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German Pages [97] Year 2018
B E R AT E N I N D E R A R B E I T S W E LT
Daniela Rastetter Christiane Jüngling
Frauen, Männer, Mikropolitik Geschlecht und Macht in Organisationen
Herausgegeben von
Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller
BERATEN IN DER ARBEITSWELT Herausgegeben von Stefan Busse, Rolf Haubl und Heidi Möller
Daniela Rastetter / Christiane Jüngling
Frauen, Männer, Mikropolitik Geschlecht und Macht in Organisationen
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 2 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: maximmmmum/shutterstock.com ISBN 978-3-666-45250-6 © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Zu dieser Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung: Wozu dieses Buch?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Perspektiven auf Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Gleichheitstheoretische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Differenztheoretische Ansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Konstruktivistische Denkansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Queer-theoretische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Männlichkeits- oder Maskulinitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erweiterungen der Perspektiven auf Geschlecht: Intersektionalität und Diversity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3 Frauen sind …, Männer sind …: Geschlechterstereotype und Rollen von Frauen in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Ist Weiblichkeit eine Stärke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Riskante Rollen von Frauen in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4 Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik. . . . . . . . . . . . . . . . 44 Mikropolitisches Kompetenzmodell – die Bedeutung der einzelnen Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Mikropolitische Handlungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Strengere (Emotions-)Regeln für Frauen – nur im Management oder überall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Emotionsarbeit ist Frauenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 5 Fazit: Auf die Perspektive kommt es an – Geschlecht und Macht am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Inhalt
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Zu dieser Buchreihe
Die Reihe wendet sich an erfahrene Berater/-innen und Personalverantwortliche, die Beratung beauftragen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen, und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen. Wir denken aber auch an Kolleginnen und Kollegen in der Aus- und Weiterbildung, die neben dem Bedürfnis, sich Beratungsexpertise anzueignen, verfolgen wollen, was in der Community praktisch, theoretisch und diskursiv en vogue ist. Als weitere Zielgruppe haben wir mit dieser Reihe Beratungsforscher/-innen, die den Dialog mit einer theoretisch aufgeklärten Praxis und einer praxisaffinen Theorie verfolgen und mit gestalten wollen, im Blick. Theoretische wie konzeptuelle Basics als auch aktuelle Trends werden pointiert, kompakt, aber auch kritisch und kontrovers dargestellt und besprochen. Komprimierende Darstellungen »verstreuten« Wissens als auch theoretische wie konzeptuelle Weiterentwicklungen von Beratungsansätzen sollen hier Platz haben. Die Bände wollen auf je rund 90 Seiten den Leserinnen und Lesern die Option eröffnen, sich mit den Themen intensiver vertraut zu machen, als dies bei der Lektüre kleinerer Formate wie Zeitschriftenaufsätzen oder Hand- oder Lehrbuchartikeln möglich ist. Die Autorinnen und Autoren der Reihe werden Themen bearbeiten, die sie aktuell selbst beschäftigen und umtreiben, die aber auch in der Beratungscommunity Virulenz haben und Aufmerksamkeit finden. So werden die Texte nicht einfach abgehangenes Beratungswissen nochmals offerieren und aufbereiten, sondern sich an den vordersZu dieser Buchreihe
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ten Linien aktueller und brisanter Themen und Fragestellungen von Beratung in der Arbeitswelt bewegen. Der gemeinsame Fokus liegt dabei auf einer handwerklich fundierten, theoretisch verankerten und gesellschaftlich verantwortlichen Beratung. Die Reihe versteht sich dabei als methoden- und schulenübergreifend, in der nicht einzelne Positionen prämiert werden, sondern zu einem transdisziplinären und interprofessionellen Dialog in der Beratungsszene angeregt wird. Wir laden Sie als Leserinnen und Leser dazu ein, sich von der Themenauswahl und der kompakten Qualität der Texte für Ihren Arbeitsalltag in den Feldern Supervision, Coaching und Organisationsberatung inspirieren zu lassen. Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller
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Zu dieser Buchreihe
1 Einleitung: Wozu dieses Buch? Noch ein Beratungsbuch für Beraterinnen und Berater, noch dazu über Themen, die seit Langem im Zentrum einschlägiger Veröffentlichungen stehen: Macht und Politik in Organisationen, Gender, Diversität und Geschlechtergerechtigkeit. Warum? Diskussionen über Chancengleichheit, Quoten, mehr Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten, Diversity Management oder Gender Mainstreaming werden nach wie vor sehr kontrovers geführt, zum Teil mit den gleichen Argumenten wie vor dreißig Jahren. Dennoch ist das Wissen über die vielen Facetten der Genderthematik und ihre Verknüpfung mit organisationalen Machtstrukturen und anderen Bedingungen gesellschaftlicher Ungleichheit in der Aus- und Weiterbildung von CoaDer Begriff Gender bezeichnet in den Soches und Supervisorinnen/Superzialwissenschaften die durch Gesellschaft 1 visoren noch nicht sehr verbreitet. und Kultur geprägten GeschlechtseigenErst seit Kurzem gibt es Literatur schaften einer Person in Abgrenzung zu Gender- und Diversity-Kompezu ihrem biologischen Geschlecht (engl. tenz in Beratung, Coaching und »sex«). Er wird in diesem Kontext meist Supervision. Wir selbst beschäfmit »soziales Geschlecht« übersetzt und tigen uns seit geraumer Zeit mit dient unter anderem zur analytischen Kaden Erfahrungen bei der Einfühtegorisierung. rung von Frauenförderungs- und 1 Wir verwenden im Text die weibliche und männliche Form im Bewusstsein, dass der sprachliche Ausdruck unzulänglich ist, um sämtliche Geschlechtsidentitäten auszudrücken. Es mögen sich bitte alle angesprochen fühlen. Einleitung: Wozu dieses Buch?
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Gleichstellungsmaßnahmen und weiterführenden Forschungsansätzen zur erfolgreichen Gestaltung von organisationalen Veränderungsprozessen (Jüngling u. Rastetter, 2011b). Wir sind davon überzeugt, dass nur ein organisationspolitischer Ansatz die in einer Organisation auftretenden Interessenkonstellationen, Konflikte und Widerstände angemessen reflektieren kann, denn Menschen in Organisationen handeln nicht sachrational, sondern in erster Linie sozial rational. Eine organisationspolitische Perspektive kann auf allen Ebenen mit ganz unterschiedlichen Zielen nützlich sein: Auf der Makroebene kann es z. B. darum gehen, ein gleichstellungspolitisches Projekt unternehmensweit realistisch zu planen und in verschiedenen Bereichen strategische Koalitionspartner zu identifizieren. Auf einer mittleren Ebene gilt es, auf der Basis dieser strategischen Analyse mittels einer passenden Projektplanung verschiedene Akteure und Akteurinnen in Unternehmensbereichen und Abteilungen einzubinden, um dann in konkreten Kontexten geplante Umsetzungsschritte erfolgreich zu realisieren. Auf einer Mikroebene kann es das Ziel sein, als Protagonist/-in organisationalen Wandels – z. B. als Gleichstellungs- oder Diversity-Beauftragte/-r – erfolgreich zu sein (vgl. Edding, 2000), sich mit einem bestimmten Anliegen in Projektgruppen oder betrieblichen Gremien besser durchzusetzen oder – ganz individuell gedacht – die eigene berufliche Weiterentwicklung zu befördern. Das Besondere unserer Herangehensweise ist also die organisations- und mikropolitische Sicht: Wir betrachten Beratungsanliegen unter einer mikropolitischen Lupe. Dieser Fokus hebt hervor, dass unterschiedliche Interessen und Ziele von Einzelpersonen und Gruppen in Organisationen normal und alltäglich sind und alle Interaktionen beeinflussen. Inwieweit diese Interessen durchsetzbar sind, hängt von den jeweiligen Machtpotenzialen ab. Gender und weitere Dimensionen von Ungleichheit wie Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Herkunft, Sprache oder Religion wirken im Kontext dieser je spezifischen organisationalen »Innenpolitik«. Dies gilt sowohl für die Verfolgung individueller Ziele als auch für struk10
Einleitung: Wozu dieses Buch?
turelle Veränderungen in Unternehmen. Wir stellen deshalb zwei Thesen auf:
1) A lle Beraterinnen und Berater brauchen mikropolitische Kompetenz Beratung mit mikropolitischer Perspektive heißt, die Bedeutung von Macht, Interessen und individuellen Zielen stets mit zu bedenken, auch wenn sie auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen scheinen. Dies könnte so aussehen: Ein Klient möchte mit dem Coach zusammen seine weitere Laufbahn im Unternehmen planen und beschreibt dafür seine Qualifikationen, bisherigen Erfahrungen und zukünftigen Ziele. Der Coach lenkt den Blick des Klienten auf die Machtkonstellationen im Unternehmen, die dieser noch nicht bedacht hatte: Welche unterstützenden Personen hat oder braucht der Klient, wenn er eine bestimmte Position anstrebt? Welche Netzwerke muss er sich erschließen? Welche Erfolge muss er wie und bei wem herausstellen, um als Aufstiegskandidat bei seinen Vorgesetzten Beachtung zu finden?
Wenn nun eine Klientin dasselbe Anliegen hat und ihre Aufstiegsperspektiven reflektieren und verbessern will, spielen noch weitere, genderspezifische Aspekte eine wichtige Rolle. Hier müsste die Beraterin weitere Dimensionen erkunden, die auf die Aufstiegschancen von Frauen besonderen Einfluss haben. Das mikropolitische Feld wird komplexer (vgl. Jüngling u. Rastetter, 2012). Wichtige zusätzliche Fragen für eine weibliche Klientin wären: Welche Einstellung hat der unmittelbare Vorgesetzte gegenüber aufstiegsmotivierten Frauen (Frauen wird oft weniger Aufstiegsmotivation zugetraut als Männern)? Wie nimmt die Klientin die Unternehmens- und Abteilungskultur wahr (frauenfreundlich oder eher ablehnend)? In welchem Verhältnis stehen Frauen und Männer in ihrem Arbeitsbereich (Mehrheit–Minderheit)? Wie sind die unternehmensinternen Angebote und Einleitung: Wozu dieses Buch?
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Gepflogenheiten hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Präsenzkultur oder flexible Arbeitszeiten)? Gibt es für die Klientin Mentorinnen/Mentoren und Vorbilder im Unternehmen, die sie motivieren und fördern könnten?
Natürlich kann (Mikro-)Politik auch explizit im Auftrag enthalten sein, etwa wenn ein kleineres Unternehmen oder eine Abteilung in einem Fusionsprozess befürchtet, Einfluss zu verlieren und seine wesentlichen Strukturen und Prozesse erhalten will. –– Eine Gruppe von Psychotherapeutinnen will sich beraten lassen, um die Interessen ihrer Berufsgruppe gegenüber der Klinikleitung, bestehend aus einem Chefarzt und dem Geschäftsführer eines großen Klinikkonzerns, besser durchsetzen zu können. –– Die Gleichstellungsbeauftragte einer Behörde sucht Beratung, um verschiedene Gleichstellungsprojekte erfolgreich umsetzen zu können. Der Berater muss erfragen und reflektieren, welche Aufgaben und Machtressourcen sie hat, welche Rollen sie ausfüllen kann und mit welchen Blockaden, Widerständen und entgegengesetzten Interessen sie bei verschiedenen Projekten zu kämpfen haben wird.
In den beiden letzten Beispielen mischen sich – wie so oft – politische und Genderaspekte: berufliche Statusunterschiede, Interessen der Geschäfts- oder Behördenleitung, Interessen verschiedener Verwaltungsabteilungen, Berufsgruppen- oder Geschlechterunterschiede können relevant sein. Damit kommen wir zu unserer zweiten These:
2) A lle Beraterinnen und Berater brauchen Genderkompetenz Beraterinnen und Berater müssen sich darüber bewusst sein, dass Einstellungen und Verhalten von Frauen und Männern mit sozialen Festlegungen im privaten, beruflichen und betrieblichen Alltag verbunden sind. Dementsprechend existiert eine Vielfalt von Lebensentwürfen 12
Einleitung: Wozu dieses Buch?
und Lebenslagen. Auch Organisationen sind durch Geschlechtsrollen (und -bilder) und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zuschreibungen und Geschlechterverhältnisse geprägt und bilden entsprechende tief verankerte und zum Teil auch benachteiligende Strukturen aus. Genderkompetenz umfasst dieses Wissen über die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen und ungleichen Geschlechterverhältnissen, ebenso wie die Fähigkeit, diese zu erkennen und so zu beraten, dass benachteiligende Strukturen verändert werden können und allen an einer Beratung Beteiligten neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet werden. Dazu sind Kenntnisse über geschlechterpolitische Strategien notwendig sowie die Fähigkeit, Instrumente und Verfahren zur Verwirklichung von Gleichstellung und Chancengleichheit anzuwenden. Auch in Interaktionen spielt Geschlecht als soziale »Masterkategorie« eine zentrale Rolle, selbst wenn das eigentliche Thema, das in der Beratung besprochen wird, ein ganz anderes ist. Interaktionen finden dabei auf zwei Ebenen statt: Zum einen sind sie Gegenstand der Beratung, z. B. ein Konflikt mit dem Vorgesetzten oder der Umgang mit einer schwierigen Mitarbeiterin. Zum anderen findet die Interaktion in der Beratung selbst statt. Für die Beratungsinteraktion ist es ein Unterschied, ob ein Berater eine Gruppe von Erzieherinnen supervidiert oder ob eine Karriereberaterin eine männliche Führungskraft coacht. Beratende und Supervidierende sollten diese Unterschiede reflektieren und sich möglichst geschlechtergerecht verhalten (siehe Möller u. Müller-Kalkstein, 2014; Abdul- Hussain u. Baig, 2009; Gröning, Kunstmann u. Neumann, 2015; Pannewitz, 2012). Genderkompetenz bedeutet, dass Supervisoren/Supervisorinnen und Coaches in Beratungen je nach Auftrag flexibel verschiedene Reflexionsebenen einbeziehen (vgl. Schigl, 2014, S. 100): Ȥ Die Mikroebene: Sie umfasst die individuelle Entwicklungsgeschichte und das Selbstverständnis der Klientinnen und Klienten, die davon geprägte Kommunikation und Interaktion, die inEinleitung: Wozu dieses Buch?
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dividuelle Bereitschaft zur geschlechtstypischen oder untypischen Rollenübernahme etc. Ȥ Die Mesoebene: Zu ihr gehört die Bedeutung von Gender und Genderdynamik in den jeweils relevanten Teams, Abteilungen, Organisationsbereichen und Organisationen. Ȥ Die Makroebene: In ihr sind der Einfluss des gesellschaftlichen und politischen Umfelds, die herrschenden Regeln und Systeme und die jeweils dominierenden Einstellungen (Stichwort: Zeitgeist) zur Chancengleichheit verortet. Ȥ Die Meta-Reflexions-Ebene: Diese Ebene betrifft ebenso die Selbstreflexion als Supervisor/-in oder Coach im Hinblick auf Gender als auch die Reflexion der relevanten sozialisatorischen und historischen Einflüsse (Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten, Werte, Philosophien, Wissensbestände und Diskurse). In Beratungsfällen kann es verschiedene Konstellationen geben, in denen Genderkompetenz erforderlich ist. Eine Beraterin kann selbst zu dem Schluss kommen, dass Klientinnen und Klienten für die Lösung ihrer Probleme Genderkompetenz benötigen. In diesem Fall ist Genderkompetenz ein Wissen, das in die Beratung einfließt und an die Klientinnen und Klienten weitergegeben wird. Die Beraterin tut das implizit und eigeninitiativ: –– Eine im technischen Bereich tätige Frau sucht Rat für die Gestaltung ihrer Laufbahn. Sie ist eine von wenigen Frauen in ihrer Abteilung und hat nur männliche Vorgesetzte. Sie selbst hatte den Einfluss von Geschlecht auf Karriere bislang nicht im Blick. In diesem Fall kann es helfen, der Klientin diese Perspektive anzubieten. –– In einem Change-Projekt einer Abteilung soll die Beraterin den Veränderungsprozess begleiten, Widerstände abbauen etc. Sie erkennt, dass dieser Prozess auch die Geschlechterverhältnisse in der Abteilung berührt und Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen verstärkt: Arbeitsplätze in einer Berufsgruppe, in der weibliche Arbeitskräfte in der Mehrheit sind, sollen systematisch abgebaut werden. 14
Einleitung: Wozu dieses Buch?
Männliche Experten sollen gefördert werden. Die Beraterin bezieht dieses Wissen in die Beratung ein und konfrontiert die Projektgruppe mit den Fakten, um faire Lösungen mit Entwicklungsperspektiven für beide Geschlechter zu entwickeln.
In manchen Fällen gehört Genderkompetenz auch explizit zum Auftrag: –– Eine weibliche Führungskraft möchte ihre Probleme mit einigen ihr unterstellten älteren Kollegen lösen und bringt das Thema Gender selbst in die Beratung ein. –– Eine öffentlich geförderte Organisation (z. B. ein Unternehmen, eine Forschungsinstitution, Stiftung, ein Verband oder Verein) will und muss Gender-Mainstreaming-Kriterien erfüllen, um weiter förderungsfähig zu bleiben. Die Organisation sucht Unterstützung, um diesen Prozess zu planen und umzusetzen.
Genderkompetenz wird von Beratenden also explizit oder implizit eingefordert, auch in organisationalen Kontexten. Aus diesen Gründen verknüpfen wir in diesem Buch die Themen Geschlecht und Mikropolitik. Das Kapitel 2 gibt einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zum Thema Geschlecht. Denn die langjährige und breit gestreute Forschung hat dazu keine einheitlichen Konzepte, sondern verschiedene, teils widersprüchliche Perspektiven entwickelt, die man kennen sollte, wenn man geschlechtersensibel beraten möchte. Eng Gender-Mainstreaming ist eine Strategie zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter. Gender-Mainstreaming bedeutet, die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern bei allen Entscheidungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu berücksichtigen, um so die Gleichstellung durchzusetzen. Gender-Mainstreaming wird in öffentlichen Institutionen und Verwaltungen umgesetzt, während in der Privatwirtschaft zunehmend Diversity Management als Konzept zur Umsetzung von Chancengleichheit verwendet wird.
Einleitung: Wozu dieses Buch?
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verbunden mit diesen Ansätzen ist das Thema der Geschlechterstereotype, das wir in Kapitel 3 aufgreifen. Stereotype führen dazu, dass mit Weiblichkeit und Männlichkeit bestimmte Merkmale, Verhaltensweisen und Eigenschaften verknüpft werden, die wiederum bestimmte Bewertungen und Entscheidungen veranlassen. In Kapitel 4 wird Mikropolitik als spezifisches Verständnis von Interaktionen und Situationen am Arbeitsplatz dargestellt. Diese Perspektive entwirft das Bild einer Organisation als »politischer Arena«, in der alle nach Macht und Einfluss streben, um kollektive oder individuelle Ziele durchzusetzen, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß, mit unterschiedlich ausgereiften Strategien und unterschiedlichen Einstellungen und Gefühlen dazu. Hierbei spielt Geschlecht eine erhebliche Rolle. Mikropolitik und Genderdynamiken sind meist eng verflochten. Frauen müssen sich nach unseren Erfahrungen in größerem Ausmaß als Männer mikropolitische Kompetenzen und die Bereitschaft zu strategischem und rollenunabhängigem Handeln aneignen, um ihre beruflichen Ziele zu erreichen.2 Dafür haben wir ein Kompetenzmodell entwickelt, das vier mikropolitische Kompetenzdimensionen beschreibt. Das Modell hilft in der Beratung zu klären, welche Kompetenzen bei der Klientin/dem Klienten bereits vorhanden sind oder möglicherweise noch fehlen. Zur weiteren Fokussierung können die sechs mikropolitisch bedeutsamen Handlungsfelder herangezogen werden. Eines von ihnen ist das Thema Emotionalität. Sämtliche Konzepte und Modelle werden mit Fallbeispielen anschaulich gemacht, in denen sowohl Geschlecht als auch Mikropolitik zentrale Perspektiven der Beratungspraxis sind. Einige Beispiele stammen aus einem Forschungsprojekt, das wir durchgeführt haben und das es sich zum Ziel setzte, weiblichen Nachwuchsführungskräf2 Wir sind uns der Gefahr bewusst, dass wir mit dieser These das Bild der Frau als defizitäres Wesen unterstützen, weshalb wir darauf nochmals in Kapitel 2 eingehen. Es ist und bleibt ein Dilemma, dass Geschlechterunterschiede zwangsläufig (manchmal zu sehr) hervorgehoben werden, wenn gendersensibel gehandelt wird. 16
Einleitung: Wozu dieses Buch?
ten mikropolitische Kompetenz zu vermitteln, um ihre Chancen auf das Erreichen ihrer Karriereziele zu erhöhen. Andere Fälle schildern Ausschnitte aus Karriereberatungen oder Teamkonstellationen, bei denen Machtpotenziale, Mikropolitik und Geschlecht eine wichtige Rolle spielen. Die Zitate sind aus Interview-Transkripten des Forschungsprojekts oder aus Coaching-Mitschriften entnommen. Die meisten Fallbeispiele schildern Einzelberatungen. Es hätte den Rahmen gesprengt, mehr Fälle aus der Organisations- und Projektberatung einzubeziehen. Die erforderliche Reflexion der Organisationsstrukturen, der mikropolitischen Ziel- und Interessenkonstellationen und schließlich die Diskussion der Auftragsklärung aus verschiedenen Perspektiven würden ein weiteres Buch füllen.
Einleitung: Wozu dieses Buch?
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2 Perspektiven auf Geschlecht Allgemeingültige Aussagen zu dem, was Geschlecht bedeutet, gibt es nicht. Mittlerweile wird zu dieser Thematik seit so vielen Jahren in so vielen unterschiedlichen Disziplinen gearbeitet, dass die Perspektiven vielfältig und komplex geworden sind. Dies zu wissen ist wichtig, weil von manchen Personen globale Kritik an der Geschlechterforschung oder den Gender Studies geübt wird, die der Differenziertheit der Ansätze nicht gerecht wird. Um eine gewisse Ordnung in diese Vielfalt zu bekommen, beschreiben wir die wichtigsten Strömungen der aktuellen Geschlechterforschung. Diese bestehen nebeneinander, denn es ist mitnichten so, dass heute durchgängig neuere Ansätze dominieren, wie z. B. der Dekonstruktivismus. Je nach Herkunft, Fach, Ziel und Interesse ist einmal die eine, einmal die andere Perspektive zu finden, und häufig wird sie nicht explizit, sondern implizit verwendet. Erst wenn dies erkannt wird, können Berater/-innen mit der Unterschiedlichkeit von Sichtweisen transparent umgehen. Umgekehrt kann eine bestimmte Perspektive auch strategisch eingenommen werden, um Positionen deutlicher zu machen, auch wenn man um deren Schwächen weiß. In der abendländischen Kultur ist ein Denken in Gegensätzen allgegenwärtig: Gut und Böse, Diesseits und Jenseits, Jung und Alt, Mann und Frau bzw. männlich und weiblich stehen einander klar gegenüber. Das Geschlecht stellt eine zentrale Strukturkategorie dar, an die grundlegende gesellschaftliche Ordnungsstrukturen wie Rollenund Verhaltenserwartungen geknüpft sind. Ungleichheitsverhältnisse in der Arbeitsteilung, Entlohnung und Laufbahnentwicklung weibli18
Perspektiven auf Geschlecht
cher und männlicher Arbeitskräfte, in ihrem Zugang zu Ressourcen und leitenden Tätigkeiten sind nur einige Aspekte der gesellschaftlichen Setzung von Relationen in Bezug auf das Geschlecht. Geschlecht ist zudem mit anderen Polarisierungen und Differenzierungen wie Alter, kultureller Prägung, Bildung, sexueller Orientierung, (Nicht-) Behinderung, ethnischer Herkunft etc. verwoben. Zur Frage der Geschlechterverhältnisse haben sich in jüngerer Zeit unterschiedliche Theorien und Paradigmen herausgebildet, denen gemein ist, dass sie hierarchische Macht- und Herrschaftsverhältnisse infrage stellen, die sich an der Dimension Geschlecht orientieren.
Gleichheitstheoretische Positionen Gleichheitstheoretische Positionen wurzeln in der ersten Frauen bewegung, beginnend im 19. Jahrhundert, und in der zweiten Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Das Gleichheitsparadigma des liberalen Feminismus stellt die Gleichheit zwischen den Geschlechtern heraus und verbindet damit die Forderung nach gleichen Rechten für Frauen und Männer. Allen Menschen als Individuen sollen dieselben Rechte und Zugangschancen zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gewährt werden (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Kultur etc.). Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern soll durch spezifische Förderstrategien für Frauen abgebaut werden. Ziel ist es, dass Frauen und Männer in allen Positionen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil und ihrer Qualifikation vertreten sind. Die in den 1970er Jahren entwickelte Frauenförderpolitik beruht weitgehend auf dem Gleichheitsparadigma. Kritisiert wurde am Gleichheitsparadigma, dass Strukturen sozialer Ungleichheit entlang der Geschlechtergrenzen im System der Zweigeschlechtlichkeit verhaftet bleiben. Dominante Männlichkeitskonstruktionen bleiben unangetastet. Benachteiligungen von Frauen werden in dieser Logik oft als Folge mangelnder weiblicher Selbst behauptung in einer männlich geprägten Welt betrachtet, also als DeGleichheitstheoretische Positionen
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fizit der Frauen. Gleichstellungspolitik im Sinne einer Förderpolitik basiert häufig explizit oder implizit auf dieser Annahme.
Differenztheoretische Ansätze Differenztheoretische Ansätze haben ihren Ausgangspunkt beim blinden Fleck des gleichheitstheoretischen Diskurses, eben die einseitige Orientierung am idealtypischen Männlichkeitsbild. Differenztheoretische Ansätze gehen von einer prinzipiellen Ungleichheit der Geschlechter aus: Frauen sind grundsätzlich anders als Männer. Die besondere Betonung spezifisch weiblicher Potenziale führt bei dieser Perspektive häufig zu einer Höherbewertung von Weiblichkeit. Das differenztheoretische Paradigma konstruiert einen Unterschied zwischen den Geschlechtern, indem es als weiblich geltende Merkmale wie Personenbezogenheit oder Einfühlsamkeit positiv als Stärke betrachtet. Da das Weibliche von diesen Ansätzen als sozial verantwortlicher, moralischer und bewahrender bewertet wird, ist es kein Defizit, sondern ein Potenzial für eine bessere Zukunft. Begründet werden Ein Beispiel für eine differenztheoretische die angenommenen positiven MerkSichtweise ist die These eines besonderen male entweder mit der Sozialisation weiblichen Führungsstils, auf die wir noch (erworbene Merkmale) oder mit genauer eingehen: In der Managementeiner spezifisch weiblichen Natur forschung wurde argumentiert, dass Frauen anders führen und die besseren (biologisch bedingt). Vorgesetzten sein könnten, weil sie naDie Genderkonstruktion in der turgemäß mehr »soft skills« wie soziale Differenztheorie orientiert sich ähnKompetenz und Beziehungsorientierung lich wie das Gleichheitsparadigma an zur Verfügung hätten. Diese würden für einem Weiblich-männlich-Gegen eine moderne Führungskraft immer wichsatz. Differenzansätze können ein tiger, deshalb seien Frauen im Vorteil. Dievereinfachtes schematisches Dense vermeintliche weibliche Stärke hat sich ken im Sinne von »Frauen sind …«, bisher allerdings kaum auf die Aufstiegs»Männer sind …« fördern (siehe Kachancen in hohen Positionen ausgewirkt. pitel 3). Gemeinsamkeiten zwischen 20
Perspektiven auf Geschlecht
Frauen und Männern werden ebenso wie Vielfalt innerhalb einer Gendergruppe unterschätzt. Damit läuft der Ansatz Gefahr, Stereotype zu reproduzieren. Letztlich, so die Kritik, werden männliche Machtpositionen nicht angegriffen.
Konstruktivistische Denkansätze Konstruktivistische Denkansätze untersuchen hingegen die Wege, wie soziale Wirklichkeit und Geschlecht als soziale Phänomene konstruiert, also hergestellt werden. Diese Konstruktion von Realität wird als Prozess begriffen, die stetig durch das Handeln von Menschen in Interaktion und durch Interpretationen von Handeln produziert und reproduziert wird. Geschlechterverhältnisse sind demnach dynamisch und veränderbar. Das bekannteste Zitat dazu stammt von Simone de Beauvoir (1949/1992, S. 265): »Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden zu Frauen gemacht«. Geschlecht ist in diesen Ansätzen nicht mehr (biologisches) Merkmal einer Person, sondern soziale Praxis. Für diese Prozesse prägten Candace West und Don H. Zimmermann 1987 den Begriff des »Doing Gender«. Doing Gender ist ein ständiger Prozess der Signalisierung und Erfüllung geschlechtsspezifischer Verhaltenserwartungen.
Doing Gender kann beispielsweise bei Männergruppen in Settings beobachtet werden, in denen traditionelle Männlichkeitsvorstellungen normativ wirken und Männer diese Normen erfüllen müssen, um akzeptiert zu werden. In männlich dominierten technischen Teams oder in Führungsteams bestehen häufig die Normen der Heterosexualität, der Trinkfestigkeit oder der Verleugnung von Schwäche und Verletzbarkeit. Sexuelle Witze, Kneipentouren und die Demonstration körperlicher und emotionaler Stärke gehören zum Repertoire des Doing Gender (in diesem Fall: doing masculinity). Von allen Mitgliedern solcher Teams wird die Kenntnis und Umsetzung dieser Normen erwartet. Abweichler werden als Schwächlinge oder »keine richtigen Männer« betrachtet. Diese Dynamiken verschiedener Männlichkeiten werden im Rahmen der kritischen Männerforschung bearbeitet.
Konstruktivistische Denkansätze
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Dekonstruktivistische Ansätze gehen einen Schritt weiter, indem sie Geschlechterkonstruktionen kritisch hinterfragen und zerlegen. Selbst der Körper wird als historisch-gesellschaftlich »geworden« betrachtet. Eine dekonstruktivistische Perspektive fragt danach, wann welche sozialen Kategorien wie bedeutsam werden. In diesem Rahmen wurde der Begriff des »undoing gender« geprägt: Wie, in welchen Situationen und durch welche Akte ist es möglich, dass Geschlecht keine Kategorie der Differenz, der Machtungleichheit oder der besonderen Zuschreibungen ist? Weiter gefragt, ist es denkbar, dass Geschlecht überhaupt keine Kategorie mehr ist, die irgendetwas bedeutet? So gibt es durchaus Settings in der Arbeitswelt, in denen Gender weniger bedeutsam ist als in anderen. Beispielsweise sind in manchen Bereichen von Banken (jedoch nicht in der Leitung) die Geschlechter ziemlich gleich verteilt, Frauen und Männer machen ähnliche Arbeiten und erhalten ähnlichen Lohn. Auch die uniformierte Kleidung und die Art der stark strukturierten Aufgaben tragen dazu bei, dass Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männern größer sind als zwischen verschiedenen individuellen Persönlichkeiten. Jedoch muss genau hingeschaut werden: Gibt es in informellen Situationen (z. B. Betriebsfeiern) doch sexuelle Übergriffe, steigen Männer leichter auf etc.
Queer-theoretische Zugänge Queer-theoretische Zugänge knüpfen an die (de-)konstruktivistischen Perspektiven an und stellen das Sex-Gender-Konzept grundsätzlich in Frage. Dem Queer-Ansatz geht es vor allem um fließende Grenzen von sexuellen Identitäten und sexuellem Begehren. Der machtvolle Zusammenhang zwischen einer eindeutigen Zuschreibung eines biologischen Geschlechts, dessen Verknüpfung mit dem sozialen Geschlecht und der Norm des gegengeschlechtlichen Begehrens, auch als »heterosexuelle Matrix« oder »Heteronormativität« bezeichnet, wird kritisiert. Verschiedene Sexualitäten und Begehrensformen sind gleichberechtigt und 22
Perspektiven auf Geschlecht
LGBTIQ (auch GLBT oder LSBTTIQ oder lgbt*i) ist eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual und Queer also L esben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queer. Die in Deutschland manchmal verwendete Abkürzung LSBTTIQ steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle und queere Menschen. Es handelt sich dabei um eine Gemeinschaft mit unterschiedlicher Thematik, deren Gemeinsamkeit es ist, nicht der Heteronormativität zu entsprechen. Es geht um die sexuelle Orientierung gegenüber dem Partnergeschlecht, um die eigene Geschlechtsidentität und um körperliche Geschlechtsvariationen. Der Begriff Transgender ist eine Bezeichnung für Menschen, deren Geschlechtsidentität oder Geschlechtsrolle von demjenigen Geschlecht abweicht, das ihnen zu Beginn ihres Lebens aufgrund augenscheinlicher körperlicher Geschlechtsmerkmale zugewiesen wurde. Entsprechend der jeweiligen Geschlechtsidentität oder Geschlechtsrolle wird oft zwischen Transmann und Transfrau unterschieden.
gleich zu behandeln, sowohl sprachlich als auch materiell. Mit dem Begriff LGBTIQ werden diese verschiedenen Varianten zusammengefasst. Noch sind die meisten Organisationen nicht mit konkreten Forderungen nach Gleichbehandlung der LGBTIQ konfrontiert, dies könnte sich im Zuge der weiteren gesetzlichen Angleichungen und gesellschaftlichen Öffnungen aber ändern, weil sich dann mehr Personen trauen, zu ihrer nicht-heteronormativen Identität zu stehen. Auch in der Beratungspraxis könnten solche Anliegen in Zukunft eine größere Rolle spielen, beispielsweise wenn sich eine Person mit Geschlechtsumwandlung, die sich in einer Arbeitsgruppe diskriminiert fühlt, besser strategisch positionieren will.
Männlichkeits- oder Maskulinitätsforschung Die Männlichkeits- oder Maskulinitätsforschung als Untergruppe der Geschlechterforschung widmet sich kritisch der Analyse der Wirkmechanismen zur Reproduktion patriarchaler Macht. Sie entwickelte sich seit Ende der 1970er Jahre zu einem eigenständigen ForschungsMännlichkeits- oder Maskulinitätsforschung
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gebiet. Die sogenannte Kritische Männerforschung untersucht Männer als gesellschaftlich handelnde Akteure und Männlichkeit als gesellschaftliche Strukturkategorie. Ausgehend von einer Kritik bisher geltender Männlichkeitsvorstellungen analysiert sie verschiedene Formen von Männlichkeiten. Diese empirisch identifizierbaren Lebensstilvarianten von Männern unterscheiden sich in ihren jeweiligen leid- und lustvollen Aspekten von Lebensrealität. Auch in Organisationen sind verschiedene Formen von Männlichkeit internen Machtkämpfen unterworfen und stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Die kulturell vorherrschende Form der heterosexuellen Männlichkeit konstituiert sich sowohl über die Unterordnung von Frauen als auch vieler Gruppen von Männern (Connell, 1995). Beispiele sind Abwertungen homosexueller Männer beim Leistungssport oder innerhalb von Führungspositionen. Aber auch die sprichwörtlichen »neuen Väter« gehören zu den nicht-dominanten Formen von Männlichkeit. So berichten Väter immer wieder davon, wie sehr sie sich davor scheuen, eine längere als die mittlerweile übliche zweimonatige Elternzeit zu nehmen, da sie Karriere- und Akzeptanzprobleme fürchten. Schwer haben es häufig auch Männer, die Angehörige pflegen, Teilzeit arbeiten wollen oder eine angebotene Führungsposition ablehnen. Sie gilt es mit mikropolitischer Kompetenz so zu stärken, dass sie ihre Vorstellungen bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf verwirklichen können und keine beruflichen Nachteile in Kauf nehmen müssen.
Das Hauptproblem der (de-)konstruktivistischen und queer-theoretischen Ansätze besteht darin, dass sie theoretisch sehr anspruchsvoll und in der Praxis nur schwer zu vermitteln sind. Ihre konzeptionelle Komplexität knüpft nicht an persönliche Erfahrungen der Mehrheit an, sondern widerspricht ihnen sogar. So erleben Auftraggeber/-innen, Klienten/Klientinnen und Teilnehmende ihren Körper in der Regel nicht als sozial konstruiert, sondern als weiblich oder männlich. Institutionen wie Arbeitsorganisationen oder öffent24
Perspektiven auf Geschlecht
liche Einrichtungen tun sich noch schwerer, Perspektiven jenseits von Gleichheits- und Differenzparadigma umzusetzen, da sie in der Regel komplexitätsreduzierend handeln und für ihre täglichen Aufgaben schnell anwendbare Lösungen suchen. Deshalb werden diese neueren Ansätze vornehmlich in der akademischen Welt diskutiert und weiterentwickelt sowie in Subkulturen, die sich beispielsweise aus eigener Betroffenheit dafür interessieren. Für Berater und Beraterinnen bedeutet dies, (de-)konstruktivistische und queer-theoretische Ansätze als Konzepte über die Vielfalt der Ausdrucksformen und Bedeutungen von Geschlecht im Blick zu behalten, ohne sie in jedem Fall explizit zu machen. Dies empfiehlt sich vor allem dann, wenn zu erwarten ist, dass sie in der konkreten Situation nicht anschlussfähig sind. Möchte beispielsweise eine Gleichstellungsverantwortliche in einem Unternehmen bestimmte Maßnahmen durchsetzen, kann es hilfreich sein, besondere Qualitäten von Frauen herauszustellen, da ein solches Argument an den herrschenden Diskurs der Leistungsmaximierung anschließt, obwohl er aus der gendertheoretisch kritisch zu betrachtenden Differenztheorie stammt. Die Klientin dahingehend zu beraten bedeutet keinen Rückfall in veraltete Perspektiven, sondern ein taktisch angepasstes, mikropolitisch kluges Vorgehen zur Zielerreichung.
Erweiterungen der Perspektiven auf Geschlecht: Intersektionalität und Diversity Seit der Kritik des black feminism am Feminismus weißer Mittelschichtsfrauen in den USA der 1980er Jahre nahm das Bewusstsein dafür zu, dass neben dem Geschlecht auch andere soziale Kategorien Einfluss auf die (Un-)Gleichheiten in Gesellschaft und Organisationen haben. Die Beziehung zwischen Geschlecht und anderen Differenzkategorien wurde stärker beachtet. Der black feminism gab den Anstoß zur sogenannten Intersektionalitätsdebatte in den USA, Erweiterungen der Perspektiven auf Geschlecht
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genauer zur Erweiterung der Genderperspektive um class und race. Intersektionalität steht heute für die Analyse von Differenzen und Differenzkonstruktionen entlang wirkmächtiger sozialer Kategorien, die sich grundsätzlich auf alle Dimensionen von Vielfalt (Geschlecht, Alter, Aussehen, Behinderung, Klasse, ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung, aber auch Bildung, Sprache, Elternschaft, Betriebszugehörigkeit etc.) beziehen können. Intersektionalität geht der Frage nach, wann welche Kategorien von Vielfalt in sozialen Interaktionen oder Prozessen in Organisationen bedeutsam werden, das heißt, wann sie als Unterscheidungsmerkmal eingesetzt und damit sozial aktualisiert werden. Damit folgt sie der Perspektive der (De-)Konstruktion. Soziale Kategorien gelten nicht als statisch oder in sich geschlossen, sondern sind miteinander verwoben, sie verstärken oder schwächen sich wechselseitig und verändern sich gegenseitig. So können sich bei einer behinderten Frau die Dimensionen Behinderung und Geschlecht in einem Fall zu einer doppelten Benachteiligung verstärken, in einer anderen Situation könnte dagegen nur eine der beiden Dimensionen im Vordergrund stehen. In Abhängigkeit vom Kontext können alle sozialen Kategorien unterschiedliche Wirkungen entfalten. Wie soziale Kategorien hergestellt werden, wurde in Anlehnung an Doing Gender als »Doing Difference« betitelt (Fenstermaker u.West, 2002). Im Sinne eines undoing gender oder undoing difference können Geschlecht oder andere Kategorien je nach Kontext in den Hintergrund rücken und damit nicht zur Grundlage von Handlungen gemacht werden. Aus intersektionaler Perspektive unterliegen soziale Kategorien grundsätzlich Stereotypisierungsprozessen, die Komplexität reduzieren. Der intersektionale Ansatz verfolgt den Anspruch, solche Fest legungen von Personen auf bestimmte Merkmale über Einordnungen entlang sozialer Kategorien zu vermeiden. Damit grenzt sich der intersektionale Ansatz von anderen Konzepten ab, die soziale Kategorien als statisch, fixiert und messbar behandeln.
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Perspektiven auf Geschlecht
Ein Beispiel sind Teams in internationalen Organisationen, deren Mitglieder verschiedene Sprachen sprechen. Sprache ist hier die relevante Dimension, die über Interessendurchsetzung, Subgruppenbildung und Einflussmöglichkeiten entscheidet. Wer alle Teamsprachen sehr gut beherrscht, hat am meisten Einflusschancen, da er oder sie sich am einfachsten mit allen abstimmen, wichtige Informationen erhalten und als unentbehrliches Mitglied positionieren kann. Nationalität, Geschlecht oder Alter treten demgegenüber in den Hintergrund (vgl. Gläsener, 2016). Es gibt aber auch Möglichkeiten, diese Einschränkungen bewusst zu kompensieren, wie gezielt eingesetzte Handlungsstrategien in Unternehmen mit großer Sprachvielfalt zeigen (vgl. Gaibrois, 2017).
Als Erweiterung der Perspektive auf geschlechtsspezifische Ungleichheit setzte sich in Organisationen der aus den USA stammende Begriff »Diversity« durch. Im deutschsprachigen Raum ist das soziologische Konzept der Diversität verbreitet, das in Wirtschaft und Gesellschaft – analog zum Begriff Diversity im englischsprachigen Raum – die Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen hervorhebt. Der Ansatz des Managing Diversity oder Diversity Management hat das Ziel, die Vielfalt der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wertzuschätzen, als Potenzial zu nutzen und möglichst konfliktfrei fair zu behandeln (zu »managen«). Häufig wird argumentiert, dass die Vielfalt in der Belegschaft zu besseren, weil kreativeren Ergebnissen führt, was jedoch nur dann der Fall ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und das D iversity Management konsequent und bedarfsbezogen durchgeführt wird. Dann, so die Hoffnung, führt es zu einem besseren Image der Organisation, zieht qualifizierte Personen an und vermeidet Kosten, die durch Diskriminierung und Arbeitskonflikte entstehen (Krell, 2008). Berücksichtigt werden vom Diversity Management jene Dimensionen, die in der jeweiligen Organisation Relevanz haben, meist sind dies Geschlecht, Kultur, Alter, ethnische Herkunft, manchmal religiöse Orientierung (Stichwort: Kopftuchdebatte), Behinderung (Inklusionsanforderung) oder (seltener) sexuelle Orientierung, aber auch Elternschaft, Bildung, Erweiterungen der Perspektiven auf Geschlecht
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soziale Herkunft etc. Welche Maßnahmen im Zuge von Diversity anagement ergriffen werden, ist höchst unterschiedlich und von M der Herkunft der Organisation (z. B. US-amerikanischer Mutterkonzern), der Organisationsleitung, den jeweiligen Akteuren oder der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen und Institutionen abhängig. Die aktivsten Organisationen haben bereits eine Stelle für Diversitybeauftragte, ein diversityorientiertes Leitbild, Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Beratungsangebote, Arbeitsplätze für Behinderte etc. Andere Organisationen weisen nichts dergleichen auf. Managing Diversity oder Diversity Management ist damit sozusagen die praktische Seite der Intersektionalität. Diversity Management wird in verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer bekannter, nicht zuletzt durch Diskussionen in den Medien oder Erfahrungen im eigenen Unternehmen. Die Charta der Vielfalt, eine Unternehmensinitiative zur Förderung von Vielfalt, die bisher 2700 Organisationen unterschrieben haben (2017), trägt zur Bekanntheit von Diversity Management bei. Deshalb lässt sich auch in der Beratung wesentlich leichter an Diversity Management anknüpfen als an theoretische Konzepte wie der Dekonstruktion. Will sich eine Gleichstellungsbeauftragte auch für schwule und lesbische Beschäftigte einsetzen und eine Informationsveranstaltung dazu durchführen, ist sie gut beraten, nicht mit queer-theoretischen Argumenten an die Unternehmensleitung heranzutreten, sondern mit dem Argument, dass dies zu einer modernen Managing-DiversityStrategie dazugehört und in best-practice-Unternehmen bereits üblich ist.
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Perspektiven auf Geschlecht
3 Frauen sind …, Männer sind … Geschlechterstereotype und Rollen von Frauen in Organisationen
Kommen wir auf Geschlechterstereotype zurück, die im Zusammenhang mit Geschlecht stets eine Rolle spielen, da sie eine vereinfachte Informationsverarbeitung ermöglichen. Traditionelle Rollen von Frauen und Rollenerwartungen an Frauen beruhen auf Stereotypen. Diese traditionellen Rollen und Rollenerwartungen gibt es auch in Organisationen. Geschlechterstereotype beschreiben mutmaßlich männliche und weibliche Merkmale als verallgemeinernde Wahrnehmungsmuster und suggerieren dabei eine »natürliche« Komplementarität von Männern und Frauen (Eckes, 2010, S. 178). Sie enthalten sozial geteilte Vorstellungen über die charakteristischen Merkmale von Frauen bzw. Männern. Typisch sind die Zuordnungen: weiblich = emotional, sozial, zurückhaltend; männlich = rational, aufgabenorientiert, aktiv. Solche Zuordnungen sind bemerkenswert stabil trotz gewandelter Rollen und Lebensentwürfe in der Gesellschaft. Besonders ausgeprägt wirken Stereotype in Bereichen oder Situationen, in denen sehr viele Personen eines Geschlechts vertreten sind und das andere Geschlecht in der Minderheit ist. Beispiele dafür sind der Führungsbereich oder auch Berufsbereiche, in denen überwiegend Männer (technische Berufe) oder Frauen (soziale und Dienstleistungsberufe, Erziehung und Bildung) arbeiten. Die typische Führungskraft ist nicht nur statistisch meist ein Mann, sondern wird auch männlich stereotypisiert. Männliche Stereotype wie Aktivität, Kompetenz, Durchsetzungsvermögen und Leistungsstreben beeinflussen das Bild vom idealen Manager, und zwar sehr stabil und dominant, ungeachtet der Tatsache, dass in den letzten Jahren soft skills wie soFrauen sind …, Männer sind …
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ziale Kompetenz zur guten Führung zugerechnet werden. Stereotyp maskuline Eigenschaften werden nach wie vor als erwünschter für einen guten Manager angesehen als stereotyp feminine Eigenschaften. Es gilt auch heute noch das in den 1990er Jahren festgestellte »Think-manager-think-male«-Phänomen (Schein, 2001). Geschlechterstereotype sind nicht nur für die Fremdwahrnehmung, sondern auch für das Selbstkonzept und die Selbstwahrnehmung bedeutsam. Eine Orientierung an nicht zur Position passenden Stereotypen (z. B. eine Frau in Führungsposition, die sehr »weiblich« wirkt) kann der eigenen Wirkung schaden. Deshalb ist es für Personen, die in vermeintlich geschlechtsuntypischen Berufen und Positionen arbeiten (aber auch für alle anderen) besonders wichtig, das Selbstkonzept oder die Selbstpräsentation und die Fremdwahrnehmung zu reflektieren – sie benötigen Selbstkompetenz. Selbstkompetenz ist deshalb eine zentrale Dimension unseres Kompetenzmodells. Um beim Beispiel Führung zu bleiben: Die Meinungen darüber, ob sich Frauen für Führung eignen, sind heute vielfältiger als früher – was die Sache nicht unbedingt einfacher macht. Es gibt weiterhin die Überzeugung, Frauen Führungsfähigkeiten abzusprechen, daneben aber auch die Einschätzung, Weiblichkeit sogar als Wettbewerbsvorteil und Machtressource zu betrachten – beide Meinungen entsprechen dem beschriebenen Differenzansatz. Zwar erscheinen Geschlechterstereotype im Allgemeinen und das »Think-manager-think-male«-Phänomen im Besonderen im modernen Gleichbehandlungsdiskurs antiquiert, dennoch wirken diese Phänomene auf einer unterbewussten Wahrnehmungsebene weiter und sollten deshalb reflektiert werden. Gerade weil die damit verbundenen Probleme häufig nicht ernst genommen werden oder es versucht wird, mit Leistung und Sachverstand zu überzeugen. Auf Grund des Minoritäten-Status und der stereotypen Erwartungen werden Frauen in Führungspositionen zu zweifachen Abweichlerinnen: Sie sind keine typischen Frauen, weil sie keine typische Frauenrolle einnehmen und sie sind keine typischen Führungskräfte, weil sie Frauen sind. Damit ist ihr Aufstieg kein gut markierter Weg nach oben, sondern eine 30
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Gratwanderung zwischen der weiblichen Rolle und der Berufs- und Führungsrolle. Was bedeutet dies? Zunächst: Frauen sind in Minderheiten- und Leitungspositionen als Ausnahmeerscheinung besonders sichtbar. Dies führt zu einer stereotypen Wahrnehmung von Frauen. Sie werden weniger als Individuum (»Frau Müller«) als vielmehr als Vertreterinnen ihrer Geschlechtergruppe betrachtet (»Frau Müller, was sagen Sie als Frau dazu?«). Ihre Leistungen werden genau beobachtet und häufig strenger beurteilt als bei Männern, die als Angehörige der Normgruppe weniger auffallen. Sichtbarkeit ist in vielen Arbeitsbereichen eindeutig von Vorteil. Je sichtbarer und auffälliger jemand ist, desto weniger Aufwand muss er oder sie betreiben, um wahrgenommen zu werden. Das Erzielen von Aufmerksamkeit ist eine wesentliche Erfolgsstrategie, ebenso ist eine positive Selbstdarstellung aus mikropolitischer Perspektive sehr wichtig. Jedoch: Selbst dann, wenn eine Frau von ihren Kompetenzen überzeugt ist, kann sie leicht in das Dilemma zwischen Professionalität und Weiblichkeit geraten. Vor allem von Führungskräften aber auch von anderen Beschäftigten in qualifizierten Positionen wird erwartet, Selbstvertrauen und Autorität zu zeigen und damit Sicherheit zu vermitteln. Klientinnen berichten jedoch häufig, sie müssten sehr genau überlegen, wieviel Selbstvertrauen sie auf welche Weise zeigen, um einerseits gegenüber ihrem Team und dem betrieblichen Umfeld souverän aufzutreten und andererseits als sympathisch wahrgenommen zu werden. Besonders häufig haben solche Probleme Frauen, die in stark männerdominierten technischen Berufen tätig sind. Dort herrschen Umgangsformen, Sprachstile und Haltungen, auf die die in der Minderheitsposition beschäftigten Frauen häufig mit Anpassung, Kündigung oder – in besonders günstigen Fällen – auch mit Widerstand reagieren. Widerstand und kulturelle Veränderungen werden dann möglich, wenn die Unternehmensleitung klare Gleichstellungsrichtlinien verfolgt und die Frauen in einer fachlich starken Position sind (Mucha, 2014). Umgekehrt erleben auch Männer in frauentypischen Berufen stereotype Reaktionen ihres Umfelds. Als Erzieher, AltenFrauen sind …, Männer sind …
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pfleger oder Flugbegleiter werden ihnen teilweise Zweifel bezüglich ihrer Eignung oder Misstrauen bezüglich ihrer Berufswahl entgegengebracht. Ihre Berufsmotivation und Männlichkeit werden infrage gestellt oder sie werden mit Unterstellungen hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung konfrontiert. Ein Unterschied zu Frauen in Männerberufen besteht jedoch: Sie steigen auch in diesen Berufen leichter auf als Frauen.
Ist Weiblichkeit eine Stärke? Wie bereits erwähnt, werden heute im Kontext der Erwerbsarbeit gern die positiv gewerteten Weiblichkeitsstereotype der besseren sozialen und kommunikativen Kompetenzen, der Empathie und der stärkeren Mitarbeiterorientierung herangezogen. Praktisch alle Umfragen der jüngeren Zeit ergeben beispielsweise eine große Zustimmung zu Frauen in Leitungsfunktionen (Wippermann, 2010, S. 15). Die große Mehrheit von Geschäftsführenden, Vorständen und oberen Führungskräften in Deutschland und anderen europäischen Ländern wünschen sich mehr Frauen in Führungspositionen. Diese Meinung wird zweifach begründet, nämlich zum einen damit, dass (im Sinne des Managing-Diversity-Ansatzes) heterogen zusammengesetzte Teams effizienter seien als homogene, und zum anderen mit dem Argument (im Sinne des Differenzansatzes), dass weibliche Führungskräfte auch vermeintlich spezifisch weibliche Fähigkeiten einbringen könnten, die heutzutage besonders benötigt werden. Was ist nun von diesen Annahmen zu halten? Das erste Argument besagt, dass gemischte – in diesem Fall geschlechtergemischte – Teams bessere und kreativere Ergebnisse erzielen. Es behauptet, dass rein männliche Arbeitsgruppen weniger kreative Ideen produzieren als gemischte. Gemischte Gruppen erzielen jedoch nur unter drei Bedingungen bessere Ergebnisse als homogene Gruppen: Ȥ wenn sie nicht allzu asymmetrisch zusammengesetzt sind – also beispielsweise eine Frau unter zehn Männern, 32
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Ȥ wenn sie nicht unter großem Zeitdruck und Stress stehen (sonst wird gerne die erstbeste Idee angenommen), Ȥ wenn sich alle Gruppenmitglieder trauen, ihre Meinung zu äußern und diese von allen zur Kenntnis genommen wird. Womit Mikropolitik ins Spiel kommt, denn solche Idealbedingungen werden meist nicht erfüllt, sondern müssten gezielt erarbeitet werden, wie zahlreiche Studien aus der Sozialpsychologie belegen: Ȥ Die traditionell dominante Gruppe – im Führungsbereich sind das häufig deutsche weiße Männer der Mittelschicht mit einer teilzeitbeschäftigten Ehefrau – wird zur Meinungsführerin, die anderen folgen aus Gewohnheit oder weil sie die Erfahrung machen, dass ihre Vorschläge ignoriert werden. Ȥ Personen mit gegenläufigen Meinungen – häufig jene, die neu dazugekommen sind – stehen unter Konformitätsdruck, weil abweichende Meinungen anstrengend sind und riskieren Isolation. Ȥ Aus einem Harmoniebedürfnis heraus wird die eigentlich vorhandene Vielfalt an Meinungen von der Gruppe ignoriert, um Konsens zu finden. Dies entspricht dem aus der Sozialpsychologie bekannten Phänomen des Gruppendenkens. In der betrieblichen Realität werden ohnehin von Seiten des Managements oftmals homogene Teams bevorzugt, da sie weniger Führung benötigen und weniger Konflikte produzieren. Auf der Teamebene wollen dominante Gruppen nicht freiwillig ihre Position mit neuer Konkurrenz teilen. Generell gilt: Je weniger Frauen im Team Gruppendenken ist ein Prozess, bei dem eine Gruppe von an sich kompetenten Personen schlechtere oder realitätsfernere Entscheidungen als möglich trifft, weil jede beteiligte Person ihre eigene Meinung an die erwartete Gruppenmeinung anpasst. Daraus können Situationen entstehen, bei denen die Gruppe Handlungen oder Kompromissen zustimmt, die jedes einzelne Gruppenmitglied unter anderen Umständen ablehnen würde.
Ist Weiblichkeit eine Stärke?
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sind, desto weniger Möglichkeiten haben sie, sich durchzusetzen und desto größer ist das Risiko, dass sie sich an die Mehrheitsmeinung anpassen müssen. Wie steht es mit dem zweiten Argument, den angeblich spezi fischen Fähigkeiten von Frauen? Die Merkmale Emotionalität, Sensibilität oder Integrationskraft entsprechen, wie schon gesagt, weiblichen Geschlechterstereotypen und nicht dem männlichen Managerideal. Handelt die Frau also gemäß dem »weiblichen« Führungsstil, läuft sie Gefahr, Kompetenz und damit Macht abgesprochen zu bekommen. So lässt sich die positive Aufforderung, Frauen sollten bestimmte weibliche Qualitäten einbringen, als mikropolitische Taktik interpretieren, um sie in ihren traditionellen Positionen zu halten. Die hoffnungsvolle Vision von Frauen als bessere Führungskräfte löst sich auf, solange soft skills nur vordergründig als führungsrelevant betrachtet werden. Der »weibliche Führungsstil« ist damit nur der Gegenpart zum Think-managerthink-male-Phänomen. Bei beiden Diskursen bleiben Frauen in der zweiten Reihe, sei es weil sie nicht der typischen Führungskraft entsprechen, sei es weil sie nur für bestimmte, nämlich machtlosere Aufgaben geeignet erscheinen. Die Argumente der größeren Effizienz durch mehr Frauen im Management laufen in der Wirklichkeit der Unternehmen meist ins Leere. In der Beratung ist es deshalb sinnvoll, kritisch zu reflektieren, wer welche Argumente bezüglich Frauen in Führungspositionen vorbringt und welche Interessen oder Ziele damit verbunden sein könnten.
Riskante Rollen von Frauen in Organisationen Mit Stereotypen sind geschlechtstypische Rollen in Organisationen verbunden. Die bewusste oder unterbewusste Übernahme solcher Rollen ist für Frauen mit Risiken behaftet. (Selbst-)Stereotypisierung führt zu einem geschlechtsrollenkonformen Verhalten. Frauen werden nicht nur in bestimmte Rollen gedrängt, sondern sie überneh34
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men selbst häufig typische, aus der Familie bekannte Rollen, weil diese ihnen sozial und emotional vertraut sind. Die Übernahme solcher Rollen verspricht ein Identitätsgefühl als Frau und soziale Anerkennung im beruflichen Umfeld. Von den weiblichen Rollen werden vier herausgegriffen, von denen die ersten drei (Mädchenrolle, Mutterrolle und Verführerin) altbekannte weibliche Rollen darstellen, die von Frauen ausgewählt, ihnen aber auch vom Umfeld angeboten werden. Jede Rolle hat ihre je spezifischen Risiken.
Die Tochter- und Mädchenrolle Nette, fleißige Frauen in einer Tochterrolle geben Männern in einer übergeordneten komplementären Vater- und Chefrolle emotionale Bestätigung für ihre männliche Überlegenheit. So kann die Bedrohung vermindert werden, die von einer selbstbewussten, manchmal kritischen und aufstiegsinteressierten Frau ausgehen könnte. Für Kollegen auf gleicher Ebene sind »Töchter« und »Mädchen« ebenfalls angenehm, weil sie nicht als Konkurrenz auftreten. Viele Männer fühlen sich mit einer Kollegin, Vorgesetzten oder Untergebenen wohl, die natürlich und unkompliziert erscheint. »Töchter« in vorgesetzten Positionen werden es allerdings schwer haben, sich durchzusetzen, weil sie in der Rolle als Tochter zu gehorchen und nicht zu bestimmen haben. Für die Frauen besteht ein möglicher Gewinn darin, dass sie in diesen Rollen zunächst keine Grabenkämpfe durchstehen müssen und im besten Fall vom Chef-Vater auch beruflich gefördert werden, so wie ein Vater sein Kind fördert. Die große Gefahr besteht jedoch darin, dass ihnen kein professioneller Respekt gezollt wird und ein Aufstieg in höhere Hierarchieebenen unwahrscheinlich ist. Denn mit der Rolle einer respektierten Leitungskraft sind die Attribute brav, fleißig, nett und harmlos nicht vereinbar.
Riskante Rollen von Frauen in Organisationen
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▶▶ Fallbeispiel Frau R.: »Erst habe ich für alles Verantwortung über nommen und jetzt werde ich behandelt wie eine nörgelnde Mutti«
Die junge Oberärztin Frau R. will sich im Coaching darüber klar werden, ob sie ihre seit einem Jahr auf Probe übernommene Leitungsfunktion behalten will. Ihr Vorgänger hatte nach einem Burnout aufgegeben. Anfangs übernimmt Frau R. voller Elan und Begeisterung alle Aufgaben, die lange liegen geblieben sind. Sie versucht auch, ungeklärte Konflikte in ihrer Abteilung anzugehen, denn in mehreren Berufsgruppen gibt es starke Führungsprobleme. Für ihr Engagement bekommt sie positives Feedback vom langjährigen Chefarzt. Aber auch nach einem Jahr ist ihre Aufgabendefinition diffus. Frau R. ist zwar für Verhandlungen mit der Geschäftsführung, Dienstplanung und Personalangelegenheiten zuständig, die letztendliche Verantwortung ist jedoch ungeklärt. Ihr Chef greift auf Wunsch einzelner Assistenzärzte öfter in die Dienstplangestaltung ein. Frau R. kritisiert, dass der Chefarzt einerseits Aufgaben schlecht strukturieren kann und keine Anweisungen gibt. Andererseits wolle er aber alles kontrollieren und halte sich nicht an Absprachen. Sie steckt nun im gleichen Dilemma wie ihr Vorgänger. Frau R. war die Lieblingsärztin des Chefarztes, so lange sie eigeninitiativ viel in die Hand genommen hat, ohne Forderungen an ihn zu stellen. Das hat sich geändert: mittlerweile verlangt sie ebenfalls, dass der Chefarzt seine Leitungsfunktionen zuverlässig übernimmt und sich in Konflikten positioniert. Dadurch hat sich das Verhältnis zwischen beiden verschlechtert. Eine neue Oberärztin wird eingestellt, zu der der Chef wieder ein Vertrauensverhältnis aufbaut. Die Dynamik wiederholt sich: Der Chefarzt übt seine Führungsfunktion nicht aus, weil er von allen geliebt werden will, die Oberärzte müssen die Lücke kompensieren, ohne klare Aufgaben und Kompetenzen zu bekommen. Je fordernder sie werden, desto mehr fallen sie in Ungnade, die Spannungen nehmen zu. Frau R. ist in die Rolle einer fleißigen Lieblingstochter geraten, die erst einmal versucht, aufzuräumen und zwischen allen zu vermitteln. Je mehr Probleme sie lösen will, desto mehr Konflikte kommen an die Oberfläche. Sie kämpft dafür, Strukturen 36
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einzuziehen und Vereinbarungen zu treffen, deren Einhaltung sie konsequent einfordern und überprüfen muss. Dies ist für viele unbequem. Sie selbst gerät in die wenig geschätzte Rolle einer Kontrolleurin und fühlt sich als lästige »strenge Mutti«. Das Verhältnis zum Chefarzt kühlt ab, die neue Oberärztin steht als Nachfolgerin schon in den Startlöchern. Das Coaching ergibt, dass Frau R. diese Dynamik allein nicht auflösen kann. Eine Klärung der Führungsaufgaben und Führungskompetenzen des Chefarztes muss von der Geschäftsführungsebene ausgehen. Im Coaching wird Frau R. darin unterstützt, ihr Engagement als Troubleshooter zu reduzieren, eigene Aufgabenbereiche abzustecken und die Geschäftsleitung zur Lösung der vielfältigen Teamkonflikte in Anspruch zu nehmen. Diese kann gegebenenfalls eine externe Beratung beauftragen. Frau R. muss lernen, mit weniger Anerkennung und ungelösten Konflikten zu leben. Sie entscheidet sich, sich wieder stärker fachlich zu positionieren und die Leitung einer besonders schwierigen Station zu übernehmen. Dafür gibt sie organisatorische Leitungsaufgaben ab.
Die Mutterrolle »Weibliche« Eigenschaften wie Sensibilität, soziale Kompetenz oder Geduld passen zum Stereotyp der guten Mutter, die fürsorglich und gut organisiert ihre Familie fest im Griff hat, aber liebevolle Beziehungen herstellt. Die Macht der Mutter kann der Untergebene zur Not anerkennen, denn diese hat er früh kennengelernt. Anforderungen an Führungsfrauen hinsichtlich Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit spiegeln oft Bedürfnisse nach mütterlicher Fürsorge und Rücksicht. Nur ist die Mutter traditionellerweise die Nr. 2 in der Familie, sie hat die Binnenmacht, während der Vater die erste Autorität darstellt. Auch am Arbeitsplatz gerät eine Frau in der Mutterrolle leicht in eine Position mit informeller Macht, in der sie sich nur schwer verbünden kann, da sie keine Außenmacht hat. Koalitionen sind aber wichtig, um Interessen durchzusetzen. So trägt Riskante Rollen von Frauen in Organisationen
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eine »Mutter-Führungskraft« das Risiko, zum »seelischen Mülleimer« zu werden und mehr nach ihrer unterstützenden Funktion für die Gruppe als nach ihren eigenständigen Beiträgen bewertet zu werden.
▶▶ Fallbeispiel Frau S.: »Und dann kommen sie immer mit allem zu mir« Die Diplom-Ingenieurin Frau S., 38, Teamleiterin in einem großen internationalen Maschinenbau-Unternehmen (»Männerladen«), fühlt sich dadurch belastet, dass ihre Kollegen alle Probleme bei ihr abladen. Sie ist die einzige Frau auf ihrer Ebene. In der Abteilung gibt es noch keine gefestigte Struktur, da alle neu sind, und vor allem die Neuen wenden sich mit ihren Anliegen am liebsten an sie. Sie ist die erfahrenste Mitarbeiterin, strebt aber keinen weiteren Aufstieg an. Frau S. beschreibt sich als sehr mitfühlend. Es ist ihr wichtig, eine gute Ratgeberin für alle beruflichen und privaten Sorgen zu sein. Im Coaching fragt sie sich, wie es kommt, dass ihr alle immer gleich das Herz ausschütten. Dazu wird die Kommunikation von Frau S. unter die Lupe genommen. Frau S. beschreibt, dass sie ihre Kollegen meistens sehr persönlich anspreche, z. B. »du siehst aber heute nicht gut aus, was ist los?« Ihre Kollegen seien meist zwischen vierzig und fünfzig, frustriert, in der Midlife-Crisis und lebten oft in einer schlechten Ehe. Frau S. hat selbst eine Psychotherapie gemacht und schon viel Schweres in ihrem Leben bewältigt. Diese Erfahrung möchte sie auch den Kollegen vermitteln, gleichzeitig kann sie sich nur schlecht abgrenzen. Sie nimmt den Kollegen oft Arbeit ab und bemüht sich darum, in ihrer Abteilung für gute Stimmung zu sorgen. Wenn sie selbst etwas durchsetzen will, gelingt ihr das nur schwer. In diesem Fallbeispiel übernimmt Frau S. als einzige Frau unter den Teamleitern ganz bewusst eine Mutterrolle. Durch ihre emotionale Fürsorglichkeit und das ihr anvertraute Wissen über persönliche Probleme entwickelt sie ein großes Machtpotenzial, das ihr gefällt, das sie aber nie für die eigene Karriere nutzen würde. Allerdings können die Kollegen 38
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nie sicher sein, ob Frau S. ihr Wissen nicht doch einsetzen würde, um eigene Interessen durchzusetzen, denn es ist für sie schwer vorstellbar, dass sich eine Führungskraft nicht beruflich weiterentwickeln will. Im Coaching wird erarbeitet, dass Frau S. Elemente einer Nähe fördernden Kommunikation im Kollegenkreis anwendet und damit Reaktionen erzeugt, die sie gleichzeitig belasten. Sie ist aus ihrer Familie gewohnt, für alle Verantwortung zu übernehmen. Diese Rolle passt nicht für ihre berufliche Situation. Denn selbst wenn sie keine weiteren Aufstiegsziele hat, erscheint es empfehlenswert, im Kontakt mit Kollegen Berufliches und Privates klarer zu trennen und Gespräche über private Sorgen zu begrenzen. Eine auf privaten Vertraulichkeiten basierende Macht ist beruflich nicht nutzbar, wenn Frau S. nicht gegen ihre eigenen Fairnessmaßstäbe verstoßen will. Beim Feedback bezüglich der Arbeitsleistungen, aber auch bei der Durchsetzung von fachlichen Anweisungen ist sie blockiert, da die Mitarbeiter von ihr besondere Rücksicht erwarten, weil sie so viel über sie weiß.
Die Verführerin Eine klassische Frauenrolle neben der Heiligen und Asexuellen ist die Verführerin. Wie das Mädchen bestätigt die Verführerin die Männlichkeit der Kollegen oder Untergebenen, jedoch auf einer latent oder manifest erotischen Ebene. Die Verführerin versteht es, durch Umgarnen und Bezirzen zu ihrem Ziel zu kommen, begibt sich damit jedoch aufs Glatteis. Männer konkurrieren um die Verführerin, aber kämpfen nicht auf Augenhöhe mit ihr um gute Positionen oder knappe Ressourcen am Arbeitsplatz. Vor allem in legeren informellen Unternehmenskulturen ist es schwer, die Rolle der Verführerin abzulehnen, da lockere und offene Umgangsformen erwartet werden und fast schon ein Flirtgebot besteht. Es zeigt sich jedoch immer wieder, dass Frauen bei erotischen Beziehungen am Arbeitsplatz negativere berufliche Konsequenzen zu tragen haben als Männer, also öfter versetzt oder entlassen werden als diese.
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▶▶ Fallbeispiel die attraktive Kollegin: »Früher hatten wir doch ein so lockeres Verhältnis und jetzt behandelt er mich nur noch distanziert«
Eine 34-jährige Nachwuchsführungskraft will sich beraten lassen, weil sich das Verhältnis zu ihrem direkten Vorgesetzten massiv verschlechtert hat. Der Vorgesetzte sei ursprünglich ein gleichrangiger Kollege gewesen, zu dem sie eine sehr entspannte Beziehung gehabt habe. Sie seien gelegentlich nach Dienstschluss ein Bier zusammen trinken gegangen und hätten auch private Gespräche geführt. Sie hätte sicher auch ab und zu mit ihm geflirtet und sich über Komplimente über ihr Aussehen gefreut. Auch andere Männer aus ihrem Team hätten manchmal zweideutige Bemerkungen über sie gemacht. Zwar sei sie vorsichtiger geworden, als der Kollege sie gefragt habe, ob sie einen festen Freund habe. Dennoch habe sie sich durch das besondere Verhältnis zu ihm auch bessere berufliche Chancen erhofft, als er aufstieg. Jetzt, da der Kollege ihr Vorgesetzter geworden sei, verhalte er sich zu ihr aber besonders distanziert. Er erwarte von ihr exzellente fachliche Leistungen und habe sie für kleine Fehler auch schon vor dem ganzen Team kritisiert. Sie fühle sich stark unter Druck gesetzt. Fast habe sie den Eindruck, der frisch beförderte Kollege wolle an ihr beispielhaft beweisen, dass er im Team hart durchgreifen könne, um den Erwartungen der höheren Führungsebenen gerecht zu werden. In diesem Fall ist das Risiko einer erotisch gefärbten Arbeitsbeziehung besonders deutlich. Die Klientin hat sich auf einen unverbindlichen Flirt mit einem Kollegen eingelassen, der anfangs für beide angenehm war. Die veränderte Position des ehemaligen Kollegen führt nun dazu, dass die formalen Rollenfunktionen stärker betont werden, um mögliche Rollenunsicherheiten zu kompensieren und allen Spekulationen über eine Bevorzugung entgegenzutreten. Die Klientin könnte ihren Eindruck in einem Mitarbeitergespräch offen ansprechen und eine faire Gleichbehandlung vereinbaren. Dies erfordert auf beiden Seiten Reflexions- und Kritikfähigkeit.
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Die Amazone Die Amazone ist in unserer Gesellschaft keine traditionell weibliche Rolle, sondern ein weiblicher Archetypus. Die Amazone Penthesilea oder die Rächerin Judith sind mythologische Modelle weiblichen Heldentums. Eine starke, kämpferische Frau schmiedet machtvolle Koalitionen mit anderen Frauen (Amazonenheer), die sie auf einflussreiche Positionen platziert. Die Amazone ist die einzige Rolle, mit der egalitäre Geschlechterverhältnisse hergestellt werden könnten, manchmal jedoch mit starkem Gegenwind von Seiten einiger Männer, die zur Abwehr das negative Stereotyp der »Emanze« oder der »eiskalten Karrierefrau« nutzen. Dem Selbstverständnis der Amazone entspricht ein bewusstes Networking unter professionellen Frauen, das sich als erfolgreiche mikropolitische Strategie bewährt hat.
▶▶ Fallbeispiel Frau M.: »… ich habe von Anfang an gewusst, was ich wollte«
Die Diplom-Informatikerin Frau M., 36, ist in einem internationalen IT-Unternehmen nach sieben Jahren bereits Managerin eines 25-köpfigen Teams. Sie kommt zum Coaching, weil sie in ihrer weiteren Karrierestrategie, im Bereich Führung und generell in ihrem Umgang mit Macht sicherer werden will. Bisher hat sie stark auf ihre fachliche Leistung gesetzt. Als Abteilungsleiterin von teilweise deutlich älteren Mitarbeitern stößt sie jetzt an Grenzen. Frau M. schätzt sich als karriereorientiert ein. Für sie war immer klar, dass sie in ihrer Firma aufsteigen will. Ihr war von Anfang an bewusst, wie wichtig es ist, Schlüsselpersonen zu kennen und im Unternehmen bekannt zu sein. Sie hat sich rasch ehrenamtlich in betrieblichen Sozialprojekten engagiert. Im Rahmen der Personalentwicklung für Führungskräfte hatte sie eine Mentorin, die sie aktiv gefördert hat und die für sie auch ein persönliches Vorbild ist. Den Auswahlprozess für Nachwuchsmanager hat sie erfolgreich durchlaufen, bald danach wurde ihr die Riskante Rollen von Frauen in Organisationen
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erste Abteilungsleitungsposition angeboten. Sie ist im Unternehmen gut vernetzt, auch unter den (wenigen) weiblichen Nachwuchsführungskräften. Die Mentorin will den Frauenanteil an den Führungskräften deutlich steigern, dies entspricht auch dem internationalen Unternehmensleitbild. In ihrer Führungsposition verhält sich Frau M. fachkompetent und fair. So ist sie bei ihrem Team beliebt, von ihrem Vorgesetzten kommen allerdings keine Vorschläge für nächste Karriereschritte. Die älteren Mitarbeiter appellieren an sie, ihre Position zu behalten und nicht so schnell in die nächsthöhere Karrierestufe zu wechseln wie die nur am eigenen Aufstieg interessierten (männlichen) Vorgänger. Frau M. sucht bei ihrer Mentorin Rat. Diese warnt davor, aufgrund ihrer hohen Verantwortungsbereitschaft »zu gut zu führen«. Als Führungskraft könnte sie so komfortabel und unersetzlich werden, dass ihr Bereichsleiter kein Interesse mehr hätte, sie wieder »herzugeben«. Dies sei eine Falle, in die hochmotivierte Frauen leicht geraten. Die Mentorin verspricht, sich in ihrem Netzwerk dafür einzusetzen, dass die Mentee neue Chancen bekommt. Im Coaching wird die Strategie entwickelt, offensiv zu werden und den direkten Vorgesetzten im Mitarbeitergespräch gezielt auf seine Verpflichtung zur Aufstiegsförderung anzusprechen. Frau M. reflektiert ihre sozialen Ansprüche und Werte. Sie stößt dabei auf den Vorsatz, nicht als »kalte Karrierefrau« handeln zu wollen. Durch die Appelle ihres Teams ist sie verunsichert, denn sie bemüht sich sehr darum, einen kooperativen Führungsstil zu praktizieren. Sie stellt fest, dass sie auch in einem modernen, gleichstellungsfördernden Unternehmen auf negative Stereotype stoßen kann. Generell muss sich Frau M. damit auseinandersetzen, zu riskieren, auf ihrem Karriereweg auch Erwartungen zu enttäuschen. Eine offen karriereorientierte Selbstpräsentation ist mit der Abgrenzung von Erwartungen an weibliche Empathie verbunden. Frau M. ist in eigener Sache als »Amazone« gestartet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie hat von Beginn an verschiedene karrierefördernde Strategien verfolgt: z. B. sich leistungsorientiert zu präsentieren, sich sichtbar zu machen, Netzwerke zu knüpfen und Schlüsselpersonen kennenzulernen. Weil sie im Coaching das Thema Macht als positiven 42
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Umgang mit eigenen Interessen, Kompetenzen und Ressourcen zu betrachten lernt, entwickelt Frau M. eine reflektiert selbstbewusste Einstellung zur Nutzung eigener Einflussmöglichkeiten. Ihre Mentorin und ihr berufliches Netzwerk stärken sie in ihrer Souveränität. Noch während des Coachings wird Frau M. für eine hochrangig besetzte Projektgruppe vorgeschlagen, die neue Chancen bietet.
Alle beschriebenen Rollen repräsentieren einen bestimmten Typus der Gratwanderung zwischen Weiblichkeitsstereotypen und professioneller Rolle. Sie eröffnen Handlungsspielräume, weil sie an bekannte Weiblichkeitsvorstellungen anschließen. Es wird deutlich, dass kongruentes Handeln zur Realisierung beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten auf persönlichen Einstellungen beruht. Das Verhältnis zur eigenen Wirksamkeit und Macht ist dabei eine Grunddimension. Frauen können in allen Rollen Macht entwickeln und situationsspezifisch einflussreich sein. So kann in einem Konfliktfall das Agieren in einer deeskalierenden Mutterrolle erfolgreich sein, während bei Verhandlungen mit Geschäftspartnern die charmante Rolle oder bei unzuverlässigen Mitarbeitern die kämpferische Rolle adäquat sein kann. Der spielerische Einsatz von Rollen setzt jedoch voraus, dass diese selbstreflektiert und mit Rollendistanz ausgeführt werden. Es kommt immer darauf an, wer die Regie führt. Die bewusste Übernahme verschiedener Rollen und Funktionen im eigenen oder gruppenspezifischen Interesse ist aus dem beruflichen Alltag nicht wegzudenken. Zum Verständnis eines solchen strategischen Handelns ist ein Ansatz besonders aufschlussreich, der sich analog zur »großen« Politik »Mikropolitik« nennt, also Politik im Kleinen.
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Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
Mikropolitik gilt als bewusstes und gekonntes Spiel mit der Macht. Aber wie lässt sich Macht im beruflichen Kontext identifizieren? »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht« (Weber, 1972, S. 28). Auf der Grundlage von Max Webers soziologischer Machtdefinition gehen wir davon aus, dass Macht eine gestalterische Kraft ist und dass die Quellen von Macht prinzipiell unbegrenzt sind. Strukturelle Machtquellen wirken durch formale Autorität, die sich aus der Position im Stellengefüge einer Organisation ergibt. Personale Machtquellen dagegen beruhen auf beruflichen Kompetenzen, strategischem Handeln oder auf Persönlichkeitseigenschaften. Beispielsweise sind Leitungspositionen in der Regel mit formalen Machtbefugnissen verknüpft. Leitende Personen können Aufgaben delegieren, Entscheidungen treffen und Teams zusammenstellen. Jede Führungskraft macht in der Praxis jedoch die Erfahrung, dass Macht und Ohnmacht in Führungsprozessen oft nahe beieinander liegen und dass Mitarbeiter/-innen durch Koalitionen und kluge Taktik formale Machtverhältnisse aushebeln können. Als Beziehungsphänomen wird Macht erst greifbar, wenn man sich der Ebene der Handlungen zuwendet. Im Handeln wird Macht konkret, sie wird mittels verschiedener Strategien aufgebaut, ausgebaut und genutzt. Es ist dabei weder verharmlosend noch irreführend, von Machtspielen zu sprechen. Die Spielräume, die es zu nutzen gilt, bilden den Rahmen für eine Handlungskoordination mit konkurrierenden Interessen, mit mehr oder weniger gültigen Regeln, mit 44
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Gewinnern und Verlierern. Je flexibler die Vorgaben, je unterschiedlicher die Interessen und je größer die Spielräume in einem Organisationsbereich sind, desto mehr muss in einer Entscheidungssituation ausgehandelt und vereinbart werden. Je größer die »organisationalen Ungewissheitszonen« sind, desto mehr Einfluss können informelle mikropolitische Interventionen haben. Aber selbst in einem stark regulierten Setting, wie beispielsweise der Fließbandarbeit, gibt es nutzbare Freiräume. Wir gehen davon aus, dass mikropolitisch motiviertes Handeln in Organisationen immer stattfindet, unabhängig von den formalen Strukturen oder offiziellen organisationalen Leitlinien. Organisationsmitglieder sind in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden – auch das ist ein Bestandteil von Max Webers Definition –, in dem sie auf andere Mitglieder treffen, die gleich mächtig, ihnen unterlegen oder überlegen sind, nicht dauerhaft oder jederzeit, sondern in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation und anderen relevanten Personen. Ohne dass dies immer sichtbar wäre, sind viele Personen mehr oder weniger zielstrebig und reflektiert mit der Ausweitung der eigenen Einflussmöglichkeiten beschäftigt, also dem Aufbau von Macht, um ihre Ziele, seien sie individueller oder kollektiver Art, zu realisieren. Erfolg ist nie garantiert – das steckt in Max Webers Begriff der »Chance«, denn eine Chance beinhaltet auch ein mögliches Scheitern. Die Annahme von Mikropolitik bedeutet also: Es gibt Räume für Eigeninitiative, die durch Organisationsstrukturen begrenzt, aber auch eröffnet werden. Die Handlungen anderer können im eigeMikropolitik ist nach dem Führungs- und nen Sinn beeinflusst werden. Der Organisationsforscher Oswald Neuberger »eigene Sinn« kann ein kollektives »das Arsenal jener alltäglichen ›kleinen‹ Ziel sein – z. B. die Gleichbehand(Mikro-)Techniken, mit denen Macht lung aller Organisationsmitglieder, aufgebaut und eingesetzt wird, um den die Durchsetzung einer besseren eigenen Handlungsspielraum zu erweiEntlohnung für bestimmte Beschäftern und sich fremder Kontrolle zu enttigtengruppen oder die Förderung ziehen« (Neuberger, 1995, S. 14). einer konstruktiven KommunikaMikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
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tion im Team – oder aber ein individuelles Ziel, wie etwa die eigene berufliche Weiterentwicklung oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Anschaulich wird Mikropolitik anhand der Beschreibung von Taktiken. Taktiken werden verstanden als Mikrobestandteile von langfristigeren und komplexeren Strategien. Es gibt im Prinzip eine unendliche Zahl an mikropolitischen Handlungsmöglichkeiten. Zu den wichtigsten zählen: Ȥ Rationales Argumentieren: Grafiken mit Zahlen und Prozenten werden so präsentiert, dass die eigene Meinung bestätigt wird. Ȥ Hervorrufen von Begeisterung: Um die Anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen, wird eine inspirierende Rede gehalten. Ȥ Einschmeichelndes Verhalten: Man lobt die neue Projektidee des Vorgesetzten, um die Beziehung zu ihm zu verbessern. Ȥ Appelle an Loyalität und Freundschaft: Man stellt heraus, wie gut die Zusammenarbeit oder wie harmonisch das Arbeitsklima ist und wie wichtig es ist, dass dies so bleibt. Ȥ Tauschgeschäfte: Man erinnert daran, dass man schon einmal etwas für die andere Person getan hat und deshalb jetzt selbst Unterstützung erwartet. Meistens muss nicht aktiv an eine Tauschleistung erinnert werden, da diese den Beteiligten ohnehin als »Schuld« bewusst ist. Wer keine Gegenleistung erbringt, kann in Schwierigkeiten geraten und bekommt beim nächsten Mal keine Unterstützung mehr. Ȥ Koalitionsbildung: Der Zusammenschluss mit Bündnispartnerinnen und -partnern, die dasselbe wollen – bei Veränderungsprozessen unverzichtbar. Ȥ Druck: Druck ausüben kann man nur, wenn man Druckmittel in der Hand hat, etwa relevantes Wissen, Positionsmacht oder ein attraktives Budget. Ȥ Legitimationsstrategien: Alle Begründungen, um sich von der Verantwortung für kritische Entscheidungen zu entlasten, z. B. auf Termindruck verweisen, um eine eigenmächtige Entscheidung zu rechtfertigen. 46
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Ȥ Einschalten höherer Instanzen: Wenn die Chefin die eigene Idee nicht honoriert, kann man zum nächsthöheren Vorgesetzten gehen, am besten dann, wenn die Chefin gerade auf Dienstreise und deshalb »leider« nicht erreichbar ist. Ȥ Blockieren: Personen oder Gruppen, die sich nicht genug beteiligt oder wertgeschätzt fühlen, können wichtige Prozesse durch vielfältige Widerstände blockieren, z. B. wenn die zuständige Person in der Verwaltung einen Vorgang nicht bearbeitet. Ȥ Mit Sanktionen drohen: Mit der Niederlegung eines übernommenen Amtes drohen, wenn Entscheidungen anders ausfallen, als man möchte. Ȥ Auf Regeln der Organisation pochen: Regeln können eigene Ziele legitimieren. Es kann nützlich sein, auf sie zu verweisen, wenn sie mit den eigenen Zielen übereinstimmen. Ȥ Self-Promotion (Eigenwerbung): Man stellt sich (und sein Team) besonders positiv dar und betont den eigenen Anteil am Projektergebnis. Neben diesen qualitativ unterschiedlichen kooperativen oder konkurrierenden Taktiken gibt es die Möglichkeit, Kommunikation aufoder abwertend zu gestalten. In allen Interaktionen – sei es auf gleicher Ebene oder zwischen verschiedenen Hierarchiestufen – lässt sich bereits durch kleinste Kommunikationsakte Wertschätzung oder Abwertung ausdrücken. Diese feine Beeinflussung der Position einer Person in einem Team oder in Beziehung zu Vorgesetzten wirkt sich auf das Selbstwertgefühl in Arbeitszusammenhängen nachhaltig aus und kann ebenfalls strategisch genutzt werden. Solche Kommunikationsmuster spielen in der Interaktion zwischen Männern und Frauen häufig eine besonders wichtige Rolle. In Mobbing-Dynamiken wird dieses Instrumentarium der sozialen Abwertung Einzelner gezielt negativ genutzt. Umgekehrt zeichnet sich ein positives Arbeitsklima durch häufige positive Kommunikationsakte aus. Edding und Clausen (2014, S. 14) beschreiben vielfältige Formen von Mikro-Herabsetzungen oder Mikro-Bestätigungen aus Sicht der Akteurinnen und Akteure. Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
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Mikro-Herabsetzungen sind z. B.: Ȥ Sie übersehen eine Person und begrüßen eine andere. Ȥ Sie wenden im Gespräch den Blick ab. Ȥ Obwohl sie mit einer Person ein Gespräch führen, checken sie ihre E-Mails oder schicken eine Nachricht. Ȥ Sie sprechen den Namen einer Person immer wieder falsch aus. Ȥ Sie unterbrechen eine Person mitten im Satz. Ȥ Sie seufzen laut oder verdrehen die Augen. Ȥ Sie reden lauter, obwohl die anderen sie gut hören können. Ȥ In einer Besprechung erwähnen sie die Leistung einiger Personen, den ebenso wichtigen Beitrag anderer nennen sie nicht. Ȥ Sie machen sexistische Witze oder lachen mit. Ȥ Sie loben jemanden für eine Idee, die sie gerade bei einer anderen Person ignoriert haben. Ȥ Sie übergehen mehrfach jemanden, der sich in einer Diskussion zu Wort meldet. Ȥ Sie schauen bei einer Präsentation mehrfach auf die Uhr. Mikro-Bestätigungen sind z. B.: Ȥ Sie sprechen eine Person mit ihrem Namen an. Ȥ Sie halten freundlichen Blickkontakt. Ȥ Sie hören konzentriert zu und fragen nach, wenn ihnen etwas nicht klar ist. Ȥ Sie fragen eine andere Person nach ihrer Meinung. Ȥ Nach einem erfolgreichen Meeting bedanken sie sich bei allen. Ȥ Sie beziehen sich positiv auf den Beitrag einer anderen Person. Ȥ Sie loben eine Person – auch vor anderen. Durch solche kleinen Kommunikationsakte kann zwischen Kollegen/ Kolleginnen, Vorgesetzten und Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern oder in einer Arbeitsgruppe bereits effizient Mikropolitik betrieben werden. Dies wirkt bei sozial feinfühligen Personen besonders stark. Mikropolitik kann also wie jede Politik destruktiv oder konstruktiv sein. Sie ist wichtig, um eine Organisation flexibel und lebendig zu halten und 48
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bietet vielfältige und wirksame Einflussmöglichkeiten. Umgekehrt kann sie in destruktiver Weise eskalieren, etwa in Form von Mobbing. In einer gendersensiblen Beratung gehen wir davon aus, dass Frauen am Arbeitsplatz auf besonders große Hürden stoßen, wenn sie ihre Situation nicht reflektieren und selbst mikropolitische Kompetenz entwickeln. Natürlich benötigen auch Männer diese Fähigkeiten und verfügen nicht »natürlicherweise« über mehr Kompetenz, wie viele Frauen annehmen. Auch bei Männern gibt es große Unterschiede, wie die Männlichkeitsforschung zeigt: Etliche Männer halten sich bewusst aus Konkurrenzen und Machtkämpfen heraus oder lehnen Wettkampfsituationen und strategisches Handeln ab. Jedoch sind Männer in der Regel im Laufe ihrer Sozialisation in stärkerem Maß in Wettkämpfe und Konkurrenzspiele involviert (z. B. beim Fußball) und werden auf Konkurrenz- und Machtsituationen besser vorbereitet als der Durchschnitt der Frauen. Rivalität und Machtverhalten ist im männlichen Stereotyp enthalten, im weiblichen nicht. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Frauen häufig ein ambivalentes Verhältnis zu Macht haben, das stark mit moralischen Überlegungen verbunden ist (Jüngling u. Rastetter, 2011a). Nicht selten wird Macht bzw. der bewusste Aufbau von Macht negativ konnotiert und als nicht mit dem Selbstkonzept vereinbar empfunden. Für Frauen, die Führungspositionen anstreben, ist es besonders wichtig, ein positives Verhältnis zur Macht zu entwickeln. Sie brauchen die Bereitschaft, im eigenen Sinne mikropolitisch zu handeln. In unserer Coaching-Studie hat sich gezeigt, dass diejenigen Frauen eine hohe Bereitschaft zu Mikropolitik aufweisen, die sich nur wenig mit stereotyp weiblichen Eigenschaften identifizieren. Sie nehmen sich die Freiheit, mit Geschlechterbildern und Stereotypen flexibel, je nach Kontext, »zu spielen«. Wir bezeichnen strategisch kluges Verhalten als mikropolitische Kompetenz. Dazu gehört, generell eine ›mikropolitische Brille‹ aufzusetzen, das heißt: berufliche Ereignisse aus mikropolitischer Perspektive zu betrachten, eine geeignete Agenda zu bestimmen, das jeweilige Kräftefeld zu verstehen und wichtige Akteure (Mitspieler/-innen) zu Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
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identifizieren. Anschließend geht es darum, die persönlich passenden Strategien auszuwählen und an richtiger Stelle gegenüber den richtigen Personen einzusetzen. Natürlich muss dieses Handeln mit dem Selbstkonzept vereinbar sein. Es lohnt aber immer, die eigenen Werte zu reflektieren. Die Aneignung mikropolitischer Kompetenz ist sicher nicht der einzige Ansatzpunkt, berufliche Handlungsmöglichkeiten von Frauen (und Männern) zu erweitern, sei es vertikal oder horizontal. Sie ist aber eine Möglichkeit, erfolgreich(er) zu agieren und sich bewusst innerhalb einer komplexen Konstellation aus verschiedenen Interessen, Konkurrenzen und Koalitionen zu behaupten. Mikropolitische Kompetenz beinhaltet alles, was Organisationsmitglieder über ihre fachliche Qualifikation hinaus dazu befähigt, in ihrer Organisation erfolgreich im eigenen Sinn agieren zu können. Dieser »eigene Sinn« kann durchaus kollektive oder politische Ziele verfolgen, z. B. wenn Betriebs- oder Personalräte/-rätinnen ihre Positionen in Gremien erfolgreicher durchsetzen wollen. Mikropolitische Kompetenz verstehen wir also explizit nicht als egoistische, (hinter-) listige Anwendung von Taktiken – wie es dem negativen Stereotyp eines manipulativen, gewissenlosen Politikers entspricht – sondern als strategische Haltung und erlernbare, positiv wirksame Handlungskompetenz. Kompetenzen zeigen sich auf der Handlungsebene, sind erlernbar und leichter zu verändern als Persönlichkeitseigenschaften.
Mikropolitisches Kompetenzmodell – die Bedeutung der einzelnen Dimensionen In Anlehnung an gängige Kompetenzmodelle (z. B. Erpenbeck u. Rosenstiel, 2003) haben wir zur Systematisierung mikropolitischer Kompetenz ein Modell entwickelt, das aus den vier Komponenten Sachkompetenz, Aktivitätskompetenz, sozialer Kompetenz und Selbstkompetenz besteht (siehe Abbildung 1). Systematisch auf die Aneignung mikropolitischer Fähigkeiten übertragen, bedeutet Sachkompetenz das Wissen um die Existenz und Bedeutung von Mikro50
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politik, Aktivitätskompetenz das Umsetzen des Wissens in konkretes Handeln, soziale Kompetenz die Berücksichtigung der situativen Regeln und der jeweiligen Interaktionspartner/-innen sowie Selbstkompetenz – unserer Meinung nach die wichtigste Kompetenz –, die stimmige Integration mikropolitischer Strategien und Taktiken ins Selbstkonzept.
Abbildung 1: Mikropolitisches Kompetenzmodell (MKM)
1) Selbstkompetenz: Was bin ich bereit zu tun? Die Komponente der Selbstkompetenz nimmt eine Sonderstellung ein. Sie bezieht sich auf die Integration mikropolitischen Handelns in das eigene Selbstkonzept. Das Selbstkonzept beinhaltet die Wahrnehmung und das Wissen eines Menschen um sich selbst in Bezug auf Eigenschaften, Gefühle und Verhalten. Inhaltlich zielt die Komponente der Selbstkompetenz darauf ab, inwieweit mikropolitisches Handeln zum eigenen Vorteil mit den persönlichen Vorstellungen über das eigene Verhalten in Einklang gebracht werden kann. Unseres Erachtens ist dies die zentrale Frage für Frauen, weil Erfolgs- und Aufstiegsorientierung sowie Machtgewinn nicht zum weiblichen Rollenbild gehören und deshalb bewusst mit der weiblichen Identität in Einklang gebracht werden müssen. Mikropolitisches Kompetenzmodell
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Zur Selbstkompetenz gehört die Entscheidung, zu welchen Handlungen eine leistungsfähige und aufstiegswillige Frau bereit ist. Ob und wie weit sie sich von weiblichen Geschlechterstereotypen distanzieren kann. Ob sie in verschiedene Rollen schlüpfen und diese flexibel nutzen kann oder in ihrer weiblich sozialisierten Rolle sehr verhaftet ist. Selbstkompetenz ist weniger leicht zu entwickeln als die anderen drei Kompetenzen und benötigt oft die Unterstützung durch Coaches oder Beratende. Erst wenn Frauen aktive Planung und Einflussnahme und ein damit verbundenes Aufstiegs- und Machtstreben mit ihrem Selbstkonzept in Einklang bringen können, haben sie die Freiheit, berufliche Ziele wirksam zu verfolgen, Tätigkeitsfelder erfolgreich zu erweitern oder eine Führungsposition authentisch auszuüben. Die Bedeutung der Bereitschaft zu mikropolitischem Handeln zeigte sich in der Gruppe der von uns beratenen weiblichen Nachwuchsführungskräfte deutlich. Die weniger erfolgreichen Frauen lehnten taktisches Handeln stärker ab als die erfolgreichen. Eigennützig eingesetztes strategisches Handeln zugunsten des Aufbaus von Macht wird von den weniger erfolgreichen Coachees zurückgewiesen. Anstelle des selbstbestimmten Mitspielens in einer ›mikropolitischen Arena‹ mit Gewinn- und Verlustchancen wird ein ›faires‹ Miteinander und damit gleichzeitig auch eine Minimierung von Konflikten und eigenen Risiken gewünscht. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Wortwahl. In Bezug auf organisationale Prozesse sprechen die erfolgreicheren Personen von »Spielen, die da gespielt werden«, »Spaß« an der Vielfalt eigener Handlungsmöglichkeiten, an »Fäden ziehen« und einem »spielerischen« Umgang mit Macht. Die weniger Erfolgreichen sagen dagegen beispielsweise: »Du darfst andere ja nicht ausnutzen. Wenn du die z. B. auch privat triffst und das nutzt, ist das nicht nett«. Netzwerke werden weniger als bewusst aufzubauende Beziehungen betrachtet, sondern vielmehr als Zufälle (siehe Mucha u. Rastetter, 2017).
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2) Sachkompetenz: Was muss ich über Mikropolitik wissen? Bei der mikropolitischen Sachkompetenz handelt es sich um eine fachlich-methodische Kompetenz. Sie zielt auf die Aneignung fachlichen und methodischen Wissens über Mikropolitik. Mikropolitische Sachkompetenz umfasst die Fähigkeiten, mikropolitische Konstellationen zu erkennen, zu analysieren und in methodische Instrumente (Taktiken) zu übersetzen. Die guten Abschlüsse von Frauen, die Erfolge und Ermunterung, die sie in Ausbildung und Studium erleben, lassen sie den Einfluss ihrer fachlichen Kenntnisse für die Karriere häufig überschätzen und die Relevanz von Mikropolitik – beispielsweise die Wirkung und Nutzung von Geschlechterstereotypen – unterschätzen. Es ist deshalb wichtig, das organisationale Geschehen durch eine »mikropolitische Brille« zu betrachten. Dies garantiert freilich noch nicht, dass Mikropolitik ins Selbstkonzept übernommen wird (Selbstkompetenz) oder dass sie in konkrete Handlungen umgesetzt wird (Aktivitätskompetenz). Konkret kann die Sachkompetenz durch Selbststudium entsprechender Literatur, in Seminaren, Vorträgen und durch Fortbildungen erhöht werden, natürlich auch im Rahmen einer Beratung. So ist es bemerkenswert, dass Studentinnen vor allem auf ihre Leistungen und Noten vertrauen, wenn sie in ihre berufliche Zukunft blicken. Zum einen haben sie in Schule und Universität viel Anerkennung durch ihre häufig besseren Leistungen im Vergleich zu männlichen Schülern und Studenten bekommen, zum anderen wird ihnen kaum mikropolitisches Wissen vermittelt. Dies sollte deshalb Teil jeder Ausbildung sein, andernfalls besteht die Gefahr, dass die Studentinnen im Erwerbsleben in die Position einer »fleißigen Biene« geraten, die sich klaglos viel Arbeit aufbürdet, ohne dafür mit Aufstieg oder anderen Verbesserungen belohnt zu werden. Es gibt viele Ratgeberbücher, die sich mit dieser Problematik beschäftigen (z. B. Schneider, 2009).
Mikropolitisches Kompetenzmodell
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3) Aktivitätskompetenz: Was kann ich konkret tun? Mikropolitische Aktivitätskompetenz beschreibt die Fähigkeit von Individuen, selbstorganisiert mikropolitisch zu agieren. Aktivitätskompetenz basiert auf Tatkraft, Eigeninitiative, Willensanstrengung sowie der Entscheidung zur gezielten Aktivität. Auch wenn die Bedeutung von Mikropolitik erkannt ist und Kenntnisse zu verschiedenen Taktiken und Strategien vorliegen (Sachkompetenz), heißt das noch nicht, dass diese auch im täglichen Handeln umgesetzt werden. Hemmnisse können darin bestehen, dass die Übung und Routinen fehlen, um Taktiken selbstverständlich einzusetzen. Letztlich wird diese Kompetenz nur durch Ausprobieren von mikropolitischen Handlungen und das Sammeln von Erfahrungen in und nach solchen Handlungen erworben. In Trainings und Beratungen können entsprechende Verhaltensweisen eingeübt werden. Beispielsweise kann die Beraterin der Klientin eine Aufgabe geben: Sie soll bis zur nächsten Sitzung gezielt einen Kollegen ansprechen, der ein Bündnispartner werden könnte, und dessen Unterstützungsneigung ausloten. Solche Übungen integrieren wir in unsere Coachings, weil sie häufig zu Aha-Erlebnissen führen nach der Art: Der Andere hat gar nicht negativ reagiert, wie ich dachte, sondern sich über meine Kontaktaufnahme gefreut.
4) Soziale Kompetenz: Mit welcher konkreten Situation, welchen Regeln und Normen, welchen Interaktionspartnerinnen und -partnern habe ich es zu tun? Bei sozialer Kompetenz handelt es sich um die Fähigkeit, entsprechend den sozialen Bedingungen und Kontextsituationen beziehungsorientiert zu handeln. Normen und Werte wirken durch die Individuen hindurch und gestalten die Möglichkeiten ihres Handelns. Soziale Kompetenz bedeutet, die situativ passenden Strategien zu finden und herrschende Regeln zu erkennen, um mit diesen kreativ umzugehen. Genauso wichtig ist es, herauszufinden, welche Taktiken zur Zielper54
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son passen und worauf sie voraussichtlich wie reagiert. Gerade neu Eingestellte sind gut beraten, wenn sie sich zunächst mit Normen und Regeln der jeweiligen Organisation durch Beobachten des Verhaltens anderer vertraut machen und die im mikropolitischen Feld agierenden Personen so gut wie möglich kennenlernen. Reagiert beispielsweise der Vorgesetzte auch auf kleinere Drohungen allergisch, ist die Taktik »Sanktionen androhen« nicht ratsam. Es geht dabei auch um eine strategische Akteursanalyse (Mit welchen Personen habe ich es zu tun, wer ist wichtig, wer könnte eine Bündnisperson sein?) und eine strategische Interessensanalyse (Wer hat welche Interessen? Mit welchen Strategien verfolgt er oder sie diese Interessen?).
Mikropolitische Handlungsfelder Mikropolitische Kompetenz wird am Arbeitsplatz bei Veränderungen wie Aufgabenerweiterung oder Aufstieg, beim Arbeitsplatzwechsel oder in verschiedenen Konfliktsituationen mit Kolleginnen/Kollegen, Vorgesetzten oder Untergebenen in unterschiedlichen Handlungsfeldern benötigt. Die Handlungsfelder sind aus der Laufbahnberatung für Frauen abgeleitet, welche unser Schwerpunkt ist, sind aber auch auf andere Beratungsinhalte übertragbar. Wir haben folgende Handlungsfelder identifiziert: Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (Work-Life-Balance), Netzwerke und Koalitionen, Selbstdarstellung, Unternehmenskultur, Körper und Körperlichkeit sowie Emotionen und Emotionsarbeit (siehe Abbildung 2). Auch für die Beratung von Männern sind diese Handlungsfelder relevant. Bei einer Beratung kann es hilfreich sein, die kontroversen Handlungsfelder zunächst systematisch zu identifizieren, bevor Strategien und Taktiken dazu entwickelt werden. Bei einem Konflikt mit dem Vorgesetzten mag das Handlungsfeld »Vereinbarkeit« keine Rolle spielen, dafür aber das Handlungsfeld »Netzwerke«, etwa um Bündnispartner/-innen gegenüber dem Vorgesetzten zu finden. »Vereinbarkeit« steht dagegen im Vordergrund, wenn eine engagierte männliche Mikropolitische Handlungsfelder
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Abbildung 2: Mikropolitische Handlungsfelder
Führungskraft ein Jahr in Elternzeit gehen will. Sie braucht immer noch gute Strategien, um diesen Wunsch bei Vorgesetzten durchzusetzen. Untersuchungen zeigen, dass es auch für männliche Klienten und Nachwuchsführungskräfte immer wichtiger wird, eine gute Balance zwischen Beruf, Familie und privaten Interessen zu finden. Das folgende Fallbeispiel aus einer Laufbahnberatung zeigt, wie komplex die verschiedenen Handlungsfelder verflochten sein können.
▶▶ Fallbeispiel Herr L.: Auf der Suche nach einer neuen Rolle Herr L., 39, Ingenieur, Führungskraft in einem internationalen Beratungsunternehmen, ist nach zweijähriger inoffizieller Vertretung als Abteilungsleiter für einen schwer erkrankten Kollegen »nachgerückt«. Er leitet jetzt ein Team mit zehn Mitarbeiter/-innen. Herr L. kommt zum 56
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Coaching, weil er starke Konflikte mit seinem Team und mit sich selbst hat. Intern wird ihm der Vorwurf gemacht, er übe »zu viel Kontrolle« aus. Er selbst stellt selbstkritisch fest, dass er oft unangemessen wütend reagiert, Drohungen äußert und sich dabei insgeheim unterlegen fühlt. Der Klient berichtet, seine Firma habe vor vier Jahren mit einer internationalen Firma fusioniert. Früher sei das Betriebsklima viel wärmer gewesen (»ein großes Team«). Die neue Unternehmenskultur erlebe er als Verlust des guten Teamgeists. Einige Jahre habe er mit viel Engagement versucht, den alten Teamgeist zu retten, dennoch herrsche jetzt ein anderes Klima. Die neuen Mitarbeiter/-innen arbeiteten selbständig und abgegrenzt. Es gebe ein neues Leitbild, mehr Verwaltungsvorschriften, mehr Auflagen, Vorgaben und vor allem mehr Kontrolle. Die Mitarbeiter/-innen zögen nicht mehr an einem Strang, der ökonomische Druck wachse. Er müsse Formalien überprüfen und Kennzahlen weitergeben, was dem Team oft lästig sei. Dies gehe so weit, dass er manchmal sogar Sekretariatsaufgaben übernehme, wenn sich keiner verantwortlich fühle. Zudem komme er in Konflikt mit seinem Privatleben. Vor einem Jahr sei er Vater geworden. Deshalb wolle er die früher regelmäßige Wochenendarbeit beenden. Herr L. ist sich unsicher, wie er seine Mitarbeiter/-innen führen soll. Er sucht nach einer neuen Rolle.
In diesem Fall werden die Handlungsfelder Unternehmenskultur, Selbstpräsentation und Work-Life-Balance/-Vereinbarkeit angesprochen. Betriebliche Umstrukturierungen können Positionen qualitativ verändern. Die Position von Herrn L. hat sich vom Projektleiter in einem gleichrangigen Team zu einer Führungsfunktion gewandelt, in der er für viele ungeliebte Organisationsaufgaben verantwortlich ist. Seine Rolle ähnelt der einer Hausfrau, die für Alltagsorganisation, Kontrolle und den lästigen Kleinkram zuständig ist, aber für diese »Selbstverständlichkeiten« keine Anerkennung bekommt. Gleichwohl ist diese Arbeit absolut notwendig, damit der Laden »läuft«. Diese frustrierende Aufgabe will Herr L. nicht weiter ausfüllen. Die Umstrukturierungen des Unternehmens geben auch objektiv Anlass zur Unsicherheit hinsichtlich seiner Perspektiven als Führungskraft. Mikropolitische Handlungsfelder
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Im Beratungsprozess wird der Klient darin unterstützt, zu klären, was für ihn an seiner Arbeit wirklich wichtig ist. Er definiert sein eigenes Werte-Profil. Auf dieser Basis beginnt er, sich anders zu positionieren und zu präsentieren. Nach einem Jahr übernimmt er wieder eine verantwortliche Fachposition. Er handelt jetzt im Sinne seiner eigenen Interessen mikropolitisch bewusster. Er erlebt sich gelassener, reflektiert mehr und gibt nicht mehr sein ganzes Wissen preis. Dadurch hat er mehr Selbstvertrauen und Souveränität entwickelt. Um seine Position zu festigen, achtet er darauf, wer ihm persönlich gut tut und ihn stärkt. Er pflegt den Kontakt zu seinen wichtigen Unterstützern bewusst. Auch seine Werte hat er verändert: Da er weniger ideelle Wertschätzung erfährt, sind die materiellen Gratifikationen für ihn wichtiger geworden. Seine Arbeitszeiten balanciert er stärker mit seinen privaten Lebensumständen aus, Wochenendarbeit übernimmt er nicht mehr. Die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Privatleben ist dadurch viel leichter geworden, als Vater ist er über die gewonnene Zeit für die Familie sehr froh. Anhand der Dimensionen des Mikropolitischen Kompetenzmodells lassen sich die neu erlernten Handlungskompetenzen systematisieren: –– Fachkompetenz: Herr L. musste akzeptieren, dass sich die Kultur in seiner Firma verändert hat, und einsehen, dass er den alten Teamgeist auch durch persönliches Engagement nicht wiederherstellen kann. Dazu musste er sich anders positionieren und bestimmte Aufgaben unterlassen. Dies ist eine individuellere Form von Handlungskontrolle als die, welche er vorher verfolgt hatte. Diese Möglichkeit einer selbstbestimmten strategischen Neuorientierung war ihm vorher nicht zugänglich. –– Soziale Kompetenz: Herr L. ist ein sehr kollegialer und hilfsbereiter Mann, der gern in einem gleichrangigen Team arbeitet. Ein gutes Arbeitsklima ist für ihn sehr wichtig. Durch das Coaching konnte er seine Handlungsmöglichkeiten erweitern, er lernte, sich besser abzugrenzen, häufiger Nein zu sagen, mehr zu delegieren und bewusster zwischen an eigenen oder fremden Interessen orientierten 58
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Strategien zu wählen. Dennoch verhält er sich nach seinen eigenen Wertmaßstäben weiter kooperativ. –– Selbstkompetenz: Eine Orientierung an eigenen Werten und Bedürfnissen hat Herr L. bisher als »egoistisch« abgewertet. Eine Reflexion dieser stereotypen Bewertungen im Kontext seiner veränderten Lebenssituation ermöglichte ihm, ein flexibleres Selbstkonzept, mehr Freiheit und bessere Balance im Umgang mit seiner Führungsrolle und den Prioritäten im Privatleben zu entwickeln.
Im Folgenden betrachten wir die einzelnen Handlungsfelder genauer.
1) Vereinbarkeit von Beruf und Familie/Work-Life-Balance Sind Frauen in einer Gesellschaft traditionellerweise für die Versorgung von Kindern zuständig, wirkt sich diese Zuschreibung auch auf Frauen aus, die (noch) keine Kinder oder gar keinen Kinderwunsch haben. Für alle Frauen ergeben sich deshalb die Fragen, wie, wann und wem gegenüber sie Familien- und Vereinbarkeitsfragen thematisieren oder wie sie auf entsprechende Fragen und Unterstellungen reagieren. Besonders im Zeitraum zwischen 30 und 40 Jahren werden wichtige berufliche, aber auch private Entscheidungen getroffen. In diesem Handlungsfeld ist es deshalb von Bedeutung, die eigenen Ziele mit den Zielen der Organisation abzugleichen und einerseits keine Opfer zu bringen (z. B. bei Kinderwunsch auf Kinder zu verzichten, weil die Karriere so anstrengend ist), die später möglicherweise bereut werden, andererseits eine klare Bereitschaft zur Erwerbsarbeit zu signalisieren, wenn eine Familiengründung ansteht oder bereits erfolgt ist. Denn anders als bei Männern wird Frauen mit Kind oder Kinderwunsch häufig der Wille abgesprochen, sich weiter für den Beruf zu engagieren oder Karriere machen zu wollen. Aber auch Männer können mit einem Anliegen in die Beratung kommen, das die Vereinbarkeit von Beruf- und Privatleben betrifft. Oft beruhen starke Vereinbarkeitsprobleme auf einer konservativen patriarchalen Unternehmenskultur. Mikropolitische Handlungsfelder
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▶▶ Fallbeispiel Frau I.: Wenn Männer und Frauen dasselbe tun, ist es nicht das Gleiche
Die Groß- und Außenhandelskauffrau Frau I. arbeitet seit zwölf Jahren in einem konservativen Mineralölunternehmen. Sie ist verheiratet, wünscht sich seit Langem Kinder und ist privat auf ihren derzeitigen Wohnort festgelegt. Sie hat sich über Jahre bemüht, immer mehr zu leisten, um von sich zu überzeugen, dabei hat sie sich oft überfordert. Mit Ende 30 sieht sie in ihrer Firma keine Perspektive mehr für eine berufliche Weiterentwicklung, obwohl sie nach ihrer Ansicht mehr geleistet hat als die meisten Männer, die inzwischen längst aufgestiegen sind. Sie wurde nach einer Umstrukturierung in ihrer Eingruppierung zurückgestuft und erst nach Jahren auf erheblichen Druck von ihr selbst wieder als fachliche Führungskraft bezahlt. Seitdem herrscht Stillstand, sie fühlt sich bei Nachfragen nach Aufstiegsmöglichkeiten von ihrem früher sehr fördernden Vorgesetzten hingehalten. Auch die Personalabteilung reagiert abweisend. Frau I. hat nach eigener Einschätzung keine Probleme mit einer positiven Selbstdarstellung, fühlt sich allerdings inzwischen eingeschüchtert und wird zunehmend durch gesundheitliche Probleme gebremst. Ihre Motivation zur Veränderung ist zwiespältig: Mal träumt sie davon, ganz auszusteigen, mal möchte sie nochmal richtig Druck machen. Innerlich scheint sie in einem Konflikt zwischen frustrierter Anpassung an ihre konservative Firma oder einem radikalen Ausstieg für eine Familiengründung festzustecken (einem ebenfalls traditionellen Rollenmodell). Sie hadert mit der erlebten Geschlechterungerechtigkeit und fühlt sich persönlich angegriffen, da dies ihren eigenen familiär vermittelten Werten von Gleichheit zwischen Mann und Frau diametral widerspricht. Frau I. hat in einem konservativ-patriarchalen Umfeld »blind« auf individuelle Leistung gesetzt und die strukturellen und kulturellen Grenzen ihrer Firma ausgeblendet. Ihre berufliche Stagnation wird außerdem durch ihre eigene Unentschiedenheit aufrechterhalten, aktiv strategisch günstige Bedingungen für eine Vereinbarkeit von Karriere und Familie zu schaffen. Die lange, zunehmend frustrierende Firmenzugehörigkeit 60
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deutet darauf hin, dass das Sicherheitsbedürfnis und die Veränderungsangst der Klientin groß sind, sonst hätte sie möglicherweise schon früher in ein moderneres familienfreundliches Unternehmen mit besseren Karrieremöglichkeiten für Mütter gewechselt. Seit Längerem steckt sie in einem Dilemma: Weder haben sich ihre Karrierehoffnungen erfüllt, noch (bisher) ihr Kinderwunsch. Eine Beratung müsste die Frau I. darin unterstützen, sich in allen Dimensionen mikropolitischer Kompetenz weiterzuentwickeln und sie darin bestärken, auch außerhalb ihres Unternehmens Alternativen für ihre berufliche Weiterentwicklung zu suchen.
Hier wird am Beispiel eines sehr konservativen Unternehmens deutlich, dass für Männer und Frauen unterschiedliche Rollen- und Verhaltenserwartungen bestehen können, die als informelle Normen und Loyalitätsregeln wirksam sind. Wenn Frauen sich in diesem organisatorischen Umfeld verhalten »wie ein Mann«, wird dieses Verhalten sanktioniert. Es scheint eine unsichtbare Grenze zu geben, die nicht überschritten werden darf. Das hat in dem geschilderten Fallbeispiel anscheinend darin bestanden, sich selbst beim Bereichsleiter für eine Höhergruppierung einzusetzen. Die Hypothese zum Handlungsfeld Unternehmenskultur wäre, dass es in diesem Unternehmensbereich die unausgesprochene Regel gibt, dass Frauen die Rolle von zuverlässigen Zuarbeiterinnen auszufüllen haben und keine hierarchieüberschreitende Initiative zur Verbesserung ihrer beruflichen Position entwickeln »dürfen«. Die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten sind begrenzt und geprägt durch genderstereotype Normen. Sobald eine Mitarbeiterin Mutter wird, wird sie hinsichtlich ihrer Karriere erst recht abgeschrieben.
2) Netzwerke und Koalitionen »Networking« ist eine mikropolitische Machttaktik, mit der organisationale Akteure und Akteurinnen strategisch-planvoll versuchen, das Beziehungsnetzwerk, das sie umgibt, zur Verwirklichung eigener Interessen zu gestalten und zu nutzen. Eng verbunden mit Networking Mikropolitische Handlungsfelder
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ist die Taktik »Koalitionen bilden« als Verbündung mit relevanten anderen. Weitere Formen sind Mentoren- oder Sponsorenbeziehungen, bei denen erfahrene Führungskräfte jüngere Beschäftigte beraten und unterstützen. Mentoring kann insbesondere für Frauen zusätzlich zu Networking förderlich wirken und umgekehrt erleichtern frühzeitige Netzwerkaktivitäten die Suche nach Mentorinnen und Mentoren. Das in Kapitel 3 beschriebene Fallbeispiel der karriereorientierten und erfolgreichen Frau M. ist ein gutes Beispiel dafür. Networking und Koalitionen sind für das persönliche Fortkommen wichtig, sie sind aber auch die wichtigste Voraussetzung, um Projekte innerhalb einer Organisation umzusetzen. Eine führende Mitarbeiterin eines mittelständischen Familienunternehmens engagiert sich in einer Flüchtlingsinitiative und möchte erreichen, dass ihre Firma Praktikumsplätze für Migrantinnen und Migranten zur Verfügung stellt. Als erfahrene Netzwerkerin setzt sie sich mit politisch ähnlich eingestellten Kolleginnen/Kollegen zusammen und stellt ihre Idee vor. In diesem Kreis initiiert sie ein Brainstorming, wer für dieses Projekt mit welchen Mitteln begeistert werden könnte. Die Initiativgruppe definiert Aufgaben, die verteilt werden. Sie selbst trifft sich mit einem ihr gut bekannten Geschäftsführer, um ihn zu informieren und ebenfalls ins Boot zu holen. Zusammen mit ihm überlegt sie, wie man das Projekt gestalten müsste, um auch den Firmeninhaber zu überzeugen. Die Projektidee nimmt allmählich konkrete Formen an.
Es kann aber auch Konstellationen geben, in denen es äußerst schwierig ist, nützliche Netzwerke aufzubauen. Der formale Ausschluss von Frauen aus privilegierten Bereichen des Arbeitslebens ist zwar nicht mehr legitim, umso besser funktionieren aber subtile und »unsichtbare« Ausschlussmechanismen. Dazu gehört die Strategie des informellen, sogenannten internen Ausschlusses. Werden Frauen auf diese Weise z. B. von Gesprächsrunden ferngehalten, verfügen sie über geringere Chancen, an relevante Informationen zu gelangen (das größte Plus von Netzwerken) und über weniger sozialen Rückhalt (Unterstüt62
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zung und Anerkennung). Aber auch bei Beteiligung an informellen Aktivitäten gelingt es nicht immer, diese als förderliches Umfeld für sich zu erschließen, wie folgendes Fallbeispiel zeigt.
▶▶ Fallbeispiel Frau E.: »… mein Netzwerk hilft mir überhaupt nicht weiter«
Frau E., eine 35-jährige Informatikerin, hat als einzige Frau in ihrem Team sehr lange versucht, sich den Männernormen anzupassen und mit Kollegen »als Kumpel« viele Überstunden und lange Nächte an der Bar zugebracht. Während diese informellen Aktivitäten bei ihren Kollegen zur beruflichen Vernetzung und oft zu Karriereschritten beigetragen haben, hatte sie selbst wenig davon. Ihr wurden noch nie Aufstiegsoptionen angeboten, trotz aller Bemühungen fühlt sie sich im Grunde als Außenseiterin. Besonders enttäuscht ist sie, als sie hört, dass ihr früherer Chef, mit dem sie ein sehr gutes Verhältnis hatte, sich über sie inzwischen abwertend äußert, sie aus ihrer Sicht geradezu mobbt. Sie hat seitdem den Eindruck, sie werde in ihrer Abteilung aktiv in ihrer beruflichen Entwicklung blockiert und nur als »braves fleißiges Mädchen« akzeptiert. Wenn sie selbstbewusster aufträte oder selbst Aufstiegsziele äußern würde, sei sie »unten durch«. Frau E. hat sich sozial zurückgezogen und verhält sich nach eigener Einschätzung in ihrem Team inzwischen misstrauisch und verdeckt vorwurfsvoll. Sie ist sich bewusst, dass sie dadurch ihre Karrierechancen zusätzlich verschlechtert.
Frau E. muss im Coaching dabei unterstützt werden, möglichst objektiv zu analysieren, welche Möglichkeiten ihr in ihrer Abteilung und ihrem Unternehmen (noch) offen stehen. Zur Klärung ihrer Situation muss sie das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten suchen. Zur Vorbereitung ist es sicher hilfreich, die negativ erlebten mikropolitischen Taktiken von Ausgrenzung und Mikroabwertung (vgl. S. 48) identifizieren und benennen zu können. Darüber hinaus kann mikropolitische Kompetenz helfen, die Sackgasse, in die sie geraten ist, analytisch zu versteMikropolitische Handlungsfelder
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hen und Abstand zu den persönlichen Verletzungen zu gewinnen. Sie braucht neue Verbündete. Vielleicht ist eine gezielte Netzwerkbildung unter fachlich ähnlich qualifizierten Kolleginnen möglich, vielleicht findet sie potenzielle Mentorinnen/Mentoren oder Sponsoren/Sponsorinnen in anderen Abteilungen. Jedoch wäre es nicht ungewöhnlich, wenn in einer konservativen Technologie-Firma die Rekrutierung aus dem » Old-boy«-Netzwerk noch gängige Praxis ist.
3) Selbstdarstellung: Mehr als »impression management« Selbstdarstellung gehört zu den klassischen mikropolitischen Taktiken (self-promotion). Selbstdarstellung bedeutet nicht nur selbstbewusstes Auftreten oder die Demonstration eigener Erfolge, sondern auch eine Abgrenzung von anderen durch die Darstellung der eigenen Persönlichkeit. Neben der Selbstwahrnehmung und Positionierung – wie sehe ich mich? – ist für eine gelungene Selbstdarstellung auch die Beeinflussung der Wahrnehmung von anderen nötig: Wie will ich von anderen Personen gesehen werden? Selbstdarstellung geschieht im Kontext von Stereotypen und Schemata. Es wurde bereits beschrieben, dass die Schemata der »guten Führungskraft« mit Männlichkeitsstereotypen verbunden sind. Folge ist, dass trotz der steigenden Zahl von Frauen in Führungspositionen und jahrelanger Diskussionen um deren Erhöhung in manchen Organisationen nach wie vor Vorbehalte gegenüber weiblichen Vorgesetzen herrschen – und zwar bei Männern und Frauen. Frauen geraten dann in ein Dilemma: Während bei Männern der Einsatz maskuliner Stereotype in der Selbstdarstellung zu mehr Erfolg führt, kann ein zielsicheres und selbstbewusstes Auftreten bei Frauen zwar erreichen, dass sie als ebenso fachkompetent wahrgenommen werden wie Männer mit gleichem Verhalten, aber gleichzeitig als weniger sympathisch und sozial kompetent beurteilt werden (siehe Kapitel 3). Sie müssen in entsprechenden Positionen oft bewusster und behutsamer mit ihren Selbstpräsentationsmöglichkeiten umgehen als Männer. Aber zunächst müssen sie dahin kommen. 64
Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
▶▶ Fallbeispiel Frau K.: »… man muss mich immer so ein bisschen treten, das ist wirklich ein Problem«
Die Klientin Frau K., Mitte 30, arbeitet als Controllerin in einem großen Technikunternehmen. Ihr berufliches Umfeld ist männerdominiert. Coaching-Bedarf sieht sie vor allem in den Handlungsfeldern Selbstdarstellung und Networking, da sie dazu neigt, sich stark zurückzuhalten und selten eigene Erfolge herauszustellen. Obwohl sie fachlich sehr kompetent ist, vertraut sie ihrer eigenen Leistungsfähigkeit wenig. Deshalb meldet sie sich für Projekte nicht freiwillig. Wenn sie Aufgaben übernimmt, erhält sie von ihren Vorgesetzten allerdings stets positives Feedback. Dies motiviert sie zur Veränderung. Aktuell hat sie eine Projektleitungsstelle, zu der sie ebenfalls direkt von Vorgesetzten aufgefordert wurde. Im Coaching nimmt sie sich vor, nach außen mehr zu signalisieren, dass sie sich etwas zutraut. Mit dieser Perspektive beginnt Frau K., ihre eigene Position zu verbessern. Sie versucht, bei der Verteilung von Aufgaben stärker Einfluss zu nehmen und achtet bewusst auf »prestigeträchtige« Projekte im Unternehmen, um solche Gelegenheiten besser zu nutzen. Sie stellt dabei fest, dass man sich bei wichtigen Themen auch eigeninitiativ in die erste Reihe bringen muss. Eine weitere Strategie besteht darin, gegenüber anderen Personen ihre eigenen (Karriere-) Ziele deutlich(er) zu kommunizieren. Als Frau K. ihrer Vorgesetzten mitteilt, dass sie gern eine Führungsaufgabe übernehmen würde, reagiert diese positiv überrascht. Denn dieser Aufstiegswunsch war der Vorgesetzten bisher nicht bekannt, sie ging bis dato sogar vom Gegenteil aus. Allein eine solch klare Interessensbekundung kann dazu beitragen, dass die Vorgesetzte ab diesem Zeitpunkt bei Besetzungen von höheren Positionen an Frau K. als potenzielle Kandidatin denkt. Als zurückhaltende Person hat die Klientin allerdings weiter Mühe, eine aktive Selbstdarstellung ins eigene Selbstkonzept zu integrieren: »Ich bin nicht der Typ, der immer absolut offen auf fremde Leute zugeht, aber mir ist die Bedeutung schon bewusster geworden und ich versuche, häufiger für mich aktiv zu werden als vorher.« Die kleinen Veränderungen erweisen Mikropolitische Handlungsfelder
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sich als so erfolgreich, dass Frau K. zum Ende des Coachings auf der Vorschlagliste für eine hierarchisch höhere Position steht. Anhand des Mikropolitischen Kompetenzmodells lassen sich die neu erworbenen Kompetenzen gut veranschaulichen: –– Fachkompetenz: Frau K. war sich zwar bewusst darüber, dass Selbstdarstellung für den Aufstieg wichtig ist, aber die Bedeutung der Kompetenzdarstellung wurde von ihr unterschätzt. Sie ging davon aus, dass ihre Leistungen selbstredend erkannt und entsprechend gewürdigt werden. Außerdem hat sie erfahren, dass eine offene Kommunikation ihres Aufstiegswunsches gegenüber Vorgesetzen karriereförderlich ist. –– Methodenkompetenz: Aufgrund ihrer Persönlichkeit tut sie sich schwer damit, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie entwickelte die Strategie, sich indirekt durch die Übernahme prestigeträchtiger Themen und Projekte sichtbarer zu machen und sich dadurch als Aufstiegskandidatin zu präsentieren. –– Soziale Kompetenz: Frau K. lernte die impliziten Regeln in ihrem Unternehmen besser kennen. Eine davon lautet, dass Aufgaben und Positionen informell und nicht an systematische Verfahren gekoppelt vergeben werden. Das bedeutet für sie als Aufstiegswillige, dauerhaft aktiv auf sich aufmerksam machen zu müssen. –– Selbstkompetenz: Einige Facetten von Selbstdarstellung passen nicht zum Selbstkonzept von Frau K. Die Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Ambivalenzen verhalf ihr dazu, ihre Handlungsspielräume zu erweitern.
Das Fallbeispiel zeigt, dass bereits kleine Einstellungs- und Verhaltensänderungen karrierefördernd wirksam sein können. Die Fähigkeit zur Darstellung der eigenen Kompetenz und die Bereitschaft, im Arbeitsumfeld eindeutig Aufstiegskompetenz zu signalisieren (»ich schaffe dieses Projekt«, »ich möchte aufsteigen«) sind entscheidend. In der Wissenschaft wird diese Fähigkeit in der Performance als »Kompetenzdarstellungskompetenz« bezeichnet (Pfadenhauer, 2003). Nur
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Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
die sichtbare Performanz ermöglicht Rückschlüsse auf die zugrundeliegende Kompetenz, die als solche nicht beobachtbar ist. Voraussetzung einer guten Selbstpräsentation ist die Fähigkeit, sich selbst zu positionieren. Dies kann auch für Männer schwierig sein, wie das folgende Fallbeispiel zeigt.
▶▶ Fallbeispiel Herr B.: »… als unentschlossener Gutwilliger komme ich nicht weiter«
Herr B., ein 39-jähriger Internist, fühlt sich beruflich in einer Sackgasse und fasst seine Position folgendermaßen zusammen: »Ich versuche, es allen Recht zu machen, mache aber nichts richtig«. Zu Anfang des Coachings hat er das Anliegen, sich darüber klar zu werden, welche beruflichen Ziele er hat, wie er Entscheidungen trifft und wie er seine Perspektiven stringenter verfolgen kann. Herr B. arbeitet seit sechs Jahren im gleichen Krankenhaus. Mit der Facharztprüfung ist er später fertig geworden als die Kollegen. Sein Vorsatz am Anfang war, hart zu arbeiten und auch unangenehme Aufgaben zu übernehmen. Nun stellt er fest, dass die Kollegen, die öfter Nein gesagt haben, rascher weitergekommen sind als er und schneller Facharzt und Oberarzt geworden sind. Herr B. sieht selbstkritisch, dass er nicht delegieren kann und auch den Pflegekräften gern (zu) viel abnimmt. Als Student hat er selbst in der Pflege gearbeitet und sich vorgenommen, auf keinen Fall ein arroganter Arzt zu werden. Die Auseinandersetzung mit diesem negativen Bild des arroganten Arztes nimmt im Coaching einen wichtigen Platz ein, denn die Furcht davor, mit dieser Rolle identifiziert zu werden, engt Herrn B. in seinen Handlungsmöglichkeiten ein. Hier rückt der Bereich Selbstkompetenz und das Verhältnis zu eigenen Machtpotenzialen in den Fokus. Es wird erarbeitet, auf welche Weise von Ärzten auf seiner Station und in der Abteilung Status demonstriert wird. Was dürfte er nicht mehr machen, um zu zeigen, dass er mittlerweile ein erfahrener Facharzt ist? Herr B. kann die »rangniedrigeren« Tätigkeiten sofort aufzählen: Blut abnehmen, Standard-Arztbriefe schreiben, alle Sprechstunden übernehmen, für alle ansprechbar Mikropolitische Handlungsfelder
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sein. Wenn er diese Tätigkeiten reduzieren würde, hätte er mehr Zeit zur Vor- und Nachbereitung schwieriger Behandlungen, bei denen er sich manchmal unsicher fühlt. Der Klient wird darin unterstützt, damit zu experimentieren, öfter Nein zu sagen und Aufgaben abzugeben. Er stößt dabei auf seine innere Überzeugung: »Solange ich selbst Wissenslücken habe und nicht länger und härter als alle anderen arbeite, darf ich nichts delegieren«. Durch diesen perfektionistischen Anspruch blockiert er sich selbst. Beim Erproben der für ihn neuen Verhaltensweisen Delegieren und Anweisen stellt er fest, dass es nach der ersten Überwindung doch überraschend einfach sei und gut klappe. Auch bei der Übernahme von für ihn zunächst schwierigen Fällen vergeht die Selbstunsicherheit. Herr B. entwickelt für sich das Ziel, eine Spezialisierung anzustreben, die in der Klinik sehr nachgefragt wird. Hierfür will er sich positionieren, indem er sich aktiv um die passenden Fälle bemüht. Sein Selbstbild als Spielball (»ich muss es allen Recht machen«) wandelt er um zu einer selbstbestimmten, weiterhin kooperativen Position: »Ich entscheide selbst, welche Aufgaben ich übernehme und setze mich mit meinen Möglichkeiten dafür ein«.
Auch ohne explizite Aufstiegsambitionen ist es also wichtig, das Gefühl zu stärken, selbst wirksam auf das eigene Arbeitsumfeld Einfluss nehmen zu können. Menschen mit geringerem Selbstwertgefühl – seien es Frauen oder Männer – kann es in einem Arbeitsklima, das durch negative Kommunikationsakte von Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen geprägt ist, besonders schwer fallen, ihre Kompetenzen gut zu präsentieren. Dann ist es notwendig, die Selbst- und Fremdbeobachtung zu schulen, um solche Kommunikationstaktiken zu durchschauen und sich aktiv zu behaupten. Nach unseren Erfahrungen wird die Relevanz von Selbstdarstellung durchaus erkannt, nur bei der Umsetzung in konkrete Strategien bestehen oft Selbstzweifel und Unsicherheiten. Zum Beispiel haben weibliche Fach- und Führungskräfte häufig den Eindruck, dass sie unspezifische Situationen (wie beispielsweise Besprechungen) nicht genügend zur Selbstdarstellung nutzen, während strukturiertere Situationen, wie z. B. Präsentationen, unproblematischer erlebt werden. 68
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In einer Beratung beschreibt eine Klientin: »Ich bin gerade dabei, die Selbstdarstellung zu üben, weil ich gemerkt habe, dass mir dieses Trommeln sehr schwer fällt. Eigentlich muss man schon bei jedem Meeting zumindest einen Kommentar gebracht haben. Denn nach einem Meeting fallen einem immer nur die Leute ein, die irgendwie dauernd etwas gesagt haben, obwohl man den Inhalt vielleicht schon wieder vergessen hat. Aber das bleibt trotzdem hängen. Deshalb will ich mich darum bemühen, mich in Meetings schneller zu Wort zu melden«. Dieselbe Klientin beobachtet bei sich, wie schwer es ihr fällt, sich gezielt positiv darzustellen, besonders wenn gleichrangige Kollegen dabei sind: »Da habe ich das Gefühl, das könnte so aufgefasst werden, als lobe ich mich selbst und halte mich für was Besseres als andere. Dieses Problem habe ich schon immer gehabt. Ich möchte nicht, dass es so verstanden wird, als wäre ich jetzt der Platzhirsch.«
Meetings und Arbeitsbesprechungen, die in der Regel wenig strukturiert sind, sind wichtige Bewährungsproben, um auf sich aufmerksam zu machen, und zwar nicht nur mit inhaltlichen Beiträgen. Hauptsache, die Person bleibt im Gedächtnis der Anderen verankert. Deshalb ist es wichtig, solche Gelegenheiten bewusst zu nutzen. Die Aussagen zeigen, wie schwer es Frauen (und manchen Männern) fallen kann, gezielte positive Selbstdarstellung und souveränes statusgemäßes Auftreten in ihr Selbstkonzept (Selbstkompetenz) zu integrieren. Dies liegt zum einen daran, dass viele Frauen sich weiter mit traditionellen Verhaltensregeln (»Bescheidenheit ist keine Zier«: siehe Haubl, 2007) identifizieren, offensiv selbstbewusstes Verhalten ambivalent oder sogar unsympathisch erleben und »männliche« Strategien nicht einfach übernehmen wollen.3 Jedoch ist es mikropolitisch gerade für Frauen unverzichtbar, die herrschenden »männlichen« Spielregeln zu
3 In unserer Studie fiel auf, dass Frauen für dominante männliche Kollegen oft kritische Metaphern benutzen wie z. B. »Alpha-Männchen«, »Platzhirsch« oder »Hecht«. Mikropolitische Handlungsfelder
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kennen, für die eigenen Ziele passend zu machen und zu vermeiden, Geschlechterstereotype zu bedienen. Mikropolitische Eindrucksbildung zielt (aktiv) darauf ab, die Interpretationen des eigenen Verhaltens durch andere zu beeinflussen. Voraussetzung ist die Absicht, andere dazu zu bringen, das zu erkennen und zu fördern, was man selbst für wichtig hält. Dies gilt für individuelle Ziele ebenso wie für gemeinschaftliche oder unternehmenspolitische Anliegen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass andere die Motive der einflussnehmenden Person durchschauen können, was die Wirkung schwächen kann. Glaubwürdigkeit und Authentizität sind deshalb oft ausschlaggebend.
4) Unternehmenskultur: Spielregeln kennen Mikropolitik entfaltet sich innerhalb der organisationalen Grauzonen und Freiräume, die durch strukturelle Unternehmensbedingungen geschaffen werden. In einem weiten Verständnis gehören zu diesen Bedingungen nicht nur die formalen Regeln und Abläufe einer Organisation, sondern auch das im Laufe der Unternehmensgeschichte entstandene System informeller – aber verbindlicher – unternehmenskultureller Festlegungen. Nach unserem Verständnis beinhaltet Unternehmenskultur also ebenso die spezifischen Überzeugungen und Werte, die sich in einer Organisation im Laufe der Zeit entwickelt haben und das Handeln der Organisationsmitglieder informell prägen. Einem bekannten Modell von Edgar Schein (1984) zufolge existieren in einer solchen Kultur (meist unbewusste) Basisannahmen, auf denen sich (teilweise bewusste) Normen und Standards entwickeln, die wiederum auf der Ebene von Symbolen sichtbar werden. Solche Symbolsysteme sind z. B. spezifische Rituale und Zeremonien, typische Kleidung, immer wieder erzählte Geschichten und Legenden sowie die Art und Weise, wie miteinander umgegangen wird. Voraussetzung für strategisches Handeln innerhalb und mit einer Unternehmenskultur ist deshalb, sich dieser Kultur, ihren spezifischen Erwartungen und Anforderungen, bewusst zu werden. Welche informellen Werte und Regeln gelten? Welche 70
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Taktiken sind kulturkonform? Und welche kulturellen Elemente könnten sich hinderlich auf das eigene Fortkommen auswirken? Für mikropolitisches Handeln ist die Unternehmenskultur in dreifacher Hinsicht wichtig: Sie bildet erstens den Referenzrahmen für die Bewertung der Stimmigkeit und Kontextangemessenheit einer spezifischen Handlung bzw. mikropolitischen Aktion. So ist es für erfolgreiches Agieren entscheidend, die lokalen Konventionen bei der Wahl erfolgversprechender strategischer Handlungsoptionen als normativen Rahmen zu kennen. Zweitens ist es für den persönlichen Erfolg wichtig, dass die eigene Selbstdarstellung in die herrschende Unternehmenskultur passt. Drittens kann die Unternehmenskultur zum Gegenstand mikropolitischen Handelns werden, wenn diese Darstellung nicht gelingt oder eigenen zentralen Interessen widerspricht. Dies kann der Fall sein, sollten Elemente der herrschenden Kultur nicht erfüllbar sein, z. B. wenn einer hohen Präsenzerwartung aufgrund familiärer Verpflichtungen nicht entsprochen werden kann. Kulturelle Normen können auch per se diskriminierend wirken und/oder mit eigenen Werten kollidieren, z. B. wenn ein kooperativer Mann in einem stark rivalisierenden Team zurechtkommen muss. In diesen Fällen kann der Umgang mit Kultur zu einer mikropolitischen Heraus forderung werden (vgl. Cornils, Mucha u. Rastetter, 2012). Beim Eintritt in eine Firma führt das eigene Unwissen leicht zu Fehlern, denn, wie eine Klientin beschreibt, »gerade, wenn man neu ist, tritt man mitten in die Fettnäpfchen«. Insbesondere männerdominierte Unternehmenskulturen können schwierig sein, weil dort nur schwer geeignete Netzwerkpartner/-innen zu finden sind, die Neulinge in die unternehmenskulturellen Feinheiten einführen könnten. Als wichtige Voraussetzung, um in einem Unternehmen erfolgreich zu sein, gilt die Fähigkeit, die Unternehmenskultur selbst glaubwürdig zu verkörpern. Kulturkonformes Verhalten ist ein In-group-Kriterium. Wer sich den herrschenden Konventionen widersetzt, grenzt sich dadurch auch selbst aus. In den Beratungen beschreiben Klientinnen und Klienten vielfältige Formen von Unternehmenskultur. Varianz und NuancenreichMikropolitische Handlungsfelder
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tum von Handlungsweisen und informellen Regeln zeigen, wie speziell und unterschiedlich die einzelnen Kulturen sind. Ein Verhalten, das in der einen Organisation passend ist, kann in einer anderen für leichte Irritation oder sogar völliges Unverständnis sorgen. Während es beispielsweise im einen Unternehmen Konsens ist, sich »selbstverständlich untereinander zu helfen und Wissen zu teilen«, herrscht im anderen »eine ungeschriebene Regel, wenn du neu bist, lies dich gefälligst selbst ein, frag nicht so viel!« Ebenso vielgestaltig ist der kulturspezifische Umgang mit Arbeitszeiten: Einer starken Präsenzkultur, in der ein pünktlicher Feierabend sanktioniert wird, steht woanders z. B. die informelle Konvention gegenüber, zu viel Arbeit einzelner zu missbilligen: »Die wollen gar nicht, dass ich viel länger arbeite als sie, weil sie dadurch unter Druck gesetzt werden«. Kommt es tatsächlich zu Fehlern, so kann die Kultur es nahelegen, »dass man da stillschweigend drüber hinweggeht«, also: schweigt, anstatt zu kritisieren. Anderswo schweigt man, anstatt zu loben: »Bei uns ist es so, kein Feedback heißt, es ist alles gut«. Die Kultur in einem Unternehmen entscheidet auch darüber, wie viel Gehorsam sein sollte – ob es also ratsam ist, »sehr loyal gegenüber der Führungskraft zu sein und möglichst keine Kritik zu üben« – eigene Ideen werden dann auch schon mal mit Augenrollen in Meetings sanktioniert. Oder ob eigen(sinnig)e Vorschläge erwünscht sind. Und falls ja, ob diese dann im Alleingang umgesetzt werden dürfen oder ob die Regel gilt: Man muss alle Leute mit ins Boot holen, sonst sind neue Initiativen zum Scheitern verurteilt. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Auch innerhalb ein und derselben Organisation sind kulturelle Widersprüche, beispielsweise im Zuge von Change-Prozessen, keine Seltenheit. Das folgende Fallbeispiel veranschaulicht, wie in einer Firma über längere Zeit zwei Kulturen parallel existieren, wodurch der vorgegebene normative Rahmen widersprüchlich ist; zeitgleich gelten zwei verschiedene Bewertungssysteme. Langfristig erfolgreiches Handeln erfordert dann umso mehr mikropolitische Reflexion.
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Mikropolitik als allgegenwärtige Handlungslogik
▶▶ Fallbeispiel Frau C.: »Ich begebe mich nicht mehr zwischen
die Fronten, sondern versuche jetzt, beide Kulturen zu bedienen«4
Frau C. ist in einem traditionellen Familienunternehmen beschäftigt, dessen Gründer und langjähriger Chef »von der alten Riege« war – er führte autokratisch, hierarchisch und intransparent. Vor einiger Zeit gab der Chef die Geschäftsführung an seine Tochter ab, deren Führungsstil ganz anders ist. Seither werden im Unternehmen Leistung, Kommunikation und gute Netzwerke honoriert. Frau C. schätzt diese Kultur und ist gut vernetzt und integriert, nur nicht in ihrer eigenen Abteilung: Ihre direkte Vorgesetzte arbeitet als Personalleiterin bereits seit 25 Jahren im Unternehmen und vertritt nach wie vor die alten Werte, was für Frau C. zu schwierigen Situationen führt. Ihr Ziel ist es, selbst Nachfolgerin zu werden, wenn die Chefin altersbedingt aus dem Unternehmen ausscheidet. Sie ist also auf eine gute Zusammenarbeit mit ihrer Vorgesetzten angewiesen. Im Vorfeld des mikropolitisch orientierten Coachings assoziiert Frau C. mit Unternehmenskultur vor allem Feierlichkeiten und vermutet zudem »eigene Werte und Regeln« nur bei Traditions- und Familienunternehmen. Die mikropolitische Analyse ergibt, dass das Handlungsfeld »Unternehmenskultur« ein zentraler strategischer Faktor für Frau C.s Position und Fortkommen ist. Während sich im Gesamtunternehmen bereits die neue Kultur etabliert hat, bildet ihre Abteilung eine Ausnahme, hier gelten – getragen von der Abteilungsleiterin – als normativer Rahmen nach wie vor die alten Werte. Frau C. wiederum ist die einzige Vertreterin der neuen Kultur. Aus dieser Perspektive kann sie verstehen, warum sie in ihrer gesamten Firma gut vernetzt und integriert ist – (»habe mich mit allen Außenstehenden in der Firma super verstanden, also außerhalb meiner Abteilung, war beliebt, habe sofort Anschluss gefunden«) –, während sich das Knüpfen tragfähiger Kontakte im eigenen Team als schwierig erweist. 4 Das Fallbeispiel wird mit freundlicher Erlaubnis der Autorinnen zitiert (Mucha, Nielbock u. Triebs, 2011). Mikropolitische Handlungsfelder
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Nachdem Frau C. analysiert hat, welche Kulturen existieren und wo diese jeweils gültig sind, erarbeitet sie im Coaching die Strategie, »sich nicht zwischen die Fronten zu begeben, sondern beide Kulturen zu bedienen«. Sie entscheidet sich für das »Switchen« zwischen den beiden Wertesystemen: »Ich muss eigentlich mein Verhalten in der Firma so belassen, weil das ja offensichtlich ganz gut ankam, nur in der Abteilung muss ich mich dann irgendwie anders verhalten«. Das bedeutet konkret, dass Frau C. ihre Vorgesetzte aktiver in ihre Tätigkeiten einbezieht und ihr Informationen aus der inzwischen herrschenden anderen Kultur zukommen lässt; so kann sie ihr Vertrauen gewinnen. In dieser Brückenfunktion wird es für die Klientin möglich, gleichzeitig erfolgreich in der neuen Kultur zu agieren und für ihre Chefin zu einer wichtigen Unterstützung zu werden. Erste Erfolge sind bereits sichtbar, die Chefin fragt ihre (kulturelle) Expertise vermehrt nach – so kann Frau C. ihrem Aufstieg zur Personalleiterin in einigen Jahren strategisch vorbereiten. Dieses Beratungsergebnis lässt sich in die Kompetenzbereiche des Mikropolitischen Kompetenzmodells gut einordnen: –– Fachkompetenz: Frau C. hatte zwar eine vage Idee davon, dass es in ihrem Unternehmen implizite Werte und Regeln gibt, sie war sich des Ausmaßes der strategischen Bedeutung des Handlungsfelds Unternehmenskultur jedoch nicht bewusst. Durch das Coaching erweiterte sie ihr Verständnis kultureller Dynamiken. –– Methodenkompetenz: Als zentrale mikropolitische Strategie erarbeitete Frau C. im Coaching das »Switchen« zwischen den beiden konträren Kulturen in ihrem Unternehmen. Gleichzeitig sucht sie den Kontakt zu ihrer Vorgesetzten und bietet sich dieser als Informantin und somit als wertvolle Netzwerkpartnerin an. –– Soziale Kompetenz: Diese Dimension des Mikropolitischen Kompetenzmodells ist in Frau C.s Fall ganz zentral. Sie hat quasi doppelte soziale Kompetenz erworben und ist nun in der Lage, in zwei parallel existierenden Kulturen flexibel zu agieren. –– Selbstkompetenz: Die Integration der konkret entwickelten mikropolitischen Kompetenz ins Selbstkonzept gelang Frau C. problemlos, da die Strategie ihren eigenen Werten nicht widerspricht. 74
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Frau C. war die Unternehmenskultur als strategischer Faktor im Vorfeld des Coachings kaum bewusst. Die Auseinandersetzung mit den impliziten Regeln und Konventionen aus mikropolitischer Perspektive hat für sie zu einer deutlichen Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten geführt. Als Grenzgängerin und gleichzeitig Vermittlerin zwischen den beiden Sphären verschafft sie sich Spielräume, indem sie ihr Handeln situativ und flexibel an die jeweilige Kultur anpasst.
5) Körper und Körperlichkeit Geschlechterforscher/-innen prangern schon lange eine Art Körperblindheit der Organisationsforschung an. Denn in Organisationen agieren nicht geschlechtslose Körper, wie herrschende Normen der Rationalität und Emotionskontrolle oder Begriffe wie »Wissensmanagement«, »Personalcontrolling« oder »Assessment-Center« nahelegen, sondern durch heteronormative Sozialisationsprozesse vergeschlechtlichte Frauen und Männer, deren Körper stets präsent sind: Sie sind mit Kleidung und Kosmetik ausgestattet, fragil oder krankheitsanfällig, gut durchtrainiert oder ermattet und müde. Besonders bei Minderheitenkonstellationen spielt die Integration oder Ausgrenzung von Körperlichkeit eine zentrale Rolle: Frauen in technischen Berufen werden häufig sexualisiert wahrgenommen und behandelt, das heißt: ihr Frausein und ihr Körper werden zum Thema, auch wenn beides für die Arbeitsaufgabe keine Bedeutung hat. Zum einen handelt es sich dabei um einen »Spill-Over-Effekt« (Gutek, 1989), was bedeutet, dass die Geschlechterrolle über die professionelle Rolle dominiert. Zum anderen werden mikropolitische Strategien eingesetzt, um Frauen durch Sexualisierung abzuwerten und auf ihr Geschlecht zu reduzieren (durch blöde Sprüche, anzügliche Blicke, frauenfeindliche Witze etc.). Ihnen wird die bereits beschriebene Rolle der Verführerin angeboten, häufig gerade in informellen Settings und in vermeintlich lockeren und hierarchiefreien Unternehmenskulturen. Um für solche Situationen gewappnet zu sein, sollten deshalb zur Stärkung der eigenen Handlungsfähigkeit mikropolitische Mikropolitische Handlungsfelder
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Strategien entwickelt werden. Aber auch Männer werden zunehmend mit körperbezogenen Normen konfrontiert, beispielsweise sollen sie in verantwortlichen Positionen fit und gesund sein bzw. alles daran setzen, sich fit zu halten. In dem folgenden komplexen Fallbeispiel werden alle dargestellten Themen angesprochen: Geschlechterstereotype, Rollen von Frauen in Organisationen (hier am Beispiel einer Nötigung des Vorgesetzten, die Rolle einer Verführerin einzunehmen), der Aufbau mikropolitischer Kompetenzen zur Abgrenzung gegen solche Übergriffe und andere zentrale mikropolitische Handlungsfelder.
▶▶ Fallbeispiel Frau T.: »Ich musste auf den Tischen tanzen« Frau T. ist Anfang 30 und in einem technischen Großunternehmen als Department Managerin für Marketing und das Veranstaltungsmanagement zuständig. Ihr sind bereits Aufstiegsmöglichkeiten zum General Management in Aussicht gestellt worden. Frau T. akzeptiert das männliche Managerideal. Schwächen zeigen im Job wäre für sie ein absolutes Tabu, denn »die wollen jemanden, der einfach einen kühlen Kopf bewahrt, ganz cool ist.« Sie hat einen weiblichen Kleidungsstil, der souveräne Weiblichkeit ausdrückt, dies schützt sie allerdings nicht vor Übergriffen. Im Umgang mit ihren überwiegend männlichen Kollegen, Vorgesetzten und Kunden erlebt sie häufig Sexualisierungen. Dabei wird ihre Selbstkontrolle oft auf eine harte Probe gestellt. Bei einer Veranstaltung, die Frau T. als verantwortliche Eventmanagerin ausrichtete, ereignet sich folgender Vorfall: Ein Kunde äußerte bei ihrem Vorgesetzten den Wunsch, dass Frau T. für ihn und seine Kollegen tanze. Sie erzählt: »Ich musste dann für alle tanzen« – auf einem Podest. Als Dienstleisterin hat sie den Wunsch des Kunden erfüllt, voller unterdrückter Wut. Da sie sich nicht erklären kann, wer dem Kunden von ihren tänzerischen Fähigkeiten erzählt haben könnte, spricht sie den Geschäftsführer daraufhin an. Seine Reaktion: Er habe nichts gesagt, fand es aber toll und »Opfer müsste sie schließlich brin76
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gen.« Von ähnlichen Erfahrungen mit Vorgesetzten berichtet Frau T. auch an anderer Stelle: »Der hat mich immer irgendwie verschachert an irgendwelche Super-VIPs.« Diese von männlichen Kollegen, Vorgesetzten und Kunden ausgehende Sexualisierung und Übergriffigkeit war nicht die einzige Belastung im Berufsalltag der Klientin. Wie in potenziellen Führungsaufstiegspositionen üblich, arbeitete auch Frau T. weitaus mehr als in einer Vollzeitbeschäftigung, was zu einer chronischen Überlastung führte. Das Resultat war, dass Frau T. vor der Beratung kaum noch Zugang zu den eigenen Emotionen hatte und sich körperlich und psychisch stark erschöpft fühlte. Im Coaching entwickelte sie eine bessere Selbstwahrnehmung. Als Konsequenz reduzierte sie den täglichen Arbeitsstundenumfang. Zur Überraschung von Frau T. reagierten weder Vorgesetzte noch Kolleginnen und Kollegen negativ auf die eigenständige Verringerung ihrer Arbeitszeit. Gleichzeitig schaute sie sich von ihren männlichen Kollegen eine neue Haltung im Umgang mit Arbeitsaufgaben ab: »Und wenn ich was nicht schaffe, dann schaffe ich das nicht, und ich sage einfach: ›Da brauchen wir noch ein bisschen Zeit.‹ Das wird auch akzeptiert.«
Schwerpunkt der Beratung war die Auseinandersetzung mit den Themen Gender und Körperlichkeit. Die beschriebene Tanzszene beinhaltet analytisch betrachtet einen Konflikt zwischen »Erhöhung der Kundenzufriedenheit« und »Ablehnung sexistischer Verhaltensanforderungen« zur Wahrung der persönlichen Integrität. Frau T. wird durch den Tanz auf Kundenwunsch selbst zum Dienstleistungsobjekt degradiert. Sie erlebt, welche extrem diskriminierenden und übergriffigen Anforderungen an Frauen aufgrund ihrer Körperlichkeit gestellt werden können. Dass das sexualisierende Verhalten des Vorgesetzten aufgrund der Unternehmenskultur und seiner Machtposition (scheinbar dauerhaft) unbenannt bleibt, verschärft die Gesamtproblematik. Durch das Coaching lernte Frau T., jegliche Sexualisierung entschieden zurückzuweisen. Während sie sich vorher lediglich dann verbal abgrenzen konnte, »wenn das Kollegen auf der gleichen Ebene Mikropolitische Handlungsfelder
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waren oder darunter«, berichtet sie nach dem Coaching: »Jetzt sage ich immer was. Es ist mir egal, ob es Kunden sind oder mein Vorgesetzter. Das habe ich jetzt daraus gelernt. Insgesamt probiere ich jetzt mehr aus. […] Ich widerspreche einfach, wo ich es nie getan hätte, einfach, um mal auszutesten, wie weit ich gehen kann.«
6) Emotionen und Emotionsarbeit Das mikropolitische Handlungsfeld der Emotionalität ist sehr komplex. Wir fangen mit dem Einfachsten an: Das Erzeugen emotionaler Reaktionen bei anderen kann als mikropolitische Einflusstaktik genutzt werden. Damit beabsichtigt die Einfluss ausübende Person, die in der Zielperson ausgelösten Emotionen und Stimmungen als Mittel für die Förderung der eigenen Interessen zu nutzen. Dies setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus, also die Fähigkeit, die Gefühle anderer wahrnehmen und einschätzen zu können. Ein Gefühlsausdruck kann leichter gesteuert werden als das Gefühlserleben und eignet sich deshalb gut für mikropolitische Einflussnahme. Wenn eine unter Druck stehende Projektmitarbeiterin möchte, dass die ebenfalls gestresste Kollegin noch eine Aufgabe übernimmt und mit ihr länger im Büro bleibt, muss sie mit freundlicher Überzeugungskraft versuchen, dieses Ziel zu erreichen und ihrer Kollegin gegebenenfalls ein entsprechendes Gegenangebot machen, um die Hilfe zu erwidern. Oder ein Mitarbeiter zeigt Wertschätzung und Sympathie, um zu seinem Vor-
Die Emotionspsychologie liefert einige Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden in der Emotionsregulation (vgl. Lozo, 2010): Im Ausdruck von Gefühlen gibt es mehr Unterschiede zwischen den Geschlechtern als im Erleben. Frauen können ihre Gefühle leichter ausdrücken als Männer, Männer können dagegen leichter einen Emotionsausdruck unterdrücken. Um dies zu schaffen, lenken sie sich gern mit Sport oder anderen Aktivitäten ab, während Frauen eher dazu tendieren, (negative) Emotionen hinzunehmen und zu zeigen. Jedoch scheinen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Erleben von Gefühlen nicht sehr groß zu sein.
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gesetzten eine gute Beziehung aufzubauen und dadurch eigene Ziele leichter einbringen zu können. Solche einfachen kleinen Gegebenheiten finden im Arbeitsalltag laufend statt und beeinflussen das soziale Arbeitsklima, meistens positiv. Eine weitere wichtige Facette dieses Handlungsfeldes ist die Verbindung von Emotionsnormen mit Geschlechterstereotypen. Zunächst einmal sind Emotionen und emotionale Bewertungen eine Begleiterscheinung jeglichen Handelns. Handlungen werden fast automatisch als hilfreich, sympathisch, unfreundlich, peinlich usw. bewertet; wenn man das unterbinden möchte, muss man es üben. Untersuchungsergebnisse zeigen nun, dass die Emotionalität ›der Frau‹ eher als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal und die Emotionalität ›des Mannes‹ eher als eine situative und zufällige Reaktion wahrgenommen wird. Was bedeutet das? Vereinfacht zusammengefasst: Frauen sind emotional und verhalten sich nur ausnahmsweise rational. Männer sind rational und reagieren (manchmal) auch emotional. Diese genderstereotype Grundannahme hat wichtige Konsequenzen: Frauen dürfen in ihrem Berufsumfeld weder zu emotional noch zu rational erscheinen, sonst wird ihnen entweder berufliche Kompetenz oder ihre Weiblichkeit abgesprochen. Wir wollen dieses Dilemma an Fallbeispielen in ganz unterschiedlichen Arbeitsumfeldern darstellen: im Bereich des Managements und bei der Polizei (siehe auch Rastetter u. Jüngling, 2014). Im Management machen sowohl weibliche als auch männliche Führungskräfte die Erfahrung, dass der spontane Gefühlsausdruck umso riskanter wird, je höher sie aufsteigen. Eine grundlegende Emotionsregel für alle Führungskräfte lautet deshalb: Perfektioniere die Selbstkontrolle. Die an unserem Projekt beteiligten weiblichen Nachwuchsführungskräfte haben gerade den Bereich des Emotionsausdrucks als besonders unsicher erlebt: »Ich habe das Gefühl, da laufe ich auf so einem Minenfeld. Da wäre ein kleiner Detektor oder so ganz nützlich«. Als besonders extremer und negativ bewerteter Emotionsausdruck gilt das Weinen. Die in unserem Projekt vorab befragten Mikropolitische Handlungsfelder
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männlichen Führungskräften sprachen in den Interviews von sich aus häufig das Weinen von Frauen explizit an, manche unterstellen gleichzeitig genderstereotyp eine weibliche Manipulationsabsicht und dass Frauen Tränen gezielt einsetzen würden. Gemäß Geschlechtsstereotyp wird Frauen eine größere mimische Expressivität zugeschrieben, von Männern wird ein selbstkontrollierter Gesichtsausdruck erwartet. Die Führungskräfte interpretieren das Weinen als unfaire Taktik, die Männern nicht zur Verfügung stehe, wenn sie nicht unmännlich handeln wollen. Die Vermutung liegt nahe, dass hier das negative Stereotyp der bedrohlichen, verführerischen Frau wirksam wird, die mit ihrem Körper und ihren Gefühlen den Mann und dessen Gefühle manipuliert (vgl. Kapitel 3).
Strengere (Emotions-)Regeln für Frauen – nur im Management oder überall? Generell sagt die Vielfalt erlaubter Gefühle innerhalb einer Norm etwas über die Strenge der Norm aus. Die erlaubte Normabweichung gibt aber auch Auskunft darüber, wer wie viel Macht hat und wer trotz Normüberschreitung die unangreifbarere Stellung hat, die nicht mit der formalen Position identisch sein muss. Wir verstehen Regeln hier als implizit herrschende und kommunizierte Verhaltenserwartungen an Frauen, die immer wieder – sei es in leitenden Funktionen oder in Männerkulturen wie bei der Polizei – aktiv beweisen müssen, dass sie eine gute Führungskraft oder Kollegin sind – auch emotional.
▶▶ Fallbeispiel Frau M: »[…] das wird einfach anders bewertet« Frau M., eine 37-jährige Nachwuchsführungskraft in einem Unternehmen der Energiewirtschaft, beschreibt sich als emotional sehr kontrolliert: »Ich bin ein ziemlicher Eisblock in der Firma. Weil ich immer das Gefühl habe, dass man sonst a) ein bisschen verletzlich ist, und b) denke 80
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ich, das hat da einfach nichts zu suchen. Also ich hatte jetzt auch mal ein Meeting, da war mir echt zum Heulen zumute, das war so unfair, aber da sitze ich dann ganz eisern«. Frau M. ist der Ansicht, dass Frauen ihre Emotionen besonders gut im Griff haben müssen, um unter Männern mithalten zu können. Andererseits berichtet sie: »Ich kenne so viele Kollegen, die dann [stereotyp; DR/CJ] ›weiblich‹ sind, weil sie in die Luft gehen und emotional sind und zynisch und unsachlich werden, aber das wird einfach anders bewertet«.
Frau M. erlebt also, dass sie sich in ihren emotionalen Reaktionsmöglichkeiten stark einschränken muss, wenn sie den Emotionsnormen ihrer Firma entsprechen will. Männer als ›typische‹ Führungskräfte müssen ihren Gefühlsausdruck auch regulieren, scheinen sich aber gelegentliche Abweichungen – z. B. Wutausbrüche oder Beleidigungen – eher erlauben zu können, weil sie trotzdem als Führungskraft anerkannt werden. Die Emotionsregeln für Frauen scheinen strenger zu sein. In unserem Forschungsprojekt konnten wir drei verschiedene Bereiche von Emotionsnormen für weibliche Nachwuchsführungskräfte identifizieren: 1) Coolness und Souveränität, 2) Fürsorglichkeit und 3) Aggressionstabu.
1) Coolness und Souveränität: Sei cool, aber nicht zu sehr Die folgende Aussage einer Klientin zeigt, dass eine bewusste Darstellung von männlich attribuierten Emotionen manchmal helfen kann, um sich als Führungskraft durchzusetzen: »Man muss auch mal den Hirschen spielen, also bewusst taffer, härter sein als man will, weil die Mitarbeiter eine klare Ansage brauchen. Das ist dann Schauspielstunde«. Dieser Führungskraft ist bewusst, dass sie Gefühle wie Ärger, Strenge oder Ungeduld manchmal vorspielt, um ihre Mitarbeiter/-innen zu erwünschten Leistungen anzutreiben. Wenn sie sich allerdings zu sehr an die Coolness-Regel hielte, taff zu sein und nur maskuline Emotionen zeigen würde, Strengere (Emotions-)Regeln für Frauen
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könnte ihr das schaden. Denn sie sollte souverän auftreten ohne zu männlich zu wirken, weil dies wiederum negativ bewertet wird – auch von anderen Frauen.
2) Fürsorglichkeit: Sei verständnisvoll und verantwortungsbewusst Erwartungen an eine besondere vermeintlich weibliche Fürsorglichkeit und Empathie kristallisierten sich in unserer Untersuchung als zweite Emotionsnorm heraus. Einige weibliche Führungskräfte machten die Erfahrung, dass ihre männlichen Mitarbeiter, besonders die älteren, von ihnen mehr Verständnis für menschliche Schwächen und Minderleistungen erwarteten. »Da hört man schon mal: Sie als Frau müssten das doch verstehen. Außerdem sagen sie jetzt schon, und das ist ja eigentlich als Kompliment gemeint: Jetzt haben wir uns so gut an Sie gewöhnt, Sie werden doch nicht genauso schnell gehen wie Ihre Vorgänger«. Ein Fallbeispiel, wie eine Teamleiterin in die Rolle einer mütterlichen Vertrauensperson geraten kann, wurde in Kapitel 3 beschrieben. Fürsorglichkeit gehört zu den klassischen Erwartungen an Frauen. Sie passt zum weiblichen Archetyp der guten Mutter, die ihre Familie behütet und liebevoll behandelt. Diese Rolle kann allerdings das Ansehen und den Erfolg einer Führungskraft gefährden, wenn diese nicht gleichzeitig dazu fähig ist, ihre Mitarbeiter/-innen auch zu fordern und zu konfrontieren. Eine verantwortungsbewusste, beliebte, fleißige und deshalb für Kolleginnen/ Kollegen und Geschäftsführung bequeme Führungskraft erscheint unersetzlich und wird auch von den direkten Vorgesetzten nicht mehr gern abgegeben.
3) Aggressions- und Abgrenzungstabu: Bleibe immer freundlich Distanzierte Signale, genervte Reaktionen und offenes Neinsagen werden nach unseren Ergebnissen Frauen weniger zugestanden bzw. bei ihnen anders bewertet: »Also wenn man viel mit Männern zusammenarbeitet und dann mal Nein sagt, dann ist es schon schnell 82
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so, man ist irgendwie die Zicke, oder das wird dann gerne auf diese charmant männliche Art heruntergespielt.« Wenn negative Gefühle und Abgrenzung nicht direkt ausgedrückt werden dürfen oder nicht respektiert werden, entsteht Hilflosigkeit und emotionale Dis sonanz. Dies führt dazu, dass Frauen oft mit Unsicherheit, Rückzug und schließlich Anpassung reagieren. Somit entsteht ein Kreislauf, in dem es immer schwerer wird, sich souverän für die eigenen Ziele und Interessen einzusetzen.5 Eine besondere negative Konsequenz des Aggressionstabus sind die daraus resultierenden Erwartungen an den vermeintlich passenden Umgang mit sexuellen Belästigungen. Überraschend viele Nachwuchsführungskräfte haben uns von Belästigungen und damit verbundenen Verunsicherungen berichtet: »Wenn man jung ist und angemacht wird, fühlt man sich unsicher oder wird rot, das ist immer schlecht. Weil die Herren dann geschafft haben, was sie wollen: man weiß nicht mehr, was man sagen will. Also da muss man sich schon einen Panzer zulegen.« Der geschilderte Fall der Eventmanagerin, die auf dem Tisch tanzen musste, ist ein extremes Beispiel. Als Emotionsnorm und Verhaltensregel scheint hier die Maxime »ignoriere sexuelle Belästigungen« zu gelten. Gefühle wie Scham, Angst und Wut müssen unterdrückt werden. Teilnehmerinnen unseres Projekts vertraten die Ansicht, am besten sei es, sich mit einem Lächeln von unangenehmen Situationen (und Männern) zu distanzieren, sexuelle Übergriffe zu ignorieren oder zu bagatellisieren: »Also ich mache dann daraus auch keine große Sache. Ich glaube, damit ist auch niemandem geholfen«. Keine Frau hielt es für sinnvoll, sich offensiv an eine Gleichstellungsstelle, Mitarbeitervertretung oder Ethikkommission zu wenden. Denn sie befürchteten, dann von Kollegen und Kolleginnen als Nestbeschmutzerinnen oder »als eine, die zu schwach ist, sich selbst zu wehren« ausgegrenzt zu werden und berufliche Nachteile zu er5 Haubl (2007) plädiert dafür, dass Frauen ein bejahendes Verhältnis zu ihrer Aggressivität entwickeln und lernen, Ärger und Wut bei Gegnern und Widerständen zuzulassen. Strengere (Emotions-)Regeln für Frauen
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leiden. Hier gibt es dringenden Veränderungs- und Fortbildungsbedarf für Organisationen, Führungskräfte und Mitarbeiter/-innen. Die Anforderungen an Emotionsregulation sind in den täglichen Interaktionen am Arbeitsplatz für Frauen – wie gezeigt – beträchtlich, besonders in Arbeitsbereichen, in denen sie einen Minderheitenstatus haben. Zum einen widersprechen sich die Emotionsregeln untereinander, denn gleichzeitig souverän und cool, fürsorglich und niemals aggressiv zu sein, ist eine schwer erfüllbare Aufgabe. Zum anderen widersprechen sie zum Teil dem Idealbild einer guten Führungskraft. Aus mikropolitischer Sicht wird die Unsicherheitszone der Emotionalität von anderen Akteuren, aber oft auch von Akteurinnen genutzt, wenn Frauen in ihrem Arbeitsumfeld durch geschlechtsstereotype Zuschreibungen bewusst oder unbewusst abgewertet werden: Indem weibliches Verhalten stereotyp als »zu emotional« definiert und kritisiert wird, werden Unsicherheiten verstärkt. Vor diesem Hintergrund gilt es, Strategien zu erarbeiten, die einen selbstsicheren Umgang mit Gefühlen und die Distanzierung von Geschlechterzuschreibungen fördern. Ungünstig erscheint es, sich auf eine stereotyp weibliche Rolle (Beziehungen nach innen pflegen, soziale Verantwortung übernehmen, sich Sorgen anhören etc.) festlegen zu lassen, auch wenn damit viel Anerkennung verbunden sein kann. In Kapitel 3 wurden verschiedene Beispiele für Blockaden in der beruflichen Entwicklung durch die Übernahme solcher traditionell weiblichen Rollen beschrieben.
Emotionsarbeit ist Frauenarbeit Obwohl es also schwierig scheint, im Arbeitsalltag die richtigen Emotionen zum richtigen Zeitpunkt zu präsentieren (besonders für Frauen), wird professionelle Kompetenz in der Emotionsregulation in verschiedenen Arbeitskontexten immer häufiger gefordert, was mit dem Begriff der Emotionsarbeit umschrieben wird. 84
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Die bereits vorgestellte Eventmanagerin Frau T. beschreibt ihre Aufgabe bei großen Veranstaltungen folgendermaßen: »da darf man keine Angst haben und muss immer lächeln und freundlich sein, immer Kompetenz, Sicherheit und Ruhe ausstrahlen. Und natürlich habe ich immer gute Laune, auch wenn ich total genervt und total müde bin.«
Bei Emotionsarbeit am Arbeitsplatz werden dargestellte Emotionen bewusst und zielgerichtet, gemäß organisationaler (Emotions-)Normen, eingesetzt. Unkontrollierte Gefühlsausbrüche sind tabu und können Konsequenzen bis zur Kündigung nach sich ziehen. Arlie Russel Hochschild hat in ihrer berühmtesten Studie gezeigt, wie Flugbegleiterinnen mit einem Dauerlächeln alle machbaren Wünsche der Fluggäste erfüllen sollen, damit diese die Fluggesellschaft beim nächsten Mal wieder wählen (Hochschild, 1990/2006). Ein Wutausbruch ist auch beim unverschämtesten Fluggast nicht erlaubt. Mit Emotionsarbeit werden seitdem die Charakteristika personenbezogener Dienstleistungstätigkeit beschrieben, sie lässt sich aber auch auf andere Interaktionen am Arbeitsplatz übertragen, z. B. auf die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden, zwischen Kolleginnen/Kollegen oder eben zwischen Geschäftspartnerinnen/ Geschäftspartnern und einer Eventmanagerin. Die Beschäftigten sollen zum Zweck der Aufgabenerfüllung ihre Gefühle bewusst betrieblichen Erfordernissen anpassen, z. B. Stimmungen unterdrücken, in bestimmten Situationen gute Laune erzeugen oder sich in anderen
Professionalisierte Emotionsregulation wurde in den 1980er Jahren von der Arbeits soziologin Arlie Russell Hochschild (1990/2006) erstmals als »Emotionsarbeit« bezeichnet. Mit diesem Ausdruck betitelt man bis heute das Anpassen des Gefühls(-Ausdrucks) an vorgegebene Normen am Arbeitsplatz. Dabei machen sich Organisationen die Besonderheit des Menschen zunutze, inneres Erleben und äußeren Gefühlsausdruck trennen zu können. Die entsprechenden Steuerungsfähigkeiten eignet sich jede Person im Lauf der Sozialisation an und setzt diese auch im Alltag ein.
Emotionsarbeit ist Frauenarbeit
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zurücknehmen. Ziel der Emotionsarbeit ist die Verbesserung von Kundenzufriedenheit, Motivation der Beschäftigten oder generell die Konfliktreduktion. Bei den Zielpersonen sollen meist positive Gefühle wie Vertrauen, Zufriedenheit und Wohlbefinden geweckt werden, zuweilen aber auch negative wie Angst, Unsicherheit oder Kränkung. Stets sind die Gefühle Mittel zum Zweck. Professionelle Emotionsregulation kann auf zwei Ebenen ansetzen: Beim Oberflächenhandeln (engl. Surface Acting) wird nur der Gefühlsausdruck, die äußere Darstellung, den Normen angepasst. Man lächelt und sagt freundliche Worte, auch wenn man innerlich wütend ist. Will man aber nicht nur so tun, als wäre man gut aufgelegt, sondern sich wirklich auch dementsprechend fühlen, ist die direkte Einflussnahme auf das Fühlen erforderlich, die den gewünschten Gefühlsausdruck dann auf verlässlichere Weise hervorruft, weil er mit dem erlebten Gefühl zusammen fällt. Tiefenhandeln (engl. Deep Acting) ist die damit verbundene Einflussstrategie. Diese bezieht sich auf inneres Handeln, mit dem Gefühle hervorgerufen werden können, z. B. durch Vorstellungskraft. So lernen die Flugbegleiterinnen gemäß der Studie von Hochschild (1990/2006), sich die Flugpassagiere als nette Gäste im eigenen Wohnzimmer vorzustellen. Ein probates Mittel des Tiefenhandelns ist die Erinnerung an Situationen, die mit den gerade erforderlichen Gefühlen verbunden sind. Das emotionale Gedächtnis speichert Situationen gekoppelt mit Emotionen und lässt dann beinahe automatisch ein bestimmtes Gefühl entstehen, wenn man sich die dazu passende Situation vorstellt. Emotionsarbeit ist, wie Hochschild darlegt (1990/2006), eine typische Frauenarbeit, da Frauen (vor allem aus der Mittelschicht) gemäß Geschlechterstereotypen zugeschrieben wird, »von Natur aus« fürsorglich, freundlich, zugewandt und einfühlsam zu sein und diese Fähigkeiten leicht am Arbeitsplatz einsetzen zu können, weshalb sie dafür auch nicht gesondert bezahlt werden müssen. Deshalb sind Tätigkeiten in der Pflege, Erziehung, Betreuung, aber auch im Bedienen und Verkaufen in unseren Breiten frauendominiert. Und dort, wo Frauen und Männer zusammenarbeiten, werden die emotionalen 86
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Aufgaben der Arbeit bevorzugt Frauen übertragen, während Männer eher die organisatorischen Aufgaben erledigen. Gezeigt wurde dies beispielsweise in Studien mit Pflegekräften, Flugbegleiterinnen und -begleitern sowie Polizistinnen und Polizisten. Unser Fallbeispiel kommt aus dem Bereich der Polizei. Bei der Polizei sollte ab den 1990er Jahren die stark stereotyp männlich geprägte Kultur verändert werden, da sie zunehmend zu Imageproblemen führte. Die Polizei sollte bürgernäher und weniger hart erscheinen. Um das Image der Polizei aufzuwerten und nicht zuletzt den drohenden Personalnotstand zu mildern, wurde die Einstellung von Frauen gefördert. In der Folge ist der Frauenanteil in der Polizei stark gestiegen. Bei Neueinstellungen liegt er heute bereits bei fast 50 Prozent für den gehobenen Dienst, bei höheren Dienstgraden ist er erheblich niedriger. Frauen werden mithin nicht nur, aber auch wegen der ihnen zugeschriebenen ›weiblichen‹ Eigenschaften eingestellt. Polizistinnen und Polizisten sind häufig mit extremen Emotionen konfrontiert – sowohl bei sich selbst als auch bei den Menschen, mit denen sie zu tun haben. Wut, Trauer und Angst sind Normalität bei Einsätzen, die mit Gewalt, Verletzungen oder Tod verbunden sind. Hinzu kommen Belastungen durch Schichtdienst, Überstunden und Nachtdienste. All diese Faktoren machen die Polizeiarbeit zu einem typischen Beispiel für Emotionsarbeit und Polizistinnen zu einem typischen Beispiel für Emotionsarbeiterinnen, an die geschlechtsspezifische Anforderungen gestellt werden.
▶▶ Fallbeispiel Frau A., Polizistin: »Man muss viel über sich ergehen lassen.«
Frau A. ist 27 Jahre alt und hat ein Bachelorstudium bei der Polizei absolviert. Sie arbeitet seit dreieinhalb Jahren im Einsatz und Streifendienst in einer Kleinstadt. Als Frau im Polizeidienst kann sie sich gut durchsetzen: »Ich hatte das noch nie, dass jemand nicht das gemacht hat, was ich Emotionsarbeit ist Frauenarbeit
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gesagt habe. Also sie gehen dann schon eher auf mich ein als auf meinen Kollegen, der vielleicht anfängt rumzuschreien oder so.« Erfreuliche Erlebnisse hat sie jedoch selten, häufiger erlebt sie unangenehme Situationen, z. B. mit jungen Männern mit Migrationshintergrund. »Die sind echt schwierig und auch ein echtes Problem. Die hassen uns abgöttisch und das lassen sie uns auch spüren. Also es ist echt unangenehm, wenn du die anhältst oder wenn du dahin gerufen wirst wegen einer Ruhestörung, und dann eskaliert das. Jedes Mal, wenn ich dahin muss, denke ich, och, das muss jetzt nicht sein.« Obwohl sie noch nicht lange bei der Polizei tätig ist, stellt sie schon Abstumpfungserscheinungen fest. »Also ich werde auch immer emotionsloser gegenüber solchen Leuten. Weil die mir in diesen Momenten einfach egal sind und mich einfach nur nerven.« Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung findet sie normal, »z. B. bei häuslicher Gewalt, das haben wir ja auch ganz oft, da gehe ich zu der Frau und er zu dem Mann. Ich glaube, Frauen verstehen Frauen besser und umgekehrt genauso.« Besonders schwer fällt ihr der Umgang mit Leid und Tod: »Mir tun dann andere Menschen gleich leid, wenn denen irgendwas passiert ist. Das finde ich sehr belastend.« Auch hier stellt sie fest, dass sie »gefühlskälter« wird. Sie problematisiert dies aber sofort, denn »so eine gewisse Empathie und das Mitfühlen gegenüber anderen Menschen kann ruhig sein.« Erwartungsgemäß muss sie mit mehr sexuellen Übergriffen und Belästigungen fertig werden als ihre männlichen Kollegen, »gerade nachts die Alkoholisierten, ja sehr oft«. Sie wird dann wütend, »am liebsten würde man ihn anschreien oder schlagen. Aber das mache ich natürlich nicht. Ich versuche das abprallen zu lassen.« Professionelle Hilfe durch eine Beratungsstelle der Polizei hat sie im Einzelfall schon genutzt. Weitaus wichtiger ist für sie aber die Unterstützung durch ihre Kollegen und Kolleginnen (Männer wie Frauen), mit denen sie alles besprechen kann und deshalb berufliche Probleme nicht mit nach Hause nehmen muss. Ihren Vorgesetzten erlebt sie allerdings als »niemanden, den man sich als Vorbild nehmen möchte«, da er nie lobe und keine Hilfe anbiete. Frau A. hat im Interview keinen Beratungsbedarf geäußert. Sie versucht, negative Emotionen durch Oberflächenhandeln in den Griff zu 88
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bekommen (»abprallen lassen«), jedoch mit der Folge, dass sie »gefühlskälter« wird, was sie ambivalent erlebt. Eigentlich möchte sie ihr Mitgefühl für andere nicht verlieren, merkt aber, dass sie damit an ihre emotionalen Grenzen gerät. Als Frau ist sie mit geschlechtsspezifischen emotionalen Anforderungen konfrontiert: Mangelnder Respekt durch einige Bevölkerungsgruppen sowie sexuelle Beleidigungen. Sie erlebt es zwar als Erfolg, Situationen gut kontrollieren zu können, die Verarbeitung von Leid und Demütigungen fällt ihr jedoch schwer, zumal sie nur wenig Ausgleich durch schöne Erlebnisse hat. Mit der sozialen Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen gelingt es ihr bislang, die hohen Belastungen zu bewältigen. Es wird sich erst zeigen, ob Frau A. die beschriebene Entwicklung zunehmender »Gefühlskälte« und Abgrenzung gegenüber schwierigen Personen als professionelle Souveränität oder professionelle »Deformation« einschätzen wird.
Wie dieses Fallbeispiel zeigt, sind emotionale Dissonanzen und Gefühlsentfremdung oft Folge von Emotionsnormen und professionellen Anforderungen am Arbeitsplatz. Zunächst erlebt man andere Gefühle als man erleben oder zeigen soll. Eine Polizistin muss einen pöbelnden Betrunkenen dienstlich korrekt behandeln, obwohl sie sich ärgert und ihn am liebsten zurechtweisen würde. Langfristig kann es durch andauernde Kontrolle und Unterdrückung der authentischen Emotionen zu Entfremdung und Demotivation kommen. In Arbeitskontexten herrschen also Ausdrucksnormen (welche Gefühle sollen gezeigt werden?) und Gefühlsnormen (welche Gefühle sollen erlebt werden?). Den display rules, den Darstellungsregeln, die den Gefühlsausdruck vorschreiben, kommt im mikropolitischen Kontext eine wesentlich höhere Bedeutung zu als den feeling rules. Bei Darstellungsregeln kommt es nicht darauf an, was jemand wirklich fühlt, sondern welche Gefühle gezeigt oder vorgespielt werden sollen. Gefühlsregeln schreiben dagegen vor, bestimmte Gefühle zu empfinden. Aus mikropolitischer Perspektive sind Freundlichkeit im Kundenkontakt, Fürsorge oder inspirierende Appelle gegenüber dem Team oder die Darstellung von Souveränität im Beisein VorgeEmotionsarbeit ist Frauenarbeit
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setzter performative Strategien, mit denen Wahrnehmung und Handeln des Gegenübers beeinflusst werden sollen. In dieser Lesart kann Surface Acting als strategisches Manöver interpretiert werden, um – Bezug nehmend auf die je spezifischen Regeln und Normen in einem Unternehmen – einen spezifischen Eindruck, eine Stimmung oder Handlung zu erzeugen. Für Personen, die häufig und intensiv Emotionsarbeit am Arbeitsplatz einsetzen müssen, kann Oberflächenhandeln gegenüber Tiefenhandeln die gesündere Strategie sein, weil sie Rollendistanz erlaubt und keine Manipulation privater Gefühle verlangt (vgl. Mucha u. Rastetter, 2017). Situationsadäquates Verhalten in der eigenen Firma gehört zweifellos zur sozialen Kompetenz, wie im Kompetenzmodell beschrieben.
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5 Fazit Auf die Perspektive kommt es an – Geschlecht und Macht am Arbeitsplatz
Durch welche Perspektive wir Geschlecht betrachten, bestimmt maßgeblich, welche Einstellungen und Verhaltensweisen wir bezüglich dieser Kategorie zeigen und wie wir darüber denken und fühlen. Mit der »Gleichheitsbrille« pochen wir auf gleiche Chancen und Behandlungen von Frauen und Männern, vernachlässigen aber gern die vielfältigen Spielarten und Veränderungen innerhalb beider Geschlechter. Mit der »Differenzbrille« lenken wir den Blick auf weibliche Stärken, missachten aber vielleicht die damit erneut verbundene Stereotypisierung von Frauen. Mit der »(De-)Konstruktionsbrille« werden wir den historisch-gesellschaftlich entwickelten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit gerecht, unterschätzen aber, dass im Alltag damit keine schnellen Lösungen für anstehende Probleme gefunden werden können. Die »Diversity-Brille« erweitert den Blick auf verschiedene handlungsrelevante Dimensionen von Menschen, schafft aber auch neue Unsicherheiten bezüglich deren Wertigkeit und des Stellenwerts von Geschlecht. Egal welche Herangehensweise favorisiert wird, für Beratende ist es wichtig, ihre eigenen Stereotype sowie die Stereotype der anderen bezüglich Geschlecht zu erkennen und damit umzugehen. Auszulöschen sind Stereotype nicht, aber ihr Bewusstwerden trägt dazu bei, reflektierte Entscheidungen zu treffen und Handlungen besser zu verstehen. Rollenangebote an Frauen am Arbeitsplatz sind ohne Wissen um Stereotype und deren Risiken nicht zu verstehen und zu verändern. Aber auch für die Beratung von Männern ist Gendersensibilität nötig, da sie je nach Arbeitsbereich und Hierarchiestufe mit Fazit
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normativen Männlichkeitsvorstellungen konfrontiert sind, deren Einhaltung umso schwerer fällt, je mehr der Mann in seinem Verhalten, Aussehen oder in seinen Wünschen von diesen Erwartungen abweicht. Der Umgang mit Geschlecht, Geschlechterstereotypen und Geschlechterrollen wird durch einen mikropolitischen Zugang wesentlich erleichtert. Eine flexible situationsangemessene Behandlung des Themas »Geschlecht und Macht« in der Beratung ermöglicht es, Ziele zu erreichen, ohne Grundüberzeugungen aufgeben zu müssen. Authentisch zu sein heißt in diesem Zusammenhang, unabhängig von Stereotypen verschiedene Handlungsmöglichkeiten ins eigene Selbstkonzept integrieren zu können und dies für sich als stimmig zu erleben. »Ich muss auch mal den Hirschen spielen«, sagt eine weibliche Führungskraft in unseren Interviews und meint damit, dass sie, um sich durchzusetzen, bestimmte Verhaltensweisen einsetzt, die sie in anderen Situationen oder im Privaten nicht zeigen würde. Dies ist für sie nicht nur rollenkonform, sondern auch identitätsfördernd. Das Rollenspiel gehört zu ihrer Persönlichkeit dazu. Der Ansatz der Mikropolitik gilt bei manchen Kritikern und Kritikerinnen als Anleitung zum Einsatz von schmutzigen Tricks zur manipulativen Durchsetzung egoistischer Interessen. Dies ist nicht unser Verständnis. Die organisationspolitische Perspektive ist aus unserer Sicht auf Makro-, Meso- und Mikroebene bei ganz unterschiedlichen Zielen und Projekten in Organisationen unverzichtbar. Mit dem mikropolitischen Kompetenzmodell ist es möglich, bestimmte Kompetenzklassen individuell gezielt zu fördern. So mag eine Klientin schon viel über Mikropolitik wissen, findet aber keine Möglichkeit, diese anzuwenden: Sie muss ihre Aktivitätskompetenz entwickeln. Eine andere fände mikropolitische Verhaltensweisen in bestimmten Situationen sinnvoll, fühlt sich damit aber unwohl und nicht authentisch: Sie muss klären, welche Haltung zu Mikropolitik sie in ihr Selbstkonzept integrieren kann, also an ihrer Selbstkompetenz arbeiten. Ein dritter Klient kann problemlos mikropolitisch agieren, er ist aber nicht erfolgreich, weil ihm Einfühlungsvermögen in seine Interaktionspartner/-innen fehlt – er hat an seiner Empathie und sozialen Kompetenz 92
Fazit
zu feilen. Eine strategische Haltung mit mikropolitischer Kompetenz ist eine starke Ressource. Wir hoffen, dass wir dies in den vielen Fallbeispielen deutlich machen konnten. Die Fokussierung auf sechs Handlungsfelder hilft, Schwerpunkte in der Beratung zu setzen. Frauen (aber auch Männer) in der »RushHour des Lebens« vernachlässigen unserer Erfahrung nach zugunsten ihrer Karriere häufig ihr Privat- und Familienleben oder ihre eigene Gesundheit, sie unterschätzen die Bedeutung von Mikropolitik und verlassen sich allein auf ihre Leistung oder auf wohlwollende Vorgesetzte. Häufiger als Männer geraten Frauen in Organisationen in ungünstige und riskante Rollen, da sie traditionell fürs Private und Emotionale zuständig sind. Die Anforderung an emotionale Selbstkontrolle betrifft beide Geschlechter. Durch die enge Kopplung von Emotionalität und Weiblichkeit hat das Emotionsmanagement für Frauen jedoch eine andere Qualität als für Männer. Emotionsarbeit ist meistens Frauensache. Emotionsregeln sind vor allem in männerdominierten Bereichen wie Leitungsebenen oder technischen Berufen für Frauen und Männer unterschiedlich. Emotionales Verhalten von Frauen wird anders gedeutet, die Erwartungen an ihren Gefühlsausdruck sind widersprüchlich. Und: Geschlechterstereotype können mikropolitisch gegen Frauen eingesetzt werden, am einfachsten dort, wo sie als Minderheiten besonders sichtbar sind und deshalb weniger als Individuen denn als Frauen wahrgenommen werden. Dennoch: Beide, Männer wie Frauen, werden durch normative Geschlechterbilder eingeschränkt, mit denen sie umso souveräner zurechtkommen, je reflektierter, distanzierter und spielerischer sie mit ihnen umgehen können.
Fazit
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