140 120 45MB
German Pages 333 Year 2001
MARTEN BREUER
Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 840
Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen
Von
Marten Breuer
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Breuer, Marten: Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen / Marten Breuer. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 840) Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10323-8
Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10323-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Meinen Eltern
Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2000 von der Juristischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen. Ich habe sie Mitte April 2000 abgeschlossen, Rechtsprechung und Literatur befinden sich auf dem Stand vom 31. März 2000. Mein Dank gilt in besonderem Maße meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dieter Blumenwitz, für die Betreuung meiner Arbeit. Daneben hat meine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl die Arbeit in etlichen Punkten bereichert. Ich werde die Jahre am Lehrstuhl für Völkerrecht stets als eine besonders glückliche Zeit in Erinnerung behalten. Danken möchte ich ebenfalls Herrn Professor Dr. Dieter Scheuing für die gleichermaßen zügige und genaue Zweitkorrektur. Aus dem Kreis derer, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich meinen ehemaligen Assistentenkollegen, Herrn Notarassessor Markus Voltz, hervorheben. Seine Fähigkeit, sich in unbekannte Problemstellungen einzudenken, war mir in zahlreichen Situationen eine große Hilfe. Nicht weniger Unterstützung verdanke ich Frau Andrea Laube, die das Entstehen dieses Werks durch ihren Rat und ihre Kritik in erheblichem Maße gefördert hat. Mein Vater Siegfried Breuer hat die Mühen des Korrekturlesens auf sich genommen. Vom Bundesministerium des Innern schließlich ist die Publikation durch die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses gefördert worden. Ihnen sowie allen anderen, die mich in meiner Arbeit unterstützt haben, sage ich an dieser Stelle Dank. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, Christel und Siegfried Breuer, deren Förderung und Liebe mich auf meinem Weg stets begleitet haben. Würzburg, im Juli 2000
Marten Breuer
Inhaltsverzeichnis Einleitung
23
Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
25
Erster
Teil
Historische Entwicklung der Wohnsitzklauseln im Wahlrecht
26
1. Kapitel Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 I. Historischer Hintergrund II. Reichsverfassung vom 28. März 1849 1. Allgemeinheit der Wahl 2. Wohnsitzbindung des Wahlrechts III. Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts
27 27 28 28 28 30 30 31
2. Kapitel Das Wahlrecht im Norddeutschen Bund und im Deutschen Kaiserreich I. Historischer Hintergrund II. Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867/ Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 1. Allgemeinheit der Wahl 2. Wohnsitzbindung des Wahlrechts III. Reichswahlgesetz vom 31. Mai 1869 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts a) §7 RWahlG 1869 b) § 1 RWahlG 1869 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts IV. Schutzgebietsgesetz vom 17. April 1886 i. d. F. vom 15. März 1888 V. Exkurs: Gründe für die Unbedenklichkeit wahlrechtlicher Wohnsitzklauseln aus der Sicht des 19. Jahrhunderts
31 31 33 33 34 34 34 34 35 37 37 39
10
nsverzeichnis 1. Wahlrechtlicher Paradigmen Wechsel 2. Staatsangehörigkeitsrechtlicher Paradigmenwechsel
40 41
3. Kapitel Das Wahlrecht in der Weimarer Republik I. Historischer Hintergrund II. Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts 3. Wahlbeteiligung der in Basel stationierten deutschen Eisenbahner 4. Wahlbeteiligung der deutschen Osttruppen III. Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 1. Allgemeinheit der Wahl 2. Wohnsitzbindung des Wahlrechts IV. Reichswahlgesetz vom 27. April 1920 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts 3. Pläne zur Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen 1919/20 4. Die Notverordnung vom 2. Februar 1933
43 43 45 45 45 46 47 47 47 48 48 48 50 50 53
4. Kapitel Das Wahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland I. Historischer Hintergrund II. Grundgesetz vom 23. Mai 1949 III. Bundeswahlgesetz vom 15. Juni 1949 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts IV. Bundeswahlgesetz vom 10. Juli 1953 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts V. Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts 3. Einführung des aktiven Wahlrechts für Auslandsdeutsche a) 5. Legislaturperiode aa) Aktives Wahlrecht für Bedienstete bei zwischen- oder überstaatlichen Organisationen bb) Aktives Wahlrecht für Entwicklungshelfer b) 6. Legislaturperiode c) 7. Legislaturperiode d) 8. Legislaturperiode e) 9. Legislaturperiode f) 10. Legislaturperiode
57 57 58 58 58 60 61 61 62 63 63 65 66 67 67 68 68 71 72 73 76
nsverzeichnis g) Nachfolgende Änderungen h) Bisherige Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen Ergebnis des Ersten Teils
11 77 79 80
Zweiter
Teil
Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts aus verfassungsrechtlicher Sicht
83
1. Kapitel Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
83
I. Entscheidung vom 3. Mai 1956 84 II. Entscheidung vom 23. Oktober 1973 86 1. Definition der Allgemeinheit der Wahl 86 2. Einschränkungen nur aus zwingenden Gründen 88 3. Exkurs: Rechtsprechung des Reichsstaatsgerichtshofs zum Wahlrecht und ihre Rezeption durch das Bundesverfassungsgericht 90 4. Zur Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts 93 a) „Tradition" als „zwingender Grund"? 94 b) Weitere Kritik 96 aa) Richtigkeit und Vollständigkeit der historischen Darstellung 96 bb) „Versteinerungswirkung" 97 5. Zusammenfassung 99 III. Nachfolgende Entscheidungen 100 1. Bundesverfassungsgericht 100 2. Anhang: Andere Gerichte 101 IV. Neuere Entwicklungen in der Dogmatik zur Allgemeinheit der Wahl 102 1. Neue Definition der Allgemeinheit der Wahl („dritte Formel") 102 2. Präzisierung der Anforderungen an „zwingende Gründe" 103 a) Nur zwangsläufige Differenzierungen? 104 b) Einbau einer Verhältnismäßigkeitsprüfung 105 3. Zusammenfassung 107 2. Kapitel Begründungsansätze in der Literatur I. Allgemeinheit der Wahl II. Einschränkungen III. Zur Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts 1. Allgemeine Erfüllbarkeit 2. „Staatsvolk" als ,3undesvolk" 3. Geringere Betroffenheit von deutschen Hoheitsakten
108 108 109 110 110 111 111
nsverzeichnis 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Rechte-Pflichten-Korrelation Möglichkeit kommunikativer Teilnahme Gefahr von Interessen- bzw. Loyalitätskonflikten Wahltechnik Völkerrecht Rechtsvergleichung Kritische Stimmen
112 112 112 113 113 113 114
3. Kapitel Auslegung des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Lichte internationaler Menschenrechtsstandards I. Bedeutung internationaler Menschenrechtsabkommen für die Verfassungsauslegung II. Europäische Menschenrechtskonvention 1. Allgemeinheit der Wahl 2. Einschränkungen 3. Begriff der „gesetzgebenden Körperschaft" 4. Wahlrecht und Wohnsitz 5. Zusammenfassung III. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1. Allgemeinheit der Wahl und Einschränkungen 2. Wahlrecht und Wohnsitz IV. Allgemeines Wahlrecht kraft Völkergewohnheitsrecht? V. Politische Forderungen nach Beteiligung von Auslandsstaatsbürgern an den Parlamentswahlen ihres Heimatstaats VI. Ergebnis
115 115 118 119 120 122 123 127 128 128 129 131 132 133
4. Kapitel Verfassungsrechtliche Neubewertung
134
I. Anwendbarkeit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auf grenzüberschreitende Sachverhalte 134 1. Begriffsklärung 134 2. Territorial begrenzte Anwendung der Grundrechte? 137 a) Art. 23 GG a. F. 137 b) Gebietshoheit/Territorialitätsprinzip 138 3. Art. 1 Abs. 2 GG 139 4. Art. 1 Abs. 3 GG 140 5. Umfang der Grundrechtsbindung 141 II. Allgemeinheit der Wahl 142 1. Verfahrensgarantien aus allgemeinem Wahlrecht? 144 2. Zum Begriff „Staatsbürger" 146 a) Staatsangehöriger oder Staatsbürger? 146 b) Art. 20 Abs. 2 GG 148 aa) „Volk" i. S. v. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG 149
nsverzeichnis bb) „Volk" i. S. v. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG cc) „Bundesvolk"? 3. Zusammenfassung III. Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl 1. Begründung der Einschränkbarkeit a) Art. 38 Abs. 3 GG b) Art.3Abs.lGG c) Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG d) Zwingende Gründe" als verfassungsimmanente Schranken e) Wahlziele als verfassungsimmanente Schranken f) Zusammenfassung 2. Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung a) Verhältnis von Allgemeinheit der Wahl und Art. 3 Abs. 1 GG b) Verhältnismäßigkeit und allgemeiner Gleichheitssatz aa) Normstrukturelle Unvereinbarkeit von Verhältnismäßigkeit und Gleichheit? bb) Übermäßige Beschränkung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums? c) Praktische Konkordanz d) Zusammenfassung IV. Zur Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts 1. Allgemeine Erfüllbarkeit 2. Wahlziele als verfassungsimmanente Schranken a) Legitimationsfunktion aa) Geringere Betroffenheit von deutschen Hoheitsakten (1) Betroffenheit ein zulässiges Differenzierungskriterium? (2) Geringere Betroffenheit bb) Rechte-Pflichten-Korrelation cc) Gefahr von Interessen-bzw. Loyalitätskonflikten b) Kommunikationsfunktion aa) Möglichkeit kommunikativer Teilnahme (1) Tatsachenfeststellung und -bewertung durch das Bundesverfassungsgericht (2) Geeignetheit (3) Erforderlichkeit (4) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bb) Wahltechnik c) Zusammenfassung 3. Völkerrecht a) Gestaltungsformen der Auslandswahl b) Das völkerrechtliche Verbot hoheitlicher Tätigkeit auf fremdem Territorium . aa) Wahlteilnahme ein Hoheitsakt? bb) Konsequenzen für die Ausgestaltung der Auslandswahl cc) Rechtfertigungsgründe (1) Personalhoheit (2) Völkerrechtliche Verträge (a) Wiener Diplomaten-bzw. Konsularrechtskonvention (b) Europäische Konsularkonvention
13 150 151 152 152 152 152 155 156 156 159 159 160 160 163 163 166 166 168 168 168 169 169 170 170 172 172 175 177 177 178 180 180 184 184 186 186 187 188 189 191 193 193 194 194 195
14
nsverzeichnis (c) Menschenrechtsabkommen (d) Anhang: Empfehlungen auf Europaratsebene (3) Grundsatz der Gegenseitigkeit (4) Sonstige Rechtfertigungsgründe c) Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland d) Konsequenzen für die Verfassungsauslegung 4. Rechtsvergleich a) Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Verfassungsauslegung b) Skandinavische Staaten aa) Norwegen bb) Schweden cc) Finnland dd) Dänemark c) Britischeinsein aa) Vereinigtes Königreich bb) Irland d) Westeuropäische Staaten aa) Niederlande bb) Belgien cc) Frankreich ! e) Südeuropäische Staaten aa) Portugal bb) Spanien cc) Italien f) Mitteleuropäische Staaten aa) Schweiz bb) Österreich g) Osteuropäische Staaten aa) Polen bb) Tschechien cc) Ungarn dd) Bulgarien h) Zusammenfassung
Ergebnis des Zweiten Teils
196 196 196 197 198 198 199 200 202 202 202 203 203 204 204 205 206 206 208 209 210 210 211 211 212 212 214 216 216 217 217 218 218 219
Dritter
Teil
Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher an den Wahlen zum Deutschen Bundestag
223
1. Kapitel Verfassungsrechtliche Beurteilung der einfachgesetzlichen Regelung in § 12 Abs. 2 BWahlG
223
I. Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) 223 1. Rechtsprechung 223
nsverzeichnis
II.
III.
IV. V. VI.
2. Literatur 3. Stellungnahme a) Inhaltliche Aspekte b) Die,Appellentscheidung" vom 7. Oktober 1981 Europaratslösung (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG) 1. Voranknüpfung 2. Seßhaftigkeit in einem Mitgliedstaat des Europarats a) Literatur b) Stellungnahme aa) Zum Rechtsgut „europäische Integration" (1) Präambel (2) Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bb) Staatszielbestimmungen als verfassungsimmanente Schranken? Fristenlösung (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG) 1. Voranknüpfung 2. Fristenregelung a) Grundsätzliche Zulässigkeit der Befristung des Wahlrechts b) Verfassungsmäßigkeit der 25-Jahres-Frist 3. Sonderbestimmung für Seeleute Rückkehrbestimmung (§12 Abs. 2 Satz 2 BWahlG) Sonderregel für ehemalige DDR-Bürger (§ 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG) Konsequenzen 1. Rechtsfolgen festgestellter Verfassungswidrigkeit 2. Überlegungen de lege ferenda
15 226 226 226 228 230 231 232 233 233 234 234 235 236 238 238 238 239 239 242 244 244 245 245 248
2. Kapitel Zur Inlandsbindung des passiven Wahlrechts I. Abhängigkeit des passiven vom aktiven Wahlrecht? II. „ Z w i n g e n d e Gründe"
250 251 253
3. Kapitel Wahlrechtliche Behandlung deutsch-ausländischer Mehrstaater
255
I. Vorrang der „effektiven Staatsangehörigkeit"? II. Verstoß gegen Wahlrechtsgleichheit? III. Völkerrecht 1. Zur völkerrechtlichen Behandlung von Mehrstaatem 2. Analogien im Völkerrecht?
257 258 259 259 260
Ergebnis des Dritten Teils
261
Schlußbetrachtung
263
16
nsverzeichnis Dokumentenanhang Α. Historische Entwicklung der Wohnsitzklauseln
I. II. III. IV. V. VI. VII. 1. VII. 2. VII. 3. VII. 4. VIII. IX. 1. IX. 2. IX. 3. IX. 4. IX. 5. IX. 6. IX. 7. X. XI. XII. XIII. XIV. 1. XIV. 2. XIV. 3. XIV. 4. XIV. 5. XIV. XIV. XIV. XIV.
6. 7. 8. 9.
XIV. 10. XIV. 11. XIV. 12. XIV. 13. XIV. 14.
Reichsverfassung vom 28. März 1849 (Auszug) 265 Reichs Wahlgesetz vom 12. April 1849 (Auszug) 265 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 (Auszug) 265 Reichswahlgesetz vom 31. Mai 1869 (Auszug) 266 Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (Auszug) 266 Schutzgebietsgesetz vom 17. April 1886 i. d. F. vom 15. März 1888 (Auszug) 266 Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 (Auszug) 267 Ergänzungsverordnung vom 28. Dezember 1918 (Auszug) 267 Ergänzungsverordnung vom 13. Januar 1919 (Auszug) 267 Ergänzungsverordnung vom 21. Januar 1919 (Auszug) 268 Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Auszug) 268 Entwurf eines Reichswahlgesetzes vom 27. März 1920 (Auszug) 268 Reichswahlgesetz vom 27. April 1920 (Auszug) 268 Reichswahlordnung vom 1. Mai 1920 (Auszug) 269 Reichswahlgesetz vom 27. April 1920 i. d. F. der Neubekanntmachung vom 6. März 1924 (Auszug) 269 Entwurf eines Reichswahlgesetzes vom 24. Oktober 1926 (Auszug) 270 Entwurf eines Reichswahlgesetzes vom 19. Februar 1931 (Auszug) 270 Notverordnung vom 2. Februar 1933 (Auszug) 271 Grundgesetz vom 23. Mai 1949 (Auszug) 271 Bundeswahlgesetz vom 15. Juni 1949 (Auszug) 271 Bundeswahlgesetz vom 8. Juli 1953 (Auszug) 272 Verordnung zur Ergänzung der Bundeswahlordnung vom 17. August 1953 (Auszug) 273 Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 (Auszug) 273 Bundeswahlordnung vom 15. Juli 1957 (Auszug) 274 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 19. Juli 1968 (Auszug) 275 Entwurf eines Entwicklungshelfer-Gesetzes vom 29. Januar 1969 (Auszug) .. 275 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 2. Mai 1972 (Auszug) 275 Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vom 9. April 1975 276 Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975 (Auszug) .. 276 Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU vom 18. April 1978 (Auszug) 277 Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Stercken und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU vom 20. November 1981 (Auszug) 278 Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. August 1982 (Auszug) 278 Siebtes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. März 1985 (Auszug) 279 Wahlrechtsvertragsgesetz vom 29. August 1990 (Auszug) 279 Bekanntmachung der Neufassung des Bundeswahlgesetzes vom 23. Juli 1993 (Auszug) 280 Gesetzentwurf der Abgeordneten Rezzo Schlauch und Genossen und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 5. Juni 1997 (Auszug) 281
nsverzeichnis
17
XIV. 15. Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 20. April 1998 (Auszug) 281 XV.
Beim Bundeswahlleiter registrierte Anträge von Auslandsdeutschen auf Eintragung in die Wählerverzeichnisse bei Bundestagswahlen 282 B. Ausgewählte Entscheidungen
I. Bundesverfassungsgericht
282
1. Beschluß vom 23. Oktober 1979,2 BvR 864/79
282
2. Beschluß vom 13. August 1999,2 BvR 1461/99
283
II. Europäische Kommission für Menschenrechte Luksch ./. Deutschland, N° 35385/97
284
III. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Hilbe./. Liechtenstein, N° 31981/96
287
C. Internationale Dokumente I. General Comment 25 (57) II. Parlamentarische Versammlung des Europarats
290 295
1. Recommendation 951 (1982) on voting rights of nationals of Council of Europe member states 295 2. Resolution 1035 (1994) on Europeans living abroad
296
3. Recommendation 1410 (1999) Links between Europeans living abroad and their countries of origin 297 ΠΙ. Ministerrat des Europarats Recommendation No. R (86) 8 on the exercise in the state of residence by nationals of other member states of therightto vote in the elections of the state of origin .. 298 IV. European Convention on Consular Functions
299
D. Durchführung der Auslandswahl I. Wahlteilnahme von Ausländem im Bundesgebiet
300
1. Rundnote vom 8. September 1981
300
2. Verbalnote vom 11. März 1994
301
3. Verbalnote vom 5. März 1996
302
II. Wahlteilnahme von Deutschen im Ausland
302
1. Text für die Unterrichtung von materiell wahlberechtigten Deutschen, die in der DDR und Berlin (Ost) leben 302 2. Wichtiger Hinweis für die Teilnahme an der Wahl zum Deutschen Bundestag
303
3. Wichtiger Hinweis für Deutsche mit gleichzeitiger polnischer Staatsangehörigkeit 303 Literaturverzeichnis
304
Sachwortverzeichnis
327
2 Breuer
Abkürzungsverzeichnis a. Α. a. a. Ο. a. F. a. M. a. Rh. ABl. Abs. AEMR AJIL AK-GG AMRK Amtsbl. Anh. Ani. Anm. AöR Art. AS
Aufl. AVR Β. Ο. E. BayStGH BayVBl. BayVerfGH BB1. Bd. BDGVR betr. BGB BGBl. BGE Β GHZ BK-GG BSG BT BT-Drucks. BuStAG BV BVerf BVerfG BVerfGE
anderer Ansicht am angegebenen Ort alte Fassung am Main am Rhein Amtsblatt Absatz Allgemeine Erklärung der Menschenrechte American Journal of International Law Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz Amerikanische Menschenrechtskonvention Amtsblatt Anhang Anlagen Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz/Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen Auflage Archiv des Völkerrechts Boletin Oficial del Estado Bayerischer Staatsgerichtshof Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bundesblatt Band Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht betreffend Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (Amtliche Sammlung) Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundessozialgericht Bundestag Bundestagsdrucksachen Bundes- und Staatsangehörigkeitsgesetz Bayerische Verfassung Bundesverfassung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Abkürzungsverzeichnis BVerfGG BVerwGE B-VG BVP BWahlG BWahlO BWG BYIL bzw. ca. CCPR CD CDU CEDH CSU d.h. D.R.P DDP DDR ders. Diss. DJZ DNVP Doc. DokAnh. DÖV DR Dr. Drucks. DVB1. DVP E ebd. Ed. ed. EFTA EG EGBGB EGMR EGV Einl. EKMR ELR EMRK EPIL Erl. et al. etc. ETS EU EuGH EuGRZ
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19
20 EuR EUV EuWG EuZW EWG f. FamRZ F.D.P. ff. FG Fn. FS GA Gazz. Uff. GBl. gem. GG Gr. Sen. GVB1. GYIL Habil.-Schr. h.L. h.M. Hrsg. hrsg. HStR HVerfG i.Br. i. d. F. insbes. i.S.d. i.S.v. i.V.m. ICJ IGH ILC ILO Inst. IntKomm-EMRK IPBPR JA JöR JR JuS JW JZ KritV lit. LNTS LS
Abkürzungsverzeichnis Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europawahlgesetz Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Freie Demokratische Partei Deutschlands folgende Festgabe Fußnote Festschrift General Assembly Gazzetta Ufficiale Gesetzblatt gemäß Grundgesetz Großer Senat Gesetz- und Verordnungsblatt German Yearbook of International Law Habilitationsschrift herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben Handbuch des Staatsrechts Hamburgisches Verfassungsgericht im Breisgau in der Fassung insbesondere im Sinne des (der) im Sinne von in Verbindung mit International Court of Justice Internationaler Gerichtshof International Law Commission International Labour Organisation Instalment Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des Öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft littera League of Nations Treaty Series Leitsatz
Abkürzungsverzeichnis m. w. Ν. MK-GG MSPD n. F. NdsVB 1. NJ NJW No. Nr. NRWO NVwZ NVwZ-RR ÖJZ OVG OVGE
ÖZöRV Pari. Rat PCIJ RabelsZ RDP Rep. Res. RGBl. RGSt RGZ RK RL Rn. RPrVBl. RStGH RT RT NB RuStAG RVerf RWahlG RWahlO S. SchGG scil. sec. Ser. SJZ sog. SPD SRÜ StAG StAZ Stb.
21
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22 StenBer. StIGH StWissStPr teilw. ThürVerfGH Tz. u. a. Univ. USPD v. VEB VerfEntw VerfGH VerwArch VfGH VfSlg vgl. VKP VOBl. vol. Vorb. VR VSO VVDStRL WP WPflG WR WRV WÜD WÜK YB YBILC YJIL z. z.B. z.T. ZaöRV ZAR ZEuS ZfP zit. ZP ZParl. ZPO ZRP zugl. ZUM
Abkürzungsverzeichnis Stenographische Berichte Ständiger Internationaler Gerichtshof Staatswissenschaften und Staatspraxis teilweise Thüringer Verfassungsgerichtshof Textzahl und andere/unter anderem Universität Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands von Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden Verfassungsentwurf Verfassungsgerichtshof Verwaltungsarchiv Verfassungsgerichtshof Verfassungsgerichtshof Amtliche Sammlung vergleiche Volkskonservative Partei Verordnungsblatt volume Vorbemerkung Verwaltungsrundschau Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Staaten Osteuropas Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wahlperiode/Wirtschaftspartei Wehrpflichtgesetz Weimarer Republik Weimarer Reichsverfassung Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen Yearbook of the European Convention of Human Rights Yearbook of the International Law Commission The Yale Journal of International Law zu zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Politik zitiert Zusatzprotokoll Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zugleich Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht
Einleitung Das parlamentarische Wahlrecht ist vom Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen treffend als „das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat" bezeichnet worden.1 Von daher erstaunt es wenig, daß um dieses Recht seit jeher heftige Kämpfe ausgefochten wurden: Jeweils unter revolutionären Umständen erstritten sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Arbeiter, zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frauen das Recht auf Mitwirkung am politischen Willensbildungsprozeß. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte die Bundesrepublik Deutschland zudem eine leidenschaftliche Debatte um das Wahlrecht für Ausländer, die in der jüngsten Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ihren Niederschlag gefunden hat. Geführt wurden diese Kämpfe allesamt unter der Fahne des allgemeinen Wahlrechts. Verglichen mit diesen drei großen Auseinandersetzungen nimmt sich die Diskussion um das Wahlrecht für Auslandsdeutsche eher bescheiden aus. Dies zeigt allein schon die Zahl der Veröffentlichungen: Wahrend das Schrifttum um das Ausländerwahlrecht in seinen Dimensionen kaum mehr zu überblicken ist, beschränkt sich die Literatur zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche auf wenige Aufsätze, von monographischen Darstellungen ganz zu schweigen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Jedenfalls mitursächlich dürfte die Tatsache gewesen sein, daß das Bundesverfassungsgericht sehr früh, nämlich 1956 und 1973, in dieser Frage Stellung bezogen hat, während die beiden Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht bis 1990 auf sich warten ließen. So konnte sich dort eine von gerichtlichen Präjudizien unbelastete wissenschaftliche Diskussion entfalten, während die Debatte um das Auslandsdeutschenwahlrecht von vornherein in den durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Bahnen verlief. Die einfachgesetzliche Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche 1985 bewirkte ein übriges. Seither ist die Diskussion um die verfassungsrechtliche Dimension dieses Themas nahezu vollständig verstummt. Dabei offenbart die 1998 erfolgte Reform des Auslandsdeutschenwahlrechts, daß sehr wohl noch Diskussionsbedarf besteht. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung ist mittlerweile in eine verfassungsrechtlich bedenkliche Schieflage geraten, die in der Literatur zwar vereinzelt erkannt, aus scheinbarem Mangel an Alternativen jedoch für unabänderlich erklärt wurde. Ein Blick über die deutschen Grenzen hinaus zeigt hier, daß sehr wohl Alternativmodelle existieren, deren Übernahme in das deutsche Wahlrecht zu erwägen wäre. 1 BVerfGE 1,13 (33); ähnlich Schneider, in: AK-GG, Art. 38 Rn. 54: „das wichtigste staatsbürgerliche Recht".
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Einleitung
Voraussetzung hierfür ist aber in jedem Falle Klarheit über die verfassungsrechtlichen Grundlagen. Ein erneutes Überdenken erscheint in diesem Punkte um so dringlicher, als die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche erkennbar von der deutschen Teilung beeinflußt, ja man möchte sagen: dominiert wurden. Seit Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist dieses bestimmende Motiv entfallen. Damit bietet sich jetzt die Chance, in unbelasteter und daher auch nüchternerer Art und Weise sich diesem Thema erneut zu nähern. Die vorliegende Arbeit hat daher zwei Aufgaben zu erfüllen: Zum einen hat sie Auskunft zu geben über die Entstehung des Auslandsdeutschenwahlrechts auf einfachgesetzlicher Grundlage, zum anderen hat sie die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herauszuarbeiten, die das einfache Gesetz regieren. Dabei wird sich herausstellen, daß der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgte Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl begrifflich keineswegs so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Folglich wird ein wesentlicher Teil dieser Arbeit darin bestehen, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Wahlrecht umfassend zu analysieren und dem Allgemeinheitsgrundsatz der Wahl so schärfere Konturen zu geben. Darin liegt zugleich der über die konkrete Fragestellung hinausweisende Gehalt dieser Arbeit. Die gestellten Aufgaben sollen in drei Schritten erfüllt werden: Der Erste Teil schildert die historische Entwicklung der Wohnsitzklauseln im Wahlrecht. Im Zweiten Teil werden sodann die verfassungsrechtlichen Grundlagen gelegt. Gegenstand wird hier dieFrage sein, ob die im historischen Teil beobachtete Ausweitung des aktiven Wahlrechts auf Auslandsdeutsche Ausdruck politischer Opportunität oder aber des vielbeschworenen „dynamischen Charakters" des allgemeinen Wahlrechts ist. Im Dritten Teil schließlich wird die gegenwärtige einfachgesetzliche Ausgestaltung des Auslandsdeutschen Wahlrechts auf ihre Verfassungskonformität hin überprüft, ergänzt durch Überlegungen de lege ferenda.
Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Bevor mit dem historischen Überblick begonnen werden kann, ist jedoch zunächst eine Eingrenzung und begriffliche Präzisierung des Untersuchungsgegenstands erforderlich. Dies gilt zuvörderst im Hinblick auf den Begriff des „Auslandsdeutschen". Hiermit werden „Personen ohne inländischen Wohnsitz" bezeichnet, „die zeitweilig, langfristig oder dauernd ihren Wohnsitz im Ausland genommen haben".2 Abzugrenzen davon sind die bloßen, Auslandsreisenden", d. h. Personen „mit inländischem Wohnsitz, die sich vorübergehend im Ausland aufhalten".3 Sie werden der Inlandsbevölkerung zugerechnet, werfen aber im Hinblick auf die Wahlteilnahme im Grundsatz dieselben Probleme auf wie die Auslandsdeutschen. Mit „Wahlen" sind im folgenden, soweit nichts anderes vermerkt ist, stets die Wahlen auf gesamtstaatlicher Ebene, also Bundes- oder Reichstagswahlen gemeint. Für die Landes- und Kommunalebene stellt sich das Problem des Auslandsdeutschenwahlrechts nicht, da der Staatsvolkbegriff des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG von vornherein durch den Wohnsitz im Land bzw. in der Gemeinde präformiert ist.4 Auslandsstaatsbürger kann es daher auf Landes- und Kommunalebene schon begrifflich nicht geben. Dagegen beurteilt sich die Frage nach der Beteiligung Auslandsdeutscher an den Wahlen zum Europäischen Parlament analog zum Bundestagswahlrecht. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind somit auf das Europawahlrecht übertragbar. Die Debatte um das Wahlrecht für Auslandsdeutsche wird nahezu ausschließlich im Hinblick auf das aktive Wahlrecht (die Wahlberechtigung) geführt. Gleichwohl soll hier auch die Frage nach dem Verhältnis von passivem Wahlrecht (der Wählbarkeit) und Wohnsitz in den Blick genommen werden. Beim aktiven Wahlrecht ist zusätzlich danach zu differenzieren, ob die Wohnsitzbeschränkung auf formeller oder auf materieller Ebene erfolgt: Während im erstgenannten Fall diejenigen, die die Wohnsitzvoraussetzung nicht erfüllen, materiell wahlberechtigt sind und nur an der Ausübung des Wahlrechts gehindert werden, steht ihnen im zweiten Fall das Wahlrecht schon materiell nicht zu. Definitionsbedürftig ist schließlich noch der Begriff des „Wohnsitzes". Wie sich im historischen Überblick zeigen wird, war der wahlrechtliche Wohnsitzbegriff keineswegs immer identisch mit dem des Zivilrechts. In der Literatur wird daher bisweilen der Begriff der „Seßhaftigkeit" bevorzugt. Aus sprachlichen Gründen wird hier gleichwohl von „Wohnsitzklauseln" statt von „Seßhaftigkeitsklauseln" gesprochen. 2 3 4
Wahlrechtsbericht 1955, S.78. Ebd. Näher unten 2. Teil 4. Kap. II.2.bcc.
Erster Teil
Historische Entwicklung der Wohnsitzklauseln im Wahlrecht Wenn sich eine Arbeit wie die vorliegende nicht mit einem kurzen Abriß der geschichtlichen Fakten begnügt, sondern der historischen Betrachtung einen relativ breiten Raum gewährt, so bedarf es hierfür gewiß eines Wortes der Erklärung. Ihre Rechtfertigung findet diese Vorgehensweise in dem Umstand, daß der Ausschluß Auslandsdeutscher von den Parlamentswahlen vielfach mit dem Hinweis gerechtfertigt wurde (und wird), die Seßhaftigkeit im Inland zähle zu den traditionell zulässigen Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl.5 Auch das Bundesverfassungsgericht bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme.6 Wie sich jedoch zeigen wird, hält diese vereinfachende und vergröbernde Sichtweise einer differenzierten Analyse der historischen Fakten nicht Stand. Auch und gerade an der Entwicklung der Wohnsitzklauseln läßt sich eine Dynamik beobachten, die durch die Tendenz zu einer immer weiteren Ausdehnung der Stimmberechtigung gekennzeichnet ist. Allerdings wird diese Dynamik erst über einen längeren Zeitraum hinweg erkennbar und auch nur dann, wenn man sich nicht von vornherein auf die Frage nach der Beteiligung Auslandsdeutscher beschränkt, sondern die Inlandsbevölkerung in die Überlegungen mit einbezieht. Im folgenden werden daher Verfassungen und Wahlgesetze des 19. und 20. Jahrhunderts auf die Existenz wahlrechtlicher Wohnsitzklauseln und deren Wirkungsweise hin untersucht. Entsprechend der doppelten Schwerpunktsetzung dieser Arbeit wird zudem gefragt, inwiefern die Allgemeinheit der Wahl verfassungsrechtlichen Garantien unterlag.
5 Vgl. etwa Badura (Zweitbearbeiter), in: BK-GG, Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 10; Henkel, AöR 99 (1974), 1 (10f.); LeibholzlRincklHesselberger, GG, Art. 38 Rn. 57; Maunz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 38 Rn. 40; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38 Rn. 20; Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 11. 6 BVerfGE 36,139 (141f.); näher dazu unten 2. Teil l.Kap. II.4.
1. Kapitel: Frankfurter Nationalversammlung 1848/49
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1. Kapitel
Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 I. Historischer Hintergrund Die Idee allgemeiner Wahlen hat ihren Ursprung in derfranzösischen Revolution von 1789. Auf Deutschland blieb sie zunächst ohne Einfluß. Erst in den revolutionären Unruhen des Frühjahrs 1848 verband sich der Wunsch nach Herstellung einer nationalstaatlichen Einheit in Deutschland mit der Forderung nach Einberufung einer Nationalversammlung, die durch Wahlen auf breitester Grundlage bestellt werden sollte.7 Diese Entwicklung drohte die bestehende Verfassungsordnung des Deutschen Bundes als eines rein völkerrechtlichen Zusammenschlusses der deutschen Einzelstaaten zu beseitigen. Die Wahl zur Nationalversammlung fand auf der Grundlage einzelstaatlicher Gesetze statt, für die allerdings in dem Bundesbeschluß8 vom 7. April 1848 gewisse Vorgaben gemacht worden waren. Untersagt waren insbesondere die Beschränkung des Wahlrechts durch Zensus, die Bevorrechtung einer Religion oder die Wahl nach Ständen. Wahlberechtigt und wählbar hatte „jeder volljährige selbstständige Staatsangehörige" zu sein, wobei den Einzelstaaten durch das vieldeutige Merkmal der Selbständigkeit ein gewisser Spielraum zur Einführung von Wahlrechtsbeschränkungen eröffnet war, den die Staaten in unterschiedlicher Weise zu nutzen wußten.9 Demgemäß lehnt es die jüngere Forschung ab, bereits den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung das Attribut „allgemein" zukommen zu lassen.10
7 Vgl. dazu Philippson, Ursprung, S. 27 ff.; Schilfert, Sieg, S. 33; Thomas Spies , Schranken, S. 10; VogellNohlenlSchultze, Wahlen, S. 76. 8 Abgedruckt bei Emst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 83. Zur Entstehungsgeschichte des Beschlusses, insbesondere zur Rolle des sog. Vorparlaments vgl. Botzenhart, Parlamentarismus, S. 123ff.; Hamerow, in: Böckenförde (Hrsg.), Verfassungsgeschichte, S. 215 (219 ff.); Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 606ff.; Georg Meyer, Wahlrecht, S. 174 ff. 9 Dazu ausführlich Botzenhart, Parlamentarismus, S. 141 ff.; zu den Beschwerden, die dieses Merkmal verursachte, vgl. Hamerow, in: Böckenförde (Hrsg.), Verfassungsgeschichte, S. 215 (220ff.); Schilfert, Sieg, S. 99ff. 10 Botzenhart, Parlamentarismus, S. 157; Hamerow, in: Böckenförde (Hrsg.), Verfassungsgeschichte, S. 215 (217); anders die ältere Forschung: vgl. Georg Meyer, Wahlrecht, S. 179: „im Wesentlichen" allgemein; Braunias, Wahlrecht I, S. 81: „zum größten Teil" allgemein; zurückhaltend aber bereits Frensdorf, in: FG v. Jhering, S. 135 (145).
1. Teil: Historische Entwicklung
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II. Reichsverfassung vom 28. März 1849 1. Allgemeinheit der Wahl In der Nationalversammlung bildete das allgemeine Wahlrecht einen der Hauptstreitpunkte. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der einfachgesetzlichen Einführung des allgemeinen Wahlrechts und seiner verfassungsrechtlichen Festschreibung: Obwohl in dem ursprünglichen Verfassungsentwurf enthalten, wurde die Garantie allgemeiner Wahlen noch im sog. Verfassungsausschuß gestrichen, da die Ausschußmehrheit durch eine langwierige Wahlrechtsdebatte die Vollendung des Verfassungswerks zu verzögern fürchtete. 11 Mit derselben Begründung wurde im Plenum der Antrag auf Wiederaufnahme der ursprünglichen Bestimmung abgelehnt.12 Immerhin gelang es aber nach Abschluß der Ersten Lesung des Verfassungsentwurfs der in der Minderheit befindlichen demokratischen Linken, die Erste Lesung des Wahlgesetzes vor die Zweite Lesung der Verfassung zu ziehen mit dem Argument, daß nur so über die etwaige Aufnahme von Wahlrechtsbestimmungen in die Verfassung entschieden werden könne.13 In den Beratungen zum Reichs Wahlgesetz wurde dann aber die verfassungsrechtliche Festschreibung einzelner Teile wie auch des gesamten Wahlgesetzes endgültig verworfen. 14 Dies hatte zur Folge, daß die Reichsverfassung von 1849 als einzige gesamtstaatliche Verfassung in Deutschland eine Garantie des allgemeinen Wahlrechts vermissen läßt. Auf einfachgesetzlicher Ebene hingegen gelang es der demokratischen Minderheit durch ein geschicktes Spiel mit wechselnden Mehrheiten, ein Wahlgesetz auf der Grundlage der Allgemeinheit der Wahl selbst gegen den Mehrheitswillen in der Nationalversammlung durchzusetzen.15 2. Wohnsitzbindung des Wahlrechts Neben der Garantie allgemeiner Wahlen enthielt der Verfassungsentwurf von 1848 ursprünglich auch eine wahlrechtliche Wohnsitzklausel. Diese befand sich allerdings nicht, wie man vermuten könnte, im Abschnitt über den Reichstag, sondern in dem11
Botzenhart, Parlamentarismus, S. 663f.; vgl. auch die Darstellung Wigards, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VI, S.4060. 12 Antrag Wigard, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VI, S. 4058ff.; dagegen Briegleb, a. a. O., S.4060. 13 Antrag Vogt, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5199 ff.; dazu Botzenhart, Parlamentarismus, S.679f. 14 Vgl. den Bericht des Verfassungs-Ausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5229 f.); in demselben Sinne die Stellungnahme des Berichterstatters Scheller, a. a. O., S. 5233. Dagegen aber Eisenmann, a. a. O., S. 5230 und 5274. Siehe femer Frensdorf in: FG v. Jhering, S. 135 (142); Kühne, Reichsverfassung, S.411. 15 Ausführlich Botzenhart, Parlamentarismus, S. 664ff.; Frensdorf\ in: FG v. Jhering, S. 135 (138 ff.); Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte II, S.787ff.
1. Kapitel: Frankfurter Nationalversammlung 1848/49
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jenigen über die Grundrechte des deutschen Volkes. § 1 des Verfassungsentwurfs (im folgenden: VerfEntw 1848) hatte folgenden Wortlaut: , Jeder Deutsche hat das allgemeine deutsche Staats-Bürgerrecht. Die ihm kraft dessen zustehenden Rechte kann er in jedem deutschen Lande ausüben. - Das Recht, zur deutschen Reichsversammlung zu wählen, übt er da, wo er zurZeit seinen Wohnsitz hat" 16
Daß sich die Wohnsitzklausel gerade an dieser Stelle befand, war durchaus kein Zufall. Denn ohne die Einschränkung in Satz 3 hätte die Formulierung des Satzes 2 „in jedem deutschen Lande" leicht dahin interpretiert werden können, daß ein Deutscher das Wahlrecht auch am Ort seines nur vorübergehenden Aufenthalts ausüben dürfe. 17 Freilich enthielt Satz 2 beirichtigemVerständnis nicht mehr als den Grundsatz der Inländergleichbehandlung18 - daß also der Angehörige eines deutschen Einzelstaats in jedem anderen deutschen Staat den Inländern gleichzustellen sei - , und wenn auch von Inländern der Wohnsitz zur Ausübung des Wahlrechts verlangt wurde, konnten die Angehörigen fremder Einzelstaaten schlechterdings nicht verlangen, insofern bessergestellt zu werden. Satz 3 bewirkte daher lediglich eine Klarstellung. Dem Wortlaut der Wohnsitzklausel war allerdings nicht zu entnehmen, daß die Ausübung des Wahlrechts von einem Wohnsitz in Deutschland abhängen sollte. Auslandsdeutsche waren daher anscheinend nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen. Hierzu meinte der Abgeordnete v. Zenetti, ihmfielen „die Gesandten ein, welche in London, Petersburg oder anderwärts sein mögen, und dort unmöglich zur Reichsversammlung wählen können; ebenso kann es Familien, die im Auslande ihren Wohnsitz genommen haben, ohne das Reichsbürgerrecht aufzugeben, auch diesen kann es nicht gestattet sein, das Wahlrecht an ihrem Wohnsitz auszuüben."19 In demselben Sinne hielt es der Abgeordnete Osterrath für ausgeschlossen, daß „jede deutsche Gemeinde in Amerika oder Frankreich einen Abgeordneten zur deutschen Nationalversammlung" sollte wählen können.20 Beide forderten daher eine Präzisierung des Verfassungsentwurfs dahingehend, daß nur der Wohnsitz in Deutschland zur Wahlteilnahme berechtigen dürfe. Letztlich wurde über diese Frage in der Verfassungsdebatte nicht entschieden. Maßgebend hierfür war der Umstand, daß die Beratung der Grundrechte zu einem Zeitpunkt erfolgte, da man weder über den Aufbau des Reichstags noch über das zukünftige Reichswahlgesetz debattiert hatte. Die Wohnsitzklausel, wie sie der Verfassungsentwurf enthielt, hätte eine vorzeitige Festlegung zumindest in einem Teilaspekt des Wahlrechts bedeutet. Dies mußte aus Sicht der Nationalversammlung ver16
Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 682; Hervorhebung vom Verfasser. In diesem Sinne die Abgeordneten v. Zenetti und Wichmann, in: Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 745, 746. 18 Vgl. dazu die Ausführungen der Abgeordneten Biedermann, Neumann und Mittermaier, in: Wigard (Hrsg.), Berichtl, S. 732f., 735,743; vgl. auch Kühne, Reichsverfassung, S. 203, undeutlich aber S. 204 mit Fn. 8. 19 Abgeordneter v.Zenetti, in: Wigard (Hrsg.), Berichtl, S. 745. 20 Abgeordneter Osterrath, in: Wigard (Hrsg.), Berichtl, S. 747. 17
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1. Teil: Historische Entwicklung 21
mieden werden. Da aber andererseits eine Sonderbestimmung für Wahlen aufgrund der allgemeinen Regelung in § 1 Satz 2 VerfEntw 1848 als unverzichtbar erschien, ersetzte man die Wohnsitzklausel durch den Verweis: „Ueber das Recht, zur deutschen Reichsversammlung zu wählen, verfügt das Reichs-Wahlgesetz."22
I I I . Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts In dem Reichsgesetz über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause vom 12. April 194923 (im folgenden: RWahlG 1849) entschied sich die Nationalversammlung alsdann dafür, die Ausübung des Wahlrechts nur in demjenigen Wahlbezirk zuzulassen, in dem der Wahler seinen „festen Wohnsitz" hatte (§11 Abs. 1 Satz 1). Gemeint war damit der Wohnsitz im Sinne des damaligen Bürgerlichen Rechts.24 Zur Begründung wurde darauf verwiesen, daß dem fest Ansässigen „die natürlichen Verhältnisse, die Bedürfnisse der staatlichen Gesammtheit klarer und gegenwärtiger sein werden, als Dem, welcher eine solche Anschauung fester Verhältnisse nicht hat".25 Außerdem wurde vorgebracht, daß es sich bei dem Wohnsitzerfordernis nicht um eine persönliche, sondern um eine rein äußerliche Bedingung handle.26 Lediglich für Soldaten war in § 11 Abs. 2 eine Ausnahme vom Wohnsitzerfordernis vorgesehen, da sich deren bürgerlich-rechtlicher Wohnsitz nicht am Ort ihrer Kasernierung befand. Mit der Beschränkung der Wahlrechtsausübung auf die in einem Wahlbezirk Ansässigen wurde in erkennbarer Weise der Forderung nach Ausschluß der Auslandsdeutschen von den Wahlen Rechnung getragen. Die Wohnsitzklausel in § 11 RWahlG 1849 entfaltete demnach eine zweifache Ausschlußwirkung: Vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen war zum einen, wer überhaupt keinen Inlandswohnsitz innehatte, zum anderen aber auch, wer zwar in Deutschland ansässig war, sich am Wahltag aber außerhalb seines festen Wohnsitzes aufhielt, denn mit Ausnahme der Soldaten konnte das Wahlrecht nur am Ort des festen Wohnsitzes ausgeübt werden. Indem die Wohnsitzklausel als reine Wahlrechts^wjwòw/ìg.yvoraussetzung ausgestaltet war, erfolgte die Wahlrechtsbeschränkung auf der Ebene des formellen, nicht des materiellen Wahlrechts. Es ist dies eine Regelungstechnik, die bis zum Ende der Weimarer Republik beibehalten werden sollte. 21
Vgl. die Anträge der Abgeordneten Zachariä und Werner, in: Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 748 f. Angenommen wurde schließlich der Vorschlag von Werner, den sich in der Zwischenzeit auch der Verfassungsausschuß zu eigen gemacht hatte, vgl. Wigard (Hrsg.), Bericht II, S. 1065. 22 § 132 Satz 3 RVerf 1849, RGBl. S. 101; Auszüge in DokAnh. Α. I. 23 RGBl. S. 79; Auszüge in DokAnh. Α. II. 24 Lorenz, Bedeutung, S. 15. 25 Abgeordneter Riesser, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5429. 26 Bericht des Verfassungs-Ausschusses, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5227); ebenso der Abgeordnete Riesser , a. a. O., S. 5429.
2. Kapitel: Norddeutscher Bund/Deutsches Kaiserreich
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2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Im Gegensatz zum aktiven Wahlrecht war die Wählbarkeit nach dem Reichswahlgesetz von 1849 nicht vom Wohnsitz abhängig; eine derartige Beschränkung wurde auch nie erwogen. Neben der Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres verlangte § 5 RWahlG 1849 lediglich die dreijährige Zugehörigkeit zu einem deutschen Staat.27 Über dieses Merkmal kam dem Wohnsitz in Deutschland allerdings mittelbar sehr wohl Bedeutung zu, nämlich für die Frage des Verlusts der jeweiligen Staatsangehörigkeit. Nach der Mehrzahl der Gesetze jener Zeit ging die Staatsangehörigkeit bei langandauerndem (zumeist zehnjährigem) Aufenthalt im Ausland verloren. Nur wenige Gesetze ließen die Staatsangehörigkeit bei Auslandsaufenthalt überhaupt nicht erlöschen, nach anderen wiederum trat der Verlust sofort im Zeitpunkt der Auswanderung ein, wenn aus den Umständen auf das Fehlen eines Rückkehrwillens geschlossen werden konnte.28 Die Wählbarkeit war somit regelmäßig zwar nicht vom Inlandswohnsitz zum Zeitpunkt der Wahl abhängig. Da aber ein langfristiger Auslandsaufenthalt zumeist das Erlöschen der Staatsangehörigkeit und damit auch der aus ihrfließenden staatsbürgerlichen Rechte zur Folge hatte, entfaltete der Inlandswohnsitz auch für das passive Wahlrecht mittelbar sehr wohl Bedeutung. 2. Kapitel
Das Wahlrecht im Norddeutschen Bund und im Deutschen Kaiserreich I. Historischer Hintergrund Die konstitutionellen Errungenschaften der Paulskirchenversammlung, so fortschrittlich und richtungsweisend sie auch sein mochten, wurden bekanntermaßen schnell von der Realität eingeholt, indem der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm von den Frankfurter Abgeordneten dargebotene Kaiserkrone ablehnte.29 Gleichwohl wäre es verfehlt, das Werk von 1849 als vergeblich zu bezeichnen. 27 Mit dem Begriff der „Zugehörigkeit" war der Staatsangehörigkeitsbesitz, nicht etwa die Seßhaftigkeit gemeint. So aber offenbar Thomas Spies , Schranken, S. 64, wenn er unter Hinweis auf § 5 RWahlG 1849 schreibt, der Wohnsitz sei Voraussetzung „in den meisten früheren deutschen Wahlgesetzen" gewesen. Vgl. dazu auch unten 1. Teil 2. Kap. III. 2. 28 Für einen Überblick über die Staatsangehörigkeitsgesetze zu dieser Zeit vgl. StenBer. RT NB, 1870, Bd. 3, Ani., Drucks.-Nr. 11, S. 157f.; femer Grawert, Staat, S. 186f. Eine Vielzahl von Staatsangehörigkeitsgesetzen findet sich bei LichterlKnost, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 211 ff. 29 Ausführlich Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 842 ff.; Stern, Staatsrecht V, § 126 V 4 c (S.260f.).
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1. Teil: Historische Entwicklung
Insbesondere dem Reich Wahlgesetz von 1849 sollte bei der Entstehung des Norddeutschen Bundes eine hervorgehobene Bedeutung zukommen, indem es von Bismarck im sog. Augustbündnis vom 18. August 186630 zur Grundlage der Wahlen zum Konstituierenden Reichstag gemacht wurde (Art. 5). Daß sich Bismarck gerade dieses Wahlgesetzes, das er noch zu Beginn seiner politischen Laufbahn als ein „großes Unglück" für das „Land und die Krone" bekämpft hatte,31 zur Schaffung des Norddeutschen Bundes bediente, beruhte auf mehreren Gründen. Er selbst gab später an, das allgemeine Wahlrecht sei „eine Waffe im Kampfe gegen Österreich und weiteres Ausland" gewesen.32 Darüber hinaus war er in dem preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre33 zu der Überzeugung gelangt, daß allgemeine und gleiche Wahlen ein weitaus konservativeres Parlament hervorbringen würden als das preußische Dreiklassenwahlrecht, welches den Einfluß der ländlichen, seiner Einschätzung nach königstreuen Bevölkerung unterdrückte.34 Zudem bot das Reichswahlgesetz von 1849 den Vorteil, daß langwierige Verhandlungen mit den Vertragspartnern des Augustbündnisses über die Modalitäten der zu wählenden Volksvertretung vermieden wurden35 und die große Popularität, die dieses Gesetz in der Bevölkerung genoß, dem gesamten Einigungswerk nutzbar gemacht werden konnte.36 So also wurde das Reichs Wahlgesetz von 1849 zur Grundlage der Wahlen zum Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes, allerdings dergestalt, daß in jedem deutschen Einzelstaat ein entsprechendes Wahlgesetz erlassen wurde. Der Norddeutsche Bund erscheint im nachhinein als eine bloße Übergangserscheinung. Die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 schuf die Voraussetzungen für die Erweiterung zum Deutschen Bund durch den Beitritt der Staaten Süddeutschlands und die anschließende Gründung des Deutschen Kaiserreichs am 1. Januar 1871.37 Die Verfassung des (mittlerweile) Deutschen Bundes wurde durch die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 ersetzt.38 Inhaltlich stellte die neue Reichsverfassung indes nicht mehr als eine redigierte Fassung der mehrfach abgeänderten Verfassung des Norddeutschen Bundes dar,39 so daß beide Verfassungsurkunden - die des Norddeutschen Bundes und die Reichsverfassung von 1871-hier gemeinsam behandelt werden. Die einfachen Gesetze des 30
Abgedruckt bei Emst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumenten, Nr. 196 (Nr. 185); zum Hintergrund vgl. Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 644ff.; Stern, Staatsrecht V, § 127 I (S. 286ff.). 31 Zitiert nach: Äugst, Stellung, S. 13. 32 Bismarck, Gedanken II, S. 58; zum Hintergrund vgl. Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichteiii, S.518f. 33 Dazu Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 305 ff. 34 Äugst, Stellung, S.40. 35 Äugst, Stellung, S. 80; Georg Meyer, Wahlrecht, S. 236. 36 Äugst, Stellung, S. 86ff.; Hatschek, Parlamentsrecht, S. 269f.; Georg Meyer, Wahlrecht, S. 236. 37 Hierzu ausführlich Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 702ff.; Stern, Staatsrecht V, § 128 I (S. 329 ff.). 38 § 1 des Publikationsgesetzes vom 16. April 1871, RGBl. S. 63. 39 Vgl. Stern, Staatsrecht V, § 12814 c (S. 338) m. w. N.
2. Kapitel: Norddeutscher Bund/Deutsches Kaiserreich
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Norddeutschen Bundes galten im Deutschen Kaiserreich als Reichsgesetze fort. 40 Dementsprechend fand auch das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 186941 (im folgenden: RWahlG 1869) weiterhin Anwendung, nachdem sein Geltungsbereich zuvor auf die süddeutschen Staaten ausgedehnt worden war.42 Zur Auslegung des Reichs Wahlgesetzes von 1869 wird hier daher seine Anwendung im Deutschen Kaiserreich mit berücksichtigt, auch wenn seine Entstehung in die Zeit vor der Reichsgründung fällt. II. Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867/ Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 1. Allgemeinheit der Wahl Im Unterschied zur Paulskirchenverfassung ist das allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht in der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 186743 (und, gleichlautend, in der Reichsverfassung vom 16. April 187144) verfassungsrechtlich festgeschrieben (Art. 20). Eine Diskussion darüber, ob Garantien wahlrechtlicher Art überhaupt in die Verfassung aufgenommen werden sollten oder nicht, wurde im Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes nicht geführt. Daß dem allgemeinen Wahlrecht 1867 so wenig Widerstand entgegengesetzt wurde, lag an den Gesamtumständen bei der Errichtung des Norddeutschen Bundes. Von Bismarck stammt der legendäre Satz, das allgemeine Wahlrecht sei „uns gewissermaßen als ein Erbtheil der Entwicklung der Deutschen Einheitsbestrebungen überkommen."45 Und der Abgeordnete Meyer dürfte die Einschätzung vieler Reichtagsabgeordneten zum Ausdruck gebracht haben, indem er formulierte, es gehe nicht mehr darum, ob man das allgemeine Wahlrecht einführen, sondern ob man es abschaffen wollte, „und, meine Herren, es abschaffen - das, glaube ich, können wir in diesem Augenblicke nicht".46
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§ 2 Abs. 2 Satz 1 des Publikationsgesetzes vom 16. April 1871, RGBl. S. 63. BGBl. S. 145; Auszüge in DokAnh. Α. IV. 42 Vgl. Art. 80 Nr. 13 der Verfassung des Deutschen Bundes (BGBl. 1870 S. 627) i. V. m. dem Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bund, Baden und Hessen vom 15. November 1870 (BGBl. S. 650); Nr. III § 8 des Vertrags mit Bayern vom 23. November 1870 (BGBl. 1871 S. 9); Art. 2 Nr. 6 des Vertrags mit Württemberg vom 25. November 1870 (BGBl. S. 654). Später wurde die Geltung des Reichswahlgesetzes noch auf Elsaß-Lothringen (§ 6 des Reichsgesetzes vom 25. Juni 1873 [RGBl. S. 161]) sowie auf Helgoland (§ 4 des Reichsgesetzes vom 15. Dezember 1890 [RGBl. S.207]) ausgedehnt. 43 BGBl. S. 2; Auszüge in DokAnh. A. III. 44 RGBl. S. 63; Auszüge in DokAnh. Α. V. 45 StenBer. RT NB, 1867, Bd. 1, S. 429. 46 StenBer. RT NB, 1867, Bd. 1, S.431. 41
3 Breuer
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1. Teil: Historische Entwicklung
2. Wohnsitzbindung des Wahlrechts Eine Aussage zum Verhältnis von Wahlrecht und Wohnsitz enthalten die Verfassungen von 1867 und 1871 hingegen nicht. I I I . Reichswahlgesetz vom 31. Mai 1869 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts a) §7 RWahlG 1869 Sowoh1 seinem Aufbau als auch seinem Inhalt nach stimmte das Reichswahlgesetz von 1869 weitgehend mit seinem Vorbild von 1849 überein. Auch die Wohnsitzklausel in § 7 RWahlG 1869, die bei ihrer Schaffung derart unbestritten war, daß in keiner der drei Lesungen das Wort verlangt wurde,47 entsprach nahezu wörtlich § 11 Abs. 1 RWahlG 1849. Der wesentlichste Unterschied bestand darin, daß jetzt nur noch der „Wohnsitz" verlangt wurde und nicht mehr der „feste Wohnsitz" wie noch 20 Jahre zuvor. Demgemäß sah die Wahlprüfungskommission des Reichstags nicht mehr nur den Wohnsitz im zivilrechtlichen Sinne, sondern auch den dauernden Aufenthalt als für die Ausübung des aktiven Wahlrechts ausreichend an. Unter Rückgriff auf § 21 Zivilprozeßordnung48 definierte sie, Wahlberechtigte könnten ihr Wahlrecht an dem Ort ausüben, „an welchem sie sich mit der Absicht niedergelassen haben, diesen Ort zum dauernden Mittelpunkt ihrer rechtlichen Verhältnisse und Geschäfte zu machen". Nicht hinreichend sei jedoch der „lediglich vorübergehende Aufenthalt". 49 Infolge dieser Spruchpraxis verfügten ζ. B. Saisonarbeiter regelmäßig über einen doppelten Wahlrechtswohnsitz, nämlich den Wohnsitz im bürgerlich-rechtlichen Sinne und ihren ständigen Aufenthaltsort. Der Gefahr des Wahlrechtsmißbrauchs begegnete man durch § 7 Abs. 2 RWahlG 1869, wonach jeder nur an einem Ort wählen durfte, sowie durch die strafrechtliche Sanktionierung mehrfacher Stimmrechtsausübung.50 Zwar konnten die Berichte der Wahlprüfungskommission nicht als authentische Interpretationen des Reichswahlgesetzes von 1869 gelten, da es sich bei ihr nicht um ein Gericht, sondern um ein Teilorgan des Reichstags handelte, das sich in seinen Entscheidungen neben rechtlichen auch von praktischen und politischen Erwägungen leiten ließ.51 Daß seiner Spruchpraxis aber in bezug auf die Kasuistik ein ähnlicher Stellenwert zukam wie den Entscheidungen eines Gerichtshofs, 52 zeigt allein schon die Tat47
Vgl. StenBer. RT NB, 1869, Bd. 1, S. 179; Bd. 2, S. 977. RGBl. 1877 S. 83 (heute § 20 ZPO). 49 StenBer. RT, 1879, Bd. 5, Ani., Drucks.-Nr. 166, S. 1347; weitere Nachweise bei Hatschek, Parlamentsrecht, S. 275 ff. 50 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 275 f. m. w. N. 51 Granzow, Wahlrecht, S. 13. 52 So Labandy Staatsrecht I, S. 310; ihm folgend Granzow, Wahlrecht, S. 13. 48
2. Kapitel: Norddeutscher Bund/Deutsches Kaiserreich
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sache, daß auch das Reichsgericht bei der Bestimmung des wahlrechtlichen Wohnsitzbegriffs auf die Auslegung durch die Wahlprüfungskommission zurückgriff. 53 Durch § 7 RWahlG 1869 wurde die vom Wohnsitzprinzip ausgehende Ausschlußwirkung somit ein erstes Mal deutlich abgemildert. Zwar waren sowohl die Auslandsdeutschen als auch die am Wahltag nur vorübergehend Abwesenden nach wie vor an der Ausübung des Wahlrechts gehindert. Immerhin wurde aber Personen, die sich langfristig an einem anderen Ort als dem ihres zivilrechtlichen Wohnsitzes aufhielten, die Möglichkeit der Wahlteilnahme eröffnet. Aus der Tatsache, daß die Wohnsitzklausel des § 7 RWahlG 1869 wie ihr Vorbild von 184954 als reine Ausübungsvoraussetzung ausgestaltet war, ergibt sich zudem, daß die Beschränkung des Wahlrechts wiederum lediglich auf der Ebene des formellen Wahlrechts erfolgte, nach der seinerzeit üblichen Terminologie: auf der Ebene der „Wahlberechtigung"55 (andere Autoren sprachen vom „Wahlrecht quoad exercitium" 56). Bei Nichterfüllung der Wohnsitzvoraussetzung war daher zwar das materielle Wahlrecht (die „Wahlfähigkeit"57 bzw. das „Wahlrecht quoad ius" 5%) gegeben, es ruhte aber wie im Falle der Nichteintragung in eine Wählerliste.59 b) § 1 RWahlG 1869 Das Reichs Wahlgesetz von 1869 enthielt in seinem § 1 noch eine weitere Wohnsitzklausel, denn Wähler war nach dieser Vorschrift „jeder Norddeutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat, in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohnsitz hat" 60 Für diese Klausel gab es im Reichswahlgesetz von 1849 kein Vorbild. Überhaupt wurde der eigentliche Sinn dieser scheinbar doppelten Wohnsitzklausel schon wenige Jahre nach ihrer Schaffung nicht mehr verstanden.61 Er leuchtet aber unmittelbar ein, wenn man § 1 RWahlG 1869 als eine Reaktion auf diejenigen Wahlgesetze begreift, die in den beiden Mecklenburg für die Wah53
Vgl. RGSt 37,233 (235); 37, 239 (241). Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. III. 1. Seydel, in: Hirth's Annalen 1880,352 (359); ihm folgend Arndt, Staatsrecht, S. 117 f.; Jellinek, System, S. 164. 56 Laband, Staatsrecht I, S. 311; ihm folgend Zorn, Staatsrecht I, S. 219. 57 Wie Fn. 55. 58 Wie Fn. 56. 59 Laband, Staatsrecht I, S. 311; Hermann Schulze, Lehrbuch II, S. 76; im Hinblick auf die Auslandsdeutschen v. Hoffmann, Kolonialrecht, S. 28; Weck, Deutschtum, S. 188. 60 Hervorhebung vom Verfasser; nach 1871 war der Begriff „Norddeutsche" durch „Deutsche" zu ersetzen, vgl. auch DokAnh. Α. IV. 61 Vgl. die Reichstagsdebatte um die Bewohner des sog. Kommunionharzes, StenBer. RT, 1876, Bd. 2, S. 731 ff. sowie den dazugehörigen Gesetzentwurf StenBer. RT, 1876, Bd. 3, Ani., Drucks.-Nr. 78. Vgl. auch Hermann Schulze, Lehrbuch II, S. 73 f., der § 1 RWahlG 1869 die Aussage entnimmt, daß kein Wahlkreis aus den Gebieten mehrerer Bundesstaaten bestehen dürfe. Dagegen zutreffend Hatschek, Kommentar, S. 12: Dann hätten es die Bundesstaaten in der Hand gehabt, durch Gebietsabtretungen Wählern das Wahlrecht zu entziehen. 54 55
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len zum Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes erlassen worden waren.62 Wie bereits erwähnt, waren die Wahlen vom 12. Februar 1867 nach dem Augustbündnis auf der Grundlage des Reichs Wahlgesetzes von 1849 durchgeführt worden, allerdings dergestalt, daß jeder deutsche Einzelstaat ein entsprechendes Wahlgesetz erlassen hatte.63 Die beiden mecklenburgischen Verordnungen hatten dabei Einschränkungen vorgesehen, die mit dem Reichswahlgesetz von 1849 nicht in Einklang standen: Während nämlich gem. § 1 RWahlG 1849 das aktive Wahlrecht allen fünfundzwanzigjährigen unbescholtenen Deutschen zustand, beschränkten die mecklenburgischen Verordnungen den Kreis der aktiv Wahlberechtigten auf die eigenen Staatsangehörigen.64 Diese Einschränkung wurde dadurch ermöglicht, daß 1867 eine einheitliche Bundesangehörigkeit noch nicht existierte (das Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit stammt erst aus dem Jahr 1870), der Begriff „Deutscher" demgemäß interpretationsfähig und -bedürftig war. Vor diesem Hintergrund liest sich § 1 RWahlG 1869 als eine Abkehr von dem Grundsatz der mecklenburgischen Wahlverordnungen, das Reichstags Wahlrecht auf die jeweils eigenen Staatsangehörigen zu beschränken: Künftig sollte das Reichstags Wahlrecht den Angehörigen aller deutschen Bundesstaaten zustehen, und zwar in jedem Bundesstaat, in dem sie gerade ihren Wohnsitz hatten. Dies macht verständlich, warum § 7 RWahlG 1869 vom Wohnsitz in einem Wahlbezirk, § 1 RWahlG 1869 dagegen vom Wohnsitz in einem Bundesstaat spricht. Weiterhin läßt sich damit erklären, warum es in der Gesetzesbegründung zu § 1 RWahlG 1869 lediglich heißt, Wähler sei „jeder Norddeutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt" habe, ohne daß eine Beschränkung des Wahlrechts durch Wohnsitz auch nur erwähnt würde.65 Die scheinbare Wohnsitzklausel des § 1 RWahlG 1869 enthielt in Wahrheit nichts anderes als die Verpflichtung aller Bundesstaaten, in der Frage des aktiven Reichstagswahlrechts die Angehörigen der übrigen Bundesstaaten den eigenen Staatsangehörigen gleichzustellen, mit anderen Worten: eine Verpflichtung zur 62
Daß sich der Wahlgesetzgeber von 1869 mit jenen Gesetzen beschäftigt hat, ergibt sich aus der Äußerung des Abgeordneten Wiggers, mit dem § 2 RWahlG 1869 (Ruhen der Wahlberechtigung für aktive Soldaten) habe man „einen Paragraphen aus dem Mecklenburgischen Wahlgesetz angenommen" (StenBer. RT NB, 1869, Bd. 1, S. 166). 63 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap.I. 64 Vgl. § 2 Satz 1 der Verordnung, betr. die Wahl eines Abgeordneten zu dem in Folge des Bündnisses mit Preußen berufenen Parlamente (Großherzoglich Mecklenburg-Strelitzscher Officieller Anzeiger für Gesetzgebung und Staatsverwaltung, 1866 No. 18): „Wähler ist jeder unbescholtene Mecklenburger, welcher das 25ste Lebensjahr zurückgelegt hat." § 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 2033 Wahl von Abgeordneten zu einem Parlament vom 28. November 1866 (Gesetzsammlung für die Mecklenburg-Schwerin'sehen Lande, Dritte Folge, umfassend den Zeitraum von 1857 bis zur Gegenwart, hrsg. von H. Raspe, Oberamtsrichter, IV. Band, Wismar 1895): „Wahler ist jeder unbescholtene Mecklenburger, welcher das 25ste Lebensjahr zurückgelegt hat." Dazu auch Äugst, Stellung, S. 80; ferner Georg Meyer, Wahlrecht, S. 237. 65 StenBer. RT NB, 1869, Bd. 3, Ani., Drucks.-Nr. 17, S. 143.
2. Kapitel: Norddeutscher Bund/Deutsches Kaiserreich
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Inländergleichbehandlung. Daß dieser Sinn bereits wenig später selbst von Zeitgenossen nicht mehr verstanden wurde, erklärt sich aus der Tatsache, daß in der Zwischenzeit eine einheitliche Bundes- (nach 1871: Reichs-) Angehörigkeit geschaffen worden war, die eine Interpretation im Sinne der mecklenburgischen Wahlverordnungen unmöglich machte. 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Die Voraussetzungen, die § 4 RWahlG 1869 an die Wählbarkeit stellte, stimmten nahezu vollständig mit denen des § 5 RWahlG 1849 überein. Lediglich bei der Zugehörigkeit zu einem deutschen Bundesstaat wurde die Frist von drei Jahren auf ein Jahr reduziert, um den Angehörigen der bei Gesetzerlaß dem Norddeutschen Bund noch nicht angeschlossenen süddeutschen Staaten den Erwerb des passiven Wahlrechts zu erleichtern, wenn diese die Staatsangehörigkeit eines der Bundesstaaten erwarben.66 Seßhaftigkeit in einem der Bundesstaaten zum Zeitpunkt der Wahl war daher nach § 4 RWahlG 1869 ebensowenig erforderlich wie nach dem Reichs Wahlgesetz von 1849.67 Seit dem Erlaß des Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundesund Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 187068 (im folgenden: BuStAG) galt allerdings im ganzen Bund (nach 1871 : im ganzen Reich) der Grundsatz, daß ein Deutscher bei zehnjährigem ununterbrochenem Aufenthalt im Ausland seine Staatsangehörigkeit regelmäßig verlor, § 21 BuStAG.69 Die Wählbarkeit war somit nicht vom Wohnsitz im Bundes- bzw. Reichsgebiet zum Zeitpunkt der Wahl abhängig, zu ihrer Aufrechterhaltung wurde aber eine gewisse Bindung an das Inland nach wie vor verlangt. IV. Schutzgebietsgesetz vom 17. April 1886 i. d. F. vom 15. März 1888 Die Gründung der ersten deutschen Kolonien im Jahr 1884 markiert den Beginn einer Politik, die die Weltgeltung des Deutschen Reichs durch Kolonialerwerb zu unterstreichen und so im Vergleich zu anderen Kolonialmächten scheinbar Versäumtes nachzuholen suchte.70 Damit stellt sich für die vorliegende Untersuchung die Frage, wie der Wahlgesetzgeber auf die steigende Zahl von Kolonialdeutschen reagierte. Maßgeblich hierfür war das Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete vom 17. April 188671 (Schutzgebietsgesetz, im folgenden: SchGG), 66
Vgl. die Ausführungen der Abgeordneten v. Hoverbeck und Harnier, in: StenBer. RT NB, 1869, Bd. 1, S. 172 und Bd. 2, S. 972. 67 Vgl. oben l.Teil 1. Kap. III.2.; Hatschek, Kommentar, S. 78. 68 BGBl. S. 355. 69 Näher unten 1. Teil 2. Kap. V. 2. 70 Weiterführend Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 604 ff. 71 RGBl. S.75.
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1. Teil: Historische Entwicklung
das erstmalig in der Fassung vom 15. März 188872 Regelungen zum Wahlrecht enthielt. Danach fand § 4 RWahlG 1869 auf die Schutzgebiete entsprechende Anwendung (§ 6 Abs. 2 SchGG 188873). Diese Bestimmung erscheint zunächst insofern überraschend, ja geradezu überflüssig, als das passive Wahlrecht ohnehin vom Wohnsitz unabhängig war.74 Verständlich wird der Verweis auf § 4 RWahlG 1869 erst ist im Zusammenhang mit der staatsangehörigkeitsrechtlichen Behandlung der Schutzgebiete. Gem. § 6 Abs. 1 SchGG 1888 konnten Ausländer, die sich in den Schutzgebieten niederließen, sowie Eingeborene durch Naturalisation die Reichsangehörigkeit erwerben. Diese Regelung stellte eine Durchbrechung des Grundsatzes dar, daß die Reichsangehörigkeit nur durch Zugehörigkeit zu einem Bundesstaat erworben werden konnte (§1 BuStAG), denn die in den Schutzgebieten Naturalisierten erwarben die unmittelbare Reichsangehörigkeit, d. h. sie waren Reichsangehörige, besaßen aber nicht die Staatsangehörigkeit eines der Bundesstaaten.75 Bei wortgetreuem Verständnis des § 4 RWahlG 1869 wäre nun dieser Personenkreis vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen gewesen, denn erforderlich war ja die mindestens einjährige Zugehörigkeit zu einem Bundesstaat 76 (was sich wiederum daraus erklärt, daß bei Schaffung des Reichswahlgesetzes 1869 eine einheitliche Bundes- oder Reichsangehörigkeit noch nicht existierte). Da aber der Gesetzgeber die in den Schutzgebieten Naturalisierten den übrigen Reichsangehörigen gleichstellen wollte,77 wurde dem Schutzgebietsgesetz in Dritter Lesung der Verweis auf § 4 RWahlG 1869 eingefügt. 78 Dieser Verweis war somit keineswegs „verwirrend" 79 oder gar „überflüssig" 80, wie in der Literatur bisweilen behauptet wurde. Konsequenzen für das Wahlrecht hatte die staatsangehörigkeitsrechtliche Behandlung der Schutzgebiete auch im Hinblick auf das Erlöschen des passiven Wahlrechts: Während nämlich die Staatsangehörigkeit gem. § 21 BuStAG bei zehnjährigem Auslandsaufenthalt regelmäßig erlosch,81 blieb sie bei Aufenthalt in den Schutzgebieten 72
RGBl. S. 71 ; Auszüge in DokAnh. Α. VI. Später § 9 Abs. 2 SchGG, vgl. Änderungsgesetz vom 25. Juni 1900, RGBl. S. 813. 74 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. III. 2. 75 Vgl. Hauschild, Staatsangehörigkeit, S. 36ff.; Hermann Hesse, Reichsangehörigkeit, S. 37 f. 76 In diesem Sinne auch der Bericht der Kommission zur Vorberatung des Schutzgebietsgesetzes, StenBer. RT, 1887/88, Bd. 4, Ani., Drucks.-Nr. 146, S. 652. 77 Vgl. die Gesetzesbegründung, StenBer. RT, 1887/88, Bd. 3, Ani., Drucks.-Nr. 72, S. 392; Hatschek, Kommentar, S. 77. 78 Antrag des Abgeordneten Struckmann, StenBer. RT, 1887/88, Bd. 4, Ani., Drucks.-Nr. 190; Abstimmung darüber: StenBer. RT, 1887/88, Bd. 2, S. 1297 B. 79 So aber Zorn, Staatsrecht I, S. 581, mit dem Argument, die Anwendbarkeit des § 4 RWahlG 1869 sei Folge des „Inlandscharakters der Kolonieen" gewesen. Dagegen zutreffend Hatschek, Kommentar, S. 77: Die Wählbarkeit war ohnehin vom Wohnsitz unabhängig. 80 Hauschild, Staatsangehörigkeit, S. 35 („ein superfluum"); ihm zustimmend Laband, Staatsrecht II, S. 288 mit Fn. 2. 81 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. III. 2. sowie unten V. 2. 73
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unbefristet erhalten, § 6 Abs. 3 SchGG 1888.82 Da das passive Wahlrecht nicht vom Wohnsitz, sondern nur vom Staatsangehörigkeitsbesitz abhängig war,83 galt gleiches für die Wählbarkeit. Allein das aktive Wahlrecht blieb den Schutzgebietsangehörigen versagt, genauer: In den deutschen Kolonien lebende Deutsche waren zwar materiell, nicht aber formell wahlberechtigt, da sie über keinen Wohnsitz in einem Bundesstaat verfügten. 84 Ähnlich formulierte es in der Debatte zu § 6 Abs. 2 SchGG 1888 der Abgeordnete Meyer: Die Angehörigen der Schutzgebiete besäßen zwar theoretisch das aktive Wahlrecht, sie könnten es aber praktisch nicht ausüben, weil es nur von jemandem ausgeübt werden könne, der seinen Wohnsitz im Reichsgebiet genommen habe.85 Diese Ausführungen blieben indes nicht ohne Widerspruch. Der Abgeordnete v. Strombeck wandte ein, Absicht der Regierungsvorlage sei es gewesen, alle Rechte der Deutschen den Naturalisierten zu gewähren, worunter auch das aktive Wahlrecht zu verstehen sei. Dem Zwischenruf „Vorausgesetzt, daß sie in Deutschland wohnen" entgegnete er, die Kommission sei darüber einig gewesen, daß „der Aufenthalt in einem Schutzgebiete dem Aufenthalte in einem Bundesstaate gleich stehen" solle.86 Letztlich konnte er mit seiner Auffassung zwar nicht durchdringen. Immerhin war aber die Forderung nach Einräumung auch des aktiven Reichstagswahlrechts an außerhalb des Deutschen Reichs lebende Deutsche erstmals auf parlamentarischer Ebene in Erscheinung getreten.87
V. Exkurs: Gründe für die Unbedenklichkeit wahlrechtlicher Wohnsitzklauseln aus der Sicht des 19. Jahrhunderts An dieser Stelle erscheint es angezeigt, den Gang der Untersuchung für einen Moment zu unterbrechen und nach den Gründen zu fragen, die wahlrechtliche Wohnsitzklauseln aus der Sicht des 19. Jahrhunderts als unbedenklich erscheinen lassen mußten. Gerechtfertigt wird dieser Exkurs durch den Umstand, daß sich sowohl im Wahlrecht als auch im Staatsangehörigkeitsrecht zu Beginn des 20. Jahr82 Näher Hauschild, Staatsangehörigkeit, S. 57ff.; Hermann Hesse, Reichsangehörigkeit, S.42ff. 83 Vgl. oben l.Teil 2. Kap. III.2. 84 Ebenso v. Hoffmann, Kolonialrecht, S. 28; kritisch dazu v. Böckmann, Geltung, S. 183 mit Fn. 1. 85 StenBer. RT, 1887/88, Bd. 2, S. 1296 D. 86 StenBer. RT, ebd. Nach v. Böckmann, Geltung, S. 183 f., wäre gegen ein aktives Wahlrecht der Schutzgebietsangehörigen zwar „theoretisch" nichts einzuwenden gewesen, er meint aber, man müsse die „technische Schwierigkeit" anerkennen, die die Bildung von Wahlkreisen in den Schutzgebieten und ähnliche Maßnahmen bereitet hätten. 87 In der Literatur wird, soweit ersichtlich, diese Forderung in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs einzig von Weck, Deutschtum, S. 188, erhoben.
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hunderts Paradigmenwechsel mit Auswirkungen auf die hier untersuchte Thematik vollzogen haben. 1. Wahlrechtlicher Paradigmen Wechsel Der wahlrechtliche Paradigmenwechsel betraf die Frage nach der Rechtsnatur des Wahlrechts. War das Wahlrecht zunächst aus der angeborenen Gleichheit aller Menschen hergeleitet worden,88 stieß dieser naturrechtliche Begründungsansatz89 auf Seiten des Liberalismus als der herrschenden politischen Theorie des 19. Jahrhunderts auf strikte Ablehnung. „Das Stimmrecht ist keineswegs ein natürliches Recht der Individuen, sondern beruht lediglich auf der Einrichtung des Staats, welcher auf die (moralische) Tauglichkeit und die (geistige) Fähigkeit der Vertreter die Wähler Rücksicht zu nehmen veranlasst und die erforderlichen Garantien für zweckmässige Wahlen zu ordnen berechtigt ist", schreibt etwa Bluntschli.90 Noch im Jahr 1901 vertritt Georg Meyer die verbreitete Auffassung, das Wahlrecht sei eine „öffentliche Funktion"; die Gesetzgebung sei dazu befugt, das Wahlrecht „nach ihrem Ermessen" zu regeln, wobei „lediglich das Staatswohl als maßgeblich zu erachten" sei.91 Und Laband bezeichnet 1910 das Wahlrecht als einen bloßen „Reflex des Verfassungsrechts".92 Mit dieser „ganzheitlichen Auffassung" 93 vom Wahlrecht wurden eine Reihe von Beschränkungen gerechtfertigt, die nach heutigem Verständnis mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl eindeutig nicht mehr zu vereinbaren wären, namentlich der Wahlrechtsausschluß von Frauen94 sowie von Konkursschuldnern und Empfängern öffentlicher Armenunterstützung.95 Als besonders problematisch erwies sich dabei der Begriff des „Staatswohls", der in vielerlei Varianten zur Begründung für die jeweilige Versagung des Wahlrechts herangezogen wurde.96 Die Unbestimmtheit dieses Begriffs brachte es mit sich, daß trotz verfassungsrechtlich festgeschriebener Allgemeinheit der Wahl einzelne Personengruppen vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben. Wenn nun schon der Ausschluß ganzer Bevölkerungsgruppen vom Ermessen des Gesetzgebers gedeckt war, mußte dies erst recht für die Wohnsitzklauseln gelten, denn diese betrafen nicht eine bestimmte Schicht oder Gruppe, sondern alle 88
Vgl. Braunias, Wahlrecht II, S. 3 ff. m. w. N. Braunias, Wahlrecht II, S. 3 spricht von der „individualistischen Auffassung des Wahlrechts". 90 Bluntschli, Staatsrecht II, S. 70. 91 Sämtliche Zitate Georg Meyer, Wahlrecht, S. 411 f. m. w. N.; Nachweise auch bei Braunias, Wahlrecht II, S.6ff. 92 Laband, Staatsrecht I, S. 331; ebenso spricht Jellinek, System, S. 160, von „Reflexwirkung". 93 Braunias, Wahlrecht II, S. 6. 94 § 1 RWahlG 1849; § 1 RWahlG 1869. 95 § 2 Nr. 2 und 3 RWahlG 1849; § 3 Nr. 2 und 3 RWahlG 1869. 96 Zu den diversen Begründungsversuchen für den Ausschluß der genannten Personengruppen vgl. Thomas Spies , Schranken, S. 117 ff. m. w. N. 89
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Wahlberechtigten gleichermaßen. Ganz in diesem Sinne heißt es bei Ernst Cahn: „Mit dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts im herkömmlichen Sinne sind wohl verträglich gewisse Bedingungen für seine Ausübung, die, weil sie in der Regel wenigstens alle Berufsgruppen oder Klassen in ungefähr gleicher Weise treffen, nicht eigentlich den Charakter von Ausnahmebestimmungen tragen."97 Solange man das Wahlrecht als eine öffentliche Funktion begriff, die im Sinne des Staatswohls nach freiem Ermessen eingeschränkt werden konnte, mußten wahlrechtliche Wohnsitzklauseln daher in der Tat als unbedenklich erscheinen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts freilich begann sich die Auffassung von der Natur des Wahlrechts abermals zu wandeln. Nach und nach setzte sich die Auffassung durch, daß das Wahlrecht ein echtes subjektiv-öffentliches Recht ist.98 Verbunden mit der Einführung des Demokratieprinzips 1918/19" waren an die Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts fortan höhere Anforderungen zu stellen als bisher. Vollständig beseitigt wurden daher die Beschränkung des Wahlrechts auf Männer100 sowie die Ausschlußgründe des Konkurses und des Empfangs öffentlicher Armenunterstützung.101 Zugleich wurde das Wahlalter von bislang 25 auf nunmehr 20 Jahre herabgesetzt.102 Hierdurch vergrößerte sich die Zahl der Wahlberechtigten bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 von bis dahin 14,4 auf 37,4 Millionen.103 Auch die vom Wohnsitzprinzip ausgehende Ausschluß Wirkung wurde mehrfach abgemildert.104 2. Staatsangehörigkeitsrechtlicher Paradigmenwechsel Zu dem wahlrechtlichen kam ein Paradigmenwechsel im Staatsangehörigkeitsrecht hinzu. Wie bereits mehrfach angesprochen, war die Fortdauer der Staats- wie der Reichsangehörigkeit dergestalt vom Wohnsitz abhängig, daß ein zehnjähriger ununterbrochener Aufenthalt außerhalb des Deutschen Reichs bzw. seiner Schutzgebiete grundsätzlich zum Erlöschen derselben führte, § 21 Abs. 1 Satz 1 BuStAG i. V. m. § 6 Abs. 3 SchGG 1888. Vermeiden ließ sich der Verlust der Staatsangehö97 Ernst Cahn, in: Stengel/Fleischmann (Hrsg.), Wörterbuch III, S. 848 (849f.); Hervorhebungen im Original. Auch in der Frankfurter Nationalversammlung ist daraufhingewiesen worden, daß das Wohnsitzerfordernis keine persönliche, sondern eine rein äußerliche Bedingung sei (oben 1. Teil 1. Kap. III. 1.)· 98 Vgl. etwa Kelsen, Staatslehre, S. 152; Meyer!Anschütz, Lehrbuch, S. 345 f.; Stier-Somlo, Wahlrecht, S. 10ff.; vermittelnd Jellinek, System, S. 159ff.; zu weiteren Nachweisen vgl. Braunias, Wahlrecht II, S.8ff. 99 Unten 1. Teil 3. Kap. I. 100 §2 RWahlG 1918; Art. 22 Abs. 1 Satz 1 WRV; § 1 Abs. 1 RWahlG 1920; vgl. auch Böttger, Gedanken, S. 44ff.; Granzow, Wahlrecht, S. 15, 22 ff.; Alfred Schulze, Wahlrecht, S. 42. 101 Böttger, Gedanken, S. 62; Granzow, Wahlrecht, S. 15, 30ff. 102 §2RWahlG 1918; Art.22 Abs. 1 Satz 1 WRV; § 1 Abs. 1 RWahlG 1920, vgl. auchßtfrtger, Gedanken, S. 55ff.; Granzow,, Wahlrecht, S. 15, 19ff. 103 Zahlen nach Schanbacher, Wahlen, S. 53. 104 Näher unten 1. Teil 3. Kap. II. 3., 4.; IV. 1.
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1. Teil: Historische Entwicklung
rigkeit gem. § 21 Abs. 1 Satz 3 BuStAG nur durch die Eintragung in eine bei den Konsulaten geführte Matrikel,105 die zudem jährlich 106 erneuert werden mußte. § 21 BuStAG beinhaltete somit die widerlegliche Vermutung, daß bei zehnjährigem ununterbrochenem Auslandsaufenthalt eine endgültige Loslösung aus dem deutschen Staatsverband erfolgt war.107 Diese Regelung bildete ein Relikt des zuvor im Staatsangehörigkeitsrecht allgemeingültigen Territorialitätsprinzips (ius soli). m Angesichts dieser Rechtslage im Staatsangehörigkeitsrecht kann es kaum verwundern, wenn auch das aus der Staatsangehörigkeitfließende Wahlrecht vom Wohnsitz im Reichsgebiet abhängig gemacht wurde. Dabei soll hier nicht übersehen werden, daß die Rechtsfolgen bei Aufgabe des Inlandswohnsitzes in beiden Rechtsgebieten durchaus verschieden waren, denn das aktive (formelle) Wahlrecht erlosch sofort, die Staatsangehörigkeit hingegen erst nach Ablauf von zehn Jahren. Entscheidend kommt es hier aber auf den Grundsatz an: Wenn schon bei der Staatsangehörigkeit als der Grundvoraussetzung für den Genuß staatsbürgerlicher Rechte eine Einschränkung durch Inlandswohnsitz dem Grunde nach zulässig war, mußte dies erst recht auch für das Wahlrecht gelten. In der Praxis erwies sich die Erwartung des Gesetzgebers, mit der Eintragung in die Konsulatsmatrikel ein praktikables Instrument zur Erhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit geschaffen zu haben, als unzutreffend. Sei es aus Unkenntnis der Rechtslage, sei es aus persönlicher Nachlässigkeit, Tatsache ist, daß sich zahllose Auslandsdeutsche nicht in die Matrikel eintragen ließen mit der Folge, daß sie ihre Staatsangehörigkeit ohne oder sogar gegen ihren Willen verloren. Probleme erwuchsen hieraus vor allem dann, wenn die ehemals Deutschen keine neue Staatsangehörigkeit angenommen hatten - § 21 BuStAG machte sie dann zu Staatenlosen. Gleichzeitig trug ein infolge der Reichsgründung beträchtlich gewachsenes Nationalgefühl dazu bei, die Auslandsdeutschen stärker an das Mutterland zu binden und die gegenwärtige Rechtslage als unerträglich zu erscheinen zu lassen.109 Demgemäß wurde 105 Vgl. dazu § 12 des Reichsgesetzes vom 8. November 1867, betr. die Organisation der Reichskonsulate etc. (BGBl. S. 137). 106 Wilhelm Cahn, Staatsangehörigkeit, § 21 Anm. 14 m. w. N. 107 Diese Regelung war bei Schaffung des BuStAG keineswegs unumstritten, ja es wurde sogar in Zweiter Lesung ein Amendement angenommen, das den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nur bei Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit in Verbindung mit zehnjährigem Auslandsaufenthalt eintreten ließ, vgl. StenBer. RT NB, 1870, Bd. 1, S. 266ff.; (der dazugehörige Antrag ist abgedruckt a. a. O., Bd. 3, Ani., Drucks.-Nr. 45). In Dritter Lesung wurde die Amendierung jedoch wieder rückgängig gemacht, vgl. StenBer. RT NB, 1870, Bd. 2, S. 1080f. v.der Antrag abgedruckt a. a. O., Bd. 4, Ani., Drucks.-Nr. 192). 108 Zutreffend Manske, Entwicklung, S. 70; a. A. Lichterl H offmann, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 2: Das Bundes- und Staatsangehörigkeitsgesetz sei „ohne Einschränkung" dem Grundsatz des ius sanguinis gefolgt. Ausführlich zur Bedeutung des Territorialitätsprinzips im Staatsangehörigkeitsrecht des 17. und 18. Jahrhundert Grawert, Staat, S. 78ff. 109 Vgl. die Gesetzesbegründung des RuStAG, StenBer. RT, 1912, l.Anl.-Bd., Drucks.-Nr. 6, S. 16; ebenso der Bevollmächtigte des Bundesrats, Delbrück, StenBer. RT, 1912, Bd. 1, S. 250 C/D sowie der Abgeordnete v. Liebert, a. a. O., S. 271D. Vgl. auch Manske, Entwicklung, S. 72.
3. Kapitel: Weimarer Republik
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seit 1895 im Deutschen Reichstag in zahlreichen Anträgen eine Abänderung des § 21 BuStAG gefordert. 110 Petitionen von Organisationen Auslandsdeutscher kamen hinzu.111 Letztlich ließ aber eine Änderung bis zum Erlaß des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22. Juli 1913112 (im folgenden: RuStAG) auf sich warten, das grundsätzlich auch heute noch gültig ist. Der Gesetzgeber ersetzte hier die ZehnJahres-Frist des § 21 BuStAG durch die Regel, daß die deutsche Staatsangehörigkeit bei Auslandsaufenthalt nur im Falle des Erwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit auf Antrag erlischt (§ 25 RuStAG). Damit waren aus dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht die letzten Relikte des ius soli entfernt, es galt fortan das reine ius sanguinis. Im Wahlrecht wurde diese Abkehr vom ius soli nicht mitvollzogen. Indirekte Auswirkungen hatte die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts lediglich auf die Wählbarkeit, die ja nicht vom Wohnsitz abhängig war: Wahrend nach der alten Rechtslage das passive Wahlrecht bei Aufenthalt im Ausland - außer in den Schutzgebieten - zusammen mit der deutschen Staatsangehörigkeit nach Ablauf von zehn Jahren regelmäßig erlosch,113 blieb es fortan ohne Befristung bestehen. Die Sonderregel des § 6 Abs. 3 SchGG 1888 wurde damit gegenstandslos. 3. Kapitel Das Wahlrecht in der Weimarer Republik I. Historischer Hintergrund Die Novemberrevolution des Jahres 1918 brachte Deutschland das Ende der Monarchie und den Übergang zur Staatsform der Republik.114 Am 9. November übertrug der bisherige Reichskanzler, Prinz Max von Baden, angesichts der immer mehr um sich greifenden Unruhen die Regierungsgewalt auf den Führer der Mehrheitssozialisten, Friedrich Ebert.115 Mit diesem - verfassungswidrigen 116 - Schritt war der Boden der Reichsverfassung von 1871 verlassen; noch am selben Tag wurde von Phil110
Zu Nachweisen vgl. die Gesetzesbegründung des RuStAG, StenBer. RT, 1912, 1. Anl.Bd., Drucks.-Nr. 6, S. 15. 111 Vgl. etwa die Petition des Alldeutschen Verbands von 1896, StenBer. RT, 1895/97,3. Anl.Bd., Drucks.-Nr. 463, oder des Allgemeinen Deutschen Schulvereins von 1908, StenBer. RT, 1907/08, 8. Anl.-Bd., Drucks.-Nr. 754. 112 RGBl. S.583. 1,3 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. III. 2., IV. 114 Eingehend Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 674 ff.; Stern, Staatsrecht V, §128 VI 6 (S. 491 ff.). 115 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S.685ff.; Stern, Staatsrecht V, § 128 VI6d (S.495). 116 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S.695 f.; Stern, Staatsrecht V, § 128 Vl6dß (S. 496).
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1. Teil: Historische Entwicklung
ipp Scheidemann spontan die Republik ausgerufen. 117 Bereits am 12. November 1918 veröffentlichte die neue Regierung, der aus Vertretern von MSPD und USPD paritätisch gebildete „Rat der Volksbeauftragten", einen Aufruf „An das deutsche Volk"118, in dem unter anderem folgendes verkündet wurde: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen. Auch für die Konstituierende Versammlung, über die nähere Bestimmung noch erfolgen wird, gilt dieses Wahlrecht."
Die Ankündigung bereitete den Weg zur Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung und dem Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie entgegen der von der USPD favorisierten Räterepublik.119 Am 30. November 1918 wurde vom Rat der Völksbeauftragten die „Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (ReichsWahlgesetz)"120 (im folgenden: RWahlG 1918) erlassen, die sich selbst Gesetzeskraft beimaß (§ 26). Da allerdings schon die Übertragung der Regierungsgewalt durch den Prinzen Max von Baden der verfassungsrechtlichen Grundlage entbehrt hatte, konnte der Rat der Volksbeauftragten in Wirklichkeit keine verbindlichen Gesetze erlassen; er war auf die freiwillige Befolgung der von ihm geschaffenen Normen angewiesen.121 Erst im nachhinein wurde dieser Mangel geheilt, indem die Nationalversammlung alle vom Rat der Volksbeauftragten erlassenen Verordnungen „genehmigte".122 Auf der Grundlage der (mehrfach ergänzten) Wahlverordnung fanden am 19. Januar 1919 die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung statt. Sie brachten den sozialistischen Parteien nicht die von ihnen erwartete Stimmenmehrheit.123 Die Nationalversammlung nahm am 28. Februar 1918 die Beratungen über den vom Staatssekretär des Innern, Hugo Preuß, eingebrachten Verfassungsentwurf auf, 124 die sie am 31. Juli 1919 mit der Verabschiedung der „Verfassung des Deutschen Reichs"125 (im folgenden: WRV) abschloß.126 Im Anschluß hieran ging sie an die Schaffung eines neuen Reichswahlgesetzes. Die Beratungen standen allerdings 117 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S.690f.; Stern, Staatsrecht V, § 128 V I 6 d (S.495). 118 RGBl. S. 1303; vgl. dazu Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 732 ff. 119 Zur Auseinandersetzung zwischen MSPD und USPD vgl. Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 845 ff. 120 RGBl. S. 1345; Auszüge in DokAnh. A. VII. 1. 121 Vgl. Böttger, Gedanken, S. 1 mit Fn. 2; Granzow, Wahlrecht, S. 12; Alfred Schulze, Wahlrecht, S. 34. 122 § 1 des Übergangsgesetzes vom 4. März 1919, RGBl. S. 285. 123 Das Wahlergebnis ist abgedruckt bei: Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 1069. 124 StenBer. RT Bd. 326, S. 371 B. 125 RGBl. S. 1383; Auszüge in DokAnh. Α. VIII. 126 StenBer. RT Bd. 329, S. 2193 C.
3. Kapitel: Weimarer Republik
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bereits unter dem Eindruck des Kapp-Putsches vom 13. März 1920127 und erfolgten daher mit dem Ziel einer möglichst baldigen Abhaltung von Neuwahlen. Dementsprechend setzte man den Wahltermin überstürzt auf den 6. Juni 1920 an und begnügte sich mit der Verabschiedung eines im wesentlichen am Reichs wahlgesetz von 1918 orientierten Wahlgesetzes.128 Die Erwartung vieler Abgeordneter, daß das von ihnen geschaffene Wahlgesetz ohnehin bald wieder durch ein neues ersetzt werden würde,129 erfüllte sich allerdings nicht: Von wenigen Korrekturen abgesehen, blieb das Reichswahlgesetz vom 27. April 1920130 (im folgenden: RWahlG 1920) die gesamte Weimarer Republik hindurch nahezu unverändert in Geltung. II. Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts Im Gegensatz zu den bisherigen Wahlgesetzen enthielt das Reichswahlgesetz von 1918 nur mehr eine indirekte Wohnsitzklausel: Während gem. § 7 Abs. 1 RWahlG 1869 das Wahlrecht nur ausüben konnte, wer in einem Wahlbezirk „zur Zeit der Wahl seinen Wohnsitz" hatte, machte § 10 Abs. 1 RWahlG 1918 die Ausübung des Wahlrechts lediglich von der Eintragung in die Wählerliste abhängig. Erst aus § 9 Abs. 1 RWahlG 1918 ergab sich, daß in die Wählerlisten nur die im jeweiligen Stimmbezirk wohnhaften Wahlberechtigten einzutragen waren, wobei der Begriff „wohnhaft" ebenso auszulegen war wie „Wohnsitz" in § 7 Abs. 1 RWahlG 1869, also im Sinne von bürgerlich-rechtlichem Wohnsitz oder dauerndem Aufenthalt. 131 In Übereinstimmung mit den Vorgängergesetzen war die Wohnsitzklausel der §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 RWahlG 1918 als reines Ausübungserfordernis ausgestaltet, die Beschränkung des aktiven Wahlrechts erfolgte somit wiederum (lediglich) auf der Ebene des formellen Wahlrechts.132 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Das passive Wahlrecht (§ 5 RWahlG 1918) war nach wie vor nicht an den Wohnsitz gebunden.133 Infolge der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts 1913134 kam dem Inlandswohnsitz nun auch für die Aufrechterhaltung der Wählbarkeit keine Be127 Hierzu näher Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 44ff.; Stern, Staatsrecht V, § 129 V 3 b (S. 673 f.). 128 Vgl. Schanbacher, Wahlen, S. 85 f. 129 Vgl. die Ausführungen der Abgeordneten Eichhorn und Kempke, StenBer. RT Bd. 333, S. 5340 D und 5342 C. 130 RGBl. S. 627; Auszüge in DokAnh. Α. IX. 2. 131 Granzow, Wahlrecht, S. 44f.; Alfred Schulze, Wahlrecht, S. 64f. 132 Vgl. Granzow, Wahlrecht, S. 16, 38; Alfred Schulze, Wahlrecht, S. 62f. 133 Böttger, Gedanken, S. 63; Alfred Schulze, Wahlrecht, S. 98. 134 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. V. 2.
1. Teil: Historische Entwicklung
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deutung mehr zu, da die Staatsangehörigkeit und mit ihr das passive Wahlrecht bei Aufenthalt im Ausland ohne zeitliche Befristung bestehen blieben. 3. Wahlbeteiligung der in Basel stationierten deutschen Eisenbahner Wie bereits erwähnt, erfuhr das Reichs Wahlgesetz von 1918 eine Reihe von Abänderungen und Ergänzungen. Eine davon, die Verordnung vom 28. Dezember 1918135, bestimmte in ihrem Art. II, daß wahlberechtigte Beamte und Arbeiter in Staatsbetrieben, die ihren dienstlichen Wohnsitz im Ausland hätten, sowie die wahlberechtigten Angehörigen ihres Hausstandes auf Antrag in die Wählerliste der zunächstgelegenen deutschen Gemeinde einzutragen seien, auch wenn die Auslegungsfrist verstrichen sei. Durch diese Regelung, die als Vorgänger des heutigen § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG gelten darf, 136 wurde erstmals einer bestimmten Gruppe von Auslandsdeutschen die Möglichkeit zur Wahlteilnahme gegeben. Ihre Entstehung verdankt die Verordnung einer Petition von in Basel stationierten deutschen (badischen) Eisenbahnbeamten.137 Diese hatten sich an den Rat der Volksbeauftragten gewandt mit der Bitte, sie an den Wahlen zur Nationalversammlung teilhaben zu lassen. Dazu meinte Preuß in der Kabinettssitzung vom 26. November 1918, „ideale Gründe" sprächen zwar dafür, der Bitte zu entsprechen, praktisch sei dies aber leider nicht möglich.138 Nachdem jedoch in der bayerischen Wahlordnung vom 7. Dezember 1918 den Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz die Möglichkeit eingeräumt worden war, in der „nächstgelegenen bayerischen Gemeinde" ihr Wahlrecht auszuüben,139 wurde diese Regelung auf Reichsebene übernommen.140 Für die im Kanton Basel-Stadt wohnhaften badischen Staatsangehörigen wurden daher in Lörrach-Stetten zwei Wahllokale eingerichtet.141 Die Eisenbahner gaben sich freilich mit dieser Regelung nicht zufrieden. Um die Kontrollschwierigkeiten beim Grenzübertritt zu vermeiden, ersuchten sie das eidgenössische Polizei- und Justizdepartement, ihnen die Aufstellung einer Wahlurne in einem Raum des Baseler Bahnhofs zu gestatten. Dieses Ersuchen wie seine - abschlägige - Verbescheidung lösten in der Schweiz ein lebhaftes Presseecho aus, in dem das Ansinnen der badischen Eisenbahner überwiegend auf harsche Ablehnung stieß.142 135
RGBl. S. 1479; Auszüge in DokAnh. A. VII. 2. So auch Thomas Spies , Schranken, S. 56. 137 Der badische Bahnhof in Basel war als deutscher „Auslandsbahnhof4 zwischen 1853 und 1855 auf schweizerischem Territorium errichtet worden. Im Zeitpunkt der Petition war er allerdings kriegsbedingt geschlossen, erst am 14. September 1919 wurde er wiedereröffnet (näher Kuntzemiiller, Archiv für Eisenbahnwesen 64 [1941], 551 [565f.]). 138 Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus, 1. Reihe, Bd. 6/1, S. 221 f. 139 § 4 Abs. 2 der Verordnung für den neuen bayerischen Landtag, GVB1. S. 1257. 140 Auf die Vorbildfunktion der bayerischen Wahlordnung weist hin: Kaisenberg, Der Auslanddeutsche 1920, 105 (106). 141 Mitgeteilt in: Der Auslanddeutsche 1919,46. 142 Vgl. die in: Der Auslanddeutsche 1919, 46f. und 274 wiedergegebenen Pressestimmen des Badener Tagblatt vom 15. Januar 1919, des Berner Tagblatt \om 16. Januar 1919 sowie der 136
3. Kapitel: Weimarer Republik
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4. Wahlbeteiligung der deutschen Osttruppen Probleme bereitete dem Rat der Volksbeauftragten weiterhin die Wahlbeteiligung der deutschen Osttruppen. In der Erwartung, daß die Truppenkörper in geordneter Weise zurückkehren würden,143 hatte man sich zunächst in § 9 Abs. 5 RWahlG 1918 die Möglichkeit einer Nachwahl vorbehalten. Weitere Erleichterungen schufen die Verordnungen vom 28. Dezember 1918144 sowie vom 13. Januar 1919145: Den Angehörigen des Heeres und der Marine, die vom 7. Januar 1919 an aus dem Felde heimkehrten, wurde die Möglichkeit gegeben, ohne Eintragung in eine Wählerliste aufgrund einer Bescheinigung am Ort ihres (einfachen) Aufenthalts zu wählen; die zur Bewachung von Wahlräumen kommandierten Soldaten konnten das Wahlrecht an dem Ort ausüben, an den sie abkommandiert waren. Trotz all dieser Erleichterungen sah sich der Rat der Volksbeauftragen jedoch am 14. Januar 1919 mit dem Problem konfrontiert, daß sich nach wie vor zwischen 150 000 und 200 000 Soldaten im Osten befanden.146 Daraufhin wurde mit Verordnung vom 21. Januar 1919147 bestimmt, daß die Angehörigen der im Osten stehenden Truppenverbände am 2. Februar 1919 unter Leitung der örtlichen Soldatenräte zwei Abgeordnete wählen dürften, soweit sie sich noch außerhalb des Reichsgebiets befänden. In den nachträglich erlassenen Verordnungen zum Reichs Wahlgesetz von 1918 wurde somit das Wohnsitzprinzip erstmals zugunsten einzelner Personengruppen gänzlich aufgegeben: Für Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz wie auch für die zurückgekehrten Soldaten wurde das sog. Aufenthalterstimmrecht eingeführt, die noch im Osten stehenden Truppenverbände dagegen durch Nachwahl im Ausland an den Wahlen zur Nationalversammlung beteiligt. Freilich ging der Verordnungsgeber über solche partiellen Durchbrechungen des Wohnsitzprinzips nicht hinaus, der Ausschluß der Auslandsdeutschen von den Wahlen war also nach wie vor die Regel, ihre Wahlbeteiligung die Ausnahme. I I I . Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 1. Allgemeinheit der Wahl In Übereinstimmung mit dem Aufruf vom 12. November 1918 enthielt Art. 22 Abs. 1 Satz 1 WRV für die Reichstags wählen die Garantie „allgemeiner, gleicher, unBasler Nachrichten (ohne Datumsangabe); anders nur die Schweizer freie Presse vom 16. Januar 1919. 143 So Preuß in der Kabinettssitzung vom 14. Januar 1919, vgl. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus, 1. Reihe, Bd. 6/II, S. 234. 144 Vgl. Fn. 135. 145 RGBl. S. 32; Auszüge in DokAnh. A. VII. 3. 146 Auskunft des Kriegsministers Reinhardt, vgl. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus, 1. Reihe, Bd. 6/II, S. 234. 147 RGBl. S. 93; Auszüge in DokAnh. A. VII. 4.
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1. Teil: Historische Entwicklung
mittelbarer und geheimer Wahl für alle zwanzig Jahre alten Männer und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl". Damit waren die Wahlrechtsgrundsätze wie schon in der Reichsverfassung von 1871 verfassungsrechtlich verankert. Widerstand hiergegen gab es in der Nationalversammlung nicht.148 Allein an der Frage, ob die Festlegung des Wahlalters Aufgabe der Verfassung oder aber des Wahlgesetzes sei, entzündeten sich Kontroversen,149 auf die hier nicht näher einzugehen ist. 2. Wohnsitzbindung des Wahlrechts Was die Frage nach dem Verhältnis von Wahlrecht und Wohnsitz angeht, so lassen sich den Plenarprotokollen der Nationalversammlung keine Äußerungen entnehmen. Allein im sog. Verfassungsausschuß, der den Verfassungsentwurf beriet, bevor er ins Plenum gelangte, kam das Thema zur Sprache. Der Abgeordnete Schulz berichtete hier von Petitionen aus den Reihen der Kolonialdeutschen mit dem Ziel, Vertreter in den Reichstag entsenden zu dürfen. Schulz meinte hierzu, dies seien Dinge, die man der Zukunft werde überlassen müssen, „da wir nicht wissen, was aus unsern Kolonien wird." 150 In derselben Richtung äußerte sich Reichsminister Preuß: Über die Eingaben der Kolonialdeutschen lasse sich reden, er glaube aber, man solle erst einmal abwarten, ob und welche Kolonien Deutschland behalten werde.151 Es ist dies eine Haltung, die bei den Beratungen des Reichs Wahlgesetzes von 1920 noch deutlicher zutage treten wird: Aufgrund der aus der militärischen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg resultierenden Unsicherheiten begnügte sich der Verfassungsausschuß in der Frage des Wahlrechts für Kolonialdeutsche zunächst mit einem „noch nicht". Dies bedeutet aber keineswegs, daß man den Kolonialdeutschen das Wahlrecht dauerhaft hätte vorenthalten wollen, denn die im Ausschuß geltend gemachten Bedenken waren temporärer und nicht prinzipieller Natur. IV. Reichswahlgesetz vom 27. April 1920 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts Die Beschränkung des aktiven Wahlrechts durch Wohnsitz erfolgte im Reichswahlgesetz vom 27. April 1920152 (im folgenden: RWahlG 1920) grundsätzlich wie in seinem Vorgängergesetz durch eine „indirekte" Wohnsitzklausel: Gem. § 3 RWahlG 1920 war die Ausübung des Wahlrechts von der Eintragung in eine Wählerliste oder Wahlkartei bzw. dem Besitz eines Wahlscheins abhängig; erst aus § 11 148 Vgl. die Äußerung des Abgeordneten Schulz im Verfassungsausschuß, an den genannten Grundsätzen werde „in diesem Gremium wohl nicht gerüttelt werden" (StenBer. RT Bd. 336, Ani., Drucks.-Nr. 391, S. 240). 149 Dazu näher Preuß, Reich, S. 276f. 150 StenBer. RT Bd. 336, Ani., Drucks.-Nr. 391, S. 241. 151 StenBer. RT Bd. 336, Ani., Drucks.-Nr. 391, S. 242. 152 RGBl. S. 627; Auszüge in DokAnh. Α. IX. 2.
3. Kapitel: Weimarer Republik
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Abs. 1 RWahlG 1920 ergab sich, daß in die Wählerlisten und Wahlkarteien nur die im jeweiligen Wahlbezirk wohnhaften Wähler aufzunehmen waren, wobei unter „wohnhaft" wiederum bürgerlich-rechtlicher Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt zu verstehen waren.153 Freilich blieben die Durchbrechungen, die das Wohnsitzprinzip bereits in den Änderungsverordnungen zum Reichs Wahlgesetz von 1918 erfahren hatte, auch auf das neue Wahlrecht nicht ohne Auswirkungen. Die Sonderbestimmung zugunsten von Staatsdienern im Ausland154 fand als § 11 Abs. 2 RWahlG 1920 Aufnahme in das neue Wahlgesetz, allerdings unter Beschränkung auf Staatsdiener mit grenznahem dienstlichem Auslandswohnsitz. In der Gesetzesbegründung wurde ausdrücklich auf die „in ausländischen Eisenbahngrenzorten (z.B. in Kufstein, Eger, Salzburg) stationierten deutschen Bahnbeamten und -Arbeiter" verwiesen, die bisher von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch hätten machen können, für die nun aber eine Möglichkeit geschaffen sei, ihr Wahlrecht auszuüben.155 Auch die Sonderbestimmung, daß die aus dem Feld zurückgekehrten Soldaten aufgrund einer „Bescheinigung" am Ort ihres einfachen Aufenthalts wählen durften,156 fand ihren Niederschlag im neuen Wahlgesetz,157 allerdings in einer Form, die weit über den ursprünglichen Anwendungsbereich hinausging. Die auf der Grundlage von § 41 RWahlG 1920 ergangene Reichs Wahlordnung vom 1. Mai 1920158 (im folgenden: RWahlO 1920) bestimmte in ihrem § 5, daß ein Wähler unter folgenden Voraussetzungen auf Antrag mit einem sog. „Wahlschein" zu versehen sei: „1. wenn er in Ausübung des Berufs (...) am Wahltag außerhalb seines Wohnorts sich aufhält (...); 2. wenn er am Wahltag zu Kur- oder Erholungszwecken außerhalb seines Wohnorts sich aufhält; 3. wenn er infolge eines körperlichen Leidens oder Gebrechens in seiner Bewegungsfähigkeit behindert ist."
Als Berufsgruppen im Sinne von § 5 Nr. 1 RWahlO 1920 waren unter anderem aufgeführt: Schiffer, Flößer, Bahn- und Postbedienstete, Geschäftsreisende und Wahlhelfer. Ferner ergab sich aus § 6 RWahlO 1920 die Möglichkeit, bei Wohnsitzverlegung von einem Wahlbezirk in einen anderen nach Ablauf der Frist zur Eintragung in die Wählerliste oder Wahlkartei sich einen Wahlschein ausstellen zu lassen. Zur Begründung dieser Neuregelung heißt es in den Gesetzesmaterialien, bisher seien „viele Wähler dadurch um ihr Wahlrecht gekommen, daß sie am Tage der Wahl von ihrem Wohnort abwesend waren und daher von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen konnten. (...) Diese sollen künftig einen Wahlschein sich beschaffen können, d. h. 153 154 155 156 157 158
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v.Jan, RWahlG 1924, S. 34; Kaisenberg/v. Welser, RWahlG 1920, S. 58. Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. II. 3. StenBer. RT Bd. 342, Ani., Drucks.-Nr. 2490, S. 2757. Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. II. 4. Auf die Vorbildfunktion weisen hin: Kaisenberglv. Welser, RWahlG 1920, S.45. RGBl. S. 713; Auszüge in DokAnh. Α. IX. 3.
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1. Teil: Historische Entwicklung
eine Bescheinigung, wonach der Inhaber, der in die Wahlerliste oder Wahlkartei seines Wohnorts eingetragen war und dort wegen Antritts der Reise gestrichen worden ist, an einem beliebigen Orte wählen kann. Die Kontrolle wird dadurch ausgeübt werden, daß der Schein bei der Stimmabgabe abgenommen wird." 159 Mit diesen Neuerungen wurde die vom Wohnsitzprinzip ausgehende Ausschlußwirkung ein weiteres Mal erheblich abgeschwächt. Während das Reichswahlgesetz von 1918 lediglich zugunsten der heimgekehrten Soldaten den einfachen Aufenthalt als Wahlrechtsausübungsvoraussetzung genügen ließ und ansonsten am Wohnsitz bzw. dauernden Aufenthalt festhielt, weitete der Gesetzgeber von 1920 das Aufenthalterstimmrecht auf große Teile der inländischen Bevölkerung aus. Den Auslandsdeutschen hingegen blieb die Möglichkeit, zumindest bei (einfachem) Aufenthalt im Inland mitwählen zu dürfen, nach wie vor versagt. Die §§ 5, 6 RWahlO 1920 wurden später in leicht geänderter Formulierung direkt dem Reichswahlgesetz eingefügt, vgl. § 12 Abs. 1 der Neubekanntmachung des Reichs Wahlgesetzes vom 6. März 1924160 (im folgenden: RWahlG 1924). Dabei wurden zugleich die Anwendungsfälle der Wahlscheinerteilung ausgeweitet (Abs. 2). Diese Fälle betrafen allerdings nicht das Aufenthalterstimmrecht und bleiben hier deshalb unberücksichtigt. 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Wie in den Vorgängergesetzen war das passive Wahlrecht auch im Reichswahlgesetz von 1920 vom Wohnsitz unabhängig, § 4 RWahlG 1920.161 3. Pläne zur Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen 1919/20 Die partielle Beteiligung von Auslandsdeutschen an den Wahlen zur Nationalversammlung162 blieb nicht ohne Wirkung auf die Beratungen zum neuen Wahlgesetz. Sie führte dazu, daß die Frage nach dem Aktivwahlrecht der Auslandsdeutschen erstmalig nicht mehr für nur einzelne Personengruppen, sondern auf einer generellen Basis diskutiert wurde. Den ersten Schritt in dieser Richtung unternahm das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart. Im Januar 1919 veröffentlichte es ein Preisausschreiben über „die Frage der Wahlfähigkeit von Auslanddeutschen, die im Besitze einer deutschen Staatsangehörigkeit sind, und zwar auch solcher, die vielleicht auch noch eine zweite Staatsangehörigkeit besitzen, sowohl nach ihrer völkerrechtlichen wie auch nach ihrer staats159
StenBer. RT Bd. 342, Ani., Drucks.-Nr. 2490, S. 2754. RGBl. S. 159; Auszüge in DokAnh. Α. IX. 4.; zuvor schon § 1 la Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Reichswahlgesetzes vom 31. Dezember 1923, RGBl. 1924 S. 1. 161 Kaisenberg/v. Welser, RWahlG 1920, S.46; Kaisenberg, RWahlG 1924, S. 39. 162 Vgl. oben l.Teil 3. Kap. II.3.,4. 160
3. Kapitel: Weimarer Republik
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rechtlichen Seite" . Von den eingegangenen 15 Arbeiten wurden zwei gemeinsam mit dem ersten und zweiten Preis ausgezeichnet und zusammen mit zwei weiteren Arbeiten veröffentlicht. 164 Sämtliche der vier veröffentlichten Arbeiten kamen zu dem Ergebnis, daß die Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen sowohl staats- als auch völkerrechtlich zulässig sei, wobei die Vorschläge zur praktischen Umsetzung im einzelnen differierten. 165 In dieselbe Richtung zielte eine Petition von knapp 1000 in Spanien ansässigen Deutschen, die sich im Juli 1919 an die Nationalversammlung wandten mit der Bitte, „unter größtmöglicher Beschleunigung ein vorläufiges Gesetz [zu] erlassen, nach dem alle deutschen Staatsbürger, ungeachtet ihres zeitweiligen Aufenthaltsorts (...) die Möglichkeit erhalten, ihr Wahlrecht praktisch zu betätigen."166 Die Nationalversammlung überwies diese Petition der Reichsregierung als Material.167 Im Reichsministerium des Innern wurde die Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes nur zögerlich in Angriff genommen.168 Am 19. Januar 1920 endlich legte man dem Kabinett drei Vorentwürfe (bezeichnet als Entwürfe Α, Β und C) vor, die auch in die Öffentlichkeit gelangten.169 Verwirklicht wurde von ihnen im späteren Reichs Wahlgesetz 1920 der Entwurf C, allerdings unter einer Reihe von Abänderungen. Allen Entwürfen gemeinsam war ein Abschnitt „IV. Wahl der Auslanddeutschen".170 Dieser sah nach dem Vorbild des norwegischen Wahlrechts171 vor, daß die Auslandsdeutschen ihr Wahlrecht durch Einsendung eines Stimmzettels beim Reichswahlleiter sollten ausüben können, wobei der Stimmzettel zum Zweck der Einsendung dem zuständigen deutschen Konsul zu übergeben war (§ 38). Das gesamte Ausland bildete einen einzigen Wahlkreis (§ 35 Abs. 2), in dem so viele Abgeordnete gewählt wurden, wie gültige Stimmen durch 60 000 teilbar waren (§ 37 Abs. 1, insofern übereinstimmend mit der Regelung für das Inland in § 32 Satz 1 RWahlG 1920). In der Begründung hieß es, Ziel sei gewesen, „die Auslandwahlgeschäfte soweit wie irgend möglich in das Inland zu verlegen". Eigentliche Wahlhandlungen im Ausland wie Einrichtung von Wahlbüros, Stimmabgabe vor Wahlvorständen, Stimmzählung durch Wahlausschüsse etc. müßten „aus Völker- und staatsrechtlichen Rücksichten auf das Ausland" unterbleiben, da dieses die Ausübung des hei163
Der Auslanddeutsche 1919,46. Der Auslanddeutsche 1919, 378. 165 Brode/Willms-Bonn/Kurtzig/Wohl, Wahlrecht, S. 1 ff./113ff./239ff./289ff. 166 StenBer. RT Bd. 343, Ani., Drucks.-Nr. 2865, S. 3217. 167 StenBer. RT Bd. 333, S. 5684 D. 168 Schanbacher, Wahlen, S. 83. 169 Schanbacher, Wahlen, S. 84 m. w. N.; vgl. auch Kaisenberg Λ DJZ 1920 Sp. 220f.; ders. y RPrVBl. Bd. 41 (1919/20), 203 f. sowie ders. y Der Auslanddeutsche 1920, 105 ff. 170 Vgl. den später der Nationalversammlung zugeleiteten Entwurf eines Reichswahlgesetzes vom 27. März 1920, StenBer. RT Bd. 342, Ani., Drucks.-Nr. 2490, S. 2729; Auszüge in DokAnh. Α. IX. 1. 171 StenBer. RT Bd. 342, Ani., Drucks.-Nr. 2490, S. 2758. 164
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1. Teil: Historische Entwicklung
matlichen Wahlrechts auf fremdem Boden als Eingriff in die eigene Souveränität ansehen würde.172 Die Reaktion der Presse auf die Entwürfe war geteilt. Uneingeschränkt begrüßt wurde das Wahlrecht der Auslandsdeutschen in Stellungnahmen des Schwäbischen Merkur 173 und der Täglichen Rundschau174. Skeptischer äußerte sich schon das Hamburger Fremdenblatt, das auf praktische Probleme wie auch auf die Möglichkeit politischer Schwierigkeiten infolge von Wahlagitation im Ausland hinwies.175 Am weitesten ging die Ablehnung in der Frankfurter Zeitung. Zwar räumte der Kommentator ein, daß es „viel mehr noch als bisher notwendig und wünschenswert erscheint, den inneren Zusammenhang der im Auslande wohnenden Reichsdeutschen mit ihrem Vaterlande zu pflegen und zu festigen." Er gab aber zu bedenken, daß die Stimmabgabe bei den Auslandsdeutschen „ohne ausreichende Kenntnis der politischen Lage des Heimatlandes" sowie „ohne das unmittelbare Lebensinteresse an der Führung der Staatsgeschäfte" erfolge. Mit Blick auf die Außenpolitik mahnte er, eine in „Presse, Vereinen und Versammlungen intensiv betriebene Wahlagitation" würde eine „Summe von Beunruhigung" zum Schaden der deutschen Politik hervorrufen. 176 Dessen ungeachtet wurde in der Kabinettssitzung vom 27. Februar 1920 der Entwurf C genehmigt. Bedenken wurden allerdings auch hier von verschiedenen Seiten gegen die Gestaltung des Auslandsdeutschenwahlrechts erhoben (genaueres ist dem Kabinettsprotokoll nicht zu entnehmen), jedoch einstimmig zurückgestellt, um Änderungsvorschläge des Reichsrats und der Nationalversammlung abzuwarten.177 Die Beratungen in der Nationalversammlung erfolgten, wie bereits erwähnt,178 unter denkbar ungünstigen Bedingungen. Der Kapp-Putsch nötigte zu einer alsbaldigen Abhaltung von Neuwahlen. Deshalb wurden etliche Abweichungen vom bisherigen Wahlrecht aus dem Entwurf C entfernt, insbesondere die neue Wahlkreiseinteilung gestrichen.179 Nicht anders erging es dem IV. Abschnitt. Der Abgeordnete Katzenstein erklärte als Berichterstatter des sog. Achten Ausschusses, man habe sich „angesichts der drängenden Zeit und auch mit Rücksicht auf gewisse Schwierigkeiten, die sich gerade jetzt noch für unsere Landesgenossen im Ausland ergeben könnten," nicht in der Lage gesehen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Wahlrecht für Auslandsdeutsche zu schaffen. 180 Der Ausschuß stellte jedoch den Antrag, die Reichsre172
StenBer. RT ebd. Schwäbischer Merkur vom 29. Januar 1920 (Morgenblatt), S. 1. 174 Tägliche Rundschau vom 27. Januar 1920, S. 1 f. 175 Hamburger Fremdenblatt vom 30. Januar 1920 (Abend-Ausgabe), S. 1. 176 Sämtliche Zitate in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 26. Januar 1920 (Abendblatt), S. 1; vgl. dazu auch die Zuschrift eines Auslandsdeutschen im Morgenblatt vom 2. Februar 1920, S. 1 sowie den Kommentar im Morgenblatt vom 3. April 1920, S. 1 f. 177 Akten RK, WR, II, S. 618. 178 Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. I. 179 Schanbacher, Wahlen, S. 85. 180 StenBer. RT Bd. 333, S. 5331 D; in demselben Sinne auch die Stellungnahme des Abgeordneten Brodauf a. a. O. S. 5338 D. 173
3. Kapitel: Weimarer Republik
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gierung zu ersuchen, „die Ausgestaltung eines solchen Wahlrechts in die Wege zu leiten, sobald die Durchführung möglich ist"181. Die Nationalversammlung nahm diesen Antrag an182 und verabschiedete das neue Reichswahlgesetz am 23. April 1920 einstimmig in Dritter Lesung.183 Aufgrund seiner einstimmig erfolgten Annahme, die ohne weiteres auch den Anforderungen einer Verfassungsänderung genügt hätte, wurde dem Reichswahlgesetz von 1920 zu Zeiten der Weimarer Republik von einigen Autoren die Bedeutung einer „authentischen Interpretation des Art. 22", insbesondere der darin enthaltenen Wahlrechtsgrundsätze beigemessen.184 Selbst wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt, darf man aus dem Fehlen von Bestimmungen zum Wahlrecht der Auslandsdeutschen jedenfalls nicht den Schluß ziehen, die Nationalversammlung habe den Auslandsdeutschen das Wahlrecht prinzipiell nicht gewähren wollen. Vielmehr wurde die Aufnahme der entsprechenden Bestimmungen nur durch die damaligen innen- wie außenpolitischen Verhältnisse verhindert. Indem die Nationalversammlung der Reichsregierung auftrug, das Versäumte so bald als möglich nachzuholen, brachte sie sogar eindeutig ihren Willen zum Ausdruck, die Auslandsdeutschen an den Wahlen zum Reichstag teilhaben zu lassen. Freilich wurde die von ihr gestellte Aufgabe - jedenfalls zu Zeiten der Weimarer Republik - von keiner der nachfolgenden Regierungen verwirklicht. 4. Die Notverordnung vom 2. Februar 1933 Zwei Tage nach der Machtergreifung Hitlers, am 1. Februar 1933, wurde der erst vor kurzem gewählte Reichstag von Reichspräsident Hindenburg - wenn auch widerstrebend185 - abermals aufgelöst, „damit das deutsche Volk durch Wahl eines neuen Reichstags zu der neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nimmt."186 Am darauffolgenden Tag erließ Hindenburg auf der Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV eine Notverordnung187 zur Abänderung des Reichswahlgesetzes von 1924, in der die Möglichkeit zur Erteilung eines Wahlscheins auf die Fälle ausgeweitet wurde, daß jemand „Auslanddeutscher ist und sich am Wahltag im Inland aufhält" oder „zur Besatzung von See- oder Binnenschiffen gehört und für keinen festen Landwohnsitz polizeilich gemeldet ist", wobei als Auslandsdeutsche auch Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz galten. Daneben enthielt die Notverordnung Maßnahmen zur Bekämpfung von Splitterparteien. Diese Änderung des 181
StenBer. RT Bd. 343, Ani., Drucks.-Nr. 2717, S. 2984. StenBer. RT Bd. 333, S. 5362 C. 183 StenBer. RT Bd. 333, S. 5374f. 184 Anschütz, WRV, Art. 22, S. 187 mit Fn. 3; Heller, Gleichheit, S. 6ff. m. w. N. Möglich war dies nur, weil die klassische deutsche Staatsrechtslehre sog. stillschweigende Verfassungsänderungen für zulässig hielt (hierzu Dreier, in: Dreier [Hrsg.], GG, Art. 791 Rn. 16ff. m. w. N.). 185 Vgl. Dorpalen, Hindenburg, S. 422. 186 Verordnung vom 1. Februar 1933, RGBl. S.45. 187 Notverordnung vom 2. Februar 1933, RGBl. S.45; Auszüge in DokAnh. Α. IX.7. 182
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1. Teil: Historische Entwicklung
Wahlrechts, die jedenfalls für die noch als „halbfrei" 188 zu bezeichnenden Wahlen vom 5. März 1933 galt, ist in Rechtsprechung und Lehre teilweise überhaupt nicht zur Kenntnis genommen189 oder fehlinterpretiert 190 worden. Lediglich Henkel,191 Schanbacher192 und Wiederkehr193 geben ihren Inhalt korrekt wieder. Durch die Notverordnung vom 2. Februar 1933 wurde das Aufenthalterstimmrecht, das gem. § 12 Abs. 1 RWahlG 1924 bereits in weitem Umfang zugunsten der inländischen Bevölkerung galt, auf die Auslandsdeutschen ausgedehnt. Hiermit wurde zum ersten Mal eine Regelung geschaffen, die nicht nur einzelnen Personengruppen, sondern allen Auslandsdeutschen die Teilnahme an den Reichstags wahlen gestattete, wenngleich einschränkend hinzugefügt werden muß, daß die Art und Weise der Beteiligung im Vergleich zu den Plänen von 1920 als die weniger effektive bezeichnet werden muß, da eine Reise allein zum Zweck der Stimmabgabe wohl nur für die im angrenzenden Ausland ansässigen Deutschen in Frage kam.194 Vom rechtlichen Standpunkt ändert dies aber nichts daran, daß durch die Notverordnung vom 2. Februar 1933 erstmalig in Deutschland ein umfassendes Wahlrecht für Auslandsdeutsche verwirklicht wurde. Freilich wirft die Tatsache, daß diese Notverordnung sogar vom Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde, die Frage auf, ob das Gericht sie nicht möglicherweise bewußt ignoriert hat, weil es in ihr einen Ausdruck der nationalsozialistischen Ideologie erblickte. In diese Richtung scheint zunächst zu deuten, daß die NSDAP (bzw. in der Zeit ihres Verbots die Nationalsozialistische Freiheitspartei) von der 2. bis 5. Wahlperiode an einen stets gleichlautenden Antrag in den Reichstag einbrachte, der darauf zielte, daß „1. den Reichsdeutschen im Ausland die Ausübung des Reichswahlrechtes ermöglicht wird, 2. die in geschlossenen deutschen Siedlungsgebieten im Ausland lebenden Volksgenossen deutschen Stammes, jedoch fremder Staatsangehörigkeit, insbesondere in Österreich, in der Tschecho-Slowakei und in den durch das Versailler Diktat gewaltsam von uns getrennten Gebieten eine Vertretung im Deutschen Reichstag erhalten."195
188
Bracher, in: Beioff (Ed.), Tyranny, S. 3. BVerfGE 36, 139 ff. 190 Thomas Spies , Schranken, S. 56 sieht in ihr eine Aufgabe des Grundsatzes aus § 11 Abs. 2 RWahlG 1924, wonach nur Staatsdiener mit Wohnsitz im grenznahen Ausland wählen konnten; diese Regelung sei nun „auf nicht grenznahe Gebiete ausgedehnt" worden. Die Notverordnung galt indes nicht nur zugunsten von Staatsdienem, sondern zugunsten aller Auslandsdeutschen. Wenn es in der Notverordnung hieß, als Auslandsdeutsche gälten auch Reichsangehörige, die im Ausland als Staatsdiener angestellt seien, so wurde damit lediglich klargestellt, daß § 11 Abs. 2 RWahlG 1924 gegenüber dem Aufenthalterstimmrecht der Auslandsdeutschen kein Anwendungsvorrang zukommen sollte. 191 Henkel, AöR 99 (1974), 1 (10f.). 192 Schanbacher, Wahlen, S. 148. 193 Wiederkehr, Staat, S. 137. 194 Vgl. dazu den Bericht über die Bereitstellung von Sonderzügen für Deutsche aus der Tschechoslowakei, Österreich, der Schweiz, Holland etc. in: Der Auslanddeutsche 1933,187. 195 Anträge vom 25. August 1924, StenBer. RT Bd. 383, Ani., Drucks.-Nr. 466; vom 13. Juli 1925, StenBer. RT Bd. 403, Ani., Drucks.-Nr. 1166; vom 16. November 1928, StenBer. RT 189
3. Kapitel: Weimarer Republik
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Dieser Antrag, dessen aggressiv-expansionistischer Charakter unverkennbar ist, gelangte zweimal zur Abstimmung. Beide Male wurde er abgelehnt.196 Schanbacher schreibt ihn dem Bereich der politischen Agitation zu.197 Verglichen mit diesem Antrag fällt nun allerdings auf, daß die Notverordnung vom 2. Februar 1933 jeglichen aggressiven Charakter vermissen läßt: Die Wahlhandlung ist vollständig in das Inland verlegt, das Wahlrecht nur Reichsangehörigen und nicht etwa auch Deutschstämmigen im Ausland gewährt.198 Dies legt die Vermutung nahe, daß die Notverordnung vom 2. Februar 1933 auf andere Vorbilder zurückgehen muß, eine Vermutung, die bei Sichtung des zugänglichen Quellenmaterials bestätigt wird. Bereits die Motive des Entwurfs zum Reichs Wahlgesetz von 1920 enthalten insofern einen Passus, wonach zusätzlich zu der oben199 dargestellten Möglichkeit der Einsendung eines Stimmzettels vom Ausland her noch vorgesehen war, eine Bestimmung in die Reichswahlordnung aufzunehmen, durch die „Seeschiffern und Auslanddeutschen, die sich am Wahltag im Reichsgebiet aufhalten, die Ausübung ihres Wahlrechts" mittels Wahlscheins hätte ermöglicht werden sollen.200 Daß diese Bestimmung keine Aufnahme in die Reichs Wahlordnung von 1920 gefunden hat, wird man dem generellen Verzicht der Nationalversammlung auf Schaffung eines Wahlrechts für Auslandsdeutsche zuschreiben dürfen. Offenbar an diese Pläne anknüpfend, findet sich das Aufenthalterstimmrecht für Auslandsdeutsche in einem Gesetzentwurf wieder, der am 3. November 1926 von Reichsinnenminister Külz dem Dritten Kabinett Marx vorgelegt wurde.201 Der Wortlaut des § 14 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzentwurfs stimmte bereits weitgehend mit dem der späteren Notverordnung überein. Auslöser dieses erneuten Versuchs, das Auslandsdeutschenwahlrecht einzuführen, war eine Petition, die im April 1926 von Deutschen in Mexiko an den vormaligen Reichskanzler Luther gerichtet worden war.202 Freilich spielte das Wahlrecht der Auslandsdeutschen in dem Gesetzentwurf nur eine unterBd. 432, Ani., Drucks.-Nr. 465 sowie vom 17. Oktober 1930, StenBer. RT Bd. 448, Ani., Drucks.-Nr. 108. 196 StenBer. RT Bd. 389, S. 6314 Df. sowie Bd. 425, S. 2334 Df. 197 Schanbacher, Wahlen, S. 120f. 198 Der Begriff „Auslanddeutscher" tauchte bereits nach bisherigem Recht in § 12 Abs. 2 Nr. 3 RWahlG 1924 auf und wurde dort in diesem Sinne verwendet, vgl. Kaisenberg, RWahlG 1924, S.46; v.Jan, RWahlG 1924, S. 38. 199 1. Teil 3. Kap. IV. 3. 200 StenBer. RT Bd. 342, Ani., Nr. 2490, S. 2754. 201 Entwurf vom 24. Oktober 1926, Akten der Reichskanzlei (Original) R431/999, S. 713 (719); Auszüge in DokAnh. Α. IX. 5. (Die Originalakten sind nicht in Buchform veröffentlicht; sie können beim Bundesarchiv in Berlin eingesehen werden.) Vorlage an das Kabinett: Akten RK, WR, X-l, S. 297f. Der Entwurf war der damaligen Öffentlichkeit nur in Teilen bekannt. Daraus erklärt sich wohl auch, daß Pohl (WDStRL 7 [1932], 131 [140]) das geplante Aufenthalterstimmrecht für Auslandsdeutsche nur im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf von 1930 und nicht auch mit dem von 1926 erwähnt. 202 Akten der Reichskanzlei (Original) R431/999, S. 691 f.; vgl. auch Der Auslanddeutsche 1926,529.
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1. Teil: Historische Entwicklung
geordnete Rolle. Der Schwerpunkt lag auf einer Verkleinerung des Parlaments, einer Neueinteilung der Wahlkreise, einer Verstärkung des Charakters der Persönlichkeitswahl sowie einer Bekämpfung der Parteienzersplitterung. 203 Gerade dies führte dann aber auch zum Scheitern des Entwurfs, denn die Bemühungen der Regierung Marx um eine Erweiterung der Koalition nach rechts Ende 1926 und die damit einhergehenden Rücksichtnahmen auf bürgerliche Splittergruppen machten seine Realisierung unmöglich.204 Der nächste Anlauf zu einer grundlegenden Wahlrechtsreform wurde erst wieder 1930 unter dem Ersten Kabinett Brüning unternommen. § 12 Abs. 1 lit. b Nr. 1, Abs. 2 des am 19. August 1930 von Reichsinnenminister Wirth der Regierung vorgelegten Gesetzentwurfs 205 entsprach bereits vollständig der entsprechenden Vorschrift in der Notverordnung vom 2. Februar 1933. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfs lag aber wiederum woanders, nämlich auf dem Versuch, durch eine Integration von Elementen der Mehrheitswahl in das verfassungsrechtlich (vgl. 22 Abs. 1 Satz 1 WRV) vorgeschriebene Verhältniswahlsystem sowie durch die Einführung von Schutzklauseln gegen Splitterparteien die Mehrheitsbildung im Reichstag zu erleichtern.206 Der Entwurf wurde nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 unter dem Zweiten Kabinett Brüning zwar noch in leicht abgeänderter Form gem. Art. 69 Abs. 1 Satz 1 WRV dem Reichsrat zugeleitet207 und von diesem sogar mit deutlicher Mehrheit angenommen.208 In den Septemberwahlen war aber die bürgerliche Mitte derart geschwächt worden, daß bei Umsetzung der Wirthschen Reformpläne die parlamentarische Basis der Regierung weitgehend zerstört worden wäre. Der Gesetzentwurf gelangte daher erst gar nicht mehr in den Reichstag und wurde auch von der Regierung nicht weiter verfolgt. 209 Angesichts dieser Vorgeschichte besteht kein Anlaß, an der Einschätzung Kaisenbergs zu zweifeln, die Neuerungen bezüglich des Wahlrechts für Auslandsdeutsche seien bei ihrer Einführung „wohl allseitig begrüßt worden".210 Aus der Tatsache, daß drei Regierungen unterschiedlichster Parteizusammensetzung - vom Kabinett Scheidemann (bestehend aus DDP, SPD und Zentrum) über das Dritte Kabinett Marx (gebildet aus BVP, DDP, DVP und Zentrum) bis hin zum Ersten Kabinett Brüning (BVP, DDP, DVP, DNVP, VKP, WP und Zentrum umfassend) - die Einführung des 203
Schanbacher, Wahlen, S. 141. Schanbacher, Wahlen, S. 141 f. 205 Entwurf vom 15. August 1930, Akten der Reichskanzlei (Original) R431/1000, S. 151 (156); Vorlage an das Kabinett: Akten RK, WR, XII-1, S. 377ff.; dazu auch Pohl, VVDStRL 7 (1932), 131 (140 ff.). 206 Schanbacher, Wahlen, S. 144. 207 Akten RK, WR, XII-1, S. 385 mit Fn. 7; Niederschriften über die Vollsitzungen des Reichsrats, 1931, S. 45 (Auszüge in DokAnh. Α. IX. 6.). Das Aufenthalterstimmrecht der Auslandsdeutschenfindet sich hier in § 13 wieder, ebenso das Wahlrecht für die Besatzung von Seeoder Binnenschiffen. 208 Niederschriften über die Vollsitzungen des Reichsrats, 1931, S. 44. 209 Schanbacher, Wahlen, S. 145 f.; Akten RK, WR, XII-1, S. 385 mit Fn. 7. 2,0 Kaisenberg, RPrVBl. Bd. 54 (1933), 125. 204
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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Aufenthalterstimmrechts für Auslandsdeutsche betrieben haben, darf wohl der Schluß gezogen werden, daß sich die Notverordnung vom 2. Februar 1933 in diesem Punkt auf einen parteiübergreifenden Konsens stützen konnte. Der von verschiedenen Seiten gegen die Notverordnung erhobene Vorwurf der Verfassungswidrigkeit bezog sich denn auch nicht auf das Aufenthalterstimmrecht der Auslandsdeutschen, sondern nur auf diejenigen Teile, die der Bekämpfung von Splitterparteien dienten.211 Von daher besteht kein Grund, die Notverordnung vom 2. Februar 1933 zu ignorieren. Wichtiger als ihr tatsächliches Inkrafttreten dürfte aber die Tatsache sein, daß noch zu Zeiten der Weimarer Republik mehrfach der Versuch unternommen wurde, dem Gesetzgebungsauftrag der Nationalversammlung212 nachzukommen und den Auslandsdeutschen eine Möglichkeit zur Wahlteilnahme zu verschaffen. Daß dieses Vorhaben letztlich erst zu Beginn der Ära des Nationalsozialismus verwirklicht wurde, lag - wie oben dargestellt - an der generellen Unfähigkeit von Reichsregierung und Reichstag, angesichts der bestehenden Zersplitterung des Parteispektrums eine Wahlrechtsreform grundsätzlicher Art durchzuführen. Nach dem 5. März 1933 sanken Reichstagswahlen vollends zu Akklamationsakten der nationalsozialistischen Einparteienherrschaft herab. Auf eine Darstellung der Wahlrechtsentwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus wird daher im vorliegenden Zusammenhang verzichtet. 4. Kapitel
Das Wahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland I. Historischer Hintergrund Die vollständige militärische Niederlage Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg schuf die Voraussetzung für die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die alliierten Siegermächte.213 Nachdem die westlichen Alliierten im Zeichen der sich anbahnenden Ost-West-Teilung mit den sog. Londoner Beschlüssen vom 7. Juni 1948 den Weg freigemacht hatten zur Bildung eines deutschen Weststaates,214 trat am 1. September 1948 der aus Vertretern der Länder bestehende Parlamentarische Rat zusammen,215 zu dessen Aufgaben neben der Ausarbeitung einer (vorläufigen) Verfassung auch die Schaffung eines Wahlgesetzes gehörte. Die Arbeit des Ausschusses für Wahlrechtsfragen unter dem Vorsitz des F.D.P.-Abgeordneten Becker gestaltete sich dabei als besonders schwierig. Denn obgleich die Aufgabe des Ausschusses von 211 212 213 214 215
Vgl. dazu Kaisenberg, RPrVBl. Bd. 54 (1933), 125 ff. Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. IV. 3. a. E. Vgl. Stern,, Staatsrecht V, § 131 II (S. 919ff.). Vgl. Stern,, Staatsrecht V, § 133 12 (S. 1211 ff.). Vgl. Stern,, Staatsrecht V, § 133 II 6 (S. 1277ff.).
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1. Teil: Historische Entwicklung
vornherein auf die Ausarbeitung eines Wahlgesetzes für die Wahlen zum ersten Bundestag beschränkt war, gelang es nicht, sich frühzeitig auf einen Gesetzentwurf zu verständigen. Statt dessen wurden im Ausschuß immer neue Wahlgesetzentwürfe präsentiert, was die Arbeit erheblich in die Länge zog.216 Nachdem das im Plenum verabschiedete Wahlgesetz bei den alliierten Militärgouverneuren überraschend auf Ablehnung gestoßen war, wurde eine erneute Überarbeitung erforderlich, so daß die endgültige Verabschiedung des „ersten" Bundes Wahlgesetzes erst am 10. Mai 1949 erfolgen konnte. Es trat am 15. Juni 1949 in Kraft. 217 II. Grundgesetz vom 23. Mai 1949 Wie schon in den bisherigen Verfassungen, findet sich auch im Grundgesetz218 keine ausdrückliche Beschränkung des Wahlrechts durch Wohnsitz. Art. 38 GG enthält die verfassungsrechtliche Garantie allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen (Abs. 1 Satz 1). Absatz 2 bestimmt zudem das Wahlalter. Eine Festlegung des Wahlsystems sucht man, im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung, im Grundgesetz vergeblich, die weitere Ausgestaltung des Wahlrechts ist vielmehr dem Bundeswahlgesetz überlassen (Abs. 3). Bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats ist die Frage des Verhältnisses von Wahlrecht und Wohnsitz nur ganz vereinzelt zur Sprache gekommen. Einzig im Organisationsausschuß wurde in der sechsten Sitzung der Vorschlag gemacht, das passive Wahlrecht an eine bestimmte Aufenthaltsdauer zu knüpfen. Dieser Vorschlag wurde aber teils als bedenklich kritisiert, teils mit dem Argument abgelehnt, solche rein technischen Vorschriften gehörten in das Wahlrecht.219 Dort hat die Regelung auch letztlich ihren Niederschlag gefunden, 220 auf Verfassungsebene wurde sie nicht weiter erörtert. I I I . Bundeswahlgesetz vom 15. Juni 1949 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts Das Bundes Wahlgesetz vom 15. Juni 1949221 (im folgenden: BWahlG 1949) wies im Vergleich zum Reichs Wahlgesetz von 1920 eine Reihe von Unterschieden auf, nicht zuletzt im Hinblick auf seine Wohnsitzklausel (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG 1949). So erfolgte die Beschränkung des Wahlrechts durch Wohnsitz erstmalig nicht auf formeller, sondern auf materieller Ebene. Grund hierfür war die sich abzeichnende fak216 217 218 219 220 221
Vgl. Pari. Rat, Bd. 6, S. XXXf.; Stern, Staatsrecht V, § 133 II 8 a (S. 1294f.). Stern, Staatsrecht V, § 133 II 8 c, d (S. 1295 ff.); Lange, Wahlrecht, S. 363 ff. BGBl. 1949 S. 1; Auszüge in DokAnh. Α. X. Vgl. JöRl (1951), S. 350. Näher unten 1. Teil 4. Kap. III. 2. BGBl. S. 21; Auszüge in DokAnh. Α. XI.
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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tische Teilung Deutschlands bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer einheitlichen Staatsangehörigkeit, was dazu führte, daß das Merkmal der deutschen Staatsangehörigkeit allein zur Bestimmung der Wahlberechtigung nicht mehr ausreichte.222 Zudem wurde für die Seßhaftigkeit jetzt eine Mindestdauer von drei Monaten verlangt. „In Ermangelung eines anderen Wohnsitzes" war erstmals der »Aufenthalt im Bundesgebiet" ausdrücklich erwähnt mit der Konsequenz, daß der Begriff des „Wohnsitzes" nunmehr - im Unterschied zu den Reichswahlgesetzen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik - nur noch im Sinne des § 7 BGB auszulegen war,223 da andernfalls die ausdrückliche Erwähnung des Aufenthalts überflüssig gewesen wäre. Unter „Aufenthalt" war die rein tatsächliche körperliche Anwesenheit an einem Ort zu verstehen, eine Absicht dauernder Niederlassung war - wiederum anders als in den Vorgängergesetzen - nicht erforderlich. 224 Dies bedeutete allerdings nicht, daß Auslandsdeutsche bei nur vorübergehendem Aufenthalt im Bundesgebiet hätten mitwählen dürfen: Denn der einfache Aufenthalt genügte nur in Ermangelung eines anderen Wohnsitzes, und der Begriff des Auslandsdeutschen ist ja gerade über den Wohnsitz im Ausland definiert. 225 Auslandsdeutsche waren daher wieder vollständig von den Wahlen ausgeschlossen. Dieses Ergebnis war nicht frei von Zufälligkeiten. So plädierte im Wahlrechtsausschuß der Abgeordnete Kroll dafür, bei Vorliegen der Staatsangehörigkeit gänzlich vom Wohnsitzerfordernis abzusehen, um Seeleuten, Botschaftern oder Kaufleuten im Ausland die Wahlteilnahme zu ermöglichen.226 Zwar konnte sich Kroll mit seinem Vorschlag zunächst nicht durchsetzen, das Problem wurde aber wieder aktuell, als dem Ausschuß eine Petition deutscher Zivilarbeiter in Frankreich zuging, die an den Wahlen teilzunehmen wünschten.227 Als Reaktion darauf wurde von dem Abgeordneten Diederichs ein Gesetzentwurf ausgearbeitet, der im Ausland befindlichen Deutschen das Wahlrecht einräumte, „wenn sie Aufnahme in die Wählerliste gefunden haben".228 Diese Bestimmung, über die im übrigen nie beraten wurde,fiel jedoch letztlich der ungeordneten Arbeitsweise des Wahlrechtsausschusses mit seinen unzähligen Entwürfen zum Opfer. Da der spätere Entwurf des Ausschußvorsitzenden Becker, auf den das Bundes Wahlgesetz von 1949 letztlich zurückgeht,229 keine entsprechende Vorschrift enthielt, blieb es beim Wohnsitz als materieller Wahlrechtsvoraussetzung. 222
Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5. Feneberg, BWahlG 1949, § 1 Erl. IV. 1.; für das Bundeswahlgesetz von 1953 vgl. BVerfGE 5,2(8). 224 Feneberg, BWahlG 1949, § 1 Erl. IV. 1. 225 Vgl. oben Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands. 226 Pari. Rat, Bd. 6, S. 114. 227 Pari. Rat, Bd. 6, S.138f. 228 § 1 Nr. 3 des von Diederichs vorgelegten Gesetzentwurfs, abgedruckt in: Pari. Rat, Bd. 6, S.216. 229 Pari. Rat, Bd. 6, Einl. S. XXV mit Fn. 102. 223
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1. Teil: Historische Entwicklung
Neben Unterschieden gab es aber auch Übereinstimmungen mit dem früheren Reichstags Wahlrecht. Gem. § 18 Satz 2 BWahlG 1949 bestand die Möglichkeit, bei Besitz eines Wahlscheins in jedem beliebigen Wahlbezirk des betreffenden Landes zu wählen. Die Bedingungen für die Ausstellung eines Wahlscheins waren den Wahlordnungen zu entnehmen, die auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 BWahlG 1949 von den Ländern erlassen wurden und maßgeblich an § 12 RWahlG 1924 orientiert waren. 230 Auch das Bundes Wahlgesetz von 1949 enthielt somit ein Aufenthalterstimmrecht für Inlandsdeutsche. Eine dem § 11 Abs. 2 RWahlG 1924 entsprechende Sondervorschrift für Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz war dagegen im Bundeswahlgesetz von 1949 nicht zufinden, sie wurde erst 1953 (wieder) eingeführt. Schließlich machte der „Vier-Mächte-Status" Berlins eine Sonderregelung für die ehemalige Reichshauptstadt erforderlich. Gem. § 26 BWahlG 1949 hatte „Groß-Berlin" das Recht, acht Abgeordnete mit beratender Funktion in den Bundestag zu entsenden.231 Wegen der hierin zum Ausdruck kommenden Sonderstellung Berlins waren nach der seinerzeitigen Kommentarliteratur unter „Bundesgebiet" i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG 1949 nur die elf Länder der Trizone zu verstehen.232 Im Verlauf der 1. Legislaturperiode kam dieses Problem im Zusammenhang mit der Wählbarkeit von in Berlin wohnhaften Abgeordneten zur Sprache. 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Relevanz konnte dieses Problem freilich nur dadurch gewinnen, daß das Bundeswahlgesetz von 1949 im Unterschied zu allen bisherigen Wahlgesetzen das passive Wahlrecht vom Inlandswohnsitz abhängig machte (§ 5 BWahlG 1949). Diese schon bei den Beratungen des Grundgesetzes im Organisationsausschuß zur Sprache gekommene233 Modifikation wurde gesetzestechnisch dadurch bewirkt, daß das passive Wahlrecht vom Besitz des aktiven abhängig war („Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, der..."), der Wohnsitz aber nunmehr zu den materiellen Voraussetzungen der Wahlberechtigung zählte. Im Wahlrechtsausschuß wurde die Neuerung vor allem von dem Vorsitzenden Becker mit dem Argument verfochten, man müsse bei Zugewanderten die Möglichkeit haben, sie auf „Herz und Nieren zu prüfen." 234 Becker befürchtete namentlich Spionageversuche aus dem Osten.235 Zwar meldeten einige Abgeordnete 230 Für Bayern vgl. § 9 der Verordnung vom 6. Juli 1949, GVB1. S. 148; für Hessen vgl. § 16 der Wahlordnung vom 27. Juni 1949, GVB1. S. 69; für Nordrhein-Westfalen vgl. Art. III § 9 der Verordnung vom 20. Juni 1949, GVB1. S. 123; für Rheinland-Pfalz vgl. § 8 der Landesverordnung vom 21. Juni 1949, GVB1.1949, S. 232; abweichend die Regelungen in Hamburg (§ 16 der Wahlordnung vom 15. Juli 1949, GVB1.1949 S. 121) und Niedersachsen (§ 25 der Wahlordnung vom 7. Juli 1949, GVB1. 1949 S. 133). 231 Hierzu näher Finkelnburg, JuS 1967, 58 (60f.); Seifert, Bundeswahlrecht, § 53 Rn. 1; Schreiber, Handbuch, 4. Aufl., § 53 Rn. 2. 232 Feneberg, BWahlG 1949, § 1 Erl. IV. 2. 233 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. II. 234 Pari. Rat, Bd. 6, S.453. 235 Pari. Rat, Bd. 6, S. 132; 454.
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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Zweifel an, ob sich mit einer Wohnsitzklausel das angestrebte Ziel, die Unterwanderung des Parlaments durch „Spitzel" aus dem Osten abzuwehren, überhaupt erreichen ließe,236 weshalb das Wohnsitzerfordernis beim passiven Wahlrecht auch zunächst abgelehnt wurde.237 Letztlich vermochte sich Becker aber in dieser Frage durchzusetzen, indem sein Gesetzentwurf zur Grundlage des Bundeswahlgesetzes von 1949 wurde.238 Die Motive für das Erfordernis mindestens dreimonatiger Seßhaftigkeit waren somit beim passiven Wahlrecht durchaus andere als beim aktiven. Wie bereits erwähnt, gab die Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts im Laufe der 1. Legislaturperiode Anlaß zu der Frage, ob auch Berlin zum Bundesgebiet" i. S. v. § 1 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG 1949 zu rechnen sei. Ausgelöst wurde die Kontroverse durch den Tod des F. D. P.-Abgeordneten v. Rechenberg, für den nach der Landesergänzungsliste (§ 15 BWahlG 1949) an sich Hanns Linhardt hätte nachrücken müssen. Da dieser aber mittlerweile seinen Wohnsitz von Münster nach Berlin (West) verlegt hatte, wurde vom Landeswahlleiter der ihm auf der Ergänzungsliste nachfolgende Hans-Paul Jaeger in den Bundestag berufen. Der gegen diese Entscheidung eingelegte Einspruch hatte Erfolg: Der Wahlprüfungsausschuß kam zu dem Ergebnis, daß die besatzungsrechtlichen Vorbehalte nur für das aktive Wahlrecht gälten, für die Frage der Wählbarkeit hingegen Berlin als Teil des Bundesgebiets zu betrachten sei 2 3 9 Der Bundestag Schloß sich dieser Auffassung an.240 Linhardt rückte daher anstelle Jaegers in den Bundestag nach. IV. Bundeswahlgesetz vom 10. Juli 1953 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts Das „zweite" Bundeswahlgesetz vom 10. Juli 1953241 (im folgenden: BWahlG 1953) wurde gegen Ende der 1. Legislaturperiode in großer Eile verabschiedet242 und entsprach in den hier interessierenden Teilen weitgehend seinem Vorgängergesetz. Lediglich redaktioneller Natur war die Ersetzung des Begriffs „Bundesgebiet" durch „Geltungsbereich des Grundgesetzes" (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1953).243 Der zuvor 236
Vgl. die Äußerungen von Diederichs und Kroll, Pari. Rat, Bd. 6, S. 131 und 132f. Pari. Rat, Bd. 6, S. 136. 238 Vgl. oben Fn. 229. 239 Vgl. BT-Drucks. 1/4492. 240 Vgl. StenBer. BT, 1. WR, 277. Sitzung vom 26. Juni 1953, S. 13822 B/C. 241 BGBl. I S. 470; Auszüge in DokAnh. Α. XII. 242 Feneberg, BWahlG 1953, Einleitung, S. 4; ausführlich Lange, Wahlrecht, S. 497 ff. 243 Zwar gehörte Groß-Berlin gem. Art. 23 GG a. F. zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, doch wurde diese Vorschrift durch Art. 144 Abs. 2 GG a. F. eingeschränkt (vgl. diesbezüglich auch das Genehmigungsschreiben der drei westlichen Militäigouverneure zum Grundgesetz, auszugsweise abgedruckt bei: Schreiber, Handbuch, 4. Aufl., § 53 Rn. 2). Für die Frage der aktiven Wahlberechtigung war Berlin daher nach übereinstimmender Literaturmeinung nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu zählen, vgl. Feneberg, BWahlG 1953, § 1 Erl. III. 3.; Seifert, BWahlG 1953, § 1 Rn. 1, § 55 Rn. 1; Schmitt, Verlust, S. 101.
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verwendete Begriff des „Aufenthalts" war durch „dauernden Aufenthalt" ersetzt worden, was neben der rein tatsächlichen Anwesenheit nunmehr erforderlich machte, daß der Aufenthalt nicht von vornherein nur vorübergehenden Charakter hatte.244 Neu im Vergleich zum Vorgängergesetz war auch das aktive Wahlrecht für Staatsdiener mit grenznahem dienstlichem Auslandswohnsitz (§ 1 Abs. 3 BWahlG 1953): Diese dem § 11 Abs. 2 RWahlG 1924 nachgebildete245 Vorschrift wurde in Dritter Lesung dem Wahlgesetz hinzugefügt. 246 Eine abermalige Abmilderung erfuhr das Wohnsitzprinzip durch den nachträglich geschaffenen § 69 a BWahlO 1953247: Für Auslandsreisende - d. h. für Personen mit inländischem Wohnsitz, die sich vorübergehend im Ausland aufhielten 248 - wurde hier die Möglichkeit geschaffen, innerhalb von sieben Tagen vor dem allgemeinen Wahltermin die Stimme abzugeben. Dagegen blieben Auslandsdeutsche, die ja definitionsgemäß nicht über einen Inlandswohnsitz verfügen, 249 weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen.250 Schließlich fanden in Berlin aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte nach wie vor nur mittelbare Wahlen statt. Allerdings wurden nun 22 Vertreter für das „Land Berlin" in den Bundestag entsandt (§ 55 Abs. 1 BWahlG 1953), nachdem zuvor schon § 26 BWahlG 1949 mit stillschweigender Billigung der Alliierten geändert und die Zahl der Berliner Abgeordneten von acht auf 19 erhöht worden war.251 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Die Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts in § 5 BWahlG 1953 entsprach der Regelung des Vorgängergesetzes. Hinzugefügt worden war aber der Passus, daß der Wohnsitz oder dauernde Aufenthalt „im Lande Berlin" für den Erwerb des passiven 244 Feneberg,, BWahlG 1953, § 1 Erl. III. 2.; Seifert, BWahlG 1953, § 1 Rn. 1; Schmitt, Verlust, S. lOOf. 245 Schmitt, Verlust, S. 103 mit Fn. 322 wendet hiergegen ein, § 1 Abs. 3 BWahlG 1953 könne im Reichswahlgesetz von 1924 keinen Vorläufer haben, da dort nur eine Regelung für die formelle Wahlberechtigung getroffen worden sei. Er identifiziert daher § 1 Abs. 2 des preußischen Landeswahlgesetzes i. d. F. vom 28. Oktober 1924 als „echten Vorläufer". Freilich erfolgte die Annahme des § 1 Abs. 3 BWahlG 1953 im Bundestag unter ausdrücklichem Hinweis auf „das zur Zeit der Reichstagswahl" gültige Recht (StenBer. BT, 1. WP, 276. Sitzung vom 25. Juni 1953, S. 13744 D); in diesem Sinne auch BVerfGE 36, 139 (142f.); 58, 202 (205f.); Seifert, BWahlG 1953, § 1 Rn. 3. Schmitts Einwand kann daher nur für die konkrete Regelungstechnik aufrechterhalten werden. 246 Vgl. StenBer. BT, 1. WP, 276. Sitzung vom 25. Juni 1953, S. 13744f. 247 Verordnung zur Ergänzung der Bundeswahlordnung vom 17. August 1953, BGBl. I S. 937, Auszüge in DokAnh. Α. XIII. 248 Vgl. oben Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands. 249 Ebd. 250 Vgl. Seifert, BWahlG 1953, § 1 Rn. 1: „Kein Wahlrecht, wenn ständiger Aufenthalt im Bundesgebiet gegeben, Wohnsitz aber außerhalb desselben beibehalten ist". 251 Gesetz vom 15. Januar 1952, BGBl. I S. 21; vgl. dazu Finkelnburg, JuS 1968, 58 (60).
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Wahlrechts genüge (Abs. 1 Satz 2), was nach den obigen Ausführungen nur als Reaktion auf die Linhardtsche Wahlanfechtung der 1. Legislaturperiode gedeutet werden kann, gemäß der seinerzeit gefundenen Auslegung des Bundeswahlgesetzes aber lediglich klarstellenden Charakter hatte. Auch in der 2. Legislaturperiode kam es indes zu einer Kontroverse um das Verhältnis von Wählbarkeit und Wohnsitz, diesmal ausgelöst durch den CDU-Abgeordneten Schmidt-Wittmack. Dieser war 1953 über die Hamburger Landesliste der CDU in den Bundestag gewählt worden, hatte aber 1954 seinen Hamburger Wohnsitz aufgegeben und sich nach Berlin (Ost) abgesetzt, wo er nach eigenen Angaben um Asyl nachsuchte und später den Posten eines Vizepräsidenten der Kammer für Außenhandel bekleidete.253 Daraufhin wurde ihm vom Bundestag das Mandat aberkannt mit der Begründung, daß durch die Wohnsitzverlegung von Hamburg nach Berlin (Ost) die Wahlbarkeitsvoraussetzung des Wohnsitzes im Geltungsbereich des Grundgesetzes gem. § 51 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1953 nachträglich entfallen sei.254 Das Bundesverfassungsgericht billigte die Entscheidung des Bundestags; insbesondere interpretierte es den Begriff „Land Berlin" in § 5 Abs. 1 Satz 2 BWahlG 1953 nur im Sinne der drei Westsektoren Berlins.255 V. Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 1. Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts Das Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956256 (im folgenden: BWahlG 1956) war das erste Wahlgesetz der bundesrepublikanischen Ära, das nicht nur für eine einzelne Bundestagswahl geschaffen wurde.257 Mit Abänderungen gilt es noch heute. Wesentlichste Neuerung in Bezug auf die Ausschlußwirkung des Wohnsitzprinzips stellte die Einführung der Briefwahl dar (§ 36 BWahlG 1956). Sie ging zurück auf einen Gesetzentwurf der F. D. P.-Fraktion258 und wurde begründet mit den „guten praktischen Erfahrungen (...), die in mehreren europäischen und außereuropäischen Ländern damit gemacht" worden seien. In Konsequenz dessen wurde das bisher geltende Aufenthalterstimmrecht in seinem Umfang wesentlich eingeschränkt: Hatte der Besitz eines Wahlscheins bislang zur Stimmabgabe in jedem beliebigen Wahlbezirk berechtigt, konnte mit ihm fortan nur noch in einem Wahlbezirk desjenigen Wahlkreises gewählt werden, in dem der Wahlschein ausgestellt worden war (§15 252
1. Teil 4. Kap. III. 2. Zum Sachverhalt vgl. BT-Drucks. II/l 197 sowie BVerfGE 5, 2 f. 254 Vgl. BT-Drucks. 11/1197 sowie StenBer. BT, 2. WP, 68. Sitzung vom 23. Februar 1955, S. 3469 Β ff. 255 Vgl. BVerfGE 5,2ff.; dazu unten 2. Teil 1. Kap. I. 256 BGBl. I S. 383; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 1. 257 Zur Entstehung näher Lange, Wahlrecht, S. 634 ff. 258 BT-Drucks 11/1444, dort § 34. 253
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Abs. 3 lit. a BWahlG 1956).259 Daneben war sein Besitz aber auch Bedingung für die Ausübung des Wahlrechts mittels Briefwahl (§ 15 Abs. 3 lit. b BWahlG 1956). Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Wahlscheins (§ 22 BWahlO 1957260) entsprachen weitestgehend denen des § 16 BWahlG 1953. Mit der Einführung der Briefwahl entfiel der Grund für die Beschränkung des Wahlrechts auf Staatsdiener mit grenznahem Auslandswohnsitz; folgerichtig wurde in § 12 Abs. 2 BWahlG 1956 das Wahlrecht für die genannte Gruppe auf alle Fälle des vom Dienstherrn angeordneten Auslandsaufenthalts ausgeweitet.261 Sonderbestimmungen für Auslandsreisende waren nunmehr entbehrlich, denn dieser Personenkreis hatte fortan die Möglichkeit, seine Stimme brieflich abzugeben.262 Auch vor der Einführung des aktiven Wahlrechts für Auslandsdeutsche konnte es somit zur Einsendung von Wahlbriefen aus dem Ausland kommen.263 Im übrigen entsprach die Ausgestaltung der Wohnsitzklausel (jetzt § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1956) weitgehend der des Vorgängergesetzes. Lediglich der Ausdruck „Geltungsbereich des Grundgesetzes" war durch „Wahlgebiet" ersetzt worden. Auslegungsschwierigkeiten264 veranlaßten den Gesetzgeber allerdings im Jahr 1975, die Terminologie abermals zu ändern und den Begriff „Wahlgebiet" durch „Geltungsbereich dieses Gesetzes" zu ersetzen.265 Damit sollte deutlich gemacht werden, daß die „Einwohner des Landes Berlin wahlberechtigt" und „lediglich im Hinblick auf die Regelung des § 54 Β WG derzeit daran gehindert [sind], ihr materielles Wahlrecht zum Deutschen Bundestag auszuüben".266 Das Land Berlin war also fortan zum „Geltungsbereich dieses Gesetzes" i. S. d. § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1956 hinzuzurechnen.267 Zugleich wurde im Rahmen dieser Gesetzesänderung der bisher verwendete Begriff „Wohnsitz oder dauernder Aufenthalt" durch die Formulierung „eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten" ersetzt. Diese Änderung stand im Zusammenhang mit der Schaffung des Melderechtsrahmengesetzes268 und bedeutete eine Angleichung an den Sprachgebrauch des Melderechts. Sie erfolgte aufgrund der Erwägung, daß den Meldebehörden „nur die tatsächlichen Wohnver-
259 Vgl. dazu die Ausführungen des Abgeordneten Schneider, StenBer. BT, 2. WP, 94. Sitzung vom 6. Juli 1955, S. 5323 Df. 260 Bundeswahlordnung vom 15. Juli 1953, BGBl. IS. 514; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 2. 261 Vgl. auch BVerfGE 36,139 (143). 262 Seifert, Bundeswahlrecht, § 36 Rn. 1. 263 Seifert, Bundeswahlrecht, § 14 Rn. 5. 264 Vgl. dazu Linck, DÖV 1970,125 (126). 265 Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 7. 266 BT-Drucks. 7/2873, S. 36. 267 Schreiber, Handbuch, 4. Aufl., § 12 Rn. 12. Zur Möglichkeit direkter Wahlteilnahme von (West-) Berliner Bürgern mit Nebenwohnsitz im Bundesgebiet vgl. BVerfGE 40,11 ff.; Schreiber, z. a.O., § 12 Rn. 18. 268 Vom 16. August 1980, BGBl. I S. 1429.
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hältnisse bekannt und aus den Verwaltungsunterlagen nachweisbar sind, nicht aber die Rechtsbegriffe »Wohnsitz4 und ,Daueraufenthalt'". 269 In dieser Fassung blieb die Wohnsitzklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1956 bis zur Wiedervereinigung bestehen. Durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland entfiel endgültig der Grund für die deutschlandpolitisch bedingte Formulierung.270 Der Begriff „Geltungsbereich dieses Gesetzes" wurde daher im Jahr 1993 in die gegenwärtig gültige Formulierung „Bundesrepublik Deutschland" geändert.271 2. Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts Neuerungen enthielt das Bundes Wahlgesetz von 1956 auch mit Blick auf die Wählbarkeit (§ 16 BWahlG 1956). Die in den beiden Vorgängergesetzen erfolgte Verknüpfung von aktivem und passivem Wahlrecht wurde aufgegeben (vgl. die Formulierung „Wählbar ist, wer..." statt bisher „Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, der..."). Damit wurde die Wohnsitzbindung beim passiven Wahlrecht fallen gelassen und so der bis zum Ende der Weimarer Republik gültige Rechtszustand wieder hergestellt. Diese Neuerung ging auf einen Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zurück,272 die sich damit gegenüber Plänen der CDU/CSU273 wie der F. D. P.274 im Wahlrechtsausschuß durchzusetzen vermochte. Wählbar waren somit nunmehr auch (wieder) Deutsche mit Wohnsitz im Ausland.275 An dieser Rechtslage hat erst die jüngste Reform des Staatsangehörigkeitsrechts etwas geändert: Während bislang bei der Geburt eines Kindes deutscher Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit stets weitergegeben wurde,276 tritt diese Rechtsfolge künftig bei deutsch-ausländischen Mischehen nicht mehr ein, wenn der deutsche Elternteil nach dem 31. Dezember 1999 im Ausland geboren wurde und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, es sei denn, das Kind würde sonst staatenlos. Sind beide Elternteile deutsche Staatsangehörige, müssen diese Voraussetzungen bei beiden 269
BT-Drucks. 7/2873, S. 36. Vgl. BT-Drucks. 12/4616, S. 35. 271 Elftes Gesetz zur Änderung des Bundes Wahlgesetzes vom 21. Juli 1993, BGBl. IS. 1217; vgl. dazu die Bekanntmachung der Neufassung des Bundeswahlgesetzes 23. Juli 1993, BGBl. I 5. 1288; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 13. 272 Vgl. § 12 Abs. 1 des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion, BT-Drucks. 11/1272; vgl. auch den Bericht des Wahlrechtsausschusses, zu BT-Drucks. 11/2206, S. 3. 273 Vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzentwurfs der Abgeordneten Stücklen, Dr. Jaeger, Lücke und Genossen, BT-Drucks. 11/1494; dazu auch die Äußerung des Bundesministers des Innern Schröder, in: StenBer. BT, 2. WP, 94. Sitzung vom 6. Juli 1955, S. 5331 B/C. 274 Vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzentwurfs der F. D. P.-Fraktion, BT-Drucks. 11/1444; dazu auch die Ausführungen des Abgeordneten Schneider, in: StenBer. BT, 2. WP, 94. Sitzung vom 6. Juli 1955, S. 5323 A-C. 27 5 Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 15 Rn. 2; Seifert, Bundeswahlrecht, § 15 Rn. 4. 276 § 4 Abs. 1 Satz 1 RuStAG vom 22. Juli 1913, zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I S. 2942). 270
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vorliegen. In jedem Falle besteht die Möglichkeit, durch eine Anzeige gegenüber der zuständigen Auslandsvertretung innerhalb eines Jahres nach der Geburt dem Kind die deutsche Staatsangehörigkeit zukommen zu lassen.277 Durch diese Regelung ist das ius jô/Z-Prinzip, das bei Erlaß des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes ganz aus dem Staatsangehörigkeitsrecht getilgt worden war,278 in Teilen wieder eingeführt. Da die Wählbarkeit gem. § 15 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit voraussetzt, führt die Neuregelung für die Zukunft zu einer Verkleinerung des Kandidatenkreises. Praktische Konsequenzen sind hiervon allerdings nicht zu befürchten, da die Kandidatur von Auslandsdeutschen bislang ohnehin kaum relevant geworden ist.279 Auf das Aktivwahlrecht der Auslandsdeutschen hat die Änderung, wie sich im folgenden zeigen wird, keine Auswirkungen. 3. Einführung des aktiven Wahlrechts für Auslandsdeutsche Das Bundes Wahlgesetz von 1956 kannte in seiner ursprünglichen Fassung noch kein aktives Wahlrecht für Auslandsdeutsche.280 Die Bemühungen um dessen Einführung reichen zurück bis in die 5. Legislaturperiode. Bereits in der 4. Legislaturperiode war das Thema ein erstes Mal Gegenstand einer Mündlichen Anfrage. Der Abgeordnete Krümmer fragte, aus welchem Grunde es den bei europäischen Behörden Beschäftigten verwehrt sei, an Wahlen für deutsche Parlamente teilzunehmen.281 In ihrer Antwort verwies die Bundesregierung darauf, das Bundesverfassungsgericht habe in der Sache Schmidt-Wittmack die Verfassungskonformität der Wohnsitzbindung des Wahlrechts bestätigt; auch bestehe die Möglichkeit, das Wahlrecht durch das Unterhalten eines zweiten Wohnsitzes im Bundesgebiet zu erwerben bzw. aufrechtzuerhalten.282 Zu einer Gesetzesinitiative kam es, wie gesagt, erst in der 5., dann aber in jeder darauffolgenden Legislaturperiode bis zur Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche im Jahr 1985.283 Diese vielfältigen Anläufe spiegeln das zähe Ringen des Gesetzgebers wieder, das aktive Wahlrecht in verfassungsrechtlich bestandskräftiger Art und Weise auf Staatsbürger im Ausland auszuweiten. Die Vorsicht, die der Gesetzgeber dabei walten ließ, erklärt sich - jedenfalls auch - aus den schwer abschätzbaren Konsequenzen, die sich aus der Kassation einer entsprechenden Regelung durch das Bundesverfassungsgericht ergeben hätten.284 Die unterschiedlichen Initiativen sollen hier im einzelnen kurz vorgestellt werden. 277
§ 4 Abs. 4 StAG (vgl. Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999, BGBl. I S. 1618; zur Gesetzesbegründung BT-Drucks. 14/533, S. 14). 278 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. V. 2. 279 Vgl. die Einschätzung von Thomas Spies , Schranken, S. 64, daß die Wählbarkeit von Auslandsdeutschen ,»kaum praktische Auswirkungen haben dürfte". 280 Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5. 281 Vgl. BT-Drucks. IV/3458. 282 StenBer. BT, 4. WP, 187. Sitzung vom 25. Mai 1965, S. 9383 Df. 283 Überblicke hierzu bei Blumenwitz, Wahlrecht, S. 42ff.; Schreiber, DÖV 1974, 829 (831 ff.); ders., VR 1980, 241 ff.; ders., NJW 1985, 1433 (1434ff.). 284 Dazu auch unten 3. Teil 1. Kap. 1.3. b.
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a) 5. Legislaturperiode aa) Aktives Wahlrecht für Bedienstete bei zwischen- oder überstaatlichen Organisationen Die Frage des Auslandsdeutschenwahlrechts bildete im 5. Deutschen Bundestag zunächst den Gegenstand mehrerer Mündlicher Anfragen. 285 Auf ein Ersuchen des Bundestages „zu berichten, ob und welche Möglichkeiten bestehen, die im Ausland wohnenden deutschen Staatsangehörigen in vermehrtem Umfang an den Bundestagswahlen teilnehmen zu lassen",286 antwortete die Bundesregierung allerdings mit deutlicher Ablehnung.287 Dessen ungeachtet kam es aus der Mitte des Bundestages zu einer Gesetzesinitiative, die eine Ausweitung der Ausnahmeregelung in § 12 Abs. 2 BWahlG 1956 auf Bedienstete bei zwischen- oder überstaatlichen Oiganisationen für die Dauer ihres Dienstverhältnisses zum Ziel hatte.288 Das vom Bundestag verabschiedete Gesetz289 wurde dem Bundesrat zugeleitet, der jedoch aufgrund erheblicher verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Bedenken die Einberufung des Vermittlungsausschusses beantragte. Gegen die geplante Regelung wurde zum einen geltend gemacht, sie verstärke die Tendenz, „allen Auslandsdeutschen ohne Ausnahme das aktive Wahlrecht einzuräumen. Dies würde jedoch im völkerrechtlichen wie auch im gesamtdeutschen Bereich zu unabsehbaren Konsequenzen führen." Zum anderen wurden Zweifel angemeldet, ob die isolierte Bevorzugung einer einzelnen Berufsgruppe verfassungsrechtlich zulässig sei, zumal nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Wahlrechts „nur ein gewisser Spielraum innerhalb des sonst weiten Bereichs für sein freies Ermessen" bleibe.290 Im Vermittlungsausschuß konnten sich die Bedenkenträger durchsetzen: Der Ausschuß schlug einstimmig vor, die geplante Regelung fallen zu lassen,291 und der Bundestag stimmte dem - zwar mit Bedauern, doch ebenfalls einstimmig - zu.292
285 Vgl. Mündliche Anfrage des Abgeordneten Gewandt, BT-Drucks. V/38 Frage V.l (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 5. WP, 6. Sitzung vom 25. November 1965, S. 57 B/C); Mündliche Anfrage des Abgeordneten Kiep, BT-Drucks. V/561 Frage II.7 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 5. WP, 38. Sitzung vom 4. Mai 1966, S. 1704 A/B); Mündliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Jahn, BT-Drucks. V/958 Frage V.3 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 5. WP, 61. Sitzung vom 6. Oktober 1966, S. 3000 C/D); Mündliche Anfrage des Abgeordneten Freiherr v. Gemmingen, BT-Drucks. V/3389 Frage 50 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 5. WP, 191. Sitzung vom 23. Oktober 1968, S. 10344 Cf.). 286 BT-Drucks. V/1412 Ziff. 2 b); Annahme durch den Bundestag: StenBer. BT, 5. WP, 97. Sitzung vom 23. Februar 1967, S. 4427 C. 287 BT-Drucks. V/2434 zu Nummer 2 b). 288 BT-Drucks. V/3036; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 3. 289 StenBer. BT, 5. WP, 204. Sitzung vom 11. Dezember 1968, S. 11103 A. 290 Sämtliche Zitate BT-Drucks. V/3825. 291 Vgl. BT-Drucks. V/3897 (neu). 292 StenBer. BT, 5. WP, 227. Sitzung vom 23. April 1969, S. 12548 B.
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bb) Aktives Wahlrecht für Entwicklungshelfer Das gleiche Schicksal ereilte eine Initiative, die Entwicklungshelfern im Rahmen des 1969 geschaffenen Entwicklungshelfergesetzes 293 die Möglichkeit zur Teilnahme an den Bundestagswahlen zu eröffnen suchte. Dieser vom Ausschuß für Entwicklungshilfe gemachte Vorschlag unterschied sich von der zur gleichen Zeit geplanten Sonderregelung für Bedienstete bei zwischen- und überstaatlichen Organisationen insofern, als er das gewünschte Ziel nicht mit einer Ausweitung des Ausnahmetatbestandes in § 12 Abs. 2 BWahlG 1956, sondern durch eine Wohnsitzfiktion erreichte: Für die Dauer des Entwicklungsdienstes sollte, außer im Steuerrecht, als Wohnsitz des Entwicklungshelfers der Sitz seiner Trägerorganisation gelten.294 Das vom Bundestag verabschiedete Gesetz295 wurde indes ebenfalls vom Bundesrat gestoppt und dem Vermittlungsausschuß zugeleitet. Neben den bereits genannten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine isolierte Bevorzugung einzelner Personengruppen machte der Bundesrat hier geltend, die geplante Regelung gehe „weit über den mit Unbeabsichtigten Zweck hinaus". Sie bringe „unabsehbare Folgerungen mit sich, weil sehr viele Gesetze an den Wohnsitz anknüpfen". So machte der Bundesrat etwa darauf aufmerksam, daß infolge der Wohnsitzfiktion die Entwicklungshelfer nicht nur an Bundstags-, sondern auch an Landtags- und Kommunalwahlen würden teilnehmen können.296 Der Vermittlungsausschuß Schloß sich den Bedenken des Bundesrats an und schlug die ersatzlose Streichung der betreffenden Regelung vor. 297 Der Bundestag stimmte diesem Vorschlag ebenfalls zu.298 Damit waren die ersten Anläufe zu einer Ausweitung des aktiven Wahlrechts auf Auslandsdeutsche gescheitert. b) 6. Legislaturperiode In der 6. Legislaturperiode gab die - mittlerweile von der großen Koalition gebildete - Bundesregierung ihre reservierte Haltung gegenüber dem Wahlrecht für Auslandsdeutsche auf 299 und brachte in den Bundestag eine Gesetzesinitiative ein, die vorsah, das Wahlrecht auf alle Deutschen auszudehnen, die „seit mindestens drei Monaten im Wahlgebiet oder in den europäischen Gebieten der übrigen Mitglied293
Gesetz vom 18. Juni 1969, BGBl. I S. 549. Vgl. § 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. V/3783; Auszüge in DokAnh. Α. XIV.4. Zur Begründung vgl. zu BT-Drucks. V/3783, S. 3; vgl. auch die Ausführungen der Abgeordneten FreyK in: StenBer. BT, 5. WP, 220. Sitzung vom 28. Februar 1969, S. 11910 C/D. 295 StenBer. BT, 5. WP, 220. Sitzung vom 28. Februar 1969, S. 11913 C. 296 Sämtliche Zitate BT-Drucks. V/4058. 297 BT-Drucks. V/4107. 298 StenBer. BT, 5. WP, 227. Sitzung vom 23. April 1969, S. 12548 B. 299 Vgl. die Antworten der Bundesregierung auf die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Kleinen, BT-Drucks. VI/415 Frage A 46 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 6. WP, 35. Sitzung vom 27. Februar 1970, S. 1726 D) sowie auf die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Zimmermann, BT-Drucks. VI/610 Frage A 13 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 6. WP, 44. Sitzung vom 17. April 1970, S. 2281 B/C). 294
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Staaten der Europäischen Gemeinschaften wohnen oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben".300 Die in der vorangegangenen Legislaturperiode abgelehnte Differenzierung nach Berufsgruppen war hier ersetzt worden durch eine Differenzierung nach territorialen Gesichtspunkten. Zur Begründung ihrer Gesetzesinitiative verwies die Bundesregierung auf die „sich verstärkende europäische Integration", zu deren wesentlichen Grundsätzen die „Herstellung der Freizügigkeit im Gebiet der gesamten Gemeinschaft" gehöre. Den Zielen der Integration entspreche es, „wenn diejenigen, die von dem Recht der Freizügigkeit Gebrauch machen, damit nicht den Verlust eines der wichtigsten staatsbürgerlichen Rechte in Kauf nehmen müssen." Da „bis auf weiteres" nicht mit der Einräumung des Wahlrechts zu den nationalen Parlamenten des jeweiligen Wohnsitzstaates zu rechnen sei, erscheine die angestrebte Regelung auch sachgerecht. Weiterhin verwies die Bundesregierung darauf, daß ein häufig vorgebrachtes Argument gegen die Verleihung des Wahlrechts an Auslandsstaatsbürger - die geringere Betroffenheit von Hoheitsakten des Heimatstaats - auf Deutsche mit Wohnsitz in einem EG-Mitgliedstaat nicht mehr in vollem Umfang zutreffe. „In zunehmendem Maß werden vom Rat, der sich aus Mitgliedern der Regierung der Mitgliedstaaten zusammensetzt, Regelungen erlassen, die sich auf das gesamte Gebiet der Gemeinschaft auswirken. Die Ratsmitglieder müssen sich wiederum vor ihren nationalen Parlamenten verantworten."301 Wie bei Regierungsvorlagen üblich (vgl. Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG), wurde das Gesetz vor der Beratung im Bundestag dem Bundesrat zugeleitet. Dieser begrüßte zwar die Absicht der Bundesregierung, „der europäischen Einigung auch schon im Rahmen der bundeswahlrechtlichen Vorschriften Rechnung zu tragen". Wie schon in der 5. Legislaturperiode, nahm der Bundesrat aber auch hier aufgrund verfassungsrechtlicher wie verfassungspolitischer Bedenken eine insgesamt ablehnende Haltung ein. In verfassungsrechtlicher Hinsicht wurden vom Bundesrat Zweifel angemeldet, „ob eine wahlrechtliche Sonderstellung der in den Gebieten der Europäischen Gemeinschaften wohnhaften Deutschen" insbesondere gegenüber den „in den deutschsprachigen europäischen Ländern lebenden Deutschen" (zum damaligen Zeitpunkt Österreich und die Schweiz) „unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes" gerechtfertigt sei. Yerfassungspolitisch wies der Bundesrat erneut auf die Gefahr hin, „daß die Ausdehnung des aktiven Wahlrechts auf einzelne Gruppen allgemein die Tendenz" verstärke, „allen Auslandsdeutschen ohne Ausnahme das aktive Wahlrecht einzuräumen." Weiterhin befürchtete er die »Ausdehnung des Wahlkampfes ins Ausland", das Aufkommen von Forderungen nach einer Ausweitung auch des Landeswahlrechts sowie Praktikabilitätsprobleme, da unklar sei, „ob eine zuverlässige Erfassung der im Ausland wohnhaften Deutschen nach Wohnsitzdauer und sonstigen Voraussetzungen der Wahlberechtigung möglich" sei.302 300
§ 12 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. VI/3395, Anlage 1 (Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 5.); Hervorhebung vom Verfasser. 301 Sämtliche Zitate BT-Drucks. VI/3395, Anlage 1, S. 31. 302 Sämtliche Zitate BT-Drucks. VI/3395, Anlage 2, S. 214.
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1. Teil: Historische Entwicklung
Die Bundesregierung wies die Kritik des Bundesrats in ihrer Gegenäußerung (vgl. Art. 76 Abs. 3 Satz 2 GG) als unbegründet zurück. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes i. S. v. Art. 3 Abs. 1 GG liege nicht vor, da die angestrebte Regelung mit der „immer enger werdenden politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verflechtung der Staaten der Europäischen Gemeinschaften und der daraus folgenden Sonderstellung der in ihnen lebenden Deutschen" zu rechtfertigen sei. Die Bundesregierung wies ferner darauf hin, auch den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl i. S. d. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 sei nicht das „Verbot jeglicher Differenzierung" zu entnehmen. Den geltend gemachten verfassungspolitischen Einwänden hielt die Bundesregierung entgegen, sie beabsichtige nicht, allen Auslandsdeutschen ohne Ausnahme das aktive Wahlrecht einzuräumen. Die Gefahr einer Ausdehnung des Wahlkampfes ins Ausland bezeichnete sie als Befürchtung, „für die reale Ansatzpunkte nicht nachgewiesen werden können". Angesichts der starken Streuung und relativ geringen Anzahl der in EG-Staaten wohnhaften Deutschen sei deren wahlprogagandistische Erfassung „nahezu theoretisch". Im übrigen vertrat die Bundesregierung die Ansicht, daß bei der vorgesehenen wahltechnischen Verfahrensgestaltung einer Stimmabgabe durch Briefwahl „deutsche Hoheitsakte wahlrechtlicher Art auf fremdem Staatsgebiet nicht gesetzt" würden. Schließlich bezeichnete sie die möglichen Auswirkungen auf das Landeswahlrecht als einen unter bundespolitischen Gesichtspunkten irrelevanten Einwand und wies auch die geltend gemachten Praktikabilitätszweifel als unbegründet zurück.303 Nach Zuleitung an den Bundestag wurde das Gesetzesvorhaben in Erster Lesung an den Innen- und den Haushaltsausschuß überwiesen.304 Im Innenausschuß stieß die geplante Wahlrechtsänderung jedoch ebenfalls auf Ablehnung. Der Ausschuß wies insbesondere auf verfassungspolitische Bedenken hin, die sich aus der Tatsache ergäben, daß es keine bundesrepublikanische Staatsangehörigkeit gebe. Dazu ist anzumerken, daß die geplante Regelung, wäre sie Gesetz geworden, auch den in EG-Mitgliedstaaten lebenden damaligen DDR-Bürgern das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verliehen hätte, da seitens der Bundesrepublik Deutschland an einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit festgehalten wurde und eine vorherige Seßhaftigkeit im Bundesgebiet - anders als in der später verwirklichten Regelung - nicht verlangt wurde. Der Ausschuß schlug aufgrund dieser Bedenken vor, es zunächst bei der bisherigen Rechtslage zu belassen, der Bundesregierung aber aufzugeben, „die Problematik einer Erweiterung des Wahlrechts weiter zu verfolgen und dabei besonders auch die Entwicklung in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften zu beobachten, um den gesetzgebenden Körperschaften zu gegebener Zeit eine befriedigende Lösung dieser Frage vorschlagen zu können."305 Der Bundestag stimmte diesem Vorschlag am 9. Juni 1972 zu.306 Damit war zwar die Einführung des 303 304 305 306
Sämtliche Zitate BT-Drucks. VI/3395, Anlage 3, S. 276f. StenBer. BT, 6. WP, 186. Sitzung vom 10. Mai 1972, S. 10866 A. Zu BT-Drucks. VI/3482, S. 1 f. StenBer. BT, 6. WP, 190. Sitzung vom 9. Juni 1972, S. 11100 D.
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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Auslandsdeutschenwahlrechts auch im zweiten Anlauf gescheitert, zumindest hatte der Bundestag aber in seiner Entschließung vom 9. Juni 1972 eine insgesamt positive Haltung diesem gegenüber eingenommen.
c) 7. Legislaturperiode In der 7. Legislaturperiode, mittlerweile unter sozial-liberaler Regierung, war das Wahlrecht für Auslandsdeutsche wiederum mehrfach Gegenstand parlamentarischer Diskussion. Neben Schriftlichen und Mündlichen Anfragen 307 wurde das Thema zunächst in den Beratungen des Innenausschusses über den Bericht der Wahlkreiskommission aktuell. Der Innenausschuß kam dabei mehrheitlich zu der Auffassung, daß das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag gegenwärtig nicht auf nicht im Bundesgebiet wohnende Deutsche ausgedehnt werden solle.308 Zwar hatte der Bundesminister des Innern in Erfüllung der Entschließung des Bundestages vom 9. Juni 1972 mittlerweile zwei Lösungsvorschläge erarbeitet (Wahlrecht für alle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen, die das Bundesgebiet nicht länger als fünf Jahre verlassen hatten - sog. reines Fristenmodell - oder unbefristetes Wahlrecht für die in EG-Mitgliedstaaten lebenden Deutschen sowie befristetes Wahlrecht für alle übrigen Auslandsdeutschen - sog. Kombinationsmodell).309 Der Ausschuß meinte jedoch, über diese Frage sollte „erst im Zusammenhang mit der für das Wahljahr 1980 vorgesehenen Änderung des Bundeswahlgesetzes entschieden werden".310 Nicht mitgetragen wurde diese Haltung von der CDU/CSU-Fraktion, die sich für die Einführung des Kombinationsmodells aussprach und dieses in Form eines Änderungsantrags in den Bundestag einbrachte.311 In der anschließenden Plenardebatte wurde von Seiten der SPD-Fraktion die Hoffnung geäußert, es könne vielleicht das Ziel erreicht werden, „daß die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft künftig in dem Land ihr Wahlrecht ausüben, in dem sie sich niedergelassen haben".312 Die CDU/CSU-Fraktion bezeichnete dies als „Vorwand", um die mit dem Beschluß 307 Mündliche Anfrage des Abgeordneten Schinzel, BT-Drucks. 7/188 Frage A 33 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 7. WP, 18. Sitzung vom 23. Februar 1973, S. 852 Df.); Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Baier, BT-Drucks. 7/4322 Frage Β 12 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 7. WP, 203. Sitzung vom 27. November 1975, S. 14104 C/D); Mündliche Anfrage des Abgeordneten Niegel, BT-Drucks. 7/5094 Frage A 13 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 7. WP, 237. Sitzung vom 5. Mai 1976, S. 16601 C); Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Köhler und Antwort der Bundesregierung: BT-Drucks. 7/5701, S.7. 308 BT-Drucks. 7/2063, S. 2. 309 Wiedergegeben im Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 7/2063, S.4; vgl. auch die Unterrichtung der Bundesregierung, BT-Drucks. 7/867. 310 BT-Drucks. 7/2063, S.4. 311 BT-Drucks. 7/2132. 312 AbgeordneterMrtmawi,in: StenBer.BT,7.WP, 103. Sitzungvom22. Mai 1974,S.6882B.
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1. Teil: Historische Entwicklung
vom 9. Juni 1972 gemeinsam eingenommene Haltung zu verlassen, da eine entsprechende politische Entwicklung in den Europäischen Gemeinschaften nicht absehbar sei.313 Mit der Stimmenmehrheit der Regierungskoalition wurde aber am 22. Mai 1974 der Antrag des Innenausschusses verabschiedet und der Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.314 Damit hatte das Vorhaben einer Ausweitung des Aktivwahlrechts auf Auslandsdeutsche einen erheblichen Rückschlag erlitten. Jedenfalls für die 7. Legislaturperiode war mit einer parlamentarischen Lösung des Problems nicht mehr zu rechnen.315 Diese Erwartung erfüllte sich, als das Thema „Wahlrecht für Auslandsdeutsche" ein Jahr später erneut auf der Tagesordnung des Bundestags stand, diesmal im Rahmen einer Änderung des Bundeswahlgesetzes. Der von der CDU/CSU-Fraktion abermals eingebrachte Antrag auf Einführung des Kombinationsmodells316 stieß bei den Regierungsfraktionen auf dieselben Gegenargumente wie schon ein Jahr zuvor. 317 Dementsprechend wurde der Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.318 d) 8. Legislaturperiode Das Vorhaben einer Ausweitung des Wahlrechts auf Auslandsdeutsche erhielt in der 8. Legislaturperiode neuen Auftrieb durch die Verabschiedung des Europawahlgesetzes319 (im folgenden: Eu WG), das das Wahlverfahren für das 1979 erstmals direkt gewählte Europäische Parlament regelte. In Anlehnung an § 6 EuWG wurde von der CDU/CSU-Fraktion ein Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der eine Ausweitung des Bundestagswahlrechts auf alle Deutschen vorsah, „die am Wahltag seit mindestens drei Monaten in den europäischen Gebieten der übrigen Mitgliedstaaten der EG eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten". Das Wahlrecht sollte durch persönliche Stimmabgabe in einem beliebigen Wahlbezirk oder durch Briefwahl ausgeübt werden können.320 Eine vorherige Seßhaftigkeit im Bundesgebiet war in dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion, ebenso wie in dem seinerzeitigen Regierungsentwurf der 6. Legislaturperiode, nicht gefordert, was in der Konsequenz dazu geführt hätte, daß damalige DDR-Bürger mit Wohnsitz in einem EG-Mitgliedstaat zum Deutschen Bundestag hätten wählen können. 313
Abgeordneter Berger, in: StenBer. BT, 7. WP, 103. Sitzung vom 22. Mai 1974, S. 6880
B/C.
3,4
StenBer. BT, 7. WP, 103. Sitzung vom 22. Mai 1974, S. 6884 C/D. So die Einschätzung von Schreiber, DÖV 1974, 829 (832). 316 BT-Drucks. 7/3466; abgedruckt in: DokAnh. Α. XIV. 6. 317 Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Wittmann und Hirsch, in: StenBer. BT, 7. WP, 162. Sitzung vom 10. April 1975, S. 11337 C/D und 11338 Cf. 318 StenBer. BT, 7. WP, 162. Sitzung vom 10. April 1975, S. 11341 A. 319 Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vom 16. Juni 1978, BGBl. I S. 709. 320 Vgl. Art. 1 des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 8/1716; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 8. 315
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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Schon in der Ersten Lesung des Entwurfs traten die früheren Gegensätze zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien deutlich zutage. Während die CDU/CSUFraktion die Forderung stellte, alle deutschen Staatsangehörigen müßten an den demokratischen Entscheidungsprozessen in Deutschland beteiligt werden,321 wies die SPD-Fraktion abermals auf die mit der angestrebten Neuregelung verbundenen Probleme hin, insbesondere auf die Ungleichbehandlung von in Österreich und in der Schweiz lebenden Deutschen.322 Der Innenausschuß, an den der Entwurf überwiesen wurde, nahm denn auch in Übereinstimmung mit einer Empfehlung des Rechtsausschusses mehrheitlich eine ablehnende Haltung ein.323 Dieser Kurs war vor allem für die Fraktionsmitglieder der F. D. P. schwer mitzutragen, da sich mehrere F. D. P.-Parteitage ausdrücklich für die Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts ausgesprochen hatten.324 Aus Rücksicht gegenüber dem größeren Koalitionspartner begnügte sich die F. D. P.-Fraktion jedoch damit zu versichern, sie werde auch weiterhin bemüht sein, „eine Lösung für das Wahlrecht deutscher Staatsangehöriger in Europa zu finden". 325 Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion wurde demgemäß abgelehnt.326 e) 9. Legislaturperiode Die 9. Legislaturperiode brachte für das Auslandsdeutschenwahlrecht den parlamentarischen Durchbruch. Ausgelöst wurde die Kehrtwende durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, 327 das auf die Beschwerde eines deutschen EGBeamten hin den nahezu vollständigen Ausschluß aller Auslandsdeutschen von den Wahlen zwar als „noch" verfassungsgemäß beurteilt, es aber angesichts des „fortschreitenden Integrationsprozesses der Gemeinschaft" als naheliegend bezeichnet hatte, „jedenfalls die Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften sowie die An321 So der Abgeordnete Stercken, in: StenBer. BT, 8. WP, 88. Sitzung vom 27. April 1978, S.6994B. 322 Vgl. die Äußerungen des Abgeordneten Wittmann, in: StenBer. BT, 8. WP, 88. Sitzung vom 27. April 1978, S. 6995 D. 323 BT-Drucks. 8/2881, S. 3. 324 Vgl. die Äußerungen des Abgeordneten Miltner, in: StenBer. BT, 7. WP, 162. Sitzung vom 10. April 1975, S. 11335 C sowie des Abgeordneten Krey, in: StenBer. BT, 8. WP, 157. Sitzung vom 31. Mai 1979, S. 12589 D. 325 So der Abgeordnete Wendig, in: StenBer. BT, 8. WP, 157. Sitzung vom 31. Mai 1979, S.12593 B. 326 StenBer. BT, 8. WP, 157. Sitzung vom 31. Mai 1979, S. 12593 B. Beachte ferner die Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Jahn, BT-Drucks. 8/458 Fragen Β 8 und 9 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 8. WP, 30. Sitzung vom 27. Mai 1977, S. 2196f.); Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen, BTDrucks. 8/871 Frage Β 2 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 8. WP, 40. Sitzung vom 9. September 1977, S. 3111 Df.); Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Peiter, BT-Drucks. 8/4329 Frage 24 (Antwort der Bundesregierung: StenBer. BT, 8. WP, 230. Sitzung vom 4. Juli 1980, S. 18719 C/D). 327 Vgl. Schreiber, NJW 1985, 1433 (1435).
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1. Teil: Historische Entwicklung
gehörigen ihres Hausstandes künftig dem in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG umschriebenen Personenkreis gleichzustellen."328 In Reaktion hierauf wurde von der CDU/CSU-Fraktion ein auf dem Kombinationsmodell basierender Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Vorgesehen war ein unbefristetes Wahlrecht für die in EG-Mitgliedstaaten lebenden Deutschen, sofern diese vor ihrem Wegzug mindestens drei Monate im Geltungsbereich des Bundeswahlgesetzes gelebt hatten („EG-Lösung"), sowie ein auf zehn Jahre befristetes Wahlrecht für alle übrigen Auslandsdeutschen, wiederum unter der Voraussetzung vorheriger mindestens dreimonatiger Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland („Fristenlösung").329 Doch auch die sozial-liberale Bundesregierung sah sich durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts veranlaßt, ihre bisherige, dem Wahlrecht für Auslandsdeutsche gegenüber ablehnende Haltung aufzugeben und einer Verurteilung durch das Bundesverfassungsgericht zuvorzukommen, indem sie einen Gesetzentwurf - ebenfalls auf der Grundlage einer Kombinationslösung - vorlegte.330 Der Regierungsentwurf unterschied sich von dem der CDU/CSUFraktion im wesentlichen darin, daß er das Erlöschen des Wahlrechts im Rahmen der Fristenlösung bereits nach fünf statt wie dort nach zehn Jahren eintreten ließ. Hieran hielt Bundesregierung auch fest, nachdem vom Bundesrat eine Ausdehnung der Frist auf zehn Jahre gefordert worden war.331 Dem Regierungsentwurf war eine umfassende Begründung beigefügt. Die Fristenlösung wurde mit der Erwägung gerechtfertigt, „daß die Beteiligung an Wahlen Bestandteil des ständigen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung vom Staatsvolk zu den Verfassungsorganen hin" sei und dieser Prozeß die „Möglichkeit kommunikativer Teilnahme" voraussetze. Bei Deutschen, die nicht mehr im Bundesgebiet lebten, sei dies „nur beschränkt und je länger sie außerhalb des Bundesgebietes leben, immer weniger möglich". Nur bei Deutschen, die erst eine begrenzte Zeitspanne außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebten, könne unterstellt werden, „daß die früher gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse noch eine gewisse Zeit fortwirken und daß sie auch von außerhalb noch an dem politischen Geschehen Anteil" nähmen. Sie könnten daher „noch als, Aktivbürger' qualifiziert werden." Eine Frist sei zudem ein „verfassungsrechtlich zulässiges Abgrenzungskriterium"; durch sie werde „die Wahlrechtsgleichheit optimal formalisiert". Auch erscheine die Begrenzung auf fünf Jahre „sachgerecht und praktikabel", da die meisten berufsbedingten Auslandsaufenthalte nicht länger als fünf Jahre dauerten.332 Der vorherige mindestens dreimonatige ununterbrochene Aufenthalt im Bundesgebiet wurde mit dem Argument gerechtfertigt, damit werde „ein Mindestmaß an 328
BVerfGE 58,202 (206,208); dazu näher unten 3. Teil 1. Kap. I. BT-Drucks. 9/1062; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 9. BT-Drucks. 9/1913; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 10. 331 Vgl. BT-Drucks. 9/1913, S. 26 (Stellungnahme des Bundesrates) und S. 27 (Gegenäußerung der Bundesregierung). 332 Sämtliche Zitate in: BT-Drucks. 9/1913, S. 10. 329
330
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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Bindung zur Bundesrepublik Deutschland gefordert". Auch blieben dadurch regelmäßig DDR-Bürger vom Wahlrecht ausgeschlossen. Außerdem sei die Voraussetzung vorheriger Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik aus Gründen der Wahltechnik geboten, da in den Ausführungsbestimmungen „an den melderechtlich erfaßten Aufenthalt in der ,Wegzugsgemeinde4 angeknüpft werden" könne, wodurch eine „Häufung der Wahlberechtigten in bestimmten Wahlkreisen sowie eine nennenswerte Änderung der Wählerstruktur" vermieden werde. Schließlich entspreche eine so gestaltete Regelung auch dem Völkerrecht. Die Austragung von Wahlkämpfen in anderen Staaten sei wegen der Streuung der Auslandsdeutschen nicht zu erwarten. Deutsche Hoheitsakte wahlrechtlicher Art würden auf fremdem Staatsgebiet nicht vorgenommen, „da die Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Wahlverfahren als solchem nicht befaßt" würden und ihre „rein technische Mitwirkung bei der Wahlvorbereitung (durch Bereithalten und Ausgabe von Merkblättern und Formularen) (...) unbedenklich" sei.333 Das zweite Element der Kombinationslösung, die „EG-Lösung", wurde mit Aspekten der europäischen Integration begründet. Deutsche, die von den „Bürgerrechten der EG", also Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, Gebrauch machten, sollten künftig nicht den Verlust „eines der wichtigsten staatsbürgerlichen Rechte, des Wahlrechts" in Kauf nehmen müssen. Die Begründung erwähnt auch ausdrücklich, daß mit der Neuregelung der oben zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht von EG-Beamten Rechnung getragen werde. Zwar bringe die vorgeschlagene EG-Lösung „keine absolute Gleichstellung von EG-Bediensteten mit dem in § 12 Abs. 2 BWG umschriebenen Personenkreis". Sie biete aber den Vorteil, daß durch die Anknüpfung an ein objektives Merkmal der formalisierten Wahlrechtsgleichheit in besonderem Maße entsprochen werde. Das Erfordernis vorheriger, mindestens dreimonatiger ununterbrochener Seßhaftigkeit im Bundesgebiet nach dem 23. Mai 1949 wurde wie schon bei der Fristenlösung damit begründet, daß andernfalls auch „solche Deutsche, die niemals im Geltungsbereich des Wahlgesetzes seßhaft waren (wie ζ. B. auch die im Ausland geborenen Kinder), wahlberechtigt wären, obgleich ihnen eine auf eigenen Erfahrungen beruhende Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland" fehle. Im übrigen wurde auf den Ausschluß von DDR-Bürgern sowie auf die oben genannten Gründe der Wahltechnik verwiesen.334 Daß dieses Gesetzesvorhaben in der 9. Legislaturperiode nicht mehr verwirklicht werden konnte, hing mit dem Regierungswechsel von der sozial-liberalen zur liberal-konservativen Koalition zusammen: Durch das vorzeitige Ende der 9. Legislaturperiode konnten die beiden Gesetzentwürfe im Bundestag nicht mehr beraten werden und wurden daher nach dem Prinzip der Diskontinuität hinfällig.
333 334
Sämtliche Zitate in: BT-Drucks. 9/1913, S. lOf. Sämtliche Zitate in: BT-Drucks. 9/1913, S. 11 f.
1. Teil: Historische Entwicklung
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f) 10. Legislaturperiode Somit blieb die Verwirklichung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche der 10. Legislaturperiode vorbehalten. Schon in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 benannte der neue Regierungschef Helmut Kohl das Ziel, der steigenden Zahl von im Ausland lebenden Deutschen eine Ausübung des aktiven Wahlrechts zu ermöglichen.335 Der daraufhin von den Regierungsfraktionen eingebrachte Gesetzentwurf 336 unterschied sich von dem Regierungsentwurf der 9. Legislaturperiode vor allem in zwei Punkten: Entsprechend der seinerzeit von der CDU/CSU vertretenen Linie war im Rahmen der Fristenlösung ein Erlöschen des Wahlrechts erst nach zehn statt nach fünf Jahren vorgesehen. Daneben wurde die seinerzeit geplante „EG-Lösung" durch die sog. „Europaratslösung" ersetzt, d. h. das Wahlrecht sollte allen in einen Mitgliedstaat des Europarats verzogenen Deutschen zukommen. Diese Umstellung wird zwar in den Gesetzmaterialien nicht eigens begründet, die Hintergründe lassen sich aber aus der vorangegangenen Diskussion unschwer erschließen: Gegen die „EGLösung" waren ja immer wieder Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz angeführt worden, da sie die Deutschen in Österreich und in der Schweiz unberücksichtigt ließ.337 Der Vorteil der Europaratslösung lag nun darin, daß sie einerseits sämtliche EG-Staaten, andererseits aber auch Österreich und die Schweiz erfaßte. 338 In der Literatur wird zudem auf die „im Lebensraum der Europarat-Staaten weitgehenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Übereinstimmungen, Interessenverflechtungen sowie Zielsetzungen" verwiesen wie auch auf die geographische Nähe zur Bundesrepublik Deutschland, „die einen ständigen aktuellen Informationsfluß von der Heimat nach draußen" begünstige.339 In der Bundestagsdebatte wurde von Seiten der CDU/CSU geltend gemacht, „daß immer mehr Bundesbürger zeitlich befristet in aller Welt" lebten und das Wahlrecht als „demokratische^] Rechtsgut so hoch zu bewerten" sei, „daß ihm formale Schwierigkeiten untergeordnet werden" müßten.340 Die SPD erklärte sich mit der Europaratslösung einverstanden, lehnte aber entsprechend ihrer bisherigen Haltung die Zehn-Jahres-Frist als zu lang ab.341 Die F.D.P. schließlich verteidigte die Zehn-Jahres-Frist mit dem Hinweis auf die „Verflechtung der modernen Welt" in Form von Medien, Zeitungen und anderen Informationsmöglichkeiten. 342 Demgemäß wurde 335
StenBer. BT, 4. Sitzung vom 4. Mai 1983, S. 66 B. 336 BT-Drucks. 10/1489; vgl. dazu auch den Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 10/2834, sowie des Haushaltsausschusses, BT-Drucks. 10/2844. 337
Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3. b, d. Vgl. Schreiber, NJW 1985,1433 (1435). 339 Schreiber, ebd. 340 AbgeordneterKrey, in: StenBer. BT, 10. WP, 120. Sitzung vom 7. Februar 1985, S. 8937 D, 8940 B. 341 Vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Kiehm, in: StenBer. BT, 10. WP, 120. Sitzung vom 7. Februar 1985, S. 8939 B/C. 342 Abgeordneter Wolfgramm, in: StenBer. BT, 10. WP, 120. Sitzung vom 7. Februar 1985, S. 8941 A/B. 338
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
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343
das Gesetz vom Bundestag verabschiedet. Nachdem auch der Bundesrat zugestimmt hatte,344 trat das Siebente Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes am 16. März 1985 in Kraft. 345 Damit war Auslandsdeutschen nach über fünfzehnjähriger Beschäftigung des Bundestages erstmals (wieder) umfassend die Möglichkeit eröffnet, am gesamtstaatlichen Willensbildungsprozeß in Deutschland teilzunehmen. g) Nachfolgende Änderungen Zweimal wurde der so erreichte Stand der Gesetzgebung noch abgeändert. Die erste Änderung346 stand im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung. In dem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR geschlossenen Vertrag „zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages"347 (im folgenden: Wahlrechtsvertrag) war unter anderem vorgesehen, daß im Rahmen der Europarats- wie der Fristenlösung „auch eine frühere Wohnung oder ein früherer Aufenthalt im Gebiet der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen oder in Berlin (Ost) zu berücksichtigen" sei (Art. 3 Nr. 3). Dadurch wurde Deutschen, die noch vor der Wiedervereinigung von der DDR aus in einen Mitgliedstaat des Europarats oder sonstiges Ausland übergesiedelt waren und folglich nie unter dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland gelebt hatten, das aktive Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verliehen. Desgleichen wurde die Sonderregelung für Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz (§12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) auf vergleichbare Dienst- und Arbeitsverhältnisse der DDR ausgeweitet. Zur Begründung wurde lediglich ausgeführt, die Bestimmungen berücksichtigten „die besonderen Gegebenheiten in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen sowie in Berlin und die Besonderheiten der Rechtsordnung der Deutschen Demokratischen Republik".348 Die Sonderregelungen des Wahlrechtsvertrags galten allerdings nur für die ersten gesamtdeutschen Wahlen und waren deshalb nicht in das Bundeswahlgesetz inkorporiert, sondern diesem als Anhang beigefügt worden.349 In der darauffolgenden Legislaturperiode wurde die Sonderbestimmung für die Europarats- und Fristenlösung dann aber dem Bundes Wahlgesetz als § 12 Abs. 2 Satz 3 dauerhaft eingefügt. 350 343
StenBer. BT, 10. WP, 120. Sitzung vom 7. Februar 1985, S. 8942, A/B. BR-Drucks. 64/85. Der Bundesrat hält das BWahlG entgegen der Auffassung der Bundesregierung - unzutreffenderweise - für zustimmungsbedürftig. Vgl. dazu Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., Einführung Rn. 41 m. w. N. 345 BGBl. I S. 521; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 11. 346 Vgl. hierzu auch Blumenwitz, Wahlrecht, S. 83 ff. 347 BGBl. 1990 II S. 813; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 12. 348 BT-Drucks. 11/7624, S. 13 f. 349 Vgl. die Neubekanntmachung des BWahlG vom 21. September 1990, BGBl. I S. 2059 (2073). 350 BGBl. 1993 I S. 1217; zur Begründung vgl. BT-Drucks. 12/4616, S. 36. 344
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1. Teil: Historische Entwicklung 351
Die zweite Änderung bestand in der Ausweitung der Zehn-Jahres-Frist in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG auf 25 Jahre. Diese Gesetzesänderung ging auf eine Initiative der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zurück, die für eine gänzliche Aufhebung der Zehn-Jahres-Frist eintrat, also Deutschen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Europarats den unbefristeten Fortbestand des aktiven Wahlrechts sichern wollte.352 Begründet wurde der Antrag damit, daß zwar die aktive Beteiligung an Wahlen zweifelsfrei die „Möglichkeit kommunikativer Teilnahme" voraussetze, „im Zeitalter des Internet" diese Möglichkeit jedoch „grundsätzlich und überall" gegeben sei. Auch wurde auf das Rundfunkprogramm der Deutschen Welle verwiesen, deren Auftrag es gerade sei, „im Ausland ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland zu vermitteln", weshalb in den Gebieten des Europarates „nicht grundsätzlich von einem besseren Informationsfluß auszugehen" sei. Zudem könne eine „weitgehende Übereinstimmung in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht (...) in den Ländern des Europarates nicht grundsätzlich bejaht und den anderen Ländern nicht grundsätzlich verneint werden." Auch das Argument der geographischen Nähe müsse fehlgehen, „da nicht jedes Land des Europarates grundsätzlich näher an Deutschland liegt als andere Länder." Schließlich wurde die Festlegung der Zehn-Jahres-Frist als „willkürlich" bezeichnet, da sich die persönliche und sachliche Bindung an das Heimatland „nicht an einer Zeitspanne, sondern, wenn überhaupt, nur an individuellen Gegebenheiten festmachen" lasse.353 Die Gesetzesinitiative der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurde im Innenausschuß - mit Unterstützung aller Fraktionen außer der SPD-Fraktion, die die bisherige Regelung beibehalten wollte - zur später Gesetz gewordenen 25-JahresFrist für außerhalb des Europarats lebende Deutsche abgeändert. Der Innenausschuß ließ sich dabei von der Erwägung leiten, daß die Zehn-Jahres-Frist zwar bei Einführung der Regelung im Jahr 1985 ein „tragfähiges Indiz für die Loslösung Auslandsdeutscher von der Bundesrepublik Deutschland" gewesen sei, diese ursprünglich zutreffende Annahme jedoch im Hinblick auf die „verbesserte Möglichkeit kommunikativer Teilnahme am politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland vom Ausland aus nicht länger gerechtfertigt" erscheine. Der von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN favorisierten Lösung hielt der Innenausschuß entgegen, gegen sie sprächen „eine Reihe von verfassungspolitischen und praktischen Erwägungen". Insbesondere „im Hinblick auf den demokratischen Sinn der Wahl" erscheine eine zeitlich unbegrenzte Wahlbeteiligungsmöglichkeit aller Auslandsdeutschen bedenklich.354 In dieser Fassung wurde das Vierzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom Bundestag verabschiedet355 und nach Zustimmung des Bundesrates im Bundesgesetzblatt verkündet.356 351 352 353 354 355 356
Vgl. hierzu auch Blumenwitz, Wahlrecht, S. 115f.; Schreiber, DVB1. 1999, 345 (349). BT-Drucks. 13/7864; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 14. Sämtliche Zitate BT-Drucks. 13/7864, S. 3. Sämtliche Zitate BT-Drucks. 13/9686, S. 5. StenBer. BT, 13. WP, 222. Sitzung vom 5. März 1998, S. 20328 C. BGBl. 1998 IS. 706; Auszüge in DokAnh. Α. XIV. 15.
4. Kapitel: Bundesrepublik Deutschland
h) Bisherige Wahlbeteiligung
79
der Auslandsdeutschen
Aussagen über die Höhe der bisherigen Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen begegnen gewissen Schwierigkeiten. Diese resultieren zum einen aus der Tatsache, daß es für Auslandsdeutsche keine Pflicht zur Registrierung bei den Botschaften oder Konsulaten der Bundesrepublik Deutschland gibt. Über die Zahl der wahlberechtigten Auslandsdeutschen können daher nur Schätzungen angestellt werden, die sich bei Einführung des aktiven Wahlrechts für Auslandsdeutsche 1985 auf 480000 bis 500000 beliefen. 357 Wie sich diese Zahl durch die Ausweitung des Wahlrechts auf ehemalige DDR-Bürger im Rahmen der Kombinationslösung sowie durch die Verlängerung der Frist von zehn auf 25 Jahre358 verändert hat, ist offiziellen Dokumenten nicht zu entnehmen.359 Die zweite Schwierigkeit besteht in der statistischen Erfassung derjenigen Auslandsdeutschen, die von ihrem Wahlrecht tatsächlich Gebrauch gemacht haben. Da sie wahltechnisch dem Wahlkreis ihrer „Wegzugsgemeinde" zugerechnet werden, ist das tatsächliche Wahlverhalten dieser Personengruppe statistisch überhaupt nicht erfaßbar. Gesicherte Aussagen lassen sich daher nur über die beim Bundeswahlleiter registrierten Anträge von Auslandsdeutschen auf Eintragung in das Wählerverzeichnis machen, wobei dann zu unterstellen ist, daß bei erfolgter Eintragung das Wahlrecht auch tatsächlich ausgeübt wird. Mit diesen Vorbehalten sind daher die folgenden Zahlen zu betrachten. Bei der ersten Bundestagswahl nach Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche belief sich die Zahl der beim Bundeswahlleiter registrierten Anträge auf insgesamt 31 135, wobei etwa zwei Drittel (20501) der Anträge aus Europaratstaaten stammte. Legte man eine Gesamtzahl von ca. 500 000 Wahlberechtigten zugrunde, betrug die Wahlbeteiligung insgesamt etwas mehr als 6 %, ein Ergebnis, das von der Bundesregierung als „enttäuschend" bezeichnet wurde.360 Andererseits ist aber zu berücksichtigen, daß die Wahlbeteiligung aus den Reihen der Auslandsdeutschen damit um ein Vielfaches höher lag als bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von 1979 und 1984.361 Nach 1987 lassen sich zwei gegenläufige Entwicklungen ablesen: 357 Vgl. die Mündliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger, StenBer. BT, 11. WP, 30. Sitzung vom 8. Oktober 1987, S. 1996 A (nach Schätzungen „etwa 478 000") sowie die Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Waffenschmidt vom 9. August 1990, BT-Drucks. 11/7689, S. 2 („etwa 500 000"). 358 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.g. 359 Vgl. in diesem Zusammenhang die Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Waffenschmidt vom 21. August 1990, BT-Drucks. 11/7731, S. 6f. 360 Vgl. die Äußerungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger, StenBer. BT, 11. WP, 30. Sitzung vom 8. Oktober 1985, S. 1996 B. 361 Nach Auskunft des Bundeswahlleiters betrug die Zahl der Anträge auf Aufnahme in das Wählerverzeichnis bei den Europawahlen 1979 ca. 7000 und 1984 ca. 4500 (,Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 3 Rn. 16a mit Fn. 47). Es ist freilich zu berücksichtigen, daß der Kreis der Wahlberechtigten bei den Europawahlen zur damaligen Zeit noch ein anderer war, denn gem. § 6 Eu WG waren wahlberechtigt die im Bundesgebiet oder den europäischen Gebieten der übrigen
80
1. Teil: Historische Entwicklung
Während die Wahlbeteiligung aus den Mitgliedstaaten des Europarats beständig - nicht zuletzt infolge der kontinuierlichen Erweiterung des Europarats - ansteigt (1987:21 135; 1990:21 873; 1994:26 296; 1998:36 844), ist die Wahlteilnahme aufgrund der Fristenregelung zunächst rückläufig (1987: 10634; 1990: 9811; 1994:7807). Durch die Ausweitung der Frist auf 25 Jahre steigt die Wahlbeteiligung außerhalb des Europarats im Jahr 1998 aber auf 13 868 an. Die Gesamtbeteiligung steigt damit im Jahr 1998 erstmals signifikant auf 50712, nachdem sie in den Vorjahren mit 31 684 (1990) und 34 103 (1994) relativ konstant geblieben war.362
Ergebnis des Ersten Teils Ziel der historischen Untersuchung war es, die angekündigte Dynamik im Bereich der wahlrechtlichen Wohnsitzklauseln nachzuweisen, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Garantie der Allgemeinheit der Wahl. Dabei konnte festgestellt werden, daß die Verfassung von 1849 als einzige gesamtstaatliche Verfassung in Deutschland keine Garantie des allgemeinen Wahlrechts enthält. Die Gründe hierfür wurden genannt. Seit der Verfassung des Norddeutschen Bundesfindet sich die Allgemeinheit der Wahl dann aber in allen gesamtstaatlichen Verfassungen wieder, wobei zu berücksichtigen ist, daß das Verständnis des Allgemeinheitsbegriffs im 19. Jahrhundert ein wesentlich anderes war als heute. Demgemäß erscheinen wahlrechtliche Wohnsitzklauseln aus der Sicht des 19. Jahrhunderts als verfassungsrechtlich unbedenklich, da sie nicht eine einzelne Gruppe oder Schicht, sondern alle Bürger gleichermaßen betreffen. Zudem erfolgt die Wahlrechtsbeschränkung durch Wohnsitz zur damaligen Zeit nicht auf der Ebene des materiellen, sondern nur auf der des formellen Wahlrechts. Gleichwohl ist für das aktive Wahlrecht eine beständige Ausweitung der (formellen) Stimmberechtigung zu verzeichnen: Läßt das Reichswahlgesetz von 1849, das bei den Wahlen zum Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes von 1867 Bedeutung erlangt, die Ausübung des Wahlrechts nur am Ort des festen Wohnsitzes im Sinne des Zivilrechts zu, verlangt das 1869 geschaffene Reichs Wahlgesetz nur noch den „Wohnsitz", was den gewöhnlichen Aufenthalt mit einschließt. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung von 1919 genügt Staatsdienern mit dienstlichem EG-Mitgliedstaaten seit mindestens drei Monaten wohnhaften Deutschen. Mit Blick auf die Bundestagswahl von 1987 kann daher zu Vergleichszwecken nur die Zahl der Wahler aus den EG-Mitgliedstaaten herangezogen werden. Diese lag mit 12 787 (vgl. DokAnh. Α. XV.) immer noch deutlich höher als bei den vorangegangenen Europawahlen. Nach 1985 wurde die Kombinationslösung in das Wahlrecht zum Europäischen Parlament übernommen, vgl. Art. 1 Nr. 4 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Eu WG vom 30. März 1988, BGBl. I S. 502. Gleichwohl blieb die Wahlbeteiligung bei Europawahlen mit ca. 7500 (1989), ca. 5750 (1994) - Zahlen nach Schreiber, a. a. O. - und ca. 5300 (1999) - Auskunft des Bundeswahlleiters - weiterhin gering, während die Wahlbeteiligung an den Bundestagswahlen stetig anstieg, vgl. dazu im Text. 362 Zu den Zahlen vgl. die tabellarische Aufstellung in DokAnh. XV.
Ergebnis des Ersten Teils
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Auslandswohnsitz sowie den zurückgekehrten Soldaten erstmals der einfache Aufenthalt zur Ausübung des Wahlrechts. Dieses sog. Aufenthalterstimmrecht wird im Reichs Wahlgesetz von 1920 durch die Einführung des Wahlscheins auf weite Teile der Inlandsbevölkerung ausgedehnt. 1949 wird die Wohnsitzklausel für das aktive Wahlrecht, bedingt durch die deutsche Teilung unter gleichzeitiger Beibehaltung der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit, von der Ebene des formellen auf die des materiellen Wahlrechts verlagert. Die vom Wohnsitzprinzip ausgehende Ausschlußwirkung wird 1953 durch Sonderbestimmungen für Auslandsreisende und 1956 durch die Einführung des Briefwahlrechts abermals abgeschwächt. Am längsten läßt die Einführung des aktiven Wahlrechts für Auslandsdeutsche auf sich warten. Auf noch kategorische Ablehnung stößt es in der Frankfurter Nationalversammlung 1848. Auch im Deutschen Kaiserreich kommt es, selbst nach dem Erwerb deutscher Kolonien, zu keiner Änderung. Mit den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung beginnen aber die Bemühungen des Gesetzgebers um die Einführung des aktiven Wahlrechts für Auslandsdeutsche. Nachdem es bei den Wahlen von 1919 nur partiell für Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz und die deutschen Osttruppen verwirklicht wird, denkt man bei der Schaffung des Reichswahlgesetzes von 1920 erstmals über eine umfassende Ausweitung des Aktiv Wahlrechts auf Auslandsdeutsche nach. Der Kapp-Putsch zwingt jedoch zu einer überstürzten Verabschiedung des Gesetzes, die Frage des Auslandsdeutschenwahlrechts wird daher - auch mit Rücksicht auf die außenpolitische Situation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg - zunächst ausgeklammert. Immerhin gibt die Nationalversammlung aber dem Gesetzgeber auf, das Versäumte so bald als möglich nachzuholen. Pläne zu einer Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche lassen sich danach in den Wahlreformentwürfen von 1926 und 1930 nachweisen. Sie werden wegen der allgemeinen Reformunfähigkeit von Regierung und Reichstag nicht verwirklicht. Von daher bleibt es dem Beginn der Ära des Nationalsozialismus vorbehalten, mit der Notverordnung vom 2. Februar 1933 Auslandsdeutschen erstmalig eine umfassende Möglichkeit der Wahlteilnahme in Form des Aufenthalterstimmrechts zu eröffnen, dabei zurückgreifend auf die Pläne von 1926 und 1930. Wie im einzelnen ausführlich nachgewiesen wurde, kann diese Notverordnung nicht als Ausdruck nationalsozialistischen Gedankenguts betrachtet werden. Unter der Ägide des Grundgesetzes werden Forderungen nach einer Wahlbeteiligung Auslandsdeutscher bereits vereinzelt bei den Beratungen zum „ersten" Bundeswahlgesetz von 1949 erhoben, fallen aber der ungeordneten Arbeitsweise des Wahlrechtsausschusses zum Opfer. 1953 erfolgt die (Wieder-) Aufnahme des Wahlrechts für Staatsdiener mit grenznahem dienstlichem Auslandswohnsitz, 1956 kommt - bedingt durch die Einführung des Briefwahlrechts - die Beschränkung auf grenznahes Ausland in Fortfall. Ansätze zu einer umfassenden Verwirklichung des Auslandsdeutschenwahlrechts reichen bis in die 5. Legislaturperiode zurück. Die seinerzeit geplanten Gruppenlösungen scheitern an verfassungsrechtlichen Bedenken. Aus entsprechenden Gründen wird auch die in der 6. Legislaturperiode vorgelegte EG-Lö6 Breuer
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1. Teil: Historische Entwicklung
sung nicht verwirklicht. Der Bundestag bekennt sich aber in der Entschließung vom 9. Juni 1972 einmütig zum Auslandsdeutschen Wahlrecht. Diese gemeinsame Position wird in der 7. Legislaturperiode von der mittlerweile sozial-liberalen Regierungsmehrheit im Bundestag verlassen mit dem Argument, die Entwicklung auf europäischer Ebene abwarten zu wollen. Mit ähnlicher Begründung wird auch in der 8. Legislaturperiode ein Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Erst in der 9. Legislaturperiode gibt die SPD ihre ablehnende Haltung auf, nachdem das Bundesverfassungsgericht den nahezu vollständigen Ausschluß aller Auslandsdeutschen zwar als „noch" verfassungsgemäß bezeichnet, dem Gesetzgeber aber eine Änderung nahegelegt hat. Infolge des vorzeitigen Endes der 9. Legislaturperiode kann das Auslandsdeutschen Wahlrecht erst 1985 von der liberal-konservativen Regierung verwirklicht werden. Im Zuge der Wiedervereinigung wird das Beitrittsgebiet der ehemaligen DDR in die sog. Kombinationslösung einbezogen. 1998 schließlich erweitert der Gesetzgeber die sog. Fristenlösung von zehn auf 25 Jahre. Im Gegensatz zum aktiven Wahlrecht ist die Wählbarkeit nur nach den Bundeswahlgesetzen von 1949 und 1953 vom Wohnsitz abhängig, was mit der Furcht vor Spionagetätigkeit aus dem Osten zusammenhängt. Alle übrigen Wahlgesetze kennen den Wohnsitz als Voraussetzung für die Wählbarkeit nicht. Allerdings kommt dem Inlandswohnsitz nach dem Bundes- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1870 insofern indirekte Bedeutung zu, als bei zehnjährigem ununterbrochenem Auslandsaufenthalt die Staatsangehörigkeit und damit die Grundvoraussetzung für den Besitz des Wahlrechts erlischt. Ausnahmen gelten später nur bei Aufenthalt in den deutschen Kolonien. Mit Erlaß des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes 1913 wird dieses letzte Relikt des Territorialitätsprinzips aus dem Staatsangehörigkeitsrecht getilgt. Erst die Staatsangehörigkeitsreform von 1999 bewirkt eine teilweise Wiedereinführung des ius soll·Prinzips, indem die deutsche Staatsangehörigkeit an die in dritter Generation im Ausland geborenen Kinder deutscher Eltern regelmäßig nicht mehr weitergegeben wird.
Zweiter Teil
Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts aus verfassungsrechtlicher Sicht Nach Darlegung der historischen Entwicklung wird es im folgenden Teil um die Frage gehen, ob die geschilderte Einführung des Aktivwahlrechts für Auslandsdeutsche auf politische Opportunitätserwägungen des Gesetzgebers zurückzuführen ist oder ob darin nicht möglicherweise eine Manifestation des „dynamischen Charakters" 363 der Allgemeinheit der Wahl gesehen werden kann. Praktische Relevanz gewinnt diese Frage für die Überlegung, ob der Gesetzgeber befugt wäre, das Auslandsdeutschenwahlrecht wieder abzuschaffen: Im ersten Fall wäre diese Befugnis zu bejahen, im zweiten - jedenfalls grundsätzlich - zu verneinen. Für die eine Ansicht hat sich vor dem Bundesverfassungsgericht Bryde ausgesprochen,364 die Gegenansicht wird von Magiera vertreten. 365 Im folgenden geht es daher zunächst um die isolierte Verfassungsmäßigkeit des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG, denn durch das darin enthaltene Junktim zwischen Inlandswohnsitz und Wahltermin („Wohnung oder gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland seit mindestens drei Monaten") werden Auslandsdeutsche, die ja definitionsgemäß nicht über einen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, 366 vollständig vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Die Beurteilung dieser hier verkürzt als „Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts" bezeichneten Grundentscheidung des Gesetzgebers ist zugleich präjudiziell für die Bewertung der in § 12 Abs. 2 BWahlG enthaltenen Ausnahmevorschriften, die sich im Dritten Teil der Arbeit anschließen wird. 1. Kapitel
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat seine Haltung zur Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts in zwei Entscheidungen grundgelegt und hält an dieser Rechtsprechung bis heute fest. Erforderlich ist daher zunächst eine gründliche Analyse dieser zwei Grundsatzentscheidungen (I. und Π.). Nachfolgende Judikate betrafen jeweils Son363 Blumenwitz, Wahlrecht, S. 16; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 82; Hans Meyer, in: HStRII, §38 Rn.2. 364 Bryde, in: Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Ausländerwahlrecht, S. 531. 365 Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 82. 366 Vgl. oben Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands.
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
derkonstellationen und interessieren hier deshalb nur insofern, als sie eine Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung enthalten (HL). Abschließend wird auf neuere Entwicklungen in der Dogmatik zur Allgemeinheit der Wahl eingegangen (IV.). I. Entscheidung vom 3. Mai 1956 Anlaß zur ersten Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts gab die Beschwerde des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Schmidt-Wittmack gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages, ihn seines Mandats für verlustig zu erklären. Hiervon war bereits die Rede.367 Das Bundesverfassungsgericht hatte in dem Urteil zwei rechtliche Fragen zu klären: erstens die Frage, ob die Wählbarkeitsvoraussetzung des Inlandswohnsitzes (§ 5 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1953) nur zum Zeitpunkt der Wahl oder aber die gesamte Legislaturperiode hindurch vorliegen müsse; und zweitens, ob der Begriff „Land Berlin" in § 5 Abs. 1 Satz 2 BWahlG 1953 alle vier Sektoren oder aber nur die drei Westsektoren der Stadt umfasse. Alsdann war in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen, ob der Bundestag bei seiner Entscheidung von zutreffenden Voraussetzungen ausgegangen war. Für den vorliegenden Zusammenhang ist lediglich die erste Frage von Interesse, da sich das Bundesverfassungsgericht hier mit der generellen Verfassungsmäßigkeit der Inlandsbindung des Wahlrechts auseinandersetzen mußte. Die übrigen Fragen sind dagegen nur mehr von historischer Bedeutung. So sei allein der Vollständigkeit halber kurz erwähnt, daß das Bundesverfassungsgericht den Begriff „Land Berlin" im Sinne der drei Westsektoren interpretierte 368 und auch die Feststellung des Bundestages, daß der Abgeordnete Schmidt-Wittmack seinen Wahlrechtswohnsitz von Hamburg nach Ost-Berlin verlegt habe, nicht beanstandete.369 Was nun die Frage der Inlandsbindung des Wahlrechts angeht, so betraf der Fall Schmidt-Wittmack an sich nur die Beschränkung des passiven Wahlrechts durch Wohnsitz. Die Verknüpfung von aktivem und passivem Wahlrecht durch die Formulierung „Wahlbar ist jeder Wahlberechtigte" in § 5 Abs. 1 Satz 1 BWahlG 1953 brachte es jedoch mit sich, daß das Bundesverfassungsgericht nicht bei einer isolierten Betrachtung des passiven Wahlrechts stehenblieb, sondern Aspekte der Wahlberechtigung mit einbezog. So beginnt der Gedankengang mit der Feststellung, daß die Wählbarkeit unter der Geltung des Reichs Wahlgesetzes von 1920 nicht vom Wohnsitz im Deutschen Reich abhängig war.370 Dagegen, so das Bundesverfassungsgericht, hätten die Wahlgesetze der deutschen Länder sehr wohl die Wählbarkeitsvoraussetzung des Wohnsitzes im Lande gekannt. Diese Begrenzung sei „aus praktischen Gründen" geboten gewesen. An dieser Stelle wechselt nun die Argumentationslinie vom passiven zum aktiven Wahlrecht: „Das gesamte Reichsvolk kam als 367 368 369 370
Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. IV. 2. BVerfGE 5,2 (7). BVerfGE 5, 2 (8 f.). Dazu bereits oben 1. Teil 3. Kap. IV. 2.
1. Kapitel: Bundesverfassungsgericht
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Wahler zum Landtag nicht in Betracht." Da eine Anknüpfung an die (damals noch existierenden) Landesstaatsangehörigkeiten verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet sei, habe sich als „einziges eine Abgrenzung ermöglichendes Kriterium" die Seßhaftigkeit im Lande angeboten.371 Diese Verhältnisse in den deutschen Ländern vor 1933 überträgt das Verfassungsgericht alsdann auf die Situation des geteilten Nachkriegsdeutschland. Seine Überlegung ist dabei folgende: 372 So wie vor 1933 auf dem Territorium des Deutschen Reichs mehrere Länder existierten, so existierten im Zeitpunkt der Entscheidung zwei deutsche Staaten auf dem Territorium des nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts fortexistierenden 373 Völkerrechtssubjekts „Deutsches Reich". Wortlich heißt es dazu in dem Urteil: „Da Deutschland zwar nicht de jure aber de facto geteilt ist, reicht das Merkmal der deutschen Staatsangehörigkeit als Anknüpfungspunkt nicht aus."374 Das Abstellen auf die deutsche Teilung stimmt mit dem oben375 gefundenen Ergebnis überein, daß sich der historische Gesetzgeber gerade bei der Inlandsbindung des passiven Wahlrechts von dem Bestreben leiten ließ, politische Einflußnahmen aus der Sowjetzone zu unterbinden. Diese allein am Historischen orientierte Argumentation versucht das Bundesverfassungsgericht alsdann mit der Aussage zu untermauern: „Der Bundestag ist das Repräsentationsorgan der im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Bevölkerung; sein Wirkungsraum beschränkt sich auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das Wahlrecht kann infolgedessen nur dem Teil der deutschen Bevölkerung gewährt werden, der in diesem Wirkungsbereich lebt."376 Damit allerdings gibt das Gericht ein Ergebnis vor, das eigentlich erst durch Auslegung der Verfassung hätte gewonnen werden sollen. Der Verweis auf den „Wirkungsraum" des Deutschen Bundestages muß dabei allein schon deshalb schwerwiegende Bedenken hervorrufen, weil gem. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Staatsgewalt vom gesamten Volk ausgeht und nicht nur von dem im Wirkungsraum des Deutschen Bundestages ansässigen Volk.377 Überhaupt bleibt das Urteil an dieser Stelle erstaunlich oberflächlich. Insbesondere sucht man Ausführungen zum Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, der primär die Frage nach der Zugangsberechtigung zur Wahl beantwortet, in der gesamten Entscheidung vergebens. Diese Beobachtung gewinnt um so größeres Gewicht, wenn man berücksichtigt, daß der Erste Senat (von dem die vorliegende Entscheidung gefällt wurde) in seiner Judikatur dem Wahlgesetzgeber einen weitaus größeren Gestaltungsspielraum einräumte als der später allein zuständige Zweite Senat. Hierauf wird noch einzugehen sein.378 371 372 373 374 375 376 377 378
Sämtliche Zitate BVerfGE 5, 2 (6). Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 67. BVerfGE3,288 (315 f.); bestätigt in E5,85 (126); 6,309 (336; 363); 36,1(16); 77,137 ( 154). BVerfGE 5,2 (6). 1. Teil 4. Kap. III. 2. BVerfGE 5,2 (6). Näher unten 2. Teil 4. Kap. II. 2. b. Unten 2. Teil 1. Kap. II. 3.
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Vorläufig kann festgehalten werden, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur Inlandsbindung des (aktiven wie passiven) Wahlrechts eine doppelte Begründungslinie verfolgt: Einerseits wird auf die deutschlandpolitische Situation abgestellt, ein Gesichtspunkt, der durch die Wiederherstellung der deutschen Einheit seine Gültigkeit verloren hat. Andererseits wird mit der Behauptung argumentiert, der Deutsche Bundestag sei das Repräsentationsorgan (allein) der in seinem Wirkungskreis lebenden Deutschen, ohne dabei den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl auch nur zu erwähnen. Das erste Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Inlandsbindung des Wahlrechts vermag damit letztlich nicht zu überzeugen. II. Entscheidung vom 23. Oktober 1973 Die zweite Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts geht zurück auf die Wahlprüfungsbeschwerde eines in Frankreich lebenden deutschen Journalisten, in der die Verfassungswidrigkeit des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1956 gerügt wurde.379 Nachdem der Bundestag den Einspruch mit der von ihm stets verwendeten Formel zurückgewiesen hatte, die Gültigkeit gesetzlicher Regelungen im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens nicht nachprüfen zu können,380 wandte sich der Beschwerdeführer gem. § 48 BVerfGG an das Bundesverfassungsgericht. 1. Definition der Allgemeinheit der Wahl In seiner Entscheidung holt das Gericht - und zwar nunmehr der Zweite Senat, nachdem die Zuständigkeit für Wahlprüfungsbeschwerden (§13 Nr. 3 BVerfGG) im Jahr 1956 vom Ersten auf den Zweiten Senat übergegangen war 381 - nach, was die Vorgängerentscheidung hatte vermissen lassen: eine Überprüfung der Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts am Maßstab der Allgemeinheit der Wahl. Dabei erfährt der Begriff des allgemeinen Wahlrechts eine neue, über vorige Ansätze hinausgehende Bestimmung. Nach seiner in früheren Urteilen verwendeten Definition - hier als „erste Formel" bezeichnet - entnahm der Zweite Senat dem Grundsatz allgemeiner Wahlen das Verbot, „bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen."382 Grämlich hat demgegenüber die berechtigte Frage gestellt, ob denn „lediglich" die genannten Fälle 379
BT-Drucks. 7/704. «> BT-Drucks. 7/704, S. 1; 4. Verabschiedung durch den Bundestag: StenBer. BT, 7. WP, 42. Sitzung vom 14. Juni 1973, S. 2375 A/C. 381 Vgl. das Erste Änderungsgesetz zum BVerfGG vom 21. Juli 1956, BGBl. I S. 662. Zur Rechtslage davor vgl. das BVerfGG vom 16. April 1951, BGBl. I S. 243. 382 BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (166f.). 3
1. Kapitel: Bundesverfassungsgericht
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verboten seien.383 Damit legt er den Finger in die Wunde: Denn aus der Formulierung des Gerichts geht nicht hervor, ob die präsentierte Definition in einem abschließenden Sinne gemeint ist oder nicht. Insbesondere bleibt offen, ob allein der Ausschluß ganzer Bevölkerungsgruppen verboten sein soll oder auch der Ausschluß einzelner Wähler. Immerhin scheint die Konsequenz, die der Zweite Senat aus seiner Begriffsbestimmung zog, in die erstgenannte Richtung zu deuten: Meinte er doch, den Gesetzgeber treffe keine zusätzliche verfassungsrechtliche Pflicht, „auch in einem positiven Sinne dafür Sorge zu tragen, daß die Aktivbürger, die aus einem in ihrer Person oder in der Ausübung ihres Berufes liegenden Grunde freiwillig oder unfreiwillig ihr Wahlrecht am Wahlort nicht auszuüben vermögen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können."384 So verstanden, hätte der Zweite Senat in seinen frühen Urteilen die Allgemeinheit der Wahl auf ihren historisch gewachsenen Bestand reduziert. Denn die „Wahlrechtsgrundsätze können einfach als Verbot derjenigen konkreten früheren Wahlrechte aufgefaßt werden, bei deren Bekämpfung sich jene allgemeinen Begriffe geschichtlich entwickelt haben. Dann bedeutet der Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts das Verbot der sogenannten beschränkten Wahlrechte, die als wahlberechtigt nur Angehörige bestimmter Stände oder Konfessionen anerkennen oder nur Personen mit Vermögen, Einkommen, Steuerleistung in bestimmter Höhe (Zensus)."385 Die Frage ist nur, ob sich der Inhalt dieses Grundsatzes in jenem historischen Befund erschöpft oder ob sich nicht ein darüber hinausgehender rechtlicher Gehalt ermitteln läßt.386 Die Antwort auf diese Frage gibt die hier behandelte Entscheidung: „Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (...) untersagt den unberechtigten Ausschluß von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl überhaupt."387 Diese „zweite Formel" macht deutlich, daß der Bedeutungsgehalt des Allgemeinheitsgrundsatzes über das Verbot des Ausschlusses ganzer Bevölkerungsgruppen hinausgeht. Nur so konnte das Gericht überhaupt zu dem Ergebnis gelangen, daß der Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG eröffnet sei. Gegen ein allgemeines Wahlrecht, verstanden als das bloße Verbot eines Ausschlusses bestimmter Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen, wäre durch wahlrechtliche Wohnsitzklauseln schon von vornherein nicht verstoßen worden, da sich diese gerade dadurch auszeichnen, daß sie nicht an ein subjektives, gruppenspezifisches Merkmal anknüpfen, sondern als objektive Zugangsschranke alle Staatsbürger in gleichem Maße treffen. 388 Stattdessen bezieht der Zweite Senat die Reichweite des Allgemeinheitsgrundsatzes auf den unberechtigten Ausschluß überhaupt, d. h. auf jede 383
Grämlich, JA 1986,129 (131). BVerfGE 12,139 (142); 15,165 (166); dazu auch unten 2. Teil 4. Kap. II. 1. 385 Jacobi, in: FG Schmidt, S. 59 (64). 386 Vgl. die Unterscheidung Jacobis, in: FG Schmidt, S. 59 (64f.) zwischen historisch-konkreter, historisch-abstrakter Interpretation und dem eigentlichen rechtlichen Inhalt der Wahlrechtsgrundsätze. 387 BVerfGE 36,139 (141). 388 Vgl. bereits oben 1. Teil 2. Kap. V. 1. 384
88
2. Teil: Die Inlandsbindung desaktiven Wahlrechts
Art des Ausschlusses, und verlagert so die ProJrfeTnâtik auf die Rechtfertigungsebene. Wenn der Senat unmittelbar im Anschluß an diese Definition ein Zitat der „ersten Formel·4 nachfolgen läßt,389 ist somit deutlich, daß diese nunmehr allein in einem nicht abschließenden Sinne gemeint sein kann. Verboten ist jedenfalls der Ausschluß ganzer Bevölkerungsgruppen. Deutlicher wäre insofern gewesen, mit Badura zu formulieren, nach dem Grundsatz allgemeiner Wahlen dürften „einzelne oder bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht aus politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen diskriminierenden Gründen von der Ausübung des Wahlrechts ausgeschlossen werden."390 Der Verweis auf die „erste Formel" ist somit im wesentlichen als der Versuch zu werten, Kontinuität in der Rechtsprechung zu dokumentieren. 2. Einschränkungen nur aus zwingenden Gründen Im Anschluß wendet sich das Gericht den Anforderungen zu, die an die Rechtfertigung von Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl zu stellen sind. In dieser Frage kann der Zweite Senat bereits auf von ihm entwickelte Prinzipien zurückgreifen, die als schlechterdings grundlegend für die dogmatische Durchdringung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl bezeichnet werden müssen. Er führt hierzu aus: „Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ist - ebenso wie der Grundsatz der Gleichheit der Wahl - ein Anwendungsfall des Art. 3 GG. Er unterscheidet sich von dem allgemeinen Gleichheitssatz durch seinen formalen Charakter und fordert, daß jeder sein staatsbürgerliches Recht zum Wählen in formal möglichst gleicher Weise ausüben kann. Diese Formalisierung im Bereich des Wahlrechts ist allerdings nicht mit einem Verbot jeglicher Differenzierung verbunden. Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl sind verfassungsrechtlich zulässig, sofern für sie ein zwingender Grund besteht".391 Die Formel von den „zwingenden Gründen" war vom Zweiten Senat ursprünglich für den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit entwickelt,392 dann aber auf den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl übertragen worden.393 Dies geschah in der zutreffenden Erkenntnis, daß zwischen Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nur ein gradueller, nicht hingegen ein qualitativer Unterschied besteht: Die Allgemeinheit der Wahl fordert Gleichheit bezüglich der Fähigkeit zu wählen und gewählt zu werden,394 389
BVerfGE 36, 139 (141). Badura (Zweitbearbeiter), in: BK-GG, Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 9 (Hervorhebungen vom Verfasser). 391 BVerfGE 36,139 (141). In früheren Entscheidungen taucht diese Formulierung bisweilen auch ohne eine vorhergehende eigentliche Definition der Allgemeinheit der Wahl auf, vgl. E l l , 266 (271 f.); 28,220 (225). 392 In BVerfGE 1,208 (249); dazu unten 2. Teil 1. Kap. II. 3. a. E. 393 In BVerfGE 11, 266 (272), bestätigt in E 28, 220 (225). 394 Dies die Definition von Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38 Rn. 5 (näher unten 2. Teil 2. Kap. I.). 390
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die Wahlrechtsgleichheit die Ausübung von aktivem und passivem Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise.395 Umgekehrt verbietet es der Allgemeinheitsgrundsatz, Staatsbürger vollständig von der Wahl auszuschließen, die Wahlrechtsgleichheit dagegen, bei der Stimmgewichtung zu differenzieren und so den Einfluß einzelner Wählergruppen wenn nicht vollständig, so doch zumindest teilweise zurückzudrängen.396 Diese Beobachtung entspricht auch der historischen Entwicklung: Nachdem sich das allgemeine Wahlrecht im Gefolge der Revolution von 1848/49 in den deutschen Einzelstaaten durchgesetzt hatte, gingen etliche von ihnen dazu über, durch Differenzierungen bei der Stimmgewichtung den Einfluß der unteren Klassen zurückzudrängen. Namhaftestes Beispiel hierfür war das preußische Drei-KlassenWahlrecht.397 Indem er das Vorliegen zwingender Gründe forderte, gestand der Zweite Senat dem Gesetzgeber bei Beschränkungen der Wahlrechtsgleichheit und folglich auch der Allgemeinheit der Wahl nur einen eng begrenzten Gestaltungsspielraum zu.398 Diese Position stand in Widerspruch zur Rechtsprechung des Ersten Senats, dem ja, wie bereits erwähnt, in der Anfangszeit des Bundesverfassungsgerichts die Zuständigkeit für Wahlprüfungsbeschwerden zugekommen war.399 Jener hatte nämlich die Auffassung vertreten, dem Gesetzgeber stehe bei der Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze ein weiter Ermessensspielraum im Sinne einer reinen Willkürprüfung zu.400 Diese Divergenz zwischen den beiden Senaten, die im übrigen weder von der Rechtsprechung noch von der Literatur in ausreichendem Maße zur Kenntnis genommen worden zu sein scheint,401 ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern bedeutsam, als das Urteil des Ersten Senats zur Inlandsbindung des Wahlrechts vor 395
So Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 90. Vgl. Rinck, DVB1. 1958, 221 (222). 397 Vgl. Rinck, in: FS Geiger, S. 677 (682ff.). 398 So ausdrücklich etwa BVerfGE 11,266 (272) für Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl. 399 Siehe oben Fn. 381. 400 BVerfGE 3,19 (24f.); 3, 383 (394); 5, 77 (81); dazu unten 2.Teil l.Kap. II. 3. a.E. 401 Der Unterschied wird zwar der Sache nach vielfach zutreffend beschrieben, allerdings ohne daß deutlich würde, daß es sich hierbei um eine Rechtsprechungsdivergenz zwischen Erstem und Zweitem Senat handelte, vgl, Blumenwitz, Wahlrecht, S. 66 („Nach anfänglichen Abweichungen, in denen das Gericht dem Gesetzgeber einen ,weiten Ermessensspielraum' zubilligte"); Grämlich, DVB1.1985,425 (426) mit Fn. 15 („Das BVerfG äußerte sich sodann zwar einige Male abweichend [...], kehrte aber alsbald zur ursprünglichen Auffassung zurück"); Leibholz, in: Leibholz, Strukturprobleme, S.41 (53) („Der Ermessensspielraum [...] ist daher nicht ein »weiter*, wie das Bundesverfassungsgericht gelegentlich gesagt hat") sowie Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 1 Rn. 7 („entgegen der zunächst vielfach vertretenen Auffassung, daß insoweit ein weiter Beurteilungsspielraum besteht"). Gesehen wird der Unterschied zwischen den Senaten von Rinck, DVB1.1958,221 (224) mit Fn. 27 („a. A. anscheinend noch der Erste Senat in BVerfGE 3, 24"); vgl. auch Wegge, Bedeutung, S. 212f. Dagegen wird die Rechtsprechung von Erstem und Zweitem Senat ohne weiteres nebeneinander zitiert von Brockmeyer, in: Schmidt-B leibtreu/Klein, GG, Art. 38 Rn. 4a einerseits, 6 andererseits; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 78 einerseits, 81 andererseits; Schneider, in: AK-GG, Art. 38 Rn. 39 und 42 einerseits, 43 andererseits. Zur Rechtsprechung des Zweiten Senats siehe unten Fn. 430. 396
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
einem gänzlich anderen dogmatischen Hintergrund erging als die Entscheidung des Zweiten Senats. Forscht man nach den Ursachen für diese Divergenz, kommt man zu dem überraschenden Ergebnis, daß sich beide Senate zur Fundierung ihrer Rechtsprechung auf ein und dasselbe Urteil des Reichsstaatsgerichtshofs aus der Weimarer Zeit beriefen. 402 Diese Beobachtung gibt Anlaß zu einer kurzen Darstellung der Wahlrechtsjudikatur des Reichsstaatsgerichtshofs. Sie ist in vorzüglicher Weise von Nenstiel aufbereitet worden, auf dessen Ausführungen hier im wesentlichen zurückgegriffen wird. 403 Im Anschluß wird dann die Rezeption dieser Rechtsprechung durch die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts untersucht. 3. Exkurs: Rechtsprechung des Reichsstaatsgerichtshofs zum Wahlrecht und ihre Rezeption durch das Bundesverfassungsgericht Der gem. Art. 108 WRV errichtete „Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich" war gem. Art. 19 WRV unter anderem zuständig für die Entscheidung von „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht".404 Auf der Grundlage dieser Vorschrift entwickelte der Gerichtshof eine bis in die Bundesrepublik nachwirkende Judikatur zu den Wahlrechtsgrundsätzen, wie sie in Art. 17 Abs. 1 Satz 2 WRV, dem heutigen Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechend, für die Länder vorgeschrieben waren. Besondere Bedeutung erlangte dabei die Rechtsprechung zum Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. Sie läßt sich in zwei Phasen untergliedern. Die erste Phase ist gekennzeichnet durch ein Verständnis der Wahlrechtsgleichheit im Sinne absoluter Gleichheit. Der Begriff der Gleichheit i. S. v. Art. 17 WRV, so der Reichsstaatsgerichtshof, müsse „formal gefaßt werden. Für irgendwelche Bewertungen läßt die Vorschrift keinen Raum."405 Mit dieser Begründung erklärte das Gericht in drei z.T. wörtlich übereinstimmenden Urteilen, allesamt vom 17. Dezember 1927, Vorschriften in den Landeswahlgesetzen von Hessen406, Hamburg407 sowie Mecklenburg-Strelitz 408 als mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unvereinbar. Ebenso bejahte der Reichsstaatsgerichtshof Verstöße gegen die Allgemeinheit der Wahl, welche er dahin definierte, „daß die Wahlberechtigung nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden darf, die nicht jeder Deutsche im wahlfähigen Alter erfül402 Erster Senat: BVerfGE 3, 19 (24f.); Zweiter Senat: BVerfGE 4, 375 (382f.). Allgemein zur Übernahme von Rechtsprechung des Reichsstaatsgerichtshofs durch das Bundesverfassungsgericht Blankenagel, Tradition, S. 78 ff. 403 Nenstiel, Auswirkungen, S. 134ff. 404 Zu den Einzelproblemen vgl. Nenstiel, Auswirkungen, S. 56 ff. m. w. N. 405 RStGH, Lammers/Simons I, S. 329 (337); 341 (348); 398 (406). 406 RStGH, Lammers/Simons I, S. 329ff.; dazu Nenstiel, Auswiikungen, S. 134ff. 407 RStGH, Lammers/Simons I, S. 341 ff.; dazu Nenstiel, Auswiikungen, S. 138 ff. 408 RStGH, Lammers/Simons I, S. 398 ff. [= RGZ 118 Anh., S. 22ff.]; dazu Nenstiel, Auswirkungen, S. 141 ff.
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len kann." An dieser Rechtsprechung hielt der Reichsstaatsgerichtshof in nachfolgenden Urteilen fest. 410 In der zeitgenössischen Lehre stieß sie überwiegend auf Zustimmung.411 Aus der Rechtsprechung schloß sich namentlich das Reichsgericht der Auffassung des Reichsstaatsgerichtshofs an,412 während das Wahlprüfungsgericht beim Reichstag,413 das Wahlprüfungsgericht beim Preußischen Landtag414 sowie der Bayerische Staatsgerichtshof 415 dezidiert gegen die formale Betrachtungsweise des Reichsstaatsgerichtshofs Stellung bezogen und mit im einzelnen unterschiedlichen Begründungen dem Gesetzgeber einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung des Wahlrechts einräumten. Den Beginn der zweiten Phase markiert die Entscheidung des Reichsstaatsgerichtshofs über Bestimmungen zur Bekämpfung von Splitterparteien im Preußischen Landeswahlgesetz vom 17. Februar 1930416 (sog. Preußen-Urteil). Zwei Umstände dürften für den Ausgang dieses Verfahrens jedenfalls mitbestimmend gewesen sein: einerseits die Tatsache, daß sich die politische Situation in Deutschland mittlerweile gefährlich zugespitzt hatte,417 was den Präsidenten des Reichsstaatsgerichtshofs gar dazu bewog, die mündliche Verhandlung stenographisch protokollieren und anschließend veröffentlichen zu lassen.418 Andererseits der Umstand, daß die angegriffenen Bestimmungen des Preußischen Landeswahlgesetzes mit Vorschriften des Reichswahlgesetzes übereinstimmten;419 hätte der Staatsgerichtshof insoweit also die Verfassungswidrigkeit des Preußischen Wahlgesetzes bejaht, wäre damit indirekt auch die Verfassungswidrigkeit des Reichswahlgesetzes festgestellt worden, und dies, obwohl die Nationalversammlung das Reichswahlgesetz seinerzeit einstimmig verabschiedet hatte.420 Der Reichsstaatsgerichtshof kam daher-wenig überraschend - zu dem Ergebnis, daß die angegriffenen Bestimmungen nicht gegen Art. 17 WRV verstießen. Dieses Ergebnis erreichte der Gerichtshof allerdings nicht durch eine schlichte Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung. Vielmehr bestätigte er als Ausgangs409
RStGH, Lammers/Simons I, S. 329 (338); 341 (349); 398 (407) [= RGZ 118 Anh., S. 22 (35)]. Diese Definition wurde vom Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anfänglich aufgegriffen (vgl. BVerfGE 3, 19 [31]), erlangte aber in der Rechtsprechung des Zweiten Senats keinerlei Bedeutung. 410 RStGH, Lammers/Simons I, S. 356f.; 321 ff.; Lammers/Simons II, S. 136ff. [= RGZ 124 Anh., S. 1 ff.]; dazu im einzelnen Nenstiel, Auswirkungen, S. 143 f.; 145 f.; 164 ff. 411 Vgl. Nenstiel, Auswirkungen, S. 151 ff. m. w. N. 412 RG, Lammers/Simons I, S. 460ff.; dazu Nenstiel, Auswirkungen, S. 146ff. 413 JW 1930,1253 ff.; dazu Nenstiel, Auswirkungen, S. 156f. 414 JW 1930, 587ff.; dazu Nenstiel, Auswirkungen, S. 158 f. 415 BayStGH, Lammers/Simons III, S. 111 ff.; dazu Nenstiel, Auswirkungen, S. 194ff. 416 RStGH, Lammers/SimonsIV, S. 131 ff. [= RGZ 128 Anh., S. 1 ff.]; bestätigt in Lammers/ Simons IV, 147ff. [= RGZ 130 Anh., S. 11 ff.] 417 So Nenstiel, Auswirkungen, S. 183 f. 418 Hinweis von Jacobi, in: FG Schmidt, S. 59 (63) m. w. N. 419 Hierauf wird im Urteil ausdrücklich verwiesen, vgl. Lammers/Simons IV, S. 131 (136) [= RGZ 128 Anh., S. 1 (7)]. 420 Zu den Konsequenzen vgl. Fn. 184.
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punkt ausdrücklich seine Position, wonach der Begriff der Wahlrechtsgleichheit formal zu deuten sei und im Unterschied zum allgemeinen Gleichheitssatz auf eine absolute Gleichheit ziele.421 Dabei erfolgte auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Kritik von Seiten der oben genannten Gerichte, freilich ohne deren ausdrückliche Nennung. Die daran anschließenden Ausführungen können aber nur als eine vorsichtige Relativierung seiner bisherigen Haltung gewertet werden.422 Der Reichsstaatsgerichtshof entnahm nunmehr der Vorschrift des Art. 22 Abs. 2 WRV („Das Nähere bestimmt das Reichswahlgesetz") die Aussage, daß dem Gesetzgeber „ein gewisser Spielraum bei der Durchführung auch der großen Wahlgrundsätze gewährt wird", daß er „einen einzelnen von ihnen im Interesse der Durchführung der übrigen nötigenfalls einengen darf." 423 Allerdings fügte er einschränkend hinzu, daß sich Beschränkungen „bei der Strenge, die dem Gleichheitssatz des Art. 22 RVerf. an sich innewohnt, in engen Grenzen halten" müßten und nicht weitergehen dürften, „als sie durch ein wirklich dringendes Bedürfnis gerechtfertigt werden/"424 Die Entscheidung, „ob und inwieweit" Abweichungen geboten seien, billigte der Reichsstaatsgerichtshof schließlich dem Gesetzgeber zu und beschränkte sich insofern auf die Korrektur offensichtlicher Verstöße. Einen solchen offensichtlichen Verstoß sah er im Fall der streitigen Bestimmungen des Reichswahlgesetzes und folglich auch des preußischen Wahlgesetzes als nicht gegeben an.425 Eine Analyse des Preußen-Urteils macht deutlich, daß der Reichsstaatsgerichtshof hier den Versuch unternahm, zwei gegenläufige Positionen miteinander in Einklang zu bringen: Einerseits gestand er dem Wahlgesetzgeber einen (gewissen) Gestaltungsspielraum zu, andererseits war er bestrebt, diesen Spielraum auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. So verwundert es denn auch nicht, daß sich sowohl der Erste als auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auf gerade dieses Urteil berufen konnten: Der Erste Senat übernahm das Argument, daß dem Gesetzgeber durch den Gestaltungsauftrag (jetzt Art. 38 Abs. 3 GG) ein Spielraum gewährt worden sei, unterdrückte aber in seinem Zitat des Preußen-Urteils die Passage, in der es heißt, daß sich Beschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze in „engen Grenzen" halten müßten; damit gelangte er zu dem Ergebnis, daß das Bundesverfassungsgericht auch im Wahlrecht auf eine Offensichtlichkeitskontrolle beschränkt sei, reduzierte also seine Kontrolldichte auf das Niveau des Art. 3 GG.426 Im Gegensatz dazu griff der Zweite Senat die Rechtsprechung von der stärkeren Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit auf und räumte dem Gesetzgeber nur einen begrenzten Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlrechts ein.427 Zur näheren Bestimmung des verbleibenden Gestaltungsspielraums stützte er sich auf ein Urteil des Bayerischen Verfas421 422 423 424 425 426 427
RStGH, Lammers/Simons IV, S. 131 (136) [= RGZ 128 Anh., S. 1 (7f.)]. Ebenso Rinck, DVB1. 1958,221 (222). RStGH, Lammers/SimonsIV, S. 131 (138f.) [= RGZ 128 Anh., S. 1 (10f.)]. RStGH, Lammers/Simons IV, S. 131 (139) [= RGZ 128 Anh., S. 1 (11)]. RStGH, Lammers/SimonsIV, S. 131 (139f.) [= RGZ 128 Anh., S. 1 (11 f.)]. BVerfGE 3,19 (24f.); siehe dazu auch unten 2. Teil 4. Kap. III. 1. a. BVerfGE 4, 375 (382f.).
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sungsgerichtshofs, 428 der mittlerweile die im Preußen-Urteil verwendete Formulierung von dem „wirklich dringenden Bedürfnis" zu der Formel des „zwingenden Grundes" weiterentwickelt hatte.429 Dies ist mittlerweile unangefochtener Bestand der Rechtsprechung des Zweiten Senats.430 Damit erweist sich das Urteil des Ersten Senats zur Inlandsbindung des Wahlrechts als kaum mehr aussagekräftig. Auch wenn der Erste Senat nicht ausdrücklich auf seine These vom weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers rekurrierte, ist doch davon auszugehen, daß die Entscheidung von dem entsprechenden dogmatischen Hintergrund zumindest mitbeeinflußt wurde. Um so interessanter erscheint daher, wie der Zweite Senat in dieser Frage entschieden hat. 4. Zur Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts Im wesentlichen ein Argument ist es, mit dem der Zweite Senat das Vorliegen eines zwingenden Grundes bei der Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts bejaht: So wie „von jeher" aus zwingenden Gründen das Erfordernis eines Mindestalters, der Wahlrechtsausschluß wegen geistiger Gebrechen oder infolge Richterspruchs als mit der Allgemeinheit der Wahl vereinbar angesehen worden seien, zähle auch das Erfordernis der Seßhaftigkeit im Wahlgebiet zu den „traditionellen Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl".431 Es folgen ein Verweis auf die Entscheidung des Ersten Senats sowie Ausführungen zum Wahlrecht in der Weimarer Zeit, auf die noch näher einzugehen sein wird.
428
BVerfGE 1, 208 (248 f.). BayVerfGH 5,66 (75). 430 Dabei variiert die Formulierung zwischen „zwingenden Gründen" (ζ. B. BVerfGE 8, 51 [64 f.]; 13,243 [247]; 14,121 [133]; 20,56 [66]; 28,220 [225]; 29,154 [164]; 36,139 [141]; 41, 1 [12]; 41, 399 [413]; 82, 322 [338]), „besonderen rechtfertigenden Gründen" (z.B. BVerfGE 11, 266 [272]; 11, 351 [361]; 12, 10 [25]; 12, 73 [77]; 13, 1 [12]), „besonderen zwingenden Gründen" (z.B. BVerfGE 24, 300 [341]; 34, 160 [163]; 44, 125 [146]), „besonderen - zwingenden - Gründen" (BVerfGE 47,198 [227]) und „besonderen, rechtfertigenden, zwingenden Gründen" (ζ. B. BVerfGE 34, 81 [99]; 51, 222 [235]). In der Sache ist damit jedoch immer das gleiche gemeint, daß nämlich an die Rechtfertigung von Einschränkungen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl besonders hohe Anforderungen gestellt werden müssen. Ebenso Bausback, Grenzen, S. 152; Pauly, AöR 123 (1998), 232 (252) mit Fn. 94; ähnlich Hans Meyer, in: HStR II, § 38 Rn. 24 mit Fn. 85. Nur zweimal hat der Zweite Senat dem Gesetzgeber im Wahlrecht bislang einen weiten Gestaltungsspielraum zugebilligt, vgl. BVerfGE 59,119 (124); 95, 335 (349). Diese Tatsache erklärt sich aber jeweils aus dem Umständen des Einzelfalls und ist nicht als Aufgabe der ständigen Rechtsprechung zu werten. 431 BVerfGE 36, 139 (141 f.). 429
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a) „ Tradition " als „ zwingender Grund " ? Doch zunächst soll einen Moment lang bei dem Grundansatz des Zweiten Senats verweilt werden, also bei der Frage, ob auch „traditionelle Begrenzungen" als „zwingende Gründe" anerkannt werden können oder gar müssen. Die Literatur bietet in dieser Frage ein uneinheitliches Bild. Wahrend einige Autoren dem traditionalistischen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts - allerdings, dies verdient hervorgehoben zu werden, stets ohne nähere Begründung - folgen, 432 üben andere hieran heftige Kritik. 433 Häberle bezeichnet die Entscheidung als ein „Negativbeispiel für eine rein historische, zum verfassungsunmittelbaren »Selbstwert" stilisierte Auslegung", indem „die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG erfolgte Begrenzung der .Allgemeinheit4 der Wahl (Seßhaftigkeit im Wahlgebiet) allein als »traditionelle Begrenzung4 verstanden und »demgemäß4 für verfassungsmäßig erklärt44 werde. „, Seit je her4-Argumentationen44 seien aber „sachlich jeweils neu an der öff. Verfassung zu überprüfen." 434 Auch Schreiber, der die Entscheidung in der Sache für richtig hält, vermißt „nähere Ausführungen zur Idee und Institution der parlamentarisch repräsentativen Demokratie i. S. der Art. 20 Abs. 2 und 38 Abs. 1 GG44 sowie eine „ausführlichere Auseinandersetzung mit den Wahlrechtsgrundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl44.435 Blumenwitz fügt dem den Hinweis hinzu, im 19. Jahrhundert seien traditionellerweise auch Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen gewesen, ohne daß dies als ein Verstoß gegen die Allgemeinheit der Wahl angesehen worden wäre.436 Die Tradition allein bietet daher nach Auffassung dieser Autoren keine hinreichende Legitimationsgrundlage für die Beschränkung eines so fundamentalen Rechts wie des Wahlrechts. Angesichts dieser Kritik stellt sich die Frage nach der generellen Zulässigkeit historischer Auslegung im Verfassungsrecht. Dabei überrascht, daß das Bundesverfassungsgericht-jedenfalls in seinen abstrakt-methodologischen Äußerungen - der historischen Auslegungsmethode zumeist eine nur subsidiäre Bedeutung zuweist, die darin besteht, ein nach den übrigen Auslegungsgrundsätzen gefundenes Ergebnis zu bestätigen oder Zweifel zu beheben, die auf anderem Wege nicht ausgeräumt werden können.437 Ausnahmen hiervon billigt das Gericht nur bei Kompetenznor432 Badura (Zweitbearbeiter), in: BK-GG, Anh. z. Art. 38: BWahlG Rn. 10; Leibholz/Rinck/ Hesselberger, GG, Art. 38 Rn. 57; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38 Rn. 40; Martens, JR 1974,189 (192); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38 Rn. 20. 433 Blumenwitz, Wahlrecht, S. 76f.; Grabitz/Meyer, EuWG, § 6 Rn. 7; Häberle, ZfP 1974,111 (126) mit Fn. 97; Hans Meyer, in: HStR II, § 38 Rn. 2 mit Fn. 8; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 61; Schreiber, DÖV 1974, 829 (830). 434 Sämtliche Zitate Häberle, ZfP 1974, 111 (126) mit Fn. 97; zustimmend Blumenwitz, Wahlrecht, S. 77; Grabitz!Meyer, EuWG, § 6 Rn. 19. 435 Schreiber, DÖV 1974, 829 (830); ihm folgend Grabitz/Meyer, EuWG, § 6 Rn. 7. 436 Blumenwitz, Wahlrecht, S. 77. 437 Grundlegend BVerfGE 1, 299 (312); bestätigt in E 8, 274 (307); 11, 126 (131); 47, 109 (127); 53,135 (147). Diese zunächst nur für die Auslegung von einfachem Gesetzesrecht ausgesprochene Auslegungsmaxime überträgt das Bundesverfassungsgericht später auch auf die Verfassungsauslegung mit der Formulierung, daß der Entstehungsgeschichte „für die Auslegung der einzelnen
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men438 oder bei neuen Regelungen, für deren Auslegung sich noch keine festen Grundsätze haben bilden können.439 Die theoretische Bedeutungslosigkeit der historischen Auslegung steht allerdings in eklatantem Widerspruch zu ihrer praktischen Relevanz. Wie in der Literatur im einzelnen nachgewiesen worden ist, bedient sich das Bundesverfassungsgericht historischer Argumente in einem Umfang, der mit den selbstgewählten methodischen Vorgaben schlicht nicht in Einklang zu bringen ist.440 Die hier behandelte Entscheidung bildet da nur eines von mehreren Beispielen. Demgemäß wird die Bedeutung der historischen Auslegung in der Literatur uneinheitlich beurteilt.441 Doch selbst diejenigen, die ihr eine größere Bedeutung beimessen wollen, stehen einer allein auf historischen Argumenten gegründeten Verfassungsauslegung skeptisch gegenüber. Denn die Geltung von Tradition ist „nur dort unproblematisch, wo sie nicht hinterfragt wird; eine in Frage gestellte Tradition kann sich nicht mit dem Hinweis auf ihre Geltung aus dem , Sumpf neuzeitlicher Rationalität befreien", so Blankenagel.442 Auch Schneider, der sich offen zu dem Ziel einer „Rehabilitierung" der historischen Auslegungsmethode im Verfassungsrecht bekennt,443 will dieser nur unter einschränkenden Voraussetzungen entscheidende Bedeutung zukommen lassen. Als deren erste nennt er, daß „die Schöpfer der Verfassung das aktuelle Rechtsproblem nicht nur erkannt und vorausgesehen haben, sondern es auch in einem bestimmten, nachvollziehbaren Sinne regeln wollten."444 Wendet man diese Maßstäbe auf die hier behandelte Entscheidung an, so ist festzustellen, daß der traditionalistischen Argumentationsweise des Bundesverfassungsgerichts nicht gefolgt werden kann. Denn die Tradition der Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts war (im Sinne Blankenagels) spätestens mit der Klage zum Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt, ihre Selbstverständlichkeit erschüttert. Der ausschließliche Rückgriff auf die Tradition mußte (nach Schneider) um so weniger zulässig erscheinen, als sich den Entstehungsmaterialien des Grundgesetzes kein konkreter Regelungswille des Verfassunggebers entnehmen läßt, denn wie gesehen, kam Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung in der Regel nicht zukommen" könne, vgl. E6,389 (431); bestätigt in E41, 291 (309); 51, 97 (110); 62,1 (45). Eine ausführliche Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung findet sich bei Sachs, DVB1. 1984,73 ff. Zu späteren Entscheidungen Nachweise bei Stern, in: Stem, Staatsrecht III/2, § 95 II2bfree flow of information" 961 der permanente Inlands wohnsitz als erforderlich angesehen werden kann und muß, um die Möglichkeit kommunikativer Teilnahme zu gewährleisten. Insofern ist zunächst auf die Einschätzung des Gesetzgebers hinzuweisen: Dieser ließ sich bei der Ausweitung der Frist in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG von zehn auf 25 Jahre962 von der Einschätzung leiten, daß die ursprüngliche Zehn-Jahres-Frist zwar zunächst ein tragfähiges Indiz für die Loslösung Auslandsdeutscher von der Bundesrepublik Deutschland dargestellt habe, „im Hinblick auf die verbesserte Möglichkeit kommunikativer Teilnahme am politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland 957 Zu diesem Aspekt vgl. Bausback, Grenzen, S. 116ff.; Hans Meyer, in: HStR II, § 37 Rn. 38 ff.; Wenner, Sperrklauseln, S. 171 f. m. w. N. 958 Ausdruck von Isensee, KritV 1987,300 (302), im Zusammenhang mit dem Wahlrecht für Ausländer. 959 Vgl. oben 2. Teil 1. Kap. IV. 2. b. 960 Vgl. nur BVerfGE 67,157 (173); 81, 156 (192); 90, 145 (172), jeweils m. w. N. 961 Zu diesem Begriff ausführlich Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 225 ff.; vgl. auch Blumenwitz, in: Gepperth (Hrsg.), Informationsfreiheit, S. 18 (20). 962 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3. g.
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vom Ausland her" aber nicht länger gerechtfertigt erscheine. Noch pointierter hieß es diesbezüglich in der Begründung zum Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, im Zeitalter des Internet sei „die Möglichkeit kommunikativer Teilnahme grundsätzlich und überall gegeben."964 Diese gesetzgeberische Einschätzung wird durch eigenständige Tatsachenfeststellungen bestätigt. Die Möglichkeiten politischer Kommunikation, die insbesondere der Einsatz des Internets eröffnet, wird von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" in ihrem Schlußbericht wie folgt beschrieben: „Politische Kommunikation entwickelt sich zur Zeit im Netz, wie das Angebot und die Nachfrage politischer Netzkommunikation zeigen. Hier sind vor allem die elektronischen Briefkästen, Mailinglisten, Online-Redaktionen und Chat-Angebote, die themenbezogenen Diskussionsforen und die E-mail-Dienste zu nennen. Vor allem Chat-Foren sind schon für politische Aktionen der UmWeltorganisationen und Bürgerrechtsbewegungen genutzt worden. Denn das Netz eignet sich vor allem zur preiswerten, gezielten und schnellen Verbreitung von Informationen, die von etablierten Medien in dieser Weise nicht geleistet werden kann."965 Die Enquete-Kommission hebt weiterhin hervor, daß der Deutsche Bundestag mittlerweile über ein umfassendes Angebot für die Öffentlichkeit verfüge, das zum Berichtszeitpunkt (Ende 1998) von ca. 2700 Bürgern täglich in Anspruch genommen werde. Auch die Fraktionen und Gruppen im Deutschen Bundestag böten umfangreiche Darstellungen im Internet an, gleiches gelte - in unterschiedlicher Ausprägung - für Parteien und Verbände.966 Einer Stimmabgabe per E-mail in Ergänzung zur Briefwahl steht die Kommission ebenfalls positiv gegenüber, weist aber zugleich auf die noch vorhandenen Risiken bezüglich der Datensicherheit hin, die einem derzeitigen Einsatz entgegenstünden.967 Freilich hat nicht erst die Entwicklung und Verbreitung des Internets die Möglichkeit geschaffen, sich vom Ausland her über das Geschehen in der Bundesrepublik zu informieren. Das gesamte Spektrum moderner Massenmedien verfügt heute über eine Reichweite, die die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland weit überschreitet. Durch die Entwicklung der Satellitentechnik wäre es heutzutage möglich, mit nur drei Rundfunksatelliten die gesamte Erde (ausgenommen die Polarkappen) mit Hörfunk- und Fernsehprogrammen zu versorgen.968 So bietet beispielsweise die Deutsche Welle, deren Programmauftrag es ist, den Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in
963 964 965 966 967 968
BT-Drucks. 13/9686, S. 5. BT-Drucks. 13/7864, S. 3. BT-Drucks. 13/11004, S.79f. BT-Drucks. 13/11004, S.78. BT-Drucks. 13/11004, S. 80; zurückhaltend auch Schreiber, DVB1. 1999, 345 (355). Gornig, ZUM 1992, 174 (175).
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Deutschland zu vermitteln (§ 4 Deutsche-Welle-Gesetz969), zusätzlich zu ihren diversen Hörfunkaktivitäten seit April 1992 ein Fernsehprogramm an, das über Satellit weltweit verbreitet wird. 970 Der Empfang anderer Sender wird insbesondere innerhalb Europas gefördert durch die Liberalisierung des Rundfunkmarktes im Rahmen der EG971 sowie durch das Europäische Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 5. Mai 1989972, das im Rahmen des Europarats abgeschlossen wurde. Auch das herkömmliche Informationsmedium, die Presse, ist in seiner Verbreitung längst nicht mehr auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland beschränkt. Beispielsweise wird die Frankfurter Allgemeine Zeitung als größte deutsche Tageszeitung in insgesamt 148 Ländern vertrieben.973 Die geschilderten faktischen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung vom Ausland her sind zudem menschenrechtlich abgesichert. Art. 19 Abs. 2 IPBPR, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK sowie Art. 13 Abs. 1 Satz 2 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention974 gewährleisten jeweils das Recht auch grenzüberschreitender Informationsbeschaffung. 975 Zwar ist im Schrifttum vereinzelt die Meinung vertreten worden, das Satellitendirektfernsehen werde nicht von den Gewährleistungen von IPBPR und EMRK erfaßt, da die technische Entwicklung in diesem Bereich zur Zeit der Vertragsentstehung noch nicht absehbar gewesen sei.976 Mittlerweile hat aber 969 Gesetz über die Rundfunkanstalt des Bundesrechts „Deutsche Welle" vom 16. Dezember 1997, BGBl. IS. 3094. 970 Vgl. BT-Drucks. 13/4708, S.20. 971 Vgl. Art. 2a Abs. 1 Fernsehrichtlinie (RL 89/552/EWG, ABl. 1989, L 298/23, zuletzt geändert durch RL97/36/EG, ABl. 1997, L 202/60): „Die Mitgliedstaaten gewährleisten den freien Empfang und behindern nicht die Weiterverbreitung von Fernsehprogrammen aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet aus Gründen, die Bereiche betreffen, die durch diese Richtlinie koordiniert sind." Vgl. femer die Richtlinie 93/83/EWG vom 27. September 1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk und Kabelweiterverbreitung. Dazu näher Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Bd. I, EGV Art. 128 Rn. 97 ff. 972 BGBl. I S. 639; Art. 1 Satz 2: „[Dieses Übereinkommen] verfolgt den Zweck, zwischen den Vertragsparteien die grenzüberschreitende Verbreitung und Weiterverbreitung von Fernsehprogrammen zu erleichtem." 973 F. A.Z. GmbH (Hrsg.), Bedienungsanleitung (Stand: März 1998), S. 3. 974 Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969, abgedruckt in: EuGRZ 1980,435 ff. 975 Art. 19 Abs. 2 IPBPR: »Jedermann hat das Recht, (...) ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen (...) sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben." Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EMRK: „Dieses Recht schließt (...) die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landes grenzen ein." Art. 13 Abs. 1 Satz 2 AMRK: „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, Nachrichten und Ideen jeder Art ohne Rücksicht auf Landesgrenzen zu ermitteln, zu empfangen oder mitzuteilen (...)." - Hervorhebungen vom Verfasser. 976 Simma, in: BDGVR 19 (1979), 39 (76,112); dagegen Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 158 sowie ders., ZUM 1992,174 (184f.).
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
183
der Menschenrechtsausschuß die neuen Medien ausdrücklich in den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 2 IPBPR einbezogen,977 und auch der EGMR hat entschieden, daß jede Rundfunksendung, gleich ob sie durch den Äther, über Kabel978 oder über Satellit979 verbreitet wird, vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 EMRK erfaßt ist. Die Freiheit grenzüberschreitender Informationsbeschaffung ist damit im Grundsatz völkervertraglich garantiert, auch wenn die genannten Menschenrechtsvereinbarungen Möglichkeiten der Einschränkung unterschiedlichen Ausmaßes zulassen.980 Des weiteren ist hervorzuheben, daß zwischen Parlamentariern und Auslandsdeutschen sogar direkte Kommunikationswege existieren. CDU, SPD und F.D.P. haben Auslandsgruppen gebildet, um auch diesen Deutschen eine politische Mitarbeit zu ermöglichen.981 Zudem gehören einzelne Abgeordnete des Deutschen Bundestages dem 1881 gegründeten „Verein für das Deutschtum im Ausland e. V." (jetzt: „Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland") an,982 der den Parlamentariern die Möglichkeit eröffnet, sich direkt über Anliegen und Bedürfnisse der Auslandsdeutschen zu informieren. Es kann und soll hier nicht bestritten werden, daß die kommunikative Teilnahme vom Ausland her in Einzelfällen schwierig oder gar ausgeschlossen sein mag. Derartige Einzelfälle können und müssen aber bei einer - auch im Rahmen des allgemeinen Wahlrechts zulässigen - typisierenden Betrachtungsweise unberücksichtigt bleiben. Die Befugnis des Gesetzgebers zur Generalisierung bzw. Typisierung besteht unter anderem bei der Ordnung von Massenerscheinungen.983 Als Beispiele hierfür sind vom Bundesverfassungsgericht das Steuer-984 und Sozialversicherungsrecht985, aber auch das Wahlrecht986 anerkannt worden. Angesichts der beschriebenen 977 General Comment 10/19 vom 27. Juli 1983, abgedruckt bei Nowak, CCPR-Commentary, S. 855 f. 978 EGMR, Groppera Radio AG und andere ./. Schweiz, Urteil vom 28. März 1990, Ser. A vol. 173, Tz. 55. 979 EGMR, Autronic AG ./. Schweiz, Urteil vom 22. Mai 1990, Ser. A vol. 178, Tz. 43 ff. 980 Vgl. dazu im einzelnen Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 248 ff.; 285 ff.; 325 ff.; 334f.; femer Blumenwitz, in: Gepperth (Hrsg.), Informationsfreiheit, S. 18 (39 ff.); Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10 Rn. 22ff.; Nowak, CCPR-Commentary, Art. 19 Rn. 28 ff. 981 Näher dazu Engelhardt, JZ 1985,77 f. 982 Im 13. Deutschen Bundestag waren dies die Abgeordneten Klein (CSU), Koschyk (CSU) (ehrenamtlicher Bundesvorsitzender des Vereins) und Sielaff (SPD). 983 Vgl. nur BVerfGE 89,15 (24); 96,1 (6), jeweils m. w. N. Allgemein zur Typisierung Huster, Rechte, S. 245 ff. 984 Etwa BVerfGE 84, 348 (359f.); 96, 1 (6); weitere Nachweise bei Huster, Rechte, S. 250 mit Fn. 35. 985 Etwa BVerfGE 50,177 (188); 63,119(128); weitere Nachweise beiHuster, Rechte, S.251 mit Fn. 36. 986 Für die Allgemeinheit der Wahl vgl. BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NVwZ 1997,1207; vgl. auch BVerfGE 30, 227 (249). Nur mit der Befugnis zur Typisierung läßt sich im übrigen die Festlegung des Wahlalters rechtfertigen: Ware dem Gesetzgeber im Wahlrecht eine Generalisierung untersagt, müßte bei jedem einzelnen Heranwachsenden geprüft werden, ob die zur Ausübung des Wahlrechts erforderliche politische Mündigkeit vorhanden ist.
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
tatsächlichen Möglichkeiten grenzüberschreitender Informationsbeschaffung ist bei typisierender Betrachtung davon auszugehen, daß die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland vom Ausland her grundsätzlich gegeben ist. (4) Einschätzungsprärogative
des Gesetzgebers
Bei den vorstehenden Ausführungen handelt es sich um Tatsachenfeststellungen, für die der Gesetzgeber, wie beschrieben,987 keine Einschätzungsprärogative reklamieren kann. Ebenfalls gezeigt wurde aber, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Bewertung des ermittelten Tatsachenmaterials einen - im Wahlrecht allerdings eng begrenzten - gesetzgeberischen Einschätzungs- und Bewertungsspielraum zu respektieren hat. Inwieweit der Gesetzgeber daher berechtigt ist, das Auslandsdeutschenwahlrecht gewissen Grenzen, etwa einer Befristung, zu unterwerfen, wird im Dritten Teil dieser Arbeit zu untersuchen sein.988 Jedenfalls der Ausschluß aller Auslandsdeutschen vom Wahlrecht kann aber angesichts der heutigen Möglichkeiten weltweiter Kommunikation nicht länger als verfassungsgemäß gelten. Der Inlandswohnsitz erscheint insoweit als nicht mehr erforderlich, um eine informierte Mitwirkung am Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. bb) Wahltechnik Wenn die in der Debatte um das Auslandsdeutschenwahlrecht vereinzelt laut gewordenen Bedenken hinsichtlich der Wahltechnik989 hier unter dem Aspekt der Kommunikationsfunktion der Wahl thematisiert werden, so geschieht dies in der Erkenntnis, daß nur eine verfahrensmäßige Ausgestaltung des Wahlvorgangs, die eine mehrfache Stimmrechtsausübung und sonstige Formen des Wahlbetrugs soweit als möglich vereitelt, eine unverfälschte Wiedergabe des Volkswillens ermöglicht. In diesem Sinne dient also auch die Wahltechnik dem Kommunikationsprozeß zwischen Regierenden und Regierten. Allerdings wurde bereits an anderer Stelle herausgearbeitet, daß der Gesetzgeber zwar nicht zur Einführung eines konkreten Wahlverfahrens verpflichtet ist, daß sich aber aus der Natur des Wahlrechts als eines verfahrensabhängigen Rechts gewisse Verfahrensgarantien ableiten lassen: Ohne die Einrichtung eines Wahl Verfahrens staatlicherseits würde das Wahlrecht zum nudum ius, der Gesetzgeber ist daher zur 987
Vgl. oben 2.Teil 4. Kap. IV.2.baa(l). Vgl. unten 3. Teil 1. Kap. III. 2. 989 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 70; Thomas Spies , Schranken, S. 62; EKMR, X ./. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 11. Dezember 1976,7566/76, DR 9,121 (122). Unabhängig von der Debatte um das Auslandsdeutschenwahlrecht wird die Eintragung in das Wählerverzeichnis vom OVG Lüneburg DÖV 1985,153 (155) als „zwingendes Erfordernis" bezeichnet. 988
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
185
Schaffung eines Wahlverfahrens verpflichtet, welches nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zudem der Effektuierung des Grundrechtsschutzes dienen muß.990 Wählt der Gesetzgeber nun eine Verfahrensgestaltung, die den ständigen Inlandswohnsitz zur unabdingbaren Voraussetzung für die Wahlteilnahme erhebt (wie dies im wesentlichen vor der Wahlrechtsnovelle von 1985 der Fall war), so macht er damit für eine ganze Personengruppe, die Auslandsdeutschen, die Stimmrechtsausübung von vornherein unmöglich. Es dürften wenig Zweifel daran bestehen, daß ein derartiges Wahlverfahren - sofern sich nicht anderweitige materielle Gründe für den Wahlrechtsausschluß der Auslandsdeutschen anführen lassen - gegen die Verpflichtung zur Schaffung eines effektiven Verfahrens verstößt. Eine solche Auslegung wird durch den historischen Befund bestätigt.991 Denn das Wahlrecht in Deutschland kennt seit Beginn des 20. Jahrhunderts Instrumente, die die Stimmabgabe an einem anderen Ort als dem festen Wohnsitz ermöglichen: Nach dem Reichs Wahlgesetz von 1920 und den nachfolgenden Wahlgesetzen war dies der Wahlschein, welcher zur Stimmabgabe im Wahlbezirk des jeweils vorübergehenden Aufenthalts berechtigte.992 Mit dem „dritten" Bundeswahlgesetz von 1956 wurde dieses Verfahren im wesentlichen von der Briefwahl abgelöst.993 Beide Instrumente können auch für eine Wahlbeteiligung Auslandsdeutscher fruchtbar gemacht werden. Zwar ist mit dem Bundesverfassungsgericht 994 und entgegen einigen Stimmen in der Literatur 995 davon auszugehen, daß der Gesetzgeber nicht zur Einführung der Briefwahl verpflichtet war. Denn die Allgemeinheit der Wahl, die an sich für ihre Einführung spräche, gerät hier in Kollision mit den Wahlrechtsgrundsätzen der Freiheit und Geheimheit der Wahl, so daß dem Gesetzgeber ausnahmsweise ein Ermessensspielraum zuzugestehen ist, welchem der Wahlrechtsgrundsätze er den Vorzug gibt.996 Nachdem sich der Gesetzgeber aber nun einmal zur Einführung des Briefwahlrechts entschlossen hat, ist es ein Gebot des (gerade im Wahlrecht bedeutsamen) Grundsatzes der Folgerichtigkeit bzw. Systemgerechtigkeit997, diese Wahltechnik auch den Auslandsdeutschen zugute kommen zu lassen.
990
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. II. 1. Eine rein bestätigende Bedeutung der historischen Auslegung hat nach den oben (2. Teil 1. Kap. II.4.a) wiedergegebenen Grundsätzen als unproblematisch zu gelten. 992 Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. IV. 1.; 4. Kap. III. 1.; IV. 1. 993 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 1. 994 BVerfGE 12,139 (142f.); 59,119 (124f.); beachte auch E21, 200 (204ff.). 995 Frowein, AöR 99 (1974), 72 (101 f.); v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 3. Aufl., Art. 38 Rn. 20; Pauly, AöR 123 (1998), 232 (277); Stern, Staatsrecht I, § lO III 3 d (S. 327); dagegen Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 36 Rn. 4. 996 BVerfGE 59, 119 (124f.). Abzulehnen ist dagegen die in E 12, 139 (142) gegebene Begründung, die Allgemeinheit der Wahl verpflichte den Gesetzgeber nicht zu positiven Hilfsmaßnahmen. 997 Hierzu ausführlich Bausback, Grenzen, 141 ff. 991
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
c) Zusammenfassung Weder die Legitimations- noch die Kommunikationsfunktion der Wahl vermag zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen vollständigen Ausschluß aller Auslandsdeutschen vom aktiven Wahlrecht zu rechtfertigen. Die Egalität demokratischer Legitimation verbietet eine Differenzierung nach dem Maß der Betroffenheit von staatlicher Hoheitsgewalt ebenso wie nach der Pflichtenstellung dem Staat gegenüber. Mögliche Interessen- oder Loyalitätskonflikte haben außer Betracht zu bleiben, da eine allgemeine Pflicht zur Verfassungstreue nicht existiert und Interessengegensätze - sofern nicht die Grenze der Verfassungsfeindschaft überschritten wird - vom Grundgesetz bewußt in Kauf genommen werden. Die Möglichkeit kommunikativer Teilnahme bildet eine aus der Kommunikationsfunktion der Wahl sich ergebende, verfassungsimmanente Schranke der Wahlberechtigung. Angesichts der tatsächlich bestehenden Möglichkeiten der Informationsgewinnung vom Ausland her, wie sie insbesondere der Einsatz neuer Medien (Satellitenrundfunk, Internet) bietet, kann den Auslandsdeutschen jedoch der Zugang zur Wahl unter Hinweis auf fehlende Vertrautheit mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls nicht mehr gänzlich verwehrt werden. Auch wahltechnische Gründe stehen einer Wahlbeteiligung nicht prinzipiell entgegen. 3. Völkerrecht Während im 3. Kapitel dieses Teils die Frage untersucht wurde, ob das Völkerrecht (insbesondere die Menschenrechtsabkommen) eine Einbeziehung der Auslandsdeutschen in den Wahlvorgang gebietet, wird es im folgenden um die entgegengesetzte Fragestellung gehen, darum also, ob sich aus dem Völkerrecht ein Verbot der Auslandswahl ableiten läßt. Daß diese Frage für die Auslegung des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG bedeutsam ist, ergibt sich bereits aus der oben998 wiedergegebenen jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Reichweite der Verfassungsvorschriften unter anderem „unter Berücksichtigung von Art. 25 GG aus dem Grundgesetz selbst zu ermitteln" sei.999 Art. 25 GG erklärt die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts" zu Bestandteilen des Bundesrechts und bewirkt so eine weitestmögliche Harmonisierung zwischen der innerstaatlichen und der Völkerrechtsordnung.1000 Dabei ist nicht allein das einfache Recht, sondern - wie bereits an anderem Orte dargelegt1001 - auch das Verfassungsrecht mit Rücksicht auf die Völkerrechtsordnung, also „völkerrechtsfreundlich" auszulegen. Keiner Vertiefung bedarf hier deshalb der eher akademisch anmutende Streit über den normenhierarchi998
2. Teil 4. Kap. 1.5. BVerfGE 100, 313 (362f.). 1000 Vgl. BVerfGE 23, 288 (316); Steinberger, in: HStR VII, § 173 Rn. 5 m. w. N. 1001 Vgl. oben 2. Teil 3.Kap.I.
999
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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sehen Rang der kraft Art. 25 GG in innerstaatliches Recht umgesetzten Völkerrechtsnormen.1002 Betrachtet man die in der bundesdeutschen Rechtswissenschaft geführte Diskussion um die völkerrechtliche Zulässigkeit der Auslandswahl, fällt eine erstaunliche Dürftigkeit der vorgetragenen Argumente auf. Vielfach wird sich darauf beschränkt, die Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen auf dem Korrespondenzweg für völkerrechtlich unbedenklich zu erklären, da Deutsche im Ausland auch andere für die Behörden der Bundesrepublik bestimmte Erklärungen im Ausland aufsetzen und absenden dürften. 1003 Daneben wird die Gefahr einer Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland diskutiert.1004 Diese gewisse Dürftigkeit des argumentativen Materials bringt es mit sich, daß für die Erörterung der Problematik auf ausländisches Schrifttum ausgewichen werden muß. Namentlich in der Schweiz, die aufgrund ihrer Neutralität einem besonders strikten Souveränitätsverständnis verpflichtet ist, wurde die Frage mehrfach zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchung erhoben.1005 Zuvor allerdings sollen die verschiedenen Gestaltungsformen der Auslandswahl vorgestellt werden, da sich aus ihnen Konsequenzen für die völkerrechtliche Beurteilung der Auslandswahl ergeben können.
a) Gestaltungsformen der Auslandswahl Obwohl die Ausgestaltung der Auslandswahl von Staat zu Staat große Unterschiede im einzelnen aufweist, 1006 lassen sich doch vier Grundformen ausmachen:1007 Beim Aufenthalterstimmrecht muß sich der Wahlberechtigte in seinen Heimatstaat begeben, um dort seine Stimme abzugeben. Diese Form der Wahlbeteiligung von Auslandsstaatsbürgern ist völkerrechtlich die unbedenklichste, da der Wahlakt hier vollständig in das Inland verlegt ist. Andererseits führt das Aufenthalterstimmrecht aber zu faktischer Ungleichheit, da ungeachtet der rechtlichen Möglichkeit das Wahlrecht regelmäßig nur von denjenigen Staatsbürgern ausgeübt wird, die nahe der Heimat leben. Bei weiter entferntem, gar überseeischem Aufenthalt ist eine Teilnahme an der Wahl selbst dann unwahrscheinlich, wenn der Heimatstaat die Reisekosten erstattet, wie dies derzeit beispielsweise in Italien der Fall ist.1008 1002
Vgl. nur Steinberger, in: HStR VII, § 173 Rn. 57 ff. m. w. N. Henkel, AöR 99 (1974), 1 (29ff.); Schreiber, DÖV 1974, 829 (835); Thomas Spies , Schranken, S. 62.; Wahlrechtsbericht 1955, S. 79f. 1004 Vgl. Henkel, AöR 99 (1974), 1 (31); v. Münch, in: v. Münch (Hrsg.), GG, 2. Aufl., Art. 38 Rn. 11 ; Thomas Spies , Schranken, S. 62. 1005 Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Cavin, Territorialité, S. 117 ff. und Siegrist, Hoheitsakte, S. 199 ff. 1006 Näher unten 2. Teil 4. Kap. IV. 4. b-g. 1007 Allgemein hierzu BB1.197511285(1292)\Blumenwitz, Wahlrecht^. 96 f.; Report Aider (oben Fn. 662), S. 9; Siegrist, Hoheitsakte, S. 202ff. 1008 Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 97; Siegrist, Hoheitsakte, S. 202. 1003
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Der Nachteil faktischer Ungleichheit wird vermieden bei der Briefwahl. Hier findet nur ein Teil des Wahlvorgangs, nämlich das Ausfüllen des Stimmzettels und Absenden des Wahlbriefes, auf fremdem Territorium statt. Die Stimmenauszählung erfolgt dagegen regelmäßig im Inland, was für die Frage der völkerrechtlichen Beurteilung möglicherweise von Bedeutung ist.1009 In einigen Staaten wird die Briefwahl allerdings aus verfassungsrechtlichen Gründen abgelehnt, da sie die Grundsätze der Persönlichkeit und Geheimheit der Wahl einer erhöhten Gefährdung aussetzt.1010 Ähnliche Probleme wie bei der Briefwahl ergeben sich bei der Wahl durch Stellvertretung. Völkerrechtlich stellt sich hier die Frage, ob das Benennen und Unterrichten des Stellvertreters bereits als Teil des Wahlaktes anzusehen ist; nur wenn die Frage bejaht wird, begegnet die Stellvertreterwahl völkerrechtlichen Bedenken, andernfalls ist sie ohne weiteres zulässig. Innerstaatlich allerdings ist das Wahlrecht zur Konkretisierung von Unmittelbarkeit, Geheimheit und Freiheit der Wahl1011 vielfach als höchstpersönliches Recht ausgestaltet (in der Bundesrepublik Deutschland gem. § 14 Abs. 4 BWahlG). Eine Stimmabgabe durch Stellvertretung ist dann ausgeschlossen.
Die größten Schwierigkeiten völkerrechtlicher Art bereitet die Wahl per Stimmabgabe in den diplomatischen oder konsularischen Vertretungen des Heimatstaats. Bei dieser Variante der Auslandswahl spielt sich regelmäßig der gesamte Wahlakt von der Stimmabgabe bis zur Auszählung der Stimmen auf fremdem Boden ab. Zulässig ist sie ohne besondere Einwilligung des Aufenthaltsstaates nur dann, wenn die Betreuung der Wahl dem Aufgabenbereich eines Diplomaten oder Konsuln zuzurechnen ist.1012 Innerstaatlich bietet sie den Vorteil, daß der Wähler seine Stimme wie im Inland persönlich in einem (im Gesandtschaftsgebäude errichteten) Wahllokal abgeben kann. Zu Ungleichheiten kommt es allerdings, wenn der Heimatstaat keine diplomatischen Beziehungen zum jeweiligen Aufenthaltsstaat unterhält, oder in Flächenstaaten, in denen lange Anfahrtswege zur Botschaft bzw. zum Konsulat den Gang zur Wahlurne erschweren. Vor diesem Hintergrund ist nun die Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Auslandswahl zu beurteilen. b) Das völkerrechtliche Verbot hoheitlicher Tätigkeit auf fremdem Territorium Das am häufigsten gegen die Auslandswahl vorgebrachte völkerrechtliche Argument lautet, durch die Wahlteilnahme von fremdem Boden aus würden die Souverä1009
Näher unten 2. Teil 4. Kap. IV. 3. bbb. Vgl. etwa VfGH Wien EuGRZ 1985,177ff.; für weitere Nachweise Nowak/Strejcek, in: Menschenrechte III, S. 1 (20f.). 1011 Vgl. OVG Rheinland-Pfalz AS 20,102 (105); 252 (254); Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 14 Rn. 9; anders der Wahlrechtsbericht 1955, S. 79. 1012 Dazu unten 2. Teil 4. Kap. IV. 3. bcc (2) (a). 1010
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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nitätsrechte des Aufenthaltsstaates verletzt; die Ausübung des Wahlrechts sei als hoheitliche Tätigkeit zu qualifizieren, welche auf fremdem Boden ohne vorherige Einwilligung des Aufenthaltsstaates völkerrechtlich unzulässig sei.1013 So unbestritten das Setzen von Hoheitsakten auf fremdem Staatsgebiet völkergewohnheitsrechtlich verboten ist,1014 so ungeklärt ist auf der anderen Seite die Reichweite des Verbots, insbesondere die Frage, wann ein „Hoheitsakt" bzw. „hoheitliches Handeln" im Sinne der Norm vorliegt und wann nicht. Diese Unschärfen führen gerade im Falle der Auslandswahl zu Unsicherheiten und divergierenden Rechtsauffassungen unter den Staaten. aa) Wahlteilnahme ein Hoheitsakt? So vertritt Österreich die Auffassung, ein verbotswidriger Hoheitsakt sei jedenfalls dann nicht gegeben, wenn das Handeln auf fremdem Staatsgebiet weder einen Zwangsakt darstelle noch auf einen solchen abziele bzw. wenn sich das Handeln im Gebiet des betreffenden Staates in keiner Weise auswirke.1015 Unter Hinweis auf die fehlende Zwangswirkung wurde die Wahlteilnahme im Ausland vom österreichischen Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst ausdrücklich als völkerrechtskonform eingestuft. 1016 Die entgegengesetzte Position wird von der Schweiz eingenommen. Die Teilnahme von Ausländern am politischen Leben ihres Heimatstaates wird hier seit jeher als mit der schweizerischen Souveränität unvereinbar angesehen.1017 Aufgrund dieses Selbstverständnisses verweigerte die Schweizerische Postverwaltung bei der Bundestagswahl 1987 die Beförderung deutscher Wahlbriefe. 1018 Zwar duldet die Schweiz seit dem 12. April 1989 die Auslandswahl auf dem Korrespondenzweg, allerdings nur, um ihrerseits diese Form der Wahlbeteiligung für Auslandsschweizer vorsehen zu können.1019 Die Haltung der Bundesrepublik Deutschland schließlich geht dahin, daß bei einer Beteiligung der Auslandsstaatsbürger per Briefwahl Hoheitsakte wahlrechtlicher Art auf fremdem Staatsgebiet nicht gesetzt würden,1020 die 1013 BB1.197511285 (1292); Krafft, SJZ 1925,217 (218); Siegrist, Hoheitsakte, S. 199; Wiederkehr, Staat, S. 86; a. A. Cavin, Territorialité, S. 118. 1014 Vgl. StIGH, PCIJ Series A, No. 10, S. 18f.; IGH, Corfu Channel , ICJ Rep. 1949, S. 35; BVerfGE 63, 343 (361); BSG (Gr. Sen.), NJW 1972, 1685 (1686). Geck, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch I, S. 795; Gloria , in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rn. 6; Seidl-Hohenveidern, Völkerrecht, Rn. 1504; Siegrist, Hoheitsakte, S. lOff. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 25 Rn. 33; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 25 Rn. 52. lois Grundlegend die Ausführungen des Völkerrechtsbüros des österreichischen Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, abgedruckt bei: Fischerl Hafner, ÖZöRV 30 (1979), 339 (362 ff.); ebenso der Verfassungsdienst des österreichischen Bundeskanzleramts, wiedergegeben bei: Fischerl Hafner, ÖZöRV 33 (1982), 307 (361 ff.; 364 ff.). 1016
Wiedergegeben bei: Fischerl Hafner, ÖZöRV 33 (1982), 307 (361 ff.). Vgl. etwa VEB 26 (1956) Nr. 6; BB1.1965 II 385 (440); BB1.197511285 (1292); zu weiteren Nachweisen vgl. Siegrist, Hoheitsakte, S. 214 mit Fn. 76. 1018 Lippold, ÖJZ 1989, 652 (656) mit Fn. 29. 1019 Vgl. BB1. 1990 III 445 (446,450). 1020 BT-Drucks. 9/1913, S. 11 (bereits oben l.Teil 4. Kap. V.3.e). 1017
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Vorbereitung und Durchführung von Wahlen in den diplomatischen oder konsularischen Vertretungen hingegen als hoheitliche Tätigkeit zu qualifizieren sei, die von den Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen nicht mehr gedeckt werde.1021 Für die Einschätzung der beschriebenen Positionen ist zunächst auf die oben1022 getroffene Unterscheidung zwischen Regelungs- und Durchsetzungshoheit (jurisdiction to prescribe und jurisdiction to enforce) zu verweisen. Als unproblematisch hat danach der bloße Akt der Verleihung des aktiven Wahlrechts an Auslandsdeutsche zu gelten: Die Einbeziehung eines Auslandssachverhalts in den Anwendungsbereich einer Norm ist völkerrechtlich in weitem Umfang zulässig und begegnet im Fall der Auslandsdeutschen angesichts der fortbestehenden Staatsangehörigkeit keinerlei Bedenken. Die Teilnahme an der Wahl betrifft allerdings nicht mehr den Bereich der Regelungs-, sondern der Durchsetzungshoheit. Diese ist nach dem oben Gesagten grundsätzlich auf das eigene Staatsgebiet beschränkt. Freilich könnte die englische Formulierung Jurisdiction to enforce " zu der Annahme verleiten, nur die zwangsweise Durchsetzung von Normen sei auf fremdem Territorium untersagt, wie dies von österreichischer Seite behauptet wird. Eine derartige Auffassung findet jedoch in der Staatenpraxis keine Bestätigung: Danach stellen auch Handlungen bar jeden Zwangscharakters - wie etwa das Tragen von Uniformen, 1023 das Zeigen von Hoheitszeichen1024 oder die Abnahme von Prüfungen 1025 durch Organe eines fremden Staates - Hoheitsakte dar, die auf ausländischem Staatsgebiet grundsätzlich verboten sind.1026 Auch das zweite von Österreich angeführte Kriterium, das Auswirkungsprinzip, begegnet durchgreifenden Bedenken. Zwar wird zur Untermauerung dieses Kriteriums darauf verwiesen, daß ein im Ausland weilendes Staatsoberhaupt gemeinhin berechtigt sei Gesetze auszufertigen, Minister zu vereidigen oder Behörden seines Heimatstaates Anweisungen zu erteilen.1027 Ob von dieser begrenzten Fallgruppe jedoch auf einen dahinterstehenden allgemeinen Völkerrechtssatz geschlossen werden darf, der die Vornahme von Hoheitsakten im Ausland bei ausschließlicher Inlands wirkung gestattet, erscheint mehr als fraglich. 1028 Dagegen spricht zum einen, daß sich das angeführte Beispiel auch über eine zusammen mit der Einladung des ausländischen 1021
BT-Drucks. 9/1381; 9/2426, S. 8; 11/1530, S.4; 11/3028, S. 3; 11/4573, S.4; StenBer.BT, 12. WP, 40. Sitzung vom 18. September 1991, S. 3347 C. 1022 2. Teil 4. Kap. I.2.b. 1023 Vgl. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1504; Siegrist, Hoheitsakte, S. 145 ff.; Verdross! Simma, Völkerrecht, § 456; einschränkend Wengler, Völkerrecht II, S. 963. 1024 Gloria, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rn. 9; Wengler, Völkerrecht II, S. 963. 1025 Okresek., ÖZöRV 35 (1985), 325 (339); Siegrist, Hoheitsakte, S. 157. 1026 vgl Geck, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch I, S. 795; Okresek, ÖZöRV 35 (1985), 325 (343f.); Siegrist, Hoheitsakte, S. 11 (m. w. N.). 1027
Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1504; für das Auswirkungsprinzip auch Cavin, Territorialité, S. 118. 1028 Ebenso Gloria, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rn. 8; Okresek, ÖZöRV 35 (1985), 325 (332 f.).
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
191
Staatsoberhaupts abgegebene konkludente Einwilligung des Besuchsstaats erklären läßt.1029 Zum anderen wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, eine völkerrechtswidrige Beeinträchtigung der Gebietshoheit eines Staates liege bereits dann vor, wenn ein anderer Staat auf dessen Territorium Akte vornehme, die im betroffenen Staat als Hoheitsakte gälten.1030 Danach wäre die Bundesrepublik Deutschland etwa an die Haltung der Schweiz gebunden gewesen, solange diese die Briefwahl von ihrem Territorium aus ablehnte. Als Hoheitsakt im Sinne der genannten Völkerrechtsnorm hat daher grundsätzlich jedes Handeln des Staates zu gelten, d. h. jeder Akt, der von einem Staatsorgan in seiner amtlichen Funktion (de iure imperii) und nicht bloß privat (de iure gestionis) ausgeführt wird. 1031 Nur unter diesen Voraussetzungen kann überhaupt von einem Handeln „des Staates" gesprochen werden, da es bei reinem Privathandeln bereits an der Zurechenbarkeit des Geschehens fehlt. 1032 Die völkerrechtliche Zulässigkeit der Auslandswahl hängt somit entscheidend davon ab, ob die Teilnahme an der Wahl als Handeln eines Staatsorgans zu qualifizieren ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - die sich allerdings nicht auf den völkerrechtlichen, sondern allein auf den innerstaatlichen Bereich bezieht - ist diese Frage zu bejahen: „Mit der Stimmabgabe der Wahlen betätigt sich der Bürger als Glied des Staatsorgans Volk im status activus".1033 Auf völkerrechtlicher Ebene kann nichts anderes gelten.1034 Denn es wäre unverständlich, wollte man nur die Ausübung von Staatsgewalt durch eingesetzte Organe und nicht auch die unmittelbare Willensäußerung des Staatsvolks unter den Begriff des Hoheitsakts fassen. bb) Konsequenzen für die Ausgestaltung der Auslandswahl Für die einzelnen Formen der Auslands wähl hat dies folgende Konsequenzen: Das Aufenthalterstimmrecht ist als völkerrechtlich unbegrenzt zulässig anzusehen. Indem der Wahlakt hier vollständig in das Inland verlegt ist, werden fremde Souveränitätsrechte nicht tangiert. Die Bekanntgabe des Wahltermins oder die etwaige Übersendung von Informationsmaterial ins Ausland sind als dem eigentlichen Wahlakt vorgelagerte Tätigkeiten völkerrechtlich nicht zu beanstanden.1035 1029
Geck, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch I, S. 796; Siegrist, Hoheitsakte, S. 70. Gloria, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rn. 7. 1031 Vgl. dazu Siegrist, Hoheitsakte, S.74ff. 1032 Vernachlässigt werden mag an dieser Stelle das Problem der Kompetenzüberschreitung, vgl. dazu nur Siegrist, Hoheitsakte, S. 85 f. 1030
1033
BVerfGE 83, 60 (71); vgl. auch E 8, 104 (115); 8, 122 (133); 20, 56 (98). Ebenso das schweizerische Bundesgericht, vgl. BGE 99 Ia 724 (729f.); 104 Ia 226 (229); 119 Ia 167 (172). Die Lehre von der Doppelnatur des Wahlrechts als Individualrecht und zugleich öffentliche Funktion geht zurück auf Jellinek, System, S. 159 ff. Für Nachweise zu dem Anfang des 20. Jahrhunderts heftig geführten Streit um die Natur des Wahlrechts siehe oben Fn. 98. 1034 Ebenso Krafft, SJZ 1925, 217 (218); Siegrist, Hoheitsakte, S. 199; Wiederkehr, S. 86. 1035 So auch Siegrist, Hoheitsakte, S. 203.
Staat,
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Die Briefwahl kann keinesfalls, wie von deutscher Seite geschehen, mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, Deutsche im Ausland dürften auch andere für die Behörden der Bundesrepublik bestimmte Erklärungen im Ausland aufsetzen und absenden.1036 Eine derartige Sichtweise übergeht den fundamentalen Unterschied zwischen der Wahlteilnahme als Hoheitsakt des Staatsorgans „Volk" und sonstiger Kommunikation mit Behörden des Heimatstaates, die keine Betätigung im status activus und folglich kein Organhandeln darstellt. Auch die Tatsache, daß sich bei der Briefwahl regelmäßig nur ein Teil des Wahlakts (Ausfüllen des Stimmzettels, Abschicken des Wahlbriefs) auf fremdem Boden vollzieht, während die Stimmenauszählung - und damit der Eintritt von „Wirkungen" - regelmäßig erst im Inland erfolgt, ist nach der hier vertretenen Auffassung ohne Bedeutung. Ein Staat ist daher grundsätzlich berechtigt, die Teilnahme an ausländischen Parlaments wahlen auf dem Korrespondenzweg von seinem Territorium aus zu untersagen.1037 Diese Position stimmt im übrigen auch überein mit der von bundesdeutscher Seite nach Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts geübten Praxis. Gespräche der Bundesregierung mit den Staaten des Warschauer Pakts einschließlich der DDR ergaben nämlich, daß diese nicht bereit waren, eine Teilnahme auf ihrem Staatsgebiet lebender Deutscher an den Wahlen zum Deutschen Bundestag zu dulden.1038 Sofern daher die betroffenen Deutschen um eine Übersendung des Vordrucks »Antrag auf Eintragung in das Wählerverzeichnis" nachsuchten, wurde ihnen dies von deutscher Seite mit dem Hinweis verweigert, dem Widerspruch ihres Aufenthaltsstaates sei „in Respektierung seiner Gebietshoheit Rechnung zu tragen."1039 Seit dem Ende des OstWest-Konflikts widersetzt sich nur noch die polnische Regierung bei Deutschen, die zugleich die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, einer Wahlteilnahme vom polnischen Territorium aus.1040 Die Stimmabgabe durch Stellvertretung ist völkerrechtlich nur dann als unbedenklich anzusehen, wenn der im Ausland erfolgende Teilakt, das Benennen und Unterrichten des Stellvertreters, als nicht zum eigentlichen Wahlvorgang gehörendes Privathandeln einzustufen ist. Diese Auffassung vertritt Siegrist1041 entgegen der Ansicht der schweizerischen Bundesbehörden1042. Zur Untermauerung seiner These verweist Siegrist insbesondere darauf, daß der Vertretene keine Möglichkeit habe, seinem Stellvertreter verbindliche Instruktionen in Bezug auf die Stimmabgabe zu erteilen. Freilich gerät er damit in Gefahr, allzusehr auf die „Wirkungslosigkeit" einer solchen Instruktion abzustellen, während er an anderer Stelle das Auswirkungs1036
Vgl. Siegrist, Hoheitsakte, S.209: „unverständlich". Ebenso Siegrist, Hoheitsakte, S. 208. 1038 Auskunft des Bundeswahlleiters vom 21. Oktober 1999; vgl. auch Schreiber, Handbuch, 5. Aufl., § 12 Rn. 29. 1039 Ygi dig Hinweise des Bundeswahlleiters, abgedruckt in DokAnh. D.II. 1. und 2. 1040 Ygi ( i e n Hinweis des Bundeswahlleiters, abgedruckt in DokAnh. D.II.3; vgl. auch Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 29. 1037
1041 1042
Siegrist, Hoheitsakte, S. 206. BB1. 19751 1285 (1292).
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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prinzip im Einklang mit der hier vertretenen Position als Kriterium für hoheitliches Handeln ablehnt.1043 Berücksichtigt man dagegen, daß auch gänzlich wirkungslose Verhaltensweisen als völkerrechtswidrige Hoheitsakte angesehen werden,1044 muß man wohl den Vorgang der Benennung und Unterrichtung des Stellvertreters als derart eng mit der eigentlichen Stimmabgabe verbunden ansehen, daß beide einen einheitlichen Lebenssachverhalt bilden. Auch die Auslandswahl durch Stellvertretung kann ein Staat daher von seinem Territorium aus untersagen. Die Stimmabgabe in den diplomatischen oder konsularischen Vertretungen Heimatstaats schließlich fällt nach hier vertretener Auffassung eindeutig unter das Verbot hoheitlichen Handelns im Ausland.1045 Die heute einhellige Auffassung im Völkerrecht geht dahin, das Gesandtschaftsgelände nicht wie ehedem als extraterritorial, sondern als zum Staatsgebiet des Empfangsstaats gehörig zu betrachten.1046 Selbst wenn also die Wahl innerhalb des Botschafts- oder Konsulatsgebäudes abgehalten wird, liegt hoheitliches Handeln auf fremdem Staatsgebiet vor, das völkerrechtlich grundsätzlich unzulässig ist. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob das Abhalten von Wahlen in Auslandsvertretungen nach den Regeln der Wiener Diplomaten· bzw. Konsularrechtskonvention in den Aufgabenbereich eines Diplomaten oder Konsuln fällt. Diese Frage betrifft aber die Rechtsfertigungs- und nicht mehr die Tatbestandsebene; sie wird daher weiter unten behandelt. Festzuhalten bleibt, daß nach hier vertretener Ansicht alle Formen der Auslandswahl mit Ausnahme des Aufenthalterstimmrechts hoheitliches Handeln auf fremdem Territorium darstellen und daher völkerrechtlich grundsätzlich unzulässig sind, sofern nicht ein besonderer Rechtfertigungsgrund vorliegt. cc) Rechtfertigungsgründe Die Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem Staatsgebiet in Form der Stimmabgabe wäre jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn die Bundesrepublik Deutschland verlangen könnte, daß der Aufenthaltsstaat die Wahl auf seinem Territorium duldet. Ein solcher Duldungsanspruch könnte sich möglicherweise ergeben (1.) aus der fortbestehenden Personalhoheit, (2.) aus völkerrechtlichen Verträgen sowie (3.) aus dem Prinzip der Gegenseitigkeit. (1) Personalhoheit Die Auffassung, ein Staat, der den Angehörigen eines anderen Staates die Teilnahme an dessen Parlamentswahlen von seinem Territorium aus untersagt, verstoße da1043 1044 1045 1046
13 Breuer
Siegrist, Hoheitsakte, S. 69 mit Fn. 23. Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 3.baa. Ebenso Siegrist, Hoheitsakte, S. 212f.; Wengler, Völkerrecht II, S. 966 mit Fn. 4. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1016; Verdross!Simma, Völkerrecht, § 895.
des
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
mit gegen die Personalhoheit des Heimatstaates, ist im Schrifttum nur vereinzelt vertreten worden.1047 Ihr kann jedoch nicht gefolgt werden. Die Frage, welche Rechte ein Staat auf seinem Territorium weilenden Ausländern gewähren muß, beurteilt sich nach den Grundsätzen des fremdenrechtlichen Mindeststandards. Dieser garantiert Ausländern gewisse grundlegende Rechtspositionen wie ζ. B. das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Anerkennung als Rechtssubjekt oder auf rechtliches Gehör.1048 Politische Rechte fallen jedoch gemeinhin nicht hierunter, da der Mindeststandard lediglich eine angemessene und menschenwürdige Lebensführung ermöglichen soll.1049 (2) Völkerrechtliche
Verträge
(a) Wiener Diplomaten- bzw. Konsularrechtskonvention Ein Anspruch auf Duldung der Stimmabgabe in den Auslandsvertretungen könnte sich aus den Regeln des Gesandtschaftsrechts ergeben, wie sie in den Wiener Übereinkommen über diplomatische1050 bzw. über konsularische1051 Beziehungen (im folgenden: WÜD, WÜK) entsprechend bereits existierendem Völkergewohnheitsrecht kodifiziert worden sind. Freilich sucht man nach einer ausdrücklichen Erwähnung der Stimmabgabe im Gesandtschaftsgebäude in den Aufgabenkatalogen beider Konventionen (Art. 3 WÜD, Art. 5 WÜK) vergebens. Diese Beobachtung überrascht um so weniger, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es sich bei der Auslandswahl im Zeitpunkt der Entstehung beider Konventionen (Beginn der 60er Jahre) um ein relativ junges Phänomen handelte, für das sich noch kein Gewohnheitsrecht hatte bilden können. Folglich kann die Auslandswahl nicht unter die Begriffe der Ausübung notarieller, standesamtlicher oder ähnlicher Befugnisse (Art. 5 lit. f WÜK), der Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Urkunden (Art. 5 lit. j WÜK) oder der sonstigen Aufgaben (Art. 5 lit. m WÜK) subsumiert werden.1052 Die Bundesrepublik Deutschland verhielt sich daher völkerrechtskonform, als sie im Jahr 1981 die in ihrem Hoheitsgebiet belegenen Auslandsvertretungen darüber unterrichtete, daß nach ihrer Auffassung die Durchführung von Wahlen in den Gesandtschaftsgebäuden den Rahmen der üblichen diplomatischen oder konsularischen Tätigkeit überschreite, und zugleich eine einseitige Genehmigung verweigerte. 1053 1047 Schreiber, DÖV 1974, 829 (835). Angesprochen wird die Frage auch bei Cavin, Territorialité, S. 118, der sie aber letztlich offenläßt. 1048 Beispiele nach Knut Ipsen, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 50 Rn. 6. 1049 Siegrist, Hoheitsakte, S. 219 (m. w. N.); Vagts, in: EPIL vol. III (1997), 408 (409). 1050 Vom 18. April 1961, BGBl. 1964 II S.959. 1051 Vom 24. April 1963, BGBl. 1969 II S. 1587. 1052 Ebenso Lippold, ÖJZ 1989, 652 (654); Siegrist, Hoheitsakte, S. 219f.; Wengler, Völkerrecht II, S. 966 mit Fn. 4. 1053 Rundnote vom 8. September 1981, BT-Drucks. 9/1274, S. lf., abgedruckt in DokAnh. D. 1.1; vgl. hierzu auch Lindemann, ZaöRV 44 (1984), 495 (534ff.).
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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Der Bundesregierung war im nachhinein bekannt geworden, daß im März 1979 in der Bundesrepublik Deutschland lebende Iraner in der Botschaft und den Generalkonsulaten ihres Heimatstaats an einem Referendum über die zukünftige Regierungsform Irans teilgenommen hatten, ebenso wie in Deutschland lebende Norweger an den norwegischen Regionalwahlen im September 1979 durch Stimmabgabe in der norwegischen Botschaft. 1054 Dies gab den Anlaß zu der Rundnote vom 8. September 1981, die damit begründet wurde, daß die Bundesregierung angesichts der großen Zahl in der Bundesrepublik lebender Ausländer nicht in die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Heimatstaaten hineingezogen werden wolle.1055 Diese Position wurde von der Bundesregierung erst im Jahr 1994 aufgegeben. Seither gestattet sie die Durchführung von Wahlen und Volksbefragungen sowie Abstimmungen in den Räumlichkeiten der diplomatischen und berufskonsularischen,1056 seit 1996 auch in den honorarkonsularischen Vertretungen des Entsendestaats.1057 Voraussetzung ist allerdings die ausdrückliche vorherige Zustimmung der Bundesregierung, die in der Regel spätestens zwei Monate vor der anstehenden Wahl eingeholt werden muß und mit Auflagen versehen werden kann. Dies zeigt, daß die Bundesregierung nicht von ihrer Grundauffassung abgegangen ist, wonach die Durchführung von Wahlen nicht in den diplomatischen oder konsularischen Aufgabenbereich fallen, sondern daß es sich hierbei um eine einseitige Gestattung handelt, zu der die Bundesrepublik Deutschland nicht verpflichtet ist.1058 (b) Europäische Konsularkonvention Die Europäische Konsularkonvention1059 vom 11. Dezember 1967 enthält in ihrem Art. 8 lit. b ausdrücklich die Befugnis zur Entgegennahme von Mitteilungen und Stimmzetteln im Zusammenhang mit nationalen oder lokalen Parlamentswahlen sowie mit Referenden des Entsendestaats. Die Motive bezeichnen diese Regelung als „innovation " und als „European provision' par excellence", stellen aber andererseits ausdrücklich klar, daß sich hieraus keine Befugnis zur Durchführung von Wahlkämpfen im Ausland ergeben könne.1060 Mangels ausreichender Zahl an Ratifikationen ist die Konvention allerdings bis heute nicht in Kraft getreten.1061
1054
Vgl. BT-Drucks. 9/1700, S. 1. BT-Drucks. 9/1381, S.l; 9/2426, S. 8; 11/1530, S.4; 11/3028, S. 3; 11/4573, S.4. 1056 vgl Verbalnote vom 11. März 1994, abgedruckt in DokAnh. D. 1.2. los? vgl. Verbalnote vom 5. März 1996, abgedruckt in DokAnh. D. 1.3. 1055
1058
So auch die Ausführungen des Parlamentarischen StaatssekretärsLintner in: StenBer. BT, 7. WP, 40. Sitzung vom 18. September 1991, S. 3347 Cf. 1059 European Convention on Consular Functions vom 11. Dezember 1967, ETS No. 61, Auszüge in DokAnh. C. IV. 1060
Explanatory Report, Tz. 56 f., abgedruckt in DokAnh. C. IV. 1061 Vgl. ; Stand: 31. März 2000. 13*
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
(c) Menschenrechtsabkommen Waren den oben1062 behandelten Menschenrechtsabkommen (Art. 3 [1. ZP], Art. 25 IPBPR) ein Anspruch der Auslandsstaatsbürger auf Teilnahme an den nationalen Parlamentswahlen ihres Heimatstaats zu entnehmen gewesen, hätte sich hieraus unter Umständen eine damit korrespondierende Duldungspflicht der Vertragsstaaten ableiten lassen. Wie gesehen, ist aber bereits ersteres nicht der Fall. (d) Anhang: Empfehlungen auf Europaratsebene Die ebenfalls dargestellten Empfehlungen auf der Ebene des Europarats1063 haben keine verbindliche Wirkung und scheiden deshalb als Anspruchsgrundlage ebenfalls von vornherein aus. Zwar könnten sie als Ausdruck einer opinio iuris zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht beitragen, die Staatenpraxis erscheint aber insgesamt als zu uneinheitlich,1064 um von einer allgemeinen Übung (consuetudo) sprechen zu können. (3) Grundsatz der Gegenseitigkeit Nachdem sich eine völkervertragliche Anspruchsgrundlage für die Durchführung von Wahlen auf fremdem Staatsgebiet nicht hat ermitteln lassen, ist zuletzt noch der Grundsatz der Gegenseitigkeit (Reziprozität) hierfür in Betracht zu ziehen. Die Bedeutung dieses Grundsatzes auf völkerrechtlicher Ebene kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß das Völkerrecht aufgrund seines geringen Grades an Institutionalisierung nach wie vor wesentlich auf freiwillige Befolgung angewiesen ist.1065 Hier wirkt die Erwartung der Gegenseitigkeit als ein,»kraftvoller Motor" 1066, und zwar bei der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht ebenso wie bei der Entstehung oder Erfüllung völkerrechtlicher Verträge, bei der Zuständigkeitsbegründung internationaler Gerichte1067 etc.1068 Angewendet auf die vorliegende Problematik besagt der Grundsatz der Gegenseitigkeit, daß ein Staat, der seinen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland lebenden Angehörigen das Auslandswahlrecht auf dem Korrespondenzweg, mittels Stellvertretung oder durch Stimmabgabe in seinen Gesandtschaftsgebäuden gewährt, einer Ausübung des Wahlrechts durch Deutsche von seinem Territorium aus 1062
2. Teil 3. Kap. II., III. Vgl. oben 2. Teil 3. Kap. V. »ο« Dazu unten 2. Teil 4. Kap. IV.4.b-g. 1065 Simma,, in: EPIL Inst. 7 (1984), S. 400. 1066 Verdross/Simma, Völkerrecht, § 64. 1067 Vgl, Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut (BGBl. 1973 II S. 505): „gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt". 1068 Weitere Beispiele bei Schaumann, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch I, S. 630ff.; Simma, in: EPIL Inst. 7 (1984), S. 400ff.; Verdross!Simma, Völkerrecht, § 64ff. 1063
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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nicht widersprechen kann.1069 Umgekehrt folgt daraus für die Bundesrepublik Deutschland, daß ihr in dem Maße, wie sie die beschriebenen Formen der Auslandswahl auf ihrem Territorium duldet, ein völkerrechtlicher Anspruch auf ebensolche Duldung durch den betreffenden Staat zusteht. Ganz in diesem Sinne ließ die Bundesregierung verlauten: „Nachdem die Bundesrepublik Deutschland ausländischen Staaten die Abhaltung von Wahlen in ihren diplomatischen oder konsularischen Vertretungen in Deutschland erlaubt, könnte sie im Wege der Gegenseitigkeit die entsprechende Erlaubnis für die Abwicklung deutscher Wahlen in deutschen Auslandsvertretungen im Ausland verlangen."1070 Daß sie hiervon bislang keinen Gebrauch gemacht hat, beruht allein auf Zweckmäßigkeitserwägungen, die oben1071 bereits thematisiert worden sind. (4) Sonstige Rechtfertigungsgründe Gegenüber Staaten, die die Auslandswahl für ihre Auslandsstaatsbürger entweder überhaupt nicht kennen oder in der völkerrechtlich unbedenklichen Form des Aufenthalterstimmrechts vorsehen, besitzt die Bundesrepublik Deutschland keinen Anspruch auf Duldung der Wahlteilnahme von ihrem Staatsgebiet aus. Gleichwohl ist auch in diesen Fällen eine Stimmrechtsausübung auf fremdem Territorium nicht schlechthin ausgeschlossen. In Betracht kommen hier die Rechtfertigungsgründe der ausdrücklichen oder stillschweigenden Einwilligung,1072 die nach dem Grundsatz „volenti nonfit iniuria" zu einem Ausschluß des Unrechtstatbestands führen. Im Unterschied zu der eben behandelten Fallgruppe ist die Einwilligung allerdings frei widerruflich. Die Bundesrepublik Deutschland ist demnach völkerrechtlich verpflichtet, die Zusendung von Wahlunterlagen in Staaten, die einer Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen auf dem Korrespondenzweg widersprochen haben, zu unterlassen. Dies entspricht, wie gesehen,1073 bundesdeutscher Praxis. Nachdem auch die Schweiz gegen eine Wahlbeteiligung mittels Briefwahl keine Einwände mehr erhebt,1074 ist eine 1069
Vgl. BB1.197511285 (1292); Krafft, SJZ 1925,217 (218); Siegrist, Hoheitsakte, S.227. 1070 ygi di e Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Lintner in: StenBer. BT, 7. WP, 40. Sitzung vom 18. September 1991, S. 3347 C. 1071
2. Teil 4. Kap. IV.3.aa.E. Vgl. Art. 29 Abs. 1 ILC-Entwurf zur Staatenhaftung (YBILC 1979II/2, S. 109): 'The consent validly given by a State to the commission by another State of a specified act not in formity with an obligation of the latter State towards the former State precludes the wro ness in relation to that State to the extent that the act remains within the limits ofthat con Nach den Ausführungen der International Law Commission wird durch diese Regelung zwar die mutmaßliche, nicht aber die stillschweigende oder konkludente Einwilligung ausgeschlossen, vgl., YBILC 1979II/2, S. 112 Tz. 11, 14. Zur stillschweigenden Einwilligung vgl. auch Geck, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch I, S. 795 (796); Siegrist, Hoheitsakte, S. 68ff. (m. w. N.). 1073 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 3. bbb. 1074 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 3. baa. 1072
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
derartige Rücksichtnahme nur noch im Falle deutsch-polnischer Doppelstaater geboten. Von allen anderen Staaten wird die Briefwahl widerspruchslos akzeptiert. c) Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland Dem weiteren Argument einer möglichen Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland kommt daneben keine eigenständige Bedeutung mehr zu. Denn auch hier gibt der Grundsatz der Gegenseitigkeit das Ergebnis vor: Wenn schon ein Staat, der seinerseits das Auslandswahlrecht eingeführt hat, zur Duldung hoheitlicher Betätigung in Form der Stimmabgabe von seinem Territorium aus verpflichtet ist, dann muß gleiches erst recht für gewisse unvermeidliche Ausstrahlungswirkungen des Wahlkampfes gelten. Daraus kann zwar keine Pflicht zur Zulassung öffentlicher politischer Betätigung von Ausländern abgeleitet werden, eine allgemeine, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in keiner Weise tangierende Ausstrahlungswirkung ist aber hinzunehmen. Daß die Gefahr einer Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland - entgegen Literaturstimmen 1075 - nicht ganz vernachlässigt werden kann, belegt eine Begebenheit aus dem Wahlkampf des Jahres 1998: Mit der Begründung, Politiker müßten dorthin gehen, wo die Wähler seien, errichtete der F. D. P.-Vorsitzende Gerhardt im Juli 1998 persönlich am Flughafen von Palma de Mallorca ein Wahlkampfplakat mit der Aufschrift: „Schöne Ferien. Und das nicht nur alle fünf Jahre - wie die Grünen meinen. Ihr Wolfgang Gerhardt." 1076 Von der F. D. P. war für diese Aktion zuvor eine Plakatierungsgenehmigung der spanischen Behörden eingeholt worden.1077 Andererseits zeigt dieses Beispiel aber auch, daß nicht so sehr die Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts, sondern vielmehr die allgemein gestiegene Mobilität der Bevölkerung die Parteien veranlassen kann, ihre Werbetätigkeit auf das Ausland auszudehnen. Hier bestünde die Möglichkeit, entsprechend den Vorbildern Frankreichs und Portugals1078 deutschen politischen Parteien die Austragung von Wahlkämpfen auf ausländischem Boden gesetzlich zu untersagen. d) Konsequenzen für die Verfassungsauslegung Die dargestellte Völkerrechtslage hat für die Verfassungsauslegung folgende Konsequenzen: Der Widerspruch eines Staates gegen die Stimmrechtsausübung von seinem Territorium aus ist als „zwingender Grund" anzuerkennen, der auch verfassungsrechtlich den Ausschluß von der Wahl rechtfertigt. Zwar führt ein solcher Widerspruch zu Ungleichbehandlungen unter den Auslandsdeutschen, doch ist dies
107 5 107 6 1077 1078
Henkel, AöR 99 (1974), 1 (31) im Anschluß an BT-Drucks. VI/3395, Anlage 3, S. 276f. Handelsblatt vom 22. Juli 1998, S. 40. Auskunft der F.D.P. vom 16. August 1999. Vgl. Report Alder (Fn. 662), S. 24, 32; Siegrist, Hoheitsakte, S. 211 mit Fn. 59.
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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letztlich allein Folge der Tatsache, daß sich die Grundrechtsbetätigung in einem Raum vollzieht, der nicht der deutschen Hoheitsgewalt untersteht. Ansonsten liegt die Einschätzung der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Auslandswahl weitgehend beim Gesetzgeber. Anders als im rein innerstaatlichen Bereich übt das Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung außenpolitischer Sachverhalte in weitem Umfan g judicial self-restraint, 1019 beschränkt sich also im wesentlichen auf eine Evidenzkontrolle.1080 Evident zulässig ist die Wahlteilnahme vom Ausland her nach den obigen Ausführungen jedenfalls bei Bestehen eines völkerrechtlichen Duldungsanspruchs im GegenseitigkeitsVerhältnis. Das Bestehen oder Nichtbestehen eines solchen Anspruchs ist gerichtlicher Nachprüfung zugänglich und unterliegt daher nicht der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative. Als evident zulässig hat ferner das Aufenthalterstimmrecht zu gelten, da hierbei fremde Souveränitätsrechte in keiner Weise tangiert werden. In allen übrigen Fällen ist die völkerrechtliche Beurteilung der Auslandswahl Sache des Gesetzgebers. Die Einschätzung, eine Beteiligung der Auslandsdeutschen per Briefwahl werde in der Staatenwelt grundsätzlich geduldet, ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 4. Rechtsvergleich Rechtsvergleichende Ausführungen zur hier untersuchten Problematikfinden sich aus dem einschlägigen Schrifttum lediglich bei Henkel.1081 Freilich ging es diesem - im Unterschied zur vorliegenden Arbeit - nicht allein um verfassungsrechtliche Aspekte. Henkel erstattete sein Gutachten für den Innenausschuß des Deutschen Bundestages,1082 also für den Gesetzgeber, und dieser läßt in seine Überlegungen neben verfassungsrechtlichen naturgemäß auch politische Erwägungen mit einfließen. Die Methode der Rechtsvergleichung bildet dabei ein legitimes und unbestritten zulässiges Hilfsmittel auf dem Wege der Entscheidungsfindung.1083 Für den vorliegenden Zusammenhang ist hingegen zu fragen, ob die Rechtsvergleichung auch für die Verfassungsauslegung von Bedeutung ist (a). Nur sofern diese - vielfach vernachlässigte1084 - Frage bejaht wird, kann im Anschluß näher auf die Verfassungs- und Wahlrechtssysteme anderer Staaten eingegangen werden.
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So ausdrücklich BVerfGE 35,257 (262); vgl. dazu auch Blumenwitz, DVB1.1976,464ff. Ausführlich dazu etwa Schuppen, Kontrolle, S. 159ff.; Schwarz, Kontrolle, S. 202ff. 1081 Henkel, AöR 99 (1974), 1 (11 ff.); dazu oben 2. Teil 2. Kap. III. 9. 1082 Henkel AöR 99 (1974), 1. 1083 Mössner, AöR 99 (1974), 193 (204). 1084 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 44. Eine Ausnahme bildet der von Dreier herausgegebene Kommentar, in welchem der Erläuterung eines jeden Grundgesetzartikels ein gesonderter Abschnitt „internationale, supranationale und rechtsvergleichende Bezüge" vorgeschaltet ist, vgl. dazu Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Einleitende Bemerkungen, S. XXV. 1080
200
2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
a) Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Verfassungsauslegung Daß aus „geschichtlich entfernten und staatlich getrennten Rechtszuständen (...) Schlüsse auf die Auslegung des geltenden deutschen Rechts nicht zu ziehen" seien,1085 war die überwiegende Auffassung der traditionellen deutschen Staatsrechtslehre zu Zeiten der Weimarer Republik. Diese Auffassung hat, jedenfalls in der Wissenschaft, noch weit bis in bundesrepublikanische Zeit fortgewirkt. 1086 Um so mehr muß erstaunen, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner auch ansonsten grundlegenden ersten Wahlrechtsentscheidung aus dem Jahr 1952 sich bereits rechts vergleichender Argumente bedient: Mit dem Hinweis, ein gewisser Mindest-Hundertsatz der abgegebenen gültigen Stimmen werde auch in anderen Staaten (namentlich Rumänien und in drei Kantonen der Schweiz) verlangt, bestätigt es das zuvor gefundene Ergebnis der Verfassungsmäßigkeit wahlrechtlicher Sperrklauseln.1087 In der Folgezeitfließen rechtsvergleichende Aspekte insbesondere bei der Auslegung sonstiger Grundrechte ein.1088 Im Wahlrecht bedient sich das Bundesverfassungsgericht erneut in seinen Entscheidungen zu Überhangmandaten und Grundmandatsklausel aus dem Jahr 1997 der Rechtsvergleichung: Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1089 bestätigen hier die im Wege vorheriger eigenständiger Verfassungsauslegung gewonnenen Ergebnisse.1090 Auch und gerade bei der Beurteilung wahlrechtlicher Vorschriften hat sich das Bundesverfassungsgericht somit der rechtsvergleichenden Auslegungsmethode bedient, und dies mit Recht: Denn das Grundgesetz steht bewußt in der Tradition des Verfassungsstaats westlicher Prägung.1091 Auch weist die Rechtsvergleichung gewisse Ähnlichkeiten mit den Grundsätzen der historischen sowie völkerrechtsfreundlichen Auslegung auf, dient doch beiden eine andere Rechtsordnung als Bezugsobjekt (bei der historischen Auslegung in der zeitlichen Dimension, bei der völkerrechtsfreundlichen Auslegung in internationaler Hinsicht).1092 Andererseits sind dem Verfassungsvergleich aber auch Grenzen gesetzt: Individuelle Besonderheiten einzelner Verfassungen sind als solche zu respektieren und dürfen nicht mit den Mitteln der Rechtsvergleichung in die deutsche Grundgesetzordnung hineingetragen werden.1093 Zudem beschränkt sich der Kreis der zu Vergleichszwecken geeigneten Staaten auf
1085
Nawiawsky, VVDStRL 3 (1927), 25 (43) bezüglich der Auslegung von Art. 109 WRV Vgl. Mössner, AöR 99 (1974), 193 (202f.) m. w. N. 1087 BVerfGE 1, 208 (253). iosa Nachweise zur älteren Judikatur bei Mössner, AöR 99 (1974), 193 (228 ff.); zu jüngeren Entscheidungen vgl. Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 44 mit Fn. 79. 1086
1089
Abgedruckt in: ZaöRV 57 (1997), 615 ff.; 633 ff. Vgl. BVerfGE 95, 335 (347); 95,408 (423 f.). 1091 Bleckmann, Staatsrecht II, § 8 Rn. 34; auch Häberle, JZ 1989,913 (916) spricht von der „»Familie4 der Verfassungssaaten", zu der das Grundgesetz gehöre. 1092 Häberle, JZ 1989, 913 (916f.); vgl. auch Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 44; zurückhaltend Stern, in: Stern, Staatsrecht III/2, § 95 II 2 (S. 1656f.). 1093 Häberle, JZ 1989, 913 (917 f.). 1090
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
201
geographisch, kulturell und verfassungsgeschichtlich benachbarte Länder.1094 Hierzu sind jedenfalls die westeuropäischen Demokratien, seit dem Ende des Ost-WestKonflikts aber auch die jungen Demokratien in Osteuropa zu rechnen. Unter Berücksichtigung dieser Grenzen hat eine Verfassungsvergleichung jedenfalls als methodisch unbedenklich zu gelten, die - wie in den genannten Wahlrechtsurteilen des Bundesverfassungsgerichts geschehen - zur Bestätigung1095 des gefundenen Ergebnisses auf einen objektiv ermittelbaren, allgemeinen Verfassungskonsens abhebt. Für die vorliegende Thematik bedeutet dies: Sollte der Verfassungs vergleich ergeben, daß das aktive Wahlrecht in der überwiegenden Mehrzahl der Staaten trotz Allgemeinheit der Wahl an den Inlandswohnsitz gebunden ist, wäre darin eine Bestätigung der Position des Bundesverfassungsgerichts zu erblicken. Umgekehrt gilt: Ein einfachgesetzlich eingeführtes Wahlrecht für Auslandsstaatsbürger läßt zwar nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf dessen verfassungsrechtliche Gebotenheit zu; sollte sich aber erweisen, daß die überwiegende Mehrzahl der Staaten das aktive Wahlrecht in nicht unerheblichem Umfang auf Auslandsstaatsbürger ausgedehnt hat, wäre dies zumindest als Indiz für ein gesamteuropäisch gewandeltes Begriffsverständnis von der Allgemeinheit der Wahl zu werten. Die nachfolgende Rechtsvergleichung wird sich daher sowohl mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Allgemeinheit der Wahl als auch mit der Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts nach einfachem Recht zu befassen haben. Die Auswahl der zu Vergleichszwecken herangezogenen Rechtsordnungen erfolgt dabei zum einen unter dem oben genannten Gesichtspunkt geographischer und verfassungsgeschichtlicher Nähe, zum anderen unter dem ganz pragmatischen Aspekt sprachlicher Zugänglichkeit. Denn die Wahlrechtsvergleichung ist im deutschsprachigen Raum nur in äußerst geringem Umfang ausgeprägt.1096 Der Auswahl haftet daher in gewissem Umfang etwas Zufälliges an. Bei einigen Staaten wird sich die Darstellung auf die Schilderung des gegenwärtigen Zustands beschränken müssen. Soweit zugänglich, werden auch Informationen über die Entstehungsgeschichte einfachgesetzlicher bzw. verfassungsrechtlicher Normen gegeben. Wertvolle Hinweise hierzu sind den Arbeiten Henkels1097 (Stand: 1974) und Alders 1098 (Stand: 1982) zu verdanken.
1094
Mössner, AöR 99 (1974), 193 (241). 1095 Allgemein zu den möglichen Funktionen des Verfassungsvergleichs (negative Konkretisierung, positive Konkretisierung, Vertretbarkeitsnachweis) vgl. Mössner, AöR 99 (1974), 193 (228 ff.). 1096 Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., Einführung Rn. 71. 1097 Henkel, AöR 99 (1974), 1 (11 ff.). 1098 Report Aider (oben Fn. 662).
202
2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
b) Skandinavische Staaten aa) Norwegen Art. 50 Abs. 1 der norwegischen Verfassung (Grundlov) gewährte in seiner alten Fassung1099 das Wahlrecht allen norwegischen Bürgern - Männern und Frauen - , die das zwanzigste Lebensjahr vollendet, fünf Jahre im Land gewohnt hatten und sich darin aufhielten. Eine Ausnahme vom Wohnsitzerfordernis galt gem. Art. 50 Abs. 2 nur für norwegische Beamte im diplomatischen oder konsularischen Dienst sowie deren Hausstand. Mittlerweile ist die Wohnsitzklausel aus Art. 50 Abs. 1 gestrichen worden. Voraussetzung für das Wahlrecht ist nach der zur Zeit gültigen Fassung1100 nur noch das Bestehen der norwegischen Staatsangehörigkeit und das Erreichen des Wahlalters (gegenwärtig 18 Jahre). Gem. Art. 50 Abs. 2 ist der Umfang, in dem Auslandsnorwegern das Wahlrecht eingeräumt wird, einem einfachen Gesetz vorbehalten. Das aktuelle norwegische Wahlgesetz1101 macht das aktive Wahlrecht zum Storting für Auslandsnorweger neben den allgemeinen Bestimmungen (§ 3 Abs. 1) von zwei Voraussetzungen abhängig: einmaliger Wohnsitz in Norwegen (§ 3 Abs. 2) 1102 und Aufnahme in das Wählerverzeichnis (§ 3 Abs. 4). Die Aufnahme erfolgt grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zehn Jahren (§ 5 Abs. 3 Satz 1), nach zehnjährigem ununterbrochenem Auslandsaufenthalt auf Antrag, dem eine eidesstattliche Versicherung über das Fortbestehen der norwegischen Staatsangehörigkeit beizufügen ist (§ 5 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4). Die Stimmabgabefindet in den Räumlichkeiten der norwegischen Auslandsvertretungen statt (§ 32 lit. c), und zwar im Wege der Vorauswahl zwischen dem 1. Juli und dem letzten Freitag vor der Wahl (§ 31 Abs. 1). bb) Schweden In Schweden trat am 1. Januar 1975 eine neue Verfassung (Regeringsform) in Kraft. Nach damaliger Fassung1103 stand das Wahlrecht zum Reichstag (Riksdag ) allen im Reich wohnhaften schwedischen Staatsangehörigen zu (Kap. 3 § 2 Abs. 1 Satz 1). Für die Wahlberechtigung nicht im Reich wohnhafter Schweden verwies
1099 Die Verfassung des Königreiches Norwegen vom 14. Mai 1814, zuletzt geändert am 24. November 1967, abgedruckt bei: Mayer-Tasch, Verfassungen, S. 404ff. 1100 jh e Constitution of the Kingdom of Norway, 17 May 1814 as amended to 23 July 19 abgedruckt bei: Ranz (Ed.), Constitutions, Binder XIV. 1101
Lov om stortingsvalg, fylkestingsvalg og kommunestyrevalg (Valgloven), Gesetz Nr. 3 vom 1. März 1985, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 27 vom 7. Mai 1999. Zu Vorläufern vgl. auch Report Aider (oben Fn. 662), S. 31 f. 1102 Diese Voraussetzung gilt nicht für Bedienstete in norwegischen diplomatischen oder konsularischen Vertretungen sowie deren Hausstand, § 3 Abs. 3. 1103 Die Regierungsform in der voraussichtlich am 1.1.1975 in Kraft tretenden Neufassung, abgedruckt bei: Mayer-Tasch, Verfassungen, S. 580ff.; vgl. auch die wörtliche Wiedergabe im Report Aider (oben Fn. 662), S. 34.
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
203
Satz 2 auf ein einfaches Gesetz. Diese Bestimmung wurde im Jahr 1988 durch die jetzt gültige Fassung1104 ersetzt. Danach besitzt das Wahlrecht zum Riksdag jeder schwedische Staatsangehörige, der seinen ständigen Wohnsitz zur Zeit in Schweden hat oder jemals gehabt hat (Kap. 3 Art. 2 Abs. 1 Satz 1). Das schwedische Wahlgesetz1105 wiederholt diese Bestimmung in seinem Kap. 1 § 2. Gem. Kap. 13 § 1 werden die Auslandsvertretungen, in denen die Wahl stattfinden soll, von der zentralen Wahlbehörde im Einvernehmen mit dem Außenministerium bestimmt. Die Stimmabgabe beginnt am vierundzwanzigsten Tag vor der Wahl und endet so frühzeitig, daß die Wahlumschläge bis zum letzten Tag vor der Wahl, 12 Uhr, der zentralen Wahlbehörde übersandt werden können (Kap. 13 § 2). cc) Finnland Die am 1. März 2000 in Kraft getretene neuefinnische Verfassung 1106 verlangt für das Wahlrecht bei nationalen Wahlen und Volksentscheiden ausschließlich die finnische Staatsangehörigkeit und Vollendung des achtzehnten Lebensjahres (§ 14 Abs. 1 Satz 1). Dies entspricht der zuvor gültigen Rechtslage (§11 Abs. 1 Satz 1 Regierungsform a.F.1107). Auch dasfinnische Wahlgesetz1108 macht das aktive Wahlrecht von keiner weiteren als den genannten Bedingungen abhängig (§ 2 Abs. 1). Auslandsfinnen sind daher ohne Rücksicht auf vorherigen Wohnsitz in Finnland aktiv wahlberechtigt. Ihre Stimme können sie bei denfinnischen Auslandsvertretungen abgeben (§ 46 Abs. 1), und zwar im Wege der Vorauswahl, die zwischen dem elften und achten Tag vor der Wahl stattfindet (§ 47 Abs. 1). Stellvertretung ist ausdrücklich ausgeschlossen (§ 2 Abs. 4). dd) Dänemark Dänemark ist einer der wenigen europäischen Staaten, in denen die Inlandsbindung des Wahlrechts noch verfassungsrechtlich festgeschrieben ist: Art. 29 Abs. 1 Satz 1 der dänischen Verfassung (Grundlov) 1109 nennt als Wahlrechtsvoraussetzung neben der dänischen Staatsangehörigkeit und der Vollendung des Wahlalters den Wohnsitz innerhalb des Königreichs.
1104 77^, instrument of Government, KK 1974:152, as amended through SFS 1994:1483, abgedruckt bei: Flanz (Ed.), Constitutions, Binder XVIII. 1105 Vallag (1997:157) vom 1. Juni 1997, zuletzt geändert durch Gesetz (1997:227) vom 1. Januar 1998. noe ygi . 1107 Regierungsform vom 17. Juli 1919, zuletzt geändert am 1. August 1995, abgedruckt bei: Kimmel, Verfassungen, S. 111 ff. 1108
Gesetz Nr. 714/1998 vom 2. Oktober 1998. 1109 Verfassung des Königreiches Dänemark vom 5. Juni 1953, abgedruckt bei: Kimmel, Verfassungen, S.38ff.
204
2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Dies bedeutet freilich nicht, daß Auslandsdänen keinerlei Möglichkeit hätten, an den Wahlen zum Parlament (Folketing) teilzunehmen. Gem. § 2 des dänischen Wahlgesetzes1110 gelten folgende Personengruppen als in Dänemark wohnhaft: Angehörige des dänischen öffentlichen Dienstes (Abs. 1); Angestellte bei dänischen öffentlichen Unternehmen, bei Internationalen Organisationen, denen Dänemark angehört, oder bei dänischen Hilfsorganisationen; Personen, die sich zu Ausbildungszwecken oder aus gesundheitlichen Gründen im Ausland aufhalten; sowie diesen gleichzuachtende Personen (jeweils einschließlich der Ehepartner), Abs. 2 Nr. i-vi. Die Stimmabgabe erfolgt in den diplomatischen oder konsularischen Vertretungen Dänemarks im Wege der Vorauswahl (§ 57 Abs. 2). c) Britischeinsein aa) Vereinigtes Königreich Das Vereinigte Königreich verfügt bekanntlich nicht über eine geschriebene Verfassungsurkunde. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention war, wenngleich ratifiziert und somit völkerrechtlich verbindlich, vom Vereinigten Königreich lange Zeit nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden. Nach der streng dualistischen britischen Rechtsordnung erzeugte die EMRK daher keine unmittelbaren Rechte und Pflichten für den einzelnen.1111 Mit dem Human Rights Act 1998 hat sich diese Lage geändert. Die Konventionsrechte - einschließlich Art. 3 (1. ZP) 1112 - sind als Gesetz in die innerstaatliche Rechtsordnung umgesetzt worden. Dieses steht zwar in seinem Rang nicht über anderen Gesetzen, ihm kommt aber sehr wohl eine herausgehobene Stellung zu: Gem. sec. 6(1) ist jedes Verhalten öffentlicher Stellen (dieser Begriff umfaßt Verwaltungsbehörden ebenso wie Gerichte1113), das nicht im Einklang mit den Konventionsrechten steht, rechtswidrig. Nur das Parlament ist mit Rücksicht auf die sovereignty of Parliament von einer direkten Bindung an die Konventionsrechte ausgenommen.1114 Der Human Rights Act 1998 sieht aber einen Berichtsmechanismus vor, durch den sichergestellt werden soll, daß die Konventionsrechte auch im Gesetzgebungsverfahren beachtet werden.1115 Wie oben1116 gesehen, verpflichtet Art. 3 (1. ZP) die Mitgliedstaaten jedoch nicht, ihre im Ausland ansässigen Staatsbürger an den heimischen Parlamentswahlen zu beteiligen.
1110
Gesetz Nr. 271 vom 13. Mai 1987, zuletzt geändert am 10. April 1991. Zu historischen Vorläufern vgl. Henkel, AöR 99 (1974), 1 (13); Report Aider (oben Fn. 662), S. 22f. 1111 Indirekt hat die EMRK gleichwohl auf das innerstaatliche Recht eingewirkt, näher Grote, ZaöRV 58 (1998), 311 (312ff.). 1112 Vgl. sec. 1 (1 ) (b) Human Rights Act 1998. 1113 Grote, ZaöRV 58 (1998), 311 (338 f.). 1114 Grote, ZaöRV 58 (1998), 311 (339f.). 1115 See. 19 Human Rights Act 1998, vgl. hierzu Grote, ZaöRV 58 (1998), 311 (345). 1116 2. Teil 3. Kap. II.4.
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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Gem. sec. 1 (1) (a) i. V. m. 4 (1) Representation of the People Act 1983 ist grundsätzliche Voraussetzung des aktiven Wahlrechts der Wohnsitz in einem Wahlkreis am 10. Oktober des der Wahl vorausgehenden Jahres. Eine Wohnsitzfiktion gilt nur für Angehörige der Streitkräfte, in Diensten der Krone Befindliche oder Angestellte des British Council mit dienstlichem Auslandswohnsitz sowie deren Ehegatten. Diese Personen können als sog. service voters in das Wählerverzeichnis aufgenommen werden, vorausgesetzt sie haben eine entsprechende Erklärung abgegeben (sec. 14-17).1117 Ein umfassendes Wahlrecht für Auslandsbriten wurde erst durch den Representation of the People Act 1985 eingeführt. Dieser sah zunächst eine Fristenregelung von fünf Jahren vor, die dann durch den Representation of the People Act 1989 auf 20 Jahre erweitert wurde. Voraussetzung für die Wahlteilnahme ist in jedem Fall die Registrierung als overseas elector , die wiederum eine entsprechende Erklärung erfordert. Für die Stimmabgabe stehen den Auslandsbriten neben dem Aufenthalterstimmrecht (sec. 5 (2) Representation of the People Act 1985) die Brief- sowie Stell vertreterwahl zur Verfügung, sec. 5 (3), (4) Representation of the People Act 1985. Für die Briefwahl gilt allerdings die Einschränkung, daß die Wahlunterlagen nur an Adressen im Vereinigten Königreich versandt werden, sec. 6 (6) Representation of the People Act 1985. bb) Irland Nach der irischen Verfassung 1118 haben alle Bürger (sowie jene anderen, vom Gesetz bestimmten, sich im Staat aufhaltenden Personen), die das Alter von 18 Jahren erreicht haben, nach dem Gesetz nicht von der Stimmabgabe ausgeschlossen sind und die Vorschriften des Gesetzes für die Wahl der Mitglieder des Dâil Éireann erfüllen, ohne Unterschied des Geschlechts das Recht, bei der Wahl der Mitglieder des Dâil Éireann ihre Stimme abzugeben (Art. 16 Abs. 1.2). Obwohl das Wahlrecht bei irischen Staatsangehörigen somit nicht explizit an den Wohnsitz gebunden ist, stellte sich die irische Regierung gegenüber Forderungen nach einer Einführung des Wahlrechts für Auslandsiren auf den Standpunkt, daß eine Ausdehnung des Wahlrechts auf die im Ausland ansässige Bevölkerung von Verfassungs wegen unzulässig sei.1119 Nach dem Electoral Act 19921120 ist denn auch der ordentliche Wohnsitz in einem Stimmbezirk Voraussetzung für die Eintragung in das Wählerverzeichnis bei Wahlen zum Dâil Éireann , sec. 8(1) (b). Als ordentlich wohnhaft gelten auch Personen, die die Absicht haben, innerhalb von 18 Monaten nach Irland zurückzukehren, und diese Absicht schriftlich zugesichert haben, sec. 11 (3), ferner Angehörige des diplomati1117
Vgl. auch Henkel AöR 99 (1974), 1 (13); Report Aider (oben Fn. 662), S. 36f. ms Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937, zuletzt geändert am 26. November 1992, abgedruckt bei: Kimmel Verfassungen, S. 208 ff. 1119 Wiedergegeben in: Irish Current Law, Statutes Annotated (1991-92), No. 23-28. 1120 Irish Current Law, Statutes Annotated (1991-92), No. 23.
206
2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
sehen und konsularischen Dienstes, Mitglieder einer Ständigen Mission Irlands bei einer Internationalen Organisation und deren Ehegatten, sec. 12 (2). Die Möglichkeit der Briefwahl steht allerdings gem. sec. 14 nur Angehörigen der Polizei (Garda Siochâna), der Verteidigungskräfte und der Personen i. S. d. sec. 12 offen. Auslandsiren, die nicht zu den genannten Berufsgruppen gehören, können daher nur mittels Aufenthalterstimmrecht an der Wahl teilnehmen. d) Westeuropäische Staaten aa) Niederlande Das frühere niederländische Grundgesetz (Grondwet) 1121 behielt das Wahlrecht zur Zweiten Kammer (Tweede Kamer) der Generalstaaten denjenigen Einwohnern (ingezetenen) vor, die die niederländische Staatsangehörigkeit besaßen und das Wahlalter erreicht hatten (Art. 90 Abs. 1 Satz 1), verlangte also ausdrücklich den Wohnsitz im Inland. Dies führte zum Scheitern eines Wahlgesetzentwurfs der niederländischen Regierung, in dem eine Ausweitung des aktiven Wahlrechts auf Angehörige des niederländischen öffentlichen Dienstes, später auch auf niederländische Bedienstete bei internationalen Organisationen vorgesehen war. 1122 Von der Ersten Kammer wurde dieser Vorstoß mit der Begründung abgelehnt, es gehe nicht an, den im Grundgesetz verankerten Begriff des „iingezetenen" durch einfaches Gesetz in sein Gegenteil zu verkehren.1123 Später allerdings machte das Wahlgesetz eine Ausnahme vom Wohnsitzerfordernis für Niederländer im Staats- oder Militärdienst im Ausland und deren Ehepartner.1124 Gem. Art. 54 Abs. 1 der neuen niederländischen Verfassung 1125 vom 17. Februar 1983 ist das aktive Wahlrecht zur Zweiten Kammer nur noch vom Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit und dem Erreichen des Wahlalters abhängig; für das Wahlrecht der Auslandsniederländer wird auf ein einfaches Gesetz verwiesen. Dieses regelt die Auslandswahl mittlerweile in denkbar liberaler Form: Nach derzeit gültigem Wahlgesetz (Kieswet) 1126 besitzen das aktive Wahlrecht zur Zweiten Kammer alle niederländischen Staatsangehörigen, die spätestens am Wahltag das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben; hiervon ausgenommen sind lediglich Niederländer, die ihren tatsächlichen Wohnsitz auf den Niederländischen Antillen oder Aruba haben (Art. Β 1 Abs. 1). Diese Ausnahme gilt wiederum nicht für Niederlän1121
Grundgesetz des Königreichs der Niederlande vom 24. August 1815, zuletzt geändert am 17. April 1972, abgedruckt bei: Mayer-Tasch, Verfassungen, S. 367 ff. 1122 Vgl. Henkel, AöR 99 (1974), 1 (11 f.). 1123 Henkel, AöR 99 (1974), 1 (12). 1124 Report Aider (oben Fn. 662), S. 30. 1125 Verfassung des Königreichs der Niederlande vom 17. Februar 1983, zuletzt geändert am 10. Juli 1995, abgedruckt bei: KimmeU Verfassungen, S. 287ff. 1,26 Kieswet vom 28. September 1989 (Stb. 423), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Dezember 1998 (Stb. 1999, 14).
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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der, die mindestens zehn Jahre lang in den Niederlanden wohnhaft waren oder die im niederländischen öffentlichen Dienst auf den Niederländischen Antillen oder Aruba beschäftigt sind sowie für deren Hausstand (Art. Β 1 Abs. 2, lit. a und b). Die ehemalige Inlandsbindung des Wahlrechts ist damit nahezu vollständig aufgehoben. Die Eintragung eines Auslandsniederländers in das Wählerverzeichnis erfolgt nur auf schriftlichen Antrag, der vom jeweils zuständigen Konsulat an den Bürgermeister von Den Haag weitergeleitet wird (Art. D 3 Abs. 1, 3). Alsdann stehen dem Eingetragenen drei Möglichkeiten der Wahlteilnahme zur Verfügung: durch Aufenthalterstimmrecht (Art. Κ1, Κ 7), Stellvertretung (Art. L1, L 9) oder Briefwahl (Art. M 1, M 3). Beim Aufenthalterstimmrecht ist das Wahllokal, in dem die Stimme abgegeben wird, frei wählbar (Art. Kl). Dem Wahlberechtigten wird auf Antrag (Art. Κ 6, Κ 7) ein sog. Wählerpaß („>kiezerpas") ausgestellt (Art. Κ 4 Abs. 1), den er bei der Stimmabgabe dem Wahlvorstand aushändigt (Art. Κ11). Nach Zusendung des Wählerpasses ist die Wahlteilnahme nur noch in Form des Aufenthalterstimmrechts möglich (Art. Κ 4 Abs. 2). Bei der Wahl durch Stellvertretung wird auf Antrag des Vollmachtgebers (Art. L 8, L 9) dem Bevollmächtigten eine Erklärung ausgestellt, die ihn als solchen ausweist, der sog. Vollmachtsbeweis („volmachtbewijs"), Art. L6 Abs. 1. Der Vollmachtgeber ist nicht befugt, eine einmal erteilte Vollmacht zurückzuziehen oder nach Vollmachtserteilung persönlich an der Wahl teilzunehmen (Art. L5 Abs. 1). Ein Wähler darf nicht mehr als zwei Bevollmächtigungen annehmen (Art. L4). Die Briefwahl kommt für Auslandsniederländer in Betracht, die ihren tatsächlichen Wohnsitz außerhalb der Niederlande haben oder die sich aus beruflichen Gründen am Wahltag im Ausland aufhalten (Art. M1). Auf Antrag wird dem Wähler eine Erklärung ausgestellt, die ihn als Briefwähler ausweist, der sog. Briefstimmbeweis („,brief stembewijs"), Art. M 2 Abs. 1. Dieser enthält eine vom Briefwähler zu unterschreibende Erklärung, daß der Stimmzettel persönlich ausgefüllt wurde (Art. M 6 Abs. 1 lit. c). Zur schnelleren Übersendung der Wahlbriefe werden in nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Staaten die diplomatischen oder konsularischen Vertretungen der Niederlande eingeschaltet (Art. M13 Abs. 1). Diese richten für die Entgegennahme der Wahlbriefe ein Briefwahllokal („briefstembureau") ein, sofern der Empfangsstaat dem nicht widerspricht (Art. M 13 Abs. 2 lit. a). Die Auszählung der Briefwahlstimmen erfolgt in ausschließlich zu diesem Zweck eingerichteten brief stembureaus in Den Haag, Art. M 9.
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
bb) Belgien Die frühere belgische Verfassung 1127 gewährte in ihrem Art. 47 Abs. 1 das Wahlrecht zur Abgeordnetenkammer allen Bürgern, die das erforderliche Wahlalter erreicht hatten, seit wenigstens sechs Monaten in derselben Gemeinde wohnhaft waren und sich in keinem der durch das Gesetz vorgesehenen Ausschließungsfälle befanden. Auch in Belgien hatte die Wohnsitzklausel also Verfassungsrang. Bereits nach alter Rechtslage machten aber die instructions générales concernant la tenue des registres de population hiervon weitreichende Ausnahmen, indem vorübergehend Abwesende, Angehörige der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten oder bei einer internationalen Organisation tätigen Belgischen Streitkräfte, Angehörige des Belgischen diplomatischen und konsularischen Dienstes, Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder Entwicklungshelfer als in Belgien wohnhaft behandelt wurden.1128 Für diese Personengruppen sah das seinerzeit gültige Wahlgesetz das Aufenthalterstimmrecht oder die Stellvertreterwahl vor. 1129 In der neuen koordinierten Verfassung vom 17. Februar 19941130 ist die Wohnsitzklausel gestrichen. Das aktive Wahlrecht zur Abgeordnetenkammer ist nur noch abhängig vom Besitz der belgischen Staatsangehörigkeit und der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres (Art. 61 Abs. 1). In Übereinstimmung damit wurde durch Gesetz vom 18. Dezember 19981131 ein umfassendes Wahlrecht für Auslandsbelgier eingeführt. Dies gewährt allen Auslandsbelgiern mit Erreichen des Wahlalters die Möglichkeit, an den Wahlen zu den föderalen gesetzgebenden Kammern teilzunehmen. Zu diesem Zweck wird in jeder belgischen Gemeinde ein Register für im Ausland niedergelassene belgische Wahler angelegt (Art. 11 § 1). Die Eintragung in dieses Register erfolgt, wenn ein Bürger bei der Auswanderung aus Belgien gegenüber seiner Wegzugsgemeinde eine Erklärung abgibt, die Eigenschaft als Wahler behalten zu wollen (Art. 2 § 1), desgleichen - sofern die Erklärung bei der Auswanderung unterblieben ist oder aber ein Belgier das Land vor Inkrafttreten des Gesetzes verlassen hat bzw. im Ausland geboren ist - durch eine entsprechende Erklärung gegenüber der zuständigen diplomatischen oder konsularischen Vertretung im Ausland (Art. 2 § 2). Eine Eintragung unterbleibt, wenn der Belgier in seinem Wohnsitzstaat über das parlamentarische Wahlrecht verfügt (Art. 2 § 4). Die Wahlteilnahme vom Ausland her erfolgt im Wege der Stellver-
1127 Belgische Verfassung vom 7. Februar 1831, zuletzt geändert am 31. Dezember 1970, abgedruckt bei: Mayer-Tasch, Verfassungen, S. 40ff.; vgl. auch die wörtliche Wiedergabe im Report Aider (oben Fn. 662), S. 19. 1128 Report A/der (oben Fn. 662), S. 19 f. Zur Rechtslage davor vgl. Henkel AöR 99(1974), 1 (13 f.). 1129 Report Aider (oben Fn. 662), S. 20. ino Abgedruckt bei: Kimmel, Verfassungen, S. 1 ff. 1131 Loi modifiant le Code électoral en vue d'octroyer le droit de vote aux Belges étab Γ étranger pour Γ élection des Chambres législatives fédérales , Moniteur Belge vom 31. Dezem ber 1998, S. 42063 ff.
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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tretung (Art.\Alter § 1). Eine Bevollmächtigung ist nur ein Jahr gültig, kann aber jeweils im Oktober um ein weiteres Jahr verlängert werden (Art. 2 § 5). Daneben besteht die Möglichkeit des Aufenthalterstimmrechts (Art. XAlter § 2). cc) Frankreich In Frankreich hat das Wahlrecht für Auslandsstaatsbürger eine längere Tradition als in den meisten anderen Staaten Europas. Mitentscheidend hierfür war die Rolle der Résistance während des Zweiten Weltkriegs, die zu einem wesentlichen Teil vom Ausland her den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht organisierte. So kam es zunächst im Jahr 1948 zur Schaffung des Conseil supérieur des Français à Γ étranger, eines Vertretungsorgans für Auslandsfranzosen, das allerdings nur mit konsultativen Befugnissen ausgestattet war und bis heute ist.1132 Anläßlich des Referendums über die Genehmigung der Verfassung der Fünften Republik wurde den Auslandsfranzosen erstmalig die Möglichkeit eingeräumt, in den diplomatischen oder konsularischen Vertretungen Frankreichs ihre Stimme abzugeben. Dementsprechend kennt Art. 3 Abs. 4 der französischen Verfassung vom 28. September 19581133 keine Beschränkung des Wahlrechts durch Wohnsitz. Der Widerstand einiger Staaten, insbesondere ehemaliger französischer Kolonien und der Schweiz, führte aber dazu, daß diese Art der Wahlbeteiligung nicht weiterverfolgt wurde.1134 Bei den ersten Wahlen zur Nationalversammlung (Assemblée nationale) wurde dann das Verfahren eingeführt, das im wesentlichen unverändert bis heute gilt: Gem. Art. L12 1135 des französischen Wahlgesetzes1136 können Auslandsfranzosen, sofern sie in einem französischen Konsulat immatrikuliert sind, auf ihren Antrag in das Wählerverzeichnis einer der folgenden Gemeinden eingetragen werden: der Gemeinde ihrer Geburt; der Gemeinde ihres letzten Wohnsitzes; der Gemeinde ihres letzten inländischen Aufenthalts, vorausgesetzt, daß dessen Dauer mindestens sechs Monate betrug; der Gemeinde, in der ein Verwandter aufsteigender Linie geboren ist, in das Wählerverzeichnis eingetragen ist oder war; der Gemeinde, in der ein Verwandter absteigender Linie ersten Grades in das Wählerverzeichnis eingetragen ist. Die zwischenzeitlich eingeführte Regelung, wonach sich ein Auslandsfranzose auch in das Wählerverzeichnis jeder beliebigen Gemeinde mit mehr als 30 000 Einwohnern eintragen lassen konnte, sofern die Zahl der Auslandsfranzosen nicht 2 % der 1132
Vgl. Dubourg-Lavroff,\ RDP 101 (1985), 361 (369f.). Die Verfassung der Französischen Republik vom 28. September 1958, zuletzt geändert am 31. Dezember 1963, abgedruckt bei: Mayer-Tasch, Verfassungen, S. 190ff.; in der Fassung der letzten Änderung vom 22. Februar 1996 abgedruckt bei: Kimmel, Verfassungen, S. 132ff. 1134 Wiederkehr, Staat, S. 109. 1135 Loi n° 82-974 du 19 novembre 1982. 1136 Code électoral du 27 Octobre 1964, mit Änderungen. 1133
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Gesamtwählerschaft in der Gemeinde überstieg,1137 wurde mittlerweile wieder abgeschafft, da es ihretwegen bei den Wahlen vom 12. März 1978 zu Turbulenzen gekommen war: Blankovollmachten und gehäuftes Auftreten von Stimmen der Auslandsfranzosen in Wahlkreisen, in denen die Regierungsmehrheit bedroht war, ließen damals das oppositionelle Linksbündnis an einen Komplott der Regierung glauben. Alle Versuche, die Wahl auf gerichtlichem Wege zu Fall zu bringen, blieben allerdings erfolglos. Erst die Regierungsübernahme durch die Linke ermöglichte ihr die Abschaffung der umstrittenen Klausel.1138 Für die Stimmabgabe steht den Auslandsfranzosen die Stellvertreterwahl (Art. L71 ff., R72 ff.) oder das Aufenthalterstimmrecht (Art. L76) zur Verfügung. Das zwischenzeitlich eingeführte Briefwahlrecht wurde für die Wahlen zur Nationalversammlung 1975 wieder abgeschafft. 1139 e) Südeuropäische Staaten aa) Portugal Gem. Art. 49 Abs. 1 der Portugiesischen Verfassung 1140 sind wahlberechtigt alle Bürger, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, vorbehaltlich der vom allgemeinen Gesetz bestimmten Wahlrechtsunfähigkeiten. In Übereinstimmung damit macht das aktuelle portugiesische Wahlgesetz1141 das aktive Wahlrecht generell nur vom Besitz der portugiesischen Staatsangehörigkeit und der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres abhängig (Art. 1 Abs. 1). Gem. Art. 3 sind Wähler der Assembleia da Repùblica diejenigen Bürger, die in das Wahlerregister aufgenommen sind, sei es im Inland, auf Macao oder im Ausland. Art. 12 Abs. 4 sieht vor, daß die im Ausland ansässigen Bürger auf zwei Wahlkreise verteilt werden, eines für europäische Staaten und eines für Staaten außerhalb Europas einschließlich Macaos. Das Wahlbüro für beide ist in Lissabon. Gem. Art. 13 Abs. 3 erhält jeder der beiden Auslandswahlkreise zwei Abgeordnete. Die Wahlbeteiligung der Auslandsportugiesen erfolgt per Briefwahl. 1142
1137
Loi n° 77-805 du 19 juillet 1977. Einzelheiten bei Dubourg-Lavroff,\ RDP 101 (1985), 361 (373 f.); Sturm, in: FS Aubin, S. 247 (252ff.). 1139 Loi n° 75-1329 du 31 décembre 1975; vgl. Report Aider (oben Fn. 662), S. 23 f.; Dubourg-Lavroff, RDP 101 (1985), 361 (371). 1140 Verfassung der Republik Portugal vom 2. April 1976, zuletzt geändert am 25. November 1992, abgedruckt bei: Kimmel, Verfassungen, S. 402ff.. 1138
1141 Lei Eleitoral da Assembleia da Republica (Lei n.° 14/79, de 16 Maio), zuletzt geändert durch Lei n.° 56/98 de 18/08. 1142 Art. 5 Decreto-Lei 95-C/76,30 Janeiro, organizaçâo do processo eleitoral no estrangeiro, zuletzt geändert durch Lei 10/95, 7 AbriV, vgl. hierzu auch Report Aider (oben Fn. 662), S.32f.
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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bb) Spanien In ihrer ursprünglichen Fassung enthielt die spanische Verfassung für das Wahlrecht zum Kongreß der Abgeordneten (Congreso de los diputados) nicht mehr als die Garantie allgemeiner,freier, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahlen (Art. 68 Abs. I). 1143 In Ergänzung hierzu bestimmt jetzt Art. 68 Abs.5 Satz 1, daß alle Spanier, die sich im Vollbesitz ihrer politischen Rechte befinden, wahlberechtigt und wählbar sind. Gem. Art. 68 Abs. 5 Satz 2 wird die Ausübung des Wahlrechts durch Spanier, die sich außerhalb des spanischen Hoheitsgebietes befinden, vom Gesetz anerkannt und vom Staat ermöglicht.1144 Nach dem derzeit gültigen spanischen Wahlgesetz1145 ist die Eintragung in das Wählerverzeichnis unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung des aktiven Wahlrechts (Art. 2 Abs. 2). Eingetragen werden neben den in Spanien seßhaften Wählern auch die Auslandsspanier (Art. 31 Abs. 2). Die Wahlteilnahme der Auslandsspanier erfolgt auf dem Korrespondenzweg, und zwar entweder durch direktes Einsenden der Wahlbriefe oder unter Einschaltung der spanischen Konsulate im Ausland, von denen die Wahlbriefe an ein beim Außenministerium eingerichtetes Wahlbüro weitergeleitet werden (Art. 75 Abs. 3). cc) Italien Italien kennt seit langem das Wahlrecht für Auslandsstaatsbürger. Gem. Art. 48 Abs. 1 der italienischen Verfassung 1146 ist die Wahlberechtigung lediglich vom Besitz der italienischen Staatsangehörigkeit und dem Erreichen der Volljährigkeit abhängig. Der jetzige Art. 48 Abs. 4 (früher Abs. 3) verbietet ausdrücklich Einschränkungen des Wahlrechts, außer in Fällen von Entmündigung, rechtskräftigen Strafurteils oder den gesetzlich geregelten Fällen moralischer Unwürdigkeit. Das aktive Wahlrecht ist somit nicht vom Inlandswohnsitz abhängig, allerdings kennen die Wahlgesetze für Auslandsitaliener bislang nur die Beteiligungsform des Aufenthalterstimmrechts (dazu sogleich). Mit verfassungsänderndem Gesetz vom 17. Januar 2000 wurde jedoch ein neuer Art. 48 Abs. 3 in die Verfassung eingefügt, der eine effektivere Beteiligung der Auslandsitaliener sicherstellen soll. Danach sind die Regelung von Voraussetzungen und Modalitäten der Auslandswahl einem einfachen Gesetz vorbehalten. Daneben schreibt die Verfassung jetzt die Errichtung eines Auslandswahl1143
Report Aider (oben Fn. 662), S. 33. Verfassung des Königreichs Spanien vom 29. September 1978, zuletzt geändert am 27. August 1992, abgedruckt bei: Kimmel Verfassungen, S. 522 ff. 1145 Ley Orgànica 5/1985, de 19 de Junio, del Régimen Electoral General (Β. Ο. Ε. η 147, 20 de junio), zuletzt geändert durch Ley Orgànica 3/1998, de 15 de junio (Β. Ο. E. η Ί43, de 16 de junio). 1146 Verfassung der Republik Italien vom 27. Dezember 1947, zuletzt geändert am 30. Oktober 1993, abgedruckt bei: Kimmel, Verfassungen, S. 243 ff. 1144
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
kreises vor. 1147 In diesem Zusammenhang hat die Deputiertenkammer am 7. März 2000 zudem eine Änderung der Art. 56 und 57 der italienischen Verfassung beschlossen. Das Gesetz sieht vor, daß für die Deputiertenkammer künftig zwölf, für den Senat sechs Abgeordnete im Wege der Auslands wähl gewählt werden.1148
Nach dem derzeit noch gültigen italienischen Wahlrecht setzt die Teilnahme an der Wahl die Eintragung in das Wählerverzeichnis voraus. Eingetragen werden von Amts wegen alle Wahlberechtigten, die entweder in das Einwohnerverzeichnis der Inlandsbevölkerung oder aber in das 1988 geschaffene Verzeichnis der Auslandsitaliener ( anagrafe degli italiani residenti all'estero , AIRE) eingetragen sind.1149 In dieses Ve zeichnis werden alle Italiener aufgenommen, die ihren Wohnsitz aus einer italienischen Gemeinde in das Ausland verlegen, außer im Falle eines vorübergehenden Auslandsaufenthalts von nicht mehr als zwölf Monaten oder bei Staatsdienst im Ausland.1150 Daneben können Auslandsitaliener jederzeit beantragen, in das Wählerverzeichnis ihrer Geburtsgemeinde eingetragen zu werden.1151 Zur Stimmrechtsausübung müssen sie sich jedoch ins Inland begeben. Die Reisekosten hierfür werden ersetzt.1152 Stellvertretung und Briefwahl sind ausdrücklich ausgeschlossen.1153 Zur Erleichterung der Stimmabgabe für Auslandsitaliener wird voraussichtlich das Briefwahlrecht eingeführt werden.1154 f) Mitteleuropäische
Staaten
aa) Schweiz Bestrebungen um eine Einbeziehung der Auslandsstaatsbürger in den Prozeß der staatlichen Willensbildung lassen sich in der Schweiz bis in das Jahr 1874 zurückverfolgen. Bezeichnenderweise gab damals - wie auch einige Jahrzehnte später in 1147
Legge costituzionale 17 gennaio 2000, η. 1, " Modifica all'articolo 48 della Costituzion concernente l'istituzione della circoscrizione Estero per l'esercizio del diritto di voto de dini italiani residenti all'estero " ( Gazz. Uff. 20 gennaio 2000, n. 15). Art. 48 Abs. 3 η. F. lautet im Original wie folgt: "La legge stabilisce requisiti e modalità per l'esercizio del diritto di voto dei cittadini residenti all'estero e ne assicura l'effettività. A è istituita una circoscrizione Estero per l'elezione delle Camere, alla quale sono assegnati s nel numero stabilito da norma costituzionale e secondo criteri determinati dalla legged 1148 Legge n. 4518, noch nicht in Kraft. 1149 Art. 4 Abs. 1 testo unico delle leggi per la disciplina dell'elettorato attivo e per la tenu la revisione delle liste elettorali, D.P.R. 20marzo 1967, n.223 (Gazz. Uff. 28aprile 1967, n. 10 zuletzt geändert durch legge 16 gennaio 1992, η. 15 (Gazz. Uff. 22 gennaio n. 17). Zur früheren Rechtslage vgl. Henkel, AöR 99 (1974), 1 (14f.); Report Aider (oben Fn. 662), S. 27 ff. 1150 Art. 1 Abs. 8 und 9,6 Abs. 1 legge 27 ottobre 1988, n. 470 (Gazz. Uff. 7novembre 1988, η. 261). 1151 Art. 11 Abs. 1 testo unico (Fn. 1149). 1152 Art. 117 testo unico delle leggi elettorali, D.P.R. 30 marzo 1957, n. 361, mit Änderungen. 1153 Art. 55 Abs. 1 des vorgenannten Gesetzes (Fn. 1152). 1154 Auskunft der Italienischen Botschaft in Berlin vom 6. Dezember 1999.
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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1155
Deutschland -eine Abstimmung über die zukünftige Verfassung den Anlaß zu Forderungen nach einem Stimmrecht für Auslandsschweizer. Beim Bundesrat stieß sie jedoch auf Ablehnung.1156 Nachdem Auslandsschweizern zwischenzeitlich durch einen Beschluß des Bundesrates die Teilnahme an der Abstimmung über die Kriseninitiative vom 2. Juni 1935 mittels Aufenthalterstimmrecht gewährt worden war, kehrte dieser im Jahr 1937 zu seiner ablehnenden Haltung zurück.1157 Er konnte sich dabei auf den Wortlaut von Art. 43 Abs. 2 der früheren schweizerischen Verfassung1158 berufen, der den Wohnsitz ausdrücklich zur Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen machte. Eine Wahlbeteiligung der Auslandsschweizer konnte daher nur über eine Verfassungsänderung erreicht werden. Diese erfolgte im Jahr 1966 durch Einfügung des Art. 45bis, der dem Bund die Befugnis verlieh, die Beziehungen der Auslandsschweizer unter sich und zur Heimat zu fördern (Abs. 1), und in diesem Zusammenhang die Verleihung politischer Rechte ausdrücklich erwähnte (Abs. 2). Der erteilte Auftrag war allerdings als Kann-Vorschrift ausgestaltet, so daß der Bund zum Tätigwerden nicht verpflichtet war. 1159 Auf dieser Grundlage erging zunächst im Jahr 1975 das Bundesgesetz über die politischen Rechte der Auslandschweizer1160. Dieses gestand zwar allen Schweizern, die in der Schweiz keinen Wohnsitz hatten und bei einer schweizerischen Vertretung im Ausland immatrikuliert waren (vgl. die Legaldefinition in Art. 2), das Recht zur Teilnahme an eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen zu, allerdings nur in Form des Aufenthalterstimmrechts (Art. 1). Maßgeblich für diese Regelung war der Umstand, daß die Schweiz zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gewillt war, politische Betätigung von Ausländern auf ihrem Territorium zu dulden, und daher aus Gründen der Reziprozität1161 auf andere Formen der Wahlbeteiligung wie Brief- oder Stellvertreterwahlrecht verzichten mußte.1162 Nur wenn sich ein Auslandsschweizer auf heimischem Territorium befand, konnte er seine Stimme brieflich abgeben. Eine Ausnahme hiervon galt nur für im Ausland wohnende Bundesbedienstete. Diesen wurde die briefliche Stimmabgabe vom Ausland her gestattet, da es unmöglich gewesen wäre, allen Personen gleichzeitig die Reise in die Schweiz zu bewilligen.1163 Mit dem Änderungsgesetz vom 9. Oktober 19871164 wurde diese Regelung auf im Ausland lebende Ehegatten von Bundesbediensteten ausgeweitet. 1155
Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. II. 3. BB1. 1965 II 412 (417); Cavin, Territorialité, S. 99; Krafft, SJZ 1925, 217; Wiederkehr, Staat, S. 80. 1157 BB1. 1965 II 412 (417f.); Cavin, Territorialité, S. 100; Wiederkehr, Staat, S. 82. 1158 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, zuletzt geändert am 24. Juni 1971, abgedruckt bei: Mayer-Tasch, Verfassungen, S. 638 ff. 1159 Grisel, in: Aubert (Hrsg.), BVerf-Kommentar, Art. 45bis, Rn. 11 f. (Stand: Oktober 1989). 1160 AS 1976 1805. 1161 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV.3.bcc(3). 1162 Vgl. BB1. 19751 1285 (1291 ff.). 1163 Einzelheiten bei Siegrist, Hoheitsakte, S. 224f. 1164 AS 1988 353. 1156
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Eine grundlegende Neuregelung erfolgte durch die Verordnung über die politischen Rechte der Auslandschweizer vom 16. Oktober 1991.1165 Voraussetzung hierfür war die 1989 getroffene Entscheidung des Bundesrates, künftig auf schweizerischem Territorium die Teilnahme von Ausländern an Wahlen ihrer Heimatstaaten mittels Briefwahl zu dulden.1166 In der Konsequenz sieht die gegenwärtige Rechtslage ebenfalls eine Wahlbeteiligung der Auslandsschweizer in Form der Briefwahl vom Ausland her vor, und zwar durch direktes Einsenden des Wahlbriefes an die Stimmgemeinde (Art. 13). Hierfür können die Auslandsschweizer zwischen ihrer Heimat- und ihrer früheren Wohnsitzgemeinde wählen (Art. 1 Abs. 3). Die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene neue schweizerische Verfassung 1167 schließlich enthält in ihrem Art. 40 eine Bestimmung, die demfrüheren Art. 45bis zwar weitgehend entspricht, allerdings nicht mehr in Kann-Form, sondern indikativisch formuliert ist. Daraus folgt, daß der Bund künftig verfassungsrechtlich verpflichtet ist, das Wahlrecht für Auslandsschweizer vorzusehen.11674 bb) Österreich In Österreich ist als soweit ersichtlich einzigem der hier untersuchten Staaten die Einführung des Aktiv Wahlrechts für Auslandsstaatsbürger durch den Spruch des Verfassungsgerichts erzwungen worden, ein Umstand, der im vorliegenden Zusammenhang naturgemäß besonderes Interesse weckt. Vor dem Erkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 16. März 19891168 w a r e n Auslandsösterreicher vollständig vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen. Dieser Ausschluß war bereits mehrfach verfassungsgerichtlich als unbedenklich bestätigt worden1169 und auch in der Literatur weithin akzeptiert.1170 In dem Erkenntnis von 1989 erteilte der Verfassungsgerichtshof einer „Versteinerung" der bei Inkrafttreten der Verfassung vorgefundenen einfachen Gesetzeslage eine klare Absage.1171 Seinen Rechtsprechungswechsel begründete er mit systematischen Erwägungen: Gem. Art. 26 Abs. 1 B-VG werde der Nationalrat „vom Bundesvolk" ge1165
AS 1991 2391. Vgl. bereits oben 2. Teil 4. Kap. IV.3.baa. 1167 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, AS 1999 2556. ii67a Ygi die Äußerung des Berichterstatters Aeby in der Sitzung des Ständerats vom 18. Juni 1998 (in: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 1998, Ständerat, Reform der Bundesverfassung [Separatdruck], S. 165): „Je rappelle qu'elle se distingue de la décision du Conseil national, que vous trouvez à Γ article 48, par le fait qu'elle impose à la Confédération d'édic des dispositions sur les droits et devoirs des Suisses de l'étranger, et non pas seulemen
telle que l'a laissée passer le Conseil national 1168 VerfGH Wien EuGRZ 1990, 67 ff. 1169 VerfGH Wien, VfSlg 299/1924; 1362/1930; 1994/1950. 1,70 Nachweise zur damaligen Literatur bei Nowak, Grundrechte, S. 337f.; ders., EuGRZ 1990,72 (73) mit Fn. 5-7. 1171 Hierzu bereits oben 2. Teil 1. Kap. II.4.bbb. 1,66
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
215
wählt. Anders als bei der Regelung des aktiven Wahlrechts zum Landtag (Art. 95 Abs. 1 B-VG) und in den Gemeinderat (Art. 117 Abs. 2 B-VG) werde das Wahlrecht zum Nationalrat nicht explizit von der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet abhängig gemacht.1172 Die Wohnsitzvoraussetzung könne auch nicht als implizit angeordnet betrachtet werden. Art. 26 Abs. 2 B-VG regle lediglich die Verteilung der Mandate auf die einzelnen Wahlkreise, nicht die Wahlberechtigung.1173 Auch das „Homogenitätsgebot" des Art. 95 Abs. 2 B-VG, wonach die Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts für Landtagswahlen nicht enger gezogen werden dürften als für Nationalratswahlen, führe zu keinem anderen Ergebnis, da der Wohnsitz im Land in Art. 95 Abs. 1 B-VG ausdrücklich genannt sei.1174 Stattdessen hob der Verfassungsgerichtshof die Bestimmung des Art. 26 Abs. 5 B-VG hervor, demzufolge die Ausschließung vom Wahlrecht nur die Folge einer gerichtlichen Verurteilung oder Verfügung sein darf. 1175 In Befolgung dieses Erkenntnisses führte der Gesetzgeber 1990 das aktive Wahlrecht für Auslandsösterreicher ein. Dies geschah zunächst durch die Einfügung einer Verfassungsbestimmung in die Nationalrats-Wahlordnung 1971 (§ 62 a).1176 Die Ausgestaltung als Verfassungsbestimmung wurde für notwendig erachtet, da die Neuregelung für Auslandsösterreicher eine „Art von Briefwahr 1177 vorsah, der Verfassungsgerichtshof aber die Briefwahl auf einfachgesetzlicher Grundlage wegen Verletzung der Grundsätze der geheimen und persönlichen Wahl verworfen hatte.1178 Mit Erlaß der Nationalrats-Wahlordnung 19921179 (im folgenden: NRWO 1992) wurde die Ausgestaltung als Verfassungsbestimmung jedoch wieder fallengelassen. Die Regelungen über die Stimmabgabe der Auslandsösterreicher (§ 60 NRWO 1992) stehen jetzt nur noch im Rang eines einfachen Gesetzes. Gleichzeitig wurde Art. 26 B-VG durch die Bestimmung ergänzt, daß die Stimmabgabe im Ausland nicht vor einer Wahlbehörde erfolgen muß (Abs. 6 Satz 3) und die näheren Bestimmungen über die Stimmabgabe im Ausland vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden können (Abs. 6 Satz4).1180 Im österreichischen Schrifttum sind allerdings Zweifel laut geworden, ob diese gesetzestechnische Ausgestaltung eine taugliche verfassungsrechtliche Absicherung der Briefwahl darstellt.1181
1172 1173 1174 1175 1176 1177 1,78 1179 1180 1181
VerfGH Wien EuGRZ 1990,67 (70). VerfGH Wien EuGRZ 1990, 67 (71). VerfGH Wien EuGRZ 1990,67 (72). Ebd. Wahlrechtsänderungsgesetz 1990, BGBl. 1990 Nr. 148. Schick, ÖJZ 1994,289 (295). VerfGH Wien EuGRZ 1985,177 ff. BGBl. 1992 Nr. 471, zuletzt geändert BGBl. I Nr. 90/1999. BGBl. 1992 Nr. 470. Nowak/Strejcek, in: Menschenrechte III, S. 1 (23) m. w. N.; Schick, ÖJZ 1994,289 (295).
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
Im einzelnen erfordert die Stimmabgabe im Ausland die Bestätigung der Identität des Wahlers sowie von Ort und Zeit der Wahlhandlung durch eine einem österreichischen Notar vergleichbare Person bzw. eine nach dem Recht des Aufenthaltsstaates zur amtlichen Beglaubigung berechtigte Einrichtung oder durch den Leiter einer österreichischen Vertretungsbehörde (§ 60 Abs. 2 NRWO 1992). Notfalls kann die Bestätigung aber auch durch einen volljährigen Zeugen mit österreichischer Staatsbürgerschaft erfolgen (§ 60 Abs. 4 NRWO 1992). Sofern der Aufenthaltsstaat allerdings der Ausübung des Wahlrechts widerspricht, hat diese zu unterbleiben (§ 60 Abs. 5 NRWO 1992). Darüber hinaus besteht für Auslandsösterreicher die Möglichkeit des Aufenthalterstimmrechts (§§ 24 Abs. 1, 36 Abs. 1, 37 Abs. 1 NRWO 1992). g) Osteuropäische Staaten aa) Polen Gem. Art. 96 Abs. 2 der polnischen Verfassung 1182 sind die Wahlen zum Parlament, dem Sejm, allgemein, gleich, unmittelbar und proportional und werden in geheimer Abstimmung abgehalten. Das Recht zur Teilnahme an Referenden sowie an der Wahl des Präsidenten, der Abgeordneten, Senatoren und der Vertreter in den Organen der Selbstverwaltung besitzen alle polnischen Staatsangehörigen, die spätestens am Wahltag das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, Art. 62 Abs. 1. Ausgeschlossen sind gem. Art. 62 Abs. 2 lediglich Personen, die durch rechtskräftige Gerichtsentscheidung entmündigt sind oder denen die öffentlichen Rechte oder Wahlrechte entzogen wurden. Dementsprechend knüpft Art. 12 des polnischen Wahlgesetzes1183 das aktive Wahlrecht lediglich an den Besitz der polnischen Staatsangehörigkeit und das Erreichen des achtzehnten Lebensjahres. Gem. Art. 30 Abs. 1 werden polnische Staatsbürger, die sich im Ausland aufhalten und einen gültigen polnischen Paß besitzen, in das Wählerverzeichnis eingetragen, das von dem territorial zuständigen Konsul der Republik Polen erstellt wird. Sofern sich ein Auslandspole am Wahltag im Inland aufhält, kann er sich auch in das Wählerverzeichnis seiner Aufenthaltsgemeinde eintragen lassen, Art. 32 Nr. 3. Dort kann er dann gem. Art. 34 seine Stimme abgeben (Aufenthalterstimmrecht). Für polnische Staatsbürger, die sich am Wahltag im Ausland aufhalten, richtet der polnische Außenminister nach Abstimmung mit der Staatlichen Wahlkommission Auslands Wahlbezirke ein (Art. 51 Abs. 1). Von den örtlich
zuständigen Konsuln werden hierfür aus der Mitte der Wahler die Wahlkreiskommissionen gebildet (Art. 69 Abs. 1). In jedem Fall kann die Stimmabgabe gem. Art. 33 nur persönlich vorgenommen werden. 1182 Die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 11, Polen 1.1. (Loseblatt, Stand: November 1997). 1183 Gesetz über die Wahlordnung zum Sejm der Republik Polen vom 28. Mai 1993, zuletzt geändert am 6. März 1997, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 11, Polen 2.2.1 .a (Loseblatt, Stand: August 1998).
4. Kapitel: Verfassungsrechtliche Neubewertung
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bb) Tschechien Art. 18 Abs. 1 der tschechischen Verfassung 1184 schreibt für die Wahlen zum Parlament das allgemeine, gleiche, und direkte Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vor. Gem. Art. 18 Abs. 3 hat jeder Bürger der Tschechischen Republik mit Erreichen des achtzehnten Lebensjahrs das Recht zu wählen. Die letztgenannte Bestimmung wird von § 1 Abs. 2 des tschechischen Wahlgesetzes1185 wiederholt. Gem. § 6 Abs. 1 lit. a werden Wahler, die keinen dauerhaften Aufenthalt auf dem Gebiet der Tschechischen Republik haben, in ein Sonderverzeichnis eingetragen. § 26 bestimmt, daß Wahlen zur Abgeordnetenversammlung in den Wahlkreisen auf dem Gebiet der Tschechischen Republik stattfinden. Da Stellvertretung unzulässig ist (§ 19 Abs. 1), haben Auslandstschechen nur die Möglichkeit, mittels Aufenthalterstimmrecht an den Parlamentswahlen teilzunehmen. cc) Ungarn Die ungarische Verfassung 1186 ist eine der wenigen europäischen Verfassungen, die für das Wahlrecht noch eine ausdrückliche Wohnsitzklausel enthält. Gem. § 70 Abs. 1 hat jeder auf dem Gebiet der Republik Ungarn lebende volljährige ungarische Staatsbürger das Recht, bei Wahlen zum Parlament zu wählen, wenn er sich am Wahltag im Landesgebiet aufhält. Daneben enthält Art. 71 Abs. 1 eine Garantie der Allgemeinheit der Wahl. Das ungarische Wahlgesetz1187 freilich macht die Wahlberechtigung nur von der ungarischen Staatsangehörigkeit und dem Erreichen der Volljährigkeit abhängig (§2 Abs. 1). Gem. § 2 Abs. 4 sind aber Wähler, die keinen ständigen oder vorläufigen Wohnsitz in Ungarn haben, an der Stimmabgabe gehindert. Nach dem Gesetz Nr. C/1997 über das Wahlverfahren 1188 werden in das Namensverzeichnis nur diejenigen wahlberechtigten Personen aufgenommen, deren Wohnsitz oder in Ermangelung desselben deren Aufenthaltsort in dem Stimmbezirk liegt (§13 Abs. 1). Auslandsungarn sind somit vom Wahlrecht ausgeschlossen. 1184 Verfassung der Tschechischen Republik vom 16. Dezember 1992, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 11, Tschechien 1.1. (Loseblatt, Stand: August 1995). 1185 Gesetz über die Wahlen zum Parlament der Tschechischen Republik und über die Änderung und Ergänzung einiger weiterer Gesetze vom 27. September 1995, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 11, Tschechien 2.2.1. (Loseblatt, Stand: Juni 1997). 1186 D i e Verfassung der Republik Ungarn vom 23. Oktober 1989, zuletzt geändert am 31. Oktober 1997, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 12, Ungarn 1.1. (Loseblatt, Stand: Oktober 1998). 1187 Gesetz Nr. XXXIV/1989 vom 20. Oktober 1989 über die Wahl der Parlamentsabgeordneten, zuletzt geändert am 14. Oktober 1997, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 12, Ungarn 2.2.1. (Loseblatt, Stand: Juni 1998). nee vom 14. Oktober 1997, zuletzt geändert am 16. März 1998, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. 12, Ungarn 2.2. (Stand: Juni 1998).
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
dd) Bulgarien Die bulgarische Verfassung 1189 garantiert in ihrem Art. 10 die Allgemeinheit, Gleichheit, Unmittelbarkeit und Geheimheit für alle Wahlen sowie für nationale und lokale Referenden. Gem. Art. 42 Abs. 1 hat jeder Bürger, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, mit Ausnahme derjenigen, die unter Pflegschaft oder Vormundschaft stehen oder welche die Strafe der Freiheitsentziehung verbüßen, das Recht, staatliche und örtliche Organe zu wählen sowie an Volksbefragungen teilzunehmen. Das bulgarische Wahlgesetz1190 wiederholt beide Vorschriften in Art. 2 Abs. 1 und 2. Gem. Art. 11 Abs. 1 Satz 1 werden bulgarische Staatsbürger, die vorübergehend oder ständig im Ausland wohnen, auf Antrag in das bei den diplomatischen Vertretungen der Republik Bulgarien errichtete Wählerverzeichnis eingetragen. Sofern sie sich am Wahltag im Inland aufhalten, besteht auch die Möglichkeit, sich in das Wählerverzeichnis des Aufenthaltsortes eintragen zu lassen (Art. 11 Abs. 2 Satz 1). Ob darüber hinaus die Stimmabgabe in den bulgarischen Auslandsvertretungen möglich ist, geht aus dem Gesetz nicht mit Sicherheit hervor. Jedenfalls verfügen Auslandsbulgaren aber über das Aufenthalterstimmrecht. h) Zusammenfassung Die Verfassungsrechtsvergleichung liefert ein Ergebnis, das in seiner Eindeutigkeit überraschen mag: Nur ein einziger der hier untersuchten 18 Staaten schließt seine im Ausland lebenden Staatsbürger vollständig vom Wahlrecht aus. Von besonderem Gewicht erscheint dabei die Beobachtung, daß einige Staaten, deren Verfassungsurkunden ursprünglich eine Wohnsitzklausel enthielten, diese mittlerweile gestrichen haben (Belgien, Niederlande, Norwegen). Der Wohnsitz als Voraussetzung für das Wahlrecht ist in diesen Staaten verfassungskräftig getilgt. Andere Staaten wie Österreich, die Schweiz oder Spanien haben Sonderbestimmungen in ihre Verfassung aufgenommen, um ihren Auslandsstaatsbürgern die Teilnahme an den Parlamentswahlen ermöglichen zu können. Die jungen Demokratien in Osteuropa haben zumeist erst gar keine Wohnsitzklausel in ihre neu geschaffenen Verfassungen aufgenommen. Und selbst diejenigen Staaten, in denen das Wahlrecht von Verfassungs wegen noch vom Inlandswohnsitz abhängig ist (Dänemark, anders jedoch Ungarn), erreichen eine Beteiligung ihrer Auslandsstaatsbürger an den Wahlen im Wege der Wohnsitzfiktion. Der Umfang, in dem Auslandsstaatsbürgern das Aktivwahlrecht zugestanden wird, variiert ζ. T. beträchtlich. Am restriktivsten ist die Regelung Irlands (Aufenthalterstimmrecht nur für Rückkehrwillige innerhalb 18 Monaten). Das Vereinigte
1189 Verfassung der Republik Bulgarien vom 12. Juli 1991, abgedruckt bei: Brunner (Hrsg.), VSO Bd. II, Bulgarien 1.1. (Loseblatt, Stand: August 1995). 1190 Election of Members of the National Assembly, Municipal Councillors and Mayors Ac promulgated State Gazette No. 69/22.08.1991, amended State Gazette 70, 76 & 98/1991; 66/1995. (Übersetzung angefertigt im Auftrag des bulgarischen Parlaments).
Ergebnis des Zweiten Teils
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Königreich kennt eine der deutschen Fristenlösung vergleichbare Regelung (Befristung des Wahlrechts auf 20 Jahre). Das norwegische Wahlgesetz sieht zwar ebenfalls eine Fristenregelung vor, anders als in Deutschland wird die Loslösung vom Heimatstaat bei Fristablauf aber nur widerleglich vermutet. Schweden verlangt lediglich die einmalige Seßhaftigkeit im Inland, wie dies bei der deutschen Europaratslösung der Fall ist. Dagegen machen elf der hier untersuchten Staaten das aktive Wahlrecht von keiner Wohnsitzbedingung abhängig, sondern stellen ausschließlich auf die Staatsangehörigkeit ab. Im gesamteuropäischen Vergleich zählt die bundesdeutsche Regelung daher eher zu den restriktiveren. Hinsichtlich der Art der Wahlbeteiligung lassen sich regionale Schwerpunkte ausmachen: Die skandinavischen Staaten sehen für die Auslandswahl durchweg die Stimmabgabe in den Gesandtschaftsgebäuden vor. In den westeuropäischen Staaten einschließlich des Vereinigten Königreichs ist die Stellvertreterwahl vorherrschend. Mittel- und südeuropäische Staaten bevorzugen dagegen die Briefwahl, während in den jungen Demokratien Osteuropas noch das Aufenthalterstimmrecht vorherrscht. Insgesamt ergibt die Rechtsvergleichung damit das Bild, daß mit Ausnahme Ungarns das aktive Wahlrecht in keinem der untersuchten Staaten mehr durchgängig vom Inlandswohnsitz abhängig gemacht wird. 1191 Zwar kann, wie bereits oben1192 betont, von einem auf einfachgesetzlicher Grundlage eingeführten Wahlrecht für Auslandsstaatsbürger nicht ohne weiteres auf ein dahinter stehendes Verfassungsgebot geschlossen werden. Bezieht man allerdings diejenigen Staaten, die entweder frühere Wohnsitzklauseln aus ihrer Verfassung getilgt oder aber eine Sonderbestimmung für Auslandsstaatsbürger eingefügt haben, in die Betrachtung mit ein und berücksichtigt ferner die allseitige Verbreitung des Auslandswahlrechts, erscheint es dennoch gerechtfertigt, von einem gesamteuropäischen Verfassungskonsens zu sprechen. Damit wird das zuvor im Wege eigenständiger Auslegung gefundene Ergebnis in eindrucksvoller Weise bestätigt.
Ergebnis des Zweiten Teils Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts ist die Frage nach der Anwendbarkeit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auf grenzüberschreitende Sachverhalte. In Übereinstimmung mit der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Antwort auf diese Frage aus der betroffenen Verfassungsnorm selbst heraus durch Auslegung zu gewinnen. Hierfür ist zunächst erforderlich, die in Rechtsprechung und Literatur anzutreffenden verschiedenen Definitionen des Allgemeinheitsgrundsatzes der Wahl einer Be1191
Dies verkennt Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 11, wenn er behauptet, in den „meisten anderen Demokratien Westeuropas" sei das aktive Wahlrecht an die Seßhaftigkeit im Inland geknüpft. 1,92 2. Teil 4. Kap. IV. 4. a.
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
wertung zuzuführen. Der Vorzug gebührt dabei im Grundsatz der hier als „dritte Formel" bezeichneten Definition des Bundesverfassungsgerichts, da diese durch ihre positive Formulierung den Aspekt der Verfahrensgarantie am angemessensten zum Ausdruck bringt. Allerdings ergibt sich in systematischer Auslegung unter Rückgriff auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, daß der Begriff des „Staatsbürgers" ersetzt werden muß durch „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes". Die Allgemeinheit der Wahl ist daher zu definieren als die Verbürgung von aktivem und passivem Wahlrecht grundsätzlich jedes Deutschen im Sinne des Grundgesetzes. Damit ist zugleich die Grundsatzentscheidung zugunsten einer Anwendung des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auf die Auslandsdeutschen gefallen. Indem das Bundesverfassungsgericht das (Bundes-) Staatsvolk allein über das personale Kriterium der Deutscheneigenschaft definiert und nur bei den (Landes-) Staatsvölkern i. S. d. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG eine territoriale Einschränkung vornimmt, kann die frühere Aussage des Ersten Senats nicht länger aufrechterhalten werden, der Bundestag sei das Repräsentationsorgan (lediglich) der im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Deutschen. Freilich ist der Allgemeinheitsgrundsatz der Wahl, wiewohl normtextlich vorbehaltlos gewährleistet, auch nach hiesiger Konzeption Einschränkungen zugänglich. Diese lassen sich jedoch weder aus Art. 38 Abs. 3 GG, der einen reinen Regelungsvorbehalt darstellt, noch aus einer angeblichen übergeordneten Funktion des Art. 3 Abs. 1 GG oder gar aus dem Staatsvolkbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG herleiten, sondern allein aus verfassungsimmanenten Schranken. Hierzu sind die Ziele der Wahl zu rechnen, wie im übrigen auch das Bundesverfassungsgericht zutreffend annimmt. Des weiteren erweist sich der vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts vorgenommene Einbau einer Verhältnismäßigkeitsprüfung als dogmatisch zulässig, da die im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz hiergegen vorgebrachten Argumente auf den speziellen Gleichheitssatz der Allgemeinheit der Wahl nicht zutreffen. Der Gedanke praktischer Konkordanz schließlich läßt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung als geradezu geboten erscheinen. Bewertet man vor dem so konzipierten dogmatischen Grundgerüst die Zulässigkeit eines Ausschlusses aller Auslandsdeutschen von der Teilnahme an den Wahlen zum Deutschen Bundestag neu, muß jedenfalls eine rein am Historischen orientierte Argumentationsweise, wie sie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts anbietet, als unzureichend bezeichnet werden. Die Ausführungen des Zweiten Senats geben zudem Anlaß zu Kritik hinsichtlich der historischen Vollständigkeit der Darstellung. Die internationalen Menschenrechtsstandards von EMRK und IPBPR, die unter dem Gesichtspunkt der Völker- bzw. menschenrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes in die Betrachtung einzubeziehen sind, lassen eine Wahlbeteiligung der Auslandsdeutschen zwar nicht als geboten erscheinen, allerdings kommt dieser Tatsache aufgrund des generell niedrigeren Schutzniveaus internationaler Menschenrechtsverträge eine nur geringe Aussagekraft zu.
Ergebnis des Zweiten Teils
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Das Kriterium der allgemeinen Erfüllbarkeit muß als zulässig, aber nicht hinreichend bezeichnet werden. Auch allgemein erfüllbare Wahlrechtsvoraussetzungen sind nicht von einer Rechtfertigung durch „zwingende Gründe", also durch verfassungsimmanente Schranken, ausgenommen. Als maßgebliche Wahlziele, die eine Einschränkung des Zugangs zur Wahl rechtfertigen könnten, kommen im Hinblick auf Auslandsdeutsche die Legitimations- sowie Kommunikationsfunktion der Wahl in Betracht. Unter legitimatorischen Aspekten muß eine Differenzierung nach der Betroffenheit von deutschen Hoheitsakten oder nach der Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten allerdings als dem demokratischen Egalitätsprinzip konträr verworfen werden. Ebensowenig läßt sich der Wahlrechtsausschluß Auslandsdeutscher mit der Gefahr von Interessen- oder Loyalitätskonflikten rechtfertigen, da eine allgemeine Treuepflicht zur Verfassung nicht existiert und Interessenkonflikte vom Grundgesetz hingenommen werden. Im Rahmen der Kommunikationsfunktion der Wahl erweist sich ein gewisses Mindestmaß an informierter Mitwirkung an der gesellschaftlichen Willensbildung als unverzichtbar. Freilich besteht die Möglichkeit hierzu angesichts der Entwicklung der modernen Massenmedien grundsätzlich auch im Ausland. Wenngleich dem Gesetzgeber auch im Wahlrecht ein gewisser, durch das demokratische Egalitätsprinzip allerdings eng begrenzter Bewertungsspielraum zuzugestehen ist, läßt sich der vollständige Ausschluß der Auslandsdeutschen von der Wahl mit der Kommunikationsfunktion nicht länger rechtfertigen. Die Wahltechnik schließlich hat grundsätzlich dem Gebot effektiver Verfahrensgestaltung zu entsprechen. Jedenfalls nach Einführung der Briefwahl bildet sie kein taugliches Versagungsmoment mehr. Auch aus dem Völkerrecht läßt sich kein generelles Verbot der Auslands wahl herleiten. Allerdings ist die Stimmabgabe als Akt des Staatsorgans „Volk" und daher als hoheitliches Handeln zu qualifizieren. Konsequenz hieraus ist, daß von den vier möglichen Grundformen der Auslandswahl allein das Aufenthalterstimmrecht völkerrechtlich keinen Bedenken begegnet, da die Stimmabgabe hier vollständig in das Inland verlagert ist. Bei allen anderen Formen - Briefwahl, Wahl durch Stellvertreter, Stimmabgabe in den Gesandtschaftsgebäuden - erfolgt zumindest ein Teilakt auf fremdem Territorium, wodurch die Souveränitätsrechte des Aufenthaltsstaats tangiert sind. Eine Rechtfertigung aus der fortexistierenden Personalhoheit ist abzulehnen, ebenso ein Duldungsanspruch aus völkerrechtlichen Verträgen. Das entscheidende Kriterium bildet vielmehr der Grundsatz der Gegenseitigkeit (Reziprozität). Daneben bleibt die Möglichkeit einer Rechtfertigung über die ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung. Dem Argument der Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland kommt zusätzlich hierzu keine eigenständige Bedeutung zu. Eine völkerrechtskonforme Beteiligung der Auslandsdeutschen an den Wahlen zum Deutschen Bundestag ist folglich möglich. Das so gewonnene Ergebnis wird durch rechtsvergleichende Beobachtungen unterstrichen. Von den hier untersuchten Verfassungs- und Wahlrechtsordnungen 18
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2. Teil: Die Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts
europäischer Staaten war nur in einem einzigen Staat ein vollständiger Wahlrechtsausschluß der Auslandsstaatsbürger feststellbar. Indem einige Staaten den Wohnsitz als Voraussetzung für das Aktivwahlrecht verfassungskräftig getilgt bzw. Sonderbestimmungen zugunsten der Auslandsstaatsbürger aufgenommen haben, erscheint es vielmehr gerechtfertigt, diesbezüglich von einem gesamteuropäischen Verfassungskonsens zu sprechen. Die zu Beginn des Zweiten Teils aufgeworfene Frage, ob eine nachträgliche Streichung der Wahlrechtsbestimmungen zugunsten der Auslandsdeutschen verfassungsrechtlich zulässig wäre, ist daher im Grundsatz zu verneinen. Allerdings ist damit noch nichts gesagt über das Ausmaß, in dem Auslandsdeutsche von Verfassungs wegen an den Wahlen zum Deutschen Bundestag zu beteiligen sind. Diese Frage wird Gegenstand des abschließenden Dritten Teils sein.
Dritter Teil
Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher an den Wahlen zum Deutschen Bundestag Die im vorangegangenen Zweiten Teil entwickelten Grundlagen ermöglichen im abschließenden Dritten Teil die Beantwortung einer Reihe von Einzelfragen, die sich im Zusammenhang mit der Teilnahme von Auslandsdeutschen an den Wahlen zum Deutschen Bundestag stellen. Die oben1193 geschilderte Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutschefindet dabei in der verfassungsrechtlichen Beurteilung der einfachgesetzlichen Ausgestaltung in § 12 Abs. 2 BWahlG ihre sinnvolle und notwendige Ergänzung (1. Kapitel). Beim passiven Wahlrecht ist zu überlegen, ob die gegenwärtig nicht vorgesehene Inlandsbindung aus Sicht der Verfassung zulässig ist oder ob nicht möglicherweise eine Abhängigkeit des passiven vom aktiven Wahlrecht besteht mit der Folge, daß eine Übereinstimmung im Hinblick auf die Wohnsitzbindung zu fordern wäre (2. Kapitel). Schließlich wird im 3. Kapitel der Frage nachgegangen, ob Deutsche, die im Besitz einer oder mehrerer weiterer Staatsangehörigkeiten sind (sog. Mehrstaater), den deutschen Monostaatern gleichgestellt werden dürfen bzw. ob eine Differenzierung hinsichtlich der Wahlberechtigung verfassungsrechtlich zulässig oder etwa geboten wäre. 7. Kapitel
Verfassungsrechtliche Beurteilung der einfachgesetzlichen Regelung in § 12 Abs. 2 BWahlG I. Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) 1. Rechtsprechung Die wahlrechtliche Bevorzugung von Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz (§12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) wurde wiederholt vor den höchsten Bundesgerichten angegriffen. Bereits in seiner Grundsatzentscheidung vom 23. Oktober I9731194 h a t t e der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage Stel1193 1,94
1. Teil 4. Kap. V. 3. Vgl. oben 2. Teil 1. Kap. II.
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
lung zu nehmen, damals freilich noch unter der Prämisse, daß mit Ausnahme der Staatsdiener allen übrigen Auslandsdeutschen das aktive Wahlrecht versagt war (§12 Abs. 2 BWahlG a.F.). Gleichwohl sah der Zweite Senat hierin keine unzulässige Privilegierung. Zur Begründung wies er darauf hin, der Grundsatz, daß nur die im Wahlgebiet ansässigen Bürger ihre Stimme abgeben dürften, sei schon im Reichswahlgesetz nicht strikt durchgeführt worden. Es folgen Ausführungen zu § 11 Abs. 2 RWahlG 1924, der das aktive Wahlrecht auf Staatsdiener mit grenznahem dienstlichem Wohnsitz erstreckte.1195 Der Bundesgesetzgeber habe sich ebenso wie in der Weimarer Zeit von der Erwägung leiten lassen, daß sich dieser Personenkreis nicht freiwillig, sondern aufgrund dienstlicher Anordnung im Ausland aufhalte und während seiner vorübergehenden Abwesenheit von Berufs wegen aufs engste mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden bleibe. Der Wegfall der Beschränkung auf das grenznahe Ausland sei mit der Einführung der im Reichstags Wahlrecht noch nicht vorgesehenen Briefwahl zu erklären undfinde darin seine Rechtfertigung. Durch diese Erweiterung des Anwendungsbereichs der Sonderregelung sei lediglich dem sie tragenden Grundgedanken konsequenter als zuvor Rechnung getragen worden.1196 Weiterhin meinte das Bundesverfassungsgericht, der von § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. umschriebene Personenkreis unterscheide sich durch die in dem Dienstverhältnis verwurzelte, besonders geartete Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland so sehr von denjenigen, die aus anderen Gründen ihren Wohnsitz im Wahlgebiet aufgegeben hätten, daß der Bundesgesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehalten sei, die herkömmliche Sonderregelung für diesen Personenkreis auch auf Personen auszudehnen, die sich aus eigenem Entschluß wegen kommerzieller oder sonstiger Tätigkeit dauernd im Ausland aufhielten. 1197 Auch das Bundesverwaltungsgericht hatte sich in dem Urteil vom 2. Juli 1976 mit der Vorschrift des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. auseinanderzusetzen. Dabei ging das Gericht im Ausgangspunkt davon aus, die Verfassungsmäßigkeit des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. als solchen stehe nach der oben wiedergegebenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend fest. 1198 Für das Bundesverwaltungsgericht stellte sich daher allein die Frage, ob EG-Beamte der Personengruppe des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. gleichzustellen seien. Diese Frage verneinte es mit den folgenden Erwägungen: Bei den von § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. erfaßten deutschen Beamten bestehe die Gefahr, daß der Staat durch dienstliche Anordnung eines Auslandsaufenthalts oder ihren Widerruf das aktive Wahlrecht einzelner oder ganzer Gruppen von Beamten manipuliere, eine Möglichkeit, die er gegenüber Beamten der Europäischen Gemeinschaften nicht habe. Ferner stünden deutsche Beamte in einer besonders engen Pflichten- und Treuebindung zur Bundesrepublik 1195 1196 1197 1198
Dazu bereits oben 1. Teil 3. Kap. IV. 1. BVerfGE 36, 139 (142f.). BVerfGE 36,139 (143 f.). BVerwGE 51, 69 (77).
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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Deutschland (Art. 33 Abs. 4 GG), wie sie für deutsche Beamte der Europäischen Gemeinschaften nicht bestehe und auch nicht bestehen könne, da sich die Bediensteten ausschließlich von EG-Interessen leiten lassen müßten. In steuerrechtlicher Hinsicht schließlich sei der Kläger eher den im Inland nur beschränkt steuerpflichtigen Auslandsdeutschen als den deutschen Auslandsbeamten gleichzustellen. Zwar räumte das Bundesverwaltungsgericht ein, daß die Tätigkeit der deutschen Beamten bei den Europäischen Gemeinschaften auch im deutschen Interesse liege, was eine Gleichstellung in wahlrechtlicher Hinsicht de lege ferenda möglicherweise nahelegen möchte. Die dafür erforderlichen Abgrenzungen ergäben jedoch im Hinblick auf den streng formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit ganz erhebliche Schwierigkeiten, die es „verständlich" erscheinen ließen, daß die langjährigen Bemühungen um eine Erweiterung des Wahlrechts für deutsche Staatsangehörige im Ausland bisher noch keine Ergebnisse gezeitigt hätten.1199 Die gegen das Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.1200 Eine mögliche Bereitschaft zur Korrektur seiner ablehnenden Haltung ließ das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1981 erkennen. Zwar wiederholte der Zweite Senat zunächst seine im Jahr 1973 gemachten Ausführungen, 1201 fügte aber ausdrücklich hinzu, er lasse offen, ob die verschiedene Behandlung des in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG a. F. umschriebenen Personenkreises und der deutschen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften sich „angesichts der inzwischen eingetretenen Entwicklung im europäischen Bereich" auch weiterhin werde aufrechterhalten lassen. Der Beschwerdeführer sei im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften tätig, deren Rechtsordnung „in vielfältiger Weise mit der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland verschränkt" sei und in wachsendem Maße in sie hineinwirke. An der Ausgestaltung, Fortentwicklung und dem Vollzug der Gemeinschaftsrechtsordnung wirkten die Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften mit, die daher „in besonderer Sachnähe zur Bundesrepublik Deutschland" stünden.1202 Ferner verwies das Bundesverfassungsgericht auf die mittlerweile erfolgte Einführung des § 6 EuWG, der allen in den europäischen Gebieten der EG-Mitgliedstaaten ansässigen Deutschen das aktive Wahlrecht gewährte.1203 All dies lege es „aus verfassungsrechtlicher Sicht nahe, im Blick auf den Grundsatz der Gleichheit, jedenfalls die Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften sowie die Angehörigen ihres Hausstandes künftig dem in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG umschriebenen Personenkreis gleichzustellen."1204 1199
BVerwGE 51, 69 (78 f.). BVerfG EuGRZ 1976,438. Vgl. auch den Nichtannahmebeschluß vom 23. Oktober 1979 (abgedruckt in DokAnh. Β. 1.1.). 1201 BVerfGE 58, 202 (205 f.). 1202 Sämtliche Zitate BVerfGE 58,202 (207). 1203 Hierzu auch oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.d. 1204 BVerfGE 58,202 (208); vgl. dazu auch Kroppenstedt/Würzberger, VerwArch 73 (1982), 311 (313 ff.); Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 a (S. 304). 1200
15 Breuer
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
2. Literatur Im Schrifttum wurde die ehemals isolierte Privilegierung der Staatsdiener durch § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. überwiegend kritisch beurteilt.1205 So vertrat Martens die Auffassung, im Ausland tätige Angehörige des öffentlichen Dienstes verdienten in ihrem Status als Wähler keine Privilegierung. 1206 In die gleiche Richtung zielte die Kritik Hilfs: Auch für Staatsdiener im Ausland gelte, daß „ihr Wahlrecht ein aus der Staatsbürgerschaft - und nicht aus irgendeiner besonderen Ausgestaltung eines öffentlichen Dienstverhältnisses - abgeleitetes politisches Grundrecht" darstelle.1207 Ebenso meinte Hans Meyer, der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf die „in dem Dienstverhältnis verwurzelte, besonders geartete Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland" verwechsle dienstlich vermittelte Mitbestimmungsinteressen mit dem demokratischen Grundrecht der Gestaltung. Das „Volk" des Art. 20 Abs. 2 GG lasse sich nicht in privilegierte Amtsträger und nicht privilegierte Private unterteilen.1208 Henkel kritisierte, das Bundesverfassungsgericht habe es unterlassen darauf einzugehen, daß auch andere Gruppen unter den im Ausland lebenden Deutschen der Bundesrepublik ebenso verbunden und in deren Interessen tätig seien wie die Angehörigen des deutschen öffentlichen Dienstes.1209 v. Münch vermochte allenfalls in dem vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Argument, daß die vollziehende Gewalt sonst durch gezielte Versetzungspolitik die Wählerstruktur verändern könnte, einen ausreichenden Grund für die Privilegierung der im Ausland tätigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu erblicken.1210 Dagegen hielten Grabitz und Thomas Meyer die Grenze der Verfassungswidrigkeit im Falle des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. für überschritten, da es nicht einsichtig sei, weswegen ein bei einer Rundfunk- oder Fernsehanstalt festangestellter Auslandskorrespondent an den Wahlen solle teilnehmen können, sein Journalistenkollege, der für eine große Tageszeitung schreibe, hingegen nicht.1211 3. Stellungnahme a) Inhaltliche Aspekte Für eine Bewertung der vorgetragenen Argumente ist im Ausgangspunkt darauf hinzuweisen, daß nach hier vertretener Auffassung - im Gegensatz zur bisherigen Verfassungsrechtsprechung - die Beteiligung von Auslandsdeutschen an den Bun1205 Für die Verfassungsmäßigkeit des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 23. 1206 Martens, JR 1974, 189 (192). 1207 Hilf, EuGRZ 1977, 14 (15). 1208 Hans Meyer, in: HStR II, § 38 Rn. 3 mit Fn. 16. 1209 Henkel, EuR 1976, 350 (351). 1210 v. Münch, in: v. Münch (Hrsg.), GG, 2. Aufl., Art. 38 Rn. 12. 1211 Grabitz/Meyer, EuWG, § 6 Rn. 19.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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destagswahlen von Verfassungs wegen grundsätzlich geboten ist. Die Einbeziehung von Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz in den Kreis der aktiv Wahlberechtigten entspräche also an sich einem verfassungsrechtlich legitimen Ziel, würde sie nicht durch die isolierte Privilegierung einer einzelnen Berufsgruppe zugleich Probleme hinsichtlich der Allgemeinheit der Wahl aufwerfen. Denn daß die Bevorzugung wie die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen bezüglich des Zugangs zur Wahl dem Allgemeinheitsgrundsatz widerspricht, ergibt sich bereits aus der „ersten Formel" des Bundesverfassungsgerichts. 1212 Entgegen dem ersten Anschein verfolgt die Sondervorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG somit einen verfassungsrechtlich unzulässigen Zweck. Daran ändert die mittlerweile erfolgte Ausdehnung der Wahlberechtigung auf Auslandsdeutsche im Rahmen der Europarats- und Fristenlösung nichts. Denn die Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz sind diesen gegenüber nach wie vor bessergestellt, indem außerhalb der Europaratstaaten das Wahlrecht nicht wie bei anderen Deutschen nach 25 Jahren erlischt, sondern unbefristet bestehen bleibt. Die isolierte Bevorzugung der Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz wäre verfassungsrechtlich nur dann zulässig, wenn sie sich durch „zwingende Gründe" rechtfertigen ließe. Bundesverfassungs- wie Bundesverwaltungsgericht stellen hierfür auf die Unfreiwilligkeit des Auslandsaufenthalts ab. Dies überzeugt nicht: Wer beispielsweise in den Auswärtigen Dienst eintritt, nimmt dabei eine Versetzung ins Ausland ebenso freiwillig in Kauf wie ein Auslandskorrespondent oder Entwicklungshelfer. Überhaupt zeigt die in den letzten Jahren erfolgte Privatisierung ehemals staatlicher Funktionen, daß das Abstellen auf den öffentlich-rechtlichen Charakter des Dienstverhältnisses zu Zufallsergebnissen führt, für die sich inhaltliche Gründe nicht anführen lassen. Die Personengruppe etwa, für die die Ausnahmeregelung ursprünglich geschaffen wurde-die Bahnbediensteten1213 - kommen seit der Umwandlung der Deutschen Bundesbahn in die Deutsche Bahn AG nicht mehr in den Genuß der wahlrechtlichen Privilegierung. Zudem werden seit Einführung des Privatfernsehens die bei einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt beschäftigten Ausländskorrespondenten durch § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG gegenüber ihren bei Privatsendern angestellten Kollegen einseitig privilegiert. Für die vom Bundesverwaltungsgericht geltend gemachte Gefahr, der Staat könnte durch Versetzung von Beamten ins Ausland gezielt Einfluß auf die Wählerstruktur nehmen, lassen sich reale Anhaltspunkte nicht ausmachen. Das Bundesverfassungsgericht stellt zusätzlich auf die „besonders geartete Beziehung" der Staatsdiener zur Bundesrepublik Deutschland ab. Was genau damit gemeint ist, bleibt im dunkeln. Das Bundesverwaltungsgericht wird deutlicher, wenn es die aus Art. 33 Abs. 4 GGfließende Pflichten- und Treuebindung der Beamten nennt. Doch das Abstellen auf die Treuepflicht geht gleichermaßen fehl, ist 1212 1213
15*
Vgl. oben 2. Teil l.Kap. I I . l . Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. II. 3.
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
doch davon auszugehen, daß das Grundgesetz eine allgemeine Treuepflicht nicht kennt.1214 Schließlich erwähnt das Bundesverfassungsgericht die Weimarer Herkunft des früheren § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. Auch dieser Hinweis ist jedoch eher geeignet, die Bedenken gegen eine isolierte Privilegierung der Staatsdiener zu bestärken als auszuräumen, entstammt doch die Sonderregelung einer Zeit revolutionärer Unruhen (1918/19), in der sich der Gesetzgeber von dem Motiv leiten ließ, das Verlangen einzelner Gruppen wie der im badischen Bahnhof Basel stationierten Eisenbahner oder der Osttruppen nach Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung durch Gruppenlösungen zu befriedigen. 1215 Einmal geschaffen, wurde die Regelung in das ebenfalls nur unter Zeitdruck zustande gekommene Reichswahlgesetz übernommen,1216 und die Aufnahme in das Bundes Wahlgesetz von 1953 erfolgte ohne eingehende Diskussion im Parlament mit dem bloßen Hinweis auf die zu Weimarer Zeiten bereits vorhandene Regelung.1217 Den kritischen Stimmen im Schrifttum ist daher in der Auffassung zuzustimmen, daß Angehörige des öffentlichen Dienstes in ihrem Status als Wähler keine Bevorzugung verdienen. An diesem Ergebnis ändert nichts die Tatsache, daß die Europäische Kommission für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 3 (1. ZP) durch die Privilegierung von Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz stets verneint hat.1218 Denn die EMRK zeichnet sich durch ein im Vergleich zum Grundgesetz niedrigeres Schutzniveau aus,1219 was die Möglichkeit von Rückschlüssen ausschließt. b) Die „Appellentscheidung" vom 7. Oktober 1981 Die inhaltlichen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des heutigen § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlGfinden eine zusätzliche Bestätigung in der Art und Weise, wie die Entscheidung vom 7. Oktober 1981 gefaßt ist. Noch unter der alten Rechtslage führte das Bundesverfassungsgericht hier aus, der Gesetzgeber sei zwar „bisher noch nicht gehalten" gewesen, die Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG a. F. auszuweiten, fügte aber hinzu, die bisher eingetretene Entwicklung im europäischen Bereich lege es „aus verfassungsrechtlicher Sicht nahe", künftig Jedenfalls" die EGBediensteten sowie die Angehörigen ihres Hausstandes in die Regelung einzubeziehen.1220 Damit machte es von einer Entscheidungsvariante Gebrauch, die dadurch gekennzeichnet ist, daß das Bundesverfassungsgericht eine Norm zwar als „noch verfassungsgemäß" beurteilt, seine Einschätzung jedoch mit dem Hinweis an den Ge1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 2. acc. Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. II. 3., 4. Vgl. oben 1. Teil 3. Kap. IV. 1. Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. IV. 1. Vgl. oben 2. Teil 3. Kap. II. 4. Vgl. oben 2. Teil 3. Kap. II. 2. a. E. BVerfGE 58, 202 (206, 208).
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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setzgeber verbindet, einem „Umschlag" in die Verfassungswidrigkeit durch Gesetzesänderung zuvorzukommen (sog. Appellentscheidung).1221 Die Zulässigkeit solcher Appellentscheidungen ist in der Literatur äußerst umstritten. Rupp-v. Brünneck, selbst ehemals Mitglied des Bundesverfassungsgerichts, bezeichnet sie als ein „Gebot der Prozeßökonomie", da sich durch den Hinweis an die Adresse des Gesetzgebers neue Verfassungsstreitigkeiten vermeiden ließen.1222 Kritische Stimmen wenden dagegen ein, den Appellentscheidungen fehle es an der Rechtsgrundlage, da diese Entscheidungsvariante im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht vorgesehen sei.1223 Hinnehmen läßt sie sich wohl nur, wenn man sie als einen Sonderfall der Vereinbarerklärung betrachtet.1224 Daneben wird dem Bundesverfassungsgericht von einigen Autoren die „Usurpation quasi legislatorischer Befugnisse" vorgeworfen. 1225 Wichtiger als die rechtliche Zulässigkeit von Appellentscheidungen sind jedoch für den vorliegenden Zusammenhang die Umstände, unter denen das Bundesverfassungsgericht auf diese Entscheidungsvariante zurückgreift. Im wesentlichen drei Fallkonstellationen sind es, in denen das Bundesverfassungsgericht von dem Instrument der „Appellentscheidung" Gebrauch macht: bei einem Wandel der tatsächlichen Verhältnisse bzw. der Verfassungsinterpretation, bei Nichterfüllung eines Gesetzgebungsauftrags sowie bei fehlender Evidenz des Verfassungsverstoßes. 1226 Zur Verdeutlichung mag die Entscheidung über die Wahlkreiseinteilung vom 22. Mai 19631227 näher beleuchtet werden, die sich der ersten und zugleich dritten Fallgruppe zuordnen läßt. Das Bundesverfassungsgericht entschied hier, die Verfassungswidrigkeit der seit 1949 unverändert gebliebenen Wahlkreiseinteilung sei bei Abhaltung der Wahlen „noch nicht eindeutig erkennbar gewesen", sprach aber zugleich die Verpflichtung des Gesetzgebers aus, bis zum Ende der Legislaturperiode die Wahlkreiseinteilung der Bevölkerungsentwicklung anzupassen.1228 Der Hinweis auf die fehlende Evidenz des Verfassungsverstoßes dürfte jedoch nicht mehr als ein Kunstgriff gewesen sein, um dem eigentlichen Dilemma, in dem sich das Bundesverfassungsgericht bei dieser Entscheidung befand, zu entgehen: Hätte es das Bundeswahlgesetz für nichtig erklärt, hätte dies zwangsläufig zur Ungültigkeit der Wahlen geführt. Damit aber hätte ein Parlament gefehlt, das ein neues, verfassungsgemäßes Wahlgesetz hätte erlassen können.1229 1221
Allgemein dazu vgl. etwa Benda! Klein, Lehrbuch, Rn. 1193 ff.; Gusy, Gesetzgeber, S. 205 ff.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 15 ff.; H e un, Schranken, S. 24 ff.; Jörn Ipsen, Rechtsfolgen, S. 132ff.; Rau, Grenzen, S. 215ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 396ff.; Stern, in: Stem, Staatsrecht III/l, § 73 \V4cßaa (S. 1314); Schulte, DVB1. 1988, 1200ff. 1222 Rupp-v. Brünneck, in: FS Müller, S. 355 (367). 1223 Eckart Klein, AöR 108 (1983), 410 (434); Stern, in: Stem, Staatsrecht III/l, § 73 lV4cßaa (S. 1314). 1224 Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 396. 1225 Schulte, DVB1. 1988, 1200 (1204) m. w. N. 1226 Nach Schulte, DVB1. 1988, 1200 (1201); vgl. auch/ärn Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133 ff. 1227 BVerfGE 16,130ff. 1228 BVerfGE 16, 130 (141 ff.). 1229 Rupp-v. Brünneck, in: FS Müller, S. 355 (372).
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
Die Entscheidung zeigt, daß und warum gerade im Wahlrecht eine erhöhte Neigung des Bundesverfassungsgerichts zu einem Rückgriff auf das Mittel der Appellentscheidung besteht. Nirgends mehr als hier dürfte die Vermutung von Benda und Eckart Klein zutreffen, daß das Bundesverfassungsgericht der Sache nach häufig schon im Zeitpunkt der Appellentscheidung von der Verfassungswidrigkeit der geprüften Norm überzeugt ist, jedoch die Rechtsfolgen der Nichtigkeitsfeststellung scheut.1230 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung vom 7. Oktober 1981 auf das Instrument der Appellentscheidung verfiel: Hätte es die Verpflichtung zu einer Einbeziehung von EG-Beamten oder gar einer allgemeinen Ausweitung des aktiven Wahlrechts auf Auslandsdeutsche ausgesprochen, hätte dies möglicherweise zur Ungültigkeit der letzten Bundestagswahl mit allen beschriebenen nachteiligen Folgen geführt. Es lag daher nahe, den Gesetzgeber nur im Wege eines Hinweises zu einer Änderung des Wahlrechts zu bewegen. Daß die Auswirkungen derartiger Appelle vom Bundesverfassungsgericht sehr wohl erwogen werden, bestätigt die ehemalige Verfassungsrichterin Rupp-v. Brünneck.1231 Auch im Falle des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. hat der Appell seine Wirkung nicht verfehlt, gab er doch den entscheidenden Anstoß zur Abkehr der SPD von ihrer ablehnenden Haltung und der letztendlichen Verwirklichung des Auslandsdeutschen Wahlrechts.1232 Nach alledem kann nicht mehr zweifelhaft sein, daß die wahlrechtliche Privilegierung von Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist und die Grenze der Verfassungswidrigkeit überschreitet. II. Europaratslösung (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG) Gem. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG wahlberechtigt, die am Wahltag in den Gebieten der übrigen Mitgliedstaaten des Europarats leben, sofern sie nach dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben. Die Europaratslösung zerfällt damit in zwei Elemente, die jeweils getrennt auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen sind: die sog. Voranknüpfung 1233, d. h. das Erfordernis einmaliger, mindestens dreimonatiger Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 23. Mai 1949 (1.), sowie die Seßhaftigkeit in einem Mitgliedstaat des Europarats (2.).
1230 1231 1232 1233
Benda/Klein, Lehrbuch, Rn. 1195. Rupp-v. Brünneck, in: FS Müller, S. 355 (365). Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.e. Nach Blumenwitz, Wahlrecht, S. 95 und öfter.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
231
1. Voranknüpfung Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Kammerbeschluß dem Erfordernis mindestens dreimonatiger vorheriger Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit bescheinigt. Der Gesetzgeber habe sich dabei von der Erwägung leiten lassen, daß als wahlberechtigte ,Aktivbürger" nur Deutsche qualifiziert werden könnten, bei denen objektive Merkmale vorlägen, die es gewährleistet erscheinen ließen, daß sie am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozeß informiert mitwirkten. Diese Wertung und die typisierende Regelung, daß für die Annahme dieser Voraussetzungen jedenfalls ein mindestens dreimonatiger ununterbrochener Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeswahlgesetzes unerläßlich sei, seien „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden".1234 Blumenwitz hat kritisch darauf hingewiesen, daß das Wahlrecht bei der Europaratslösung - im Unterschied zur Fristenlösung - ohne zeitliche Befristung fortbestehe und die unter Umständen schon Jahrzehnte zurückliegenden Eindrücke aus der Bundesrepublik Deutschland für die Frage der „informierten Mitwirkung" am jeweils aktuellen politischen Willens- und Meinungsbildungsprozeß keine ausschlaggebende Rolle spielen könnten. Auch er räumt aber ein, daß die vorgesehene Voranknüpfung nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden könne, da die vor dem Wegzug gewonnenen Eindrücke jedenfalls eine Zeitlang fortwirkten und daher zumindest für diesen gewissen Zeitraum zu einer größeren Vertrautheit mit den politischen Vorgängen beitrügen.1235 De lege ferenda plädiert er allerdings für eine Europaratslösung ohne vorherige Anknüpfung an die Seßhaftigkeit im Wahlgebiet.1236 De lege lata bleibt festzustellen, daß die Voranknüpfung des aktiven Wahlrechts an die Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden ist. Sie ist geeignet, die für die Wahlteilnahme unerläßliche Vertrautheit mit den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland zu fördern. Insbesondere wahrt sie aber auch die Grenzen der Erforderlichkeit. Denn ungeachtet der gegenwärtig bestehenden Möglichkeiten grenzüberschreitender Informationsbeschaffung 1237 ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehindert, im Rahmen des ihm zukommenden Bewertungsspielraums1238 davon auszugehen, daß ein gewisses Mindestmaß an unmittelbaren persönlichen Eindrücken und Erfahrungen aus der Bundesrepublik Deutschland für eine Teilnahme an der Wahl unverzichtbar ist.1239 Wer im Ausland geboren ist und nie in der Bundesrepublik gelebt hat, verfügt doch eher über ein theoretisch-abstraktes Wissen hinsichtlich der innerdeutschen Verhältnisse. In seiner Wahrnehmung 1234 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NJW 1991, 689 (690); vgl. hierzu auch Brenner, AöR 116 (1991), 537 (575ff.). Zur Gesetzesbegründung vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V.3.e. 1235 Blumenwitz, Wahlrecht, S. 89. 1236 Blumenwitz, Wahlrecht, S. 105 ff. 1237 Dazu oben 2. Teil 4. Kap. IV.2.baa. 1238 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV.2.baa(l). 1239 Ygi dj e Einschätzung des Gesetzgebers oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.e.
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
wird er von den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen seines Wohnsitzstaates dominiert. Im Ausland Geborene sind daher auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen demokratischer Egalität den Deutschen mit Inlandserfahrung nicht gleichzustellen. Zwar haben die rechtsvergleichenden Ausführungen ergeben, daß eine Vielzahl der untersuchten Staaten derzeit auf eine Voranknüpfung des Wahlrechts verzichtet. Der Verfassungsrechtsvergleichung kommt jedoch, wie betont,1240 hier nur eine bestätigende Funktion zu. Im übrigen erscheint zweifelhaft, ob in diesem Punkt von einem gesamteuropäischen Verfassungskonsens gesprochen werden könnte. Der einschränkende Zusatz „nach dem 23. Mai 1949" (Tag der Verkündung des Grundgesetzes) erweist sich ebenfalls als unentbehrlich. Ansonsten bestünde die Gefahr, daß auch solche Deutsche an der Wahl teilnehmen, die nie unter dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland gelebt haben. Dies liefe der Intention der Voranknüpfung - Garantie des unverzichtbaren Mindestmaßes an Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland - geradewegs zuwider. 2. Seßhaftigkeit in einem Mitgliedstaat des Europarats Dem zweiten Element der Europaratslösung lag bei Einführung der Auslandswahl im Jahr 1985 die Einschätzung zugrunde, daß Deutsche, die in einem Mitgliedstaat des Europarats leben, aufgrund der im Lebensraum der Europaratstaaten weitgehenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Übereinstimmungen, Interessenverflechtungen sowie Zielsetzungen ihrem Heimatstaat näher stünden als die in sonstigen Staaten lebenden Deutschen. Zudem wurde geltend gemacht, die geographische Nähe zur Bundesrepublik Deutschland begünstige einen ständigen aktuellen Informationsfluß von der Heimat nach draußen und erleichtere so das Vertrautsein mit den Verhältnissen im Heimatstaat und eine Anteilnahme am dortigen politischen Geschehen.1241 Nun zählte der Europarat im Jahr 1985 lediglich 20 Mitgliedstaaten, die im wesentlichen mit den (1985 zehn, ab 1986 zwölf) Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften identisch waren. Wie oben1242 dargelegt, bot die Anknüpfung an den Europarat den Vorteil, daß in Österreich und in der Schweiz lebende Deutsche bei der unbefristeten Ausweitung des Wahlrechts mit berücksichtigt werden konnten. Mittlerweile gehören dem Europarat allerdings insgesamt 41 Mitgliedstaaten an.1243 Geographisch erstreckt er sich über ein Gebiet von den Säulen des Herakles im Westen bis Wladiwostok im Osten. Es ist offensichtlich, daß die ursprüngliche Motivation des Gesetzgebers - weitgehende Homogenität der Lebensverhältnisse sowie durch 1240 1241 1242 1243
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 4. a. Vgl. Schreiber, NJW 1985, 1433 (1435); siehe bereits oben 1. Teil 4. Kap. V.3.f. 1. Teil 4. Kap. V.3.f. EuGRZ 1999,242.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
233
geographische Nähe erleichterter Informationsfluß - den heutigen Gegebenheiten nicht mehr entspricht.1244 a) Literatur
Dieses Problem wird auch von Schreiber zutreffend erkannt. Dennoch meint er, auf die derzeit gültige Regelung nicht verzichten zu können. Eine zeitlich unbefristete Ausweitung des Wahlrechts ohne geographische Einschränkungen hält er zwar unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit (nach hier vertretener Auffassung: der Allgemeinheit der Wahl) für „am überzeugendsten". Er meint jedoch, gegen eine solche Regelung - von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Jahr 1998 vorgeschlagen1245 - bestünden erhebliche „verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Bedenken" im Hinblick auf den demokratischen Sinn der Wahl. Andere nach geographischen Merkmalen differenzierende Modelle (Anknüpfung an die unmittelbar angrenzenden Nachbarstaaten Deutschlands, an die Mitgliedstaaten der EU, an eine Kombination von EU-Staaten und Mitgliedstaaten des Europarats mit gemeinsamer Grenze zur Bundesrepublik Deutschland oder von Mitgliedstaaten der EU und der EFTA) hält er ebenfalls für nicht tragfähig. Er kommt daher zu dem Ergebnis, es spreche alles dafür, es bei der geltenden, globalisierenden und typisierenden Regelung im Sinne der Europaratslösung zu belassen und dafür „gewisse Ungereimtheiten in Kauf zu nehmen". Zwar sei der ursprüngliche gesetzgeberische Grundgedanke „nicht mehr in vollem Umfang »durchschlagend4", Schreiber meint jedoch, es verblieben „hinreichend politisch und verfassungsrechtlich tragfähige Gesichtspunkte".1246 Als solche nennt er insbesondere die in Art. 1 des Statuts des Europarates festgelegten Zielsetzungen. Es handle sich beim Europarat um eine „weitgehend homogene Wertegemeinschaft zur Förderung der europäischen Integr f/ö«". 1247 Schreiber kommt daher zu dem Ergebnis, die Privilegierung der in den Mitgliedstaaten des Europarates lebenden deutschen Staatsbürger sei „nicht willkürlich". 1248 b) Stellungnahme Gerade die letztgenannte Äußerung muß jedoch grundlegende Einwände hervorrufen: Haben doch wahlrechtliche Regelungen gerade nicht nur dem Willkürverbot, sondern den Erfordernissen „zwingender Gründe" zu genügen. Dies schließt es aus, „gewisse Ungereimtheiten in Kauf zu nehmen". Auch der Hinweis Schreibers auf die weitgehend homogene Wertegemeinschaft des Europarats vermag nicht recht zu 1244 So auch die Begründung zu dem Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vgl. BT-Drucks. 13/7864, S.3. 1245 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3. g. 1246 Sämtliche Zitate bei Schreiber, DVB1. 1999, 345 (348). 1247 Schreiber, DVB1. 1999, 345 (348 f.), Hervorhebung im Original. 1248 Schreiber, DVB1. 1999, 345 (349).
234
3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
überzeugen. Denn unter dem Aspekt demokratischer Werte erscheinen die Bindungen etwa an die Staaten Nordamerikas ungleich stärker als an die jungen östlichen Demokratien. Ein „zwingender Grund" für die Privilegierung der in Europaratstaaten lebenden Deutschen müßte sich vielmehr nach hier vertretener Auffassung aus der Verfassung selbst herleiten lassen. Allein Rechtswerte von Verfassungsrang wären in der Lage, das aus dem Allgemeinheitsgrundsatz fließende Gebot der Gleichbehandlung bezüglich des Zugangs zur Wahl zu durchbrechen.1249 Für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei insbesondere an das Rechtsgut der „europäischen Integration" zu denken. Sofern sich ein derartiges Rechtsgut in der Verfassung ermitteln ließe, wäre dies möglicherweise imstande, eine auch wahlrechtliche Besserstellung der Deutschen innerhalb des europäischen Raums zu rechtfertigen. aa) Zum Rechtsgut „europäische Integration" (1) Präambel Das Ziel europäischer Integration wird im Grundgesetz an zwei Stellen genannt. Die erste Erwähnungfindet sich in der Präambel, und zwar bereits in deren ursprünglicher Fassung von 1949. Von dem Willen des Deutschen Volkes ist dort die Rede, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen".1250 Die im Zuge der Wiedervereinigung erfolgte Neufassung der Präambel ließ diese Textpassage unverändert.1251 Daß die Präambel mehr ist als eine politische Absichtserklärung, daß ihr vielmehr auch Rechtswert zukommt (bzw. zukommen kann), ist nahezu unbestritten, seit das Bundesverfassungsgericht aus dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel a. F. eine für die Verfassungsorgane unmittelbar verbindliche Rechtspflicht hergeleitet hat.1252 Ebenso unbestritten ist jedoch, daß der Präambel nicht pauschal Rechtsverbindlichkeit bescheinigt werden kann. Vielmehr ist für jedes der genannten Ziele gesondert zu ermitteln, ob ihm (auch) rechtliche Relevanz zukommt oder nicht.1253 Das Ziel eines „vereinten Europa" zeichnet sich insofern durch eine große inhaltliche Unbestimmtheit aus. Insbesondere kann nicht angenommen werden, hiermit sei der Einigungsprozeß im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen 1249
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. III. 1. d. »"ο BGBl. 1949 S. 1; Hervorhebung vom Verfasser. 1251 ygi Art. 4 Nr. 1 Einigungsvertrag (oben Fn.692). 1252 BVerfGE 5,5,85 (126 ff.); 12,45 (51 f.); 36,1 (17ff.);94,12 (34 f.). Aus der Literatur vgl. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 8 f.; Peter M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 10; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Präambel Rn. 1; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 4. Aufl., Präambel Rn. 2; Starck, in: v. Mangoldt/Klein, GG, 4. Aufl., Präambel Rn. 30; Zuleeg, in: AK-GG, Präambel Rn. 13. Nachweise zum früheren Schrifttum bei Lehmann-Brauns, Bedeutung, S. 9 ff.; Schoepke, Bedeutung, S. 156ff.; Zais, Rechtsnatur, S. 31 ff. 1253 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 10; Peter M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 11; Starck, in: v. Mangoldt/Klein, GG, 4. Aufl., Präambel Rn. 31.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
235
Union gemeint. Bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland war die spätere Entwicklung auf europäischer Ebene noch keineswegs absehbar, so daß der Begriff des vereinten Europa in der Präambel in einem umfassenderen Sinn zu verstehen ist.1254 Dies bedeutet zugleich, daß der rechtliche Gehalt der Staatszielbestimmung1255 „vereintes Europa" in der Präambel gering ist: Allenfalls eindeutig europafeindliche Handlungsweisen könnten hiergegen verstoßen.1256 (2) Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Konkreter als in der Präambel wird das Ziel der europäischen Integration in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG benannt. Diese Vorschrift wurde im Zuge der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht an die Stelle des infolge der Wiedervereinigung weggefallenen Art. 23 GG a. F. gesetzt.1257 Der bewußt als Staatszielbestimmung ausgestaltete1258 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG konkretisiert 1259 bzw. präzisiert 1260 das in der Präambel genannte Ziel europäischer Integration, indem er eine Verbindung herstellt zwischen dem „vereinten Europa" und der Mitwirkung Deutschlands an der „Entwicklung der Europäischen Union". Durch die Forderung nach „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen" überträgt Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zudem die in Art. 20 Abs. 1 und 3 GG enthaltenen Strukturprinzipien auf die europäische Ebene (sog. „Struktursicherungsklausel"). Hinzu treten die Forderung nach Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität und einem dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz. Das Ziel europäischer Integration wird somit im Grundgesetz zweimal als Staatszielbestimmung erwähnt. Für die wahlrechtliche Privilegierung Deutscher auf dem Gebiet des Europarats scheidet dabei eine Berufung auf die Staatszielbestimmung in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG von vornherein aus, da diese ausdrücklich auf àie Europäische Union verengt ist. Möglich erschiene allenfalls, die Privilegierung auf den weiten Europabegriff in der Präambel zu stützen. Damit stellt sich jedoch die prinzipielle Frage, inwieweit Staatszielbestimmungen überhaupt geeignet sind, als verfassungsimmanente Schranken zu dienen.
1254
Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Präambel Rn.25; Peter M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 42; Starck, in: v. Mangoldt/Klein, GG, 4. Aufl., Präambel Rn. 41. 1255 So ausdrücklich Peter M. Huben in: Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 41. 1256 D r e i e r j in: Dreier (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 29; ihm folgend Peter M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 42; vgl. auch Lehmann-Brauns, Bedeutung, S. 67; Scheuing, EuR 1997, Beiheft 1, S. 7 (15); Sommermann, DÖV 1994, 596 (603); Zais, Rechtsnatur, S. 159ff. 1257
Zur Entstehung vgl. Scheuing, EuR 1997, Beiheft 1, S. 7 (18) m. w. N. Vgl. nur BT-Drucks. 12/3338, S.4,6. 1259 Pernice , in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 23 Rn. 17; Peter M. Huber, Integration, § 3 Rn. 6. 1260 So Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 23 Rn. 5; Scheuing, EuR 1997, Beiheft 1, S. 7 (19); Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 23 Rn. 10. 1258
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
bb) Staatszielbestimmungen als verfassungsimmanente Schranken? Unter Staatszielbestimmungen versteht man „Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben - sachlich umschriebener Ziele - vorschreiben. Sie umreißen ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind dadurch eine Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln, auch für die Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften." 1261 Von den eher statischen Grundrechten unterscheiden sich Staatszielbestimmungen insbesondere durch die ihnen innewohnende Dynamik.1262 Als Elemente der objektiven Wertordnung der Verfassung verkörpern sie Rechtswerte von Verfassungsrang. 1263 Folglich müßten sie, legt man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsimmanenten Schranken1264 zugrunde, an sich zu einer Beschränkung selbst vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte in der Lage sein.1265 Bedenken hiergegen erwachsen jedoch aus der Tatsache, daß das fein austarierte Schrankensystem des Grundgesetzes Gefahr läuft, durch einen uneingeschränkten Gebrauch von Staatszielbestimmungen als verfassungsimmanente Schranken aus den Angeln gehoben zu werden. Staatszielbestimmungen weisen höchst unterschiedliche Grade an Konkretheit auf: Diese reichen von der nahezu uferlosen Weite des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) bis hin zu so konkreten Vorgaben wie dem vorbeugenden Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche in Art. 9 Abs. 3 der Sächsischen Verfassung 1266. Legte man jeder, auch der weitesten Staatszielbestimmung grundrechtsbeschränkende Wirkung bei, liefe dies letztlich darauf hinaus, sämtliche Grundrechte einem Generalvorbehalt zu unterwerfen. Dies kann nicht richtig sein. Die Literatur gibt nur spärliche Anhaltspunkte in dieser Frage. Nach Sommermann soll der objektiv-rechtliche Gehalt eines Grundrechts, welcher nach seiner Auffassung selbst Staatszielcharakter trägt, einer Einschränkung durch Staatszielbestimmungen in vollem Umfang zugänglich sein.1267 Die Einschränkbarkeit subjektivrechtlicher Grundrechtsgehalte durch Staatsziele sieht er dagegen als „einer klaren dogmatischen Begründung nur schwer zugänglich" an.1268 Letztlich sei es Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, „die Substanz der Grundrechte als subjektiv-rechtliche Verbürgungen vor einer zu großzügigen Einbeziehung in die Sphäre abwägungsgebundener Konfliktschlichtung zu schützen."1269 Gegen diesen Ansatz spricht aller1261 Sommermann, Staatsziele, S. 350 f. m. w. N. 1262 ygi dazu Sommermann, Staatsziele, S. 374ff. 1263 Sommermann, Staatsziele, S. 396f. 1264 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. III. 1. d. 1265 So auch Sommermann, Staatsziele, S. 424. 1266 Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, GVB1. S. 243. 1267 Sommermann, Staatsziele, S.425f. 1268 Sommermann, Staatsziele, S. 423. 1269 Sommermann, Staatsziele, S. 425.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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dings, daß sich die dogmatisch klare Unterscheidung zwischen objektiv-rechtlichem und subjektiv-rechtlichem Grundrechtsgehalt in der verfassungsprozessualen Wirklichkeit nur schwer wird durchführen lassen. Sachs formuliert daher, die Eignung einer Staatszielbestimmung zur Grundrechtsbegrenzung hänge davon ab, „ob ein dahingehender, zusätzlicher Normgehalt bei der einzelnen Bestimmung hinreichend klar ihren Ausdruck gefunden hat."1270 Unklar bleibt aber, wie ein solcher „zusätzlicher Normgehalt" zu ermitteln sein soll. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird deshalb die Auffassung zugrunde gelegt, daß sich die Eignung einer Staatszielbestimmung als verfassungsimmanente Schranke nach deren Grad an Konkretheit bestimmt: Je konkreter das angestrebte Ziel, desto eher kommt die Staatszielbestimmung für eine unmittelbare Grundrechtsbeschränkung in Betracht.1271 Nur so wird sich vermeiden lassen, daß die Grundrechte über den Umweg der Staatszielbestimmungen einem Vorbehalt von generalklauselartiger Weite unterworfen werden. Für die hier interessierende Staatszielbestimmung „europäische Integration" aus der Präambel des Grundgesetzes bedeutet dies aber, daß sie als verfassungsimmanente Schranke ausscheidet. Der Begriff des „vereinten Europa" ist viel zu unbestimmt, um hieraus einen grundrechtsbeschränkenden, hinreichend konkreten Rechtswert von Verfassungsrang gewinnen zu können.1272 Allenfalls die Staatszielbestimmung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wäre insofern in Betracht zu ziehen, da der Europabegriff hier durch die Bezugnahme auf den institutionellen Rahmen der Europäischen Union verengt ist. Freilich läßt sich die wahlrechtliche Privilegierung von Deutschen auf dem Gebiet des Europarats hiermit ohnehin nicht legitimieren. Als Ergebnis bleibt demnach festzuhalten, daß die Privilegierung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG weder mit den ursprünglichen Motiven des Gesetzgebers noch mit dem Staatsziel der europäischen Integration verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist. Dabei sei auch hier betont, daß die Europaratslösung - ebenso wie die Privilegierung deutscher Staatsdiener mit dienstlichem Auslandswohnsitz - an sich ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel verfolgt. Der Verfassungsverstoß liegt jedoch in der gleichzeitigen Benachteiligung von Deutschen, die außerhalb der Europaratstaaten leben. Auch die Europaratslösung hält damit einer verfassungsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
127 0
Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 133. Von Sommermann, DÖV 1994,596 (603) stammt die zutreffende Beobachtung, daß „die Höhe des Abstraktionsgrades umgekehrt proportional zur Normativkraft einer Zielbestimmung ist". Wie gesehen, werden diese Grundsätze von ihm jedoch nicht für die Frage der immanenten Grundrechtsschranken fruchtbar gemacht. 1272 Damit ist nicht gesagt, daß die Präambel insoweit zur rechtlichen Bedeutungslosigkeit verdammt wäre. Als Ausdruck der Europaoffenheit des Grundgesetzes kommt ihr im Rahmen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung sehr wohl Bedeutung zu (oben 2. Teil 3. Kap. I.). 1271
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
I I I . Fristenlösung (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG) Gem. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG wahlberechtigt, die am Wahltag in anderen Gebieten als denen des Europarats leben, sofern sie vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben und seit dem Fortzug nicht mehr als 25 Jahre verstrichen sind (Satz 1). Entsprechendes gilt für Seeleute auf Schiffen, die nicht die Bundesflagge führen, sowie für die Angehörigen ihres Hausstandes (Satz 2). Wie die Europaratslösung, setzt sich damit auch die Fristenlösung aus zwei Komponenten zusammen: einer Voranknüpfung (1.) und der eigentlichen Fristenregelung (2.). Daneben steht die Sonderbestimmung für Seeleute in Satz 2 (3.). 1. Voranknüpfung Im Unterschied zur Europaratslösung fehlt bei der Voranknüpfung im Rahmen der Fristenlösung der einschränkende Zusatz „nach dem 23. Mai 1949". Dieses Fehlen ist jedoch aufgrund der Befristung des Wahlrechts unschädlich. Bei der Bundestagswahl von 1987 führte die damalige Zehn-Jahres-Frist in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 BWahlG a. F. dazu, daß nur solche Auslandsdeutschen in den Genuß des aktiven Wahlrechts kamen, die nicht eher als im Jahr 1977 ins Ausland verzogen waren. Die Abänderung zur 25-Jahres-Frist1273 hatte für die Bundestagswahl von 1998 zur Folge, daß der Wegzug nicht eher als im Jahr 1973 erfolgt sein durfte. Anders als bei der unbefristeten Europaratslösung besteht somit bei der Fristenlösung nicht die Gefahr, daß auch solche Deutsche an der Wahl teilnehmen, die nie unter dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland gelebt haben. Der einschränkende Zusatz „nach dem 23. Mai 1949" ist somit entbehrlich. Im übrigen gelten die Ausführungen zur Voranknüpfung im Rahmen der Europaratslösung entsprechend.1274 2. Fristenregelung Für die Beurteilung der eigentlichen Fristenregelung sind zwei Fragen auseinanderzuhalten: die grundsätzliche Zulässigkeit einer Befristung des Wahlrechts einerseits (a) und die konkrete Ausgestaltung der Fristenlösung andererseits (b).
1273 1274
Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.g. Vgl. oben 3. Teil 1. Kap. II. 1.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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a) Grundsätzliche Zulässigkeit der Befristung des Wahlrechts Was den ersten Punkt angeht, so wurde bereits oben1275 darauf hingewiesen, daß dem Gesetzgeber in der Frage der Möglichkeit kommunikativer Teilnahme ein gewisser, wenngleich eng begrenzter Bewertungsspielraum zuzugestehen ist. Nun ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung davon auszugehen, daß die Teilnahme am Kommunikationsprozeß in der Bundesrepublik Deutschland bei zunehmender Verweildauer im Ausland immer stärker abnimmt. Auch wenn Auslandsdeutsche rein technisch gesehen die Möglichkeit haben, sich über das Geschehen in der Bundesrepublik zu informieren, sind sie doch vorwiegend den Einflüssen ihrer unmittelbaren Umgebung ausgesetzt. Ihre Anschauungen und Erfahrungen werden dabei um so mehr von den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen ihres Wohnsitzstaats dominiert, je länger sie sich im Ausland aufhalten. Dabei wird die Integration in die neue Umwelt um so eher und um so vollständiger vollzogen sein, je weniger eine spätere Rückkehr in die Bundesrepublik beabsichtigt ist. Umgekehrt ist bei Rückkehrwilligen davon auszugehen, daß sie sich in geringerem Maße in ihre neue Umgebung integrieren werden. Als entscheidendes Abgrenzungskriterium für die Verleihung des Wahlrechts an Auslandsdeutsche erweist sich daher der Rückkehrwille (animus revertendi). Zu dessen Feststellung bildet die Fristenregelung ein geeignetes Mittel. Zwar spricht die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit bei Aufenthalt im Ausland zunächst einmal dafür, daß die Verbindungen zum Heimatstaat nicht gänzlich aufgegeben werden sollen. Je länger der Auslandsaufenthalt andauert, desto mehr ist aber die - typisierende - Vermutung gerechtfertigt, daß eine Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr beabsichtigt ist. Zudem ist davon auszugehen, daß die persönliche Wahrnehmung bei jahrzehntelangem Auslandsaufenthalt derart stark von den Eindrücken des Aufenthaltsstaats überlagert wird, daß von einer hinreichenden Vertrautheit mit den Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland kaum mehr gesprochen werden kann. Ob die Grenzen der Erforderlichkeit eingehalten sind, hängt von der näheren Ausgestaltung der Fristenregelung, insbesondere der Länge der Frist ab. b) Verfassungsmäßigkeit
der 25-Jahres-Frist
Über die Verfassungsmäßigkeit der 25-Jahres-Frist in dem neugefaßten § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 BWahlGfinden sich im Schrifttum divergierende Auffassungen. Schreiber kritisiert sie als „rechts- und verfassungspolitisch fragwürdig". Seiner Ansicht nach war die Ausdehnung der Fristenregelung „weniger sach- als wahlergebnisorientiert": ohne Sachorientierung, weil es bei der 25-Jahres-Regelung auch bei verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten an der für die Zuerkennung des Wahlrechts notwendigen Bindung an Deutschland („Gebietsbezug") mangele; wahlergeb1275
2.Teil 4. Kap. IV.2.baa(l) und (4).
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
nisorientiert, weil die Auslandsdeutschen erfahrungsgemäß zu einer konservativen Wahlentscheidung neigten. Allerdings geht Schreiber nicht so weit, § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 BWahlG für verfassungswidrig zu erklären. 1276 Im Gegensatz dazu bezweifelte Hans Meyer noch unter Geltung der Zehn-Jahres-Frist, ob diese angesichts der erhöhten Lebenserwartung und des eher früher eintretenden Ruhestandes für einen größeren Teil älterer Bürger ein realistisches Indiz für die Abkoppelung von der Bundesrepublik sei.1277 Was die von Schreiber geltend gemachten Bedenken angeht, so kann jedenfalls seinem Argument der Wahlergebnisorientiertheit nicht gefolgt werden. Dagegen spricht allein schon die Tatsache, daß der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine noch viel weitergehende Regelung vorsah als das spätere Gesetz.1278 Außerdem wurde die Gesetzesänderung nicht nur mit den Stimmen von CDU/CSU und F. D. P., sondern auch von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS gegen die Stimmen allein der SPD beschlossen.1279 Man kann daher nicht argumentieren, die Ausdehnung des Wahlrechts sei ausschließlich im Interesse der konservativen Regierungskoalition erfolgt, zumal die Ablehnung der SPD gegenüber dem Wahlrecht für Auslandsdeutsche auf einer gewissen Tradition beruht. Als entscheidend für die verfassungsrechtliche Beurteilung der 25-Jahres-Frist erweist sich damit die Frage, nach welcher Zeitspanne von einer Abkoppelung der Auslandsdeutschen von der Bundesrepublik auszugehen ist, anders gewendet: ab welchem Zeitpunkt die Vermutung für das Bestehen eines Rückkehrwillens in die Vermutung endgültiger Auswanderung „umschlägt". Die Beantwortung dieser Frage macht eine Prognose- und Wertentscheidung des Gesetzgebers erforderlich, für die sich konkrete Aussagen der Verfassung nicht entnehmen lassen. Anders als bei der Beurteilung von Tatsachenfeststellungen1280 ist dem Gesetzgeber deshalb ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzugestehen.1281 Die Verfassungsgerichtsbarkeit stößt hier an ihre kompetentiellen Grenzen. Immerhin läßt sich aber der oben1282 skizzierte Gedanke praktischer Konkordanz für eine nähere Umgrenzung des gesetzgeberischen Ermessensspielraums fruchtbar machen. Auf den konkreten Fall angewandt führt der Gedanke praktischer Konkordanz zu folgenden Ergebnissen: Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl streitet für eine Teilnahme grundsätzlich aller Deutscher im Sinne des Grundgesetzes an den Wahlen zum Deutschen Bundestag.1283 Bei längerfristigem Auslandsaufenthalt gerät dieser 1276
Sämtliche Zitate bei Schreiber, DVB1. 1999, 345 (349). Hans Meyer, in: HStR II, § 38 Rn. 3. 1278 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.g. 1279 StenBer. BT, 13. WP, 222. Sitzung vom 5. März 1998, S. 20328. 1280 Vgl. oben 2.Teil 4. Kap. IV.2.baa(l). 1281 Zu den Anforderungen an Prognoseentscheidungen im Wahlrecht vgl. auch jüngst VerfGH Münster OVGE 44, 301 (312, 314); DVB1. 1999,1271 (1273); dagegen HVerfG DÖV 1999,296 (298 f.). 1282 2. Teil 4. Kap. III.2.C. 1283 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. II. 3. 127 7
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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aber in ein Spannungsverhältnis zur Kommunikationsfunktion der Wahl, denn danach ist ein gewisses Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten in der Bundesrepublik Deutschland für die Wahlteilnahme unabdingbar. Die Kommunikationsfunktion der Wahl bildet ein Rechtsgut von Verfassungsrang - in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts: einen Grund, der „durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht [ist], das der Allgemeinheit der Wahl die Waage halten kann"1284. Nach dem Gedanken der praktischen Konkordanz ist der Grundsatz allgemeiner Wahlen in einen verhältnismäßigen Ausgleich mit der Kommunikationsfunktion der Wahl zu bringen. Konkrete Vorgaben, welchem der beiden Verfassungsgüter der Vorrang gebührt, sind der Verfassung dabei nicht zu entnehmen. Der Gesetzgeber kann somit dem einen oder anderen von ihnen größere Bedeutung beimessen, solange nur beide Positionen in ihrem Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) nicht verletzt werden. Folglich ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber bei der Ausdehnung der Fristenregelung auf 25 Jahre die Anforderungen an die kommunikative Teilnahme der Auslandsdeutschen zugunsten einer umfassenderen Verwirklichung der Allgemeinheit der Wahl abgeschwächt hat. Dieses Ergebnis steht in Einklang mit den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht der Beurteilung der Briefwahl zugrundegelegt hat: Zutreffend geht das Gericht davon aus, daß die Allgemeinheit der Wahl für die Einführung der Briefwahl streite, zugleich aber die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit und Geheimheit durch die Briefwahl einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt würden. „Wenn der Gesetzgeber", so das Bundesverfassungsgericht, „mit der Einführung der Briefwahl dem Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen, ein besonderes Gewicht beigemessen und damit zugleich die Wahrung der Freiheit der Wahl und des Wahlgeheimnisses in weiterem Umfange als bei der Stimmabgabe im Wahllokal dem Wähler anvertraut hat, so ist das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (...). Das Bundesverfassungsgericht könnte dieser Entscheidung des Gesetzgebers nur entgegentreten, wenn sie mit einer übermäßigen Einschränkung oder Gefährdung der Grundsätze der unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl verbunden wäre."1285 Ein Unterschied zur Fristenlösung besteht lediglich insofern, als bei der Briefwahl mehrere Wahlrechtsgrundsätze miteinander konfligieren („echte Kollision"), während bei der Fristenlösung der Konflikt zwischen einem Wahlrechtsgrundsatz (Allgemeinheit der Wahl) und einer Wahlfunktion (Kommunikation) be1284 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NVwZ 1997,1207; vgl. auch BVerfGE 95,408 (418) (zur Wahlrechtsgleichheit). Darstellung oben 2. Teil 1. Kap. IV. 2. a; Bewertung 2. Teil 4.Kap. III. I.e. 1285 BVerfGE 59, 119 (125); Hervorhebung vom Verfasser. Das Bundesverfassungsgericht gebraucht hier den Begriff der „praktischen Konkordanz" nicht ausdrücklich. Daß es in der Sache um nichts anderes ging, ergibt sich aus dem Sondervotum BVerfGE 95, 335 (403). Allgemein zur Briefwahl vgl. auch BVerfGE 12,139ff., damals allerdings noch mit der unzutreffenden Annahme, aus dem Grundsatz allgemeiner Wahlen ließen sich keine positiven Verfahrensgarantien ableiten (S. 142). Undeutlich ebenfalls noch BVerfGE 21, 200 (205 f.).
16 Breuer
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
steht („unechte Kollision"). Wie gezeigt, sind die Grundsätze der praktischen Konkordanz aber auch auf „unechte" Kollisionsfälle anwendbar,1286 so daß sich die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Briefwahlrecht auf die vorliegende Problematik übertragen lassen. Die von Schreiber angeführten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die 25-Jahres-Frist erweisen sich damit als unbegründet. Die Ausgestaltung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 BWahlG ist in vollem Umfang verfassungsgemäß. 3. Sonderbestimmung für Seeleute Seeleute und Angehörige ihres Hausstandes, die in keinem anderen Staat niedergelassen sind, sondern sich ständig auf einem Schiff aufhalten, leben nicht im „Gebiet" eines der in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 Satz 1 BWahlG bezeichneten Staaten.1287 Gem. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 BWahlGfindet die Fristenregelung auf sie entsprechende Anwendung, allerdings nur, wenn sie sich auf einem Schiff aufhalten, das eine fremde Flagge führt. Schiffe, die nach dem Flaggenrechtsgesetz1288 berechtigt sind, die Bundesflagge zu führen, gelten gem. § 12 Abs. 4 Nr. 1 BWahlG als Inlandswohnsitz. Es fragt sich, worin die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung zufinden sein soll. Das Bundesverwaltungsgericht hält die Vorschrift des § 12 Abs. 4 Nr. 1 BWahlG für verfassungsrechtlich unbedenklich. Zur Begründung verweist es auf Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens über die Hohe See vom 29. April 19581289 (im folgenden: SRÜ 1958). Dort wird für Schiffe, die die Flagge eines Staates zu führen berechtigt sind, eine „echte Verbindung" zwischen dem Staat und dem Schiff verlangt. Insbesondere muß der Staat über die seine Flagge führenden Schiffe „seine Hoheitsgewalt und seine Kontrolle in technischen, sozialen und Verwaltungsangelegenheiten tatsächlich ausüben". Wenn solche Schiffe, so das Bundesverwaltungsgericht, unter den genannten Voraussetzungen als innerdeutsche Wohnung der Seeleutefingiert würden, „die sie faktisch auf Grund der von der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten Hoheitsgewalt auch sind", dann bestünden dagegen unter verfassungsrechtlichen Aspekten keine Bedenken.1290 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Dies nicht allein deshalb, weil die Betroffenheit von deutscher Hoheitsgewalt nach hier vertretener Auffassung als Differenzierungskriterium für das Zugangsrecht zur Wahl von vornherein ausschei-
1286
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. III. 2. c a. E. Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 29. 1288 Gesetz über das Flaggenrecht der Seeschiffe und die Flaggenführung der Binnenschiffe vom 8. Februar 1951 i. d. F. der Neubekanntmachung vom 26. Oktober 1994, BGBl. I S. 3140, zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. Juni 1995, BGBl. IS. 778. 1289 BGBl. II 1972 S. 1091. 1290 BVerwGE 51, 69 (80). 1287
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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det.1291 Denn selbst wenn man sich auf dieses Kriterium einließe, könnte die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts nicht überzeugen. Schiffe, die die Bundesflagge führen, besitzen die deutsche Staatszugehörigkeit (vgl. Art. 91 SRÜ 19821292, das mittlerweile das Übereinkommen von 1958 abgelöst hat). Es wäre jedoch irrig, sie als „schwimmende Teile des Staatsgebiets" zu betrachten.1293 Uneingeschränkte Hoheitsgewalt übt die Bundesrepublik Deutschland über derartige Schiffe nur auf Hoher See aus (Art. 92 Abs. 1 SRÜ 1982). Bereits im Küstenmeer kollidiert die aus der deutschen Staatszugehörigkeitfließende deutsche Hoheitsgewalt mit der Gebietshoheit des Küstenstaates.1294 Im Hafen unterliegen sie sogar vollumfänglich der Gebietshoheit des Küstenstaates.1295 Die Situation ist daher eher vergleichbar mit deutschen Staatsangehörigen im Ausland, die zwar noch der deutschen Personalhoheit unterliegen, hinsichtlich der Gebietshoheit aber dem Aufenthaltsstaat unterworfen sind. Auf Schiffen deutscher Staatszugehörigkeit besteht auch keine verbesserte Möglichkeit kommunikativer Teilhabe am Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland. Das Recht zum Führen der Bundesflagge leitet sich im wesentlichen von der deutschen Staatsangehörigkeit des Schiffseigentümers her, § 1 Abs. 1 Flaggenrechtsgesetz. Die hieraus resultierenden Pflichten bestimmen sich nach Art. 94 SRÜ 1982. Als Pflichten werden insbesondere das Führen eines Schiffsregisters sowie die Ausübung von Hoheitsgewalt in bezug auf die das Schiff betreffenden verwaltungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegenheiten genannt (Abs. 2 lit. a undb). Hieraus ist nichts ersichtlich, was unter den strengen Voraussetzungen „zwingender Gründe" eine wahlrechtliche Besserstellung von Seeleuten auf Schiffen deutscher Staatszugehörigkeit gegenüber Deutschen auf fremden Schiffen rechtfertigen könnte. § 12 Abs. 4 Nr. 1 BWahlG ist daher insofern verfassungswidrig, als er gegenüber der Regelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 BWahlG eine ungerechtfertigte Privilegierung enthält.
1291
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 2. aaa(l). Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, BGBl. 1994 II S. 1799. 1293 Ridder, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch I, S. 624 (626); Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1260; anders Voigt, in: DVB1. 1976, 430 (432): „Seeschiffe, die die Bundesflagge führen, gelten als deutsches Hoheitsgebiet"; ihm folgend Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 32. 1294 Vgl. nur Gloria, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 52 Rn. 11 \Wolfrum, in: Dahm/Delbrück/ Wolfrum, Völkerrecht 1/1, § 68 V 2 (S. 435 f.). 1295 Gloria, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, § 51 Rn. 8; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 1199. 1292
1*
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
IV. Rückkehrbestimmung (§ 12 Abs. 2 Satz 2 BWahlG) § 12 Abs. 2 Satz 2 BWahlG sieht vor, daß bei der Rückkehr eines gem. § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG wahlberechtigten Auslandsdeutschen in die Bundesrepublik Deutschland die Dreimonatsfrist des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht gilt. Diese Vorschrift ist verfassungsrechtlich unbedenklich, da Auslandsdeutsche bereits gem. § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG mindestens drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland seßhaft gewesen sein müssen, um wahlberechtigt zu sein. Eine erneute dreimonatige Wartefrist ist daher nicht erforderlich, ja sie wäre sogar verfassungsrechtlich unzulässig. V. Sonderregel für ehemalige DDR-Bürger (§ 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG) Europarats- wie Fristenlösung verlangen im Rahmen der „Voranknüpfung" die einmalige, mindestens dreimonatige Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland. § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG enthält diesbezüglich eine Sonderbestimmung für Bürger der ehemaligen DDR: Danach ist der frühere Aufenthalt im Gebiet der DDR dem Aufenthalt im Bundesgebiet gleichgestellt. Wie oben1296 dargelegt, fand diese Vorschrift im Gefolge des deutschen Einigungsprozesses Eingang in das Bundeswahlgesetz. Nach Einschätzung des Gesetzgebers wurde dadurch lediglich klargestellt, daß im Rahmen von § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 BWahlG die Innehabung einer Wohnung oder ein Aufenthalt in der DDR vor Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik zu berücksichtigen seien.1297 Der Gesetzgeber weist der Sonderbestimmung des § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG damit eine rein deklaratorische Bedeutung zu.1298 Auch das Bundesverfassungsgericht bescheinigte Art. 3 Nr. 3 des Gesetzes zum Wahlrechtsvertrag (der Vorgängernorm zu § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG1299), sie sei „notwendige Folge der Ausdehnung des Wahlgebiets auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik." Die Gleichstellung der ehemaligen DDRBürger füge sich „in die Systematik des § 12 Abs. 2 BWahlG ein, ohne einen gleichheitswidrigen Ausschluß des Beschwerdeführers vom Wahlrecht zu begründen."1300 In Übereinstimmung mit Blumenwitz1301 kann dieser Argumentation nicht gefolgt werden. Die Voranknüpfung im Rahmen von Europarats- wie Fristenlösung verfolgt den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, das unerläßliche Mindestmaß an Ver1296 1297 1298 1299 1300 1301
1. Teil 4. Kap. V.3.g. BT-Drucks. 12/4616, S. 36. Ebenso Blumenwitz, Wahlrecht, S. 87. Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3. g. Sämtliche Zitate BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NJW 1991, 689 (690). Blumenwitz, Wahlrecht, S. 87 ff.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
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trautheit des Wahlers mit den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten.1302 Demgegenüber lebten die von § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG Betroffenen vor ihrem Wegzug aus der DDR in einem von Einparteienherrschaft und allgegenwärtiger staatlicher Kontrolle geprägten Staat. Die Seßhaftigkeit im Gebiet der DDR vor der Wiedervereinigung ist daher offensichtlich ungeeignet, das Ziel hinreichender Vertrautheit mit der Bundesrepublik Deutschland zu fördern. Wenn in Europarats- wie Fristenlösung von der einmaligen Seßhaftigkeit „in der Bundesrepublik Deutschland" die Rede ist, kann nur der deutsche Staat in seinem jeweils zum Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung vorhandenen Gebietsbestand gemeint sein, nicht in seinen heutigen Grenzen. Alles andere liefe dem Sinn der Voranknüpfung diametral zuwider. Das aber bedeutet, daß durch § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG für einen Teil der Wähler faktisch auf das Erfordernis vorheriger Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland verzichtet wird. Zugleich folgt daraus, daß § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG keine rein deklaratorische Bedeutung (wie vom Gesetzgeber angenommen) und auch keine Systemkonformität (wie das Bundesverfassungsgericht meint) attestiert werden kann. Der Vorschrift kommt vielmehr konstitutive Bedeutung zu, indem sie Bürger der ehemaligen DDR, die nie unter dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland gelebt haben, gegenüber Auslandsdeutschen, bei denen dies ebensowenig der Fall ist, einseitig privilegiert.1303 Jedenfalls solange das Erfordernis einmaliger, mindestens dreimonatiger Seßhaftigkeit in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber anderen Auslandsdeutschen aufrechterhalten wird, ist die Sonderbestimmung des § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG damit als verfassungswidrig zu qualifizieren. VI. Konsequenzen 1. Rechtsfolgen festgestellter Verfassungswidrigkeit Grundsätzlich hat die Verfassungswidrigkeit einer Gesetzesbestimmung deren Nichtigkeit ex tunc und ipso iure zur Folge, §§ 78, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG. Eine Ausnahme hiervon macht das Bundesverfassungsgericht jedoch dann, wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zu Gebote stehen, einen Verfassungsverstoß zu beheben.1304 Dies ist insbesondere bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz der Fall:1305 Denn der Gesetzgeber kann eine gleichheitswidrig gewährte Begünstigung auf die benachteiligte Gruppe ausdehnen, sie der unrechtmäßig privilegierten 1302
Vgl. oben 3. Teil 1. Kap. II. 1. Ebenso Blumenwitz, Wahlrecht, S. 91 f. Aus der jüngeren Zeit vgl. BVerfGE 82,126 (154 f.); 84,9 (20f.); 85,191 (211 f.); 87,234 (262); 88, 87 (101); 90,263 (276); 93, 121 (148); 93, 165 (178). 1305 Das Bundesverfassungsgericht hat zwischenzeitlich die hier behandelte Entscheidungsvariante ζ. T. weit über den Anwendungsbereich des Gleichheitssatzes hinaus ausgedehnt, mittlerweile aber seine Rechtsprechung wieder zurückgenommen; vgl. Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 366. 1303
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
Gruppe wieder nehmen oder aber eine gänzlich neue Regelung schaffen. 1306 Würde das Bundesverfassungsgericht hier die verfassungswidrige Norm für nichtig erklären, nähme es die Entscheidung des Gesetzgebers vorweg und griffe so in dessen Kompetenzbereich ein.1307 Das Bundesverfassungsgericht hat daher - zunächst praeter legem 1308 - das Instrument der „Unvereinbarerklärung" geschaffen. Diese ist auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit beschränkt, ohne die Nichtigkeit der Norm nach sich zu ziehen. Allerdings bleiben die für unvereinbar erklärten Vorschriften für die Zukunft grundsätzlich unangewendet.1309 Zudem spricht das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung des Gesetzgebers aus, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, bisweilen unter Setzung einer Frist, innerhalb derer der Verfassungsverstoß behoben sein muß.1310 Eine Ausnahme von der Beschränkung auf die Unvereinbarerklärung macht das Bundesverfassungsgericht, wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des betroffenen Gleichheitsrechts die nach der Nichtigerklärung verbleibende Fassung der Norm wählen würde.1311 Der Gesetzgeber hat von der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung mittlerweile Notiz genommen (vgl. §§31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG), eine gesetzliche Normierung von Voraussetzungen und Rechtsfolgen ist aber bis heute nicht erfolgt. In der Literatur hat die Figur - jedenfalls bei Gleichheitsverstößen - im wesentlichen Zustimmung erfahren. 1312 Dem Einwand von Sachs, Gleichheitsrechte seien Ansprüche auf Unterlassen in ungleicher Weise, weshalb in dem Erlaß einer gleichheitswidrigen Norm ein durch Nichtigerklärung zu beseitigender Verfassungsverstoß liege,1313 kann jedenfalls in Fällen des sog. gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses1314 nicht gefolgt werden. Die Verfassungswidrigkeit ergibt sich hierbei 1306
BVerfGE 22, 349 (362); Blumenwitz, Wahlrecht, S. 93; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 366; 1307 Blumenwitz, Wahlrecht, S. 93; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 4. Aufl., Art. 3 Rn. 47; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 131; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 366. 1308 hier Rau, Grenzen, S. 214; anders Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 361 : „eigentlich sogar contra legem"; Schulte, DVB1. 1988, 1200 (1201): „wohl contra legem, zumindest aber sine legem" [richtig: sine lege, Anm. des Verfassers]. 1309 Näher Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 378 ff. 1310 Eingehend Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 388 ff. 1311 BVerfGE 8, 28 (37); 18, 288 (301); 21, 329 (337f.); 22,163 (174f.); 27, 391 (399); 28, 227 (243); 85, 191 (211 f.); 88, 87 (101). 1312 ygi e t w a Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 4. Aufl., Art. 3 Rn. 47; Gusy, Gesetzgeber, S. 188ff.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 92ff.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 45 f.; Jörn Ipsen, Rechtsfolgen, S. 213 f.; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 130ff.; Rau, Grenzen, S. 213ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 359ff. 1313
Sachs, DÖV 1984,411 (419); dagegen Hein, Unvereinbarerklärung, S. 103 ff. Umstritten ist, ob die Unvereinbarerklärung auch im Falle gleichheitswidriger Belastungen erfolgt. Bejahend Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 130; verneinend Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 4. Aufl., Art. 3 Rn. 47; Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 45. 1314
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jeweils nicht aus der Begünstigung einer Gruppe an sich, sondern aus der Begünstigung einer Gruppe unter gleichzeitigem Ausschluß einer anderen.1315 Der Ausschluß kann dabei explizit oder konkludent angeordnet sein: explizit, wenn das Gesetz die benachteiligte Gruppe ausdrücklich von der Begünstigung ausnimmt, konkludent, wenn das Gesetz nur die begünstigte Gruppe erwähnt, aus der Regelung aber hervorgeht, daß die Begünstigung auf den genannten Kreis beschränkt bleiben soll.1316 Auf alle Fälle fehlt es jedoch an einem Normensubstrat, das für nichtig erklärt werden könnte. Verfassungswidrig ist nicht die begünstigende Norm an sich, sondern die Normrelation. 1317 Die Unvereinbarerklärung bildet hier die angemessene Rechtsfolge. Ein „gleichheitswidriger Begünstigungsausschluß" war auch in den vorstehend diskutierten Fällen gegeben:1318 So ergab sich die Verfassungswidrigkeit des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG nicht aus der Vorschrift an sich, sondern aus der isolierten Privilegierung von Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz. Auch war § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG nicht per se verfassungswidrig, sondern allein wegen der nicht zu rechtfertigenden Bevorzugung von Deutschen in den Mitgliedstaaten des Europarats gegenüber den übrigen Auslandsdeutschen. Ebensowenig war die Sonderregelung für Seeleute und Angehörige ihres Hausstandes in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 BWahlG als solche verfassungswidrig, sondern nur die gleichzeitige Besserstellung von Seeleuten auf Schiffen, die die Bundesflagge zu führen berechtigt sind (§ 12 Abs. 4 Nr. 1 BWahlG). Die Sonderregelung des § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG schließlich verstieß nicht generell gegen die Verfassung, sondern wegen ihres faktischen Verzichts auf eine Voranknüpfung des Wahlrechts bei Bürgern der ehemaligen DDR. Der Gesetzgeber hätte hier jeweils mehrere Möglichkeiten, auf den Verfassungsverstoß zu reagieren: durch Ausdehnung der Begünstigung auf die benachteiligte Gruppe, durch Streichung der unrechtmäßigen Privilegierung oder durch Schaffung einer gänzlich neuen Regelung. Das Bundesverfassungsgericht müßte sich daher auf eine Unvereinbarerklärung der genannten Normen beschränken, verbunden mit dem Auftrag an den Gesetzgeber, die festgestellten Verfassungsverstöße zu beheben. Allein im Fall des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG dürfte die Ausnahme der ipso /wre-Nichtigkeit greifen: Denn die Allgemeinheit der Wahl steht Gruppenlösungen prinzipiell feindlich gegenüber. Auch ist nichts dafür ersichtlich, wie die bestehende Privilegierung von Staatsdienern mit dienstlichem Auslandswohnsitz in verfassungskonformer Weise sollte abgeändert werden können. Folglich ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des Allgemeinheitsgrundsatzes § 12 1315
Jörn Ipsen, Rechtsfolgen, S. 213. Jörn Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109. 1317 Jörn Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214; vgl. auch Hein, Unvereinbarerklärung, S. 102. 1318 Hierin bestätigt sich abermals die oben (2. Teil 1. Kap. II. 2.) vorgenommene Einordnung der Allgemeinheit der Wahl als Gleichheitssatz. Andererseits wird deutlich, daß die für die Tatbestandsebene festgestellte „strukturelle Ähnlichkeit" des Allgemeinheitsgrundsatzes mit den Freiheitsrechten (oben 2. Teil 4. Kap. III.2.baa) auf der Rechtsfolgenseite ihre Grenze findet. 1316
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG ersatzlos streichen würde. Unter diesen Umständen spricht das Bundesverfassungsgericht, wie gesehen, die Nichtigkeitsfolge selbst aus. 2. Überlegungen de lege ferenda
Die vorstehenden Ausführungen münden in die Frage ein, wie eine zukünftige verfassungskonforme Ausgestaltung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche aussehen könnte. Dafür ist zunächst festzuhalten, daß zwei Elemente der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung der verfassungsrechtlichen Nachprüfung standgehalten haben: Es waren dies die Voranknüpfung 1319 und die eigentliche Fristenregelung.1320 Eine Möglichkeit bestünde deshalb darin, die derzeitige Fristenregelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 BWahlG auf alle Auslandsdeutschen zu erstrecken. Rechtspolitisch hätte diese Möglichkeit aber den Nachteil, daß den in Mitgliedstaaten des Europarats lebenden Deutschen ihr bislang unbefristetes Wahlrecht „genommen" werden müßte. Dies würde besonders mit Blick auf den Rechtsraum der Europäischen Union als unangemessen wirken: Der Gedanke, daß ein Deutscher, der von seinen Grundfreiheiten Gebrauch macht, nicht seine politischen Mitwirkungsrechte verlieren soll, gab ja den ursprünglichen Anstoß zur späteren Europaratslösung.1321 Zu überlegen ist deshalb, ob nicht wenigstens den in EU-Mitgliedstaaten ansässigen Deutschen das unbefristete Wahlrecht belassen werden könnte. Dabei ist bereits oben1322 auf die Möglichkeit hingewiesen worden, daß die Staatszielbestimmung „europäische Integration" in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wegen der Bezugnahme auf den institutionellen Rahmen der EU möglicherweise als hinreichend konkret angesehen werden kann, um als verfassungsimmanente Schranke eine Privilegierung von Deutschen im EU-Ausland verfassungsrechtlich zu legitimieren. Auch diese Alternative dürfte aber wegen des Ausschlusses von Deutschen, die beispielsweise in der Schweiz oder in Norwegen leben, rechtspolitisch nur schwer durchsetzbar sein. Von daher bleibt zu prüfen, ob nicht möglicherweise dem rechtsvergleichenden Teil Anregungen für eine Neugestaltung des deutschen Auslandswahlrechts entnommen werden können. Zu denken wäre hier insbesondere an eine Regelung nach norwegischem Vorbild, wonach die Fristenregelung nicht als unwiderlegliche, sondern als widerlegliche Vermutung ausgestaltet ist.1323 Eine solche Regelung würde zwei Vorteile miteinander verbinden: Zum einen beließe sie den in Mitgliedstaaten des Europarats lebenden Deutschen faktisch das unbefristete Wahlrecht, zum anderen würde sie auch diejenigen zufriedenstellen, die die 25-Jahres-Regelung des § 12
1319 1320 1321 1322 1323
Vgl. oben 3. Teil 1. Kap. II. 1. Vgl. oben 3. Teil 1. Kap. III. 2. Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.b. 3. Teil 1. Kap. II.2.bbba.E. Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 4. b aa.
1. Kapitel: Einfachgesetzliche Regelung
249 1324
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 1 BWahlG noch immer für unzureichend halten. Zur Widerlegung der nach Fristablauf bestehenden Vermutung für eine endgültige Loslösung vom Heimatstaat verlangt das norwegische Wahlrecht eine eidesstattliche Versicherung über das Fortbestehen der norwegischen Staatsangehörigkeit.1325 Diese Regelungstechnik könnte übernommen werden, wobei der eidesstattlichen Versicherung über den Fortbestand der deutschen Staatsangehörigkeit nicht nur die Funktion eines rein formellen Ausübungserfordernisses, sondern die einer echten materiellen Wahlrechtsvoraussetzung zukäme. Weniger überzeugend erschiene dagegen, nach irischem Vorbild 1326 eine Erklärung zu verlangen, in der der Auslandsdeutsche seinen Rückkehrwillen bekundet. Zwar wurde der animus revertendi im vorstehenden als ein zulässiges Abgrenzungskriterium eingestuft, 1327 doch wäre eine derartige Erklärung objektiv nicht auf ihren Wahrheitsgehalt nachprüfbar, was insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Strafbewehrung von Falschangaben problematisch erscheint. Schließlich könnte noch eine Regelung erwogen werden, Auslandsdeutsche bei mehrfacher Nichtteilnahme an der Wahl vom Wahlrecht auszuschließen. Gegen eine derartige Regelung spräche aber, daß die Auslandsdeutschen hier einer indirekten Wahlpflicht unterworfen würden. Abgesehen davon, daß einige Autoren die Einführung der Wahlpflicht wegen der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgten Freiheit der Wahl generell für unzulässig halten,1328 wäre jedenfalls eine Wahlpflicht nur für Auslandsdeutsche mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren. Faktisch läuft der hier unterbreitete Vorschlag auf eine Aufgabe der Befristung des Wahlrechts hinaus, die auch von Schreiber unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit (nach hier vertretener Auffassung: der Allgemeinheit der Wahl) für „am überzeugendsten" gehalten wird. Seine Bedenken im Hinblick auf den „demokratischen Sinn der Wahl"1329 würden durch die zu verlangende Erklärung hinreichend berücksichtigt. Für den hier gemachten Vorschlag spricht auch die Einschätzung des schweizerischen Gesetzgebers, der bei Einführung des Wahlrechts für Auslandsschweizer davon ausging, daß unzureichend informierte Bürger von sich aus der Wahl fernbleiben würden.1330 Die nur rund 50 000 Stimmen, die bei der letzten Bundestagswahl aus dem Ausland kamen,1331 zeigen, daß diese Einschätzung offenbar auch auf die Auslandsdeutschen zutrifft. Zugleich belegen sie, daß selbst bei Aufgabe der Fristenbindung eine nennenswerte Beeinflussung des Wahlergebnisses nicht zu befürchten ist. 1324 vgl insoweit den Artikel „Bürger zweiter Klasse" von Kaps, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. August 1998, S. 12. 1325 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV.4.baa. 1326 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV.4.ebb. 1327 Vgl. oben 3. Teil 1. Kap. III. 2. a. 1328 Nachweise bei Stern, in: Stern, Staatsrecht III/2, § 88 III 3 g y (S. 1038) mit Fn. 293. 1329 Sämtliche Zitate bei Schreiber, DVB1. 1999, 345 (348). 1330 BB1. 1975 1 1285 (1290). 1331 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 3.h.
250
3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
2. Kapitel
Zur Inlandsbindung des passiven Wahlrechts Nach der im Rahmen dieser Arbeit zugrunde gelegten „dritten Formel" des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet die Allgemeinheit der Wahl nicht nur das aktive, sondern auch das passive Wahlrecht grundsätzlich aller Deutschen im Sinne des Grundgesetzes.1332 Aus verfassungsrechtlicher Sicht weist somit die Beurteilung des passiven gegenüber der des aktiven Wahlrechts keine Besonderheiten auf. Inhalt des passiven Wahlrechts ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs der verfassungsrechtlich gesicherte Anspruch, vom Staat als wählbar behandelt und bei einer Kandidatur nicht einseitig behindert zu werden.1333 Ähnlich hat das Bundesverfassungsgericht das passive Wahlrecht charakterisiert als die „Möglichkeit, sich um ein Mandat zu bewerben, sich als Kandidat aufstellen zu lassen, gewählt werden zu können und die Wahl anzunehmen"1334. Für Auslandsdeutsche fallen das aktive und das passive Wahlrecht auf einfachgesetzlicher Ebene gegenwärtig auseinander: Während das aktive Wahlrecht bei Auslandsaufenthalt nur unter den Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 BWahlG besteht, wird für die Wählbarkeit keinerlei Inlandsbindung vorausgesetzt, § 15 BWahlG. Wählbar ist somit jeder Deutsche, gleichviel ob er jemals in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat oder nicht. Diese von Schreiber als „nicht ganz einsichtig"1335 bezeichnete Inkongruenz kann in Deutschland auf eine lange Regelungstradition zurückblicken: Wie die historischen Untersuchungen ergeben haben, war das passive Wahlrecht zwischen 1849 und 1933 nicht vom Inlandswohnsitz abhängig.1336 Allein die Bundeswahlgesetze von 1949 und 1953 machten den Inlandswohnsitz zur Voraussetzung für die Wählbarkeit.1337 Ursprünglicher Beweggrund hierfür war die Furcht vor Spionagetätigkeit aus dem Osten.1338 Die Inlandsbindung des passiven Wahlrechts führte aber zu Problemen, und zwar nicht nur in den Fällen Linhardt1339 und Schmidt-Wittmack1340. Zwei saarländische Abgeordnete konnten in den 2. Deutschen Bundestag 1332 Vgl. BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) NVwZ 1997, 1207 (der Begriff „Staatsbürger" ist hier wiederum durch „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes" ersetzt worden, dazu oben 2. Teil 4. Kap. II. 2.). 1333 Bay VerfGH 11,103 LS 1; 14, 77 (81); 18, 59 (67); 29,143 (147); 44, 23 (27). 1334 BVerfGE 38, 326 (337); ähnlich Schreiber,, Handbuch, 6. Aufl., § 15 Rn. 3. 1335 Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 15 Rn.2mitFn.5; ähnlich Seifert, Bundeswahlrecht, § 15 Rn. 4: „Ein nicht eben sehr sinnvoller Rechtszustand!". 1336 Vgl. oben 1. Teil 1. Kap. III. 2.; 2. Kap. III. 2.; 3. Kap. II. 2.; IV. 2. Eine indirekte Beeinflussung ergab sich, wie gesehen, vor Einführung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes durch die Möglichkeit eines Staatsangehörigkeitsverlusts bei langjährigem Auslandsaufenthalt (oben 1. Teil 2. Kap. III. 2.). 1337 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. III. 2.; IV. 2. 1338 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. III. 2. 1339 Ebd. 1340 Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. IV. 2.
2. Kapitel: Passives Wahlrecht
251
nur deshalb gewählt werden, weil sie gerade noch fristgerecht einen Wohnsitz im Bundesgebiet genommen hatten (wozu das Saarland im damaligen Zeitpunkt noch nicht gehörte).1341 Auf Betreiben der SPD wurde daher die Verknüpfung von aktivem und passivem Wahlrecht im Bundeswahlgesetz von 1956 fallengelassen. 1342 Angesichts dieses historischen Befundes stellt sich hier zunächst die Frage, ob aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Abhängigkeit des passiven vom aktiven Wahlrecht besteht mit der Folge, daß das passive Wahlrecht nur solchen Personen zugestanden werden darf, die auch über die Wahlberechtigung verfügen. I. Abhängigkeit des passiven vom aktiven Wahlrecht? Ausführungen zu dieser Frage wären eigentlich in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Fall Schmidt-Wittmack zu erwarten gewesen. Wie dargestellt, hat das Bundesverfassungsgericht jedoch das erforderliche Problembewußtsein vermissen lassen. Denn obgleich die Entscheidung an sich nur die Wählbarkeit zum Gegenstand hatte, sah sich der Erste Senat nicht gehindert, zwischen Gesichtspunkten des aktiven und passiven Wahlrechts hin- und herzuwechseln.1343 In der Literatur ist das Problem der Abhängigkeit des passiven vom aktiven Wahlrecht ebenfalls nur selten thematisiert worden. Schiedermair bezeichnet es als einen „allgemeinefn] wahlrechtliche[n] Grundsatz", daß nur gewählt werden könne, wer selbst das aktive Wahlrecht besäße.1344 Nach Ruland geht die „ganz h. M." davon aus, daß mit dem Ausschluß des aktiven auch der des passiven Wahlrechts verbunden sei.1345 Weigl schließlich bezeichnet das passive Wahlrecht als „notwendiges Gegenstück" des aktiven und fügt dem das Attribut „einhellige Meinung" hinzu.1346 Dabei übergeht er allerdings die Auffassung Doldes, der der behaupteten Abhängigkeit des passiven vom aktiven Wahlrecht mit Nachdruck widerspricht. Im Hinblick auf die Wählbarkeit von Ausländern argumentiert er, es bestehe kein Grund dafür, Wahlämter nur mit Verbandsangehörigen zu besetzen, da mit dem Amt besondere sachliche Anforderungen verbunden sein könnten, die im konkreten Falle nur ein Verbandsfremder erfüllen könne.1347 Die Vorstellung, das aktive Wahlrecht sei ein „Minus gegenüber dem passiven", lasse sich auch nicht mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG begründen, da diese Vorschrift nur das aktive Wahlrecht im Auge habe.1348 Für eine Beurteilung der wiedergegebenen Literaturmeinungen ist zunächst daran zu erinnern, daß der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl vorbehaltlos gewährlei1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348
Schmitt, Verlust, S. 163 mit Fn. 318. Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 2. Vgl. oben 2. Teil 1. Kap. I. Schiedermair, Handbuch, S.447. Ruland, JuS 1975, 9 (13). Weigl, Aspekte, S. 15 mit Fn. 35. Dolde, Rechte, S.73. Dolde, Rechte, S. 74; kritisch hierzu Isensee, VVDStRL 32 (1974), 91 (95).
252
3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
stet ist und folglich nur verfassungsimmanenten Schranken unterliegt.1349 Als „zwingende Gründe" im so verstandenen Sinne wurden in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht neben den Wahlrechtsgrundsätzen oder Grundrechten Dritter insbesondere die Ziele bzw. Funktionen der Wahl erkannt.1350 Im Rahmen der Ausführungen zum aktiven Wahlrecht kamen dabei der Legitimations- sowie Kommunikationsfünktion der Wahl besondere Bedeutung zu.1351 Für die Wählbarkeit dagegen sind die Legitimation der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt oder gewisse Mindestanforderungen für eine bewußte und vernunftgeleitete Wahlentscheidung erkennbar ohne Relevanz. Einschränkungen der Wählbarkeit müssen daher durch eigenständige verfassungsimmanente Schranken gerechtfertigt werden (dazu sogleich). Der Gesetzgeber ist hierbei nicht an die Wertungen gebunden, die er den Beschränkungen des aktiven Wahlrechts zugrunde gelegt hat. Eine verfassungsrechtliche Pflicht, das passive Wahlrecht nur denjenigen zu gewähren, die auch über das aktive Wahlrecht verfügen, läßt sich demnach nicht ermitteln. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn sich der Satz „Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, der..." im Grundgesetz selbst wiederfände, wie dies in einigen Landesverfassungen 1352 der Fall ist. Weder das Grundgesetz noch eine seiner Vorgängerverfassungen haben diesen Satz aber jemals enthalten. Zwar war die Wählbarkeit auf nationalstaatlicher Ebene nach der überwiegenden Zahl der einfachen Wahlgesetze vom Besitz des aktiven Wahlrechts abhängig.1353 Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, daß aktives und passives Wahlrecht trotz ihrer einfachgesetzlichen Verklammerung ζ. T. höchst unterschiedlichen Einschränkungen unterworfen waren. So wurde einerseits für die Wählbarkeit bisweilen ein höheres Alter gefordert als für die Wahlberechtigung.1354 Auch war (und ist) das passive Wahlrecht von einer Mindestdauer des Staatsangehörigkeitsbesitzes abhängig, das aktive Wahl-
1349
Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. III. l.d. Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. III. 1. e. 1351 Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV. 2. a, b. 1352 Vgl. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 14 Abs. 2 Verfassung des Freistaates Bayern (hierzu BayVerfGH 11,103 [108]); Art. 75 Abs. 2 Verfassung des Landes Hessen; Art. 80 Abs. 2 Verfassung für Rheinland-Pfalz; Art. 66 Abs. 2 Satz 2 Verfassung des Saarlandes; Art. 41 Abs. 2 Satz 1 Verfassung des Freistaates Sachsen (Nachweise zu sämtlichen Landesverfassungen oben Fn. 781). Die übrigen Landesverfassungen sehen keine Verknüpfung von aktivem und passivem Wahlrecht vor. 1350
1353 Vgl. § 5 Abs. 1 RWahlG 1849; § 5 RWahlG 1918; § 4 RWahlG 1920; § 5 Abs. 1 BWahlG 1949; § 5 Abs. 1 BWahlG 1953. Keine Verknüpfung von passivem und aktivem Wahlrecht kannten § 4 RWahlG 1869 und § 16 Abs. 1 BWahlG 1956. 1354 Vgl. § 1 Abs. 1 RWahlG 1920: Wahlalter 20 Jahre, § 4 RWahlG 1920: Wahlbarkeitsalter 25 Jahre; Art. 38 Abs. 2 GG i. d. F. vom 23. Mai 1949: Wahlalter 21 Jahre, Wahlbarkeitsalter 25 Jahre; § 1 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1949: Wahlalter 21 Jahre, § 5 Abs. 1 lit. a BWahlG 1949: Wahlbarkeitsalter 25 Jahre; § 1 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG 1953: Wahlalter 21 Jahre, § 5 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG 1953 : Wahlbarkeitsalter 25 Jahre; Art. 38 Abs. 2 GG i. d. F. der Änderung vom 31. Juli 1970 (BGBl. I S. 1161): Wahlalter 18 Jahre, Wahlbarkeitsalter entspricht Volljährigkeit (zum damaligen Zeitpunkt 21 Jahre, vgl. BT-Drucks. VI/873, S. 3).
2. Kapitel: Passives Wahlrecht
253
recht dagegen nicht.1355 Andererseits ordneten einige Reichswahlgesetze für Angehörige des Soldatenstandes das Ruhen des Aktivwahlrechts an, während die Wählbarkeit hiervon unberührt blieb.1356 Die ersten beiden Bundes Wahlgesetze kannten ein Ruhen der Wahlberechtigung für Personen, die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht waren oder sich in Strafhaft befanden; auch hier hatte das Ruhen des aktiven nicht den Verlust des passiven Wahlrechts zur Folge.1357 Die Schranken der Wählbarkeit waren somit teils enger, teils weiter als die der Wahlberechtigung. Das Institut des „ruhenden" Wahlrechts bildete dabei das gesetzestechnische Instrument, mittels dessen der Gesetzgeber trotz einfachgesetzlicher Verklammerung dem aktiven Wahlrecht engere Schranken ziehen konnte als der Wählbarkeit. Letztlich bestätigt1358 dies nichts anderes, als daß aktives und passives Wahlrecht in ihren Einschränkungen voneinander unabhängig sind. Das behauptete Abhängigkeitsverhältnis des passiven vom aktiven Wahlrecht findet somit in der Verfassung keine Stütze. Wahlberechtigung und Wählbarkeit unterliegen verschiedenen, voneinander unabhängigen Schranken und können daher vom Gesetzgeber auch unterschiedlich ausgestaltet werden.
II. „Zwingende Gründe" Entscheidend ist somit, ob sich für eine Inlandsbindung des passiven Wahlrechts „zwingende Gründe" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ermitteln lassen. In diesem Zusammenhangfindet sich in der Literatur die Aussage, die Wählbarkeit dürfe zulässigerweise an Voraussetzungen geknüpft werden, „deren Erfüllung von einem Volksvertreter für seine Aufgabe billigerweise erwartet werden" könne.1359 Ähnlich heißt es bei Schreiber, verfassungsrechtlich unbedenklich seien diejenigen gesetzlichen Vorschriften, „in denen allgemeine, sachlich begründete Voraussetzungen für die Kandidatur, die Übernahme und die Ausübung des Abgeordnetenmandats aufgestellt" würden.1360 Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einem obiter dictum geäußert, der Grundsatz der unmittelbaren Wahl schließe 1355 Vgl. § 5 Abs. 1 RWahlG 1849: mindestens 3 Jahre; §4 RWahlG 1869: mindestens 1 Jahr; § 5 RWahlG 1918: mindestens 1 Jahr; § 4 RWahlG 1920: mindestens 1 Jahr; § 5 Abs. 1 lit. b BWahlG 1949: mindestens 1 Jahr; § 5 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1953: mindestens 1 Jahr; § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG 1956: mindestens 1 Jahr; kritisch hierzu Hans Meyer, in: HStR II, § 38 Rn. 9. 1356 Vgl. § 2 RWahlG 1869 (hierzu Hatschek, Kommentar, S. 81; § 2 Abs. 2 RWahlG 1920 (hierzu Kaisenberglv. Welser, RWahlG 1920, S. 33; Kaisenberg, RWahlG 1924, S. 35). 1357 Vgl. § 3 BWahlG 1949 (hierzu Feneberg, BWahlG 1949, § 5 Erl. I); § 3 BWahlG 1953 (hierzu Feneberg, BWahlG 1953, § 5 Erl. 1; Seifert, BWahlG 1953, § 5 Erl. 1). 1358 Eine Verfassungsauslegung nach einfachem Gesetz muß wegen des normenhierarchisch höheren Ranges der Verfassung Bedenken hervorrufen, vgl. oben 2. Teil 1. Kap. II.4.bbb. 1359 Seifert, Bundeswahlrecht, GG Art. 38 Rn. 9. 1360 Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 1 Rn. 9.
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
nicht aus, daß durch das Wahlgesetz allgemeine, sachlich bestimmte Voraussetzungen für die Übernahme des Abgeordnetenmandats aufgestellt würden.1361 Unklar bleibt indes, wie diese Mindestanforderungen verfassungsrechtlich zu verorten sind. Schreibers Hinweis auf die „persönlichen Mindesterfordernisse für eine vernunfts- und gemeinschaftsgemäße Wahlentscheidung"1362 jedenfalls vermag kaum zu überzeugen, da sich mit diesem Argument zwar Einschränkungen des aktiven, nicht aber solche des passiven Wahlrechts legitimieren lassen. Es kann auch nicht - wie in der älteren deutschen Staatsrechtslehre - argumentiert werden, das Wahlrecht sei eine öffentliche Funktion, die im Interesse des Gesamtwohls ausgeübt werde, weshalb nur derjenige wählbar sein solle, der auch imstande sei, das Amt eines Abgeordneten auszuüben.1363 Denn die These von der Gemeinwohlorientiertheit des Wahlrechts kann mit Einführung der Staatsform der Demokratie als überwunden gelten.1364 Spies schließlich macht zur Rechtfertigung besonderer Wählbarkeitsschranken geltend, allein aus der Tatsache, daß jemand in der Lage sei, eine vernünftige Wahlentscheidung zu treffen, könne noch nicht gefolgert werden, daß er auch die Fähigkeit besitze, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen.1365 Die Abgeordneten hätten wesentlich mehr Verantwortung zu tragen als ihre Wähler, weshalb die Wählbarkeit nur einem besonders qualifizierten Kreis von Wahlberechtigten eingeräumt werden sollte.1366 Auch er bleibt aber die Antwort auf die Frage nach der verfassungsrechtlichen Fundierung seiner These schuldig. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Auffassung vertreten, daß sich Mindestanforderungen an Abgeordnete aus den Aufgabennormen des Parlaments selbst ableiten lassen (müssen). Zwar enthält das Grundgesetz für den Bundestag keinen enumerativen Aufgabenkatalog, die Funktionen des Parlaments ergeben sich aber aus einer Zusammenschau der Verfassung. 1367 Erfüllen kann der Bundestag seine Aufgaben nur, wenn auch die einzelnen Parlamentarier die unabdingbaren Mindestvoraussetzungen hierfür bieten. So wäre etwa eine Person mit schweren geistigen Behinderungen nicht in der Lage, die Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion des Parlaments wahrzunehmen. Der Gesetzgeber muß daher befugt sein, derartige Personen von der Wählbarkeit auszuschließen. Für die Wohnsitzbindung des passiven Wahlrechts ist in früheren Zeiten vorgebracht worden, nur derjenige könne die Belange seines Landes mit genügender Kenntnis und Tatkraft vertreten, der im Land lebe und mit ihm verwachsen sei.1368 Man wird es dem Gesetzgeber nicht gänzlich verwehren können, zur Sicherung ins1361
BVerfGE 7, 63 (72). Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 1 Rn. 9. 1363 So noch Braunias, Wahlrecht II, S. 108. 1364 Vgl. oben 1. Teil 2. Kap. V. 1. a. E. 1365 Thomas Spies , Schranken, S. 138. 1366 Jhomas Spies , Schranken, S. 64 (zur Inlandsbindung des passiven Wahlrechts). 1367 Magiern, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 21; Morlok,, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 28. 1362
1368
Braunias, Wahlrecht II, S. 108.
3. Kapitel: Deutsch-ausländische Mehrstaater
255
besondere der Gesetzgebungsfunktion des Bundestages ein gewisses Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland auch beim passiven Wahlrecht zu verlangen. Andererseits ist aber zu bedenken, daß das passive Wahlrecht lediglich die Möglichkeit verschafft gewählt zu werden. Entscheiden müssen die Wahlberechtigten. Verglichen mit dem aktiven Wahlrecht besteht daher bei der Wählbarkeit ein geringeres Bedürfnis, die unverzichtbare Vertrautheit mit den Gegebenheiten in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich zufixieren. Wenn jemand von einer Partei als Kandidat nominiert wird oder gar ein Direktmandat erringt, so kann erwartet werden, daß er die erforderlichen Qualifikationen besitzt.1369 Ganz in diesem Sinne meinte im Wahlrechtsausschuß 1949 der Abgeordnete Diederichs, er könne sich nicht vorstellen, daß eine Partei einen völlig unbekannten Mann aufstellen werde, der „gestern über die Grenze gekommen" sei.1370 Die geringe praktische Bedeutung, die die Wählbarkeit von Auslandsdeutschen erlangt hat,1371 belegt die Richtigkeit dieser Annahme. Wenn sich der Gesetzgeber daher mit Rücksicht auf die nach 1949 aufgetretenen Probleme entschlossen hat, die Wählbarkeit (wieder) vom Inlandswohnsitz zu lösen, so ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 3. Kapitel
Wahlrechtliche Behandlung deutsch-ausländischer Mehrstaater Gem. Art. 20 Abs. 2 GG bildet die Zugehörigkeit zum Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland die Grundvoraussetzung für die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen. Ausländer sind dadurch verfassungskräftig von der Innehabung staatsbürgerlicher Rechte ausgeschlossen.1372 Dem trägt § 12 Abs. 1 BWahlG Rechnung, indem es das aktive Wahlrecht von der Deutscheneigenschaft i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG abhängig macht. Nach derzeitiger Rechtslage wird die Wahlberechtigung durch das Bestehen einer weiteren Staatsangehörigkeit nicht beeinträchtigt.1373 Dies führt in gewissen Fallkonstellationen zu vermehrten politischen Mitwirkungsrechten: So kann ein deutschausländischer Mehrstaater, der in seinem zweiten Heimatstaat lebt, seit Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche nicht mehr nur an den dortigen, sondern auch an den deutschen Parlamentswahlen teilnehmen. Gleiches gilt im umgekehrten Fall (Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland), sofern der andere Heimatstaat die Auslandswahl vorsieht. Dies wirft die Frage auf, ob der deutsche Gesetzgeber von 1369 1370 1371 1372 1373
Thomas Spies , Schranken, S. 64. Pari. Rat, Bd. 6, S. 132. Vgl. oben 1. Teil 4. Kap. V. 2. Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. II. 2. b aa. Schreiber, Handbuch, 6. Aufl., § 12 Rn. 8.
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
Verfassungs wegen verpflichtet ist, an der bestehenden Rechtslage festzuhalten, oder ob nicht in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit eine abweichende Regelung möglich oder gar geboten wäre. Diese Frage - bei Einführung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche nicht erörtert - stellt sich in der gegenwärtigen Situation um so dringlicher, als die jüngst erfolgte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zu einer erheblichen Ausweitung der Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeit geführt hat.1374 Ein mögliches Beispiel für eine differenzierende Behandlung von Mehrstaatern bietet das belgische Wahlrecht: Wie geschildert, werden Auslandsbelgier, die in ihrem Wohnsitzstaat über das parlamentarische Wahlrecht verfügen, nicht zu den Wahlen in Belgien zugelassen.1375 Dies hat zur Folge, daß etwa ein deutsch-belgischer Doppelstaater, der in der Bundesrepublik Deutschland lebt und über das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag verfügt, von den Wahlen zur Belgischen Abgeordnetenkammer ausgeschlossen ist. Als Gegenbeispiel sei auf das schweizerische Wahlrecht verwiesen: Obwohl bei Erlaß des Bundesgesetzes über die politischen Rechte der Auslandsschweizer im Jahr 1975 ein Anteil von 50 %, bei Einführung des Briefwahlrechts 1991 sogar über 60 % der Auslandsschweizer eine weitere Staatsangehörigkeit besaßen,1376 nahm der schweizerische Gesetzgeber von einer differenzierenden Regelung Abstand, weil ein globaler Ausschluß aller Doppelbürger zu einer unterschiedlichen Behandlung unter den Auslandsschweizern und ein nur teilweiser Ausschluß zu einer Diskriminierung unter den Doppelbürgern geführt hätte.1377 Auch in der Bundesrepublik Deutschland hat es bei Schaffung des „ersten" Bundeswahlgesetzes Überlegungen zu einer differenzierenden wahlrechtlichen Behandlung von Mehrstaatern gegeben. Bei den Beratungen im Wahlrechtsausschuß 1949 wurde ein Gesetzentwurf des Abgeordneten Becker diskutiert, der deutsch-ausländischen Mehrstaatern, die sich am Wahltag seit weniger als zehn Jahren im Bundesgebiet aufhielten, eine Erklärung abverlangte, ihre weitere Staatsangehörigkeit aufgeben zu wollen.1378 Anlaß für diese Vorschrift war die Ausweisung von rund 250 000 deutsch-ungarischen Doppelstaatern aus Ungarn, die in der Hoffnung, später wieder in ihre angestammte Heimat zurückkehren zu können, sich weigerten, ihre ungari1374
Dazu näher Renner, StAZ 1999, 363 (366 ff.). Vgl. oben 2. Teil 4. Kap. IV.4. dbb. 1376 Vgl. BB1. 1990 III 445 (454). 1377 BB1. 19751 1285 (1295 f.); 1990 III 445 (454). 1378 D i e Vorschrift lautete im Wortlaut: „Deutsche Staatsangehörige, die zugleich eine andere Staatsangehörigkeit besitzen, sind nur dann wahlberechtigt, wenn sie 1.) entweder spätestens 2 Monate vor dem Wahltag durch Erklärung zu Protokoll des zuständigen Landrates (Oberbürgermeisters) ihre Absicht, die andere Staatsangehörigkeit aufzugeben, erklärt und diese Stelle mit der Durchführung dieser Absicht unwiderruflich bevollmächtigt haben, 2.) oder am Wahltage 10 Jahre ihren Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt haben, 3.) oder nach § 1 Abs. 2, Ziff. 2 wahlberechtigt sind." (Pari. Rat, Bd. 6, S. 302). 1375
3. Kapitel: Deutsch-ausländische Mehrstaater
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1379
sehe Staatsangehörigkeit aufzugeben. Die Ansichten über die Vorschrift waren geteilt. Der Abgeordnete Renner vertrat die Auffassung, ein Mann, der deutscher Staatsangehöriger sei und noch eine andere Staatsangehörigkeit besitze und diese verteidige, habe „nun wirklich keinen Anspruch darauf, als Deutscher im vollen Sinne des Begriffes anerkannt zu werden."1380 Seiner Frage, mit welchem Recht dieser Mann in der Bundesrepublik Deutschland solle wählen dürfen, entgegnete der Ausschußvorsitzende Diederichs: „Mit dem Recht, weil er deutscher Staatsangehöriger ist." 1381 Auch die Abgeordneten Kroll und Stock sprachen sich gegen die vorgeschlagene Regelung aus.1382 Die Vorschrift wurde daraufhin fallengelassen.1383 Somit bleibt zu prüfen, ob eine differenzierende wahlrechtliche Behandlung deutsch-ausländischer Mehrstaater unter der Geltung des Grundgesetzes zulässig wäre. I. Vorrang der „effektiven Staatsangehörigkeit"? Für eine differenzierende Regelung bei deutsch-ausländischen Mehrstaatern könnte man daran denken, auf die Effektivität der deutschen Staatsangehörigkeit abzustellen, wie dies in einer Reihe von Rechtsgebieten - etwa im Völkerrecht für die Ausübung diplomatischen Schutzes oder im deutschen Internationalen Privatrecht für die Ermittlung des Personalstatuts nichtdeutscher Mehrstaater - geschieht. Als „effektiv" und damit ausschließlich beachtlich wird dabei diejenige Staatsangehörigkeit bezeichnet, zu der der betreffende Mehrstaater die engste Verbindung aufweist; ein maßgebliches Kriterium bildet hierbei der gewöhnliche Aufenthaltsort (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGBGB).1384 Dem deutschen Öffentlichen Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht, ist der Satz vom Vorrang der effektiven Staatsangehörigkeit allerdings fremd. Hier gilt vielmehr der Grundsatz, daß diejenigen Grundrechte, die nur Deutschen zustehen, für alle Deutschen gelten, unabhängig vom möglichen Bestand einer weiteren Staatsangehörigkeit.1385 Insofern besitzt die Feststellung des Reichsgerichts aus dem Jahr 1916 immer noch uneingeschränkte Gültigkeit, der Erwerb der deutschen Staatsan1379
Pari. Rat, Bd. 6, S. 111 mit Fn. 9; 284. Pari. Rat, Bd. 6, S.285f. 1381 Pari. Rat, Bd. 6, S.286. 1382 Pari. Rat, Bd. 6, S.285. 1383 Pari. Rat, Bd. 6, S.289. 1384 Eingehend Mansel, Personalstatut, S. 178ff. 1385 ManseU Personalstatut, S. 91 ; vgl. femer v. Mangoldt, in: FS Bachof, S. 77 (81); ders., JZ 1993,965 (973); Pitschas, in: Jayme/Mansel (Hrsg.), Nation, S. 93 (114); Samtleben, RabelsZ 42 (1978), 456 (461); Schleser, Staatsangehörigkeit, S. 42f.; Sonnenberger, in: BDGVR 29 (1988), 9 (14). Siehe auch BGHZ 75, 32 (42). Für das passive Wahlrecht vgl. die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Köppler, StenBer. BT, 5. WP, 221. Sitzung vom 19. März 1969, S.12042 C. Ohne Beschränkung auf den öffentlich-rechtlichen Bereich sprechen sich für einen Vorrang der deutschen Staatsangehörigkeit aus: Kammann, Probleme, S. 195; Stern, Staatsrecht I, § 813 a (S. 255); Sturm, FamRZ 1974, 617 (622); Otto, FamRZ 1974, 655 (656). 1380
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3. Teil: Einzelfragen der Beteiligung Auslandsdeutscher
gehörigkeit habe zur Folge, „daß der Erwerbende im Sinne des deutschen öffentlichen Rechts fortan nur als Deutscher und nicht als Ausländer zu gelten hat und daß die in deutschen Gesetzen und Verordnungen für »Ausländer4 oder »Angehörige ausländischer Staaten4 gegebenen Vorschriften des öffentlichen Rechts auf ihn keine Anwendung finden." 1386 Die Aussage Sturms, es gebe nicht zweierlei Deutsche, effektive und ineffektive, sondern nur die eine deutsche Staatsangehörigkeit,1387 mag im deutschen Internationalen Privatrecht umstritten sein1388 - im Öffentlichen Recht gilt sie unangefochten. Der deutsche Gesetzgeber ist daher grundsätzlich von Verfassungs wegen nicht befugt, in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit das Wahlrecht nur denjenigen Mehrstaatern zuzugestehen, die über eine effektive deutsche Staatsangehörigkeit verfügen. Der Besitz einer weiteren Staatsangehörigkeit darf sich nicht statusmindernd auswirken. Mag auch die Gefahr von Interessen- und Loyalitätskonflikten bei deutsch-ausländischen Mehrstaatern ungleich größer sein als bei im Ausland lebenden deutschen Monostaatem,1389 für die Wahlberechtigung muß dies außer Betracht bleiben. Differenzierungen wären insoweit nur dann zulässig, wenn sie sich aus einer anderen Verfassungsnorm herleiten ließen. II. Verstoß gegen Wahlrechtsgleichheit? Mehrstaatigkeit kann, wie gesehen, vermehrte politische Mitwirkungsrechte zur Folge haben. Gegen das aus der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) fließende Gebot gleicher Stimmenzahl („one man, one vote" 1390) wird dadurch allerdings nicht verstoßen. Dieses Gebot ist nur auf die Wahlen zum Deutschen Bundestag bezogen. Durch die Teilnahme an einer fremden Parlamentswahl wird es nicht berührt. 1391 Probleme ergeben sich erst auf europäischer Ebene, etwa durch die Möglichkeit mehrfacher Stimmrechtsausübung bei Wahlen zum Europäischen Parlament.1392
"β* RGSt 49, 373 (374). 1387 Sturm, FamRZ 1974, 617 (622). 1388 D e r streit geht um die Frage, ob bei deutsch-ausländischen Mehrstaatem vom unbedingten Vorrang der deutschen Staatsangehörigkeit auszugehen ist, wie derzeit in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EGBGB vorgesehen, oder ob nicht auch hier die effektive Staatsangehörigkeit den geeigneteren Anknüpfungspunkt bietet; Nachweise zum Streitstand bei Mansel, Personalstatut, S. 209 ff. und Pitschas, in: Jayme/Mansel (Hrsg.), Nation, S.93 (114). 1389
Hierzu Doehring, Völkerrecht, Rn. 80; v. Mangoldt, JZ 1993, 965 (967). Vgl. nur Schneider, in: AK-GG, Art. 38 Rn. 49. 1391 Ebenso Göbel-Zimmermann/Masuch, DÖV 2000, 95 (101); Ziemske, Staatsangehörigkeit, S. 278. 1392 Hierzu näher Ziemske, Staatsangehörigkeit, S. 278 ff. 1390
3. Kapitel: Deutsch-ausländische Mehrstaater
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I I I . Völkerrecht Eine Pflicht zur Beachtung der effektiven Staatsangehörigkeit könnte sich aber aus dem Völkerrecht ergeben. Gerade in Fällen, in denen deutsch-ausländische Mehrstaater in ihrem zweiten Heimatstaat leben, könnte die Bundesrepublik Deutschland möglicherweise völkerrechtlich verpflichtet sein, den Vorrang der fremden Staatsangehörigkeit zu respektieren und die betreffenden Personen von der Wahl auszunehmen.1393 In diesem Zusammenhang sei an die Praxis der deutschen Wahlbehörden erinnert, deutsch-polnischen Doppelstaatern mit Rücksicht auf den Widerspruch Polens keine Wahlunterlagen zukommen zu lassen.1394 Eine völkerrechtliche Pflicht zur Respektierung der effektiveren Staatsangehörigkeit wäre über Art. 25 GG innerstaatlich beachtlich und müßte aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes1395 auch bei der Verfassungsauslegung berücksichtigt werden. Der innerverfassungsrechtliche Grundsatz, daß sich der Besitz einer weiteren Staatsangehörigkeit nicht statusmindernd auswirken darf, würde dahinter zurücktreten. 1. Zur völkerrechtlichen Behandlung von Mehrstaatern
Ausdrückliche völkerrechtliche Regeln über die Wahlteilnahme von Mehrstaatern existieren, wie Kammann zutreffend feststellt, nicht.1396 Allein im Bereich der diplomatischen Schutzgewährung hält das Völkerrecht Lösungen für Konflikte bereit, die sich aus der Häufung von Staatsangehörigkeiten ergeben: Im Verhältnis der zwei Heimatstaaten eines Doppelstaaters gilt hier, daß keiner der beiden Staaten gegenüber dem jeweils anderen zur Ausübung diplomatischen Schutzes berechtigt ist. Diese in Art. 4 der Haager Convention on Certain Questions relating to the Conflict o Nationality Laws vom 12. April 19301397 (im folgenden: Haager Konvention) niedergelegte Regel ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.1398 Der Internationalen Gerichtshofhat sie als ,,