten tragen müsse , dass sie keine neuen Abgaben entrichten könne „und dass Ihr Königliche Majestät es auch gegen Gott nicht verantworten köndte / wo ihre underthanen weiter sollten getruckt und geplaget werden.“19 Der König sei über diesen Vorschlag so erzürnt gewesen , dass er den Ritter vom Hof verstieß. Angesichts der unsicheren Lage in Frankreich , die dazu führen sollte , dass sich 1585 die Liga „durch ihre falsche Heiligkeit“ gegen „die ware Religion“ durchsetzte20 , beschloss Michael Heberer Frankreich zu verlassen : „Als ich nun genugsam vermerckte / worauff alles gespielt und die gegenwertige gefahr ( die gleich in dem nächstfolgenden Monat scheinbarlich mit offenem Krieg / und heimlicher verrätherey außbrach ) vor augen sah / begerte ich von meinem Herren erlaubnis / mich etwas weiters zu versuchen.“21
Nach längerem Bitten erhielt er ein Empfehlungsschreiben , das es ihm ermöglichte , zum Bruder seines Herrn nach Malta zu reisen. Zusammen mit seinen Reisegefährten , die alle katholisch und für ihn „Papisten“22 waren , besorgte er sich Pässe in Aixen-Provence. Auf dem Rückweg erlebte oder erfuhr er , dass ein Mensch „ohn allen offentlichen gerichtlichen process“23 gevierteilt und sein Haupt auf einer Stange aufgesteckt worden war. Man vermutete , dass er die Hugenotten vor einem heimlichen Plan der „Papisten“ warnen wollte. Auch in Marseille selbst wurde die Lage immer unübersichtlicher. Aus Florenz kamen drei Galeeren , von denen Heberer vermutet , dass sie die Liga unterstützen wollten ; in der Stadt liefen zwei Männer in Pilgerkleidern herum , von denen er später sicher ist , dass der Herzog von Guise sie geschickt hat. Der zweite Bürgermeister warf seinem Bruder eine Verschwörung mit den Hugenotten vor , und ließ ihn in dessen eigenem Haus nachts ermorden. Wegen dieser ‚grausamen‘ und ‚unmenschlichen‘ Tat lief die Ehefrau des Ermordeten „mit jämmerlichem Schreyen und klagen auff die Gassen“, um Hilfe zu holen , doch die Wachen waren so verstärkt , dass ihr niemand beistand. Alle Evangelischen und Hugenotten 18 Zum Malteserorden : Der Johanniterorden. Der Malteserorden. Die ritterlichen Orden des hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem. Seine Geschichte. Seine Aufgaben , hg. von Adam Wienand , Köln 31988. 19 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 45. 20 Ebda., S. 46. 21 Ebda., S. 48. 22 Ebda., S. 56. 23 Ebda., S. 53.
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und alle , die kein weißes Kreuz auf den Hüten trugen , sollten umgebracht oder ins Gefängnis geworfen werden.24 Es entfaltete sich jenes Schreckensszenario , von dem Michael Heberer schrieb , dass er weder daran denken noch ausführlich davon erzählen wolle. Mit wenigen Worten beschreibt er , was geschah : „Da sahen wir manchen ehrlichen frommen Mann / wie auch Weibsbilder / ohne einige Rechtmessige Ursach / umb des Evangelii willen auß ihren heusern reissen / stossen / schlagen / und ein theils jemmerlich erstechen / wie die hund durch die gassen schleiffen / in das Meer werfen. Andere / deren ein groß anzahl / warden auf den Thurn [ … ] in gefengnis wie das Viehe getrieben und verstossen.“25
In diesem kurzen Bericht geht es Heberer nicht um die Täter , sein Blick richtet sich auf die Opfer , auf die Menschen , die um des Evangeliums willen sterben mussten oder in Gefangenschaft gerieten. Er betont hier wie auch in anderen Episoden die Unrechtmäßigkeit der Gewalt. Ihn interessiert nicht die Masse derer , die das Blutbad angerichtet hatten , sondern die Bestialität ihres Handelns , die in der gewaltsamen Körpersprache deutlich wird. Die Andersgläubigen werden wie die Hunde durch die Gassen geschleift , wie das Vieh getrieben.26 Es scheint , als sei es ihm nicht möglich , Gewalt von Christen an Christen zu thematisieren. Als Täter werden nur einige wenige Verantwortliche genannt : Der Herzog von Guise „und andere zugethane“ sowie der Bürgermeister von Marseille. Wie sich später herausstellte , hatte letzterer nicht auf königlichen Befehl , sondern aus eigener „Tyranney“ gehandelt. Er sei vor Gericht gestellt , zum Tode verurteilt und mit einigen seiner Anhänger hingerichtet worden.27 Das Massaker erscheint damit nicht als kollektives Gewalthandeln gegen Wehrlose28 , sondern als die Folge einer politischen Konstellation und des Verrates Einzelner. Das Volk , das – in der Überzeugung von der Rechtmäßigkeit seines Handelns – religiöse Gewalt ausübt29 , bleibt unsichtbar , die nicht legitimierbare Gewalt 24 Ebda., S. 56. 25 Ebda., S. 57. 26 Denis Crouzet : Die Gewalt zur Zeit der Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhundert , in : Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit , hg. von Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke , Frankfurt / M. 1995 , S. 78–105 , hier S. 89 : Crouzet liest die Gewaltrituale am Körper der Ketzer , die Behauptung , die Katholiken würden ihre Feinde wie Tiere behandeln , als „eine von panischer Angst geprägte Gewalt , die das Gottesgericht in Szene setzt.“ 27 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 58. 28 Zur Definition von Massaker vgl. Wolfgang Sofsky : Traktat über die Gewalt , Frankfurt / M. 1996 , S. 173 ff. sowie den Beitrag von Peter Burschel : „Schöne Passionen“: Zur Konfessionalisierung des Leidens in der Frühen Neuzeit , in : Religion und Gewalt : Konflikte , Rituale , Deutungen , 1500–1800 , hg. von Kaspar von Greyerz , Göttingen 2006 , S. 249–264. 29 Natalie Zemon Davis : The Rites of Violence : Religious Riot in Sixteenth-Century France , in : The Massacre of St. Bartholomew. Reappraisals and Documents ( Archives Internationales d’Histoire des Idées , Bd. 75 ), hg. von Alfred Soman , The Hague 1974 , S. 203–242 , hier S. 241 f.
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unaussprechbar. Obwohl Heberer den Entschluss , Frankreich zu verlassen , schon früher gefasst hatte , nutzt er das Hugenottenmassaker erzählstrategisch als Rechtfertigung für sein eigenes Überleben , das er nicht zuletzt dem Umstand verdankte , dass seine Reisebegleiter Katholiken waren , und für den Aufbruch zu einer Reise , die ihn in die grausame Gefangenschaft in der Welt des Islams brachte.30 Auffallend ist , dass er bei der Darstellung des Massakers immer wieder von der Chronologie abweicht , spätere Ereignisse zur Erklärung seines Handelns in Anspruch nimmt.31 Dabei wird deutlich , wie stark er aus der Retrospektive erzählt und sich darauf verlässt , dass auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Erinnerung an die Religionskriege noch so lebendig ist , dass sie als Argument zur Rechtfertigung seines Aufbruchs nach Malta verwandt werden kann. II. Krieg und Gefangenschaft
Als Michael Heberer sich mit seinen Gefährten nach Malta einschiffte , war die Zeit der großen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen des Mittelmeerraumes vorbei. Kreuzzüge und Djihad traten zumindest für einige Jahrzehnte in den Hintergrund , wurden in der christlichen und muslimischen Welt abgelöst durch innere Kriege.32 Das bedeutet aber nicht , dass im Mittelmeer Frieden herrschte. Die christliche und muslimische Kaperei breitete sich weiter aus und machte spätestens seit 1580 die gesamte Schifffahrt unsicher. Im Unterschied zur Piraterie im Atlantik galt sie als erlaubter Krieg.33 Sie wurde von Städten aus organisiert. In der christlichen Welt gehörten Malta , Livorno und Pisa zu den Zentren. Nicht nur Algier , die nordafrikanische Basis der Korsaren , auch Malta und Livorno hatten Sklavenmärkte. Es wird 30 Auf die apologetische Funktion von Gefangenenberichten verweist Ernstpeter Ruhe , der zahlreiche Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert untersucht hat , RUHE : Christensklaven ( s. Anm. 11 ), S. 167 ff., S. 169 : „Sklavenberichte sind Texte der Selbstverteidigung“. 31 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 48 : „… die gegenwertige gefahr ( die gleich in dem nechstfolgenden Monat … . ausbrach )“, Ebda. S. 58 : „Der auch ( wie wir hernacher vernommen ) also bald angelanget …“. 32 Ich übernehme hier die Interpretation von Fernand Braudel : Mittelmeer ( s. Anm. 8 ), S. 653 ff., der gegenüber vielen neueren Studien den Vorteil hat , das Geschehen im Mittelmeer mehrperspektivisch zu untersuchen. Braudel setzt 1571 ( Lepanto ) bzw. 1574 eine Zäsur , für Nordafrika deutet Peter von Sivers einen Wandel mit dem habsburgisch-osmanischen Waffenstillstand 1581 an. Peter von Sivers : Nordafrika in der Neuzeit , in : Geschichte der arabischen Welt , hg. von Ulrich Haarmann , München 1987 , S. 502–592 , hier S. 519. 33 Zedler betont unter Bezug auf juristische Schriften des 18. Jahrhunderts , dass die „Capers … des KriegsRechts theilhaftig“, seien , im Gegensatz zu den Seeräubern , die eigenmächtig handelten , vgl. Johann Heinrich Zedler : Großes vollständiges Universallexikon , Bd. 5 , Reprint , Graz 1961 , Sp. 628. Braudel verweist auf die förmlichen Kriegserklärungen , Kaperbriefe , Pässe , Aufträge etc. Braudel : Mittelmeer ( s. Anm. 8 ), S. 694.
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vermutet , dass an der nordafrikanischen Mittelmeerküste zwischen 1580 und 1680 regelmäßig 35. 000 Christen als Sklaven gehandelt bzw. gehalten worden sein könnten.34 Besondere Bedeutung für die Kriegsführung kam den Galeeren zu. Fernand Braudel schätzt , dass es „zum Zeitpunkt der Seeschlacht von Lepanto … im Mittelmeer zwischen 500 und 600 christliche und türkische Galeeren gab , also … zwischen 150. 000 und 200. 000 Mann Ruderer , Matrosen und Soldaten.“35 Christen und Muslime setzten im 16. Jahrhundert Sklaven als Ruderer ein. Da es nach islamischem Recht in der Regel nicht erlaubt war , Muslime zu Sklaven zu machen , mussten Muslime ihren Bedarf an unfreier Arbeit auf dem Markt decken36 : Sie kauften Sklaven oder versklavten Kriegsgefangene.37Auch Christen kamen nicht ohne Sklaven aus. Auf den christlichen Galeeren wurden neben Strafgefangenen und Menschen , die in Schuldhaft geraten waren , „türkische und barbarische Seeräuber“, deren man im Seekrieg habhaft geworden war , als „Ruder-Sclaven“ eingesetzt.38 Die Spanier versklavten Muslime , die ihnen in den zahlreichen Schlachten mit den Osmanen in die Hände fielen.39 Ihr Bedarf an Sklaven war so groß , dass Sklaven zusätzlich gekauft werden mussten. Zumindest für Spanien scheint belegt zu sein , dass das Verbot , Angehörige der eigenen Religionsgruppe – also Christen – zu versklaven , oft übertreten wurde. Bewohner der nordafrikanischen Küste wurden auch dann versklavt , wenn sie Christen waren.40 Religion war für die Sklaverei nicht die einzige , aber eine zentrale Kategorie. „Ungläubige“ zu Sklaven zu machen , schien weder Christen noch Muslimen unrechtmäßig. Der Umstand , dass die Religionszugehörigkeit für die rechtliche Beurteilung der Sklaverei eine Bedeutung hatte , sollte allerdings nicht vergessen machen , dass mit den Kaperfahrten massive ökonomische Interessen verbunden waren. 34 Robert C. Davis : Counting European Slaves on the Barbary Coast , in : Past & Present 172 ( 2001 ), S. 87– 174 , hier S. 107. 35 Braudel : Mittelmeer ( wie Anm. 8 ), S. 660. 36 R. Brunschvig : Artikel ABD , in : The Encyclopaedia of Islam , London / Leiden 21954 , S. 24–40 ; Suraiya Faroqhi : Quis custodiet custodes ? Controlling Slave Identities and Slave Traders in Seventeenthand Eighteenth-Century Istanbul , in : Frontiers of Faith. Religious Exchange and the Constitution of Religious Identities , 1400–1750 , hg. von Eszter Andor / Istvan Thoth , Budapest 2001 , S. 121–136 , hier S. 127. Daniel Pipes : Slave Soldiers and Islam , New Haven 1981 , S. 144. 37 Wie Michael McCormick gezeigt hat , gab es in Europa schon im Frühmittelalter bedeutende Sklavenmärkte – allen voran Venedig –, an denen Christen in nicht unerheblichem Maße beteiligt waren. Michael McCormick : New Light on the „Dark Ages“: How the Slave Trade Fueled The Carolingien Economy , in : Past & Present 177 ( 2003 ), S. 17–54 , hier S. 53. „In some not unimportant measure , Europe financed the early growth of its commercial economy by selling Europeans as slaves to the Arab world“. 38 Zedler : Universallexikon ( wie Anm. 33 ), Bd. 32 , Sp. 1459 , Artikel Ruder-Knecht , Ruder-Sclave. 39 Für das christliche Spanien betont Ruth Pike , dass nur Ungläubige zu Sklaven gemacht werden durften. Ruth Pike : Penal Servitude in Early Modern Spain , Madison 1983 , S. 9. 40 Ebda., S. 10. ( Sie spricht von „Blacks“ ).
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Die Malteserritter galten um die Mitte des 16. Jahrhunderts als „die kühnsten Kaperer des Westens“.41 In einem Empfehlungsschreiben , das Philibert de Foyssy42 1588 für Michael Heberer ausgestellt hatte , wird deutlich , dass sie ihren Einsatz auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch als Religionskrieg verstanden wissen wollten. Hier ist von den „Galeeren der Religion“ die Rede und davon , dass Michael Heberer von Bretten „mannlich und dapffer wider die ungläubige Feind des christlichen Namens gestritten habe“. In Heberers Text ist der Zusammenhang zwischen Krieg und Religion weniger eindeutig. Als Diener seines Herrn nahm er – selbstverständlich – an den Kaperfahrten der Malteser teil , ohne dies jemals zu hinterfragen oder zu begründen. Er berichtet von den „Maltheser Galleeren“, die „in Cursu , oder auff dem Raub“ waren und Gefangene machten : „Ihr Raub so sie damals mitbrachten / war in die 400 Schwarzer Mohren / und 30 Janitschar / die man alsbald in die Burg [ … ] in die Gefengnus führete.“43 Solange Michael Heberer mit seinem Herrn im Krieg war , verstand er sich selbstverständlich als Teil der Mannschaft und berichtete von den gemeinsamen Erfolgen : „Also namen wir die Mohren / deren bey die 80 waren / in unser Galeeren gefangen“, heißt es einmal44 , „also dass der Rest / so noch bey Leben / sich sampt dem Schiff in unsern gewalt ergeben musste“45 , schreibt er an anderer Stelle. Auch in dem Abschnitt , der sich auf die Zeit nach der Befreiung bezieht , berichtet er kritiklos , „die Malthäser Galleren“ hätten „uff derselben Reiß etlich hundert Schwartzer Mohren in einer Türckischen Naven / so sie gefangen genommen / mitbracht / “46. Ein Hinweis , dass die „Mohren“ „Heiden“ seien , könnte ein Indiz dafür sein , dass Michael Heberer die Kaperfahrten der Malteser als Kampf gegen die Ungläubigen auffasste , die keiner weiteren Rechtfertigung bedurften. Dennoch ist es bemerkenswert , dass er im Dienst eines Katholiken in den Glaubenskrieg zog. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür , warum er in seiner Darstellung so viel Wert darauf legt , deutlich zu machen , dass die Malteser sich in einem Krieg befanden , der nach bestimmten Regeln ablief. Der General erhielt ein Mandat47 , es gab eine Kriegsordnung48 und Vereinbarungen oder besser gesagt Erwartungen bezüglich des Umgangs mit Kriegsgefangenen. Während die Malteserritter davon ausgingen , dass Gefangenschaft für sie „ewige Dienstbarkeit“ bedeutete , konnte „ein jeder Soldat und kriegsman / solcher Hoffnung
41 Braudel : Mittelmeer ( s. Anm. 8 ), S. 710. 42 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 457 ; Herr zu Chammesson und Kommendator des Johanniterordens zu Romagni / Nancy. 43 Ebda., S. 71. 44 Ebda., S. 72. 45 Ebda., S. 80. 46 Ebda., S. 441. 47 Ebda., S. 74. 48 Ebda., S. 81.
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sich noch zugetrösten / dass er sich möge ledig kauffen / oder austauschen“.49 So jedenfalls begründeten die Malteserritter ihren Beschluss , in der äußersten Gefahr die Schiffe mit dem Kriegsvolk zu verlassen , um das eigene Leben zu retten.50 Wenn Michael Heberer wiederholt auf solche Ordnungen , Mandate und Regelungen verweist , so lässt sich daraus schließen , dass es ihm wichtig war zu betonen , dass die Kaperfahrten unter Kriegsrecht fielen und die damit verbundene Gewalt legitim war.51Anders als bei der Darstellung des Hugenottenmassakers hatte er keine Probleme damit , die Grausamkeiten bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Die Feinde werden nicht einfach als „Ungläubige“ bezeichnet , sondern differenziert dargestellt. Es ist von weißen und schwarzen Mohren , von Janitscharen , Türken und Renegaten die Rede , wobei bei den Renegaten meist noch die Herkunft angegeben wird. Michael Heberer , der auch in der späteren Gefangenschaft immer wieder auf Renegaten als kulturelle Mittler angewiesen war , wusste zu unterscheiden zwischen Renegaten aus Ländern , die die Protestanten bekämpften ( Spanier , Italiener ), denen er grundsätzlich misstraute , und solchen aus anderen Ländern , von denen er Hilfe erhielt.52
49 Ebda., S. 91. 50 Menschen , die in Folge von Kriegsgefangenschaft oder Raubzügen zu Land oder See versklavt worden waren , konnten gegen Lösegeld freigekauft werden. Entsprechende Verhandlungen zwischen christlichen und muslimischen Herrschaften sind häufig belegt ( Brunschvig : Artikel : ‚ ABD‘ [ s . Anm. 36 ], S. 33 ). Über die rechtliche Beurteilung der Sklaverei und der Möglichkeit des Freikaufs gibt es umfangreiche Literatur ( Ebda. S. 26–31 ). Das im Osmanischen Reich vorherrschende hanafitische Recht galt als vergleichsweise liberal ( i m Strafmaß und in der Auslegung ). Für die Barbareskenstaaten betont Jörg Manfred Mössner , dass Sklaverei dort nach der offensichtlich verbreiteten Auffassung der Schafiiten ganz regulär durch Freilassung gegen Lösegeld oder Gefangenenaustausch beendet werden konnte. ( Jörg Manfred Mössner : Die Völkerrechtspersönlichkeit und die Völkerrechtspraxis der Barbareskenstaaten ( Algier , Tripolis , Tunis 1518–1830 ) [ Neue Kölner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 58 ], Berlin 1968 , hier S. 74 ). Diese Handlungsoption wird in vielen Darstellungen übersehen , die den Islam hauptsächlich normativ erklären. Vgl. etwa Bernard Lewis : The Muslim Discovery of Europe. New York / L ondon 2001 ( z uerst 1982 ), S. 63 : „The really significant division of mankind is between Muslims and unbelievers. [ … ] For atheists or for polytheists the choice was clear – Islam or death. [ … ] For Jews and Christians [ … ] the choice included a third term – Islam , death or submission”. 51 Zur Darstellung von Kriegsgewalt vgl. Ralf Pröve : Violentia und Potestas. Perzeptionsprobleme von Gewalt in Söldnertagebüchern des 17. Jahrhunderts , in : Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert , hg. von Markus Meumann / Dirk Niefanger , Göttingen 1997 , S. 24–42. 52 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 331 : „Dann den Renegaten offt weniger als den Türcken selbst zuvertrawen“. B. u. L Bennassar haben für das 16. und 17. Jahrhundert festgestellt , dass die Mehrzahl der Renegaten ( 61,5 % von 1. 500 Fällen , die sie ermittelt haben ) aus Italien bzw. von der iberischen Halbinsel kamen. Bartolmé Bennassar / Lucile Bennassar : Les Chrétiens d’Allah. L’histoire extraordinnaire des renégats. XVIe–XVIIe siècles , Paris 1989 , hier S. 150.
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Der Kampf zwischen den christlichen Konfessionen wurde nach Heberers Darstellung auch nach der Konversion jenseits der Grenzen der Christenheit fortgesetzt. Um dies zu zeigen , erzählt Heberer Episoden wie die folgende : „Sobald der vorgemelte Stadthalter unser ansichtig warde / f ragte er von stund an uff Italienisch meine Mitgesellen / ob ich ein Teutscher were / u nd als er dessen von ihnen berichtet / f ragt er mich / Ob ich auch ein Lutherischer Hund were / w ie gemeiniglich die Teutschen alls. Ich name michs an / A ls verstünde ich’s nit / u nd gab ihm kein Antwort / sondern verwundert mich zum höchsten / dass man in Egypten auch sollte wissen von Luthero zu sagen. Es war aber offtgemelter Statthalter ein Spanischer Renegat , Darumb wuste er vom Unterschied der Christen Relig ion und Secten zu reden.“53
Passagen wie diese haben zweifelsohne eine apologetische Funktion. Michael Heberer musste sich , als er in die Heimat zurückgekehrt war , nicht nur dafür rechtfertigen , die „Christenheit“ verlassen zu haben , vielmehr galt es auch zu beteuern , dass er trotz der katholischen Umgebung , in der er gereist war , mit der er gekämpft hatte und mit derer das Schicksal der Gefangenschaft geteilt hatte , dem evangelischen Glauben treu geblieben war. Neben der konfessionspolitischen Identifizierung der Renegaten war ihm die Unterscheidung zwischen „Mohren“ und „Türken“ wichtig , wobei davon auszugehen ist , dass er mit den einen Ägypter ( „weisse Mohren“ ) bzw. schwarze Afrikaner ( schwarze Mohren ), mit den anderen die Osmanen meinte und sich der politischen Bedeutung dieser Unterschiede bewusst war.54 Die Chancen auf Freikauf bestanden einzig im Osmanischen Reich , das am Ende des 16. Jahrhunderts bereits ein enges Netz von diplomatischen Beziehungen zu westlichen Staaten unterhielt.55
53 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 97 f. 54 Die Bezeichnungen „Mohren“ und „Türken“ sind in Berichten dieser Zeit üblich. Vgl. etwa den Bericht von Balthasar Sturmer von 1558 , abgedr. in : Anne-Barbara Ritter : Ein deutscher Sklave als Augenzeuge bei der Eroberung von Tunis ( 1535 ). Untersuchung und Edition eines unbekannten Reiseberichts aus dem Jahr 1558 , in : Ruhe : Nachbarn ( s. Anm. 11 ), S. 187–230 oder auch Johann Wild : Reysebeschreibung eines Gefangenen Christen Anno 1604 , hg. und bearb. von Georg A. Narciss / Karl Teply , Stuttgart 1964 ( zuerst erschienen 1604 ). 55 Obwohl die nordafrikanischen Provinzen ( Algier , Tunis , Tripolis ) der Oberhoheit des Osmanischen Reiches unterstanden , sahen sich die Milizen und Seeräuber nicht an die Bündnisse , die der Sultan mit den westlichen Staaten geschlossen hatte , gebunden. Die Osmanen dagegen hatten ein großes Interesse am Handel , schützten jüdische und muslimische Kaufleute und hatten schon allein deswegen enge Kontakte und Bündnisse mit westlichen Ländern ( Suraiya Faroqhi : Ottoman Views on Corsairs and Piracy in the Adriatic , in : The Kapudan Pasha. His Office and Domain [ Halcyon Days in Crete IV. A Symposium Held in Rethymnon , 7–9 January 2000 ], hg. von Elizabeth Zachariadou , Rethymnon 2002 , S. 357–370 ).
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Solange Michael Heberer über den Krieg erzählt , bezeichnet er die eigene Gruppe meist undifferenziert als „Christen“, wodurch der Eindruck entstehen kann , dass die Osmanen einen Glaubenskrieg gegen die Christenheit führen. „Als nun die Türckischen Galleeren mit ihrem grimm bey uns fürüber eileten / liessen sie uns ganz unverhindert fahren / Dann sie vermeineten nicht , dass Christen darauff sein sollten. Da sie aber die anderen Christen in den kleinen Barcken ereileten / und gefangen nahmen / die zeigten ihnen an / dass wir allbereit zwey schiff von den Türcken einbekommen hetten / Darauff noch viel Christen weren. Derowegen schickten sie alsobald drey Galleeren nach / uns auch gefangen zu nemmen.“56
Dass Kriegsgegner gefangen genommen und versklavt wurden , stellt für Michael Heberer kein grundsätzliches Problem dar. Nach dem er nach unendlich langem Warten freigekauft worden war , kaufte er auf der Heimreise für seinen Begleiter zwei junge Männer aus Nordafrika , die dieser „zur gedächtnüs mit in Teutschland genommen / weil er selber in dem Courssie hatte fangen helfen.“57 Es scheint , als sei es für ihn ganz normal , dass Menschen eine käufliche Ware sind , in ihrem Wert nach Gesundheit und Arbeitsfähigkeit bemessen. Das einzige , was ihn irritiert , ist , dass es in der Unfreiheit keine Standesunterschiede mehr gibt , dass seine ehemaligen Herren das gleiche Schicksal erleiden mussten wie er.58 Die eigene Gefangenschaft bezeichnete Michael Heberer nicht als unrechtmäßig , sondern als Strafe Gottes. Dies ist eine ganz bedeutende Akzentverschiebung , durch die die Verantwortung für das Leben unter den „Ungläubigen“ und die spätere Errettung Gott zugeschrieben wird. Durch diese Deutung wird die Gefangenschaft in einen heilsgeschichtlichen Rahmen eingebettet. Dies wird bereits im Titel seines Buches deutlich. Obwohl Ägypten seit 1516 eine osmanische Provinz war , tut Heberer so , als sei es ein eigenes Land und spricht von der „Aegyptiaca Servitus“. Der schon hier zum Ausdruck gebrachte geschichtstheologische Deutungsrahmen wird im ersten Kapitel des Buches aufgegriffen , in dem das Leben unter Bezug auf 1 Mose 47 , Vers 9 als Wanderschaft bezeichnet wird. Michael Heberer leitet die Erzählung von seiner Rettung aus Seenot , die gleichbedeutend ist mit dem Beginn der Gefangenschaft , mit einem Dank an Gott ein : „Da knieten wir in Forcht und Schrecken nider in den Sandt / und danckten Gott / dass er uns aus der Tieffe des Wilden Meers / ja aus dem rachen deß Tods / so gnediglich geholffen / und uns in Egyptenn / das Haus der Dienstbarkeit / geführet hatte / Und weil wir wussten , dass unser Gefengnüs nit
56 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 83. 57 Ebda., S. 441. 58 Ebda., S. 102 f., S. 388.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) fern war / baten wir Gott ferner umb beystand seiner gnedigen hilff die er zuvor in dem selben Land / seinem volck Israel mit gewaltiger Hand / und grossen Wunderzeichen bewiesen / uns auch nit verlassen , sondern alles mit Christlicher Geduld helffen zuertragen und zu uberwinden.“59
Seine katholischen Leidensgenossen – er spricht von etlichen Franzosen – ermahnt er „zur Gedult / und zum Gebett / und das wir aller dieser unserer Gefengnüs niemands anders dörfften die schuld geben / Als unseren Sünden / Darum hette uns Gott diese Straff aufferlegt …“60. Die Aufforderung , Gewalt mit christlicher Geduld zu ertragen , durchzieht leitmotivisch das Buch und beeinflusst die Darstellung der eigenen Leiden , die sich deutlich von den Schilderungen der Gewalt , die den Protestanten in Marseille angetan worden war , aber auch von der Schilderung von Razzien im christlichen Gebiet , die er im Libanon erlebte , unterscheidet. Die unterschiedlichen Argumentationsmuster sollen im folgenden an einem konkreten Beispiel deutlicher herausgearbeitet werden. Im 13. Kapitel des zweiten Buches schildert Michael Heberer , wie die Galeere , auf der er als Sklave Zwangsarbeit leisten musste , in Beirut ( Barutten / Libanon ) angelegt hatte. Dort seien schon viele andere Generäle mit ihren Galeeren angekommen gewesen und hätten ein Fest gefeiert. Anschließend brach die Flotte nach Tripolis auf. Die meisten Generäle und Soldaten bevorzugten den Landweg und zogen durch das von Christen besiedelte Gebirge.61 Dabei handelte es sich nicht , wie Heberer zuerst meinte , um eine Vergnügungsreise , sondern um einen Beutezug. Weil Ibrahim Pascha , der Statthalter von Ägypten , seinen Soldaten schon eine Zeitlang keinen Sold mehr gegeben hatte , erlaubte er ihnen , die Bergbewohner auszuplündern. Eigentliche Ursache der Plünderung , die Ibrahim Pascha zusammen mit anderen Herren mit Vergnügen beobachtet hätte , sei , so berichtet Heberer , dass Ibrahim Pascha das Geld , das er den Soldaten hätte geben sollen , für sich brauchte , so dass sich die Soldaten selbst holen 59 Ebda., S. 94. 60 Ebda., S. 100. 61 Ebda., S. 145 : „die armen Christen des Gebuergs Libani , so Maronitae , von etlichen Trusci , genandt werden“. Zum ereignisgeschichtlichen Hintergrund Joseph von Hammer-Purgstall : Geschichte des osmanischen Reiches , Bd. 4 , Pest 1829 ( Reprint Graz 1963 ), hier S. 136 f. Vermutlich handelte es sich nicht , wie Heberer nahe legt , um eine Razzia , sondern um eine Auseinandersetzung im Zusammenhang mit den damaligen inneren Unruhen , die ihm für seine Darstellung offensichtlich nicht wichtig waren. 1585 unternahm lbrahim Pascha einen Feldzug in das Gebiet der Drusen. Viele Dörfer wurden geplündert und zerstört und zahlreiche Drusen getötet. Die Drusen waren keine Christen , in diesem Punkt ist Heberer unpräzise , aber im Siedlungsgebiet der Drusen lebten viele Christen. Zu den Verhältnissen in Syrien und den Feldzügen des lbrahim Pascha siehe : Abdul-Rahim Abu-Husayn : Provincial Leadership in Syria , 1575–1650 , Beirut 1985 , S. 78 f. Zur politischen Lage in Ägypten und den Spannungen zwischen Provinzen und Zentralmacht im Osmanischen Reich : Barbara Kellner-Heinkele : Der arabische Osten unter osmanischer Herrschaft. 1517–1800 , in : Geschichte der arabischen Welt , hg. von Ulrich Haarmann , München 1987 ( 5. Aufl. 2004 ), S. 323–364 , hier S. 335 f.
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mussten , was ihnen zustand. Ibrahim Pascha habe schon damals um die Hand der ältesten Tochter des Sultans angehalten , wofür er große Summen Geldes brauchte.62 Seine Herrschaft sei von „Geitz und Eigennuttz“ bestimmt gewesen. Opfer des Beutezugs seien „die armen Christen des Gebuergs.“ Sie hätten ihre Häuser verlassen müssen , um „ihr Leben vor der unbarmhertzigen , blutdürstigen Türckengewalt zu retten und sich in die Hoelen und Gestreuch deß Gebuergs zu verbergen.“63 Die Soldaten hätten ihnen nicht einmal den geringsten Hausrat gelassen. Unmittelbar an diese Erzählung schließt Michael Heberer einen Bericht über die Gewalt , die er selbst bei der Weiterfahrt der Schiffe erlitten hat , an. Da er offensichtlich zu schwach war , um schnell genug zu rudern , sei er wiederholt „mit Reiffen und Seilern / uber den blossen Leib / ubel geschlagen“ worden.64 Auch sein Gefährte , mit dem er zusammengekettet war , bekam diese Schläge ab , so dass beide schließlich baten , man möge Heberer ins Meer werfen , damit er „der Marter abkäme.“ In einer längeren Passage beschreibt Heberer , dass er in dieser Situation Trost und Hilfe bei Gott suchte und fand.65 In beiden Passagen wird Gewalt kontextabhängig thematisiert. Im ersten Abschnitt geht es um die Gewalt plündernder Soldaten. Heberer zeigt zwar Mitgefühl für die Opfer , aber anders als bei der Darstellung des Hugenottenmassakers in Marseille richtet sich der Blick dieses Mal eher auf die Täter als auf die Opfer. Sie werden als Bluthunde bezeichnet , als unbarmherzige blutdürstige Türken , und mit grimmigen Wölfen verglichen , die sich über die Schafe hermachen. Hier wird auf stereotype Bilder christlicher Türkenfeindschaft zurückgegriffen , die auf der Ebene realer und symbolischer Gewalt kontextunabhängig wirksam sind. Letztlich lastet Michael Heberer die Tat gar nicht den plündernden Soldaten an , sondern ganz ähnlich wie bei der Erzählung über das Massaker in Marseille ihrem Herrn. Es geht ihm um die ungerechte Herrschaft des Ibrahim Pascha , der den Überfall erlaubt hat , der ihm mit Lust zugesehen hat und dessen Handeln – angeblich um einer Frau willen – von Geiz und Eigennutz bestimmt ist.66 Ibrahim Pascha steht als Exempel für eine schlechte Obrigkeit , doch wird dies weder mit seiner Religion noch mit seiner Herkunft erklärt. Die am eigenen Leib erlittene Gewalt wird in der unmittelbar anschließenden Szene viel distanzierter geschildert : Heberer beteuert , dass er wegen „durst , hunger und 62 Die Ehe zwischen Aische , der ältesten Tochter von Murad III., und lbrahim Pascha wurde 1586 geschlossen ( Leslie Peirce : The Imperial Harem , New York u. a. 1993 , S. 123 ). Er brachte mehr Geschenke mit als bis dahin üblich ( Hanner-Purgstall : Geschichte [ s. Anm. 61 ], S. 141 ). 63 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 145. 64 Ebda., S. 147. 65 Ebda., S. 147. 66 Auch der Verweis auf Eigennutz folgt einem verbreiteten Erzählmuster , wobei Tätern wie Opfern Eigennutz zugeschrieben wird. Vgl. etwa Sturmer : Sklave ( s. Anm. 54 ), S. 202 : „Aus Vhrsachen vndt Eigennutze wardtt die gutte Stadtt Tunis vom Turcken erobertt“.
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kummer“ nicht besser rudern konnte und völlig erschöpft war , gesteht also seine eigene Schwäche ein. Zwar ist vom „unerträglichen jammer und Elend“ die Rede und von der „harten und viehischen Dienstbarkeit“, doch werden die Qualen als gerechte Strafe Gottes für die eigene Sündhaftigkeit gedeutet. Das Leiden wird hingenommen als eine Prüfung Gottes , der dem gläubigen Christen Kraft und Trost schickt. Die Darstellung der eigenen Gewalterfahrung und die damit verbundene Sinndeutung von erlittener Gewalt als christliches Leiden sind so eng aufeinander bezogen , dass die sonst so zentrale Frage nach der Legitimität der Gewalt hinter die Bereitschaft , sie zu ertragen , zurücktritt. Diese Haltung kann mit dem Versuch , die erfahrene Gewalt zu verarbeiten , erklärt werden. Sie passt aber auch in den geschichtstheologischen Deutungsrahmen des gesamten Berichtes und ist somit ein weiteres Indiz für den Rechtfertigungsdruck , dem die aus der muslimischen Welt Heimgekehrten unterlagen. Durch die Verknüpfung von Gewalterzählung und Leidensgeschichte wird individuelle Leidenserfahrung zum Medium kollektiver Erinnerung und Selbstvergewisserung.67 Auch wenn die Muster der Darstellung andere sind , gibt es deutliche Bezüge zu den Martyrien der Frühen Neuzeit , zum grausam inszenierten Leiden und Sterben , wie es in den frühreformatorischen Flugschriften , in heroischen Historien , in Liedern und Trauerspielen dargestellt wurde. Peter Burschel hat auf die Bedeutung des Martyriums für Lutheraner und Reformierte hingewiesen : „Hier bestimmten sie das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Dramaturgie als ein Verhältnis , das sich im Leiden und nur im Leiden offenbart.“68 Im Gegensatz zu den Martyrien beanspruchen die Sklavenberichte jedoch , auch oder gerade weil es sich um Texte der Selbstverteidigung handelt69 , Authentizität. Wie Wolfgang Neuber betont , geschieht dies unter anderem dadurch , dass der Verfasser sich bemüht , „unter Wahrung der Sachzugewandtheit seine Erfahrungen und seine Heimkehr als Offenbarung und gnädigen Schutz , den Text somit als individuelles Zeugnis der Gnade Gottes auszuweisen.“70 Dieses Vorgehen lasse sich vor allem in protestantischen volkssprachlichen Reiseberichten beobachten.71 Auch Heberer verweist den Leser bereits in der Vorrede darauf , dass Gott es war , „der durch sein segen und gnad mich wider her geführet hat.“72 67 Vgl. dazu bzgl. des Martyriums als kollektiver Leiderfahrung Burschel : Sterben ( s. Anm. l4 ), S. 5. 68 Ebda., S. 288. 69 Ruhe : Christensklaven ( s. Anm. 11 ), S. 169. 70 Wolfgang Neuber : Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik , in : Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur , hg. von Peter J. Brenner , Frankfurt / M. 1989 , S. 50–67 , hier S. 58. 71 Ebda. 72 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), ohne Seite : An den Guenstigen Leser. Der Verweis auf die Errettung durch Gott steht vor allem an wichtigen Stellen des Textes und auch dort oft in dialogischen Passagen , in denen Heberer sich an seine potentiellen LeserInnen richtet ( vgl. z. B. S. 103 ).
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In den Gefangenenberichten geht es aber nicht nur um Gnade , sondern auch um Leiden , das gläubige Christen ertragen , weil sie ihre Sünden sühnen , im Glauben erprobt oder von Gott gezüchtigt werden sollen bzw. weil sie am Leiden Christi Anteil haben dürfen.73 Dabei kommt , so scheint es , dem Leiden als Züchtigung besondere Bedeutung zu. So verweist etwa der bereits erwähnte Balthasar Sturmer in seinem Reisebericht auf Sprüche 3,12 und Hebräer 12 , 6 : „Dann den der Herr liebett , den züchtigett er.“74 Dieses Zitat findet sich , um nur ein weiteres Beispiel zu nennen , auch bei Reinhard Sorscho , der zwischen 1612 und 1622 ein „GelübdBüechlein Im Türkenkerker und Erwehlung der allerbesten RüstCamer Wehr und Waffen aus dem wort Gottes …“ verfasste.75 Reinhard Sorscho betont , dass Gott , als er „Staupe , Ruten und Plagen“ geschickt hat , nicht im Sinn gehabt habe , die Gläubigen zu verderben , „sondern das wir dadurch zur Buesse und Besserung des Seelenheils nämlich das Reich des Herrn zu erstürmen , angeführet und getrieben werden und des Creutzes sowohl als des täglichen Brots von Nöten seien“.76 Reinhard Sorscho hat seinem Text eine Reihe von Illustrationen beigegeben , in denen unter anderem seine Misshandlung dargestellt wird. Sorscho kommentiert ein Bild , dem er den Titel „Prigelns Modell etc.“ gibt , mit Psalm 129 : „Die pfluegher haben auf meinem Rukhen geakhert und zur furchen lange gezogen. Aber der Herr der gerecht ist , hat der Gottlosen Seüle abgehawen“. In solchen Aussagen erscheinen die Osmanen als die Verkörperung des Bösen und zugleich als Instrumente der göttlichen Züchtigung , anders ausgedrückt , Gott ist die ‚Causa principalis‘, der ‚Turck‘ ist die ‚Causa instrumentalis‘. Letztlich werden die Christen siegen : Sie können ihr Leben verlieren , ihren Körper , ihre Güter und ihre Familie , aber „der Türke“ hat keine Macht über ihre Seele.77 Bei Michael Heberer sind solche Äußerungen weniger deutlich , aber seine ständigen Beteuerungen , dem Glauben treu geblieben zu sein , und die Beschreibung der Gefangenschaft als Erprobung im Glauben verweisen auf ein analoges Deutungsmuster.78 Hier zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen Leidensbereitschaft , Leidensfä73 Zu den verschiedenen Modellen des Leidens vgl. Oswald Bager : Artikel Leiden , Christentum , 2. dogmatisch , ethisch , in : Die Religion in Geschichte und Gegenwart , Bd. 5 , Tübingen 42002 , Sp. 243–245. 74 Ritter : Sklave ( s. Anm. 54 ), S. 194. 75 Sammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel , Cod. Guelf. 37.13 Aug. 2 °. Die ungedruckte Quelle wird beschrieben von Jill Bepler : Kabinettsausstellung. Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit , in : Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden ( Wolfenbütteler Forschungen , Bd. 92 ), hg. von Ferdinand van Ingen , Wiesbaden 2001 , S. 291–318 , hier S. 299 f. 76 Sammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel , Cod. Guelf. 37.13 Aug. 2 ° , S. 4. 77 Dies sind Positionen , die sich auch bei Martin Luther finden. Vgl. etwa : Heerpredigt wider die Türcken , WA Bd. 32,2 , S. 149–197 , hier S. 180 : „Aber weil der Türke gleichwol Gottes Rute und eine plage ist …“. 78 Vgl. z. B. Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 147 : „… und mich … tröstete / d ass Gott niemand uber sein vermögen versuchete.“
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higkeit , Gewalthinnahmebereitschaft , Projektionen von Gewalt und der Gewalthaftigkeit einer Gesellschaft ab , der weiterer Untersuchungen bedürfte. Dabei wäre vor allem danach zu fragen , wann und inwieweit die religiös motivierte Leidensbereitschaft und Leidensfähigkeit in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten ein Nährboden ist , um Phantasien und Projektionen von Gewalt und Gewalthaftigkeit entstehen zu lassen , die in der Longue durée wirken. III. Obrigkeitliche Strafgewalt
Die Beschreibung und Bewertung der obrigkeitlichen Strafgewalt nimmt in Michael Heberers Bericht relativ viel Raum ein. Aufgabe der Obrigkeit ist es , so betont er , „die Gerechtigkeit zu befürdern.“79 Solange die Gewalt legitim ist , ist Heberer jedes Mittel recht. In seinem Bericht über die verschiedenen Länder , die er bereist , kommt er immer wieder auf die Gerichtspraxis zu sprechen und bringt Exempel für die strafende Obrigkeit. Dabei macht er anscheinend keinen Unterschied zwischen christlichen und muslimischen Herrschern. In Bezug auf Frankreich lobt er die Institution der Parlamente und das ihnen zustehende Ius de non appellando , durch das sichergestellt sei , dass „der König seines Gewalts nicht missbrauche.“80 Er erzählt Exempel von Falschmünzern , die hart gestraft wurden , oder von einem Menschen , der einen Meineid geschworen hatte und eine „amende honorable“ erhielt , was er mit dem Satzkommentierte : „Welches zwar erbärmlich und auch schrecklich zu sehen , aber wegen der Gerechtigkeit hoechlich zu loben“81. In solchen Passagen scheint die Sehnsucht nach Frieden und einer gerechten Ordnung durch , die in der politischen Kultur Frankreichs im ausgehenden 16. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Auch in Bezug auf die Malteser betont Heberer , dass sie ihre obrigkeitliche Strafgewalt ernst nahmen. Wie sie selbst auf ihren Kaperfahrten für Zucht sorgten , macht er mit der ausführlichen Schilderung der Bestrafung eines Mannes deutlich , dem vorgeworfen war , „das grausame / unmenschliche / und abschäwliche laster / die Sodomiam“ verübt zu haben. Er wurde hart bestraft , die Strafe religiös motiviert und von Heberer gut geheißen : Nach langem Rat wurde beschlossen , „dass ihme durch einen Ritter / zweyhundert Streich auff Ruecken und Bauch mit einem Seil gegeben wurden / die ihn dermassen schmertzten / dass er selber umb Gottes willen bate / ihn also lebendig in das Meer zu werffen / damit er deß Schmertzens abkeme. Aber er musste also gebundenden Schmertzen der bastonaden erleiden / biß auf den dritten Tag. Da lösete man ihm die bande auff / und
79 Ebda., S. 43. 80 Ebda., S. 43. 81 Ebda., S. 44.
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musste er kniend wegen seines schändlichen vornemmens / zuforders Gott / danach die gantze Gesellschaft / umb verzeihung bitten.“82
Homosexualität erscheint hier und an einigen anderen Stellen im Text als eines der schlimmsten Übel , für das Gott die Menschheit straft.83 Heberer äußert die Überzeugung , dass „Gott uns alle / wegen eines solchen Gottlosen / Ehrvergessen / Viehischen Menschen / ohne zweifel bißanhero gestrafft hett / und noch ferner straffen würde“84 , verbindet also sein eigenes Leiden und die Gefahren , denen die Mannschaft auf See ausgesetzt war , mit der „Sündhaftigkeit“ eines Einzelnen. Obwohl Heberer selbst ständig Schläge aushalten musste und seine Marter ein Ausmaß erreicht hatte , dass er um die Erlösung durch den Tod bat , kommt hier kein Wort des Mitleids. Und dennoch richtet er den Blick der LeserInnen auf den Täter , der zum Opfer züchtigender Gewalt wird , schildert er seine körperlichen Qualen und das Bußritual in einer Weise , als sei dieses Exempel eine der wenigen Möglichkeiten zu thematisieren , was es heißt , körperliche Schmerzen und seelische Erniedrigung zu ertragen. Eine ähnliche Beobachtung lässt sich auch in Bezug auf die Strafgewalt im Osmanischen Reich machen , das keineswegs als Willkürherrschaft geschildert wird.85 Ungeachtet der Grausamkeiten , die Heberer in der Gefangenschaft erlitten hat , unterscheidet er zwischen guter Herrschaft und der Tyrannis einzelner. Als Exempel für ungerechte Herrschaft steht der Patron , dem Heberer in Ägypten gehörte. Er war ein Renegat aus Sizilien86 , der seine Sklaven als sein Eigentum betrachtete.87 Seine Grausamkeit ging so weit , dass einer seiner Untergebenen , ein „geborener Türke“, ihm den Dienst aufkündigte mit dem Bemerken : „Die arme Chiaven seind menschen / Ich bin auch ein mensch / und begere menschlich mit menschen zu handeln / und nicht viehisch / Er möge einen andern bestellen , / der ihm dergestalt diene / Er begere es nit zu thun / Und warff seinen stecken / mit dem er sonsten uns gebott / vor den Patron uff die Cursiam nieder / und kündigte damit seinen Dienst auff “88.
82 Ebda., S. 86. 83 Ebda., vgl. etwa S. 482. 84 Ebda., S. 86. 85 Ähnliches gilt auch für Reinhard Sorscho , der betont , dass die Osmanen „auch sonsten … vil anndere gute Policeyordnungen , Sitten , Tugend und lobliche Bräuche“ hielten , „sonderlichen mit Ehrerpietung , Lieb und Trew gegeneinander“ ( s. Anm. 70 , Sammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel , Cod. Guelf. 37.13 Aug. 2 ° , S. 373 ). 86 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 444. Er stammte von der Insel Panteleria , die zu Sizilien gehörte , und war als Kind von den Türken geraubt worden. Nach der Zwangskonversion zum Islam hatte er als Janitschare Karriere gemacht. 87 Ebda., S. 180 : „wir weren sein gutt / Er hette macht mit uns zu handeln / wie er wollte“. 88 Ebda., S. 180.
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Prototyp des guten Herrschers ist die Sultanin , die eine Zeitlang auf einem der Schiffe reiste. Heberer betont , dass sie gegen die tyrannische Behandlung der Christen Einspruch erhob. Sie schickte einen ihrer Eunuchen und ließ dem Patron ausrichten : „Sie wollte nit leiden / dass die Christen so unbarmherzig mit Streichen sollten gehalten werden / Wollte dafür gebeten haben / Dann sie müsste besorgen / Gott schicke solch ungewitter und Widerwind / wegen dero an den unschuldigen Christen geübter Tyrannei und unbarmhertzigkeit“.89
Da Murad III. ( 1574–95 ) nur eine einzige Konkubine hatte , ist es wahrscheinlich , dass Heberer mit der Sultanin Safiye , eine aus Albanien stammende Renegatin , meint90. Mit der christlichen Herkunft allein lässt sich aber nicht erklären , dass sie sich den Christen eng verbunden fühlte , sich wiederholt für sie einsetzte und zuletzt auch bat , „dass wir unsern Gott für sie bitten sollten.“91 Dafür gibt es zu viele Beispiele von Renegaten , die mit extremer Härte gegen Christen vorgingen. Der Sinn für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wird nicht mit der Religion noch mit der religiösen Herkunft , sondern mit der Ausübung gerechter Herrschaft verbunden. Heberer , der bei den Malteserrittern in einer reinen Männergesellschaft lebte und sich über Frauen meist abfällig äußerte , spricht voller Bewunderung von der „Trewhertzigen Soltanin“ und ihrer Fürsorge.92 Nicht nur sie , auch der Sultan wird als gerechter Herrscher dargestellt , der gegen die Tyrannis des Patrons einschritt. Heberer erzählt , wie der Sultan einmal dem Patron befohlen habe , „die arme Christen ungeschlagen zu lassen“.93 Heberer erzählt , dass die Gefangenen im Osmanischen Reich gewisse Rechte und Anspruch auf Schutz gegenüber Dritten hatten.94 Nachdrücklich betont er , dass im Osmanischen Reich Unzucht ( Ehebruch , Hurerei , Sodomie ), Mord und Eigentumsdelikte ( Raub , Diebstahl ) streng bestraft werden. Als Exempel führt er den Fall eines christlichen Griechen an , der von einer muslimischen Witwe verführt worden sei. Der Vater der Witwe hatte den Wunsch der Tochter , den Griechen heiraten zu dürfen , abgeschlagen und ihr den weiteren Kontakt untersagt. Da sie sich nicht an das Verbot hielt , der Grieche sich aber weigerte zu konvertieren , wurde gegen beide ein Prozess gemacht , der letztlich mit dem grausamen Tod beider endete. Für ihn wurde die Strafe vorgesehen , die christliche Männer , die mit muslimischen Frauen Ehebruch begangen hatten , zu erwarten hatten : Er wurde so an einem Haken an einem Galgen aufgehängt , dass er noch mehrere Tage lebte , große Schmerzen erlitt und sich 89 Ebda., S. 191. 90 Peirce : Imperial Harem ( s. Anm. 62 ), S. 94. 91 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 207. 92 Ebda., S. 191–194. 93 Ebda., S. 302. 94 Ebda., S. 178 ff.
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nach dem Tode sehnte. Erst als ein Wächter durch Geschenke von Freunden dazu gebracht wurde , ihm statt Essig Gift zu geben , wurde er zum Tod erlöst. Im Sterben musste er zusehen , wie seine Geliebte im Meer ertränkt wurde.95 Michael Heberer lobt die Härte , mit der die Osmanen die Laster bestrafen , und betont die abschreckende Wirkung dieser Strafen.96 Ähnlich wie in der Geschichte der Bestrafung des Homosexuellen richtet Heberer die Erzählperspektive auf den zum Opfer gewordenen Täter und nutzt die Darstellung der obrigkeitlichen Strafgewalt , um körperliche Schmerzen zu thematisieren. Für die obrigkeitliche Strafgewalt gibt es , solange sie legitim ist , in seinen Augen offensichtlich keine Begrenzung. Mitleid brachte er nur für die Protestanten in Marseille auf , die um des Evangeliums Willen ungerechte Gewalt erlitten.97 IV. Schreiben über Religion und Gewalt
Sklaven , die die osmanische Gefangenschaft überlebt hatten und nach Hause zurückgekehrt waren , mussten sich verteidigen : Gegen den Vorwurf , sich leichtfertig in Gefahr gebracht zu haben , gegen den Verdacht , im Land der Feinde der Christenheit vom „wahren“ Glauben abgefallen zu sein , vor allem aber gegen die Tatsache , dass sie als Christen gegen Christen gekämpft hatten. Michael Heberer thematisiert dieses Problem in einer kleinen Geschichte , in der er von katholischen Mitgefangenen erzählt , denen von Kapuzinermönchen die Absolution und die heilige Kommunion verweigert worden war , „dieweil sie die Christenheit mit zuführung deß Feinds / dero Wafen / Geschütz und Munition / selbsten hülffen bekriegen / und Gott höchlich erzürneten / Darumb man ihnen / so lang sie in dem Standt / die Sacrament nit reichen köndte. Als ihnen die arme Chiaven antworteten / Sie müsten es thun / weren dazu gezwungen mit blutigen Streichen / Sagten ihnen die Münch darauff / Sie sollten sich eher gar umbbringen lassen / So stürben sie als fromme Christen“98.
95 Ebda., S. 250 f. 96 Auch hier stellt sein Text keine Ausnahme dar. So betont auch Reinhard Sorscho , dass die Osmanen „auch sonsten … vil anndere gute Policeyordnungen , Sitten , Tugend und lobliche Bräuche“ hielten , „sonderlichen mit Ehrerpietung , Lieb und Trew gegeneinander.“ ( s. Anm. 70 , Sammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel , Cod. Guelf. 37.13 Aug. 2o S. 373 ). 97 In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten , dass Heberer sich generell gegenüber Glaubensgenossen verständnisvoller und milder verhält als gegenüber Christen einer andere Konfession oder gegenüber Nichtchristen. ( Vgl. etwa Heberer : Aegyptiaca [ wie Anm. 1 ], S. 86 f : Die unterschiedliche Einschätzung des gleichen Vergehens [ Trinkwasser stehlen ] bei einem [ katholischen ] und seinem [ protestantischen ] Freund aus Pommern. ) 98 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 233.
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Ein Blick in Luthers „Heerpredigt wider die Türken“ zeigt , dass die hier referierte Position keineswegs nur eine katholische ist. Luther hatte zwar Verständnis dafür gezeigt , dass Christen Andersgläubigen ( „Türken oder Heiden“ ) dienen , aber hinsichtlich des Krieges eine ganz klare Position bezogen : „Wenn er dich zwingen wolt , wieder die Christen zu streiten , da soltt nicht gehorsam sein , sonder lieber alles leiden , was er dir thun kann , ia viel lieber sterben.“99 Michael Heberer , der sich als gläubiger Christ darstellt , hatte als Galeerensklave gerudert und sich damit , ob er wollte oder nicht , am Krieg beteiligt. Die Rechtfertigung dafür liefert er seinen Leserinnen und Lesern in der Antwort , die er den katholischen Mitgefangenen gab : „Sie sollten nit trawern / denn Gott were bey uns / und wir weren in dem Beruff / dahin uns Gott uff diese zeit / nach seinem willen geordnet hette / Sollten deßwegen nit trawrig sein / Dann die Caputschiner weren nit Gottes diener / Sonsten würden sie nit wider Gott und sein Wort so unchristlich lehren handlen und wanderen. Denn Gott hett uns arme Chiaven darumben in die Heydnische Gefengnüs gegeben / das wir deß Türcken Tyranney sollten und müsten unterworffen sein / und ihnen dienen / Nit anderst als er vorzeiten das Volck Israel in Egypten / unter dem Pharaone / und hernacher in Babylonia unter der Perser König Gewalt gegeben / und durch den Propheten Jeremiam Cap. 27. hat er mahnen lassen / mit diesen Worten : Ergebet Ewern Halß unter das Joch deß Königs zu Babel / und dienet ihm und seinem Volck / So solt ihr lebendig bleiben. Merckt wol / Er sagt nicht / Ihr solt Euch tödten lassen , sondern ihr solt lebendig bleiben.“100
In seiner Ansprache greift Michael Heberer auf ein geschichtstheologisches Deutungsmuster zurück , das eine Rechtfertigung des Überlebens in der Gefangenschaft ermöglicht und zugleich auch jeden Zweifel an seiner Glaubenstreue beseitigt. Indem Gott zum Akteur wird , der die Menschen in die Gefangenschaft schickt , werden die Menschen als Akteure von einer möglichen Schuld und Verantwortung freigesprochen. In dieser Logik erhalten Gewalt und die Hinnahme von Gewalt einen Sinn , erklärt sich , warum die hier erlittene Gewalt so anders wahrgenommen und dargestellt wird wie die nicht legitime Gewalt in innerchristlichen Konflikten , die Heberer in Marseille erlebt hatte. Das Leiden ist nicht selbst verursacht und verschuldet , sondern von Gott verhängt für die Sündhaftigkeit der Welt. Der gläubige Christ muss es annehmen und erhält damit eine Chance , seinen Glauben zu beweisen. Aber er muss , und dies scheint mir doch eine ganz wesentliche Botschaft dieses Textes zu sein , nicht für den Glauben sterben. Er hat ein Recht , für das eigene Überleben zu kämpfen. Maßstab für die Beurteilung von Gewalt ist nicht die Frage des Ausmaßes physischer Gewalt , sondern die der Legitimität , die kontextspezifisch beurteilt wird. Wie 99 WA Bd. 30,2 , S. 196. 100 Heberer : Aegyptiaca ( s. Anm. 1 ), S. 234.
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gezeigt , gehörten gerade die Schilderungen legitimer Gewalt im christlichen wie im muslimischen Machtbereich zu den grausamsten Szenen der Geschichte der Aegyptiaca Servitus. Im 21. Jahrhundert ziehen diese Darstellungen die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf sich. Sie irritieren , bestätigen und erzeugen Bilder. Für die Leserinnen und Leser des 17. Jahrhunderts , die mit Textsorten wie Hexentraktaten , Teufelsschriften oder Martyrien , in denen bis zum Extrem gesteigerte Grausamkeit beschrieben wurde , vertrauter waren , war vielleicht die Überlebensgeschichte wichtiger als die Leidensgeschichte. Heberer erzählt von Protestanten , Katholiken , Muslimen und Juden , von Menschen , die ihrem Glauben treu geblieben waren , und solchen , die konvertiert waren und als Renegaten im muslimischen Machtbereich gelebt hatten. Er teilt sie ein in Menschen , die gerecht waren , denen er vertrauen konnte , und solche , die ihn enttäuscht haben , die selbstsüchtig und eigennützig waren. Aber die Grenzen verliefen nicht eindeutig entlang der verschiedenen Religionen oder Religionsgruppen. Die Aussage , dass Menschen nicht allein aufgrund ihrer Religion beurteilt werden können , scheint mir eine zweite wichtige Botschaft dieses Textes zu sein. Auch wenn Gott , Gewalt und Religion in Heberers Text allgegenwärtig scheinen , erzählt er nicht von der Gewaltsamkeit der Religion , sondern von Macht und Herrschaft , Krieg und Sklaverei , von ökonomischen Interessen und der Möglichkeit zu überleben. In seinem ausgeprägten Interesse an Ordnung , in seiner kultur- und religionsübergreifenden Darstellung gerechter Herrschaft spiegelt sich , wie mir scheint , eine Sehnsucht nach Frieden wider , die man als Antwort auf die erlittene und erlebte Gewalt lesen kann. Viel mehr als diese vage Vermutung lässt sich zur Frage , inwieweit Heberers Text als Zeugnis für die Wahrnehmung , Erfahrung oder Verarbeitung von Gewalt gelesen werden kann , auch oder gerade nach einer „dichten“ Lektüre kaum sagen. Die Erfahrung des aus dem Kriege bzw. der Gefangenschaft heimgekehrten , sich rechtfertigen zu müssen , scheint das Schreiben über Gewalt in einem weit größeren Maße beeinflusst zu haben als die Gewalterfahrung in Krieg und Gefangenschaft.
Schreibsucht? Zu den Leidenschaften eines gelehrten Bauern „Schreibesucht“ ist nach Zedlers Universallexikon „ein schon von langen Zeiten her unter den Gelehrten herrschender und noch fortwährender Fehler , da viele derselben die Welt mit allzuvielen Büchern überhäuffen. Man nennet es billig einen Fehler. Denn die , so mit dieser Seuche behafftet , haben entweder gar keine Geschicklichkeit , Bücher zu schreiben , und folglich vermehret sich die Anzahl der elenden Schrifften durch ihre ‚Schreibesucht‘ ; oder aber sie besitzen Geschicklichkeit , und in diesem Fall verhindert sie ihre ‚Schreibesucht‘ , daß sie auf die Schrifften nicht den gehörigen Fleiß und die erforderliche Zeit verwenden können : woraus denn abermahls nichts anders als schlechte Schrifften hervor kommen müssen. Bey beiden Arten der Leute ist die übermäßige Begierde , sich bey der gelehrten Welt hervor zu thun , Ehre zu erjagen und ihren Nahmen offt unter der Presse zu sehen , die Quelle dieses Fehlers. Denn wer aus Gewinnst und weil ihn vielleicht die Not dazu treibet viele Bücher ausfertiget , den kann man nicht unter diejenigen zählen , so an der ‚Schreibesucht‘ kranck darnieder liegen“.1
Wie im Zedler nicht anders zu vermuten , hatte der Verfasser des Artikels nur Gelehrte im Sinn , als er sich mit der ‚Schreibesucht‘ befasste. Während sein Interesse scheinbar vollständig auf das Bestreben , schlechte Bücher zu vermeiden , gerichtet ist , wird implizit ein Abgrenzungsdiskurs geführt. Wenn ‚Schreibesucht‘ ein Fehler der Gelehrten ist , dann bleiben Schreibende , die diesem Stand nicht angehören , mit ihren Fehlern und Krankheiten , Begierden und Leidenschaften ausgeblendet. Mit der Schreibsucht plagten sich aber nicht nur gelehrte , sondern auch ganz normale Menschen , allen voran der als Armer Mann im Toggenburg bekannt gewordene Ulrich Bräker ( 1735–1798 ), der fast 4. 000 Manuskriptseiten hinterließ.2 In seinen Tagebüchern , die , wenn auch lückenhaft , aus den Jahren 1768–1798 überliefert sind und in seiner Lebensgeschichte setzt er sich häufig mit dem eigenen Schreiben auseinander , erklärt seine Schreibmotivation , macht sich Vorwürfe , dass er „unvernünftig viel Zeit mit Lesen , Schreiben u. d.gl. zugebracht“ habe ,3 rechtfertigt aber
1 Johann Heinrich Zedler : Grosses vollständiges Universal-Lexikon , Bd. 35. Nachdruck der Ausgabe von 1743 , Graz 1961 , Sp. 1160 f. 2 Ulrich Bräker : Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg , hg. v. H. H. Füßli , in : Ulrich Bräker , Sämtliche Schriften , hg. v. Andreas Bürgi / Heinz Graber / Christian Holliger / Claudia Holliger-Wiesmann / Alfred Messerli / Alois Stadler , 4 Bde., München 1998–2000 , hier Bd. 4 , S. 357–557. 3 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 487.
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auch auf vielerlei Art seine Schreiblust und -laune ,4 beklagt und verteidigt Schreibsucht ,5 Schreibzwang6 bzw. den Trieb ,7 die Leidenschaft ,8 den Hang und die Bedürfnisse9 zu schreiben. Seine Schreibsucht wurde in der Forschung wiederholt thematisiert.10 Heinz Graber , einer der Mitherausgeber der 1998 erschienenen Edition von Ulrich Bräkers sämtlichen Schriften ,11 spricht in der Einleitung zum zweiten Band von „Bräkers Schreibsucht und Lesewut“ und vermutet darin „eine Kompensation seiner engen Verhältnisse und eine Flucht vor den wirtschaftlichen Zwängen.“12 In seinen weiteren Ausführungen bemerkt Graber dann aber , dass Bräker jemand sei , „der gern schreibt“,13 und insbesondere „gerne von sich selber schreibt“.14 Er bescheinigt ihm einen individuellen Hang zum Schreiben , der der Schreibfreudigkeit seiner Zeit entsprochen habe , sowie Schreiblust und -laune.15 Alfred Messerli erinnert daran , dass Bräkers Hang und Lust zum Schreiben sich „sowohl auf den Text als auch auf den Akt des Schreibens und die konkrete Gestaltung der Buchstaben“16 bezog : „Die Lust am Schreiben ist zuerst ein-
4 Vgl. z. B. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 1 , S. 115 , Lust und Kraft zum Schreiben , S. 538 „grose lust zum schreiben“, Bd. 2 , S. 253 „dacht schon offt woll das närrische schreiben blieben lassen – meine verstohlenen weilchen aufs lesen wenden – dann kommt wieder so eine schreiblaune – ein gedannke , der mir gefällt – oder so was zeügs – flux sitz ich wieder hin u. kleks dem papeir an“, Bd. 2 , S. 730 „meiner schreiblaune fehrner freyen lauf zulassen“, Bd. 3 , S. 74 „denn unwiederstehlichen hang zum schreiben – meine lebens begegnüße – nichtsbedütente begebenheiten – um michher – auf meiner lebensbahn – die gar sehr eingeengt ist – in einem tagebüchel zusamenzutragen“. 5 Vgl. z. B. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 185 „weil doch die schreibsucht mich beherrscht“, Bd. 2 , S. 321 „die vertrakte schriebsucht zu befriedigen“, Bd. 2 , S. 645 „werde es trotz meiner schreibsucht wohl bleiben lassen“, Bd. 4 , S. 363 „Einmal ist die Schreibsucht da.“ 6 Vgl. z. B. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 24 „ich mus doch jeden tag schreiben wies mir ist“; „schreiben mus ich“, Bd. 2 , S. 654 „das ich fast gezwungen werde , das wesentlichste davon niederzuschreiben“. 7 Vgl. z. B. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 3 , S. 210 „ein geist trieb sie , und keiner schreibt ohne trieb“. 8 Vgl. z. B. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 3 , S. 80 „schreiben ist nun einmahl meine leidenschafft – mir vast zum bedürfnuß worden.“ 9 Vgl. z. B. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ) Bd. 2 , S. 730 „schon ich von ieher , ohne die geringsten interessierten absichten meinem schreibhang gefolget“, Ebda. „2tens – mir mehr freyheit verschaffen – meinem schreibehang zufolgen“, Bd. 4 , S. 506 „mein unwiderstehlicher Hang zum Lesen und Schreiben“. 10 Schreibsucht. Autobiographische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker ( 1735–1798) ( Arbeiten zur Geschichte des Pietismus , Bd. 44 ), hg. v. Alfred Messerli / Adolf Muschg , Göttingen 2004. 11 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ). 12 Heinz Graber : Einleitung , in : Bräker , Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. XX. 13 Graber : Einleitung ( s. Anm. 12 ), S. XXI unter Verweis auf den Beginn des Tagebuchs von 1779 : „von einem gern schreibenden erden sohn“. Vgl. Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 1. 14 Graber : Einleitung ( s. Anm. 12 ), S. XXI. Unter Verweis auf Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 622. 15 Graber : Einleitung ( s. Anm. 12 ), S. XXII. 16 Alfred Messerli : Bräkers Schreibprogramme , Schreibmotive und Schreibpraktiken in seinen Tagebüchern , in : Schreibsucht , hg. von Messerli / Muschg , ( s. Anm. 10 ), S. 38–48.
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mal Freude an der ästhetischen Gestaltung und an der Gestalt der Buchstaben.“17 Auf Schreiben als einer Kulturtechnik verweist auch Andreas Bürgi , der betont , dass Reisen und Schreiben bei Bräker ähnlich strukturiert seien. Beiden sei gemeinsam , dass es „nicht um das Ergebnis , sondern um die Tätigkeit“ gehe : „Das Reisen verhält sich zur Reise wie das Schreiben zum Text“.18 Seine Texte seien eine Form bildlicher Darstellung , die nicht nur zum Lesen , sondern auch zum Anschauen gedacht ist.19 Insgesamt lässt die Bräkerforschung , die hier nur in Ansätzen referiert werden kann , keinen Zweifel daran , dass Bräkers Schriften einen ausgezeichneten Ausgangspunkt für eine intensive Beschäftigung mit dem Schreiben als kultureller Praxis darstellen. Bislang hat Bräkers Schreibsucht mehr Aufmerksamkeit erfahren als seine Lust zum Schreiben , die meist mit Schreibhang und Schreibfreudigkeit gleichgesetzt wird und , wie es scheint , keiner besonderen Erklärung bedarf. Heinz Graber ordnet Bräkers Schreibhang in die Schreibfreudigkeit der Zeit ein. Damit gibt er , wie ich meine , einen wichtigen Anstoß für weitere Forschungen. Wenn Schreibfreude ein besonderes Merkmal des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist , dann müsste die Lust am Schreiben weit eher als die Sucht zum Thema gemacht werden. Dazu möchte ich im Folgenden einige erste Überlegungen formulieren. Um das mit dem Schreiben verbundene Begriffsfeld zu beleuchten , werde ich mit einem Blick in die Lexika beginnen. Zedler hat für Schreiblust keinerlei Eintrag und assoziiert mit Lust durchaus etwas Positives : „Die Lust“, heißt es , „gehöret unter diejenigen Dinge , die sich wohl deutlich empfinden , aber nicht verständig erklären lassen , eben deswegen , weil sie eine angenehme Empfindung ist.“20 Anders ausgedrückt : „Die Lust entstehet , wenn die Begierden der Seelen gestillet werden.“21 Adelung und Grimm kennen zwar keine Schreiblust , aber eine Schreibseligkeit. Während „schreibsüchtig“ von Adelung umschrieben wird als „eine anhaltende ungeordnete Begierde habend zu schreiben und darin gegründet“, ist schreibselig , „wer geneigt oder begierig ist , viel zu schreiben.“22 Dass Schreibseligkeit nicht unbedingt nur positiv zu bewerten ist , verdeutlicht ein Blick in Schlossers Weltgeschichte für das deutsche Volk aus dem Jahre 1854 , in dem über die Schreibseligkeit der Richter geklagt wird. An ihrer Stelle hätte der Autor lieber 17 Alfred Messerli : Lesen und Schreiben. 1700–1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz ( Germanistische Linguistik , Bd. 229 ), Tübingen 2002 , S. 623 f. 18 Andreas Bürgi : Das Reisen , die Schlacht. Zu einer Voraussetzung von Ulrich Bräkers Tagebuch , in : Schreibsucht , hg. von Messerli / Muschg ( s. Anm. 10 ), S. 116–128. Bürgi betont , dass Lesen , Schreiben und Reisen die wichtigsten Leidenschaften Bräkers gewesen seien. 19 Messerli : Lesen und Schreiben ( s. Anm. 17 ), S. 624. Dort auch ausführliche Hinweise zum Schreiben als einer Kulturtechnik , insbesondere auch zur kalligraphischen Gestaltung. 20 Zedler : Universallexikon ( s. Anm.1 ), Bd. 18 , 1738 , Sp. 1243–1246. 21 Zedler : Universallexikon ( s. Anm.1 ), Bd. 18 , 1738 , Sp. 1243–1246. 22 Johann Christoph Adelung : Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart , mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten , besonders aber der Oberdeutschen , Wien 1811.
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„tüchtige Männer“ gesehen.23 Grimms Wörterbuch zeigt , wie differenziert das Feld ist. Da gibt es schreibselig , Schreibseligkeit , Schreibsucht , schreibsüchtig und schließlich Schreibwut als eine „höchst gesteigerte begier zu schreiben oder zu schriftstellern“.24 Das 1870 in 6. Auflage verfasste Wörterbuch von Georges kennt die Schreiblust ( scribendi alacritas ) ebenso wie schreiblustig sein ( impigrum esse in scribendo ), fügt aber auch , ohne dass es dafür im Lateinischen Belege gibt , nicht schreiblustig sein ( cessare in scribendo ) hinzu. Außerdem bietet es Übersetzungen für schreibsüchtig und Schreibsucht , die mit schreibselig und Schreibseligkeit gleichgesetzt und mit cupidus scribendi bzw. cupiditas et studium scribendi übersetzt werden. Hier findet sich auch die Schreibwut ( furor scribendi ).25 Im Muret-Sanders werden scheibselig bzw. Schreibseligkeit mit der Schreiblust gleichgesetzt ( love for writing , fond of writing ) und von der Schreibsucht – passion ( or mania ) for writing deutlich abgehoben.26 In neueren Enzyklopädien finden sich häufig Einträge zu Schreibkrampf und zu Schreibstörung , aber nicht mehr zu Schreiblust und Schreibsucht. Es scheint , als sei die psychoanalytische Deutung von Schreibproblemen der Freude an der Tätigkeit des Schreibens gewichen. Zwar gibt es nach wie vor den abwertenden Begriff der Vielschreiberei , aber von der Lust zum Schreiben , wie sie bei Bräker erwähnt wird , ist kaum mehr die Rede. Die bei Bräker formulierten Vorstellungen vom Schreiben müssen zunächst von der Schreibsituation aus erschlossen werden. Dazu nur einige wenige Anmerkungen : In einem vermutlich nie abgeschickten Brief an Johann Caspar Lavater beschreibt Ulrich Bräker sich selbst als Autodidakt. Weil er „grosse lust dazu hatte“, hatte er „von selbst ein wenig schreiben“ gelernt.27 Seit 1768 schrieb er regelmäßig Tagebuch , wobei er sich anfangs an pietistischen Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern orientierte ,28 1776 verfasste er eine Preisschrift für die Toggenburger moralische Gesellschaft , deren Mitglied er wurde. Seine Lebensgeschichte entstand ab 1781. Sie erschien zunächst 1788 und 1789 in Fortsetzungen im Schweitzerischen Museum und 1789 als Buchausgabe. Herausgegeben wurde sie von Johann Heinrich Füßli , einem Züricher Verleger , der zu einem Kreis literarisch gebildeter , politisch und sozialkritisch aktiver
23 F. C. Schlosser’s Weltgeschichte für das deutsche Volk , Bd. 16 , Frankfurt / M. 1854 , S. 266. 24 Jacob und Wilhelm Grimm , Deutsches Wörterbuch , bearb. v. Moritz Heyne , Bd. 15 , München 1984 ( Nachdr. der Ausgabe von 1899 ), Sp. 1706 f. 25 KArl Ernst Georges : Ausführliches Deutsch-Lateinisches Handwörterbuch aus den Quellen zusammengetragen , 26. Aufl. Leipzig 1870 , Bd. 1 , Sp. 925. 26 Eduard Muret-Sanders : Enzyklopädisches englisch-deutsches Wörterbuch , Teil II : Deutsch-Englisch , 18. Aufl., Berlin 1910 , S. 861. 27 Messerli : Schreibprogramme ( s. Anm. 16 ), S. 41. Der Brief in Bräker : Schriften ( s. in Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 504 , ist auf 1777 datiert. 28 Messerli : Schreibprogramme ( s. Anm. 16 ), S. 46.
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Züricher Familien gehörte.29 Füßli hatte durch seinen Freund , Martin Imhof , Pfarrer zu Wattwil , von Ulrich Bräkers schriftstellerischen Fähigkeiten erfahren. Imhofs Empfehlungsschreiben zitierte er in seiner Vorrede wörtlich : „In einem der abgesöndertsten Winkeln des so wenig bekannten und oft verkannten Tockenburgs wohnt ein braver Sohn der Natur ; der , wiewohl von allen Mitteln der Aufklärung abgeschnitten , sich einzig durch sich selbst zu einem ziemlichen Grade derselben hinaufgearbeitet hat.“30
Füßlis Interessen richteten sich auf den „Sohn der Natur“ und wir können davon ausgehen , dass er den Text entsprechend überarbeitete. Er druckte ihn in einer von Ulrich Bräker autorisierten Version ab , die „für ein aufgeklärtes , patriotisches , physiokratisch interessiertes Lesepublikum in der Schweiz und im weiteren deutschen Sprachgebiet“ bestimmt war.31 Ulrich Bräker inszenierte sich denn auch vor allem in seiner Lebensbeschreibung so , wie es den Vorstellungen seiner gebildeten LeserInnen entsprach : Als Naturkind und gelehrter Bauer. Seine Äußerungen zum Schreiben müssen im Zusammenhang mit diesem Selbstentwurf gelesen werden. Dabei ist nicht auszuschließen , dass die ein oder andere Aussage zu Bräkers Schreiblust und -sucht aus der gelehrten Feder des Herausgebers stammte. Ohnehin sind die Passagen , in denen Bräker sich selbst der Schreibsucht bezichtigt , spärlich. Schreiben ist für Bräker zu aller erst eine Lust , „es befriedigt etwas in mir allzu sehr , und dieses etwas ist die tribfeder“ vermerkt er im Vorbericht zu seinem Tagebuch für das Jahr 1779 und schreibt getreu dem Motto „lust u. lieb zu einem ding macht alle müh und arbeit ring :“32 Wird Lust nicht mit böser , sündhafter oder übermäßiger Begierde assoziiert , so kann man darunter „ein Verlangen“ verstehen , „welches durch seelische und verstandskräfte bestimmt wird , hinneigung zu einem thun oder einem zustande.“33 In diesem Sinne findet sich das Begriffspaar etwa in den Instruktionen des Augsburger Waisenhauses aus dem 18. Jahrhundert. Die Waisen sollten ein Handwerk lernen , für das sie „Lust und Liebe“ haben und tauglich sind. Waisenvater und Waisenmutter gaben sich , wie Thomas M. Safley gezeigt hat , große Mühe , herauszufinden , welche Arbeit ein Waise bevorzugte. Ihre Aufgabe war es , die Waisen so zu erziehen , dass sich Lust und Liebe am gemeinen Nutzen orientierten. Auf diese Weise sollten die Waisenkinder in die Lage versetzt werden , selbständig und ehrenhaft ihre
29 Karl Pestalozzi : Stationen der Bräker-Edition , in : Schreibsucht , hg. von Messerli / Muschg ( s. Anm. 10 ), S. 12–25 , hier S. 12. 30 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 357. 31 Pestalozzi : Stationen ( s. Anm. 29 ), S. 14. 32 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 4. 33 Grimm : Wörterbuch ( s. Anm. 24 ), Bd. 12 , S. 1316.
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Nahrung zu erwerben.34 Auch der Elsässer Kannengiesser Augustin Güntzer , der in der Mitte des 17. Jahrhunderts seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben hat , erwähnt , dass er , nachdem er das Zuckerbäckerhandwerk erlernt hatte , „Lust undt Liebe zu gemelter Kunst bekomen“ habe.35 Bei Gelehrten ist ohnehin davon auszugehen , dass sie Lust und Liebe für ihre Tätigkeit verspürten. Abraham Scultetus beschreibt wortreich seine Lust ( voluptas ) zum lernen oder berühmten Lehrern zuzuhören und bringt sein Verlangen nach den Historien zum Ausdruck.36 Thomas Platter erwähnt „eine bsundre liebin zu den biechern“ und „einen besundren lust zu der medicin“.37 Bei den genannten Beispielen bezog sich Lust und Liebe auf die Nahrung bzw. den ausgeübten Beruf. Ulrich Bräker dagegen hatte sich zu rechtfertigen , dass seine Neigung weniger seinem Geschäft als dem nicht geschäftsbezogenen Lesen und Schreiben galt. Lesen und Schreiben dienten nicht nur der Selbstvergewisserung und Innensicht , vielmehr werden durch diese Praktiken Beziehungsnetze bzw. Gruppenkulturen konstruiert.38 Auch Bräkers Text lässt sich so lesen. Schreiben gab ihm , dem ungelehrten Laien , der mit seinem Hang zum Lesen und Schreiben in seiner Umgebung weder Verständnis noch Anerkennung fand , eine Möglichkeit , mit Gott und der Welt in Beziehung zu treten. Den Unterschied zwischen Laien und Gelehrten möchte er gerade in Bezug auf die Lust zu schreiben nicht anerkennen. So notiert er im Vorbericht zu seinem Tagebuch auf das Jahr 1779 :
34 Thomas M. Safley : Children of the Laboring Poor. Expectation and Experience among the Orphans of Early Modern Augsburg , Leiden u. a. 2005 , S. 314–322. 35 Augustin Güntzer : Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 8 ), hg. von Fabian Brändle / Dominik Sieber , Köln / Weimar / Wien 2002 , S. 292 f. 36 Abraham Scultetus : De curriculo vitae imprimis vero de actionibus Pragensibus Abrah. Sculteti , Professor nuper Theologi in florentissima tunc Academia Heidelbergensi , Narratio apologetica ( qua decus famae et doctrinae ipsius a virulentis nominis eius Mastigibus modeste vindicatur. Accesserunt Orationes nonnullae quarum in hac narratione mentio ), Emdae 1625 , z. B. S. 24 f., 66 , 73 ; dt. Übers. von Andreas Kregel 1628 ( ed. Benrath ): Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus ( 1566–1624 ) ( Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden 24 ), neu hg. und erl. von Gustav Adolf Benrath , Karlsruhe 1966 , S. 7–104 , hier S. 30 , S. 66 , S. 74 f. Für diesen Hinweis danke ich Gabriele Jancke. 37 Das Beispiel erwähnt Helmut Puff : Leselust. Darstellung und Praxis des Lesens bei Thomas Platter ( 1499–1582 ), in : Archiv für Kulturgeschichte ( 2002 ), S. 133–156 , hier S. 146 , Anm. 53. 38 Gabriele Jancke : Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400–1620 , in : Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 2 ), hg. v. Winfried Schulze , Berlin 1996 , S. 73–106 ; Gabriele Jancke : Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 10 ), Köln / Weimar / Wien 2002 ; Puff : Leselust ( s. Anm. 37 ), S. 153 f.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) „jch dachte offt , es müse jrgend ein schreibsüchtiger planet in diesem jahrhundert seine einflüße herab dunsten , dann unsere erdkugel wimelt von schreibern , von allerley arten – da führt mann allerhand gründe an ; bej einigen sei es ehr , bey andern bekehr und lehrsucht : bej vielen brodtsucht. rc. jch finde deren keine bey mir : glaube auch es geschehe vielen unrecht ; es muß irgend ein geist sein , der nicht nur gelehrte , sondern auch laïen begeistert ; genug ich habe lust zum schreiben ; möchte mich aber gern vor straffbarem schreiben hüetten.“39
Es ist schon erstaunlich , mit welcher Differenziertheit Bräker hier über Schreibmotivationen nachdenkt und dabei immer wieder die Grenze zwischen Gelehrten und Laien zur Sprache bringt : Wir lernen die Bekehrsucht oder die Sprache der Überredung , die Lehrsucht oder die Sprache der Überzeugung , die Ehrsucht oder den Wunsch nach Anerkennung und schließlich die Brotsucht oder den Wunsch , sich von der Schriftstellerei zu ernähren , kennen und erfahren , dass Schreiben die Menschen ohne Rücksicht auf ihre Standeszugehörigkeit begeistert. Wichtiger als der Unterschied zwischen Gelehrten und Laien scheint der zwischen erlaubtem und strafbarem Schreiben zu sein. Bräker schreibt nicht einfach naiv , er reflektiert den Schreibprozess permanent. Dabei verweist er häufig auf den engen Zusammenhang zwischen Schreiben und körperlichen Reaktionen : Er spricht über seine zitternde oder ruhige Hand , erwähnt Herzklopfen und Schlaflosigkeit , er spricht aber auch von seinen Wünschen , Träumen und Leidenschaften , die im Schreiben und durch das Schreiben zum Ausdruck kommen.40 Für sich selbst postuliert er das Lustprinzip , das er in Hinblick auf das Schreiben in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gebot sieht : „sol ich nicht schreiben – schöpfer – nein , du kennst die lust deines geschöpfs – hast mir diese ia nicht verboten –“ heißt es am 16. Februar 1779 , bevor er in einer beachtenswerten Wendung zum ersten mal die Schreibsucht auf sich selbst bezieht : „was schaads , wenn die nachwelt innewerden sollte , das einst ein armer schreibsüchtiger weltbürger gelebt hat“.41 In der Regel beschreibt Bräker sein Schreiben nicht als Sucht , sondern als Wonne und Wohltat , die Erleichterung verschafft. Schreiben ist auch für Nichtgelehrte eine Möglichkeit , das zum Ausdruck zu bringen , was man nicht sagen darf : „sagen dörfft ich’s nicht , aber schreiben darff ich’s.“ Am 2. Juli 1780 hat Ulrich Bräker einen schlechten Tag. Er ist zerknirscht , wirft sich seine Eigenliebe vor und klagt vor allem , „ich habe schon allzu viel papeir besudlet 39 Bräker : Schriften ( s. Anm. 3 ), Bd. 2 , S. 4. 40 Die enge Verbindung zwischen Körper und Schreiben lässt sich auch in viel früheren literarischen Texten nachweisen , z. B. bei Georg Wickram. Vgl. dazu Martin Baisch : Jörg Wickram begegnet sich selbst. Autorschaft , Wissen und Wiederholung im Irr reitenden Pilger , in : Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung , hg. v. Michael Mecklenburg / Maria E. Müller , Bern u. a. 2007 , S. 247–260. 41 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 40.
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mit grillen , phantaseyen und flüchtigen kopfgedanken , [ … ] weil doch die schreibsucht mich beherrscht.“42 In dieser Situation der Niedergeschlagenheit verliert das Schreiben seinen eigentlichen Sinn , wird aus der Lust die Sucht. Das passiert ihm aber höchst selten. Am 29. Januar 1788 berichtet er über seine Zugehörigkeit zur moralischen Gesellschaft , über die Preisschriften und beschließt sich trotz seiner Schreibsucht nicht daran zu beteiligen.43 Auch in dieser Phase seines Lebens stehen Aussagen über seinen unwiderstehlichen Hang zum Schreiben im Zentrum. „Das schreiben“, so heißt es im März 1789 , „ist nun einmahl meine leidenschafft – mir vast zum bedürfnuß worden.“44 Es verschafft ihm vergnügte Stunden , Erleichterung , Wollust. Ganz anders klingt der Beginn der Lebensgeschichte , in der er sein Vorhaben rechtfertigt : „Obschon ich die Vorreden sonst hasse , muß ich doch ein Wörtchen zum voraus sagen , ehe ich diese Blätter , weiß noch selbst nicht mit was vor Zeug überschmiere. Was mich dazu bewogen ? Eitelkeit ? – Freylich ! – Einmal ist die Schreibsucht da. Ich möchte aus meinen Papieren , von denen ich viele mit Eckel ansehe , einen Auszug machen. Ich möchte meine Lebenstage durchwandern , und das Merkwürdigste dieser Erzählung aufbehalten. Ist’s Hochmuth , Eigenliebe ? Freilich ! Und doch müsst ich mich sehr mißkennen , wenn ich nicht auch andere Gründe hätte“.45
Die Vorwürfe , die er sich macht , ähneln denen , die im Zedler als Fehler der schreibsüchtigen Gelehrten diagnostiziert werden : „Bei beiden Arten der Leute ist die übermäßige Begierde , sich bey der gelehrten Welt hervorzuthun , Ehre zu erjagen und ihren Namen offt unter der Presse zu sehen , die Quelle dieses Fehlers“ hieß es dort. In seinen Schriften setzt Bräker sich immer wieder in Beziehung zu Gelehrten , um sich einerseits als gelehrter Bauer zu inszenieren , sich andererseits aber als Naturtalent von den Gelehrten zu distanzieren. Auch in Bezug auf sein Schreiben ist das so. Er ist nur ein ungelehrter armer Laie , aber die Welt der Gelehrten ist für ihn gerade in seinem Schreiben ein Bezugspunkt. Mit der Figur des armen ungelehrten Weltbürgers , mit seiner Schreibsucht und Schreiblust schaffte er Grenzen zwischen sich und den Gelehrten und lässt sie zugleich verschwimmen. Im weiteren Verlauf der Lebensgeschichte konzediert Bräker zwar , dass er „unvernünftig viel Zeit mit Lesen , Schreiben , u.d. gl. zugebracht“ habe ,46 aber er gesteht
42 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 185. 43 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 2 , S. 645. 44 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 3 , S. 80. 45 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 363. 46 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 487.
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gleichzeitig , wie oft er „Zuflucht zum Lesen und Schreiben“ suchte und wie viel Erleichterung es ihm verschaffte , zu schreiben : „Und da ich mich , wie schon oft gesagt , keiner Seele glaubte entdecken zu dürfen , nahm ich in diesen muthlosen Stunden meine Zuflucht zum Lesen und Schreiben ; lehnte und durchstänkerte jedes Buch das ich kriegen konnte , in der Hoffnung etwas zu finden , das auf meinen Zustand passte ; fieng halbe Nächte durch weisse und schwarze Grillen , und fand allemal Erleichterung , wenn ich meine gedrängte Brust aufs Papier ausschütten konnte ; klagte da meine Lage schriftlich meinem Vater im Himmel , befahl ihm alle meine Sachen , fest überzeugt , Er meine es doch am beßten mit mir ; Er kenne am genauesten meine ganze Lage , und werde doch alles zum Guten lenken.“47
Wenn Bräker seine „gedrängte Brust aufs Papier ausschütten konnte“, konnte er anschließend „zufrieden zu Bette gehen und schlief wie ein König“.48 Und dennoch plagte ihn im Rückblick auf sein Leben immer wieder die Frage , ob seine Unbesonnenheit , sein Leichtsinn und sein „unwiderstehlicher Hang zum Lesen und Schreiben“ nicht zu seinem Unglück beigetragen hätten.49 In solchen Situationen macht er sich nicht nur Vorwürfe , er wälzt sich die halbe Nacht im Bett herum und ruft den Tod herbei. Zwar gesteht er im Anhang zu seiner Lebensgeschichte 1788 ein , dass Lesen und S chreiben ihm wieder mehr als jemals „zum unentbehrlichen Bedürfniß geworden“ seien , und dass der Drang seine Gedanken „auf ’s Papier zu werfen“ wiedergekommen sei ,50 doch ist in der Lebensgeschichte des armen Mann im Toggenburg viel weniger von der Lust des Schreibens als von der Sucht zu schreiben die Rede. Hier grenzt er sich nicht nur gegen die Gelehrten , sondern auch gegen sein eigenes Schreiben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ab. Schreibsucht und Schreiblust oder Schreibseligkeit bilden ein Spannungsfeld , in das Bräkers Schreiben eingebettet ist. Beide weisen über sich hinaus auf Beziehungskonzepte und auf das Personkonzept Bräkers , der sich , indem er die Lust und die Sucht zum Thema macht , in einen Gelehrtendiskurs einschreibt , ohne den Anspruch zu erheben , selbst als Gelehrter anerkannt zu werden. Er betont wiederholt , dass er kein
47 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 496 f. 48 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 497. 49 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 506. 50 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 546.
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Gelehrter ist ,51 doch seien ihm Lesen und Schreiben „zum unentbehrlichen Bedürfniß geworden.“52 Auch für Bräker ist die Schreibsucht sündhaft , hier unterscheidet er sich nicht von den Gelehrten. Aber er lässt keinen Zweifel daran , dass es ihm höchste Lust bereitet zu schreiben , dass man nicht wirklich gelehrt sein muss , um Zugang zu dieser wertvollen Ressource zu erhalten. Wie lassen sich diese Befunde interpretieren ? Ich habe dazu im Gegensatz zur Bräkerforschung mehr Fragen als Antworten. In den Forschungen zu Bräker begegnen immer wieder Arbeiten , in denen die Vorstellung von der Geburt des Individuums seit der Renaissance bzw. der Aufklärung den Rahmen für die Interpretation bilden.53 Dieses Narrativ vermittelt offensichtlich die Gewissheit , zu bestimmen , wo Bräker Bescheidenheitstopoi verwendet , wo er sich einer Maske bedient und wo das ‚wahre Ich’ spricht. So sieht etwa Klaus-Detlef Müller in der Versicherung Bräkers , dass er „nicht etwaß zum schein , oder aus hochmuht“ schreiben will , „eine lebensweltliche Verifikation des Bescheidenheitstopos , die zugleich auf eine vorgängige Kritik der Schreibmotivation reagiert.“54 Sie steht , so argumentiert Müller weiter , „in Verbindung damit , dass der eigentliche Gegenstand des Schreibens das eigene Ich und die Lebensgeschichte ist , die durch die überwuchernden religiösen Passagen maskiert wird. Diese Mas51 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 1 , S. 121 : „es sind ville grose männer von alters=her gewesen , und sind noch jetz ; die grose reisen gemacht haben …. diese haben alles genau aufgeschrieben , was ihnen begegnet , …. nun sind wir in dieser welt ja alle pilger , und reisende nach dem ewigen vatterland. Warum solt mir dan nicht auch erlaubt sein eine reiß berschribung zumachen , nach dem ewigen vatterland für mich und meine kinder.“; ebda , Bd. 2 , S. 4 : „es muß irgend ein geist sein , der nicht nur gelehrte , sondern auch läien begeistert“; ebda., Bd. 3 , S. 267 : „doch ich schreibe keine weltgeschichte – diß ist vor gelehrte – die mehrere und bessere nachrichten haben als ich“. 52 Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. 4 , S. 546. Ein an Bedürfnissen orientiertes Denken gab es , wie Winfried Schulze gezeigt hat , bereits seit dem 16. Jahrhundert. Schulze betont , dass diesem Denken mit dem Prinzip der „auskömmlichen Nahrung“ solange gegengesteuert werden musste , wie die ökonomischen Grundlagen nur einen engen Spielraum für Veränderungen boten : Winfried Schulze : Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit ( Schriften des Historischen Kollegs , Vorträge 13 ), München 1987 , S. 29. Zur Bedeutung des Bedürfnisbegriffs in der Frühen Neuzeit vgl. auch Renate Blickle : Nahrung und Eigentum als Kategorien in der ständischen Gesellschaft , in : Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität ( Schriften des Historischen Kolleges , Kolloquien 12 ), hg. von Winfried Schulze / Helmut Gabel , München 1988 , S. 73–93 ; sowie Safley : Children ( s. Anm. 34 ). 53 So betont etwa Karl Pestalozzi : Stationen ( s. Anm. 29 ), S. 23 : „Schließlich kann man an Bräker wie an kaum einem anderen Autor seiner Zeit studieren , wie reflektiertes Lesen und Schreiben zur Herausbildung und Stabilisierung einer individuellen Ich-Identität beitragen können , wo das traditionelle Rollenverständnis verlassen wird.“ 54 Klaus-Detlef Müller : Leben.Schreiben , in : Schreibsucht , hg. von Messerli / Muschg ( s. Anm. 10 ), S. 26–37 , hier S. 29 unter Verweis auf Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd.1 , S. 5.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) ke nimmt ihr das Anstößige einer Selbsterhöhung durch die Schrift , wobei zugleich der Gestus einer affirmierten gesellschaftlich akzeptierten Norm lustvoll , weil zur Artikulation herausfordernd , überboten wird“.55
Klaus-Detlef Müller interpretiert Bräkers Lebensbericht im Rahmen eines zeitspezifischen Musters der Identitätsbildung : „Das Individuum“, so schreibt er , „erfährt sich selbst , indem es sich über seine Sündhaftigkeit Rechenschaft ablegt , sich das eigene Leben in Gestalt einer Beichte bewusst macht und nach vorgegebenen Normen kritisch verurteilt.“56 In dieser Lesart von Bräkers Text , die sich an den Thesen der klassischen Autobiographietheorie orientiert ,57 verschwinden die Leidenschaften des gelehrten Bauern , die mir jedenfalls ein großes Lesevergnügen bereitet haben. Statt Bräker im Spannungsfeld von Sucht und Lust zu verorten , ihn als Grenzgänger ernst zu nehmen , wird er zu einem Exempel einer „sich immer stärker säkularisierenden Praxis der Selbsterforschung“ die zur Entstehung des Individualitätsbewusstseins führt.58 Man kann Bräker auch anders lesen. Man kann ihm auch zugestehen , dass er an Gott glaubt und dass die religiösen Passagen keine Maske sind. Man muss den „armen ungelehrten Weltbürger“ nicht als Bescheidenheitstopos sehen , sondern kann diese Passagen auch lesen als den Anspruch eines Laien , schreiben zu dürfen und Lust daran zu finden. Aus einer solchen Beobachtung ergeben sich andere und neue Fragen , insbesondere zum Lesen und Schreiben als einer Praxis , die ein Verhältnis zwischen Körper , Seele und Geist sichtbar werden lässt.59
55 Müller : Leben.Schreiben ( s. Anm. 54 ), S. 26–37 , hier S. 29 unter Verweis auf Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. I , S. 5. 56 Müller : Leben.Schreiben ( s. Anm. 54 ), S. 26–37 , hier S. 29 unter Verweis auf Bräker : Schriften ( s. Anm. 2 ), Bd. I , S. 5. 57 Zum aktuellen Stand der Diskussion : Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich : Einleitung , in : Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung , hg. von Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich , Göttingen 2005 , S. 1–27. 58 Müller : Leben.Schreiben ( s. Anm. 54 ), S. 29. 59 Der Aufsatz ist entstanden im Kontext der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“. Mein Dank gilt Karin Schweißgut , die bei der Texterschließung wertvolle Hilfe geleistet hat.
Familien- und Hausbücher im deutschsprachigen Raum. Ein Forschungsüberblick1 „In nomine domini amen. Anno domini 1360 do hub ich an zu disem puchel zu schreiben von mein geslecht , alz ich es gehort und ervaren hab.“2 Mit diesem Satz beginnt der Nürnberger Kaufmann und spätere Bürgermeister Ulman Stromer sein „Püchel von meim geslechet und von abentewr“, das sich auf die Zeit von 1349 bis 1407 bezieht3. Der aus einer Patrizierfamilie stammende Ulman Stromer gilt als der erste Nürnberger Chronist und zugleich als der erste bürgerliche Verfasser einer Aufzeichnung mit autobiographischen Zügen.4 Seine Schrift , die Handelsbuch , Familienbuch und Geschichtsbuch zugleich war5 , wird gleichzeitig als das früheste Zeugnis eines Familienbuches angesehen , das als geschlossener Codex im deutschen Sprachraum überliefert ist6. 1 Die Arbeit entstand im Kontext der DFG-Forschergruppe : „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“, die seit 2003 an der FU Berlin eingerichtet ist ( http://www.fu-berlin.de/dfg-fg/fg530/ ). Der Ansatz der Forschergruppe ist ausführlich dargestellt in : Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich : Vom Individuum zur Person. Neue Forschungskonzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung , in : Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung , hg. von Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich ( Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung , 10 ), Göttingen 2005 , S. 7–27. Eine spanische Kurzfassung dieses Textes ist erschienen unter dem Titel : De individo a persona. Nuevos conceptos analíticos entre la teoría autobiográfica y la investigación de escrituras de vida , in : Cultura escrita y Sociedad 1,1 ( 2005 ) hg. von James Amelang , S. 84–91. Siehe auch : Claudia Ulbrich : L’usage historiographique de l’autobiographie , in : Vies en récit. Formes littéraires et médiatiques de la biographie et de l’autobiographie , hg. von Robert Dion / Hans-Jürgen Lüsebrink u. a., Québec 2007 , S. 139–156. 2 Gabriele Jancke danke ich für die Diskussion und kritische Lektüre des Textes. Ulman Stromer : „Püchel von meim geslechet und von abentewr“ 1349 bis 1407 , in : Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg ( Die Chroniken der deutschen Städte vom 14.–16. Jahrhundert , Bd. 1 ), Göttingen 21961 , S. 3–312. Eine kritische Ausgabe dieses Textes gibt es nicht. Einige Ausschnitte wurden als Faksimile herausgegeben : Ulman Stromer : Püchel von mein geslecht und von abentewr. Teilfaksimile der Handschrift Hs. 6146 des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg , Kommentar von Lotte Kurras , 2 Bde., Nürnberg 1990. 3 Zu Ulman Stromer s. den Eintrag bei Gabriele Jancke : Selbstzeugnisse im deutschsprachigen Raum. Autobiographien , Tagebücher und andere autobiographische Schriften. 1400–1620. Eine Quellenkunde ( http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/quellenkunde/ ). 4 Lotte Kurras : Ulman Stromer , in : Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon , Berlin , 2. Auflage , Bd. 9 ( 1995 ), S. 457–460. 5 Joachim Schneider : Typologie der Nürnberger Stadtchronik um 1500. Gegenwart und Geschichte in einer spätmittelalterlichen Stadt , in : Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit , hg. von Peter Johanek , Köln / Weimar / Wien 2000 , S. 181–204 , hier S. 183. 6 Birgit Studt : Haus- und Familienbücher , in : Quellenkunde der Habsburgermonarchie ( 16.–18. Jahrhundert ). Ein exemplarisches Handbuch , hg. von Josef Pauser / Martin Scheutz / Thomas Winkelbauer , München / Wien 2004 , S. 753–766 , hier S. 755.
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Für solche Schriften , die im deutschsprachigen Raum seit dem Spätmittelalter in großer Zahl entstanden und überliefert sind , gab es im Gegensatz zum italienischen „libro di ricordanze“ oder „libro di famiglia“ in der deutschen Sprache nie einen einheitlichen Begriff.7 Deswegen tut sich die Forschung mit den Haus- und Familienbüchern auch schwer. Sie sind Gegenstand der Geschichts- und der Literaturwissenschaft , der Mittelalter- und der Frühneuzeitforschung und werden als Quellen für sozialgeschichtliche und historisch-anthropologische Fragestellungen herangezogen.8 Ein auffälliges Merkmal der Familien- und Hausbuchforschung im deutschsprachigen Raum ist , dass sich die Forschungen zwar alle in irgendeiner Weise auf eine ältere , stark geistesgeschichtliche geprägte Forschungstradition zum Selbst und zum Individuum beziehen , sich aber im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in unterschiedliche Forschungsfelder ausdifferenziert haben , die weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Haus- und Familienbücher finden nun in Forschungen zur städtischen und dynastischen Geschichtsschreibung Beachtung , werden im Kontext der Selbstzeugnisforschung untersucht oder dienen als Quellen für das Alltags- und Familienleben , für eine Geschichte der Emotionen , der Sexualität oder der Geschlechterverhältnisse9. Je nach Erkenntnisinteresse werden völlig verschiedene Textgruppen zu einem Korpus zusammengefasst und unterschiedliche Aussagen über den gesellschaftlichen Ort , die Verbreitung und die Funktion der Familienbücher gemacht. Ein Forschungsbericht über Haus- und Familienbücher muss daher sowohl die Autobiographieforschung als auch die Forschungen zur städtischen und dynastischen Geschichtsschreibung berücksichtigen und die gemeinsamen Wurzeln der älteren Forschungen zur Individualität herausarbeiten , die gelegentlich explizit thematisiert werden , oft aber implizit die Deutung der Quellen beeinflussen. Ich möchte zunächst diese ältere geistesgeschichtliche Tradition skizzieren und anschließend die wichtigsten Forschungsfelder vorstellen , in denen Haus- und Familienbücher als Quellen be7 Studt : Haus- und Familienbücher ( s. Anm. 6 ), S. 753. 8 Birgit Studt : Einführung , in : Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit , hg. von Birgit Studt , Köln / Weimar / Wien 2007 , S. IX–XX , hier S.X. 9 Zur Einführung : Fabian Brändle / Kaspar von Greyerz / Lorenz Heiligensetzer / Sebastian Leutert / Gudrun Piller : Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung , in : Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen ( 1500–1850 ) ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 9 ), hg. von Kaspar von Greyerz / Hans Medick / Patrice Veit , Köln , Weimar , Wien 2001 , S. 3–31 ; als Beispiel : Sünje Prühlen : „alse sunst hir gebruchlich is“. Eine Annäherung an das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Alltags- und Familienleben anhand der Selbstzeugnisse der Familien Brandis in Hildesheim und Moller in Hamburg ( Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit , Bd. 3 ), Bochum 2005. Sabine Schmolinsky : Einleitung , in : Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit ( Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit , Bd. 1 ), hg. von Klaus Arnold / Sabine Schmolinsky / Urs Martin Zahnd , Bochum 1999 , S. 13–17.
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nutzt und beschrieben werden. In einem abschließenden Kapitel soll die Haus- und Familienbuchforschung im engeren Sinn den Ausgangspunkt bilden , um die Ergebnisse zusammenzufassen und Perspektiven für die weitere Arbeit aufzuzeigen. I. Die geistesgeschichtliche Forschungstradition
Autobiographische Schriften des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit haben in der deutschsprachigen Forschung seit den Forschungen von Jacob Burckhardt und Georg Misch einen hohen Stellenwert erhalten10. Bei beiden Autoren wurden sie eng mit Fragen nach der Individualität des Menschen verbunden. Hatte schon Jacob Burckhardt mit Blick auf Italien auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung eines gesteigerten Persönlichkeitsbewusstseins und der Ausbildung der Autobiographie hingewiesen , so knüpfte der Diltheyschüler Georg Misch in seiner 1904 fertiggestellten Geschichte der Autobiographie unmittelbar an diese Überlegungen an und formulierte die seitdem wiederholt in der Forschung aufgegriffene These , dass die Autobiographie als „Ausdrucksmittel für die freie Selbständigkeit des Menschen“ in der Renaissance ihre „eigentliche Grundlegung“ erfuhr11. Nach Mischs Auffassung waren es die Bürger der freien Städte , die als erste „Familiengeschichten von mehr oder minder ausgeprägtem autobiographischem Charakter“ verfassten12. Obwohl Mischs Interesse auf die „Entwicklung des Persönlichkeitsbewusstseins der abendländischen Menschheit“ gerichtet war13 , widmete er all jenen Kulturen , die von der antiken Bildungstradition beeinflusst waren , besondere Aufmerksamkeit. Der Vergleich mit der byzantinischen und der arabischen Tradition ermöglichte ihm , die Besonderheiten der christlich-abendländischen Kultur herauszuarbeiten. Nur hier sah er eine „zukunftsvolle Entwicklung“14. Ging es Misch dar10 Jacob Burckhardt : Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch , hg. v. Konrad Hoffmann , Stuttgart 111988 ( 11860 , vom Autor ergänzt 21869 ), IV. Abschnitt , Kap. 5. Georg Misch : Geschichte der Autobiographie , 4 Bde., Bern 1949 , Frankfurt / M. 1950–1969. 11 Misch : Geschichte der Autobiographie ( s. Anm. 10 ), Bd. IV , 2 : Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts , Frankfurt / M. 1969 , S. 573. Es handelt sich bei diesem Band um den Abdruck der 1904 von Misch erstellten Fassung. 12 Misch : Geschichte der Autobiographie IV , 2 ( s. Anm. 11 ), S. 585. 13 Georg Misch : Begriff und Ursprung der Autobiographie , in : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung ( Wege der Forschung , Bd. 565 ), hg. von Günter Niggl , Darmstadt 1989 , S. 33–54 , hier S. 36. Es handelt sich um einen Wiederabdruck des ersten Teiles der Einleitung zur Geschichte der Autobiographie , Bd. I , Das Altertum , Frankfurt 1949. Die Einleitung war 1907 verfasst und 1949 erweitert worden. Das Zitat stammt aus einem Zusatz aus dem Jahr 1949. 14 Misch : Geschichte der Autobiographie ( s. Anm.10 ), Bd. III , 2 : Das Mittelalter. Das Hochmittelalter im Anfang , Frankfurt / M. 1962 , S. 747. Seine intensive Beschäftigung mit Texten aus nicht europäischen Kulturkreisen wie dem Babur-Name führte immerhin dazu , dass er die „ Entstehung der sich ihrer selbst bewussten Persönlichkeit“ für eine „gesamtmenschliche“ Möglichkeit hielt ( ebenda , S. 961 ).
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um , autobiographische Texte „in dem universalgeschichtlichen Zusammenhang der Entwicklung des menschlichen Geistes in der europäischen Kultur“ zu erfassen15 , so wollte Adolf Rein fünfzehn Jahre später die deutschen Wurzeln der Autobiographie herausarbeiten. In seinem 1919 zuerst erschienenen Aufsatz über Die Selbstbiographie im ausgehenden deutschen Mittelalter stellt er die These auf , dass die neuere Selbstbiographie sich aus den Haus- und Familienbüchern , die seit dem ausgehenden Mittelalter in Deutschland geführt wurden , entwickelt habe16. Ähnlich wie Misch und Burckhardt geht er davon aus , dass die Anfänge der neueren Selbstbiographie in der städtischen Kultur zu suchen seien. Der in den bürgerlichen Kreisen stark ausgeprägte Familiensinn habe ganz natürlich dazu geführt , dass die Kaufleute in ihren persönlichen Merkbüchern neben geschäftlichen auch viele familienbezogene Nachrichten notiert hatten. Es entstanden Familienchroniken , aus denen sich schließlich die Selbstbiographie entwickelte. Als wichtige Beispiele führt er die 1466 geschriebene Augsburger Chronik des Burkhard Zink17 und die 1488 begonnene Lebensgeschichte des Ludwig von Diesbach18 an. Ganz ähnlich betonte auch Werner Mahrholz , die Selbstbiographie spiegele „getreulich die Geschicke des deutschen Bürgertums als des eigentlich bildungstragenden Standes wider“, dessen Lebensauffassung durch ihren „individualistischen Zug“ geprägt sei19. Auch wenn an einzelnen Aspekten der Arbeiten von Burckhardt , Misch , Rein , Mahrholz und einiger weiterer älterer Autoren20 Kritik geübt wurde , so beeinflussen 15 Misch : Begriff und Ursprung ( s. Anm. 13 ), S. 36. 16 Adolf Rein : Über die Entwicklung der Selbstbiographie im ausgehenden deutschen Mittelalter ( 1919 ), in : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung ( Wege der Forschung , Bd. 565 ), hg. von Günter Niggl , Darmstadt 1989 , S. 321–342 , hier S. 341. Rein verweist auf Burkhardt und Misch , die für das Italien der Renaissance bzw. das alte Rom ähnliche Ursprünge gesehen haben , doch liegt dem nationalkonservativen Historiker daran , den nationalen Rahmen dieser Entwicklung herauszustellen ( ebenda , S. 341 , Anm. 47 ). 17 Chronik des Burkhard Zink. 1368–1468 , in : Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg Bd. 2 , hg. von F. Frensdorff ( Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert , Bd. 5 ). Leipzig 1866 ( ND Göttingen 1965 ), S. 122–143. Zu bio-bibliographischen Hinweisen s. Jancke : Selbstzeugnisse ( s. Anm. 3 ). 18 Urs Martin Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raume ( Schriften der Berner Burgerbibliothek ). Bern 1986 , S. 26–115. Zu bio-bibliographischen Hinweisen s. Jancke : Selbstzeugnisse ( s. Anm. 3 ). 19 Werner Mahrholz : Der Wert der Selbstbiographie als geschichtliche Quelle , in : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung ( Wege der Forschung , Bd. 565 ), hg. von Günter Niggl , Darmstadt 1989 , S. 72–74 (= Auszug aus der Einleitung von : Werner Mahrholz : Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus , Berlin 1919 ). 20 Zu erwähnen ist auch Marianne Beyer-Fröhlich : Die Entwicklung des deutschen Selbstzeugnisses , Darmstadt 1970 ( Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1930 ).
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sie doch nach wie vor die Konzepte , mit denen die jüngere Forschung sich den autobiographischen Texten nähert21. Individuum , Person oder Selbst werden häufig essentialistisch gedacht : Lediglich die Formen des Selbstbewusstseins unterliegen dieser Auffassung zu Folge einem Wandel. Selbstbewusstsein wird eng mit Individualität verknüpft , deren Geschichte als eine Geschichte der Entdeckung oder Entfaltung des Individuums beschrieben wird. In bestimmten historischen Situationen wagt das Selbst sich heraus , beansprucht es Geltung. Wie problematisch ein solch einseitiger Zugang zum Selbst ist , hat David Sabean in seinen Überlegungen zu Personkonzepten folgendermaßen zusammengefasst : “It fails to understand , that at any period there are alternative ways of being , practicing and perceiving the self. It accepts a view of the matter promulgated by pastors , priest s, therapists , petits fonc tionnaires , and professors. In most of these accounts the state is missing and power is left out of the equation”22.
Trotz aller Kritik an dem älteren geistesgeschichtlichen Konzept dominiert die Frage nach der Entwicklung von Individualität nach wie vor die Selbstzeugnisforschung , während andere Konzepte von Person unbeachtet bleiben. Dies gilt vor allem für die literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung , die die Autobiographie um 1800 zum Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung nimmt23. Häufig werden Texte auf die Frage hin gelesen , „ob ein bestimmter Stand des Bewusstseins oder der Persönlichkeit schon oder noch nicht erreicht sei , ob sich der jeweilige Autor von Traditionen sowie von religiösen und sozialen Bindungen unabhängig gemacht habe , welchen Stellenwert Themen eines ‚inneren Lebens‘ einnehmen , welches Maß an selbstreflektierter Intellektualisierung die Darstellung erkennen lasse“.24
21 Weitgehend unkritisch übernimmt etwa Michaela Holdenried : Autobiographie , Stuttgart 2000 , S. 94– 118 die Thesen Reins. Für eine Historisierung des Individualitätsbegriffs plädieren u. a. Stefan Pastenaci : Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur historischen Psychologie , Trier 1993. Hans-Rudolf Velten : Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert ( Frankfurter Beiträge zur Germanistik , Bd. 29 ), Heidelberg 1995. 22 Claudia Ulbrich / David Sabean : Personkonzepte in der Frühen Neuzeit , in : Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog , hg. von Claudia von Braunmühl , Berlin 2003 , S. 99– 112 , hier S. 101. 23 Dies gilt auch für Martina Wagner-Egelhaaf : Autobiographie ( Sammlung Metzler , Bd. 323 ), Stuttgart 22005. 24 Jancke / Ulbrich : Vom Individuum zur Person ( s. Anm. 1 ), S. 16. Eine ausführliche Kritik an der Orientierung der Selbstzeugnisforschung an den gängigen Individualitätskonzepten findet sich bei Gabriele Jancke : Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15.
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Dabei werden oft auch eurozentrische Konzepte von Nation und Familie unhinterfragt mit transportiert. Zugleich wird das Spektrum der Autoren auf die männlichen Eliten eingegrenzt. Dies ist nicht nur in der deutschen Forschung so. Auch für Georges Gusdorf25 und Roy Pascal26 stand außer Frage , dass die Autobiographie eine typisch europäische Form des Schreibens war. Hatte Georg Misch die Entstehung eines Persönlichkeitsbewusstseins noch für eine „gesamtmenschliche Möglichkeit“ gehalten27 , so beschränkt Georges Gusdorf in Anlehnung an in den 1950er Jahren verbreitete Kulturstufentheorien die Möglichkeit der Autobiographie eindeutig auf den abendländischen Menschen. Nur in den entwickelten Gesellschaften des Abendlandes habe der Mensch ein Bewusstsein seiner selbst entwickelt und zum Ausdruck gebracht28. Es scheint , als habe sich die für das moderne , westliche Individuum postulierte Selbstreferentialität auch auf den Gegenstand der Forschung übertragen. II. Neuansätze
Seit den 1980er Jahren haben Fragen nach ( Auto- )Biographie und Individualität eine neue Aktualität erhalten. Damit rückten auch die Haus- und Familienbücher erneut ins Blickfeld , Neue Impulse für die Erforschung der spätmittelalterlichen Haus- und Familienbücher gingen in der deutschsprachigen Forschung zunächst von Einzelstudien aus , die ihren Texten gerecht zu werden versuchten. So verweist Urs Martin Zahnd , der Herausgeber der Neu-Edition der autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs , auf die erstaunliche Vielschichtigkeit dieser Textsorte , die einerseits als Quelle für die Sozial- , Wirtschafts- und Rechtsgeschichte einzelner Familien genutzt werde , andererseits aber auch die Möglichkeit biete , die Anfänge der Selbstbiographie zu untersuchen.29 Am Beispiel von Nürnberg und Bern zeigt er , dass eine vergleichende Auswertung der Familienbücher differenzierte Einblicke in die städtischen Führungsschichten ermöglicht. Er kann viele der in der älteren Literatur transportierten Vorannahmen aufdecken und korrigieren. Familie versteht Zahnd nicht nur als und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 10 ) Köln / Weimar / Wien 2002 , S. 2 ff. 25 Georges Gusdorf : Conditions et limites de l’autobiographie , in : Formen der Selbstdarstellung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstportraits ( Festgabe für Fritz Neubert … anlässlich seines 70. Geburtstages ), hg. von Günter Reichenkron / Erich Haase , Berlin 1956 , S. 105–123. Der Aufsatz wurde in deutscher Übersetzung publiziert unter dem Titel : Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie , in : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung ( Wege der Forschung , Bd. 565 ), hg. von Günter Niggl , Darmstadt 1989 , S. 121–147. 26 Roy Pascal : Design and Truth in Autobiography , Cambridge , Mass. 1960. 27 Misch : Geschichte der Autobiographie , Bd. III , 2 ( s. Anm. 14 ), S. 961. 28 Gusdorf : Voraussetzungen ( s. Anm. 25 ), S. 122 f. 29 Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen ( s. Anm. 18 ), S. 279.
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biologische , wirtschaftliche oder soziale Einheit , sondern als Träger normativer Ordnungen und Sinngebungen30. Sie wird als Teil eines umfassenderen Gemeinwesens , etwa der Stadt , gedacht31. Der Einzelne stellt sich also gerade nicht als unabhängige , autonome Persönlichkeit dar , sondern eingebunden in Beziehungsnetze. Außerdem verweist Zahnd darauf , dass die Konzentration auf kaufmännische Notizen und Familienbücher zu kurz greift , da sie sich nicht deutlich von grundherrlichen Familienaufzeichnungen abgrenzen lassen. Er betont , dass die Familienbücher in einem weiteren literarischen Umfeld gesehen werden müssten. Obwohl die Familienbücher formale und inhaltliche Ähnlichkeiten zu den toskanischen Ricordanzen aufweisen , ist nicht sicher , inwieweit diese als Vorbild dienten. Zwar wurden die deutschen Kaufleute im 14. / 15. Jahrhundert häufig in Italien ausgebildet , aber die Zentren der Ausbildung lagen in Venedig , Mailand oder Genua , nicht aber in der Toscana32. Dies lässt sich gut an Ulman Stromer zeigen , dessen Büchlein in der Struktur an die toskanischen Ricordanzen erinnert , ohne dass biographische Bezüge zur Toskana nachweisbar sind. Viel wahrscheinlicher ist , dass Stromer die Autobiographie Karls IV. gekannt hat. Denn 1378 hatte der Nürnberger Rat , dem Ulman Stromer angehörte , beschlossen , dass dieser Text ins Deutsche übersetzt wird33. Dass Stromer dies nicht erwähnt , scheint nicht überraschend. Denn sein politisches Handeln ist kein Thema seines „Büchel“34. Im Zentrum seiner Selbstdarstellung steht nicht das autonome Individuum , sondern der gesellschaftliche Status , der sich aus der Herkunft der Familie herleitet und in ihrem Wappen abbildet35. Dass die frühe Autobiographik der gesellschaftlichen und politischen Selbstbehauptung galt , betont auch Barbara Schmid in ihrer 2006 erschienenen Dissertation. Ihre Untersuchung basiert jedoch auf einer viel breiteren Quellenbasis als die ältere Literatur. Schmidt hat auch die Überlieferung im Umkreis der Fürstenhöfe in ihre Untersuchung einbezogen und in einer 670 Titel umfassenden Datenbank erfasst36. In einer exemplarischen Analyse zeigt sie , dass die autobiographische Gattung auf zwei verschiedene Traditionen zurückzuführen sei : Neben die bürgerliche tritt die höfische Tradition. Beiden gemeinsam ist , dass die Autoren sich um gesellschaftliche An30 Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen ( s. Anm. 18 ), S. 263. 31 Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen ( s. Anm. 18 ), S. 310. 32 Urs Martin Zahnd : Einige Bemerkungen zu spätmittelalterlichen Familienbüchern aus Nürnberg und Bern , in : Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete ( Erlanger Forschungen , Reihe A , Geisteswissenschaften , Bd. 46 ), hg. von Rudolf Endres , Erlangen 1960 , S. 7–38. 33 Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen ( s. Anm. 18 ), S. 314. 34 Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen ( s. Anm. 18 ), S. 315. 35 Zahnd : Die autobiographischen Aufzeichnungen ( s. Anm. 18 ), S. 317. 36 Barbara Schmid : Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit , Zürich 2006. Schmid verweist lediglich auf diese Datenbank , legt aber keine datenbankgestützten quantitativen Auswertungen vor.
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erkennung bemühten : „Nicht das Ringen um Selbsterkenntnis , vielmehr die den Erfolg von Geschlecht und Dynastie garantierende Auseinandersetzung mit Status und Herrschaft standen im Mittelpunkt des Schreibens.“37 Auch Birgit Studt betont die repräsentative Funktion von Familienbüchern38. Sie knüpft in ihren Forschungen über die städtische Familienbuchschreibung an die jüngere Stadtgeschichtsschreibung an , die um das Thema der Memoria kreist.39 In diesen Forschungen wird das Selbstverständnis der spätmittelalterlichen Stadt nicht mehr nur aus dem Umstand hergeleitet , dass sie eine durch den Eid konstituierte Rechtsgemeinschaft ist. Als weiteres identitätsstiftendes Merkmal wird auf die Memoria verwiesen , die sich in zahlreichen Medien vollzog. Dazu zählen Bilder , Symbole , Denkmäler , Ritual und Zeremoniell , liturgische Memoria und theatralischer Gestus sowie die Geschichtsschreibung , die zu einer Angelegenheit der Bürger wurde40. Für die städtischen Eliten gehörten Lebensbeschreibung , Familientradition und Stadtgeschichtsschreibung zusammen41. Das Verfassen einer Stadtchronik stellte eine Möglichkeit dar , etwas über die eigene Herkunft und Familie zu schreiben. Umgekehrt bot die Notwendigkeit , für die Erben wichtige Details aus dem Geschäftsleben festzuhalten , Raum , auch einiges über die Stadt zu schreiben. Erst in der Moderne wurde die vermeintliche Hybridität des Familienbuchs zum Problem. Von diesen Überlegungen ausgehend deutet Studt städtische Familiengeschichtsschreibung als eine soziale Praxis , „mit der sich jene homogene , exklusive gesellschaftliche Gruppe von führenden Familien fassen lässt , die wir heute , von außen , als Patriziat oder Stadtadel bezeichnen“.42 Nicht die „freie Selbständigkeit des Menschen“, sondern die feste Bindung an die Stadt und das städtische Wertesystem führten demnach dazu , dass die städtischen Eliten anfingen , Aspekte ihres Lebens aufzuschreiben : „Im städtischen Ambiente … war die Pflege der Familientradition Bestandteil der eigenen Identität und der Repräsentation zugleich. Konkurrenzverhalten und Streben nach Distinktion führten hier 37 Schmid : Schreiben ( s. Anm. 36 ), S. 185. 38 Studt : Einführung ( s. Anm. 8 ), S. XII f. 39 Vgl. etwa die Beiträge in : Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit ( Städteforschungen , Reihe A : Darstellungen , Bd. 47 ), hg. von Peter Johanek , Köln / Weimar / Wien 2000. 40 Peter Johanek : Einleitung , in : Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit ( Städteforschungen , Reihe A : Darstellungen , Bd. 47 ), hg. von Peter Johanek , Köln / Weimar / Wien 2000 , S. VII–XIX , hier S. XVII. 41 Dies betont schon Heinrich Schmidt : Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstbewusstseins im Spätmittelalter , Göttingen 1958. 42 Birgit Studt : Erinnerung und Identität. Die Repräsentation städtischer Eliten in spätmittelalterlichen Haus- und Familienbüchern , in : Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit , hg. von Birgit Studt , Köln / Weimar / Wien 2007 , S. 1–31 , hier S. 30.
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zu einem großen Ausstoß von Schriftlichkeit , die sich aufgrund der tradierten und über lange Zeit erfolgreich verteidigten sozialen Rolle des Hausvaters als Repräsentant von Haus und Familie zu einer eigenen Gattung formiert hat.“43
Dass gerade aus der mittelalterlichen Stadtgeschichtsschreibung Impulse kamen , das Entstehen der Familienbücher durch den Bezug auf Gruppen zu definieren , hängt eng mit den Diskussionen zusammen , die in der Mittelalterforschung über Selbst und Individuum geführt wurden. Der Umstand , dass das Mittelalter als eine für Person und Selbst uninteressante Epoche eingeschätzt wurde , löste in der Mediävistik produktiven Widerspruch aus. So hält Otto Gerhard Oexle die Deutung , wonach Individualität dem Mittelalter fremd war , für ein Produkt der Moderne , die sich mit einem solchen Individualitätstheorem selbst deute. Für ihn ist die mittelalterliche Gesellschaft eine Gruppengesellschaft. In ihr sieht er „Menschen , die als Individuen in Konflikt und Konsens Gruppen bilden , und die sich dauerhaft in Gruppen binden , um ihre Wertvorstellungen und ihre Ziele zu verwirklichen.44 Diesen Gedanken greift auch Pierre Monnet auf , der unter Rückgriff auf Maurice Halbwachs der Bedeutung des Raumes für die autobiographische Erinnerung nachgeht45. Monnet zeigt , dass dem städtischen Raum in den Familienbüchern ganz unterschiedliche Funktionen zukamen. Lucas Rem ( 1481–1542 ) etwa verlieh seiner Chronik den Charakter einer Reise46. Nicht Augsburg steht im Mittelpunkt seiner Darstellung , sondern das Unterwegssein. Im Gegensatz dazu hat Burkhard Zink ( ca. 1396– 1474 / 75 ) seine persönlichen Aufzeichnungen in die Stadtchronik eingepasst47. Sein Bericht ist , so betont Monnet , ein Dokument des sozialen Aufstiegs und der Integration in eine ihm zunächst fremde städtische Gesellschaft. In seiner Chronik erscheint der städtische Raum einerseits als ein durch Privilegien klar abgegrenzter Bereich , 43 Studt : Erinnerung und Identität ( s. Anm. 42 ), S. 31. 44 Otto Gerhard Oexle : Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft : Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen , in : Die Repräsentation der Gruppen. Texte –Bilder – Objekte ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 141 ), hg. von Otto Gerhard Oexle / Andrea von Hülsen-Esch , Göttingen 1998 , S. 43 f. 45 Pierre Monnet : Das Selbst und die Stadt in Selbstzeugnissen aus den deutschen Städten des Spätmittelalters : Einige Überlegungen zum räumlichen Rahmen der Erinnerung , in : Kommunikation mit dem Ich. Signaturen der Selbstzeugnisforschung an europäischen Beispielen des 12. bis 16. Jahrhunderts ( Europa in der Geschichte , Bd. 7 ), hg. von Heinz-Dieter Heimann / Pierre Monnet , Bochum 2004 , S. 19– 37. 46 Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494–1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg , hg. v. B. Greiff , in : 26. Jahresbericht des Historischen Kreisvereins für Schwaben und Neuburg , Augsburg 1861 , S. 1–110. Für weitere biobibliographische Hinweise s. Jancke : Selbstzeugnisse ( s. Anm. 3 ). 47 Chronik des Burkhard Zink ( s. Anm. 17 ), S. 122–143. Für weitere biobibliographische Hinweise s. Jancke , Selbstzeugnisse ( s. Anm. 3 ).
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andererseits aber auch als „der soziale und konkrete Raum der Familie und der Berufstätigkeit , jener Ort der Wahrnehmung von Unterschiedlichkeiten und Zweckmäßigkeiten – kurzum ein räumlicher Lebens- und Denkrahmen zugleich.“48 Ulman Stromers „Büchel“ ziele dagegen darauf ab , die Macht der sozialen Gruppe zu legitimieren , der er angehörte. Die Stadt erscheint in Monnets Interpretation als ein zweiter Handlungsträger , wobei der Autor darüber entscheidet , welchen Anteil die eigene Person und das Geschlecht erhalten und wie viel Raum dem Gemeinwohl der Stadt eingeräumt wird49. Persönliche und offizielle Geschichte waren so eng miteinander verflochten , dass man von einem ständigen Changieren zwischen Öffentlichem und Privatem sprechen kann. Persönliche Erinnerung und die des sozialen Umfeldes ( „L’écriture de soi et du chez-soi“50 ) ergänzen einander. Von diesem Ansatz aus erscheinen die Gruppenbildungsprozesse in den spätmittelalterlichen Städten als das eigentlich Neue des Spätmittelalters51. Pierre Monnet geht bei seiner Interpretation von der Annahme aus , dass es – zumindest bei den städtischen Führungsschichten – ein städtisches Gemeinschaftsbewusstsein gegeben habe , das durch eine klare Grenze zwischen der Stadt und dem sie umgebenden Land gekennzeichnet war. Dies wird besonders deutlich in seiner Analyse der Chronistik und der Selbstzeugnisse des stadtadeligen Geschlechts der Rohrbach52. Aus dem Umstand , dass die Integration in den städtischen Adel nicht nur über Reichtum und Vermögen , sondern auch über die Heiratsverbindungen und das Alter des Geschlechtes erfolgt , erscheint es nur konsequent , dass sich in den städtischen Führungseliten die Praxis des Familienbuchschreibens etabliert hat. Das Familienbuch erscheint als einer der Orte , an denen die Adligen ihr „Geschlecht“ ( genealogia , genus , stirps ) konstituieren können. Nicht der „natürliche“ Familiensinn , sondern eine Mischung aus realen , imaginären oder als real gedachten Momenten fügt sich mit Hilfe der Erinnerung zu einem Bild zusammen , das über die ständische Qualität der Adelsgruppe entscheidet53. Ob dies beim Stadtadel immer in klarer Abgrenzung zum Landadel erfolgt , die Stadt also in jedem Fall ein klar abgegrenzter , identitätsstiftender Raum ist , bedürfte angesichts jener Arbeiten , die die Gemengelage zwischen Stadt und Land und zwischen Adel und
48 Monnet : Das Selbst und die Stadt ( s. Anm. 45 ), S. 26. 49 Monnet : Das Selbst und die Stadt ( s. Anm. 45 ), S. 27. Dass das Konzept des Raumes sich zu einer vielschichtigen Analyse von Selbstzeugnissen eignet , zeigt der Band Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 19 ), hg. von Andreas Bähr / Peter Burschel / Gabriele Jancke , Köln / Weimar / Wien 2007. 50 Pierre Monnet : Les Rohrbach de Francfort. Pouvoirs , affaires et parenté à l’aube de la renaissance allemande ( Travaux d’Humanisme et Renaissance , Bd. 317 ), Genf 1997 , S. 351. 51 Monnet : Das Selbst und die Stadt ( s. Anm. 45 ), S. 36. 52 Monnet : Das Selbst und die Stadt ( s. Anm. 45 ), S. 26. 53 Oexle : Soziale Gruppen ( s. Anm. 44 ), S. 20 f.
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Nicht-Adel betonen , weiterer Forschungen54. Auch in Bezug auf die Konzepte von Familie , Verwandtschaft , Geschlecht , Erinnerung und Raum gibt es in der neueren historischen und literaturwissenschaftlichen Forschung zahlreiche Neuansätze , die gewinnbringend in die Familienbuchforschung integriert werden können. Vor dem Hintergrund des eingangs geschilderten unterstellten Zusammenhangs von Familienbuchschreibung , Autobiographie und der Entstehung des modernen Individuums sind vor allem jene Konzepte aufschlussreich , die Familienbücher im Kontext von Gruppenbildungsprozessen interpretieren.55 III. Bilanz und Perspektiven
Memoria , schreibt Oexle , ist eine Kultur der Individualität , auch wenn sie von Gruppen getragen oder auf Gruppen bezogen ist56. Akzeptiert man die Auffassung , dass Memoria und Individualität unauflösbar aufeinander bezogen sind , so wird die in der älteren Autobiographieforschung verbreitete Praxis , den Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit als einen Gegensatz zwischen Kollektivität und Individualität darzustellen , obsolet. Für die Hausbuchforschung bedeutet dies , nicht mehr nach den Anfängen der Individualität zu fragen , sondern die sich wandelnden Formen der Erinnerung genauer in den Blick zu nehmen. Damit kommen neue und andere gesellschaftliche Gruppen und Traditionen in den Blick57. Dabei reicht es sicher nicht aus , sich auf das städtische Schrifttum zu beschränken , das in der Familienbuchforschung im Zentrum steht. Vielmehr muss die im kaufmännischen Milieu entstandene Schriftlichkeit in Bezug auf Fragen von Erinnerung , Selbst und gruppenbezogener Identität oder Individualität in den Kontext anderer Schriften gestellt werden. Dazu gehört , wie Barbara Schmid gezeigt hat , auch die höfische Überlieferung. Die religiösen Texte 54 Vgl. etwa den Artikel von Gerhard Fouquet : Stadt-Adel. Chancen und Risiken sozialer Mobilität im Mittelalter , in : Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit , hg. von Günther Schulz , München 2002 , S. 171–192. 55 Dies gilt besonders für die Stadtgeschichtsschreibung. Die Literatur zur spätmittelalterlichen Stadt und zu dem Themenkreis Stadt und Erinnerung ist kaum überschaubar. In Bezug auf die Familienbuchforschung sind besonders die Arbeiten zu Nürnberg , Frankfurt und Augsburg zu erwähnen. S. dazu auch : Thomas Zotz : Der Stadtadel im spätmittelalterlichen Deutschland und seine Erinnerungskultur , in : Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ( Formen der Erinnerung , Bd. 8 ), hg. von Werner Rösener , Göttingen 2001 , 145–162. 56 Otto Gerhard Oexle : Memoria als Kultur., in : Memoria als Kultur ( Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte , Bd. 121 ), hg. von Otto Gerhard Oexle , Göttingen 1995 , S. 9–17 , hier S. 49 f. 57 Dies gilt besonders , wenn man bei der Erschließung und Auswertung der Texte auch nicht selbstständige Selbstzeugnisse in die Analyse einbezieht. Die strenge Trennung zwischen chronikalischer Überlieferung und Selbstzeugnis ist von einem solchen Ansatz aus zu hinterfragen. Vgl. Schmolinsky : Einleitung ( s. Anm. 9 ).
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werden meist ausgeschlossen , mit dem Argument , dass sie unter der Deutungshoheit sakraler Instanzen gestanden hätten und von der im Spätmittelalter aufkommenden städtischen und höfischen Geschichtsschreibung zu unterscheiden seien. So spricht etwa Gregor Rohmann von einer Entsakralisierung der Vergangenheit , einer Transformation von der auf Gott bezogenen Memoria zum „innerweltlichen Gedächtnis“58. Auch diese Vorannahme mediävistischer Arbeiten lässt Zweifel aufkommen. So hat etwa Caroline Walker Bynum darauf aufmerksam gemacht , dass religiöse Texte eine „Entdeckung des Selbst“ im 12. Jahrhundert erkennen lassen , die es notwendig machen , Parallelen , Kontinuitäten und Brüche zur Entwicklung in der Renaissance zu untersuchen59. Andreas Bähr hat für die Frühe Neuzeit betont , dass sich biographisches Erinnern im Rahmen einer kosmischen Ordnung vollzog , für die die göttliche Vorsehung zentral war : „Anders als eine moderne subjektive Rekonstruktion des Vergangenen als Grundlage der eignen Gegenwart basieren frühneuzeitliche autobiographische Erinnerungen nicht auf einem Paradigma linearer und zeitlicher Entwicklung aus einmaliger Vergangenheit in eine offene Zukunft ; vielmehr setzen sie einen Zeitbegriff voraus , in dem die Erinnerung etwas erinnert , das immer schon geschehen war. Sie sind gewissermaßen Erinnerungen an eine Zukunft , und zwar insofern , als diese Zukunft keine offene , sondern eine bereits in kosmischer providentia gegründete war , mithin keine noch nicht existente , sondern lediglich eine noch nicht erkannte.“60
Überträgt man diese Überlegung auf die Familienbuchforschung , so wird deutlich , dass es notwendig ist , die Texte genauer zu analysieren und auf die religiösen Konzepte hin zu befragen. Möglicherweise liegt keine Entsakralisierung , sondern ein Formenwandel vor. Eine solche Überlegung hätte auch Auswirkungen auf die Korpusbildung. Wie unterschiedlich die Befunde sind , je nachdem , ob man nur auf die städtische bzw. höfische Familienbuchschreibung schaut oder alle Texte der Analyse zugrunde legt , in der Menschen über ihr eigenes Leben schreiben , macht ein Vergleich der Befunde von Barbara Schmid und Gabriele Jancke deutlich. Barbara Schmid hat in ihrer bereits erwähnten Arbeit über deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit die These aufgestellt , dass die autobiogra58 Gregor Rohmann : „Eines erbaren Raths gehorsamer amptman“. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts ( Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben , Bd. 28 ), Augsburg 2001 , S. 122. 59 Caroline Walker Bynum : Did the Twelth Century Discover the Individual ? , in : Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages , hg. von Caroline Walker Bynum , Berkeley / Los Angeles / London 1982 , S. 82–109. 60 Andreas Bähr : Furcht , divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit , in : Zeitschrift für Historische Forschung 34 ( 2007 ), S. 1–32 , hier S. 27.
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phischen Aufzeichnungen , die seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entstanden sind , hauptsächlich aus zwei sehr unterschiedlichen Überlieferungssträngen hergeleitet werden können : Neben den autobiographischen Schriften des städtischen Bürgertums und des adligen Patriziats kann sie eine Autobiographik aufzeigen , die im Umfeld der deutschen Fürstenhöfe entstanden ist. Schriften , die diesem Milieu nicht entstammen , schenkt sie dagegen keine Beachtung. Grundlage ihrer Untersuchung ist eine nicht näher beschriebene Datenbank , in der für die Zeit zwischen 1350 und 1700 670 gedruckte und ungedruckte Texte erfasst sind. Die städtischen Autoren nutzten sehr unterschiedliche Gattungsmodelle , um ihr Leben aufzuschreiben : Hausbücher , selbstständige Lebensbeschreibungen , persönliche Reise- und Ereignisberichte , Geschlechterbücher , Kinderverzeichnisse , Schreibkalender , Diarien , Briefe sowie administrative Aufzeichnungen , Rechnungs- und Handelsbücher , Steuerverzeichnisse , Testamente und Inventare.61 Im höfischen Umfeld entstanden Lebensbeschreibungen der Herrscher in Form von Chroniken , panegyrischen Porträts sowie autobiographischen Augenzeugen- und Gesandtschaftsberichten62. Gemeinsam ist beiden Gruppen die Funktion des Schreibens „für Status und Herrschaft“. Gabriele Jancke hat sich der frühen Autobiographik in anderer Weise genähert. Sie hat versucht , für die Zeit zwischen 1400 und 1620 alle Texte zu erfassen , in denen die Geschichte eines Lebens ganz oder teilweise dargestellt ist63. Da es kaum vorstellbar ist , für den deutschsprachigen Raum eine systematische Erhebung aller Texte vorzunehmen64 , beschränkt sie sich auf gedruckte Quellen. Ihr Sample umfasst 234 autobiogra61 Schmid : Schreiben für Status ( s. Anm. 36 ), S. 13 f. 62 Schmid : Schreiben für Status ( s. Anm. 36 ), S. 117. Auf die Vielfalt der Gattungen verweisen auch : Gabriele Jancke : Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400–1620 , in : Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 2 ), hg. von Winfried Schulze , Berlin 1996 , S. 73–106 , hier S. 75. Auf die Möglichkeit , 52 verschiedene Genres von Lebensbeschreibungen zu unterscheiden , verweisen Sidonie Smith / Julia Watson : Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives , Minneapolis 2001 , S. 183–209. 63 Jancke : Selbstzeugnisse ( s. Anm. 3 ). Zur Auswahl der Texte : Gabriele Jancke : Autobiography as Social Practice in Early Modern German Speaking Areas. Historical , methodological , and theoretical perspectives , in : Autobiographical Themes in Turkish Literature : Theoretical and Comparative Perspectives ( Istanbuler Texte und Studien , S. 6 ), hg. von Olcay Akyildiz / Halim Kara / B örte Sagaster , Würzburg 2007 , S. 65–80. 64 Für das 17. Jahrhundert gibt es ein Verzeichnis von Benigna von Krusenstjern : Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 6 ), Berlin 1997 , mit Informationen über die Selbstzeugnisse von 226 Verfassern und 9 Verfasserinnen. Da hier einige Schriften nicht berücksichtigt sind , ist weiterhin wichtig Inge Bernheiden : Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum ( Literarhistorische Untersuchungen , Bd. 12 ), Frankfurt / M. u. a. 1988 , mit einem Verzeichnis von 127 AutorInnen autobiographischer Texte. Zu Tagebüchern s. auch die ältere Zusammenstellung von Magdalena Buchholz : Die Anfänge der deutschen Tagebuchschreibung ( Reihe Tagebuch , Bd. 1 ), Münster o. J. [ 1981 ]. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das Editionsprojekt Mittelhochdeutsche Selbstzeugnisse ( http://www.mdsz.thulb.
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phische Texte von 178 Verfassern , acht von ihnen waren weiblich.65 Bei der überwiegenden Mehrheit der Autoren handelte es sich um Gelehrte , die mit ihrem Schreiben ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppenkultur zum Ausdruck brachten und begründeten66. Kaufleute stellen in Janckes Sample nur eine kleine Minderheit dar. Immerhin ein Drittel der Autoren stammte aus dem Adel. Ihren Befunden zufolge ist das Milieu , in dem autobiographisches Schreiben praktiziert wurde , sehr viel differenzierter als dies in der Familienbuchforschung erscheint , wobei jedoch zu betonen ist , dass nicht alle Familienbücher Selbstzeugnisse sind67. Schaut man auf Gruppenkulturen , so bieten sich vielfache Möglichkeiten kulturvergleichenden Arbeitens an , die bislang aufgrund der eurozentristischen Vorannahmen über Individualität kaum genutzt wurden. Für die arabischen Autobiographien hat eine Gruppe von amerikanischen Wissenschaftlern um Dwight F. Reynolds die Bedeutung genealogischer Beziehungen herausgearbeitet : uni-jena.de ), hg. von Hans Medick / Norbert Winnige. Für die Schweiz vgl. Kaspar von Greyerz : Deutschschweizerische Selbstzeugnisse ( 1500–1800 ) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Bericht über ein Forschungsprojekt , in : Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der Frühen Neuzeit ( Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit , Bd. 1 ), hg. von Klaus Arnold / Sabine Schmolinsky / Urs-Martin Zahnd , Bochum 1999 , S. 147–163 ; und Sebastian Leutert / Gudrun Piller : Deutschschweizerische Selbstzeugnisse ( 1500–1800 ) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht , in : Schweizerische Zeitschrift für Geschichte / Revue Suisse d’Histoire / Rivista Storica Svizzera , 49 ( 1999 ), S. 197–221. In der Schweizer Datenbank ( http://selbstzeugnisse.histsem.unibas.ch ) sind regestartig rund 850 Selbstzeugnisse des 16.–19. Jahrhunderts aus schweizerischen Archiven und Bibliotheken verzeichnet. Ergänzt werden diese Bestände durch 400 Datensätze aus einem deutschen Projekt zu Selbstzeugnissen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Für Österreich : Harald Tersch : Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ( 1400–1650 ). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen , Wien / Köln / Weimar 1998 ( Einzelstudien mit bibliographischen Angaben zu 62 Autoren und 2 Autorinnen ); dazu auch Ders. : Das autobiographische Schrifttum Österreichs in der Frühen Neuzeit – ein Projektbericht , in : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtswissenschaft , 102 ( 1994 ), S. 409–413. 65 Jancke : Selbstzeugnisse ( s. Anm. 3 ). 66 Entscheidend für diese Gruppenkulturen sind Patronagebeziehungen ; vgl. Jancke : Autobiographie als soziale Praxis ( s. Anm. 24 ), bes. S. 75 ff. 67 Auch Studt : Haus- und Familienbücher ( s. Anm. 6 ), S. 753 betont , dass die Zuordnung zu Selbstzeugnissen allein nicht reicht : „Die Überlieferungsgruppe der Haus- und Familienbücher gehört zwar eigentlich in das gattungstypologische Segment der Selbstzeugnisse , da ein oder mehrere Autoren autobiographische Aufzeichnungen in ihre Familiengeschichte einordnen. In ihren memorativen Funktionen reichen die Haus- und Familienbücher allerdings über Einzelpersonen hinaus und gleichen vielmehr Genealogien , adeliger Familienchronik , dynastischer und städtischer Geschichtsschreibung , aber auch Nekrologien , Geburtsregistern , Grabdenkmälern und Ahnengalerien. Hinsichtlich ihrer normativen Funktionen stehen sie in engem inhaltlichem , aber auch überlieferungsgeschichtlichem und kodikologischem Zusammenhang mit der didaktischen und ökonomischen Literatur. Und in ihren repräsentativen Funktionen entspricht die Gattung Texten , Bildern und Monumenten , die zur Statussicherung und -repräsentation dienen : wiederum Grabdenkmäler , aber auch Stifterbilder , Porträts , Turnier- und Wappenbücher , Reiseberichte , ja selbst Testamente , Briefe , Urkunden , Archivverzeichnisse sind im Kontext der Haus- und Familienbuchführung überliefert.“
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“The relationships most clearly foregrounded in these texts are ‘vertical’ or ‘genealogical’ connections. In the context of the family these reach back in time to parents , grandparents , and more distant ancestors , on the one hand , and forward in time through children and grandchildren , on the other. This is paralleled in the sphere of education by the meticulously noted relationships with teachers and the mention of students. In contrast , there are strikingly few portrayals of ‘lateral’ relationships with siblings , fellow students , friends , and colleagues”68.
Die Überlegungen zum genealogischen Denken in arabischen Autobiographien verweisen auf Fragen nach kognatischer und agnatischer Verwandtschaft , die in den bisherigen Forschungen zu deutschsprachigen Familienbüchern eher vernachlässigt werden. Außerdem wird mit der Parallelisierung zur Gelehrtenkultur ein Weg gezeigt , der sich auch für die europabezogene Forschung anbieten würde. Diese Hinweise mögen reichen um zu zeigen , dass ein transkultureller Vergleich neue Perspektiven für die Erforschung der frühen autobiographischen Schriften öffnen kann69. Eng verbunden mit dem Begriff der Erinnerung ist die Identität. Zumindest in der Stadtgeschichtsforschung hat der Begriff in den 1990er Jahren den Begriff „Selbst“ oder „Person“ fast völlig verdrängt , wird aber auch als Synonym für Selbst oder Selbstbewusstsein benutzt70. In einer Besprechung des Bandes „Unverwechselbarkeit“ von Peter von Moos71 hat Gabriele Jancke auf ein Problem aufmerksam gemacht , das mit dem Konzept Identität verbunden ist : Identität ist ein Schlüsselbegriff moderner Gesellschaften. Mit dem Wort verbinden sich unausgesprochene Vorannahmen über Grenzziehungen , Ein- und Ausschlüsse , Klassifizierungen , die in Verbindung mit Vorstellungen von ihrer Relevanz von der modernen auf die mittelalterliche Gesellschaft rückübertragen werden72. Dabei werden Kategorien Bedeutung zugemessen , die für die Schreiber und Schreiberinnen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte gar nicht relevant waren. Gleichzeitig werden andere wichtige Kategorien möglicherweise übersehen , die man in den Blick bekommt , wenn man von der Schreibpraxis ausgeht. Für Autoren und Autorinnen autobiographischer Texte des 15. und 16. Jahrhunderts war , so betont Gabriele Jancke , Schreiben eine kommunikative Handlung in einem Netz sozialer Beziehungen : 68 Dwight F. Reynolds ( Hg. ): Interpreting the Self. Autobiography in the Arabic Literary Tradition , Berkeley / Los Angeles / London 2001 , S. 243 f. 69 Zur Bedeutung der Genealogie in einer literaturwissenschaftlichen Perspektive s. Beate Kellner : Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter , München 2004. 70 Vgl. etwa Karl-Reinhart Trauner : Identität in der Frühen Neuzeit. Die Autobiographie des Bartholomäus Sastrow (Geschichte in der Epoche Karls V., Bd. 3), Münster 2004. 71 Peter von Moos ( Hg. ): Unverwechselbarkeit : Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft ( Norm und Struktur , Bd. 23 ) Köln u. a. 2004. 72 Gabriele Jancke : Rezension zu : Unverwechselbarkeit ( s. Anm. 71 ), in : Sixteenth Century Journal 37,2 ( 2006 ), S. 456–457.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) „Verankerungen und Funktion der autobiographischen Texte im jeweiligen Beziehungsnetz ihrer Verfasserin oder ihres Verfassers müssen also geklärt werden , ehe speziellere Fragen gestellt werden können. Solche eingegrenzten Fragen , etwa nach dem formulierten Selbstkonzept oder der Mentalität , müssen zudem so beantwortet werden , dass die Verbindung dieser Sachverhalte mit den Beziehungsnetzen und den Beziehungskonzepten , in die sie schriftlich niedergelegt wurden , berücksichtigt wird.“73
Mentalitäten , aber auch Identitäten müssen demnach gruppenbezogen erforscht werden. Die mittelalterliche Vorstellung von Identität legt dies ohnehin nahe. In der mittelalterlichen Theologie und Logik dienten die Merkmale , die verschiedenen Elementen gemeinsam waren , als Marker für die Identität einzelner Personen oder Gruppen. Dies setzt voraus , dass die Marker bekannt und sie allgemein – z. B. durch Wiederholung – verbreitet waren74. Auch personale Identität muss als Teil von Gruppenbildungskulturen dechiffriert werden. Die Texte sollten daraufhin befragt werden , wie Identität hergestellt wird. Dabei reicht es sicher nicht aus , sie inhaltlich auszuwerten in Bezug auf das Alter des Geschlechts oder den beschriebenen Status. Es stellt sich auch die Frage , nach der „lignage“. Gabrielle M. Spiegel hat 1983 die These aufgestellt , dass sich die Genealogie in der Geschichtsschreibung als Gattung parallel zu den agnatischen „lignages“ herausgebildet habe75. Genealogisches Schreiben wäre , so folgert Gianna Pomata , demnach ein Zeichen dafür , dass sich die „lignage“, das patrilineare Geschlecht , als eigene Gruppe bewusst wird.76 Vor dem Hintergrund solcher Interpretationen wird deutlich , dass man die genealogischen Passagen in den Haus- und Familienbüchern nicht nur als Versuche , Familie und Verwandtschaft zu konstituieren und sich Ansehen in der Stadt zu verschaffen , lesen kann , hier geht es auch um Geschlechterverhältnisse und um Machtbeziehungen. Es wird deutlich , dass das enge Wechselverhältnis zwischen Hausvaterposition und Familienbuchschreibung Teil einer Neudefinition von gesellschaftlichen Rollen und einer Neubewertung des Hauses ist. Auch und gerade vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll , die städtische Familiengeschichtsschreibung im Kontext der pragmatischen und didaktischen Überlieferung im Umkreis von Haushalt und Handel zu untersuchen. Der Zusammenhang zwischen den spätmittelalterlichen Lehren vom Haus , 73 Jancke : Autobiographische Texte ( s. Anm. 62 ). 74 Caroline Walker Bynum : Metamorphosis and Identity , New York 2001 ; Jean-Claude Schmitt : „La découverte de l’individu“: une fiction autobiographique ? , in : La fabrique , la figure et la feinte , hg. von Pierre Mengal / François Parrot , Paris 1984 , S. 213–235. 75 Gabrielle M. Spiegel : Genealogy : Form and Function in Medieval Historical Narrative , in : History Today 22 ( 1983 ), S. 43–53. 76 Gianna Pomata : Storia particolare e storia universale : in margine ad alcuni manuali di storia delle donne , in : Quaderni Storici 25 ( 1990 ), S. 341–387.
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den frühneuzeitlichen Ökonomiken und den Familienbüchern ist allerdings bislang noch nicht genügend geklärt77. Haus , Familie und Verwandtschaft sind im Familienbuch wechselseitig aufeinander bezogen. Die Einbindung in die häuslichen oder familiären Gruppen schuf Identität , konnte aber auch ein Weg zur Ausbildung eines Selbst sein. In ihren Überlegungen über die Grenzen des Selbst im Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts hat Natalie Zemon Davis 1986 darauf hingewiesen , dass das Sprechen über das Selbst praktisch immer eine Beziehung einschloss : „die Beziehung zu Gott oder zum Beichtvater und zu Gott ; das Verhältnis zu einem Freund oder Liebhaber ; und vor allem die Beziehung zur Familie oder zur Lineage“78. Für ihren Untersuchungsraum kann sie zeigen , dass die Familie oft der Anlass ist , über das Selbst zu sprechen und zu schreiben79. Es bedurfte also nicht , wie die ältere Forschung annahm , der Lösung aus der Familie , um Individuum zu werden , auch die Einbindung in die Familie oder Verwandtschaftsgruppe konnte eine wichtige Voraussetzung sein. Nicht die Individualisierung , sondern die spätmittelalterliche Familiarisierung von Leben und Arbeiten wäre demnach ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt , über sich selbst zu schreiben. Dass es dabei nicht um die Alternative Wahrheit oder Fiktion geht , hat Jean-Claude Schmitt in seinen Überlegungen über Autobiographie , Geschichte und Fiktion deutlich gemacht. Fiktion erscheint nicht als Gegenmodell zur Wahrheit – dies wäre die Lüge oder der Mythos –, sondern als eine Möglichkeit „wahrheitsgetreuen Sprechens“. Wahrheit und Fiktion sind , so betont er , „auf irgendeine Weise immer Komplizen.“80 Von hier aus lassen sich Fragen an die narrative Konstruktion der Familienbücher stellen , die bislang in der deutschsprachigen Forschung wenig beachtet wurden. Haus- und Familienbücher sind – das sollte dieser Überblick gezeigt haben – faszinierende Quellen , die über zentrale Fragen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kultur Auskunft geben können. Da sie im Rahmen der pragmatischen Schriftlichkeit des Hauses entstanden sind , ermöglichen sie eine Perspektive , die es erlaubt , aus der Moderne entlehnte dichotome Konzepte zu hinterfragen und durch eine integrierte Vorstellung von Individuum , Familie und Gesellschaft , Haus und Stadt , Erinnerung und Status zu ersetzen. Konzepte , mit denen die historische Forschung oft unreflektiert arbeitet , wie etwa innen / außen , privat / öffentlich , sakral / weltlich werden aus einer solchen Perspektive brüchig und öffnen den Weg , Geschichte neu und anders zu erzählen oder , um eine Wendung von Shalini Randeria zu zitieren , „Individuen … als 77 Studt : Einführung ( s. Anm. 8 ), S. 11 , und Dies. : Haus- und Familienbücher ( s. Anm. 6 ), S. 753. 78 Natalie Zemon Davis : Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts , in : Dies : Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit , Berlin 1986 , S. 7–18 , hier S. 7. 79 Davis : Bindung und Freiheit ( s. Anm. 78 ), S. 10. 80 Jean-Claude Schmitt : Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie , Geschichte und Fiktion , Stuttgart 2006 , S. 66.
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kontextuelle Benutzer ihrer Repertoires“ ernst zu nehmen81. Um das zu tun , ist es jedoch unerlässlich , diese Quellen zugänglich zu machen und zu edieren ; diese Anforderung bleibt im deutschen Bereich nach wie vor unerfüllt.
81 Shalini Randeria : Geteilte Geschichte und verwobene Moderne , in : Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung , hg. von Björn Rüsen / Hanna Leitgeb / Norbert Jegelka , Frankfurt / M. / New York 2000 , S. 87–96 , hier S. 94. Ausführlicher dazu Jancke / Ulbrich : Vom Individuum zur Person ( s. Anm. 1 ), S. 7 ff.
Gemeinde : Politische Gemeinde , Pfarrgemeinde Wenn in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Gemeinde die Rede ist , dann wird darunter in aller Regel die politische Gemeinde verstanden , die im Rahmen der Rechts- und Verfassungsgeschichte spätestens seit den 1970er Jahren intensiv und kontrovers erforscht wurde1. Zu den Zielen dieser , später um die Sozialgeschichte erweiterten Forschungsrichtung gehörte es , die Entstehung ländlicher und städtischer Gemeinden zu erklären , ihre Bedeutung für die Vergesellschaftung der einfachen Leute herauszuarbeiten und ihre Stellung im Rahmen der frühneuzeitlichen politischen Ordnungen zu bestimmen2. In diesen Forschungen kommt gelegentlich auch die Pfarrgemeinde in den Blick , doch steht sie nicht im Zentrum der deutschsprachigen historischen Gemeindeforschung. Sie gilt eher als ein Thema der Kirchengeschichte , die in Deutschland eine eigene Disziplin ist3. Dass sich beide Forschungsbereiche nicht vollends trennen lassen , zeigen die Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung , in deren Kontext auch der Sonderfall der bi-konfessionellen Gemeinden Beachtung fand.4 Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Arbeiten , die sich mit Religion und religiöser Praxis im Alltag befassen , die sich in den Gemeinden beobachten lassen5. 1 Grundlegend für die rechts- und verfassungsgeschichtlichen Gemeindeforschungen sind die Studien von Karl S. Bader und Gerhard Dilcher , die der staatsorientierten Darstellung der deutschen Geschichte eine Geschichtsschreibung gegenüberstellten , die die genossenschaftlich-gemeindlichen Strukturen zum Ausgangspunkt nahm. Sie betonten , dass die Rechtsetzungen und Einflüsse aus dem Bereich der Herrschaft und der entstehenden Staatlichkeit in der Ordnung Alteuropas nur in der Brechung an der gemeindlichen , dörflichen oder städtischen Lebenswelt wirksam wurden : Karl Siegfried Bader / Gerhard Dilcher : Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bauer und Bürger im Alten Europa , Berlin / Heidelberg / New York 1999. 2 Vgl. den Forschungsüberblick von André Holenstein / Sabine Ullmann : „Landgemeinde“ und „Minderheiten“ in der Frühen Neuzeit , in : Nachbarn , Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit , hg. von André Holenstein / Sabine Ullmann , Epfendorf 2004 , S. 9–32 , hier bes. S. 19–26 , sowie den Beitrag von Hartmut Zückert : Gemeindeleben. Verfassungsgeschichtliche , volkskundliche und historisch-anthropologische Zugänge , in : Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland ( 16.–18. Jh. ), hg. von Thomas Rudert / Hartmut Zückert , Köln / Weimar / Wien 2001 , S. 1–10. 3 Kirchengeschichte gehört im deutschsprachigen Raum zum Fächerkanon der Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Sie wurde lange Zeit vor allem als eine Geschichte der Institutionen geschrieben. Einen guten Überblick über die verschiedenen Disziplinen , die sich mit dem Thema Religion befassen , gibt Peter Hersche : Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter , 2 Bde., Freiburg / Br. 2006 , hier Bd. 1 , S. 36 ff. 4 Einen guten Überblick über die Forschungen zu bi-konfessionellen Gemeinden gibt Frauke Volkland : Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 210 ), Göttingen 2005 , S. 36–41. 5 Für die Frömmigkeitsgeschichte sei auf den Überblick verwiesen von Andreas Holzem : Piété – culture populaire – monde vécu. Conceptualiser la pratique religieuse chrétienne , in : Religion ou confession. Un
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Die in Sammelwerken und landesgeschichtlichen Zeitschriften publizierten einschlägigen Aufsätze sind Legion6. Wichtige Erkenntnisse über religiöse Einstellungen „in Gemeinden“7 verdanken wir mikrohistorischen Arbeiten , die gelegentlich auch Anregungen der Annales-Schule und der französischen Religionssoziologie aufgegriffen und religiöse Mentalitäten erforscht haben8. So hat etwa Hans Medick in einer Lokalgeschichte in einem proto-industriellen ländlichen Ort auf der schwäbischen Alb die religiösen Einstellungen von Individuen und Gruppen untersucht und danach gefragt , wie sich diese Einstellungen auf den Arbeitsalltag , die materielle Kultur und die Eigentumsordnung auswirken. In Auseinandersetzung mit den Thesen Max Webers zur protestantischen Ethik konnte er zeigen , dass die Verbindung von pietistischem Heiligungsglauben , schwäbischer Tüchtigkeit und dem Festhalten am kleinen Eigentum in Laichingen zu einer Mentalität des Durchhaltens ohne den „Geist des Kapitalismus“ führte9. Sein Interesse galt weit mehr den Individuen , Familien und sozialen Gruppen , ihren Beziehungen und Strategien , als der institutionell verfassten politischen und kirchlichen Gemeinde. Ähnliches gilt auch für die Studie von David Sabean über Neckarhausen10 , obwohl David Sabean Dörfer und Kleinstädte bilan franco-allemand sur l'époque moderne ( XVIe–XVIIIe siècles ), hg. von Philippe Büttgen / Christophe Duhamelle , La Rochelle 2010 , S. 121–150. 6 Peter Hersche hat seiner Geschichte des Katholizismus im Barockzeitalter eine Bibliographie von 2. 600 Titeln beigegeben. Dabei verweist er darauf , dass sich in den landesgeschichtlichen Zeitschriften des deutschsprachigen Raums eine reiche Überlieferung findet , die allerdings vielfach traditionellen Mustern verpflichtet ist : Hersche : Muße und Verschwendung ( s. Anm. 3 ), hier Bd. 1 , S. 28. 7 Clifford Geertz betonte in „Dichte Beschreibung“: „Der Ort der Untersuchung ist nicht der Gegenstand der Untersuchung. Ethnologen untersuchen nicht Dörfer ( Stämme , Städte , Wohnbezirke … . ), sie untersuchen in Dörfern“: Clifford Geertz : Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur , in : Ders. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme , Frankfurt / M. 1983 , S. 7–43 , hier S. 32. Diese Wendung wurde später aufgegriffen von Giovanni Levi : On Microhistory , in : New Perspectives on Historical Writing , hg. von Peter Burke , Cambridge 1991 , S. 93–113. Sie hat maßgeblich die deutsche Mikrogeschichte beeinflusst , s. Hans Medick : Mikro-Historie , in : Sozialgeschichte , Alltagsgeschichte , Mikro-Historie. Eine Diskussion , hg. von Winfried Schulze , Göttingen 1994 , S. 40–53. 8 Die neuere französische Religionsgeschichte ( Chaunu , Delumeau , Tavenaux , Quéniart , Lebrun u. a. ) wurde in der deutschsprachigen Forschung jedoch kaum rezipiert. Auch die kirchensoziologisch wegweisenden Arbeiten von Le Bras wurden kaum beachtet. 9 Hans Medick : Buchkultur und lutherischer Pietismus. Buchbesitz , erbauliche Lektüre und religiöse Mentalität in einer ländlichen Gemeinde Württembergs am Ende der Frühen Neuzeit. Laichingen 1748–1820 , in : Frühe Neuzeit – Frühe Moderne ? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 104 ), hg. von Rudolf Vierhaus , Göttingen 1992 , S. 297–326. Ders. : Weben und Überleben in Laichingen. 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 126 ), Göttingen 21997. 10 David W. Sabean : Property , Production , and Family in Neckarhausen , 1700–1870 ( Cambridge Studies in Social and Cultural Anthropology ), Cambridge 1990. Ders. : Kinship in Neckarhausen , 1700–1870 ( Cambridge Studies in Social and Cultural Anthropology ), Cambridge 1998.
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zum Ausgangspunkt genommen hat , Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der Frühen Neuzeit zu analysieren11. In diesem Zusammenhang hat er sich auch mit den Problemen von Kirchenordnung und Kirchenzucht befasst , mit Themen also , die für das Thema Religion und Gemeinde von zentraler Bedeutung sind12. Auch in den Forschungen zur jüdischen Geschichte , die ähnlich wie die Reformationsgeschichte häufig als Gemeindegeschichte geschrieben wird , steht die religiöse Gemeinde nur selten im Zentrum13. Ein Großteil der Arbeiten zur jüdischen Geschichte befasst sich mit christlich-jüdischen Beziehungen , andere thematisieren die jüdischen Gemeinden unter dem Aspekt von Minderheiten oder Randgruppen14. Auch in diesen Forschungen werden Religion und religiöse Praktiken im Rahmen der unterschiedlichen Gemeinden immer wieder zum Thema. Nicht zuletzt angesichts der territorial-konfessionellen Gemengelage waren die deutschen Gemeinden der Frühen Neuzeit sehr unterschiedlich gestaltet. Dies gilt selbst für die scheinbar übersichtliche Welt der Dörfer15. In einigen Regionen gab es Dörfer , in denen Dorf und Pfarrei deckungsgleich waren , in anderen gab es Pfarreien , die sich teilweise bis in die Moderne über mehrere Dörfer erstreckten16. Nach der Reformation wurden die Verhältnisse keineswegs einfacher. Wie Studien über bi-konfessionelle
11 David W. Sabean : Power in the Blood. Popular Culture and Village Discourse in Early Modern Germany , Cambridge 1984. 12 Zur Kirchenzucht s. Heinz Schilling ( Hg. ): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa ( Zeitschrift für Historische Forschung , Beiheft 16 ), Berlin 1994. Vgl. dazu auch die weiterführenden Überlegungen von Heinrich R. Schmidt : Gemeinde und Sittenzucht im protestantischen Europa der Frühen Neuzeit , in : Theorien kommunaler Ordnung in Europa ( Schriften des Historischen Kollegs , Kolloquien 36 ), hg. von Peter Blickle , München 1996 , S. 181–214. 13 Jüdische Landgemeinden wurden vor allem für den süddeutschen Raum untersucht , insbesondere für Schwaben , Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches ( Colloquium Augustana , Bd. 2 ), hg. von Rolf Kiessling , Berlin 1995. Sabine Ullmann : Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650–1750 ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 15 ), Göttingen 1999 ; für Niederösterreich : Barbara Staudinger : „Gantze Dörfer voll Juden“. Juden in Niederösterreich 1496–1670 , Wien 2005 , hier bes. Kap. 10 , S. 266 ff. : „Die religiöse Gemeinde“. 14 Zur Minderheitenforschung s. Holenstein / Ullmann ( Hg. ): Nachbarn ( s. Anm. 2 ). 15 Das Dorf war Ausgangspunkt der Gemeindestudien von Karl Siegfried Bader : Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes ; Bd. 1 : Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich , Weimar 1957 ; Bd. 2 : Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde , Weimar 1962 ; Bd. 3 : Rechtsformen und Liegenschaften im mittelalterlichen Dorf mit Ergänzungen und Nachträgen , Wien 1973 , und von Peter Blickle : Die Revolution von 1525 , München 1975. Eine gute Übersicht verdanken wir Werner Trossb bach / Clemens Zimmermann : Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart , Stuttgart 2006. 16 Trossbach / Z immermann : Geschichte des Dorfes ( s. Anm. 15 ), S. 78.
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Gemeinden17 und christlich-jüdische Doppelgemeinden18 zeigen , gab es oft auch innerhalb der Gemeinden ein vielfältiges Neben- und Gegeneinander der Konfessionen. Angesichts der Komplexität des Gegenstandes ist das Spektrum , in dem das Verhältnis von Gemeinde , Kirche , Frömmigkeit und Religion in der Forschung thematisiert wird , sehr heterogen. Ein Forschungsüberblick kann diese Vielfalt in keiner Weise abbilden. Ich möchte in meinem Beitrag die für die Gemeindeforschung zentrale Kommunalismusthese , die Peter Blickle in den 1970er Jahren entwickelt hat , zum Ausgangspunkt nehmen , um wichtige Diskussionen zum Verhältnis Religion und Gemeinde nachzuzeichnen. I.
Kommunalismus ist ein wissenschaftlicher Ordnungsbegriff , der in den 1980er Jahren von Peter Blickle als Gegenbegriff zum Feudalismus entwickelt wurde19. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Dorfgemeinde als eine juristische Person , die die Interessen des Dorfes gegenüber Nachbargemeinden , Grund- Orts- und Landesherrschaft vertritt. Der Fokus war von Anfang an auf die Beziehung zwischen Untertanen und Staat gerichtet , wobei es Blickles erklärtes Anliegen war , über die Gemeinde und den von Gemeinden ausgetragenen Widerstand die Bauern als handelnde Subjekte in der Geschichte sichtbar zu machen20. Es ging ihm darum , von herrschaftlichen Inter17 Wegweisend war die Studie von Etienne François : Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg. 1648–1806 ( Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg , Bd. 33 ), Sigmaringen 1991. Einen neueren Überblick gibt : Sabine Ullmann : Zwei Konfessionen in einer Gemeinde – Stabilisierung oder Dekonstruktion der Religion ? , in : Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas ( Oberschwaben – Geschichte und Kultur , Bd. 13 ), hg. von Peter Blickle / Rudolf Schlögl , Epfendorf 2005 , S. 95–112. 18 Sabine Ullmann : Nachbarschaft und Konkurrenz ( s. Anm. 13 ), bes. S. 378 ff. ; Rolf Kiessling / Sabine Ullmann : Christlich-jüdische „Doppelgemeinden“ in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17. und 18. Jahrhunderts , in : Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert , hg. von Christoph Cluse / Alfred Haverkamp / Israel J. Yuval , Hannover 2003 , S. 513–534 ; Nathanja Hüttenmeister : Alltägliches Miteinander oder getrennte Gemeinden : Das Leben im Dorf am Beispiel der pappenheimischen Herrschaften , in : Räume und Wege. Jüdische Geschichte im Alten Reich. 1300–1800 ( Colloquia Augustana , Bd. 25 ), hg. von Rolf Kiessling / Peter Rauscher / Stefan Rohrbacher / Barbara Staudinger , Berlin 2007 , S. 107–120 ; Claudia Ulbrich : Deux communautés dans un village : Relations entre chrétiens et juifs en Lorraine au XVIIIe siècle , dans : XXIVe et XXVe Colloque de la Société d’Historie des Israélites d’Alsace et de Lorraine , Strasbourg 2002–2003 , S. 85–91 ; Dies. : Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ( Aschkenas , Beiheft 4 ), Wien 1999. 19 Eine prägnante Darstellung seines Forschungsansatzes gibt Peter Blickle in dem Artikel „Kommunalismus“, in : Enzyklopädie der Neuzeit , Bd. 6 , Stuttgart 2007 , Sp. 985–990. 20 Peter Blickle : Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland , München 1973 ; Ders. : Die Revolution von 1525 , München 31993 ; Aufruhr und Empörung ? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich , hg. von Peter Blickle u. a., München 1980.
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ventionen freie Räume empirisch nachzuweisen und aufzuzeigen , in welchem Maße die Gemeinde in den Staatsaufbau einbezogen war21. Seine Ergebnisse hat er im Modell der Kommunalismus zusammengefasst , dem die Annahme zugrunde liegt , dass Gemeinde und Hausväter die entscheidenden Bauprinzipien der europäischen vormodernen Gesellschaft bilden22. Wesentliche Merkmale des Kommunalismus sind : Gemeinden entstanden an der Wende zum Spätmittelalter ( ca. 1200–1300 ) als räumliche Einheiten mit festen Grenzen. Sie sind Effekt einer speziellen Form der Vergesellschaftung , die sich in einem Wandel der Arbeitsorganisation und der Siedlungsformen zeigten. Nachdem die hochmittelalterlichen Ordnungen aufgelöst worden waren , entwickelten die ehemals Unfreien politisch-rechtliche Sonderverbände in Form der Stadt- und Landgemeinden mit weitgehender Autonomie. Die Gemeinden beanspruchten Satzungsrecht ( ius statuendi ), sie bildeten eine eigene Selbstverwaltung und eine eigene Rechtspflege aus. Voraussetzung für die Entstehung der Gemeinden war eine an das Haus gebundene , individuell-genossenschaftliche Wirtschaftsweise und eine Siedlungsverdichtung in Form von Stadt , Markt oder Dorf. Die politischen Rechte und Pflichten waren an die Existenz eines Hauses / Haushaltes gebunden und konnten daher nur von Hausvätern wahrgenommen werden. Das gemeindliche Zusammenleben stiftete Werte und Normen : Dazu gehören Frieden , Gemeiner Nutzen , Nahrung und Gleichheit in rechtlicher Hinsicht23. Kirche und Religion stehen im Konzept des Kommunalismus eher am Rande. Zwar werden durchaus Bezüge zwischen der politischen und der Pfarrgemeinde hergestellt , letztlich sind Blickle aber die Unterschiede wichtiger. Für das 13. Jahrhundert betont er : „Die Pfarrgemeinde war , anders als die politische Gemeinde , keine Körperschaft ; sie durfte keinen Willen haben , sie traf keine Entscheidungen , ihr religiöses Leben und die in ihr gepflegten Formen der Frömmigkeit wurden von Päpsten und Bischöfen , Konzilien und Synoden bestimmt und verordnet. War die politische Gemeinde kollegial organisiert , so die Pfarrgemeinde hierarchisch.“24
Stiftungsrecht und der Erwerb von Patronats- und Präsentationsrechten führten im Spätmittelalter allerdings zu einer Kommunalisierung der Kirche25. 21 Zu ländlichen und städtischen Revolten als Versuchen politischer Integration , s. Peter Blickle : Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch , München 1981. 22 Peter Blickle : Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform , 2 Bde., München 2000. 23 Blickle : Kommunalismus ( s. Anm. 19 ), Sp. 986. 24 Peter Blickle : Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne , München 2008 , S. 93. 25 Peter Blickle : Kommunalismus ( s. Anm. 22 ), Bd. 2 , S. 303.
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Diese Entwicklung wird im Konzept der Gemeindereformation ausgeführt , das auf der Betonung struktureller Gemeinsamkeiten von Stadt und Land und der Ähnlichkeit von städtischen und bäuerlichen Reformationsentwürfen beruht26. Reformation und Kommunalismus bedingen sich gegenseitig. So wie die Theologie der Reformatoren auch als eine Theorie zur Entwicklung von kommunalen Ideen gelesen werden kann , so kann auch die Rezeption der reformatorischen Theologie aus ihrer hohen Passfähigkeit für die kommunale Lebenswelt erklärt werden. Nachdrücklich betont Blickle , dass alle Neuerungen von der politischen und nicht von der kirchlichen Gemeinde initiiert worden seien. Ein Wesenszug der bäuerlichen und bürgerlichen Reformation ist die Kommunalisierung der Kirche und die Umformung der politischen Gemeinde zu einer christlichen. Besonders deutlich lässt sich dies im Reformiertentum ablesen27: In den von Zwingli und Calvin begründeten reformierten kirchlichen Gemeinden wurden Strukturen ausgebildet , die der politischen analog waren. Die Heiligung der politischen Gemeinde und die Politisierung der christlichen bedingten einander wechselseitig.28 Ungeachtet aller durch die Reformation geschaffenen konfessionellen Unterschiede betont Blickle die Gemeinsamkeiten aller christlichen Konfessionsgemeinschaften : „Verkündigung des Wortes Gottes , Feier der Sakramente und caritative Dienste sind die drei Säulen der Pfarrei und sie sind es in allen christlichen Konfessionsgemeinschaften geblieben.“29. Allen Pfarreien gemeinsam war die Funktion , das Leben der Menschen – im christlichen Sinne – sakral zu überhöhen und sie spirituell zu bereichern. Mit dem Begriff des „Kommunalismus“ versucht Blickle „der Tatsache Rechnung zu tragen , daß etwa von 1300–1800 vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne die Gemeinde – neben der Familie – für 95 % der Gesellschaft den primären sozialen Lebensbezug darstellt“30. Kommunalismus ist für ihn ein Wissenschaftsbegriff und zugleich ein Epochenbegriff mit europäischem Anspruch. Die Geschichte Europas ist für ihn zu großen Teilen eine Geschichte des Kommunalismus. Die Gemeinde als gesellschaftliche Organisationsform von Bürgern und Bauern überlagerte 26 Peter Blickle : Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil , München 1987. 27 Für einen Überblick zur christlichen Gemeinde s. Volker Leppin : Gemeinde , 1. Christliche , in : Enzyklopädie der Neuzeit , Bd. 4 , Stuttgart 2006 , Sp. 397–401. Neben dem Calvinismus gilt das Täufertum als gemeinde-orientierter Kirchentypus. Das gemeinde-zentrierte Kirchenverständnis des Luthertums wurde dagegen noch im 16. Jahrhundert in ein obrigkeits-zentriertes verwandelt. Leppin sieht hier soziologisch ähnliche Strukturen wie in der nachtridentinischen römisch-katholischen Kirche. 28 Blickle : Gemeindereformation ( s. Anm. 26 ), insbes. S. 110 und Ders. : Kommunalismus ( s. Anm. 22 ), Bd. 2 , S. 308. 29 Blickle : Das Alte Europa ( s. Anm. 24 ), S. 98. 30 Peter Blickle : Kommunalismus und Republikanismus in Oberdeutschland , in : Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit ( Schriften des Historischen Kollegs , Kolloquien 2 ), hg. von Helmut Koenigsberger , München 1988 , S. 57–75 , hier S. 58.
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mit ihren Institutionen im späten Mittelalter das Lehnswesen und prägte mit ihren Wertvorstellungen Frieden , Gemeiner Nutzen und Rechtsgleichheit die Legitimationsmuster des entstehenden Staates der Frühen Neuzeit. Durch die Reformation hat die kommunale Idee einen enormen Anschub erhalten , doch ging die Dynamik mit dem Sieg der Territorialstaaten nach dem Bauernkrieg weitgehend verloren. Die Gemeindeautonomie wurde im 17. und 18. Jahrhundert ausgehöhlt. Die Gemeinden entwickelten sich zum verlängerten Arm der Obrigkeit. Dennoch reichen die in der bürgerlichen und bäuerlichen Welt des Spätmittelalters sichtbar werdenden Prinzipien , die der Begriff des Kommunalismus abbilden soll , – so eine der Grundannahmen Blickles – über den Parlamentarismus und den Republikanismus bis in die Gegenwart31. Kommunalismus und Christentum sind in diesem Modell eng aufeinander bezogen. Wie Blickle verbindet auch Michael Mitterauer das Aufkommen der Gemeinde eng mit der westlichen Christenheit. Für ihn steht außer Zweifel , dass das Christentum eine Religion der Gemeinde sei , dass sich Gemeinde und Christentum wechselseitig stärkten.32 II.
Das Kommunalismus-Modell ist in Deutschland breit rezipiert und kontrovers diskutiert worden. Vor allem Blickles Versuch , Formen politischer Organisation und sozialen Zusammenlebens in Stadt und Land als Ausdruck eines gemeinsamen , bis in die Gegenwart wirkenden politisch-sozialen Strukturprinzips zu erfassen , wurde immer wieder hinterfragt. Unterschiede und Konflikte innerhalb der Gemeinden und zwischen den Gemeinden werden in diesem Zugang ebenso vernachlässigt wie das Spannungsfeld zwischen politischer und kirchlicher Gemeinde. Auch für eine Analyse von Machtverhältnissen ist kaum Raum. So geht Blickle in seinem zunächst rein strukturgeschichtlich gedachten Konzept von horizontalen Strukturen der Gleichwertigkeit aller Gemeindemitglieder aus. Er konstruiert Kontinuitäten , ebnet die Unterschiede zwischen Stadt und Land ein und räumt auch der religiösen Vielfalt einen viel geringeren Platz ein als dies in den Forschungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit üblich ist33.
31 Peter Blickle : Kommunalismus , Parlamentarismus , Republikanismus , in : Historische Zeitschrift 242 ( 1986 ), S. 529–556. 32 Michael Mitterauer : Warum Europa ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs , München 2003. Zum Verschmelzen von sakraler und weltlicher Macht s. auch Paolo Prodi : Konkurrierende Mächte : Verstaatlichung kirchlicher Macht und Verkirchlichung der Politik , in : Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas ( Oberschwaben – Geschichte und Kultur , Bd. 13 ), hg. von Peter Blickle / Rudolf Schlögl , Epfendorf 2005 , S. 21–36. 33 Robert W. Scribner : Communities and the Nature of Power , in : Germany. A New Social and Economic History , Bd. 1 : 1450–1630 , hg. von Robert W. Scribner , London / New York 1996 , 291–325.
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Für die neuere Gemeindeforschung steht außer Frage , dass Landgemeinden in der Frühen Neuzeit keineswegs homogene Einheiten waren , weder in rechtlicher , noch in sozialer oder in wirtschaftlicher Hinsicht , und vielfach auch nicht in religiös-konfessioneller Hinsicht34. Im Hinblick auf die bi-konfessionellen Gemeinden wurde gezeigt , dass der Prozess der Aus- und Wiedereingrenzung konfessioneller Sondergruppen in vielen Orten in vergleichbarer Weise erfolgte. Dies lässt sich nicht aus der politischen Ordnung und Verfassung erklären , sondern , so eine These von Heinrich Richard Schmidt , weit eher im Rahmen einer Wahrnehmungsgeschichte , die nach dem Stellenwert fragt , der dem Religiösen bzw. der religiösen Differenz zugemessen wird35. Auch in den Forschungen zum bäuerlichen Widerstand wurde auf die Konflikthaftigkeit , Fragilität und mangelnde Integrationsfähigkeit der Gemeinden verwiesen , auf Aspekte also , die in Blickles Konzept wenig Beachtung fanden. So wurde betont , dass sich die Gemeinden in einem frühen Stadium in Zwangskollektive verwandelten , die massiven Druck auf die einzelnen Gemeindemitglieder ausübten. Außerdem wurde an zahlreichen Beispielen aufgezeigt , dass die Gemeinden im Verlaufe ihrer Protestaktionen in Faktionen zerfielen , die entlang von Familien- und Klientelbeziehungen verliefen36. Die Integrationsfähigkeit der Gemeinden stieß hier an ihre Grenzen und lässt die Kontinuität des Kommunalismus fraglich werden. Kaspar von Greyerz hat in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Blickles Konzept der Gemeindereformation darauf verwiesen , dass soziale Spannungen in Stadt und Land nicht beachtet würden. Der Umstand , dass „am Beginn der Reformation religiös-kirchliche , soziale und politische Forderungen eng miteinander verzahnt waren“, muss seiner Ansicht nach ebenso in die Interpretation einbezogen werden wie das individuelle Heilsbedürfnis vom Menschen , das keineswegs auf das kollektiven Seelenheil begrenzt bleibt37. In eine ganz andere Richtung zielt die Kritik von Heinz 34 Holenstein / Ullmann : „Landgemeinde“ und Minderheiten“ ( s. Anm. 2 ). 35 Heinrich Richard Schmidt : Konfessionelle Sondergruppen , Nachbarn und Gemeinden. Kommentar zu den Beiträgen von Frank Konersmann , Dietmar Schiersner und Frauke Volkland , in : Holenstein / Ullmann ( Hg. ), Nachbarn , Gemeindegenossen und die anderen ( s. Anm. 2 ), S. 265– 272 , hier S. 272. 36 Zur Bedeutung gemeindlicher Differenzen im Kontext bäuerlichen Widerstands : David Martin Luebke : His Majesty’s Rebels : Communities , Factions and Revolts in the Black Forest , 1725–1745 , Ithaca 1997 ; Werner Trossbach : Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806 , Weingarten 1987 , S. 82–100 ; Andreas Suter : Troublen im Fürstbistum Basel 1726– 1740. Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert , Göttingen 1985 , S. 371 ; Claudia Ulbrich : Traditionale Bindung , Revolutionäre Erfahrung und Soziokultureller Wandel , Denting 1790–1796 , in : Revolution und Konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution , hg. von Karl Otmar Freiherr von Aretin / Karl Härter , Mainz 1990 , S. 113–130. 37 Kaspar von Greyerz : Religion und Kultur. Europa 1500–1800 , Göttingen 2000 , S. 176 ff. Zur städt. Reformation s. Ders. : Stadt und Reformation. Stand und Aufgaben der Forschung , in : Archiv für Reformationsgeschichte 76 ( 1985 ), S. 6–63.
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Schilling am Konzept der Gemeindereformation : Er betont , dass Stadt und Bürgertum eine viel größere Bedeutung für die Entfaltung der Reformation gehabt haben als die ländliche Gesellschaft. Außerdem bemängelt er , dass Blickle sich in seinem Konzept auf Oberdeutschland konzentriert habe und damit die Entwicklung in den großen lutherisch geprägten Landstädten des Nordens ausgeklammert habe38 , ein Argument , das Blickle in späteren Studien widerlegt hat39. Ungeachtet aller Kritik im Detail hat sich das Konzept der Gemeindereformation etabliert. Nach Auffassung von Olaf Mörke liegt die „Essenz des Konzepts ‚Gemeindereformation‘ … in der Integration der in Alteuropa sozialgeschichtlich-quantitativ dominierenden bäuerlichen Welt in den gesellschafts- , politik- und kulturgeschichtlichen Horizont der Reformationsforschung“.40 Kontrovers diskutiert wurde auch die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis41. Blickle hat sein Modell an ländlichen Gemeinden entwickelt und auf Städte übertragen. Wie Klaus Schreiner betont , ist die Landgemeinde jedoch kein vorrangiger Gegenstand spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Theoriebildung42. Der Widerspruch zwischen zeitgenössischen Theorien , die die politische Gemeinde über ihre gerichtlichen Kompetenzen definierten , die Landgemeinden aber ausgrenzten , obwohl sie juristische Kompetenzen hatten , deutet auf ein grundsätzliches Problem des Konzeptes Kommunalismus43. Lassen sich politische Theorien und Praktiken so eng aufeinander beziehen , wie Blickle dies in seinem Ansatz tut ? Müssen nicht beide , Theorie und Praxis , umfassender in die jeweiligen Kontexte eingeordnet werden ? Ist es gerechtfertigt , die gemeindliche Gerichtsbarkeit alleine zu betrachten und alle anderen Formen von Rechtsprechung , angefangen von den kirchlichen Gerichten bis hin zu den territorialen Gerichten in 38 Heinz Schilling : Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch-zwingliansches Ereignis vor der ‚reformatorischen Wende‘ des Jahres 1525 ? , in : Zeitschrift für Historische Forschung 14 ( 1987 ), S. 325–332. 39 Peter Blickle : Die Reformation im Reich , Stuttgart 32000. 40 Olaf Mörke : Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung ( Enzyklopädie deutscher Geschichte , Bd. 74 ), München 2004 , S. 102 f. Mörke verdanken wir eine umfassende Würdigung des Konzepts der Gemeindereformation. Mörke geht auch ausführlich auf Arbeiten von Peter Bierbrauer , Franziska Conrad und Immacolata Saule-Hippenmeyer ein , die die Thesen Blickles in regionalen Fallstudien erhärten bzw. differenzieren : Peter Bierbrauer : Die unterdrückte Reformation : der Kampf der Tiroler um eine neue Kirche ( 1521–1527 ), Zürich 1993 ; Franziska Conrad : Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologie im Elsaß , Wiesbaden 1984 ; Immaculata SauleHippenmeyer : Nachbarschaft , Pfarrei und Gemeinde in Graubünden 1400–1600 , 2 Bde., Chur 1997. 41 Rosi Fuhrmann / Beat Hodler / Beat Kümin / Andreas Würgler : Diskussionsbericht , in : Theorien kommunaler Ordnung , hg. von Blickle ( s. Anm. 12 ), S. 249–263 , hier S. 254 ff. 42 Klaus Schreiner : Teilhabe , Konsens und Autonomie. Leitbegriffe kommunaler Ordnung in der poli tischen Theorie des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit , in : Theorien kommunaler Ordnung , hg. von Blickle ( wie Anm. 12 ), S. 35–62. 43 Blickle erklärt dies mit einer gewissen „Einäugigkeit“ der politischen Theorie , nicht aber mit der Engführung des Konzeptes : Fuhrmann ( u. a. ): Diskussionsbericht ( wie Anm. 41 ), S. 260.
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diesem Kontext auszublenden ? Ähnliche Fragen könnte man beispielsweise auch in Bezug auf Identität und Gruppenbildungsprozesse stellen.44 III.
Kritik an Blickles idealtypischem Zugriff kam unter anderem aus der historisch-anthropologischen Gemeindeforschung , die auf die Bedeutung der Praktiken verwies und Differenzierungen einforderte. So postulierte Heide Wunder , die Vielfalt und das Nebeneinander unterschiedlicher Gemeindeformen stärker zu berücksichtigen als dies in dem Blickleschen Modell der Fall war. Sie brachte ihre Vorstellung von der Entwicklung der Gemeinde in Deutschland allerdings auch ihrerseits in ein lineares Schema , das sie auf die Formel einer „Herrschaft mit Bauern“ zu einer „Herrschaft über Bauern“ brachte.45 Auf ein grundlegendes , weder im Blickleschen noch im Wunderschen Modell ausreichend berücksichtigtes Problem hat zuletzt Hartmut Zückert verwiesen , als er mit Blick auf die Brandenburgischen Gemeinden betonte , dass die Kirchengemeinde ein eigener Verband war , der im Unterschied zur politischen Gemeinde alle christlichen Einwohner und nicht nur die Hofbesitzer umfasste.46 Auch in der historischen Frauenforschung wurde nachdrücklich darauf verwiesen , dass sich in Blickles strukturgeschichtlichem Modell die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht umfassend abbilden lasse47. Für unterschiedliche Zugehörigkeiten – seien sie durch Besitz , Alter , Religion , Geschlecht , Stand , Herkunft oder Verwandtschaft bedingt – ist in diesem auf kommunale Werte ausgerichteten Modell ebenso wenig Platz wie für alle , die ausgeschlossen sind.48 Dass sich gerade die historisch-anthropologische Gemeindeforschung intensiv und kritisch mit Blickles Kommunalismus-Konzept auseinandersetzte ist kein Zufall : Mit der Fokussierung auf das Haus und die Gemeinde hat Blickle zentrale Bereiche des Alltagslebens ins Visier genommen und zahlreiche Forschungen zur Gemeinde angeregt. Dies gilt auch und gerade für Forschungen über die ländlichen Gemeinden 44 Wegweisend zur Frage der religiösen Identität sind die Forschungen von Christophe Duhamelle : Konfessionelle Identität als Streitprozess. Der Gesangbuchstreit in Wendehausen ( Eichsfeld ), 1792– 1800 , in : Historische Anthropologie 11 ( 2003 ), S. 397–414. 45 Heide Wunder : Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland , Göttingen 1986. 46 Hartmut Zückert : Gemeindeleben in brandenburgischen Amtsdörfern des 17. / 18. Jahrhunderts , in : Gemeindeleben , hg. von Rudert / Zückert ( s. Anm. 2 ), S. 141–179 , hier S. 169. 47 Zur Rolle von Frauen in der Gemeinde s. z. B. Claudia Ulbrich : Frauen und Kleriker , in : Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages , hg. von Bea Lundt / Helma Reimöller , Köln 1992 , S. 155–177 , wieder abgedruckt in : Saarländische Geschichte. Eine Anthologie , hg. von Richard van Dülmen / Reinhard Klimmt , Saarbrücken 1995 , S. 113–120. 48 Zum Problem der Exklusion s. Fuhrmann u. a. : Diskussionsbericht ( s. Anm. 41 ), S. 251.
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im Verbreitungsgebiet der Gutsherrschaft , in denen die verfassungsrechtliche Bedeutung der Gemeinden in dieser Region herausgearbeitet wurde49. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der 2006 von Werner Trossbach und Clemens Zimmermann herausgegebenen Geschichte des Dorfes , in der die Formen der Selbstorganisation des Dorfes viel Platz einnehmen. Religion wird dort im Zusammenhang mit Pfarrer und Pfarrerwahl , Pfarrer im Dorf , Kirchengut und vor allem als Kirchenzucht zum Thema , schließlich auch im Kontext der Armenverwaltung. Umfassender kommt der Zusammenhang von Gemeinde und Kirche in Studien von Beat Kümin zum Ausdruck , dessen empirische Forschungen sich auf englische Landgemeinden beziehen50. In dem von ihm 2004 herausgegebenen Band Landgemeinde und Kirche im Zeitalter der Konfessionen werden Gemeinden nicht ( mehr ) als homogene Einheiten , sondern als intern , territorial , sozial , religiös höchst differenzierte Gebilde dargestellt. Überlappungen , Synergien und Rivalitäten zwischen weltlichen und kirchlichen kommunalen Einheiten werden herausgearbeitet , vor allem wird darauf verwiesen , dass nicht nur zwischen den Konfessionen sondern auch innerhalb der einzelnen Glaubensgemeinschaft erhebliche Differenzen festzustellen sind51. Die Erforschung der innergemeindlichen Differenzen erlaubt es , Machtverhältnisse und die Formen der Vergesellschaftung innerhalb der Gemeinde sichtbar werden zu lassen , die im Kommunalismus-Modell weitgehend ausgeblendet bleiben. Dies gilt insbesondere für das problematische Konstrukt des ganzen Hauses , das im Blickleschen Modell weitgehend unhinterfragt übernommen wird. Wie Irmintraud Richarz in einer kritischen Auseinandersetzung mit der „Riehlsche( n ) Vorstellung eines vornehmlich autarken , selbstgenügsamen Hauses , das auf der – als Naturgesetz postulierten – Ungleichheit der Geschlechter beruhte und patriarchal-autoritär vom Hausvater zu regieren war“, betont , verstellen solche Konzepte den Blick dafür , dass „nicht das Verharren in statischer Eigenwirtschaft und ihrer Sozialstruktur , sondern konstruktive Antworten und ihre Reaktionen auf sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen als Leistung anzuerkennen sind.“52 Dass das Konzept des Kommunalismus nicht geeignet ist , solche Fragen zu beantworten , wurde in der Forschung immer wieder betont. In neueren Forschungen wurde nicht nur den innergemeindlichen Differenzen mehr Aufmerksamkeit geschenkt , auch „das spannungsreiche Neben- und Gegen49 Lieselott Enders : Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert , in : Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 ( 1993 ), S. 195–256. 50 Beat Kümin : The Shaping of a Community : The Rise & Reformation of the English Parish c. 1450–1560 , Aldershot 1996 ; Katherine French / Gary Gibbs / Beat Kümin ( Hg. ): The Parish in English Life 1400– 1600 , Manchester 1997. 51 Beat Kümin ( Hg. ): Landgemeinde und Kirche im Zeitalter der Konfessionen , Zürich 2004. 52 Irmintraut Richarz : Das ökonomisch-autarke „Ganze Haus“ – eine Legende ? , in : Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit , hg. von Trude Ehlert , Sigmaringen 1991 , S. 269–280 , hier S. 279.
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einander von genossenschaftlichen und herrschaftlichen Kräften und die Vermachtung innerdörflicher Sozialstrukturen und -beziehungen“ wurde analysiert53. Dabei erscheinen die Pfarrgemeinden in verschiedenen Kontexten als eigene Gemeinden , die mit der politischen Gemeinde in konkurrierenden oder komplementären Beziehungen stehen können. Komplementäre Beziehungen werden deutlich bei der Nutzung der Kirche und des Friedhofes , die keineswegs nur religiösen Zwecken dienten. Viele Studien weisen darauf hin , dass Kirchen nicht nur zum Gebet , sondern auch als Lagerräume genutzt wurden54. Friedhöfe dienten nicht nur als letzte Ruhestätte für die Toten , sondern auch als Markt- und Versammlungsorte. Und auch die Glocken läuteten nicht nur , um die Pfarrgemeinde zum Gottesdienst zu rufen , sondern auch um die Gemeindemitglieder einzuladen , zur Gemeindeversammlung zu kommen , um Feuersgefahr zu vermelden oder vor dem anrückenden Feind zu warnen55. In der Sitzordnung in der Kirche spiegelte sich der gesellschaftliche Geltungsanspruch des einzelnen wider 56. Die durch die Sitzordnung in der Kirche und bei Prozessionen sichtbar hergestellte hierarchische Ordnung der Dorfgesellschaft war ohne jeden Zweifel ein äußerst wirksames Korrektiv zu der im Kommunalismus begründeten Gleichheit aller Gemeindemitglieder. Hier schließen sich Fragen an nach der Bedeutung der nur von einer Minderheit der Einwohner eines Dorfes repräsentierten politischen Gemeinde. Wie war die Beziehung zwischen Dorf- , Einwohner- und Pfarrgemeinde ? Wann war welche kommunale Einheit für wen wichtig ? Welche Zugehörigkeit stiftete Identität ? In welchem Spannungsverhältnis standen die unterschiedlichen kommunalen Einheiten zu Familie und Verwandtschaft ? Solche Fragen , die das Kommunalismus-Konzept öffnen und ihm eine größere Reichweite – auch jenseits der Grenzen der christlichen Welt – geben könnten , wurden bislang bestenfalls in Einzelstudien diskutiert. Konkurrierende Ansprüche zwischen politischer und Pfarrgemeinde konnte es im Bereich des Gerichtswesens , der Armenversorgung und der Kreditpraxis geben. In die53 Trossbach / Z immermann : Die Geschichte des Dorfes ( s. Anm. 15 ), S. 17. Die beiden Autoren knüpfen dabei an Überlegungen von Karl Siegfried Bader ( wie Anm. 15 ) an , der die Janusköpfigkeit der Amtleute , die die Gemeinde und die Herrschaft vertraten , sehr viel stärker betont als Blickle. Siehe auch zum östlichen Deutschland Rudert / Zückert ( Hg. ): Gemeindeleben ( s. Anm. 2 ). 54 Andreas Holzem : Religion und Lebensform. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster. 1570–1800 ( Forschungen zur Regionalgeschichte , Bd. 33 ), Paderborn 2000 , S. 238 f. ; Trossbach / Z immermann : Die Geschichte des Dorfes ( s. Anm. 15 ), S. 54. 55 John Theibault : German Villages in Crisis. Rural Life in Hesse-Kassel and the Thirty Years’ War , 1580– 1720 , Atlantic Highlands 1995 , S. 51. 56 Jan Peters : Der Platz in der Kirche. Über soziales Rangdenken im Spätfeudalismus , in : Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 28 ( 1985 ), S. 77–106 ; Claudia Ulbrich : Zankapfel „Weiber-Gestühl“, in : Historie und Eigensinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag , hg. von Axel Lubinski / Thomas Rudert / Martina Schattkowsky , Weimar 1997 , S. 107–114 ; Gabriela Signori : „Umstrittene Stühle“. Spätmittelalterliches Kirchengestühl als soziales , politisches und religiöses Kommunikationsmedium , in : Zeitschrift für historische Forschung 29 ( 2002 ), S. 189–213.
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sen Punkten unterschieden sich die christlichen Gemeinden nicht grundsätzlich von den jüdischen , die vergleichbare kommunale Aufgaben wahrnahmen57. Ein zentraler Punkt für die Einschätzung des Verhältnisses zwischen der christlichen Gemeinde , dem Pfarrer und der Obrigkeit ist die Position des Pfarrers im Dorf , sein Zugang zum Amt , seine Einbindung in die Gemeinde und seine Verpflichtung gegenüber der Obrigkeit. Diesbezüglich ist die protestantische Welt sehr viel besser erforscht als die katholische58. Doch auch noch für den Katholizismus des 17. und 18. Jahrhundert konnte gezeigt werden , dass der Pfarrer der Kontrolle der Gemeinde unterstand. Selbst in einem Land wie Bayern , wo der Katholizismus zu einer staatstragenden Macht geworden war , hielt sich noch lange eine Auffassung , „die den Pfarrer als eine Art Diener des Dorfes begriff , als jemand , der auf die Verhaltensmaßregeln , Interessen und Bedürfnisse seiner Gemeinde einzugehen hat“59. Im Gegensatz zu einem protestantischen Pfarrhaus , dem ein Ehepaar mit einem eigenen Haushalt vorstand60 , waren katholische Pfarrer auf die Unterstützung durch eine Haushälterin angewiesen. Das Pfarrhaus konnte leicht zu einer Stätte von Unzucht und Unordnung werden und wurde deswegen nicht nur von der kirchlichen Obrigkeit , sondern auch von den Pfarrangehörigen streng überwacht61. Hier lassen sich Allianzen beobachten , die für die Erforschung der Gemeinde fruchtbar gemacht werden können. Fest steht , dass im Kontext der Pfarrgemeinde nicht nur Hausväter , sondern auch Haus57 Auch die Parnassim wurden in der Regel von den Gemeindemitgliedern gewählt und dann von der Obrigkeit eingesetzt. In den Darstellungen zur jüdischen Geschichte wird meist allerdings nur der obrigkeitliche Aspekt betont. Zur jüdischen Gemeinde , s. Birgit Klein : Jüdische Gesellschaft , in : Enzyklopädie der Neuzeit , Bd. 6 Stuttgart 2007 , Sp. 105–123 ; Ulbrich : Deux communautés ( s. Anm. 18 ). Der öffentliche Kultusraum im Dorf , den nicht nur Christen nutzten und teilten , sondern auch Juden , kommt vereinzelt in neueren Studien in den Blick , s. z. B. Sabine Ullmann : Sabbatmägde und Fronleichnam. Zu religiösen Konflikten zwischen Christen und Juden in den schwäbischen Landgemeinden , in : Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts , hg. von Hartmut Lehmann / Anne-Charlott Trepp , Göttingen 1999 , S. 243–264. 58 Vgl. dazu die sehr anregenden Arbeiten von Jay Goodale : Pfarrer als Außenseiter. Landpfarrer und religiöses Leben in Sachsen zur Reformationszeit , in : Historische Anthropologie 7 ( 1999 ), S. 191–211 ; Ders. : The Clergyman between the Cultures of State and Parish : Contestation and Compromise in Reformation Saxony , in : The Protestant Clergy of Early Modern Europe , hg. von C. Scott Dixon / Luise Schorn-Schütte , New York 2003 , S. 100–126. 59 Rainer Beck : Der Pfarrer und das Dorf. Konformismus und Eigensinn , in : Armut , Liebe , Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung I , hg. von Richard van Dülmen , Frankfurt / M. 1988 , S. 107–143. Weitere Beispiele für Konflikte zwischen Pfarrer und Dorf : Trossbach / Z immermann : Die Geschichte des Dorfes ( s. Anm. 15 ), S. 97. 60 Zur Pfarrfrau , s. Louise Schorn-Schütte : „Gefährtin“ und „Mitregentin“. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrfrau in der frühen Neuzeit , in : Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit , hg. von Heide Wunder / Christina Vanja , Frankfurt / M. 1991 , S. 109–153 ; zur Pfarrhaushälterin gibt es vergleichsweise wenig Literatur , s. Ulbrich : Frauen und Kleriker ( s. Anm. 47 ), S. 168 ff. ; Dies. : Shulamit und Margarete ( s. Anm. 18 ), S. 63 ff. 61 Ulbrich : Frauen und Kleriker ( s. Anm. 47 ).
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mütter als Gruppe auftreten und agieren. Dies gilt sowohl für die Hebammenwahlen wie auch für die Kontrolle des moralischen Verhaltens des Pfarrers und der Gemeindemitglieder62. Dass die Gemeinden so viel Wert auf ein gottgefälliges Leben aller Dorfbewohner – also auch des Pfarrers – legten , hängt auch mit dem Gottesverständnis der frühneuzeitlichen Christen zusammen. Der christliche Gott war ein strenger Richter , der keine Sünden ungestraft ließ. Die Sündhaftigkeit des Menschen war individuell , die Strafe Gottes aber kollektiv. Wie Andreas Holzem betont , war die Salus publica an die Befolgung kirchlicher und religiöser Gebote gebunden. Für sein Untersuchungsgebiet , das Münsterland , kann er außerdem „eine gezielte Instrumentalisierung des Sendgerichts für die eigenen Sozialbelange“ wahrscheinlich machen63 , die der Gerichtsnutzung nicht unähnlich ist , wie sie Heinrich R. Schmidt in den Gemeinden des Berner Oberlandes beobachtet hat64. In diesem Bereich kommen auch die Spannungen zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft in den Blick , für die in der Kommunalismus-Debatte zulange zu wenig Raum war. Diese wenigen Hinweise auf neuere Forschungen zur Gemeinde mögen genügen , um zu zeigen , dass die in der Debatte um den Kommunalismus vernachlässigte Frage nach der Pfarrgemeinde der Gemeindeforschung wichtige neue Impulse geben kann. Dabei geht es weniger um die für den Kommunalismus zentrale Frage nach der Autonomie als um Fragen von Zugehörigkeiten und Machtverhältnissen , die sich aus den Praktiken des Alltagslebens ergeben. Sie erlauben es eine Antwort auf die Frage zu finden , wie lokale Gemeinschaften funktionieren.
62 Instruktiv ist das Beispiel des „Wellinger Weibersturms“: Die Frauen des Dorfes erstürmten das Pfarrhaus von Saarwellingen , um herauszufinden , ob die Magd des Pfarrers ein uneheliches Kind geboren habe. Der Pfarrer verteidigte das Pfarrhaus gegen sie mit Waffen , s. Ulbrich : Frauen und Kleriker ( s. Anm. 47 ), S. 155 ff. 63 Holzem : Religion und Lebensform ( s. Anm. 54 ), S. 392. 64 Heinrich R. Schmidt : Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit , Stuttgart / Jena / New York 1995.
Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung Zwei Beispiele zum Anfang
Um die gesellschaftlichen Transformationsprozesse zwischen 1700 und 1815 in den Blick zu bekommen , beschäftigte sich Hans-Ulrich Wehler in seinem 1987 erschienenen Werk Deutsche Gesellschaftsgeschichte ausführlich mit den Strukturbedingungen und Prozessen sozialer Ungleichheit.1 Unter sozialer Ungleichheit verstand er „die verschiedenartige Verteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken“, die „als eine der Grunderfahrungen gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt“ gelten könne.2 Wer erwartet hatte , dass die Kategorie Geschlecht in einer solchen Analyse eine Rolle spielt , wurde enttäuscht. Denn Wehler stellte Geschlecht zwar gleichwertig neben Alter und soziale Ungleichheit als anthropologische Universalien gesellschaftlicher Hierarchisierung , räumte aber in einer Fußnote ein : „Geschlecht und Alter werden als Stratifikationskriterien offensichtlich immer wichtiger , bleiben aber hier aus pragmatischen Gründen von der folgenden Diskussion ausgeschlossen , wie das auch der größte Teil der Fachliteratur tut. Dadurch wird die Ungleichheitsdebatte in der Regel auf die berufstätigen Männer eingegrenzt , wobei allerdings der Beruf seit langem über die Lebenschancen der Familien in wesentlicher Hinsicht und auf Dauer entscheidet.“3
Mit dieser Aussage , die hinter der soziologischen Ungleichheitsforschung der 1980er Jahre zurück bleibt , wurde nicht nur die Geschlechterforschung , sondern die auch damals bereits gut etablierte Familienforschung , die die Bedeutung von Ehe , Familie und Verwandtschaft für die Positionierung des Einzelnen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft herausgearbeitet hat , marginalisiert.4 Zwölf Jahre später , 1999 , erschien ein ebenso bedeutendes Buch , diesmal nicht zur Gesellschafts- , sondern zur Politikgeschichte , Wolfgang Reinhards Geschichte der Staatsgewalt. In seiner Einleitung hat Reinhard Männern und Frauen zwei Seiten gewidmet. Gleich zu Beginn verweist er darauf , dass „Politik im allgemeinen und Monarchie im besonderen grundsätzlich Männersache“ gewesen sei. „Frauen“ so heißt es 1 Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte , Bd. 1 : Vom Feudalismus des Alten Reichs bis zur Modernisierung der Reformära 1700–1815 , München 1987. 2 Ebda. S. 125. 3 Ebda. S. 580. 4 Für die soziologische Ungleichheitsforschung ist u. a. auf Reinhard Kreckel ( Hg. ): Soziale Ungleichheiten. ( Soziale Welt , Sonderband 2 ), Göttingen 1983 , zu verweisen. Einen knappen Überblick zu den Anfängen der Familienforschung gibt : Hans Medick : Zwischen Mythos und Realität – die historische Erforschung der Familie , in : Die Zukunft der Familie , hg. von Susanne Mayer / Dietmar Schulte , München 2007 , S. 37–55.
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weiter , „waren in Europa wie in seinen Vorläuferkulturen zwar nirgends rechtlos und nicht einmal immer benachteiligt , kamen aber als politisch Handelnde in der Regel nicht vor.“5 Reinhard operiert in Bezug auf die Partizipation von Frauen mit einem linearen Geschichtskonzept und einem a-historischen Politikbegriff. Wenn von Politik als Männersache und von Frauen als Objekten der Politik gesprochen wird , dann wird so getan , als gäbe es einen ein für allemal fest stehenden Begriff von Politik mit ein für allemal fest stehenden Grenzen , was politisch ist und was nicht. In einem solchen Konzept , das auf einer binär gedachten Geschlechterordnung aufbaut , wird Politik in einer ganz traditionellen Weise mit dem Staat gleichgesetzt und ganz klassisch mit der Exklusion von Frauen verbunden. Natürlich weiß ein so kompetenter Historiker wie Wolfgang Reinhard , dass sich mit einem solch exklusiv männlichen Politikbegriff die Realität der Frühen Neuzeit nicht abbilden lässt , da Frauen hier als Herrscherinnen , Regentinnen , Landvögtinnen , Mätressen oder Botschafterinnen selbst im traditionellen Politikfeld gut vertreten waren. Es bedürfte also nicht einmal der von der feministischen Theorie seit Jahrzehnten eingeforderten umfassenden Revision des Politikbegriffs , es würde schon reichen , Frauen einfach in die Geschichtserzählung zu integrieren , was auf der Ereignisebene ja auch geschieht. Elisabeth von England , Katharina II. oder Maria Theresia gehören zum Grundwissen der Geschichte. Auch Reinhard berücksichtigt sie in seiner Darstellung , aber er grenzt Frauen aus der Struktur aus , indem er diejenigen , die politisch einflussreich sind , als Ausnahmen bezeichnet. Auf diese Weise wird es ihm möglich , von einer „politischen Unrolle“ von Frauen zu sprechen , „die in Europa trotz Aufklärung und Revolution ein so selbstverständliches kulturelles Verhaltensmuster“ gewesen sei , „dass sie kaum begründet werden musste.“6 In diesem Verfahren bestätigt sich einmal mehr die in der feministischen Politiktheorie formulierte These , „dass ein enger Politikbegriff Frauen kategorisch aus dem Feld des Politischen herausdrängt und ihre historische Exklusion damit gleichsam begrifflich-methodisch reproduziert.“7 An den beiden eingangs erwähnten Beispielen lassen sich Diskurse und Mechanismen aufzeigen , mit denen Geschlecht aus der historischen Analyse ausgeschlossen wird.8 Im ersten Beispiel taucht Geschlecht als additive , aber dennoch verzichtbare 5 Wolfgang Reinhard : Geschichte der Staatsgewalt : eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart , München 1999 , S. 40. 6 Ebda. 7 Ute Frevert : Neue Politikgeschichte , in : Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch , hg. von Joachim Eibach / Günther Lottes , Göttingen 2002 , S. 152–164 , hier S. 157. 8 Dass die beiden erwähnten Autoren keine Ausnahme waren , mag ein Hinweis auf Philipp Sarasin zeigen , der in seinen Überlegungen zu Alltag , Sprache , Arbeit die Geschlechtergeschichte übergeht , „weil dazu gegenwärtig von anderer Seite genug gesagt wird“. Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit diesem Aufsatz von Ulrike Gleixner : Die ‚Tonart des Unbedingten‘ und die Abwesenheit der Frauenund Geschlechtergeschichte , in : Werkstatt Geschichte 18 ( 1997 ), S. 83–90.
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Kategorie auf , im zweiten Fall erfolgt die Exklusion von Frauen auf der strukturellen Ebene. Politisch aktive Frauen werden von vornherein als Ausnahme bezeichnet , weil sich die politische Realität nicht in der vorgegebenen , rein männlich definierten Struktur abbilden lässt. Eine solche Ergänzung des Geschichtsbildes um „Ausnahmefrauen“ kann leicht verdecken , dass durch sie die geschlechterblinden Meistererzählungen eher bestätigt als verändert werden.9 Weiterführende Fragen , wie sie etwa Natalie Zemon Davis in ihrem Kapitel über „Frauen , Politik und Macht“ in Geschichte der Frauen formuliert hatte , kommen dabei gar nicht erst in den Blick.10 Zwar hatte auch Davis darauf hingewiesen , dass gerade in der politischen Sphäre die Partizipationsmöglichkeiten von Männern und Frauen ungleich verteilt waren , doch ermöglichte ihr der geschlechtergeschichtliche Zugang eine für die europäische Verfassungsgeschichte wichtige Differenzierung : Während Frauen in republikanischen Gemeinwesen bestenfalls informell über Familie und Verwandtschaft Einfluss auf die Politik nehmen konnten , konnten sie dort , wo die Nachfolge durch dynastische Erbfolge bestimmt war , unmittelbaren Zugang zur Macht erhalten. Davis spricht nicht von einer „politischen Unrolle von Frauen“, sondern ganz im Gegenteil davon , dass in Monarchien und Fürstentümern Geburten und Eheschließungen „zum Gegenstand der großen Politik“ wurden11 und zeigt Wege auf , wie man die Asymmetrie zwischen Männern und Frauen genauer analysieren könnte. Bereits 1976 hatte sie „Vorschläge für eine neue Frauengeschichte“ erarbeitet und davor gewarnt , an der Gegenwart entwickelte Verfahren auf die Vergangenheit zu übertragen. Mit Blick auf die Frühe Neuzeit fragte sie , „ob nicht eine multidimensionale Erfassung der Sozialstruktur – die etwa die Beziehungen männlich / weiblich und Klerus / Laien auszudrücken vermag – den einfacheren Modellen , die wir benutzen , vorzuziehen ist.“12 Diese Frage gehört zu den zentralen Problemen , mit denen sich die Geschlechterforschung in den letzten Jahrzehnten befasst hat , ohne dass die Ansätze in der Allgemeinen Geschichte auf breite Resonanz gestoßen wären. Bis heute scheint das 1996 von Hans Medick und AnneCharlott Trepp auf einer Tagung des Max-Planck-Institutes für Geschichte in Göttin9 Gianna Pomata : Partikulargeschichte und Universalgeschichte – Bemerkungen zu einigen Handbüchern der Frauengeschichte , in : L’Homme Z.f.G. 2 , H. 1 , ( 1991 ), S. 5–44. 10 Natalie Zemon Davis : Frauen , Politik und Macht , in : Geschichte der Frauen , hg. von Georges Duby / Michelle Perrot , Bd.3 : Frühe Neuzeit ; hg. von Arlette Farge / Natalie Zemon Davis , Frankfurt / M. 1994 , S. 189–206. 11 Ebda., S. 192. 12 Zitiert nach der 1986 erschienenen deutschen Übersetzung : Natalie Zemon Davis : Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte , in : Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie , Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers , hg. von Natalie Zemon Davis , Berlin 1986 , S. 117–132., hier S. 128. Der Aufsatz ist zuerst erschienen unter dem Titel : Women’s History in Transition : The European Case , in : Feminist Studies III 3 / 4 ( 1976 ), S. 83–103.
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gen formulierte Postulat , Geschlechtergeschichte als Allgemeine Geschichte zu verstehen und das Potential geschlechtergeschichtlicher Forschung konstruktiv zu nutzen , nur selten umgesetzt.13 Das Leitmotiv der Diskussion jener Tagung fokussierte auf die bis heute aktuelle Frage : „Wie kann eine zukünftige Geschichtswissenschaft aussehen , in welcher die Geschlechtergeschichte nicht nur als Anbau ans Haus der Allgemeinen Geschichte akzeptiert wird , oder bestenfalls als ein abgeschlossener Raum innerhalb dieses ‚Hauses mit vielen Zimmern‘ ( Jürgen Kocka ), sondern als eine Aufforderung zum Umbau des ‚ganzen Hauses‘ ?“14
Möglicherweise stellt das Konzept der Intersektionalität , das in den letzten zehn Jahren in den Gender Studies breite Aufmerksamkeit gefunden hat15 , einen Weg dar , den Raum zu öffnen und Geschlecht in die Allgemeine Geschichte zu integrieren. Da dieses Konzept vor allem im Hinblick auf die Analyse sozialer Ungleichheit in Gegenwartsgesellschaften entwickelt wurde und mit dem Anliegen verbunden war , die Kategorie Geschlecht zu dezentralisieren , steht die Theoriedebatte jedoch in einem ganz anderen Kontext als die entsprechenden Ansätze , die sich auf vormoderne Gesellschaften beziehen und von der Prämisse ausgehen , dass der Kategorie Geschlecht in der ständischen Gesellschaft ohnehin nicht die gleiche universelle Strukturierungskraft zukam , die ihr in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wurde.16 Auch in der Ständegesellschaft wurden die Menschen nach Geschlecht kategorisiert. „Die Geschlechtszugehörigkeit bestimmte“, so betonten Barbara Vogel und Ulrike Weckel , „als eine unter vielen Standesdefinitionen die Alltagserfahrung von Frauen und Männern[ … ], das heißt sowohl die Differenz der Geschlechter als auch die Differenzen innerhalb der Geschlechter waren für sie eine Selbstverständlichkeit.“17 Die Zugehörigkeit zu einem Stand begründete die Verpflichtung auf besondere Lebensfor13 Hans Medick / Ann-Charlott Trepp : Vorwort , in : Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte : Herausforderungen und Perspektiven ( Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 5 ), hg. von Hans Medick / Ann-Charlott Trepp , Göttingen 1998 , S. 7–14. 14 Ebda., S. 8. 15 Das Spektrum der Intersektionalitätsforschung , aber auch ihre Grenzen waren Gegenstand einer im Januar 2009 vom Cornelia Goethe Centrum in Frankfurt / M. ( Helma Lutz ) organisierten Tagung zum Thema : „Celebrating Intersectionality ? Debates on a multi-faceted Concept in Gender Studies“. Vgl. dazu den Bericht von Gail Louis : Celebrating Intersectionality ? Debates on a multi-faceted Concept in Gender Studies : themes from a Conference , in : European Journal of Women’s Studies 16 / 3 ( 2009 ), S. 203–210. Zum Versuch einer theoretischen Perspektivierung dieses Konzeptes siehe Gabriele Winker / Nina Degele : Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten , Bielefeld 2009. 16 Heide Wunder : „Er ist die Sonn , sie ist der Mond“: Frauen in der frühen Neuzeit , München 1992 , S. 264 17 Barbara Vogel / Ulrike Weckel : Vorwort , in : Frauen in der Ständegesellschaft. Leben und Arbeiten in der Stadt vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit , hg. von Barbara Vogel / Ulrike Weckel , Hamburg , 1991 , S. 7– 26 , hier S. 9.
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men. Sie war nicht unveränderlich , es gab auch innerhalb der Ständeordnung sozialen Auf- und Abstieg und innerhalb der Stände erhebliche Hierarchien und Differenzen. Weder Stand noch Geschlecht waren naturgegeben , vielmehr waren sie das Ergebnis komplexer Zuordnungsprozesse.18 Erst mit der Entnaturalisierung von Geschlecht war die Voraussetzung gegeben , nach den Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu fragen , in denen Geschlecht in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten hergestellt wurde und in denen die Geschlechterdifferenz bzw. die Zweigeschlechtlichkeit Bedeutung erhielt. Für die Moderne konnte Geschlecht ebenso wie ‚Rasse‘ als Konstrukt neben Klasse als gesellschaftlicher Bestimmungsfaktor gesetzt werden.19 Bevor ich die damit verbundenen Neuansätze zur Erforschung von Ungleichheit im Rahmen des Konzepts Intersektionalität skizziere und nach dem Anregungspotential für die Erforschung der Ständegesellschaft frage , möchte ich einige Grundlinien der Geschlechterforschung20 und feministischen Theorie21 von den Anfängen in den 1960er und 1970er Jahren bis hin zur Hinwendung zur poststrukturalistischen Wende der 1980er und 1990er Jahre nachzeichnen , die in der Geschichtswissenschaft eng mit Joan W. Scott verknüpft ist.
18 Claudia Ulbrich : Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft ( Aschkenas , Beiheft 4 ), Wien 1999 , S. 9 ff. 19 ‚Rasse‘ wurde im 19. Jahrhundert ähnlich wie Geschlecht als Naturphänomen betrachtet. Die Einsicht in den Konstruktionscharakter von ‚Rasse‘ erfolgte etwa zur gleichen Zeit wie die Entnaturalisierung von Geschlecht. Als Konstruktionen wurden beide Kategorien ähnlich diffus und komplex wie Klasse. Cornelia Klinger / Gudrun-Axeli Knapp : Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse , Geschlecht , ‚Rasse’ / Ethnizität , in : Transit 29 ( 2005 ): http://www.iwm.at/ index.phb?option=com_content&task=view&id, zuletzt besucht am 30. September 2008. Der Beitrag ist wieder abgedruckt in : Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse , Geschlecht und Ethnizität , hg. von Cornelia Klinger / Gudrun-Axeli Knapp / Birgit Sauer , Frankfurt / M. 2007 , S. 19– 41 , hier S. 34. 20 Zur Geschlechterforschung gibt es zahlreiche ausgezeichnete Einführungen , die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden können. Für Beiträge , die einen engeren Bezug zur Frühen Neuzeit haben , sei verwiesen auf : Claudia Opitz : Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte ( H istorische Einführungen , Bd. 10 ), Tübingen 2005. Claudia Ulbrich : Artikel „Geschlecht“, in : Enzyklopädie der Neuzeit , Bd. 4 , Stuttgart 2006 , Sp. 622–631. Dies. : Artikel „Geschlechterrollen“, in : Ebda., Sp. 631–650. De la différence des sexes. Le genre en histoire , hg. von Michèle Riot-Sarcey , Paris 2010. 21 Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie ( Forum Frauenforschung , Bd. 6 ), hg. von Gudrun-Axeli Knapp / Angelika Wetterer , Freiburg 1992. Regina Becker-Schmidt / Gudrun-Axeli Knapp : Feministische Theorien zur Einführung , Hamburg 22001. Andrea Griesebner : Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung , Wien 2005. Nina Degele : Gender / Queer Studies. Eine Einführung , Paderborn 2008. Im Hinblick auf das Thema Ungleichheit ist in diesem Zusammenhang auf die grundlegenden Arbeiten von Ilse Lenz und Ute Luig zu verweisen , siehe z. B. Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nicht patriarchalischen Gesellschaften , hg. von Ilse Lenz / Ute Luig , Frankfurt / M. 21995.
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Geschlechterforschung und Feministische Theorie
Ausgangspunkt der Geschlechterforschung war die in US-amerikanischen Forschungen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren vorgeschlagene analytische Trennung zwischen sex und gender. Während sex auf eine biologisch begründete Zweigeschlechtlichkeit verwies , wurde gender zentral für die Erforschung der sozialen und kulturellen Aspekte , mit denen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Natürlichkeit der Geschlechterrollen hinterfragt werden konnten. Geschlechterrollen sollten als soziale Konstrukte erforscht und ihre Vielfalt und Wandelbarkeit aufgezeigt werden. Verbunden damit war die Frage , wie Unterdrückungsformen erzeugt und Widerstand geleistet wurden. Dieser Ansatz war produktiv und problematisch zugleich. Da die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht dem traditionellen Dualismus von Natur und Kultur verhaftet blieb , waren einer grundlegenden Rekonzeptualisierung der Geschichtsschreibung enge Grenzen gesetzt. Der ‚naturhafte‘ Status eines letztlich ahistorisch gedachten Körpers wurde erst hinterfragt , als die Frauengeschichte in den 1980er Jahre begann , sich intensiv mit Fragen von Geschlecht und Geschlechtsidentität zu befassen und betonte , dass nicht nur gender sondern auch sex und damit zugleich die Zweigeschlechtlichkeit kulturell bzw. diskursiv hervorgebracht werden. Mit dieser Neuorientierung rückten auch neue Themen ins Zentrum der Forschung , die sich auch auf die disziplinübergreifende Theoriediskussion auswirkten.22 In den 1960er und 1970er Jahren war zunächst die Frage der gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen ein mobilisierendes Thema der Frauenforschung. Im Zuge der Hausarbeitsdebatte der 70er Jahre wurde eine Erweiterung des Begriffs gesellschaftlicher Arbeit vorgeschlagen und eine Begrenzung der Ungleichheitsdebatte auf berufstätige Männer kritisch hinterfragt. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten die Forschungen zu Tätern , Opfern und der Mittäterschaft von Frauen. In den 1980er und 1990er Jahren traten im Rückgriff auf den Poststrukturalismus Fragen nach Erfahrung , Identität und der binären Konstruktion von Geschlecht in den Fokus der Geschlechtergeschichte. Mit der Hinwendung zu poststrukturalistischen Theorien war ein epistemologischer Wandel innerhalb der Theoriebildung verbunden , der innerhalb der Frauenforschung , die den Anspruch erhebt , Theorie in emanzipatorischer Absicht zu betreiben , kontrovers diskutiert wurde. Denn sie führte dazu , dass die Vorstellung , dass Frauen aufgrund vermeintlich gemeinsamer Erfahrungen von Ungleichheit , Unterordnung oder Ausgrenzung einheitliche und kohärente Interessen hätten , obsolet wurde. Zwar wurde die Annahme , dass die Geschlechterdifferenz kulturell konstruiert sei , bestimmend für die weiteren Theoriedebatten , doch war dies nur ein Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen. Sie erhielten in den 1990er Jahren neue Impul22 Becker-Schmidt / Knapp : Feministische Theorien ( s. Anm. 21 ), S. 8.
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se durch die Postcolonial Studies , Queer Theory und Critical Whiteness-Forschung , die sich u. a. mit Prozessen gesellschaftlicher Normierungen und Ausschlussmechanismen befassten , Kritik an der unhinterfragten Übernahme heterosexueller Ordnungsvorstellungen übten und auf die Instabilität von Geschlechtergrenzen verwiesen.23 Die Kritik bezog auch die Männlichkeitsforschung mit ein , der der Vorwurf gemacht wurde , die binäre Geschlechterordnung zu reproduzieren.24 Im Kern der vielfältigen Kontroversen der Gender Studies , der Queer Studies und der Erforschung von Masculinities , die hier nur angedeutet werden können , stehen Konzepte von Macht , Ungleichheit und Diskriminierung sowie Prozesse von Normierung und Ausschluss ebenso wie Fragen von Erfahrung und Identität. Verbunden damit ist das Problem der Subjektivierung und der Handlungsfähigkeit von Menschen. Gegen konstruktivistische Theorien wandte Judith Butler ein , dass Geschlecht performativ hergestellt wird , als Effekt einer sich ständig wiederholenden Praxis innerhalb einer heterosexuellen Matrix.25 Daraus ergibt sich letztlich die Frage , wie es sein kann , dass „das Subjekt als Bedingung und Instrument der Handlungsfähigkeit zugleich Effekt der Unterordnung als Verlust seiner Handlungsfähigkeit“ ist.26 Auch wenn Subjekt und Individuum unterschieden werden müssen , stellt dieses Problem für akteurszentrierte Forschungen eine große Herausforderung dar. Obwohl Einigkeit darüber herrscht , dass alle Kategorien , auch die der Subjektes , historisiert werden müssen , ist es eine offene und wenig diskutierte Frage , wie die Geschichtswissenschaft mit diesen meist an der Gegenwart entwickelten bzw. auf die Philosophie oder Psychologie rekurrierenden Konzepten arbeiten kann und welche Erkenntnismöglichkeiten , aber auch Schwierigkeiten sich durch die Vervielfältigung der Kategorien und Zugänge stellen. Geschlecht und Geschichte
Wichtige Anregungen für die historische Forschung gingen von den Arbeiten von Joan Scott aus , die , wie Claudia Honegger und Caroline Arni betonen , zu den „wichtigsten Vertreterinnen der historischen Geschlechterforschung in gesellschaftstheoretischer Absicht“ zählt.27 Bevor Scott mit ihren Vorschlägen , Gender als Kategorie 23 Degele : Gender / Queer Studies ( s. Anm. 21 ), S. 10 ff. 24 Silke Törpsch : Artikel „Männlichkeit“, in : Enzyklopädie der Neuzeit , Bd. 7 , Stuttgart 2008 , Sp. 1192– 1198. 25 Judith Butler : Das Unbehagen der Geschlechter , Frankfurt / M. 1991 ( engl. 1990 ). Dies. : Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts , Berlin 1995 ( engl. 1993 ), bes. S. 35 ff. 26 Judith Butler : Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung , Frankfurt / Main 2001 ( engl. 1997 ), S. 15. 27 Claudia Honegger / Caroline Arni : Vorwort , in : Gender. Die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott , Geschichte und Politik. Beiträge zum Symposion anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der
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in die historische Analyse zu integrieren , einen wegweisenden Beitrag zur Weiterentwicklung der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte geleistet hat , hat sie sich mit der Geschichte der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert befasst.28 Um über die Erforschung gesellschaftlicher Rollen von Frauen und Männern , anders gewendet , über das Sichtbarmachen von Frauen in der Geschichte , hinaus zu kommen , schien es ihr wichtig herauszufinden , „auf welche Weise Geschlecht bei der Konstruktion gesellschaftlicher und politischer Bedeutung präsent ist.“29 Ganz explizit brachte sie diesen Anspruch in ihrem Aufsatz Sprache , Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse zum Ausdruck : „Mit Geschlecht meine ich nicht einfach gesellschaftliche Rollen für Frauen und Männer , sondern die Artikulation gesellschaftlicher Verstehensweisen von sexueller Differenz in spezifischen Kontexten. Wenn Bedeutung in den Kategorien der Differenz konstruiert wird ( indem explizit oder implizit dasjenige , was etwas ist , von demjenigen , was es nicht ist , unterschieden wird ), dann ist die sexuelle Differenz ( die kulturell und historisch variabel ist , aber aufgrund ihres Verweises auf natürliche , physische Körper immer unveränderlich und unstrittig erscheint ) eine wichtige Art und Weise , Bedeutung zu spezifizieren und begründen. Meine These ist , dass wir , wenn wir darauf achten , auf welche Weise ‚Sprache‘ Bedeutung konstruiert , wir auch in der Lage sein werden , Geschlecht zu verorten.“30
Damit war ein zentrales Problem der Geschlechterforschung benannt , die Naturalisierung und Entdiskursivierung von Geschlechterverhältnissen , denen nach wie vor „ein spezifisches Unsichtbarsein“ anhaftet.31 Unabhängig von den konkreten Handlungsräumen von Männern und Frauen in einer Gesellschaft wurde die sexuelle Differenz in der Geschichte immer wieder dazu benutzt , Ungleichheit mit Verweis auf die Natur zu begründen und damit ihre soziale Konstruktion zu verschleiern.32 Um dieses Problem zu überwinden , schlägt Scott die Unterscheidung zwischen männlich / weiblich für physische Personen und maskulin / feminin für abstrakte Eigenschaften vor. Obgleich zwischen beiden eine Beziehung besteht , findet spätestens seit der Aufklärung in der westlichen Kultur auf der symbolischen Ebene eine als natürlich erscheiUniversiät Bern an Joan W. Scott , hg. von Claudia Honegger / Caroline Arni , Zürich 2001 , S. 7–11 , hier S. 11. 28 Joan W. Scott : The Glassworkers of Carmaux : French Craftsmen and Political Action in a Nineteenthcentury City , Harvard 1974 ) 29 Joan W. Scott : Über Sprache , Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse , in : Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion , hg. von Christoph Conrad / Martina Kessel , Stuttgart 1994 , S. 283–309 , hier S. 286. Eine erste Fassung dieses Aufsatzes erschien 1987 in : International Labor and Working Class History 31 , S. 1–13. 30 Ebda., S. 287. 31 Becker-Schmid / Knapp : Feministische Theorien ( s. Anm. 21 ), S. 123. 32 Scott : Über Sprache ( s. Anm. 29 ), S. 295.
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nende binäre Kodierung ( stark / schwach , öffentlich / privat etc. ) statt , durch die die Geschlechterordnung gesellschaftliche und politische Bedeutung erhält , unabhängig davon , ob einzelne Akteurinnen diese Definition akzeptieren oder umdeuten.33 Die eingangs erwähnte „Geschichte der Staatsgewalt“ ist ein gutes Beispiel dafür , dass diese Unterscheidung auch für die Erforschung der Ständegesellschaft weiterführend ist. Mit ihr ließe sich die politische Partizipation von Frauen auf der ereignisgeschichtlichen Ebene und die „politische Unrolle“ auf der diskursiven Ebene erklären , ohne dass auf die Hilfskonstruktion der Ausnahme zurückgegriffen werden müsste , die letztlich nur dazu dient , eine vermeintlich ganz andere Normalität „weiblicher“ Existenz zu bestätigen. Auch der Umstand , dass Frauen , die bestimmte Positionen inne hatten oder sich durch Eigenschaften auszeichneten , die männlich markiert waren , bereits in der Frühen Neuzeit als Ausnahmen bezeichnet wurden , rechtfertigt es nicht , diese Positionen unreflektiert zu übernehmen und den diskursiven Charakter dieser Äußerungen zu übersehen. Während außergewöhnliche Männer in der Regel weder als Ausnahme noch vor der Folie „männlicher Normalität“ interpretiert werden , dient – aufgrund der asymmetrischen Konstruktion von Geschlecht – die Erwähnung des Außergewöhnlichen der „Ausnahmefrau“ häufig dazu , die „normale“, d. h. die passive , untergeordnete Frau zu konstruieren.34 Wie Natalie Zemon Davis betont hat , besteht in der Erforschung von Handlungsräumen und Lebenswelten außergewöhnlicher Frauen eine Möglichkeit , die kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft zu erkennen. In Bezug auf Marie de l’Incarnation , Maria Sybilla Merian und Glikl bas Judah Leib betont sie : “Yes , these three women were exceptional , but they were not insulated Heroines. In their inventiveness and courage , they drew on cultural resources , especially religious resources of their time. If they were located on “margins” – that is , far from centers of power and learning – they derived some benefit from the choices available to them in these fluid settings.”35
Davis interessiert sich für das Handeln von Menschen , die an den Rändern der Gesellschaft positioniert sind. Ihr Zugang ermöglicht ihr , eine Vielzahl von Handlungsoptionen sichtbar zu machen , die Menschen verfügbar waren.36 Damit wird Geschichte für sie zu einem offenen Modell , in dem nicht nur Frauen , sondern auch andere mar33 Ebda., S. 299 ff. 34 Claudia Ulbrich / David Sabean : Personkonzepte in der Frühen Neuzeit , in : Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog ( Wissenschaft in der Verantwortung ), hg. von Claudia von Braunmühl , Berlin 2003 , S. 99–112 , hier S. 106. 35 Natalie Zemon Davis : Heroes , Heroines , Protagonists , eingeleitet von Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich , in : L’Homme Z.F.G 12 / 2 ( 2001 ), S. 322– 328 , hier S. 328. 36 Ebda., S. 322 f.
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ginalisierte Gruppen ihren Platz finden.37 Während Davis ihre ProtagonistInnen im Spannungsfeld von individueller Besonderheit und historischer Bedingtheit verortet , schlägt Scott vor , sich der Kategorie Geschlecht mit Hilfe der Diskursanalyse zu nähern. In ihrem vielbeachteten Aufsatz Gender : A Useful Category of Historical Analysis kritisiert sie die bis dahin vorliegenden sozialhistorischen Ansätze und schlägt eine Definition von gender vor , die die diskursiven Konstruktionsprozesse ins Zentrum der Analyse rückt. 38 Dabei geht es ihr vor allem um die Frage , in welcher Weise die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz das soziale Leben organisiert und Machtbeziehungen strukturiert : “The core of the definition rests on an integral connection between two propositions : gender is a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes , and gender is a primary way of signifying relationships of power. Changes in the organization of social relationships always correspond to changes in representations of power , but the direction of change is not necessarily one way. As a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes , gender involves four interrelated elements : first , culturally available symbols that evoke multiple ( and often contradictory ) representations [ … ] Second , normative concepts [ … ]. The point of new investigation is [ … ] to discover the nature of the debate or repression that leads to the appearance of timeless permanence in binary gender representation. This kind of analysis must include a notion of politics as well as reference to social institutions and organizations – the third aspect of gender relationships.[ … ] The fourth aspect of gender is subjective identity.”39
Viele Fragen , die Joan Scott in ihren Aufsätzen aufgeworfen hat , und viele Diskussionen , die sie ausgelöst hat , wurden in Arbeiten zur Frühen Neuzeit aufgegriffen. In der Historischen Anthropologie und der Neuen Kulturgeschichte wurden Subjektivität und Erfahrung , Körper und Macht in den letzten Jahren wichtige Themen. Trotzdem blieben viele dieser Arbeiten in Bezug auf Geschlecht in einem binären Erklärungszusammenhang , der die Naturgegebenheit der Geschlechterdifferenz nicht hinterfragt. Nach wie vor wird gender oft mit Frauen gleichgesetzt und eher dazu benutzt , die Ge37 Als Beispiel für diesen Zugang sei verwiesen auf : Claudia Ulbrich : Shulamit und Margarete ( s. Anm. 18 ). 38 Zu Scotts Ansatz s. Claudia Opitz : Gender – eine unverzichtbare Kategorie der historischen Analyse. Zur Rezeption von Joan W. Scotts Studien in Deutschland , Österreich und der Schweiz“, in : Gender , hg. von Honegger / Arni ( s. Anm.27 ), S. 95–116 ; Andrea Griesebner : Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit , in : Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte , hg. von Veronika. Aegerter u. a., Zürich 1999 , S. 129–137 , bes. S. 128–131. 39 Joan W. Scott : Gender. A Useful Category of Historical Analysis , in : American Historical Review 91 ( 1986 ), S. 1053–1075 , hier S. 1067 f. ( deutsch : Gender : Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse , in : Selbst Bewusst. Frauen in den USA , hg. von Nancy Kaiser , Leipzig 1994 ).
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schlechterdifferenz zu bestätigen als sie zu erforschen. Wie Scott 2001 in ihrer kritischen Betrachtung über Die Zukunft von gender betonte , diente gender nur dort als provokative Kategorie , wo es „als eine offene Frage nach unterschiedlichen Konzeptionen von geschlechtlicher Differenz verstanden wurde.“40 In ihren eigenen Arbeiten wandte sie diese Offenheit auch auf die Achsen der Ungleichheit an. Für die Arbeitergeschichte des 19. Jahrhunderts zeigte sie , dass Geschlecht und Klasse auf der sprachlichen Ebene so stark miteinander verwoben waren , dass das eine nicht ohne das andere untersucht werden kann. Auch Politik , Geschlecht , Sexualität und Familie sind nach ihrer Auffassung diskursiv aufeinander bezogene Systeme und als solche zu analysieren.41 Damit geht Scott über die Trias ‚Rasse‘ , Klasse , Geschlecht , die seit Beginn der Feministischen Theorie in den 70er Jahren zunächst in der US-amerikanischen Forschung als grundlegend für die Untersuchung der Ungleichheit erachtet wurde , hinaus. Auch in der geschlechtergeschichtlich orientierten Frühneuzeitforschung wurde eine Erweiterung der Kategorien angemahnt , die als veränderbare Effekte spezifischer Machtdynamiken in ihrer wechselseitigen Verwobenheit untersucht werden sollten. Andrea Griesebner schlug vor , „Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie“ zu fassen und diskursanalytische und praxeologische Herangehensweisen zusammenzubringen , da „Subjekte an Schnittpunkten von verschiedenen Diskursen und Praktiken konstituiert werden und sich selbst konstituieren.“42 Unter Bezug auf mikrohistorische Studien verwies sie darauf , „dass je nach Raum , Zeit und Situation Klassifizierungssysteme wie Geschlecht , Rasse , Ethnie , Sexualität , Klasse , Stand , Sprache , Alter , Religion , Bildungsgrad etc. Gewicht haben.“43 Christina Lutter betonte , dass neben Geschlecht auch Wissen eine der zentralen Kategorien ist , über die sich Gesellschaften eine Ordnung geben und durch die Herrschaft organisiert wird. Die Bedeutung dieser Kategorien wird freilich erst deutlich , wenn sie historisiert und kontextualisiert werden. Am Beispiel des steirischen Doppelklosters Admont ist sie der Frage nachgegangen , welche Bedeutung die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben für die Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern hatte.44 Sylvie Steinberg hat nicht nur wichtige 40 Joan W. Scott : Die Zukunft von gender. Fantasien zur Jahrtausendwende , in : Gender , hg. von Honegger / Arni ( s. Anm. 27 ), S. 39–63 , hier S. 54. 41 Scott : Über Sprache ( s. Anm. 29 ), S. 295. 42 Vgl. dazu Andrea Griesebner : Geschlecht als soziale und analytische Kategorie , in : Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen / Perspektiven , hg. von Johanna Gehmacher u. a., Wien 2003 , S. 37– 52 ; sowie das von Andrea Griesebner und Christina Lutter hg. Themenheft der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit : Die Macht der Kategorien. Perspektiven historischer Geschlechterforschung , Wien 2002. 43 Griesebner : Geschlecht als soziale und analytische Kategorie ( s. Anm. 42 ), S. 47. 44 Christina Lutter : Geschlecht & Wissen , Norm & Praxis , Lesen & Schreiben. Monastische Reformgemeinschafen im 12. Jahrhundert , Wien / München 2005.
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Beiträge vorgelegt , in denen sie zeigen kann , auf welche Weise in der Travestie und Maskerade der Konstruktionscharakter von Geschlecht entlarvt wird45 , sie hat auch , ausgehend von Frauen wie Chrétienne d’Aguerre , comtesse de Sault , und Madame de Montravel , die eine aktive Rolle in den Religionskriegen gespielt haben , die Frage diskutiert , in welchem Verhältnis die Ordnung der Geschlechter und die Ordnung der Gesellschaft zueinander stehen. Auch hier geht es um Wechselwirkungen , Brüche und Überschneidungen.46 Michaela Hohkamp hat darauf hingewiesen , dass in partikularen Gesellschaften wie der Frühen Neuzeit nicht nur die Zuordnung zum Personenstand ( der Frauen , Männer , Ledigen oder Witwen ) den Lebensalltag strukturierten : „Daneben lenkten auch verwandtschaftliche Zusammenhänge , herrschaftliche Abhängigkeiten oder geschlechterspezifische Zuweisungen im alltäglichen Leben den Zugang zu und die Verfügung über soziale( n ), herrschaftliche( n ) und kulturelle( n ) Ressourcen.“
Sie schlägt vor , die verschiedenen Kategorien „als ein Ensemble von Elementen“ zu verstehen , „dessen Gestalt sich kaleidoskopartig verändern und laufend neu figurieren kann.“47 Die für die Frühe Neuzeit formulierten Ansätze , Geschlecht als mehrfachrelationale Kategorie zu fassen , verfolgen letztlich das gleiche Ziel wie die gegenwärtigen Debatten um Intersektionalität , doch stehen diese in einem ganz anderen Kontext. Einer der zentralen Ansatzpunkte war der Versuch , neue Ansätze in der Ungleichheitsforschung zu entwickeln. Ungleichheit und Intersektionalität
Unter Intersektionalität wird ein Konzept verstanden , mit dessen Hilfe die Wechselwirkungen und das Ineinandergreifen verschiedener sozialer Strukturen erfasst werden können.48 Die Stärke des Konzepts wird unter anderem darin gesehen , „die Mehrstimmigkeit ( sozialer Bewegungen ) hörbar zu machen , sowie die Multidimensionalität ( von Identitäten und sozialen Platzanweisern ) sichtbar zu machen.“49 Verbun45 Sylvie Steinberg : La confusion des sexes. Le travestissement de la Renaissance à la Révolution , Paris 2001. 46 Sylvie Steinberg : Hiérarchies dans l’Ancien Régime , in : De la différence des sexes , hg. von Riot-Sarcey ( s. Anm. 20 ), S. 133–160. 47 Michaela Hohkamp : Im Gestrüpp der Kategorien : zum Gebrauch von Geschlecht in der Frühen Neuzeit , in : Die Macht der Kategorien , hg. von Griesebner / Lutter ( s. Anm. 40 ), S. 6–17 , hier S. 7. 48 Helma Lutz / Maria Teresa Herrera Vivar / Linda Supik : Fokus Intersektionalität – Eine Einführung , in : Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts , hg. von Helma Lutz / Maria Teresa Herrera Vivar / Linda Supik , Wiesbaden 2010 , S. 9–34 , hier S. 9. Dort wird auch ausführlich auf die Rezeption der Debatte in unterschiedlichen Länder und die Übersetzungsproblematik in verschiedene Kulturen eingegangen. 49 Ebda., S. 12.
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den damit ist die Erwartung , marginalisierte Perspektiven integrieren und das komplexe Zusammenwirken von Privilegien und Benachteiligungen erkennen zu können. Die Metapher der Intersection ( Straßenkreuzung ) wurde von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw eingebracht , deren Anliegen es war , aufzuzeigen , welche Folgen es für die Struktur und Praxis von Herrschaft hat , wenn Ungleichheitskategorien lediglich additiv nebeneinander gestellt werden. Ganz konkret bezog sich ihre Intervention auf amerikanische Antidiskriminierungsgesetze , die – wie die Praxis herausgestellt hat – zugunsten schwarzer Männer und weißer Frauen wirkten , während schwarze Frauen systematisch benachteiligt blieben , „da die Kategorien Gender und Race in diesen Gesetzen als sich gegenseitig ausschließende Konzepte gefasst werden.“50 Schon in der von Crenshaw gewählten Metapher der Intersection wird eines der grundlegenden Probleme dieses Ansatzes deutlich : Er kann dazu führen , dass die Kategorien nach wie vor als kohärente Einheiten getrennt gedacht und ihre Verwobenheiten nur dann in den Blick genommen werden , wenn sich die Kategorien wie im beschriebenen Fall kreuzen.51 Zur Frage , wie der Anspruch , die Komplexität und Vielfalt von Kategorien in ihrer Verwobenheit und Dynamik herauszuarbeiten , eingelöst werden kann , gibt es kontroverse Debatten , die es als sinnvoll erscheinen lassen , von Intersektionalität als Perspektive oder offenem Konzept zu sprechen. Zu dieser Offenheit gehört es , sich einzugestehen , dass das Konzept so komplex ist , dass es zu diffusen Ergebnissen oder zu unerwünschten Reifizierungen führen kann. Die Hinwendung zu kategorial operierenden Zugängen ist allein schon deshalb nicht unproblematisch , weil Kategorien etwas Essentialistisches anhaftet und sie zu Vereinheitlichungen und Ausschlüssen tendieren. In diesem Zusammenhang sei noch einmal Joan Scott zitiert , die 2002 in ihrer Rede auf der Berkeshire-Conference ausführte : “As feminists , we have learned to be wary of such categories – Denise Riley has dubbed them ‘fictitious unities’ – because even as they offer terms for identification , they create hierarchies and obscure differences that need to be seen [ … ]. ( Paradoxically , the fact that they are fictitious makes their effects no less real. ) ‘Men’ and ‘women’ , we now know , are not simple descriptions of biological persons , but representations that secure their meanings through interdependent contrasts : strong / weak , active / passive , reasonable / emotional , public / private , political / domestic , mind / body. One term gains
50 Katharina Walgenbach : Gender als interdependente Kategorie , in : Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität , Diversität und Heterogenität , hg. von Katharina Walgenbach / Gabriele Dietze / Antje Hornscheidt / Kerstin Palm , Opladen u. a., 2007 , S. 23–64 , hier S. 49. Kimberlé W. Crenshaw : Mapping the Margins : Intersectionality , Identity Politics and Violence against Women of Color , in : The public nature of private violence , hg. von Albertson Fineman / M. und R. Mykitiuk , New York , S. 93–118. 51 Walgenbach : Gender als interdependente Kategorie ( s. Anm. 50 ), S. 49.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) its meaning in relation to the other and also to other binary pairs nearby. Indeed , ‘the other’ is a crucial ( negative ) factor for any positive identity – and the positive identity stands in superior relation to the negative. Women’s supposed lack of reason has historically been not only a justification for denying them education or citizenship ; it has also served to depict reason as a function of masculinity. The boundaries of public and private have not reflected the existing roles of men and women , but have instead created them ; the imagined map of gender territories has become the referent not only for social organization , but for the very meanings ( social , cultural , psychological ) of the differences between the sexes. If the meanings of difference are created by contrasting categories , within the categories coherent identities are produced by denying differences.”52
Was hier in Bezug auf Geschlecht ausgeführt ist , gilt in ähnlichem Maße auch für andere Kategorien. Es ist daher , wie Regina Becker-Schmidt betont , erforderlich , dass jede Achse sozialer Ungleichheit gesondert untersucht wird , bevor die Wechselwirkungen , Überschneidungen und Durchkreuzungen in den Blick genommen werden.53 Eine Möglichkeit dies zu tun , bietet sich – zumindest für die Geschichtswissenschaft – im mehrperspektivischen Erzählen. Je nachdem , ob Rasse , Klasse oder Geschlecht als Ausgangspunkt für eine ergebnisoffene Analyse gewählt werden , werden unterschiedliche Geschichten entstehen , durch die die jeweils andere Geschichte relativiert wird. Dabei stellt sich die Frage , ob diese Geschichten zu einer kohärenten Geschichte verknüpft werden können und sollen oder ob sie nicht doch mit all ihren Widersprüchen nebeneinander stehen bleiben müssen , wenn der Anspruch wirklich ernst zu nehmen ist , dass eine intersektionelle Analyse die Multidimensionalität von Identitäten und Bewegungen aufdecken kann. Letztlich kann es dabei nicht mehr darum gehen , kohärente Erzählungen zu liefern , vielmehr müsste das Aufzeigen von Fragmentierung und Partikularitäten – wie in der Postcolonial Theory gefordert – zu den Zielen einer solchen Analyse gehören. Ein solches Nebeneinander in der jeweiligen Verwobenheit der Kategorien ebenso wie der Standpunkte aufzuzeigen , würde über die additive Aneinanderreihung von Kategorien hinausgehen und eine Offenheit gegenüber den Ergebnissen ermöglichen , die in den Konzeptualisierungen von Intersektionalität nicht immer gegeben zu sein scheint. Die Komplexität intersektioneller Analysen birgt aber noch weitere Probleme. Sie beziehen sich nicht nur auf die intra-kategoriale , sondern auch auf die inter-kategoriale Ebene. Wenn mehrere Untersuchungsebenen kontextualisiert und gesellschaftstheoretisch eingebettet werden müssen , so stößt dies schnell an die Grenze der Möglich52 Joan W. Scott : Feminist Reverberations , in : differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 13 / 3 ( 2003 ), S. 1–23. Denise Riley : The Words of Selves : Identification , Solidarity , and Irony , Stanford 2000. 53 Regina Becker-Schmidt : ‘Class‘ , ‚gender‘ , ‚ethnicity‘ , ‚race‘ : Logiken der Differenzierung , Verschränkungen von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung , in : Achsen der Ungleichheit , hg. von Klinger / Knapp / Sauer , ( s. Anm. 19 ), S. 56–83 , hier S. 56 f.
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keiten einer Umsetzung in der Forschungspraxis.54 Vor allem aber ist es erforderlich , wichtige Vorentscheidungen zu treffen. Sie beziehen sich zum einen auf die Wahl der Kategorien , die als relevant erachtet werden , zum andern aber auch auf die Untersuchungsebenen. Während auf der Mikroebene eine vergleichsweise große Zahl von Kategorien analysiert werden können , lassen Forschungen über sozialstrukturelle oder institutionelle Ungleichheiten auf der Makroebene nur eine begrenzte Anzahl von Kategorien zu.55 Die neuere deutsche Ungleichheitsforschung konzentriert sich meist auf Klasse , ‚Rasse‘ und Geschlecht und knüpft damit an Forschungstraditionen aus dem US-amerikanischen Raum an.56 Gabriele Winker und Nina Degele gehen in ihrem Versuch , ein theoretisches Konzept von Intersektionalität zu entwickeln , für die Untersuchung der Makroebene von vier Kategorien ( Klasse , Geschlecht , Rasse , Körper ) aus , andere schlagen – ähnlich wie es in der historischen Frühneuzeitforschung geschehen ist – eine erheblich größere Zahl von Kategorien vor und möchten auch so unterschiedliche Aspekte wie Nation , Gesundheit , Alter oder Sesshaftigkeit kategorial in die Analyse integrieren. Die – oft ethnologisch begründete – Migrationsforschung sieht im Zusammenhang von Geschlecht und Ethnizität eine der zentralen Zukunftsfragen , da Migration soziale Ungleichheit fördere und mit kollektiv zugewiesener Geschlechterungleichheit verwoben sei.57 Letztlich sind alle hier verhandelten Kategorien Produkte der Moderne und der Postmoderne und keineswegs geeignet , vormoderne Gesellschaften zu erklären. Dennoch lohnt es sich darüber nachzudenken , ob und auf welche Weise moderne Kategorien mit vormodernen Konzepten in Bezug gesetzt werden können. Christina Lutter , die diesen Vorschlag gemacht hat , vermutet , „dass die Kategorie ‚Klasse / class‘ mit dem vormodernen Konzept ordo , oder aber die Kategorie ‚race‘ mit jenem von Ethnizität bzw. Herkunft hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktionen und Wirkungsweisen durchaus verglichen werden können.“58
In vielen Fällen wird aber für vormoderne Gesellschaften ein ganz anderes Forschungsdesign erforderlich sein. Um die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu ermitteln , dürften „Kategorien wie Verwandtschaft , Generation , ziviler Stand oder auch die Position in der Erbfolge“ wesentlich wichtiger 54 Degele : Gender / Queer Studies ( s. Anm. 21 ), S. 144. 55 Ebda., S. 145. 56 Vgl. etwa Klinger / Knapp : Achsen der Ungleichheit ( s. Anm. 19 ). Für den deutschsprachigen Kontext ist ‚Rasse‘ ein umstrittenes Konzept. Es wird oft durch Ethnizität ersetzt oder ergänzt. 57 Ilse Lenz / Andrea Germer / Brigitte Hasenjürgen : Einleitung , in : Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive , hg. von Ilse Lenz / Andrea Germer / Brigitte Hasenjürgen , Opladen 1996 , S. 7–13 , hier S. 8. 58 Lutter : Geschlecht & Wissen ( s. Anm. 44 ), S. 4.
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gewesen sein als diejenigen , die sich für die Untersuchung moderner Gesellschaften anbieten.59 Trotzdem wäre auch in der Frage der Kategorienbildung ein transepochaler Dialog aufschlussreich.60 Er würde freilich das Projekt Intersektionalität noch schwieriger machen , als es ohnehin schon ist. Auch wenn es in den neueren Debatten weniger deutlich gesagt wird als in den älteren , handelt es sich bei der Frage , welche Kategorien der Wahrnehmung zu zentralen Analysekategorien erhoben werden , letztlich nicht nur um eine erkenntnistheoretische , sondern auch um eine wissenschaftspolitische Entscheidung.61 Das Problem der Untersuchungsebenen scheint weniger umstritten. Gabriele Winker und Nina Degele berücksichtigen in ihrem Vorschlag für eine Mehrebenenanalyse die Sozialstrukturen ( Makro- / Mesoebene ), Prozesse der Identitätsbildung ( Mikroebene ) und kulturelle Symbole ( Repräsentationsebene ).62 Helma Lutz schlägt unter Bezugnahme auf die britische Soziologin Floya Anthias vor , die Kreuzung von Differenzlinien auf vier Ebenen zu untersuchen : „a ) auf der Ebene der ( Diskriminierungs- )erfahrung ; b ) auf der Akteursebene ( intersubjektive Praxis ); c ) auf der institutionellen Ebene ( Institutsregime ) und d ) auf der Ebene der Repräsentation ( symbolisch und diskursiv ).“63 Nimmt man diese Vorschläge ernst und versucht , sie in die Praxis umzusetzen , so wird aus Intersektionalität ein so hybrides Forschungsprogramm , dass es kaum mehr operationalisierbar ist. Am ehesten werden die Ansprüche intersektioneller Analysen auf der Mikroebene einlösbar. Hier wurden sie vor allem genutzt , um Identitätskonstruktionen zu erforschen. In einem provokativen und anregenden Aufsatz hat Cornelia Klinger 2003 die Bevorzugung von Identität als Forschungsthema der Ungleichheitsforschung hinterfragt 59 Andrea Griesebner / Christina Lutter : Mehrfach relational. Geschlecht als soziale und analytische Kategorie , in : Die Macht der Kategorien , hg. von Andrea Griesebner / Christina Lutter ( s. Anm. 42 ), S. 3. 60 Unter dem Label „Gegenlektüre“ bzw. transkultureller oder transepochaler Dialog wurden in der FG 530 : Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive Ansätze zusammengefasst , kontextnahe und kontextferne Kompetenzen bei der Bearbeitung eines Textes zusammenzubringen. Als Beispiel für diesen methodischen Zugang sei verwiesen auf : Elke Hartmann / Gabriele Jancke : Roupens ‚Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs‘ ( 1921 / 1951 ) im transepochalen Dialog – Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität , in : Selbstzeugnis und Person – Transkulturelle Perspektiven , ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 20 ), hg. von Hans Medick / Angelika Schaser / Claudia Ulbrich , Köln / Weimar / Wien 2012 , S. 31–71. Gabriele Jancke / Sebastian Cwiklinski : Räume des Selbst – Gastfreundschaft im Reisebericht des tatarischen gelehrten Publizisten Abdurraschid Ibrahim ( frühes 20. Jahrhundert ), in : Räume des Selbst. Selbstzeugnisse transkulturell ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 19 ), hg. von Andreas Bähr / Peter Burschel / Gabriele Jancke , Köln / Weimar / Wien 2007 , S. 131–150. 61 Griesebner / Lutter : Mehrfach relational ( s. Anm. 59 ), S. 4. 62 Winker / Degele : Intersektionalität ( s. Anm. 15 ), S. 18. 63 Helma Lutz : ‘Die 24-Stunden-Poli‘ – Eine intersektionale Analyse transnationaler Dienstleistungen , in : Achsen der Ungleichheit , hg. von Klinger / Knapp / Sauer ( wie Anm. 19 ), S. 210–234 , hier S. 223.
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und einen „social ( re )turn“ gefordert.64 Um die „Sackgasse der Identitätspolitik“65 zu überwinden , müssten ‚Rasse‘ , Klasse und Geschlecht als Kategorien der Gesellschaftsanalyse neu gewonnen werden. Erst wenn man wisse , wie und wodurch die Kategorien Klasse , ‚Rasse‘ und Geschlecht konstituiert sind , könne man nach den Erfahrungen der Subjekte und ihren Subjektpositionen fragen. Angesichts der neuen Dimension sozialer Ungleichheit in globalen und europäischen Kontexten forderte sie „Ungleichheit als Prinzip der modernen Gesellschaft“ zu analysieren und zu fragen , „inwiefern und inwieweit die moderne Gesellschaft zu ihrem Funktionieren der Ungleichheit bedarf , das heißt , auf ( alter ) Ungleichheit aufbaut und ( neue ) Ungleichheit produziert“.66 Eine ihrer Thesen ist , dass Ungleichheit im Zuge der Säkularisierung der westlichen Welt nicht verschwand , sondern einem Formenwandel unterlag. Zusammen mit Gudrun-Axeli Knapp plädierte sie 2005 schließlich „für einen integrierten Blick auf Ungleichheit entlang der Achsen von Klasse , ‚Rasse‘ / Ethnizität und Geschlecht als differenten , aber miteinander in Wechselwirkungen stehenden gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen“. Diese Achsen werden im Rahmen einer an Marx und Weber orientierten Gesellschafttheorie begründet. Da sich Klasse , ‚Rasse‘ / Ethnizität und Geschlecht „als Relationen gesellschaftlicher Ungleichheit sowie als Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse“67 im Übergang zur Moderne ausgebildet hätten , plädieren sie dafür , auch die Geschichte der Ungleichheit unter einer erweiterten Perspektive neu zu erforschen , um „Formen und Konfigurationen von Ungleichheit und Differenz in unterschiedlichen Phasen der gesellschaftlichen Veränderung genauer als bisher bestimmen zu können“.68 Perspektiven für die Frühneuzeitforschung
Angesichts der steigenden Bedeutung von Ungleichheit in gegenwärtigen Gesellschaften wäre der „social ( re )turn“, den Cornelia Klinger angemahnt hat , auch in der Frühneuzeitforschung angebracht , vorausgesetzt er ist , wie in der soziologischen Ungleichheitsforschung in geschlechtergeschichtlicher Erweiterung mit einer epistemologischen Wende verknüpft. Zumindest ebenso wichtig wäre es aber , die zahlreichen , bereits vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Frühen Neuzeit zu rezipieren , die Geschlecht nicht als isolierte oder additive , sondern als integrative Kategorie genutzt 64 Cornelia Klinger : Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse , Rasse und Geschlecht , in : Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II , hg. von Gudrun-Axeli Knapp / Angelika Wetterer , Münster 2003 , S. 14–49 , hier S. 24. 65 Ebda., S. 25. 66 Ebda., S. 21. 67 Klinger / Knapp : Achsen der Ungleichheit ( wie Anm. 19 ), S. 19 f. 68 Ebda., S. 21.
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und wichtige Impulse gegeben haben , soziale Ungleichheit in der Ständegesellschaft neu zu denken. Zu erinnern ist etwa an die Studie von Isabel Hull , die die Verwobenheit von Staat , Gesellschaft und dem System sexueller Regulierung für den Übergang zur Moderne untersucht hat69 oder an Michaela Hohkamp , die in ihren Forschungen aufgezeigt hat , in welchem Maße sich das Politische über komplexe verwandtschaftliche Netzwerke konstituierte.70 Auch wenn beide Ansätze ganz unterschiedliche Perspektiven einnehmen , wird deutlich , dass eine Neukonfiguration des Konzepts Ständegesellschaft , die unter anderem Diskurse über Körper und Sexualität ebenso wie geschlechterspezifische Praktiken der Verwandtschaft integriert , erforderlich ist. Dass dabei auch das System sozialer und politischer Werte neu fokussiert werden müsste , hat Renate Blickle in ihren Überlegungen zu Nahrung und Eigentum als Kategorien der ständischen Gesellschaft deutlich gemacht und darauf verwiesen , dass in der Norm der Hausnotdurft „die hierarchische Ordovorstellung der ständischen Gesellschaft mit einem egalitären Existenzrecht“ verbunden war.71 Formen von Gleichheit und Ungleichheit , die soziale Reichweite von Konzepten und ihre Situiertheit müssten sehr viel präziser gefasst werden als bislang , wenn man Kategorien , die in der jeweiligen Gesellschaft zentral waren , in die Analyse einbeziehen will. Auch Arbeiten , die sich mit einer Neubestimmung von Person und Selbst in der Frühen Neuzeit befassen ,72 legen nahe , dass ständische Gesellschaft anders als bislang verortet werden müsste. So müsste z. B. der Aspekt der Gleichheit vor Gott , der in zahlreichen religionsgeschichtlichen Forschungen zur Frühen Neuzeit gerade in Bezug auf Frauen angesprochen wird , in die Untersuchung sozialer Ungleichheit und in ein zu entwerfendes Konzept von ständischer Gesellschaft integriert und nicht als getrenntes Problem abgehandelt werden.73 Die Studie von Sheilagh Ogilvie über den Beitrag von Frauen zur vorindustriellen Wirtschaft und den Einfluss von Zünften und Kommunen auf die 69 Isabel V. Hull : Sexuality , state , and civil society in Germany , 1700–1815 , Ithaca [ u. a. ] 1996. 70 Michaela Hohkamp : Trans-dynasticism at the Dawn of the Modern Era : Kinship dynamics among Ruling Families , in : Trans-regional and Transnational Families in Europe and Beyond : Experiences Since the Middle Ages , hg. von Francesca Trivellato u. a., New York 2010 , S. 128–143. Tanten. Themenheft der Zeitschrift WerkstattGeschichte 46 / 2 ( 2007 ), hg. von Michaela Hohkamp. 71 Renate Blickle : Nahrung und Eigentum als Kategorien der Ständischen Gesellschaft , in : Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität , hg. von Winfried Schulze , München 1988 , S. 73–93. 72 DFG FG 530 : Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive ( http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fg530 / ) 73 Das Spannungsfeld zwischen spiritueller Gleichheit und sozialer Ungleichheit wird beispielsweise angedeutet bei Nicole Grochowina : Zwischen Gleichheit im Martyrium und Unterordnung in der Ehe. Aktionsräume von Frauen in der täuferischen Bewegung , in : „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform , hg. von Anne Conrad , Münster 1999 , S. 95–113. In dem einleitenden Beitrag zu diesem Sammelband : „Aufbruch der Laien – Aufbruch der Frauen. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte der Reformation und der katholischen Reform“ fordert Anne Conrad , Ungleichheit mehrperspektivisch zu untersuchen ( in Bezug auf Geschlechter , Laien / Kleriker oder ständische Unterschiede ).
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Arbeitsmöglichkeiten von Frauen mögen schließlich als einer von vielen möglichen Belegen dafür angeführt werden , dass soziale Ungleichheit in den letzten Jahren unter geschlechtergeschichtlichem Blickwinkel neu erforscht wurde.74 Geschlecht wird in den erwähnten Arbeiten nie isoliert betrachtet , sondern immer in der Verwobenheit mit anderen Kategorien , theoretisch gesprochen als „mehrfachrelationale Kategorie“ angewendet. Ob von den soziologischen Ungleichheitsforschungen , insbesondere von dem Konzept der Intersektionalität , neue Impulse ausgehen , bleibt abzuwarten. Immerhin scheint es Ausdruck für die Öffnung neuer Denkräume zu sein. In ihm bündelt sich die Bereitschaft , Ungleichheit in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit unter Einbeziehung mehrerer Ungleichheitskategorien und unterschiedlicher Untersuchungsebenen zu erforschen und mit der Forderung des both / and jene Gräben zu überwinden , die es in Bezug auf diskursanalytische und praxeologische Forschungsansätze gegeben hat und offensichtlich immer noch gibt.75 Wird Intersektionalität als offenes Konzept , als Perspektive oder als eine neue Art , Fragen zu stellen , verstanden , so könnte sie ein Weg sein , das Haus der Allgemeinen Geschichte umzubauen.
74 Sheilagh C. Ogilvie : A bitter living : women , markets , and social capital in early modern Germany , Oxford [ u. a. ] 2003. 75 Innerhalb der deutschen Forschung werden diskursanalytische Zugänge besonders vehement von den eingangs erwähnten Historikern abgelehnt. Hier ist noch einmal auf Wolfgang Reinhard hinzuweisen , der sich in Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie , München 2004 polemisch über die Personen und Forschungsansätze von Foucault und Butler äußert und statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit deren Zugängen essayistische Darstellungs- und biologistische Argumentationsweisen bevorzugt. Seine Aussagen über Foucault ( S. 43 ) sind den Entgleisungen von Hans-Ulrich Wehler : Die Herausforderung der Kulturgeschichte , München 1998 durchaus ähnlich. Zu diesem Zusammenhang s. Peter Schöttler : Prologe im Himmel der Theorie. Die Historiker Richard Evans und Hans-Ulrich Wehler rufen zum Kampf gegen die Postmoderne , in : Zeit online , Kultur , 10. September 1998 ; und Ders. : Nach der Angst. Was könnte bleiben vom linguistic turn ? , in : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 ( 2011 ), S. 135–151.
Tränenspektakel. Die Lebensgeschichte der Luise Charlotte von Schwerin ( 1731 ) zwischen Frömmigkeitspraxis und Selbstinszenierung In der christlichen Frühen Neuzeit gab es eine ausgeprägte Tradition des Weinens , die in der Literatur und Musik , der Ikonographie und der Poesie ihren Niederschlag gefunden hatte.1 Zu den berühmten „Weinern“ gehörten neben den mittelalterlichen Ordensgründern Dominikus und Franz von Assisi auch Ignatius von Loyola , in dessen Tagebuch das Vergießen von Tränen akribisch verzeichnet ist. Allein für die ersten vierzig Tage erwähnt er , 175 mal geweint zu haben. In der zweiten Hälfte seines Tagebuchs notiert er , wann , wo und wie oft Tränen geflossen sind , und für die letzten neun Monate beschränkt er sich darauf , die einzelnen Tränengaben in einem Register zu dokumentieren.2 Der weinende Petrus und die zerknirschte Maria Magdalena waren beliebte Darstellungen in der Kunst , und die Schriften der Katharina von Siena sind ein beredtes Zeugnis dafür , dass sich auch Frauen intensiv mit Tränen befasst hatten.3 Wenn wir diese Texte heute lesen oder die Bilder der Weinenden betrachten , so legen zumindest einige davon die Assoziation mit „Spektakel“ nahe. Schon alleine durch die sprachliche oder visuelle Repräsentation werden das „Thränenmeer“, der „Thränenstrom“ oder das „Thränenbad“ zu öffentlichen Handlungen , die auf AkteurInnen ebenso wie auf potentielle LeserInnen und BetrachterInnen verweisen.4 Manche ForscherInnen gehen davon aus , dass das Weinen bis zur Barockzeit eher in einem religiösen Kontext angesiedelt war , sich dann aber in die weltliche Sphäre verlagerte. Der Wechsel vollzog sich im späten 18. Jahrhundert , das geprägt war durch seine sentimentale Rührseligkeit , die häufig mit den Tränen von Jean-Jacques Rousseau verbunden wird.5 Erst im 19. Jahrhundert wurden die Tränen der Privatsphäre 1 Für ausführliche Literaturverweise vgl. Claudia Ulbrich : „Je fondis en larmes“. L’histoire de la comtesse de Scheverin , écrite par elle-même à ses enfants ( 1731 ): un document qui peut servir de source pour une histoire des émotions , in : Amour divin , amour mondain dans les écrits du for privé de la fin du Moyen Age à 1914 , Colloque international de Pau , 3 et 4 juin 2010 , Actes réunis et présentés par Maurice Daumas , Pau 2011 , S. 273–287. 2 Vgl. Joseph de Guibert ( S.J. ): La spiritualité de la compagnie de Jésus. Esquisse historique , Roma 1953. 3 Vgl. Barbara Vinken : „Tränen zum Leben , Tränen zum Tode“. Katharina von Siena , Petrarca , Boccaccio , Theresa von Avila , Zola , in : Tränen , hg. von Beate Söntgen / Geraldine Spiekermann , München 2008 , S. 17–25. 4 Für die sprachliche Vielfalt sei auf die Einträge von „Thräne“ bis „Thränenzuber“ im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm verwiesen : , Zugriff : 7. 2. 2012. 5 Vgl. Harald Nehr : Allegorien des Verstehens , oder ‚A propos du „style“ de Rousseau‘ , in : Krisen des Verstehens um 1800 , hg. von Sandra Heinen / Harald Nehr , Würzburg 2004 , S. 191–221 , S. 205.
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zugeordnet und wechselten das Geschlecht : Nachdem die weinenden Helden des Mittelalters und die empfindsamen Männer und Frauen im Umbruch zur Moderne verschwunden waren , wurde Weinen zunehmend weiblich konnotiert.6 Im Folgenden soll es nicht darum gehen , dieser linearen Geschichte des Weinens , die eingebettet ist in die modernisierungstheoretische Erzählung von der Säkularisierung , der Individualisierung und der Entstehung getrennter Sphären , ein weiteres Beispiel hinzuzufügen , vielmehr soll danach gefragt werden , in welcher Weise die Tradition des Weinens in den autobiographischen Texten der Luise Charlotte von Schwerin ( 1684–1732 ) aufgegriffen und mit dem Spektakel verbunden wurde. Das Spektakel ist ein fester Bestandteil des politischen und religiösen Lebens Europas im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Es findet seinen Ausdruck in vielen unterschiedlichen Formen , an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Gelegenheiten. Feierliche öffentliche Akte wie die Krönung eines Königs , die Weihe eines Bischofs oder das Ableisten des Huldigungseids wurden als performative Handlungen gedeutet und ihre Wirkmächtigkeit hervorgehoben.7 In diesem Zusammenhang wurde in der Forschung auch auf die Theatralität der politischen Kultur der Frühen Neuzeit hingewiesen.8 Sie ist in einer spezifischen Weise mit der Traditionsgebundenheit der frühneuzeitlichen Gesellschaft verknüpft. „Traditionen unterliegen“, wie Peter Burke betont hat , „der ständigen Umformung , Neuinterpretation und Rekonstruktion.“9 Die Adap tion der Tradition schafft Raum für neue geschlechterspezifische Aneignungslogiken. Dies gilt für die Tränen ebenso wie für das Spektakel. Tränen , über die extensiv geschrieben wird , sind eine gute Möglichkeit , sich dem Spektakel in geschlechtertheoretischer Perspektive zu nähern. Dies soll im Folgenden am Beispiel der „Histoire De la Vie de la comtesse de Scheverin écrite par elle même à ses enfants“ versucht werden.10 6 Vgl. Piroska Nagy : Le don des larmes au Moyen Age. Un instrument spirituel en quête d’institution ( Ve– XIIIe siècle ), Paris 2000 , S. 26. 7 Vgl. Gert Althoff / Barbara Stollberg-Rilinger : Spektakel der Macht ? Einleitung , in : Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800 , hg. von Gert Altmann / Jutta Götzmann / Matthias Puhle / Barbara Stollberg-Rilinger , Darmstadt 2008 , S. 15–19. 8 Vgl. Doris Kolesch : Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt / M. / New York 2006. 9 Peter Burke : Die Geschichte des „Hofmann“. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten , Berlin 1996 , S. 13. 10 Ich zitiere im Folgenden nach dem Manuskript in der Bibliothèque Méjanes , Aix-en-Provence , ms 1190– 1191 : Histoire De la Vie de madame la comtesse de Scheverin écrite par elle même a ses enfans. Eine Edition des Textes soll 2012 erscheinen unter dem Titel : Mémoires de la comtesse de Schwerin. Une conversion au XVIIIe siècle , hg. von Maurice Daumas / Claudia Ulbrich , unter Mitarbeit von Sebastian Kühn / Nina Mönich / Ines Peper , Bordeaux 2012. Angaben über die Autorin und den Text sind dieser Ausgabe entnommen. Die Quelle wird im Folgenden abgekürzt : „Histoire“. Zur Interpretation vgl. auch Claudia Ulbrich : Person and Gender : The Memoirs of the Countess of Schwerin , in : German History 28 ( 2010 ), 296–309.
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Vermutlich zwischen 1723 und 1725 hat Luise Charlotte von Schwerin ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben , die in einer 1. 400 Folioseiten umfassenden Abschrift , die 1731 in Köln angefertigt wurde , überliefert ist. Wer die „Histoire“ abgeschrieben hat und warum dies geschehen ist , ließ sich bislang nicht ermitteln , doch kann davon ausgegangen werden , dass keine wesentlichen Änderungen vorgenommen wurden.11 Die „Histoire“ wurde zwar nie publiziert , richtete sich aber explizit an eine größere Öffentlichkeit. Der Text ist , wie es beim Adel jener Zeit üblich war , in französischer Sprache verfasst. In ihm ist sehr oft von Tränen die Rede. Manchmal wird nur eine Träne erwähnt , oft aber fließen die Tränen in Strömen , weint jemand im Überfluss oder „badet“ in Tränen. Die Tränen werden nicht nur von der Autorin vergossen , sondern auch von anderen , von Männern und Frauen , von Einzelnen und von Gruppen , von Katholiken und Protestanten , von Armen und Reichen , von Jungen und Alten. Insgesamt kommt das Wort „larme“ im Singular oder Plural mehr als 150 mal im Text vor , daneben findet sich mehrfach das Wort „pleurs“, manchmal in Verbindung mit Lachen ( „les ris et les pleurs“ ) oder aber mit Klagen ( „mes pleurs et mes plaintes“ ). Ein wichtiger Referenztext für die „Histoire“ sind die „Bekenntnisse“ des heiligen Augustinus , dessen Tränenschilderungen die Literatur und Kunst bis in die Moderne nachhaltig beeinflusst haben.12 Die Bezugnahme auf Augustinus verweist auf die christliche Tradition des Weinens , die im Folgenden skizziert wird , bevor in einem zweiten Schritt die Autorin , der Text und die Schreibsituation dargestellt und drittens die Träneninszenierungen analysiert werden. Vor diesem Hintergrund soll abschließend die Frage nach dem Verhältnis von Tränen , Spektakel und Geschlecht diskutiert werden. 1. Die christliche Tradition des Weinens
In der christlichen Tradition spielte das Vergießen von Tränen eine bedeutende Rolle. Tränen wurde eine reinigende Wirkung zugesprochen. Wie die Sünderin in Lk 7 , 36–50 , die mit ihren Tränen die Füße Jesu gewaschen hat , Vergebung ihrer Sünden erlangte , konnten Menschen , die ihre Sünden bereuten , rein gewaschen werden. Ihre Tränen waren nicht nur Ausdruck des Kummers , sondern auch Zeichen der erlösenden Gnade Gottes. Die Tränengabe war Belohnung für ein Gott gefälliges Leben und Zeichen für eine große Gottesnähe , wie sie vor allem die Heiligen erfahren hatten.13 Die Heiligenlegenden sind voll von Geschichten über Tränen , die im Überfluss ge11 Vgl. dazu die textkritischen Überlegungen in der Edition : Daumas / Ulbrich : Mémoires ( s. Anm. 10 ). 12 Zu Augustinus vgl. Peter Brown : Augustine of Hippo. A Biography , Revised Edition with a New Epilogue , Berkeley 2000. 13 Vgl. Nagy : Don ( s. Anm. 6 ).
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flossen sind. Im Laufe des Mittelalters bildete sich eine ritualisierte Tränenkultur aus. Einer von vielen Belegen für die Bedeutung , die man den richtigen Tränen zumaß , sind die mittelalterlichen Tränenkataloge , wie wir sie etwa bei Bonaventura finden. Die Vorstellungen , wem die Gnade der „Tränengabe“ zukomme , waren allerdings vielen Veränderungen unterworfen. In der Spätantike und im Mittelalter wurde die Tränengabe zunächst als Zeichen monastischer Spiritualität betrachtet. Seit dem 13. Jahrhundert verbreitete sich die Auffassung , dass auch Laien die Liebe Gottes in der Tränengabe erfahren könnten. Sie sollten in Predigten lernen , sich in das Leiden Christi hineinzuversetzen und ihre Sünden zu beweinen.14 Wie wir aus den Schriften der Katharina von Siena erfahren können , gab es neben dem geistigen Weinen , das auf Gott ausgerichtet war , auch das bloß physiologische Weinen. Wenn im Körper zu viel Flüssigkeit war , wurde sie ausgeschieden. Das konnte auch mit Hilfe von Tränen geschehen , die im Gegensatz zur Tränengabe allerdings bedeutungslos waren. Auch fehlgeleitete Liebe konnte zu Tränen rühren. Diese Tränen galten als gefährlich , sie konnten die Seele töten.15 Im Zuge der katholischen Reform wurde die mittelalterliche Lacrimologie von den Jesuiten wieder aufgegriffen. Bartolomeo Ricci unterschied um 1600 das Weinen aus Betroffenheit und Zerknirschung ( compunctio / contritio ), aus Mitleid ( compassio ) und aus innerer Rührung ( dulcedo ). Tränen zu vergießen gehörte in dieser Zeit ganz selbstverständlich zum religiösen Leben. Die Tränen machten die innere Reue , Umkehr und Gnadenzuwendung sichtbar.16 Sie dienten der „Katharsis“, der Reinigung der Seele , und sollten zu einer vollkommenen Frömmigkeit führen. Auch in der Musik , der Poesie und der Ikonographie hat die christliche Kultur des Weinens im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche Spuren hinterlassen. Ähnlich wie die Bilder sollten auch Predigten Gefühle übertragen. Die Gläubigen sollten von den inneren Regungen des Predigers bewegt werden und gleiches wie dieser empfinden.17 Auch der Protestantismus kannte eine ausgeprägte Kultur des Weinens. Johannes Arndt ( 1555–1621 ), Joachim Lütkemann ( 1608–1655 ), Heinrich Müller ( 1631–1675 ) und Christian Scriver ( 1629–1693 ) schrieben Traktate über das Weinen. Die Pietisten sahen im Weinen ein öffentliches Zeichen einer verinnerlichten Frömmigkeit , versuchten aber , das Weinen zu disziplinieren. Tränen der Rührung , der Freude oder Trauer wurden ebenso abgelehnt wie Tränen aus Angst vor der Strafe Gottes. Das Weinen aus Zer14 Vgl. Justin Stagl : Nichtlachen und Nichtweinen als negative Gesten , in : Überraschendes Lachen , gefordertes Weinen : Gefühle und Prozesse , Kulturen und Epochen im Vergleich , hg. von August Nitschke / Justin Stagl / Dieter R. Bauer , Wien / Köln / Weimar 2009 , S. 91–108 , S. 103 f. 15 Vgl. Vinken : Tränen ( s. Anm. 3 ), S. 17–25. 16 Vgl. Joseph Imorde : Die „Gabe der Tränen“ in der religiösen Kultur der Frühen Neuzeit , in : Tränen , hg. von Söntgen / Spiekermann ( s. Anm. 3 ), S. 41–55 , S. 42. 17 Vgl. Imorde : Gabe ( s. Anm. 16 ), S. 52.
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knirschung ( contritio ) galt dagegen als eine Möglichkeit , Gottes Liebe anzunehmen und Gott zu lieben. Man war davon überzeugt , dass die Tränen die Gläubigen untereinander mit Christus verbanden.18 Tränen waren im 17. Jahrhundert auch zu einem Thema der Wissenschaft geworden , wobei wissenschaftliche Erkenntnis und religiöse Praxis aufeinander Bezug nahmen. Über Jahrhunderte waren die Vorstellungen über den Tränenapparat durch Galen bestimmt. Mit der Intensivierung des Interesses am Körper seit dem 16. Jahrhundert beschäftigten sich die Ärzte intensiv mit der Frage nach dem Ursprung der Tränen. Verbreitet war die Vorstellung , dass Tränen durch Destillation entstehen : Dämpfe steigen im Körper auf , sammeln sich im Gehirn , kondensieren und werden unter anderem als Tränen ausgeschieden. Der Destillierofen wurde im barocken Bildprogramm der Tränengabe , die man als Heilmittel und als Weg zum ewigen Seelenheil verstand , zum beliebten Sinnbild der Tränenproduktion. Neue Vorstellungen über Tränen breiteten sich erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus , nachdem es dem dänischen Anatom , Geologen und Theologen Niels Stensen ( 1638–1686 ) gelungen war , die Tränendrüse zu entdecken. Man stellte sich den Tränenapparat als Teil eines Mechanismus vor , in dem Flüssigkeitsströme nach hydromechanischen Gesetzen zirkulierten. Die Verbindung zwischen Körper und Seele wurde diesen Auffassungen zufolge durch eine Nervenflüssigkeit hergestellt. Durch sie sollten Seelenregungen kontrolliert werden. Im Anschluss an diese neuen Erkenntnisse wurden die Fragen der schädlichen Folge von Tränenergüssen ebenso diskutiert wie die Gefahren , Tränen zu unterdrücken und ihr Nutzen , den man darin sah , das Gehirn von schädlichen Säften zu entlasten.19 Nicht nur das Weinen , auch das Nichtweinen stellte im christlichen Europa der Frühen Neuzeit ein Problem dar. Lange Zeit galt das Zurückhalten der Tränen als Beweis der Hexerei.20 Im 17. Jahrhundert lehnten Vertreter der Hexenlehre wie der gelehrte Jesuit Martin Delrio und der reformierte Pfarrer Bartholomäus Anhorn diese Auffassung jedoch ab und vertraten die Überzeugung , dass „manche Person bedingt durch ihre Art nicht weinen könne“.21 Tränen waren , dies mag der kurze Blick auf die christliche Tradition des Weinens gezeigt haben , ein wesentlicher Bestandteil frühneuzeitlicher Frömmigkeitspraxis. Die theologischen Bemühungen , das Weinen zu generieren , zu kontrollieren und zu kana18 Vgl. Christian Soboth : Tränen des Auges , Tränen des Herzens. Anatomien des Weinens in Pietismus , Aufklärung und Empfindsamkeit , in : Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert , hg. von Jürgen Helm / Karin Stukenbrock , Stuttgart 2003 , S. 296 ff. 19 Vgl. Irmgard Müller : Dakryologia : Physiologie und Pathologie der Tränen aus medizinhistorischer Sicht , in : Tränen , hg. von Söntgen / Spiekermann ( s. Anm. 3 ), S. 75–92. 20 Vgl. Stagl : Nichtlachen ( s. Anm. 14 ), S. 105. 21 Ursula Brunold-Bigler : Teufelsmacht und Hexenwerk. Lehrmeinungen und Exempel in der „Magiologia“ des Bartholomäus Anhorn ( 1616–1700 ), Chur 2003 , S. 321.
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lisieren , um die Gläubigen mit ihren Tränen auf den rechten Weg zu bringen , wurden begleitet von barocken Bildprogrammen , die die heilbringende Wirkung des Weinens unterstrichen , von Predigten , die die inneren Regungen der Seele des Priesters auf die Gläubigen übertragen sollten und von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und theologischen Diskursen über die Ursprünge der Tränen , die Vor- und Nachteile des Weinens und die Deutung des Nichtweinens. Die Tränen , die in der „Histoire“ vorkommen , müssen vor diesem Hintergrund gelesen werden. Die Autorin Luise Charlotte von Schwerin erwähnt regelmäßig , wenn sie sich oder andere beschreibt , ob und wie viele Tränen geflossen waren , ob das Weinen mit einer inneren Regung verbunden war , ob sie oder andere durch das Weinen zu Tränen gerührt wurden oder ob sie regungslos blieben. Um die Sprache der Tränen zu entziffern und herauszufinden , inwieweit Luise Charlotte von Schwerin an eine christliche Tradition anknüpft , inwieweit sie sich diese aneignet und umdeutet und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus für sie ergeben , soll nun in einem zweiten Schritt auf die Autorin , den Text und die Schreibsituation eingegangen werden. 2. Der Text , die Autorin und die Schreibsituation
Luise Charlotte von Schwerin wurde 1684 in Wesel im Herzogtum Kleve als Tochter des Freiherrn Johann Sigismund von Heiden ( 1641–1724 ) und der Anna Luise Quadt zu Landskron ( 1659–1687 ) geboren.22 Im Alter von drei Jahren starb ihre Mutter. Sie wurde von ihrem Vater , der in zweiter Ehe Charlotte Luise von Schwerin ( 1672–1748 ) geheiratet hatte , und später von ihrer Tante , Elisabeth von Arnheim , die bei ihrer Schwester und ihrem Schwager auf Schloss Rosendaal in Geldern lebte , im reformierten Glauben erzogen. 1704 wurde sie auf Wunsch ihres Vaters und ihrer Stiefmutter Charlotte Luise , aber gegen den Willen ihrer Tante mit Friedrich Wilhelm von Schwerin , dem jüngeren Bruder ihrer Stiefmutter vermählt. Mit ihrer Heirat , die sie als eine Liebesehe bezeichnete ,23 trat die Freifrau Luise Charlotte von Heiden in die einflussreiche Familie von Schwerin ein , die 1700 in den Grafenstand erhoben worden war. Die Schwerins hatten wichtige Positionen am preußischen Hof inne und waren in Berlin , in der Mark Brandenburg und in Ostpreußen begütert. Friedrich Wilhelm von Schwerin wurde 1709 zum Oberhofmeister der Königin Sophie Luise von Mecklenburg-Schwerin ( 1685–1735 ) ernannt , war unter König Friedrich Wilhelm I. Geheimer Rat und Mitglied des Staatsrates und wurde 1716 als außerordentlicher Botschafter 22 Zu den biographischen Daten vgl. Claudia Ulbrich : Madame la Comtesse de Scheverin : Une approche biographique , in : Thèmes et figures du for privé , hg. von Maurice Daumas , Pau 2012 . 23 Zur Spannung zwischen der Gattenliebe und der Liebe zu Gott , die ein zentrales Thema in der „Histoire“ ist , vgl. Maurice Daumas : Le mariage amoureux. Histoire du lien conjugal sous l’Ancien Régime , Paris 2004 , S. 224 ff. sowie Amour divin , hg. von Daumas ( s. Anm. 1 ).
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nach Wien an den kaiserlichen Hof geschickt. Luise Charlotte verbrachte den größten Teil ihrer Ehejahre am Berliner Hof und auf den in Ostpreußen gelegenen Gütern der Schwerins , begleitete ihren Mann aber auch auf vielen seiner Reisen. Während eines ihrer Aufenthalte in Wien , wo sie viele KatholikInnen kennengelernt hatte und mit katholischen Lebensformen und Frömmigkeitspraktiken vertraut wurde , konvertierte sie 1719 heimlich zum Katholizismus.24 Begleitet war die Konversion von dem Wunsch , sich mit ihrer Familie in Schlesien niederzulassen. Als das Gerücht ihrer Konversion in Berlin bekannt wurde , war sie Anfeindungen durch ihren Mann , die Berliner höfische Gesellschaft und König Friedrich Wilhelm I. ausgesetzt. Der Konflikt eskalierte , als sie sich in Ostpreußen aufhielt. Obwohl sie schwanger war , wurde sie auf Weisung des Königs zunächst in Wildenhoff , später in Königsberg eingesperrt und von ihrem Mann und ihren fünf Kindern getrennt. Graf Friedrich Wilhelm von Schwerin ließ sich später von ihr scheiden und ging eine neue , standesgemäße Ehe ein , was Luise Charlotte aber nie akzeptierte. Trotz der Scheidung behielt sie den Namen und Titel „Gräfin von Schwerin“ und trat auch in ihren zahlreichen Prozessen und Bittschreiben als solche auf. Nach der Geburt eines Sohnes , der nur wenige Stunden lebte , wurde sie gedrängt , das Land zu verlassen.25 Unterstützung fand sie in dieser schwierigen Situation durch die katholische Kirche im Ermland , zu der die Diasporagemeinde Königsberg gehörte. Nicht nur in Königsberg , sondern auch in anderen Teilen des Bistums übten die Jesuiten großen Einfluss aus. Besonderen Eifer zeigten sie in Bezug auf Konversionen vom Protestantismus und Calvinismus sowie von der griechisch-orthodoxen Kirche zum Katholizismus. Allein in den fünf Jahren zwischen 1720 und 1724 konvertierten in den Gemeinden Rößel , Heiligenlinde , Königsberg und Braunsberg 410 Personen.26 Zur Unterstützung der Konvertiten war eine Stiftung eingerichtet und in Braunsberg ein Konvertitenhaus errichtet worden. Zweck der Stiftung war , „den Konvertiten die materielle Existenz zu sichern , sie im Glauben zu unterweisen und zu festigen , sie sittlich zu bilden und sie an die Kirche und den Heiligen Stuhl zu binden“.27 Verwaltet wurde die Stiftung von dem ermländischen Domkapitel , dessen Dekan Baron Bernhard 24 Zu den Konversionen in Wien vgl. Ines Peper : Konversionen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700 , Wien 2010. 25 Eine Konversion war normalerweise kein Grund für eine Ausweisung. Luise Charlotte musste aber fürchten , dass man sie unter dem Vorwand eines „ärgerlichen“ Lebenswandels in Spandau inhaftieren würde. Dieser Verdacht , gegen den sie sich später auch im Kontext mit gerichtlichen Verfahren wehrte , ist sicher einer der Gründe für die Selbststilisierung als tugendhafte Ehefrau und Mutter , als fromme Christin , gehorsame Katholikin und verlässliche Freundin. 26 Henryk Zochowski : Die Seelsorge im Ermland unter Bischof Andreas Johann Szembek , 1724–1740 ( Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands , Beiheft 11,1993 ; Neudruck der Dissertation von 1966 ), S. 53. 27 Zochowski : Seelsorge ( s. Anm. 26 ), S. 57.
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Theodor von Schenck war. Baron Schenck kümmerte sich intensiv um das geistliche und leibliche Wohl der Gräfin von Schwerin. Luise Charlotte hatte in der Zeit ihrer Konversion und in dem Lebensabschnitt , in dem sie ihre Lebensgeschichte aufschrieb , intensiven Kontakt mit anderen KonvertitInnen. Sie wurde von Jesuiten und anderen Geistlichen betreut und schrieb sehr ausführlich über die Unterstützung , die sie durch diese erfahren hatte. Es ist davon auszugehen , dass ihr die fromme Praxis des rituellen Weinens bekannt war und dass ihr Elemente der frühneuzeitlichen Tränenkultur in Predigten vermittelt worden waren. In der „Histoire“ berichtet Luise Charlotte , dass Baron Schenck und einer ihrer Beichtväter sie aufgefordert hätten , ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie wusste , dass beide ihren Text lesen würden. Ihnen und ihren potentiellen LeserInnen gegenüber präsentiert sie sich als eine Frau , die viel geweint und die in einer Umgebung gelebt hat , in der viel geweint wurde. Ganz offensichtlich hatte sie keine Angst , als krank , melancholisch oder übertrieben emotional angesehen zu werden. Tränen waren in dem Milieu , in dem sie lebte und für das sie schrieb , nicht tabu. Im Gegenteil : Für Luise Charlotte stellten sie eine Möglichkeit dar , sich in eine christliche Tradition des Weinens einzuschreiben , um sich als Person zu präsentieren , die von Gott auserwählt ist. In dem religiösen Kontext , in dem der Text entstanden ist , können viele ihrer Tränen als Zeichen göttlicher Gnade und Liebe gelesen werden. Gelebte Frömmigkeit , inszeniertes Weinen und das Zurschaustellen der Tränen widersprechen sich ganz offensichtlich nicht. Sie stellen auf der textuellen Ebene eine Möglichkeit dar , einem Leben , das durch viele Brüche und Verlusterfahrungen gekennzeichnet war , einen Sinn zu geben. Die „Histoire“ ist ein autobiographischer Text. Um ihn zu dechiffrieren , muss zunächst einmal das Schreiben selbst als performativer Akt in den Blick genommen werden.28 Wer ein Selbstzeugnis schreibt , gestaltet – unabhängig von der ästhetischen Qualität – einen Text. Die VerfasserInnen entscheiden sich , welches Material sie aus ihrem Leben auswählen , wie sie das Material anordnen und verknüpfen , wie sie gelebtes Leben in geschriebene Texte übersetzen und was sie verschweigen. Da das eigene Leben Gegenstand der Texte ist , ist auch die Erinnerung wichtig , verbunden mit der Frage , unter welchen Umständen und in welcher Situation sich die VerfasserInnen an etwas erinnern und sich entschließen , das Erinnerte in ihre Geschichte zu integrieren. Weitere Fragen ergeben sich hinsichtlich der Medialität und 28 Grundlegend hierzu Gabriele Jancke : Autobiographische Texte – Handlugen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400–1620 , in : Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte , hg. von Winfried Schulze , Berlin 1996 , S. 73–106 , sowie Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung ( Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung , Bd. 10 ), hg. von Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich , Berlin 2005.
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Materialität der Texte. Die VerfasserInnen benutzen eine Sprache , deren Bedeutung sich den heutigen LeserInnen nicht unmittelbar erschließt , sie greifen Erzählmuster aus anderen , möglicherweise kaum mehr bekannten Texten auf und sie beziehen sich auf Normen und Regeln , deren Kenntnis sie oft voraussetzen , weil sie davon ausgehen , dass ihr intendiertes Publikum ihre Erfahrungshorizonte teilt. In ihren Texten werden Diskurse aufgegriffen , zitiert und durch den jeweiligen Gebrauch bestätigt oder verändert. Zu diesen Diskursen gehören die Sprache der Tränen ebenso wie die Sprache der Verstellung , Anpassung und Heuchelei. Wer sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts an einem Hof bewegen wollte , musste die Kunst der Verstellung ( Simulatio / Dissimulatio ) beherrschen und in der Lage sein , die eigenen Absichten zu verbergen.29 Luise Charlotte von Schwerin waren die rhetorischen Regeln der Dissimulatio nicht unbekannt. Sie griff in ihrer „Histoire“ wiederholt Elemente der Hofkritik auf , distanzierte sich von der Heuchelei und den Intrigen am Berliner Hof und behauptete , immer zu sagen , was sie dachte. Zugleich schaffte sie es aber , ihre Konversion über viele Monate zu verheimlichen , obwohl genau beobachtet wurde , ob und wann sie am Gottesdienst teilnahm und ob und wann sie fastete.30 Luise Charlotte lebte in einer Gesellschaft , in der Tradition , Religion , Status und Geschlecht von enormer Bedeutung waren und in der die sozialen Unterschiede regelmäßig zeremoniell sichtbar gemacht und damit zugleich hergestellt , bestätigt oder verändert wurden. In der Lebenswirklichkeit gab es für die Einzelnen vielfältige Handlungsmöglichkeiten , aber auch – abhängig von Raum und Zeit – eindeutig definierbare Grenzen und Machtverhältnisse. Auch in einem autobiographischen Text des frühen 18. Jahrhunderts gab es Regeln , gab es vieles , was nicht gesagt werden konnte. Dies gilt sicherlich auch für adelige Frauen , deren Leben weitgehend reguliert und öffentlich war. Es gibt viele Hinweise in der „Histoire“, dass sich die Verfasserin darüber im Klaren war , dass sie nicht einfach schreiben konnte , was sie wollte. Obwohl der Text unter anderem für ihre Kinder gedacht war , veränderte Luise Charlotte von Schwerin viele Orts- und Personennamen oder benutzte Kürzel. Manchmal verwendete sie eigenwillige Formen indirekten Sprechens , so als sei sie zu bescheiden , über sich selbst zu sprechen. Häufig authentisierte sie ihre Aussagen , indem sie ihren Mann , ihren Vater oder ihren Bruder sagen ließ , was sie eigentlich sagen wollte. Man kann diese Form des Schreibens als Ausdruck von Unterwerfung unter männliche Autorität oder als Effekt einer asymmetrischen , heteronormativ strukturierten Geschlechterordnung lesen. Es ist aber auch möglich , sie als eine Selbstermächtigungsstrategie 29 Vgl. Ursula Geitner : Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert , Tübingen 1992. 30 Vgl. Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 , S. 43 : „La contrainte et la dissimulation étaient si contraires à mon humeur , que je disais absolument ce que je pensais , sans réfléchir si cela pouvait plaire ou désobliger.“
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zu deuten , ermöglichte ihr diese Worterteilung doch , ihre eigene Position zum Ausdruck zu bringen und ihren Worten größeres Gewicht zu verleihen. Von Luise Charlotte von Schwerin ist noch ein weiteres Selbstzeugnis überliefert. Es handelt sich um einen Konversionsbericht , der 1727 anonym auf Deutsch erschienen war. Lediglich aufgrund der Widmung für ihren Bruder lässt sich das Kürzel C.V.S.G.V.H. als Hinweis auf Luise Charlottes Verfasserschaft deuten.31 Genau wie die „Histoire“ ist auch der Konversionsbericht schon im Titel geschlechtlich markiert : „Motiva oder Beweg-Ursachen / Warumb eine eiffrig-Reformierte Glaubens-Genoßin diesen Glauben verlassen und die Wahre allein Seeligmachende Römisch-Catholische Religion angenohmen.“32 In Aufbau , Struktur , Narration und Argumentation weicht der Konversionsbericht deutlich von der „Histoire“ ab und folgte den eigenen Regeln dieses Genres. Zwar finden sich auch im Konversionsbericht Tränen auf der textlichen Ebene , doch sind sie eingebunden in einen Diskurs , der die Konversion als einen der göttlichen Vorsehung entsprechenden Prozess beschreibt. In einer zweiten , wenig veränderten Auflage des Konversionsberichts , die 1755 in Wien erschienen ist , wurde der Titel beibehalten , im Text aber der Name mit Carolina statt Luise Charlotte von Schwerin falsch angegeben.33 Der katholischen Propaganda ging es um die konvertierte Gräfin und nicht um die Person Luise Charlotte von Schwerin. Sie hatte eine Geschichte , die sich gut vermarkten ließ. Eine Frau aus hohem Hause , die um des Glaubens Willen viel gelitten hatte , die von ihren Kindern und ihrem geliebten Mann getrennt worden war , die alles aufgegeben hatte , um Christus nachzufolgen , das war ein Stoff , mit dem die katholische Kirche der Gegenreformation ihren Anspruch als die einzig wahre Kirche nach außen tragen konnte. Die Verfasserin erscheint hier einerseits als Objekt kirchlicher Propaganda , andererseits aber auch als Frau , die von Gott ausgewählt war und seine besondere Gnade erfahren durfte. Sie war bereit und fähig , Christus nachzufolgen. Auch wenn nicht klar ist , ob Luise Charlotte von Schwerin den Konversionsbericht selbst geschrieben hat , wird in der Narration eine Frau konstruiert , die die Grenzen , die ihrem Geschlecht gezogen sind , diskursiv überschreitet. Deutlich wird dies nicht zuletzt in der Ansprache an den Leser , in der sich die Verfasserin als schwache Frau und gleichzeitig als Glaubensheldin präsentiert , wenn sie schreibt : 31 Ich danke Ines Peper , Wien , die einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der „Histoire“ geleistet hat. Ihr ist es gelungen , den Konversionsbericht aufzuspüren und ihn Luise Charlotte von Schwerin zuzuordnen. 32 N.N. : Motiva oder Beweg-Ursachen / Warumb eine eiffrig-Reformierte Glaubens-Genoßin diesen Glauben verlassen … , Köln 1727. 33 Vgl. Caroline von Schwerin : Motiva , Oder Beweg-Ursachen , Warum Eine ehemals eifrige Protestantin Den wahren allein seligmachenden Römisch-Catholischen Glauben angenommen. Zweyte und verbesserte Auflag , nach der Cöllner Edition , Wienn 1755.
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Claudia Ulbrich : Verflochtene Geschichte( n ) „Zum andern will ich dir noch zu deiner Nachricht berichten / daß dieses Wercklein nicht vor dich destiniret war / sondern nur einfältig nach einer schwachen Vernunfft und Feder vor diejenige / welche mir Rechenschafft von meiner GlaubensVeränderung abgefordert / und denen ich nach der Natur gehorsamb schuldig war : dieweil ich aber in erfahrung gekommen / daß viele falsche Copien hin un her herumb außgestrewet seynd ; auch so gar von einem Anonymo beantwortet / so habe mich durch viele persuasionen resolvieret / die rechte unverfälschte und / wie gesagt / von einer schwachen unerfahrnen Feder entsprossene Schrift an Tag zu bringen.“34
Eine ähnliche Uneindeutigkeit findet sich auch am Beginn der „Histoire“. Luise Charlotte von Schwerin beginnt ihre Lebensgeschichte mit einem Satz , der nicht zu den Bescheidenheitstopoi passt , die zur „Bestimmung des weiblichen Geschlechtes“ gehörten.35 Sie verweist darauf , dass ihr Leben etwas Besonderes war und Aufsehen erregt hatte und mahnt ihre Kinder , ihrem Beispiel nicht zu folgen.36 Auch wenn die Autorin später wiederholt betont dass sie ihre Schrift nur aus Gehorsam gegenüber Gott beziehungsweise ihrem Beichtvater verfasst habe , zeigen solche Sätze die Ambivalenz von Geschlechterpositionen gerade auch im Hinblick auf das Zurschaustellen. Schon hier verschwimmen die Grenzen zwischen der Inszenierung einer einzigartigen Lebensgeschichte und dem Rollenkonzept der tugendhaften , bescheidenen und gehorsamen Ehefrau und Mutter , das in zahlreichen frühneuzeitlichen Texten vermittelt wird. 3. Tränenspektakel
Luise Charlotte von Schwerin schreibt nur gelegentlich vom „spectacle“. Damit bezeichnet sie theatralische Aufführungen ebenso wie unangenehme Vorfälle und Begebenheiten , die Trauer , Mitleid oder Ärgernis erregten.37 Als Spektakel kann man aber auch viele andere Ereignisse verstehen , die die Autorin in ihrem Text zum Thema macht. Schon die Einleitung zur „Histoire“ lässt sich als Aufforderung lesen , den ganzen Text mit der Kategorie des Spektakels zu analysieren. Gleich zu Beginn der Lebensgeschichte wird denn auch ein erstes Tränenspektakel aufgeführt. Luise Charlotte erzählt , dass ihre Mutter im Überfluss geweint hätte , um den Segen Gottes zu erhal34 Motiva ( s. Anm. 32 ), An den Leser , o. S. 35 Vgl. Claudia Ulbrich / David Sabean : Personenkonzepte in der Frühen Neuzeit , in : Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog , hg. von Claudia von Braunmühl , Berlin 2003 , S. 99– 112. 36 Vgl. Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 , S. 1 : „L’histoire de ma vie est si remarquable et si remplie d’événements , tant pour leur singularité que par le bruit que les plus considérables ont fait dans le monde , que ma curiosité m’a portée en premier lieu d’en rassembler le cours …“. 37 Vgl. Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 : S. 22 , 29 , 47 , 154 , 241 , 577 , 640 ; Bd. : 2 , S. 312 , 490 , 521 , 554 , 597.
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ten. Die vielen Tränen , die sie vergossen hatte , seien mit einem Wunsch verbunden gewesen , den sie nur ihren engsten FreundInnen anvertraut habe. Sie hätte gehofft , dass ihr das Glück der heiligen Monika widerfahre und ihre Kinder den Spuren des heiligen Augustinus folgen würden : „Mein Vater verlor meine Mutter , als ich etwas mehr als ein Jahr alt war. Sie galt als eine sehr verdienstvolle und tugendsame Frau , eine Frau von Welt , und sie wurde überall als ein Beispiel erwähnt , dem man folgen sollte. Sie war sehr fromm , und teilte die Sorge für das Haus mit der Aufmerksamkeit für die Kirche , und die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe waren der ganze Inhalt ihres Tuns. Die Tränen , die sie im Überfluss über ihre Kinder vergoss , waren nur dazu bestimmt , den göttlichen Segen auf sie zu lenken und ihre Wünsche , die sie engen Freunden anvertraute , bestanden darin , dass sie hoffte , das Glück der heiligen Monika zu haben und dass ihre Kinder den Spuren des heiligen Augustin folgen könnten.“38
Da Luise Charlotte diese Geschichte einer Zeit zuordnet , in der sie selbst kaum mehr als ein Jahr alt war , kann sie sich auf keinen Fall an die Mutter und ihre Tränen erinnern. Offensichtlich fügt sie den Hinweis , dass schon ihre Mutter gehofft hätte , ihre Kinder , die die gleiche Konfession wie sie hatten , würden konvertieren , ein , um jeden Verdacht von sich zu lenken , die Konversion sei eine spontane oder gar eigennützige Entscheidung gewesen. Sie präsentiert sich hier als eine besonnene Frau , die einem Herzenswunsch ihrer Mutter nachkommt. Dieser Wunsch war offensichtlich schon dem Kopisten oder der Kopistin merkwürdig vorgekommen , denn er oder sie notierte in einer Anmerkung , dass die Mutter Calvinistin gewesen sei.39 Mit dem Verweis auf Monika , die Mutter des heiligen Augustinus , verschafft sich die Verfasserin eine narrative Möglichkeit , an die „Bekenntnisse“ von Augustinus anzuknüpfen und ihren Lebensweg als Konvertitin in das Heilsgeschehen einzubetten. Dabei schreibt sie sich in einen der berühmtesten Diskurse über die Tränen ein. Das Weinen von Monika hat die christliche Literatur späterer Jahrhunderte nachhaltig beeinflusst. Monika gehör38 Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 , S. 5 : „Mon père perdit ma mère ( a ) que j’avais un peu plus d’un an. Elle passait pour une femme du monde qui avait le plus de mérite et de vertus , et était citée partout comme un exemple à suivre. Elle était d’une dévotion extraordinaire , partageant les soins de sa maison avec ses attentions à l’Eglise , et l’amour de Dieu et du prochain était son unique étude. Ses larmes qu’elle versait en abondance sur ses enfants n’étaient que pour leur attirer la bénédiction divine et ses vœux qu’elle confiait à ses intimes amis étaient qu’elle pût avoir le bonheur de sainte Monique et que ses enfants puissent suivre les traces de saint Augustin.“ Übersetzungen hier und im Folgenden von der Autorin. 39 Mit dem Zeichen ( a ) ( siehe Zitat in Anmerkung 38 ) notierte der / die KopistIn , die Fußnote : „Elle était Calviniste.“ Die gleiche Episode wird auch im gedruckten Konversionsbericht erzählt , dort aber so abgeändert , dass sie dazu dient , das Interesse der Konvertitin an der Lektüre der Schriften von Augustinus zu wecken. Motiva ( s. Anm. 32 ), S. 19.
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te zu den im 17. Jahrhundert geschätzten Heiligen , die aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit als Vorbild für andere Frauen dienen konnten.40 Der Bezug auf Monika und die Betonung der Verdienste der eigenen Mutter , die sie als eine fromme und tugendsame Frau beschreibt , legen es nahe , die Lebensbeschreibung der Gräfin von Schwerin auch in den Kontext der pädagogischen Traktate einzuordnen und ihn nicht nur als Konversionsbericht , sondern auch als Tugenddiskurs zu lesen. An vielen Stellen stilisiert sich Luise Charlotte als tugendhafte Ehefrau und Mutter , als fromme Christin , gehorsame Katholikin und verlässliche Freundin , wobei sie die Widersprüchlichkeiten ihres Handelns , den Umstand , dass die Konversion eine Trennung von ihrem Ehemann und den Kindern bedeutete , nicht in Bezug auf ihr Verhalten reflektiert. Im weiteren Sinne lässt sich auch die Beschreibung der Konfirmation einem Tugenddiskurs zuordnen : Luise Charlottes Konfirmation fand auf dem Land statt und viele DorfbewohnerInnen waren gekommen , um diesem Schauspiel beizuwohnen.41 Luise Charlotte beklagt sich darüber und beschreibt sich im Rückblick auf ihr Leben als scheu und als Person , die nicht gerne gesehen werden wollte. Die Öffentlichkeit im Rahmen der Konfirmation löste in ihr eine extreme Verlegenheit aus und sie glaubte , vor Gottes Gericht zu stehen. Nach diesem Bericht sprach sie , wie so oft , Gott direkt an : „Als ich nach Hause kam , warf ich mich zu euren Füßen , oh mein Gott , und ich zerfloss in Tränen.“ Sie sprach ein Gebet , das für jene bestimmt war , die unwürdig das Abendmahl empfangen hatten.42 Wenn sich Charlotte Louise direkt an Gott wendet , dann stellt sie sich als Mensch dar , der weinen kann und dem wegen dieser Fähigkeit die göttliche Gnade zuteil wird. Sie gibt sich selbst auf und überlässt ihr Schicksal weinend der göttlichen Vorsehung. Dabei spielt sie auf die biblische Erzählung der Sünderin an , die mit ihren Tränen Jesus die Füße gewaschen hat und um Vergebung ihrer Sünden bat : „Und ich erinnere mich noch , wie viele Tränen ich auf eure Füße vergoss , mein Herr , und euch mein Elend klagte.“43 40 Daumas : Mariage ( s. Anm. 23 ), S. 220 f., verweist in Bezug auf die heilige Monika auf Parallelen zu Jean Crasset : La vie de Madame Hélyot , Paris 1684. 41 Sie verwendet an dieser Stelle das Wort „spectacle“. 42 Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 , S. 47 f. : „… on commença à songer à ma première communion. J’avais été suffisamment instruite , comme je l’ai dit ailleurs , et ce fut au grand jour de Pâques où ce grand acte se fit. C’était à la campagne et tous les villageois des environs vinrent en foule pour voir ce spectacle. On m’avait donné des ajustements nouveaux , et on lut mon nom de la chaire comme [ ceux ] des autres nouveaux communiants. Ces deux articles me firent le plus de joie de cette cérémonie , sans cela je me trouvais dans un embarras extrême d’être le but de l’attention du peuple , et je me croyais devant le tribunal de Dieu sans savoir comment j’y étais. En revenant chez moi je me jetai à vos pieds ô mon Dieu , j’y fondis en larmes et je vous offris la prière de La Placette dans le livre de la Communion dévote , qui est destinée pour ceux qui ont communié indignement. J’étais rongée de chagrin de ne savoir si je vous avais déplu et je crus que vous aviez le bras levé pour m’anéantir à tous instants.“ 43 Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 , S. 47. Anspielung auf Lk 7 , 38 : Dabei weinte sie , und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar , küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
Tränenspektakel
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Zu den begnadeten Menschen , die im Überfluss weinen konnten , gehörten auch die Verwandten von Luise Charlotte auf Schloss Rosendaal , die sie aufgezogen hatten und die Einwände gegen die beabsichtigte Ehe vorbrachten , die das junge Mädchen auf Anraten seiner Stiefmutter eingehen wollte. Von ihrer Tante schreibt Luise Charlotte : „Diese sehr tugendhafte Frau sah die Gefahr voraus , in die ich mich begab , und sie ergoss sich in einen reißenden Tränenstrom.“44 Auf die Beschreibung der Tränen anderer legt Luise Charlotte großen Wert. Es ist ihr wichtig , ob deren Weinen Ausdruck von Tugend und Frömmigkeit war , ob sie die Fähigkeit hatten , im richtigen Augenblick im richtigen Maß zu weinen oder ob sie ihre Tränen nur vortäuschten. Echte Tränen zeigten laut „Histoire“ etwa die Katholik Innen in Königsberg , als sie erfuhren , dass die Gräfin von Schwerin dort angekommen sei und für den Rest der Schwangerschaft in ein Haus eingesperrt werde. Eine große Menge Menschen hätte sich vor ihrem Haus versammelt , schreibt Luise Charlotte von Schwerin , und hätte unter zahlreichen Tränen und Mitleid ihre Ankunft in der ganzen Stadt bekannt gemacht.45 Im letzten Teil der Lebensgeschichte der Luise Charlotte von Schwerin , der die Zeit seit dem Öffentlichwerden der Konversion umfasst und fast die Hälfte des Textes einnimmt , bekommt der Aspekt des Mitleidens eine immer größere Bedeutung und die Tränen fließen reichlicher. Diese Tränen erinnern weniger an das christliche Ritual der Tränengabe als an die neu entstehende Kultur der Empathie. An mehreren Stellen der „Histoire“ lässt sich eine enge Verbindung zwischen Tränen und Mitleid feststellen. Es ist der Verfasserin wichtig , die eigene und fremde Reaktion jeweils genau zu notieren. Aus den beschreibbaren Reaktionen der anderen können Rückschlüsse auf die Beziehungen zwischen Menschen gezogen werden. Zugleich werden die moralischen Qualitäten der Einzelnen daran gemessen , ob sie fähig sind , Mitleid zu zeigen , ob sie ihr Leid so vermitteln , dass andere mit ihnen fühlen , ob Männer und und Frauen mit anderen weinen oder unbewegt bleiben , ob sie das richtige und das falsche Weinen unterscheiden und entsprechend reagieren können. Bei diesen Beobachtungen wird deutlich , wie eng die religiöse und die soziale Ordnung miteinander verflochten waren. Frauen und Männer mussten , dies ist eine Botschaft der „Histoire“, in der Lage sein , im richtigen Moment ihre körperlichen Gefühle zu zeigen. Denn zur 44 Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 1 , S. 33 : „Cette très vertueuse dame prévoyait le danger où je courais , elle versa des torrents de larmes.“ Für die Übersetzung wurde auf eine analoge Wendung aus Grimms Wörterbuch zurückgegriffen. 45 Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 2 , S. 524 : „Je fus extrêmement confuse d’apprendre que mes cris et mes gémissements avaient été ouïs du peuple. Un monde infini s’était attroupé devant la maison où on m’avait conduite , et ce furent eux qui avec beaucoup de larmes et de compassion annoncèrent mon arrivée dans toute la ville. Si j’eusse voulu , il m’eût été bien facile de me tirer de la triste situation où j’étais , le peuple m’eût secouru. cela me paraît même si étrange que je ne pus pas en décider.“
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Affektkontrolle gehörte nicht nur die Unterdrückung der Gefühle , sondern auch die Fähigkeit ihrer Generierung im und durch den Körper. 4. Die Tränen , das Spektakel und die Geschlechterordnung
In der Forschung wurde die Theatralität der politischen Kultur der Frühen Neuzeit häufig im Anschluss an Forschungen von Norbert Elias zur höfischen Gesellschaft und in kritischer Auseinandersetzung mit diesen thematisiert.46 Während Norbert Elias in seinen Studien zum Prozess der Zivilisation und zur höfischen Gesellschaft auf die Bedeutung der Affektkontrolle für die Entstehung der modernen Gesellschaft verwiesen hat , betonen neuere Studien , dass zum Prozess der Gefühlsregulierung auch die „Erzeugung und Konstitution bestimmter Gefühlsweisen und Leidenschaften“ gehöre.47 Explizit formuliert die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch die These : „Nicht affektive Mäßigung und emotionale Indifferenz kennzeichnen … das höfische Leben , sondern die Generierung , Formierung und Kultivierung bestimmter Gefühle , die sich um die Leitdimensionen des Vergnügens , des Gefallens und des Begehrens gruppieren.“48
Höfisches Leben erschöpft sich freilich nicht im Vergnügen , auch andere Bereiche , wie das Trauerzeremoniell und bestimmte Frömmigkeitspraktiken , sind in ähnlicher Weise mit der Vorstellung verbunden , dass Gefühle adäquat generiert und kontrolliert werden müssen. Hier hat auch das Weinen und Nichtweinen seinen Platz , das mit Justin Stagl als eine „Sprache neben der Sprache“ verstanden werden kann , die erlernt werden muss und beobachtet und analysiert werden kann.49 Geht man , was die „Histoire“ nahelegt , davon aus , dass neben den Salons und Theatern als konkreten Schauplätzen der Inszenierung50 auch der Körper als eine Bühne verstanden werden kann , auf der mit Hilfe von Ritualen die politische und soziale Ordnung einer Gesellschaft immer wieder neu kulturell erzeugt wurde , so wird deutlich , wie eng Tränen und Spektakel aufeinander bezogen sind. Beide lassen sich gleichermaßen an der Schnittstelle zwischen Inszenierung und Diskurs , Verkörperung und Performanz verorten.
46 Vgl. Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive , hg. von Claudia Opitz , Köln u. a. 2005. 47 Kolesch : Theater der Emotionen ( s. Anm. 8 ), S. 41. 48 Kolesch : Theater der Emotionen ( s. Anm. 8 ), S. 16. 49 Stagl : Nichtlachen ( s. Anm. 14 ), S. 91. 50 Grundlegend für die Forschungen zur Inszenierung von Herrschaft : Peter Burke : The Fabrication of Louis XIV , New Haven / London 1992 ; Maria Goloubeva : The Glorification of Emperor Leopold I in Image , Spectacle and Text , Mainz 2000.
Tränenspektakel
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Die Frage nach dem Verhältnis von Spektakel und Geschlecht führt über die Suche nach den Trennlinien zwischen den Geschlechtern im Rahmen einer heteronormativen Matrix hinaus.51 Versteht man im Anschluss an Joan W. Scott Gender „als eine offene Frage nach unterschiedlichen Konzeptionen von geschlechtlicher Differenz“,52 so müssen auch die performativen Praktiken in der höfischen Gesellschaft im Hinblick auf die Wirkweise von Geschlecht ergebnisoffen untersucht werden. In der „Histoire“ wird exemplarisch vorgeführt , wie die Grenzen , die dem weiblichen Geschlecht gezogen sind , diskursiv überschritten werden können und wie Traditionen angeeignet und umgedeutet werden können. Oft mussten Tränen auch unterdrückt werden und die Verfasserin beschreibt , wie schwer es ihr gefallen war , eine innere Regung für sich zu behalten und keine Tränen zu vergießen. Dabei verstand sie es , in einer sehr schwierigen Situation ihres Lebens dem Nichtweinen einen religiösen Sinn zu verleihen. Diese Geschichte ist so dicht und symbolisch aufgeladen , dass an ihr abschließend noch einmal gezeigt werden kann , wie Traditionen umgedeutet wurden. Als Louise Charlotte in ihrer Verbannung ihren Sohn gebar , der reformiert getauft wurde und nur kurze Zeit lebte , weinte sie keine Träne. Sie nutzte diese tragische Geschichte , um sich als Heldin zu stilisieren , die Leid ertrug , um religiös überhöht zu werden. Sie brachte das Kind der Gottesmutter dar und überhöhte seinen Tod religiös.53 Das Weinen überließ sie der Gouvernante und dem Ehemann , die ihr das Kind hatten wegnehmen wollen und damit in ihrer Darstellung indirekt an seinem Tod schuld waren.54 In dieser Umdeutung wird einmal mehr deutlich , welche Möglichkeiten des Agierens sich Männnern und Frauen eröffnete , die sich nicht nur in Beziehung auf andere Menschen verorteten , sondern auch in ihrer Beziehung zu Gott , der Mutter Gottes und den Heiligen. Vor Gott ist ihrer Auffassung nach die Geschlechterdifferenz unerheblich. 51 Auch wenn das Konzept der „Heterosexualität“ als „Strukturkategorie“ und die entsprechende „Normativität“ in der Regel mit Vorstellungen des späten 19. Jahrhunderts verbunden wird , wirkt dieses Konzept in einer Weise nach , dass es häufig in die Interpretamente der Forschung über die Vormoderne einfließt. Zugleich ist aber darauf zu verweisen , dass Vorstellungen einer normativen Zweigeschlechtlichkeit auch in der Frühen Neuzeit etabliert waren , aber in ihrer jeweils spezifischen Bedeutung verstanden werden müssen. 52 Joan W. Scott : Die Zukunft von gender. Fantasien zur Jahrtausendwende , in : Gender – Die Tücken einer Kategorie , hg. von Claudia Honegger / Caroline Arni , Zürich 2001 , S. 39–63 , S. 54. 53 Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 2 , S. 551 f. : „Je me le fis donner d’abord , mais il n’avait plus le moindre mouvement de vie. Je le mis devant moi sur mon lit et achevai de fermer ses yeux. Et sans verser une larme , je levai mes mains et mes yeux au Ciel. Soyez louée et bénite , m’écriai-je , à jamais , ô incomparable mère , reine du Ciel et de la terre , vous venez d’accepter le don que je vous ai fait. Qu’il est heureux , ce cher Ange , d’être avec vous. Recevez les vœux qu’il vous fera pour sa mère. Je ne pouvais cesser mes exclamations et mes démonstrations de joie. Me voilà , dis-je , de nouveau confirmée dans ma chère et sainte religion. Quelle preuve plus authentique du secours de la mère de Dieu ?“ 54 Vgl. Histoire ( s. Anm. 10 ), Bd. 2 , S. 554 f.
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Im barocken Katholizismus erhielt eine Frau wie Luise Charlotte von Schwerin eine Bühne , in der sie sich darstellen konnte als eine Person , die für sich beanspruchte , alles aufzugeben , mit Christus zu leiden und ihm nachzufolgen. Auf dieser Bühne konnte sie sich an theologischen Debatten beteiligen. Die Kirche , die ihren Fall vermarkten wollte , ließ diese Gottesnähe einer gläubigen Katholikin und ihre Selbststilisierung zu , verhalf ihr im Rahmen des gedruckten Konversionsberichts sogar zu einer breiten Öffentlichkeit. Dieser Aspekt ist ebenso Teil der Geschichte wie die Liebe L uise Charlottes zu ihrem Ehemann und ihren Kindern , die Erfahrung , verstoßen worden zu sein und die Kinder verlassen zu haben und die Selbststilisierung als tugendhafte Frau und fromme „Weinerin“.
Erscheinungsnachweise* Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland. – Richard van Dülmen ( Hg. ): Arbeit , Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung II , Frankfurt / M. : Fischer 1990 , S. 13–42. Grenze als Chance ? – Bemerkungen zur Bedeutung der Reichsgrenze im Saar-Lor-Lux-Raum am Vorabend der Französischen Revolution. – Arno Pilgram ( Hg. ): Grenzöffnung , Migration , Kriminalität ( Jahrbuch für Kriminalsoziologie ), Baden-Baden : Nomos Verlagsgesellschaft 1993 , S. 139–146. Die Jungfrau in der Flasche. Ländlicher Traditionalismus in Deutschlothringen während der Französischen Revolution. – Zeitschrift für Historische Anthropologie 3,1 ( 1995 ), S. 125–143. „Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand. – Martina Althoff / Sybille Kappel ( Hg. ): Geschlechterverhältnis und Kriminologie ( Kriminologisches Journal , Beiheft 5 ), Weinheim : Beltz Juventa 1995 , S. 208–220. Die Heggbacher Chronik. Quellenkritisches zum Thema Frauen und Bauernkrieg. – Heinrich Richard Schmidt / André Holenstein / Andreas Würgler ( Hg. ): Gemeinde , Reformation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle zum 60. Geburtstag , Tübingen : Bibliotheca Academica Verlag 1998 , S. 391–399. Eheschließung und Netzwerkbildung am Beispiel der jüdischen Gesellschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet ( 18. Jahrhundert ). – Christophe Duhamelle / Jürgen Schlumbohm ( Hg. ): Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien , Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht 2003 , S. 315–340. Von der Schweizer Amazone zur Mutter Courage. Die Lebensbeschreibung der Regula Engel. – Barbara Duden / Karen Hagemann / Regina Schulte / Ulrike Weckel ( Hg. ): Geschichte in Geschichten. Ein historisches Lesebuch , Frankfurt / M. : Campus 2003 , S. 261–269. Der Untergrombacher Bundschuh 1502. – Peter Blickle / Adam Thomas ( Hg. ): Bundschuh : Untergrombach 1502 , das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas , Stuttgart : Franz Steiner-Verlag 2004 , S. 31–52. Geschlechterrollen. – Enzyklopädie der Neuzeit , Bd. 4 , Stuttgart : Metzler 2006 , Sp. 631–650. „Hat man also bald ein solches Blutbad , Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehen , daß mich solches jammert wider zu gedenken …“. Religion und Gewalt in Michael Heberers von Bretten „Aegyptiaca Servitus“ ( 1610 ). – Kaspar von Greyerz / Kim Siebenhüner ( Hg. ): Religion und Gewalt. Konflikte , Rituale , Deutungen ( 1500–1800 ) ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 215 ), Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht 2006 , S. 85–108. Schreibsucht ? Zu den Leidenschaften eines gelehrten Bauern. – Alf Lüdtke / Reiner Prass ( Hg. ): Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 18), Köln / Weimar / Wien : Böhlau 2008 , S. 103–112.
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Wir danken den Verlagshäusern für die großzügige Überlassung der Wiederabdruckrechte.
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Familien- und Hausbücher im deutschsprachigen Raum – Ein Forschungsüberblick. – ital. Original : Libri di casa e di famiglia in area tedeschi : un bilancio storiografico , in : Giovanni Ciappelli ( Hg. ): Memoria , famiglia , identità fra Italia ed Europa nell’età moderna , Bologna : Mulino 2009 , S. 39–61. Gemeinde : Politische Gemeinde , Pfarrgemeinde. – frz. Original : Gemeinde : commune , paroisse , in : Philippe Büttgen / Christophe Duhamelle ( Hg. ): Religion ou confession. Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne ( XVe–XVIIIe siècles ), Paris : Editions de la Maison des Sciences de l’Homme 2010 , S. 393–414. Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung. – Zeitsprünge 15 ( 2011 ), Vittorio Klostermann , S. 85– 104. Tränenspektakel. Die Lebensgeschichte der Luise Charlotte von Schwerin ( 1731 ) zwischen Frömmigkeitspraxis und Selbstinszenierung. – L’Homme Z.f.G. 23,1 ( 2012 ), S. 27–42.
Bildnachweise Abb. 1 ) Israel van Mekenem : Das Böse Weib ( u m 1490 ), aus : Konrad Hoffmann : Cranachs Zeichnungen ‚Frauen überfallen Geistliche‘ , in : Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 26 ( 1972 ), S. 3. Abb. 2 ) Als Adam grub und Eva spann , aus der Yerislav-Bibel , um 1340 , aus : Eileen Power : Medieval Women , Cambridge 1975 , S. 12. Abb. 3 ) Hans Baldung , gen. Grien : Aristoteles und Phyllis , 1513 , aus : Carolyn Merchant : Der Tod der Natur. Ökologie , Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft , München 1980 , S. 149. Abb. 4 ) Lucas Cranach d. Ä. : Frauen vertreiben Geistliche , Federzeichnung , um 1537 ; Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
Schriftenverzeichnis Claudia Ulbrich Monografien Shulamit and Margarete. Power , Gender and Religion in a Rural Society in Eighteenth-Century Europe , transl. by Thomas Dunlap ( Studies in Central European Histories , vol. 32 ), Boston / Leiden 2004 , Neuausg. Paperback 2005. Shulamit und Margarete. Macht , Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ( Aschkenas , Beiheft 4 ), Wien 1999. Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte , Bd. 58 ), Göttingen 1979.
Editionen ( mit Maurice Daumas , unter Mitarbeit von Sebastian Kühn / Nina Mönich / Ines Peper ): Une conversion au XVIIIe siècle. Mémoires de la comtesse de Schwerin. Bordeaux 2013. ( mit Marion Kintzinger ): Wilhelm Ignatius Schütz , Ehren=Preiß / des hochlöblichen Frauen=Zimmers – Johann Gorgias , Gestürzter Ehren=Preiß / des hochlöblichen Frauen=Zimmers ( Historia Scientiarum ), Hildesheim u. a. 2003.
Herausgeberschaften ( mit Richard Wittmann ): Fashioning the Self in Transcultural Settings : The Uses and Significance of Dress in Self-Narratives ( Istanbuler Studien und Texte , Bd. 9 ), Würzburg ( im Druck ). ( mit Lorenz Heiligensetzer / Kasper von Greyerz ): Mapping the I. Research on Self Narratives in Germany and Switzerland ( Egodocuments and History Series ), Boston / Leiden ( im Druck ). ( mit Mineke Bosch / Gabriele Jancke ): Auto / Biographie (=L’Homme Z.f.G. 24,2 ), 2013. ( mit Almut Höfert / Claudia Opitz-Belakhal ): Geschlechtergeschichte global (=L’Homme Z.f.G. 23,2 ), 2012. ( mit Hans Medick / Angelika Schaser ): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 20 ), Köln / Weimar / Wien 2012. ( mit Claudia Jarzebowski / Michaela Hohkamp ): Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD ( Historische Forschungen , Bd. 81 ), Berlin 2005. ( mit Gabriele Jancke ): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung ( Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung , Bd. 10 ), Göttingen 2005. ( mit Jutta Eming / Claudia Jarzebowski ): Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge , Königstein / T. 2003. ( mit Mineke Bosch / Francisca de Haan ): Geschlechterdebatten (=L’Homme Z.f.G. 13,2 ), 2002. ( mit Waltraud Heindl ): HeldInnen ? (=L’Homme Z.f.G. 12,2 ), 2001. ( mit Michaela Hohkamp ): Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziationen während des 18. und 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive ( Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 19 ), Leipzig 2001.
Schriftenverzeichnis
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Geortete Herrschaft( en ) (=Werkstatt Geschichte 16 ), 1997. ( mit Andrea Griesebner ): Gewalt (=L’Homme Z.f.G. 7,2 ), 1996. ( mit Irmtraut Eder-Stein / Fritz Jacoby / Wolfgang Hans Stein ): Beiträge zur Geschichte von Gewerbe , Industrie und Verwaltung im Westrich und an der Saar. Für und mit Hanns Klein aus Anlaß seines 75. Geburtstages , St. Ingbert 1995. ( mit Peter Blickle / Peter Bierbrauer / Renate Blickle ): Aufruhr und Empörung ? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich , München 1980.
Artikel Self-Narratives as a Source for the History of Emotions , in : Childhood and Emotion. Across Cultures. 1450– 1800 , hg. von Claudia Jarzebowski / Thomas M. Safley , London / New York 2014 , S. 59–71. En Prusse , au temps de la comtesse de Schwerin , in : Une conversion au XVIIIe siècle. Mémoires de la comtesse de Schwerin , hg. von Maurice Daumas / Claudia Ulbrich , unter Mitarbeit von Sebastian Kühn / Nina Mönich / Ines Peper , Bordeaux 2013 , S. 53–73. „Autobiographical Acts“ – Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich im Gespräch mit Julia Watson , in : L’Homme Z.f.G. 24,2 ( 2013 ), S. 119–124. ( mit Gabriele Jancke / Mineke Bosch ): Editorial , in : L’Homme Z.f.G. 24,2 ( 2013 ), S. 5–10. Vers une histoire transculturelle des écrits du for privé , in : Les usages des écrits du for privé , hg. von François-Joseph Ruggiu , Bern / Berlin / Frankfurt / M. u. a. 2013 , S. 25–34. „Queer entwickeln“ – Claudia Ulbrich im Gespräch mit Hanna Hacker über entwicklungs- und globalisierungskritische Interventionen in Theorie und Praxis der Globalgeschichte , in : L’Homme Z.f.G. 23,2 ( 2012 ), S. 101–106. ( mit Almut Höfert / Claudia Opitz ): Editorial , in : L’Homme Z.f.G. 23,2 ( 2012 ), S. 5–12. Europäische Selbstzeugnisse in historischer Perspektive – Neue Zugänge , in : Critical Review of History 100 ( 2012 ), S. 400–421 ( in koreanischer Sprache ). Ebenfalls gedruckt in dem Sammelband : In Search of Tradition , Modernity , Colony and Nation in Diaries , hg. von Byungwook Jung / Ryota Itagaki , Seoul 2013 , S. 15–41. Jap. Übers. in Doshisha Korean Studies Series 1 ( 2014 ), S. 38–58. Tränenspektakel. Die Lebensgeschichte der Luise Charlotte von Schwerin ( 1731 ) zwischen Frömmigkeitspraxis und Selbstinszenierung , in : L’Homme Z.f.G. 23,1 ( 2012 ), S. 27–42. ( mit Hans Medick / Angelika Schaser ): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven , in : Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 20 ), hg. von Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser , Köln / Weimar / Wien 2012 , S. 1–19. Die DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive.“ Ein Projektbericht , in : Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven ( Selbstzeugnisse der Neuzeit , Bd. 20 ), hg. von Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser , Köln / Weimar / Wien 2012 , S. 21–26. Madame la Comtesse de Scheverin : Une approche biographique , in : Thèmes et figures du for privé , hg. von Maurice Daumas , Pau 2012 , S. 173–185. „Je fondis en larmes“. „L’histoire de la comtesse de Scheverin , écrite par elle-même à ses enfants“ ( 1731 ): un document qui peut servir de source pour une histoire des émotions , in : Amour divin , amour mondain
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